Neuverhandlungen des Holocaust: Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas [1. Aufl.] 9783839426272

Taboos have been overcome, debt has been paid, and political and memorial correctness no longer serve as a muzzle; the y

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German Pages 370 Year 2014

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Neuverhandlungen des Holocaust: Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas [1. Aufl.]
 9783839426272

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Kirstin Frieden Neuverhandlungen des Holocaust

Erinnerungskulturen | Memory Cultures Die Reihe wird herausgegeben von Aleida Assmann, Birgit Schwelling und Natan Sznaider.

Band 3

Für Christian, ohne den ich nicht wäre, wer ich bin und nicht vollbracht hätte, was nun vollbracht ist. Und für meine Mutter, der ich alles zu verdanken habe. In Liebe.

Kirstin Frieden (Dr. phil.) promovierte an der Graduate School »Practices of Literature« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war Stipendiatin der FAZIT-Stiftung. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Erinnerungskultur des Holocaust.

Kirstin Frieden

Neuverhandlungen des Holocaust Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas

D6 Gedruckt mit Unterstützung der FAZIT-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Kirstin Frieden Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2627-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7

I BESTAND UND TRANSFORMATION 1. 2. 3. 4.

Einleitung | 11 Modifizierungen des Gedächtnisbegriffs | 26 Generationen im Wandel | 35 Plurale Räume | 46

II WORK IN PROGRESS TEIL 1: LITERARISCHE VERHANDLUNGEN 1. Der Holocaust in der Literatur – Historische Einordnung und Vorgehen | 63 2. Das Vennemann-Prinzip | 73 3. Positionierung und Neuverortung: Wo, was und wer ist Deutschland? | 106 4. Holocaust und Popkultur | 140

III WORK IN PROGRESS TEIL 2: PERFORMANCES 1. „Performing the past“ – Einführung | 175 2. Yael Ronens Dritte Generation. Work in Progress | 180 3. Performance Radikal | 215

IV WORK IN PROGRESS TEIL 3: NEUE MEDIEN 1. ‚Things might change‘ – Medien- und Kommunikationswandel der Gegenwart | 233 2. Erinnerungskulturen im Web 2.0 | 236 3. Erinnerungskultur auf Facebook | 255 4. Erinnerungskultur auf YouTube | 280

V FAZIT |

317

VI AUSBLICK |

331

LITERATUR /QUELLEN |

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Vorwort

„Die einzige Möglichkeit, die Erinnerung an die Vernichtung durch die Nazis lebendig zu halten und zu erneuern, hängt davon ab, ob im Laufe der kommenden Jahre kühne und bescheidende Werke erscheinen […]; Werke, die es wagen, sich dieser erschütternden Herausforderung zu stellen.“ JORGE SEMPRUN/KLARAS NEIN

Die häufigste Reaktion, die ich auf die Nennung meines Dissertationsthemas in den vergangenen Jahren erhalten habe, war in etwa folgende „Puh, schwieriges Thema […] warum machst Du das?“ Das Thema Holocaust und Nationalsozialismus ist ein unbequemes Thema, ja, und es mit Blick auf ‚Transformationen‘ und gar ‚Neuverhandlungen‘ einer lang gepflegten Gedenktradition zu untersuchen, ist sicherlich nicht ganz einfach. Jedoch – im Grunde bedarf es dazu ‚nur‘ zweierlei: einen unbedingten Willen und ein dickes Fell. Immer wieder habe ich skeptische oder gar entsetzte Blicke geerntet, manchmal bin ich mit meinem Thema auch auf schlichte Ablehnung gestoßen; äußerst selten in jedem Fall erwartete mich offenes, unvoreingenommenes Interesse. Einige, auch etablierte Wissenschaftler, fragten mich, warum ich mich auf dieses „verminte Gebiet“ begebe, zu dem doch außerdem vermeintlich alles schon gesagt und geschrieben worden ist. Während ich zu Anfang meiner Promotion noch versuchte, mich zu rechtfertigen und glaubhaft zu versichern, warum und weshalb und mit welchen besten Absichten ich untersuche, was ich untersuche und dass es sehr wohl hier auch Neues zu entdecken gibt, habe ich mir später angewöhnt, einfach mit „weil das Thema nun einmal wichtig ist“ zu antworten. Und so ist es in der Tat! Die Motivation, Begeisterung, ja Leidenschaft für dieses Thema, entstanden auch aus einem latenten Unbehagen, immer noch vielerorts auf ebensolche Sprachschwierig-

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keiten und Tabuschwellen zu stoßen, war der Antrieb, mich mit Neuverhandlungen des Holocaust und medialen Transformationen des Gedächtnisparadigmas zu beschäftigen. All diejenigen, die der Meinung sind, über den Holocaust und seine mediale Darstellung und Erinnerungskultur sei bereits genug gesagt und geschrieben, werden dieses Buch vielleicht nicht mögen. Für eine andere Gruppe, von der ich nicht (nur) aus persönlicher Eitelkeit, sondern vielmehr auch aus idealistischen Gründen hoffe, sie möge größer als die erste sein, für diese Gruppe ist dieses Buch gedacht. Es ist zweifelsohne eine Herausforderung, sich nicht nur der Gegenwart, die mitunter problematisch genug ist, sondern sich immer wieder ebenso der Vergangenheit zu stellen. Dass nicht jeder diese Herausforderung annimmt und dies mitunter auch nicht erwartet werden kann, konnte ich über die Arbeit an diesem Buch lernen. So habe ich zugleich auch das Verständnis für diejenigen entwickelt, die die ‚ewig gleiche Leier’ über dieses alte ‚Nazi-Thema‘ nicht mehr hören können und wollen und sich gerade nicht für die Vergangenheit ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern verantwortlich fühlen. Besonders jene ‚junge Generation‘, als vielleicht erste Generation, die tatsächlich in der Lage ist, Neuverhandlungen nicht zu fordern, sondern auch zu führen, steht im Mittelpunkt meines Forschungsinteresses und meiner Suche nach den neuen Tönen abseits der alten Leier. Möglicherweise gibt es also noch eine weitere Gruppe, für die mein Buch eine interessante Lektüre verspricht und die sich der Aufforderung zu einem andauernden Work in Progress stellt – nicht weil sie es müsste, sondern weil es wichtig ist. Ein Promotionsprojekt ist ein Mammutprojekt. So bewusst ich mir dessen in der Rückschau bin, so zugegeben unwissend bin ich vor nunmehr fünf Jahren in dieses Wagnis offenen Ausgangs gestartet. Heute bin ich nicht nur glücklich und dankbar darüber, es erfolgreich abgeschlossen zu haben, sondern auch, dass mich Personen und Institutionen unterstützt und begleitet, und mich liebende Menschen dabei nicht verlassen haben. Am Ende zu sagen, was mich in schwierigen Zeiten, in Zeiten des Zweifelns und der Verzweiflung, neben dem eigenen unbedingten Willen hat durchhalten lassen, ist schwierig. Gar nicht schwierig ist es jedoch, denjenigen zu danken, die dabei in jeden Fall eine wichtige Rolle gespielt und damit einen wichtigen Beitrag zu diesem Buch geleistet haben. Zunächst bedanke ich mich also bei der Graduate School Practices of Literature der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die mich im Oktober 2008 in ihr strukturiertes Promotionsprogramm aufgenommen und mir damit die Promotion möglich gemacht hat. Den Erfolg meiner Promotion habe ich jedoch vor allem meinem Betreuerteam zu verdanken. Ich bedanke mich sehr herzlich bei Cornelia Blasberg, die mein Promotionsprojekt als Erstbetreuerin angenommen und mir mal unauffällig, mal mit leichtem Druck, aber immer mit Respekt, Achtung und geduldiger Zuneigung den richtigen Weg gewiesen hat. Ich bedanke mich bei Achim Hölter, dem ich nicht nur die Zweitbetreuung zu verdanken habe, sondern der mich

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auch schon während meiner Magisterarbeit und sogar noch früher, in meinem Magisterstudium, derart für die Literatur und das wissenschaftliche Arbeiten begeistern konnte, dass ich diesen Weg überhaupt erst eingeschlagen habe. Besonderer Dank und zwar einer über die reine wissenschaftliche Betreuungsleistung hinaus, geht an Frau Aleida Assmann. Frau Assmann hat mich vorbehaltlos und zunächst ohne mich zu kennen, unter ihre ‚Fittiche‘ genommen und sie hat mich in meiner Wissenschaft und Person auf eine Weise geachtet, die mich nicht bloß mit Dankbarkeit, sondern auch mit einer guten Portion Stolz erfüllt. Sie war mir stets ein Fels in der wissenschaftlichen, manchmal rauen Brandung und hat meine Arbeit entscheidend mitgeprägt. Zu großem Dank verpflichtet bin ich der FAZIT-Stiftung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das von Ihr bezogene zweijährige Promotionsstipendium sowie die großzügige Bezuschussung der Drucklegung dieses Buches hat mir finanzielle Erleichterung verschafft. Nicht am Finanziellen gescheitert ist die Gestaltung dieses Buches. Gerne hätte ich Bildmaterial eingefügt und damit den Kapiteln über visuelle Darstellungen des Holocaust auch einen visuellen Eindruck verschafft. Leider habe ich vom Management des Comedian Oliver Polak keine Freigabe für Fotomaterial erhalten und konnte daher dieses Vorhaben nicht umsetzen – auch für diese leise Kritik sollte ein Vorwort meiner Meinung nach Platz bieten. Keinerlei Kritik, sondern außerordentlicher Dank gilt dem transcript Verlag und meinen dortigen Projektbetreuern, denen ich für die gute Zusammenarbeit danke. Zu den ‚Machern‘ dieses Buches zählen auch Aleida Assmann und Birgit Schwelling, die als Herausgeberinnen der Reihe „Erinnerungskulturen/Memory Cultures“ für mein Projekt einstehen. Ich danke von Herzen meinen Freunden, unter einigen, die hier namentlich zu erwähnen wären, stellvertretend und zugleich besonders Stephanie Pordomm. Stephanie hat ohne den geringsten Zweifel an meinen Fähigkeiten, ohne Groll oder Missgunst meine Launen und mein zeitweiliges Untertauchen akzeptiert und mir nicht nur in der Münsteraner Zeit immer das Gefühl gegeben, einen sicheren Zufluchtsort und den unschätzbaren Wert einer besten Freundin zu besitzen. Nicht am Ende, sondern vor allem zu danken habe ich zwei Menschen, denen dieses Buch gewidmet ist. Meine Mutter Heidrun hat stets an mich geglaubt und bedingungslos hinter mir gestanden, nie auch nur den geringsten Druck ausgeübt und mich selbstlos in allen Bereichen meiner Promotionszeit unterstützt. Dass ich trotz der familiär schwierigen Umstände nicht nur studieren, sondern auch promovieren konnte und nun diesen Doktortitel tragen darf, verdanke ich ihr. Christian, mein Freund und Ehemann, er hat mir bis an die eigene Belastungsgrenze und weit darüber hinaus Rückhalt gegeben und Liebe geschenkt, mich aufgefangen, angetrieben, getröstet, mir den Kopf hin und wieder zurecht gerückt, mir Mut gemacht und immer das Gefühl vermittelt, diesen oft steinigen Weg niemals

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allein gehen zu müssen. Ohne ihn hätte ich weder dieses Buch geschrieben, noch wäre ich der Mensch, der ich heute bin. Dieses Buch ist vor allem auch Dein Buch, Christian.

Dr. Kirstin Frieden, München, im Oktober 2013

I

Bestand und Transformation

1. E INLEITUNG „War Ur-Opa ein Nazi? Und ist das mein Problem?“1 Mit dieser als provokante Titel-Adaption der Studie Opa war kein Nazi2 zu verstehenden Überschrift machte das Zeit-Magazin in seiner Ausgabe vom 4. November 2010 auf. Unter der nicht minder provokanten Frage „Was geht mich das noch an?“ untersuchten die Autorinnen und Autoren3 die Bedeutung des Nationalsozialismus und des Holocaust in der ‚vierten Generation‘, welche dort mit der Altersklasse der 14- bis 19-Jährigen eingegrenzt wurde. Sofern die demonstrative Headline und Ikonographie der Heftaufmachung – das Titelbild ziert eine schwarz-weiß-Fotomontage marschierender Soldaten sowie Adolf Hitler inklusive Hitler-Gruß im unscharfen Bildhintergrund; darüber gelegt das Profilfoto eines älteren Herren im Anzug – noch einen gewissen Innovationsanspruch und empirischen Ehrgeiz ankündigt, verpufft die Studie enttäuschend schnell im egalisierenden Tenor einer gedeckelten Konsensmeinung ohne eine tatsächliche Erkenntnis zu generieren. Nur ein gutes Jahr später, im Januar 2012, erbrachte eine Forsa-Studie das Ergebnis, dass 21 Prozent der 18bis 30-Jährigen in Deutschland lebenden jungen Erwachsenen nicht die Bedeutung von Auschwitz kennen; im Gegensatz zu 95 Prozent der über 30-Jährigen, die den Begriff ‚Auschwitz‘ z.T. mit mehr oder weniger umfangreichen Fachwissen füllen können.4 Diese erschreckend hohe Prozentzahl ‚Unwissender‘ stellt also einen gro-

1

„War Ur-Opa ein Nazi?“, Titelblatt, in: Zeit-Magazin 45 (2010).

2

Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschnuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“. National-

3

Im Folgenden wird die maskuline Form verwendet, welche stellvertretend für das weibli-

4

Erwähnenswert ist diese Untersuchung auch in Kombination mit einer fast zeitgleich

sozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M.:. Fischer 2002. che und das männliche Subjekt steht. veröffentlichten Studie einer unabhängigen Expertenkommission im Auftrag des Deutschen Bundestags, deren Bericht vom 24.01.2012 einen „latenten Antisemitismus“ bei ca.

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ßen Teil der aktuellen deutschen Gesellschaft und wirkt sich auf eine problematische ‚Erinnerungssituation‘5 aus, die gegenwärtig festzustellen ist. Während die Anzahl der thematisch an die Zeit des Nationalsozialismus Anschluss nehmenden medialen Formate in der Literatur, im Film und Kino, der Kunst, dem Theater etc. nicht abnimmt, scheint sich dem entgegengesetzt nicht nur das oberflächige Interesse, sondern auch das faktische Wissen der jungen, in Deutschland lebenden Generationen auf andere Bereiche zu verlagern. Liegt dies nun aber an einem ‚Zuviel‘ der Präsentation, wie es von kritischer Seite immer wieder verlautbart wird und schon mit Martin Walser und seiner Kritik an der „Dauerpräsentation unserer Schande“6 seinen Lauf genommen hat? Oder liegt es an der ‚falschen‘ oder besser gesagt nicht mehr ‚zeitgemäßen‘ Darstellung und Vermittlung der Vergangenheit, die sich insbesondere durch ‚destruktive‘, ‚doktrinäre‘ Sprachformeln konstituiert, die ein anderes, neues Sprechen über den Holocaust eher verhindert denn befördert? Die von Walser besprochene ‚Schande‘ und ‚Schuld‘ gehört ohnedies nicht mehr in den Erfahrungshorizont der jungen Generation. Jedoch, auch hier sei eine erneute Terminologie Martin Walsers bemüht, wäre ein ‚Wegschauen‘ nirgendwo problematischer als dort, wo ohnehin ein gewisses natürliches Verblassen und Verschwinden gesetzmäßig ist: im Fall der Vergangenheit und ihrer sichtbaren Zeichen und lebendigen Zeitzeugen. Ist der HolocaustDiskurs also schier ‚übersättigt‘ oder bedarf er gerade jetzt weiterer, neuer Formate und Möglichkeiten der Repräsentation, welche das Verblassen der Vergangenheit überwinden und die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart auch ohne die Deutungsinstanz der Zeitzeugen herstellen können? Die diskursive Relevanz des Themas bei gleichzeitiger, ungebrochener Streitwilligkeit besteht fort und macht eine andauernde Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust unabdingbar.

20 Prozent der deutschen Bevölkerung feststellte. Siehe http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/37499490_kw04_antisemitismusbericht/index.html vom 25.01. 2012. 5

Der Begriff ‚Erinnerungssituation‘ wird in dieser Arbeit als Terminologie für verschiedene Ebenen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus verwendet. Eingeschlossen sind dabei die Diskurse der Vergangenheits- und Gedenkpolitik, Erinnerungs- und Gedenkkultur sowie Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft.

6

Hier heißt es: „[…] merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“ Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede – Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, hier S. 18.

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Es kündigt sich ein Generationswechsel in der ‚Zuständigkeit‘ für die Thematisierung der Vergangenheit an. Heute wird immer wieder behauptet, dass die junge Generation der Deutschen anders als ihre ‚älteren Vorbilder‘ wie Günter Grass oder Martin Walser, sich doch weitgehend ‚unbelastet‘ und ‚frei‘ den Themen Holocaust und Nationalsozialismus annehmen und eine freie Sprache nicht nur in der Literatur wählen kann. Sind diese Stimmen, die in ihrer Euphorie oft gerade nicht aus der gemeinten Generation selbst stammen, Ausdruck einer Hoffnung der Älteren, eine nachträgliche ‚Schuld-Lossprechung‘ zu erlangen oder liegt in der wachsenden zeitlichen Distanz zu den Ereignissen in der Tat die Möglichkeit eines ‚unbefangeneren‘ und ‚emotionsloseren‘ Umgangs mit der deutschen Vergangenheit? „Was zu hoffen bleibt, ist folgendes: Daß in ‚meiner Generation‘ die Reflektion über die Vergangenheit nüchterner, objektiver, besonnener geführt wird.“7 Was Tanja Dückers – sie selbst ist Angehörige der ‚verheißungsvoll‘ jungen Generation – 2005 noch als Hoffnung formuliert, lässt sich heute bereits zeigen. Für die liminale Situation der jungen Generation, für eine Zeitenwende, Transformationen und einen Paradigmenwechsel im Holocaust-Diskurs spricht gegenwärtig nicht nur aufgrund des unmittelbar bevorstehenden Wegfalls der Augenzeugengeneration und des damit einhergehenden Abreißens der ‚Gedächtnislinie‘ Einiges. Wie sich der Wandel sozial- und gedächtnistheoretisch kennzeichnen lässt und welche kulturellen, medialen Erzeugnisse ihn repräsentieren, sind die wesentlichen Punkte, die im Verlauf dieser Arbeit herausgearbeitet werden sollen. Was also passiert mit den individuellen Erinnerungen und dem kulturellen Gedächtnis, wenn sie nicht mehr im Rahmen des Gedächtnisparadigmas ‚spontan‘ produziert und ‚automatisch‘ an ihnen partizipiert wird? Welche neuen Verhandlungsmöglichkeiten werden möglicherweise gerade jetzt erst denkbar und was, z.B. ein Gefühl des ‚Unbehagens‘, bleibt bestehen oder pflanzt sich gar fort? Die Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus und des Holocaust darf im westlichen Kulturkreis und in den interdisziplinären Wissenschaften mit Fug und Recht als eines der am umfangreichsten erforschten Themengebiete gelten. Für die Literaturwissenschaft erscheint es bisweilen geradezu so, als sei der Bereich der ‚Nachkriegs- und Erinnerungsliteratur‘ schier bis zur völligen Er- und Ausschöpfung erforscht – was sonst mag beispielsweise ein literaturwissenschaftliches Lexikon der Vergangenheitsbewältigung8 suggerieren –, und damit ebenfalls von einer gewissen Übersättigung bedroht. Auch wenn in jüngster Zeit einige Forschungsbeiträge zur ‚Vergangenheitsliteratur‘ der jüngeren Zeit und der 7

Dückers, Tanja: „Der Schrecken nimmt nicht ab, sondern wächst“, in: Süddeutsche Zei-

8

Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in

tung vom 27.04.2002. Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld: transcript 2007.

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jüngeren Generationen publiziert wurden, etwa von Friederike Eigler, Meike Herrmann oder Ariane Eichenberg,9 arbeiten sich diese Studien überwiegend – und auch dann, wenn sie etwas anderes in Aussicht stellen – an Familienromanen und ausschließlich literarischen Formen tradierter Geschichte in traditionellen Gedächtnisund Generationenkonstellationen ab. Wenn auch die literarischen Neuerscheinungen zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus durchaus fruchtbar und vielfältig sind, lässt sich parallel dazu feststellen, dass die literaturwissenschaftliche Forschung sowie die Literaturkritik seit Mitte der 2000er Jahre abseits der Problematisierung von Generationenkonflikten und transgenerationeller Traumatisierungen10 keine entsprechend neuen, bedeutsamen Untersuchungsfelder hervorgebracht hat. Neuere Genreuntersuchungen finden so gut wie nicht statt, auch deshalb nicht, weil bislang niemand die ‚Genrefrage‘ gestellt und es sich die literaturwissenschaftliche Forschung offensichtlich in der Untersuchung der Familienromane recht bequem gemacht hat.11 Als ebenso ungenügend zu betrachten ist die Einbindung der literarischen Motive in komplexere kulturelle und mediale Rahmungen, welche doch gerade für dieses Thema unabdingbar sind. Durch den transmedialen Vergleich und die Verknüpfung mit weiteren kulturellen Phänomenen kann sich die Literaturwissenschaft, die durch ihren Cultural Turn in vielen anderen Kernbereichen ihres Fachs ohnehin breiter aufgestellt ist, für zusätzliche Perspektiven öffnen. Vor allem die neuen Medien, die in dieser Arbeit einen wichtigen Platz einnehmen, werden in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft bislang äußerst randständig behandelt.12 Abgese-

9

Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin: Erich Schmidt 2005. Herrmann, Meike: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. Eichenberg, Ariane: Zwischen Erfahrung und Erfindung. Jüdische Lebensentwürfe nach der Shoah, Köln: Böhlau Köln 2004.

10 Vgl. u.a. die Beiträge in: Beßlich, Barbara (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin: Erich Schmidt 2006. Blasberg, Cornelia: „Geschichte als Palimpsest“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 464-495. 11 Eine Ausnahme ist hier Aleida Assmann, die in einer ihrer jüngsten Veröffentlichungen nach dem ‚Genre der neuen Erinnerungsliteratur‘ fragt. Assmann, Aleida: „Wem gehört die Geschichte? Fakten und Fiktionen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 36, Heft 1 (2011), S. 213-227. 12 Erfreuliche interdisziplinäre Ausnahmen stellen folgende Sammelbände dar: Paul, Gerhard/Schoßig, Bernhard (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen: Wallstein 2010. Korte,

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hen von der Transmedialität fehlen auch der Rückbezug zum gesellschaftlichen Diskursfeld und die soziale Verortung von Literatur und kulturellen Medien, für welche Astrid Erll jüngst die schöne Formel des „Social life of texts“ entworfen hat.13 Danach sind Literatur und andere Medien nicht als genuine, autarke Bereiche der Kultur, sondern als sozial-gesellschaftliche und kulturelle ‚Experimentierräume‘ zu untersuchen – eine Sichtweise, der sich auch diese Arbeit verpflichtet. „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft ist zunächst einmal durch ihren besonderen Blick und durch ihr besonderes thematisches Interesse bestimmt: Sie betrachtet Literatur als Teil der Gesamtkultur, also in ihrer Mitwirkung an Konstitution, Tradierung und Veränderung von kulturellen Sinn- und Zeichenbildungen.“14

Ausgehend von den Culture Studies wird in dieser Arbeit Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft verstanden, auch und vor allem aufgrund des hier zu verhandelnden Gegenstands, der Erinnerungskultur des Holocaust, welcher ein interdisziplinäres und gesamtkulturelles Gebiet beschreibt. Der stets gewahrte kulturwissenschaftliche Blick wird vor allem auch deshalb für das Vorgehen in dieser Arbeit erforderlich sein, da Kultur und insbesondere die Erinnerungskultur als „konfliktärer Prozess“15 betrachtet wird, in dem derzeit der Paradigmenwechsel, Wandel und Übergang einsetzt. Als Arbeitsgrundlage gilt das kulturwissenschaftliche Gedächtnismodell Aleida und Jan Assmanns,16 auch wenn es hier als Gedächtnisparadigma in erster Linie der Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript 2009. Explizit zu den neuen Medien: Meyer, Erik (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a.M.: Campus 2009. 13 Erll, Astrid: „The social life of texts“ – Erinnerungsliteratur als Gegenstand der Sozialgeschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 36, Heft 1 (2011), S. 227-233. 14 Dieterle, Bernard/Engel, Manfred/Lamping, Dieter/Ritzer, Monika: „KulturPoetik – Eine Zeitschrift stellt sich vor“, in: Dieterle, Bernard/Engel, Manfred/Lamping, Dieter/Ritzer, Monika (Hg.): KulturPoetik Band 1 (2001), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, S. 1. 15 Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. 3. Auflage, Wiesbaden: VS 2010, S. 21. 16 Aus der umfassenden Forschung Aleida und Jan Assmanns werden folgende Arbeiten zugrunde gelegt: Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München: C.H. Beck 2007. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck 2006 und 1999. Assmann, Aleida: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kul-

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Modifizierung bzw. der Transformation unterzogen werden soll, wie u.a. von Astrid Erll und Ansgar Nünning oder den Kommunikationswissenschaftlern Dörte Heins und Martin Zierold in Ansätzen unternommen wurde.17 Für die deutsche Gegenwartskultur, in deren großen Rahmen sich auch diese Studie einfügt, gilt, dass durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Jahre 1989/1990 von einer erneuten – der zweiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Zäsur und einem neuen Abschnitt in der Kunst und Kultur, besonders der Gegenwartsliteratur, ausgegangen werden kann. Die literaturgeschichtliche Zäsur wird in übergreifenden Bestandsaufnahmen und Sammelbändern wie Kammler/Pflugmacher oder Kammler/Wilczek18 ebenso deutlich wie in Einzelwerken, welche die Texte und Autoren der ‚Nach-Wende-Zeit‘ versammeln, wie z.B. die oben erwähnten Arbeiten Eiglers oder Herrmanns. Doch nicht nur dass in der Literatur nach 1989/1990 neue (historische) Gegenstände verhandelt und in der Forschung rezipiert werden, auch für die Themen Holocaust und Nationalsozialismus hat die deutsche Wende eine neue Blickrichtung geöffnet.19 Heute, noch einmal gut 23 Jahre später und mehr als ein Jahrzehnt nach einer weiteren globalhistorischen Zäsur durch die Terroranschläge vom 11. September 2001, lässt sich eine neue Benchmark setzen. Wie kann die Literatur fast 70 Jahre nach Kriegsende, nach der deutschen Wiedervereinigung und nach den Erfahrungen von 9/11 noch

turellen Erinnerung, Frankfurt a.M.: Fischer 1991. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2000 und 1992. 17 Vgl. u.a.: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin: De Gruyter 2005; Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin: De Gruyter 2004; außerdem Erll, Astrid/Wodianka, Stephanie (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin: De Gruyter 2008. Hein, Dörte: Erinnerungskulturen online: Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust, Konstanz: UVK 2009. Zierold, Martin: Gesellschaftliche Erinnerung: eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive, Berlin: De Gruyter 2006. 18 Kammler, Clemens/Pflugmacher, Torsten (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg: Synchron 2004. Kammler, Clemens/Wilczek, Reinhard (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Gattungen – Themen – Autoren. Eine Auswahlbibliographie, Heidelberg: Synchron 2003. 19 Siehe exemplarisch die Beiträge in: Gansel, Carsten/Zimniak, Pawel (Hg.): Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Unipress 2010.

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etwas Neues zum Holocaust-Diskurs, zur Verhandlung des Nationalsozialismus beitragen? Wie kann etwas Neues erzählt und gehört werden, wenn außerdem das Gefühl einer Übersättigung besteht und doch eigentlich schon alles gesagt und ausführlich elaboriert worden ist? Die bereits erwähnte Literaturwissenschaftlerin Meike Herrmann konstatiert dazu: „Wer künftig über den Holocaust und den Nationalsozialismus schreiben will, wird sich, ob als Nachfahre von Opfern oder Tätern, auf einen der beiden Wege begeben müssen: die Erfindung von Erinnerung oder die Spurensuche auf dem immer länger werdenden Weg zurück in die Geschichte.“20

Die Auswahl der in dieser Arbeit versammelten Texte und Medien erfolgt nicht über die Entscheidung für eine dieser beiden Verfahren, Fiktion oder Authentizität. Über beide Wege wurde ohnehin bereits ausreichend gesprochen und geschrieben. Hier soll es eher um die kleineren ‚Trampelpfade‘ zwischen diesen Wegen gehen und um ihre (Über-)Kreuzungen. Dazu ist es wichtig, die Dichotomien, Begrenzungen und starren Kategorien aufzuweichen, die sich im Vergangenheits- und Erinnerungsdiskurs weitgehend manifest zeigen, und diesen alternative Begriffe und Analyseinstrumentarien entgegen zu stellen, denn: „fängt in Deutschland einer an, über die Juden zu sprechen, so verstummt meist das Gespräch, erst recht, wenn ein Jude dabei ist. Neben vielen anderen Gründen ist dafür ein einziger für sich schon genug: den Deutschen hat es über die Juden buchstäblich die Sprache verschlagen.“21

Es werden im Verlauf dieser Arbeit Begriffe verwendet, die von ‚Bedeutungsschwere‘ getragen sind, terminologische Schwierigkeiten bergen oder gar Fallstricke bereit halten, die es möglichst zu umgehen gilt, jedoch: „Wie kann man über gesellschaftliche Zuordnungsbegriffe schreiben, ohne diese Begriff selbst zu verwenden? Mit anderen Worten, wie kann man schwimmen, ohne naß zu werden?“22

20 Herrmann, Meike: „Spurensuche in der dritten Generation. Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust in der jüngsten Literatur“, in: Fröhlich, Margit/Lapid, Yariv/Schneider, Christian (Hg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland, Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004, S. 139-157, hier S. 154. 21 Mattenklott, Gert: Über Juden in Deutschland, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 2. 22 Stellvertretend zur Thematik der ‚richtigen Wortwahl‘ und ‚Anführungszeichen‘: BeckGernsheim, Elisabeth: „Schwarze Juden und griechische Deutsche. Ethnische Zuordnung

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Die Thematik und der Gegenstand machen es unumgänglich, an dieser Stelle die ‚Frage der Anführungszeichen‘ zu klären, definitorische Weichen zu stellen und Begriffe festzulegen, die durch die folgenden Seiten und an den ‚Fettnäpfchen‘ vorbei führen sollen. Dabei verweist die Problematik der Wortwahl bereits auf eine der hier zu vertretenden Kernthesen: auf das Sprachproblem im Sprechen über den Holocaust, das ‚Nicht-Passen‘ und die Überdeterminiertheit sprachlich ‚doktrinär‘ auftretender Narrative im Holocaust-Diskurs. „Es provoziert die Frage danach, wem gehört die Geschichte? Darf nur ein Mann über die Geschichte eines Mannes schreiben? Darf nur ein Jude über Juden schreiben? Nur der Ostler über den Osten? Nur die Deutschen über ihre Geschichte, ihre Teilung, ihre Grenze? Nur das Opfer über Opfer? Nur der Zeitzeuge über seine Zeit? Wer kann, wer muss – und wem erteilt wer ein Verbot?“23

Darf hier also von ‚den Juden‘ und ‚den Deutschen‘, von ‚den Tätern‘ und ‚den Opfern‘ überhaupt und speziell in dieser Opposition die Rede sein, vor allem da es gerade darum gehen soll, die Dichotomien, das ‚Entweder-Oder-Prinzip‘ pauschalisierender Oppositionen aufzulösen? Gibt es alternative Begriffe, die weniger problematisch, dabei aber auch nicht derartig konstruiert sind, dass sie ein Stocken provozieren? Nationale, ethnische und religiöse Kennzeichnungen sollen im Folgenden überhaupt nur dort explizit vorgenommen werden, wo es argumentativ notwendig ist; in diesen Fällen dann jedoch mit Anführungszeichen.24 Deutschlands Erinnerungskultur ist ‚Exportschlager‘ und die bundesdeutsche Auseinandersetzung mit den Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs gilt im internationalen Vergleich als geradezu „vorbildlich“25. Kein anderes Land hat derart großen Aufwand und Aufwendungen politischer, gesellschaftlicher und kultureller Art für die Aufarbeitung, Bewältigung und letztlich auch der Bewahrung ihrer Vergangenheit aufgebracht wie Deutschland. Gerade deshalb lassen sich jedoch heute auch mindestens zwei Meinungen bezüglich dieser Anstrengungen kennzeichnen: Einigen wird immer noch zu wenig erin-

im Zeitalter der Globalisierung“ in: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 1998, S. 125-169, hier S. 151. 23 Franck, Julia: Grenzübergänge, Frankfurt a.M.: Fischer 2009, S. 2. 24 Die Verwendung der Begriffe ‚Juden‘ oder ‚Deutsche‘“, aber auch ‚Türken‘ oder ‚Migranten‘ wird nicht programmatisch pauschalisierend oder gar homogenisierend und ausschließlich verstanden, sondern unterstützt bzw. erleichtert die jeweilige situative Argumentation. 25 Wüllenkemper, Cornelius: „Diktaturerfahrungen der Deutschen – Wie machen wir das wieder gut?“, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.06.2011.

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nert und gemahnt und anderen wird es, wie bereits bemerkt, mittlerweile schier zu viel.26 Damit einhergehend erhalten auch die Begriffe ‚Erinnerungskultur‘, ‚Gedenkkultur‘, ‚Erinnerung‘ und ‚Gedächtnis‘ heute eine inflationäre Verwendung und werden zuweilen ohne die nötige Trennschärfe gebraucht; gleichwohl kreieren Wissenschaft und Öffentlichkeit permanent neue Alternativbegriffe. Das Gedächtnis, in dieser Arbeit vor allem als kulturelles gedacht, wird nicht als starres, statisches Archiv, als Konzeption zur Speicherung, sondern ausdrücklich als ‚Handlungs-‘ oder ‚Aktionsraum‘ und dynamisches Gebilde, welches Erinnerungen bzw. besser ‚Erinnerungshandlungen‘ bündelt und reproduziert, betrachtet. In Richtung einer Raummetaphorik, die ein Fundament dieser Arbeit stellt, tendiert auch der Begriff der „Erinnerungstopographien“27 der Kulturwissenschaftlerin Alexandra Lübcke, von dem die Definition der ‚Erinnerungshandlungen‘ abzuleiten ist. Für die Auseinandersetzungen mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus können heutige Jugendliche und junge Erwachsene nicht mehr auf eigene Erinnerungen zurückgreifen, mehr noch, auch die vermittelten Erinnerungen ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern reißen durch den bevorstehenden Generationswechsel ab. Dem Wortsinn nach kann es kein Erinnern mehr geben; weder ein Erinnern, noch die Erinnerung sind in diesen Altersgruppen rein biologisch und kognitiv möglich. Daraus ableitend soll in dieser Arbeit statt ‚Erinnerung‘ und ‚Erinnern‘ vielmehr der Begriff ‚Erinnerungshandlung(en)‘ zum Einsatz kommen.28 In der Inanspruchnahme des Begriffs ‚Erinnerungshandeln‘ geht es explizit um den aktiven Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um ‚Memory Work‘. In der jungen Generation und allen nachkommenden Generationen werden Rückbezüge, Reflexionen, Partizipationen (an) der Vergangenheit nur unter ‚bewussten Anstrengungen‘ möglich, so dass der Begriff des Erinnerungshandelns 26 Vgl. Jureit, Ulrike: „Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht“, in: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart: Klett-Cotta 2010, S. 17-105, hier S. 19. 27 Lübcke, Alexandra: „Enträumlichungen und Erinnerungstopographien: Transnationale deutschsprachige Literaturen als historiographisches Erzählen“, in: Schmitz, Helmut (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam: Rodopi 2009, S. 77-99. 28

Ähnliche Alternativbegriffe haben unlängst Martin Zierold („Erinnerungslaboration“) und Kirsten Prinz („Erinnerungsverhandlung“) in den Diskurs eingeführt. Vgl.: M. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 165; Prinz, Kirsten: „‚Möchte doch keiner was davon hören‘ – Günter Grass‘ im Krebsgang und das Feuilleton im Kontext aktueller Erinnerungsverhandlungen“, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin: De Gruyter 2004, S. 179-195.

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besonders den aktiven, dynamischen Prozess und die damit einhergehenden mehr oder weniger starken Anstrengungen sowie die grundsätzliche Unabgeschlossenheit dieses mitunter konflikthaften Prozesses bezeichnet. Während das Erinnerungshandeln vor allem für die sozial-gesellschaftliche Beobachtung der jungen Generation fruchtbar gemacht werden soll, steht der Prozess des ‚Work in Progress‘ als Überbegriff und übergeordnetes Denkmodell der exemplarischen Analysen ein. Auch die mediale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist durch einen Arbeitsprozess, ein aktives Aneignen und die Prozessualität der Reflexion gekennzeichnet. Dabei ist entscheidend, dass das in diesem Prozess entstehende ‚Werk‘ entweder noch aktuell und noch im Begriff der Vollendung ist bzw. gar nicht voll- und beendet werden kann und soll. Als dauerhafter Übergangsstatus nimmt diese Vorstellung auch die Verhandlung von Vergangenheit als einen unabschließbaren Prozess der Aktualisierung und Neuinterpretation auf. Der Projekt-Begriff wird insofern in verschiedenen Kontexten dieser Arbeit aufgegriffen. So besitzt der Gedanke eines permanent im Wandel begriffenen ‚Nicht-Zustandes‘ vor allem auch im Bereich der Popkultur und der Performance eine starke Signifikanz als „prozessual entstehendes Kunstwerk“ und „Augenblickskunst.“29 Dort, wo Leben und Kunst per se zum ‚Projekt‘ und die Vergangenheitsreflexion nicht selten zum ‚Event‘ stilisiert, wird die Liminalität des Übergangs zur Raum- und Zeitmetapher und die Ereignishaftigkeit zum leitenden Paradigma einer „Kultur der Aufmerksamkeit“30. Ein weiterer Begriff soll in dieser Arbeit Bedeutung erhalten. Angelehnt an den ebenfalls mittlerweile inflationär verwendeten Begriff der ‚Political Correctness‘ entsteht als Negativfolie der hier im Zentrum der Analyse stehenden medialen Vergangenheitsreflexionen der Begriff der ‚Memorial Correctness‘31.

29 Goetz, Reinald: Rave, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 84. 30 Assmann, Aleida: „Druckerpresse und Internet. Auf dem Weg von einer Gedächtniskultur zu einer Kultur der Aufmerksamkeit: Oberfläche, Geschwindigkeit und Supermarkt“, in: Frankfurter Rundschau vom 18.01.2003. 31 Bei dem Begriff ‚Memorial Correctness‘ handelt es sich um einen konstruierten Begriff, den es weder im Englischen noch in der deutschen Übersetzung gibt. Hier wird ‚memorial‘ als Adjektiv im Sinn von ‚gedenk‘- und insbesondere als Analogie zu dem Begriff ‚Political Correctness‘ verwendet, mit dem er eng verknüpft ist. Ins Deutsche übersetzt würde er wörtlich ‚gedenk-korrekt‘ oder freier ‚erinnerungskulturell-korrekt‘ meinen. Es geht jedoch eher um den übertragenen Sinn, der im Englischen etwa ‚remembering in a frame of political correctness‘ meint und im Deutschen ‚Erinnern/Gedenken im Rahmen etablierter, erinnerungskulturell als angemessen geltender Vorstellungen‘, wobei hier vor allem das künstlerische, darstellende ‚Erinnern‘ der Medien gemeint ist.

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„Das Hantieren mit dem nur halb verstandenen Ausdruck ‚political correctness‘ […] verrät normative Enthemmung und kognitive Entdifferenzierung im Umgang mit sensiblen Themen.“32

Der Begriff ‚Political Correctness‘ verweist auf eine lange, vor allem politische, Tradition und geht dem heutigen Verständnis nach auf die Vereinigten Staaten der 1960er Jahre und die Zeit der Bürgerrechtsbewegungen zurück.33 So unpräzise die Definition von Political Correctness auch bisweilen ist – „Ach, die politische Korrektheit gleicht diesem glitschigen grünen Gelkissen, die man auf dem Temple Street Flohmarkt in Hongkong kaufen kann und die jedem aus der Hand rutschen, der sie anfasst“34 – so eindeutig und klar wird ein (vermeintlicher) Verstoß gegen diese geahndet. Political Correctness bzw. ein Verstoß gegen sie unter dem Zeichen der ‚Political Incorrectness‘ führt auf sprachliche Äußerungen zurück, welche neben der wörtlichen Rede auch kulturelle und künstlerische Sprechakte und Texte einschließt. Kulturwissenschaftlich untersucht wurden Phänomene der politisch ‚inkorrekten‘ oder verletzenden Sprache vor allem von Judith Butler in ihrer Definition als „hate speech´ 35, die, auch wenn sie sich auf Geschlechterbeziehungen sowie den US-amerikanischen Rassismus bezieht, hier von Bedeutung ist. Die ‚verletzende Sprache‘ bewirkt ein Verletzen der Gefühle einer ausgegrenzten Minderheit, ebenso wie auch der Gesetzmäßigkeiten von Moral und Ethik. Mit im Dunstkreis von Political Correctness tummelt sich das Tabu, dessen Differenzierung beispielsweise von Nicole Colin und Matthias N. Lorenz für historische Kontexte unternommen wurde.36 Während Colin und Lorenz eine Unterscheidung zwischen Tabu und Political Correctness stark machen, sind darüber hinaus gerade für den Verhandlungsraum von Nationalsozialismus und Holocaust deutliche Überschnei32 Habermas, Jürgen: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften, Band. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 173. 33 Vgl. u.a. Schenz, Viola: Political Correctness. Eine Bewegung erobert Amerika, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1994. 34 Klute, Hilmar: „Was du nichts sagst. Der Mechanismus von Provokation und Empörung ist eine Art Desinfektionsmittel der Gesellschaft. Und er behindert das Denken“, in: Süddeutsche Zeitung vom 31.10/01.11.2009. 35 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 36 Vgl. Colin, Nicole/Lorenz, Matthias N./Umlauf, Joachim: „Einleitung“, in: Colin, Nicole/Lorenz, Matthias N./Umlauf, Joachim (Hg.): Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten Essen: Klartext 2011, S. 7-11. Außerdem im selben Band: Lorenz, Matthias N.: „Die Motive des Monsters oder die Grenzen des Sagbaren. Tabubrüche in den Niederlanden und Deutschland und ihre literarische Spiegelung in Erzählungen von Harry Mulisch und F.C. Delius“, S. 119-139.

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dungen dieser beiden Diskurse bemerkenswert. Besonders die öffentlichkeitswirksamen und medialen Debatten sind von Tabus und Sprachverletzungen durchzogen bzw. entstehen überhaupt erst durch diese. Der gute „historische Geschmack“37, der durch die Wahrung der Political Correctness garantiert werden soll, wird hierbei (bewusst) überschritten und die (vermeintlichen) Verletzungen durch ihre mediale Inszenierung verstärkt. Derartige Grenzgänge, der Versuch der Überwindung und Enttabuisierung des Tabus durch dessen Versprachlichung, sind dabei gleichzeitig auch von wesentlicher Bedeutung für die gesellschaftliche wie individuelle Moral, da sie nur so überhaupt diskursfähig werden können.38 Im Zuge historischer Diskurse wie dem Nationalsozialismus hat sich in den vergangenen Jahren der Begriff der „historischen Korrektheit“39 an die Seite der Politcal Correctness gestellt, welcher auf dem Weg zu meiner Definition der Memorial Correctness als Bindeglied gelten darf. Der Ruf nach politisch korrekter Sprache und Handlung besitzt für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und dem Holocaust vor allem in Deutschland eine enorme Relevanz. In den 1950er Jahren, einer Zeit, in der die Verbrechen des Nationalsozialismus erstmals beim Namen genannt wurden, mussten sich öffentliche Redensführer nicht selten daran messen lassen, wie gut oder schlecht sie sich zur deutschen Vergangenheit äußern konnten. Dies zeigt sich auch heute, denn immer wieder unterliegt das Sprechen über die deutsche Vergangenheit der besonderen Beobachtung und Reglementierung durch die Verteidiger der Correctness. Als These dieser Arbeit lässt sich daraus ableiten, dass von einer Depotenzierung der Tabudebatte keinesfalls die Rede sein kann, auch wenn sich das Sprechen über den Holocaust heute wesentlich vielfältiger gestaltet und der Disput darüber auch wichtige, neue Energien freisetzt. Die Schablone der Political Correctness wird im Verlauf dieser Arbeit immer wieder einmal angelegt, nicht um ihr das Wort zu reden, sondern um die Ambivalenz wie auch die aus ihr hervorgehende Dynamik gegen bestehendes Unbehagen zu verdeutlichen, denn: „es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht daran würgen sollen.“40

37 Kansteiner, Wulf: „Alternative Welten und erfundene Gemeinschaften: Geschichtsbewusstsein im Zeitalter interaktiver Medien“, in: Meyer, Erik (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a.M.: Campus, S. 29-54, hier S. 46. 38 Vgl. Klein, Gabriele: „Körper zeigen. Performance-Kunst als Tabubruch“, in: Benthien, Claudia/Gutjahr, Ortrud (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender, München: Wilhelm Fink 2008, S. 247-261, hier S. 251. 39 M. N. Lorenz: Die Motive des Monsters, S. 121. 40 Tabori, George: Unterammergau oder die guten Deutschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 37.

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Die Debatte um Political Correctness bestellt auch heute noch ein „modernes Tabu“41, das sich keinesfalls mit der Postmoderne und ihrer allgemein verlautbarten ‚Tabulosigkeit‘ verflüchtigt hat. Für die Reflexionen der Vergangenheit kommt hinzu, dass es nicht mehr nur darum geht, was politisch oder historisch korrekt kommuniziert werden kann, sondern auch, was dem Sinn einer ‚angemessenen‘ Erinnerungskultur entspricht. Damit geht es um nichts weniger als um die Frage, was gesagt, geschrieben oder zu Kunst gemacht werden ‚darf‘. Welche Sprache, welcher Text, welches Bild gilt also als ‚memorial correct‘ und was ist dem Thema und Anlass nicht angemessen? Besonders bei der Frage, wie die politische, gesellschaftliche und mediale Auseinandersetzung mit dem Holocaust auszusehen hat, schlagen moralische, ethische und ästhetische Anforderungen große Wellen. Dabei geht es immer auch um die Frage nach der richtungsweisenden Instanz und den Inhabern der Deutungsmacht, welche bisweilen vor allem die den Begriff der Political Correctness besonders prägende Generation der sogenannten 68er-Generation mit ihrem moralischen Mantra ‚Nie wieder Auschwitz‘ vereint hält. Aus diesen Reihen waren und sind die Forderungen nach Political Correctness besonders laut und besonders auch dort zu vernehmen, wo es über ‚angemessene‘ Formen der Auseinandersetzung, der Repräsentation und der künstlerischen Darstellung des Holocaust zu diskutieren gilt. Wie aber lässt sich eine angemessene von einer weniger angemessenen oder gar völlig inkorrekten, verbotenen Sprechweise unterscheiden? Was also bedeutet Memorial Correctness? „Dieses Verbot ist nicht kodifiziert, es wird nirgends direkt ausgesprochen, ihm kommt aber, wie unschwer an der Reaktion abzulesen ist – […] eine allgemeine Gültigkeit zu. Dieses unausgesprochene Verbot grenzt einen rechten Umgang mit dem Nationalsozialismus und der Shoah von einem unrechten ab.“42

Vermeintliche Sprachtabus und Diskurse der Political Correctness werden auch bewusst aufrecht erhalten, sie müssen „immer wieder öffentlich, lautstark und nachdrücklich eingefordert werden, um einem Vergessen und Verdrängen schmerzlicher […] Erinnerungen entgegenzuwirken“43. Nur durch ihre Thematisierung können sie überhaupt zum Bestandteil tragender Diskurse werden. Vor allem an die 41 Kraft, Hartmut: „Nigger und Judensau. Tabus heute“, in: Benthien, Claudia/Gutjahr, Ortrud (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender, München: Wilhelm Fink 2008, S. 261275, hier S. 261. 42 Kramer, Sven: „Tabuschwellen im literarischen Diskurs über den Nationalsozialismus und die Shoah“, in: Benthien, Claudia/Gutjahr, Ortrud (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender, München: Wilhelm Fink 2008, S. 177-191, hier S. 177. 43 H. Kraft: Nigger und Judensau, S. 272.

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junge Generation wird immer wieder herangetragen – und wie einleitend bemerkt teilweise empirisch bestätigt –, sie interessiere sich nicht mehr für die unpopuläre Vergangenheit. Daraus, so der Vorwurf, entwickelt sich entweder gar keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder eine ‚unrechte‘, eine, die auf Eventisierung, Erlebnis und Flüchtigkeit, nicht aber auf besonnenes Innehalten, stilles Gedenken und Dauer fokussiert ist. Bei der Fragestellung unrechter, im Sinne einer Memorial Correctness unangemessener Thematisierungen des Holocaust geht es nicht zuletzt um die moralische Bewertung, also um die Frage, ob ästhetische Formate der Bedeutungsschwere der Verbrechen der NS-Zeit moralisch gerecht werden und ihnen ‚angemessen‘ sind. Mit dem Generationswechsel und dem Übertritt in eine „Erlebnisgesellschaft“44 werden gegenwärtig auch die Karten der HolocaustRepräsentation und ihrer Akzeptanz neu gemischt. Nicht nur dass die Formen und Formate der Vergangenheitsreflexionen unter den gegenwärtigen Bedingungen an Vielfalt zunehmen und immer mehr unter das Gebot der Aufmerksamkeit fallen, auch die angesprochene Deutungshoheit der 68er-Generation sowie der Augen- und Zeitzeugengeneration gerät mehr und mehr zur Ausnahme. Wer übernimmt nun die Autorisierung von Memorial Correctness oder ist dies ein Modell, welches unter postmodernen Zeichen, ‚chaotischen Zuständen‘ und eines allgemeinen ‚Anything goes‘ ohnehin obsolet wird? Die Frage einer allgemeingültigen Angemessenheit – dies sei hier vorausgestellt – wird auch diese Arbeit nicht klären können. An das oben vorgetragene Zitat Herrmanns über zukünftige Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Holocaust anknüpfend ist aber auch bereits zu konstatieren, dass von mehr als nur zwei Möglichkeiten eines Sprechens, Schreibens und künstlerischen Thematisierens der Vergangenheit auszugehen ist. Die exemplarischen Analysen sollen zeigen, dass es fernab von erfundener Erinnerung und langwieriger Spurensuche, Pfade, wenn auch verschlungene und zumal äußerst schmale oder gar abgründige, gibt, auf denen ein Zugang zur deutschen Vergangenheit gelingen kann. Die Zeit des einen, verbindlichen ‚Master Narratives‘, der Rahmen- und Identität gebenden Master-Erzählung, scheint dabei vorbei zu sein.45 An seine Stelle treten gerade auch für Thematisierungen der deutschen Vergangenheit plurale, sich verbindende und kreuzende Ge-

44 Diesen Begriff prägte der Soziologe Gerhard Schulze, siehe dazu vor allem Kapitel I, 4. 45 „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren“, sagt Jean-Francois Lyotard. Vgl.: Lyotard, Jean-Francois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Böhlau 1986, S. 112. Auch Aleida Assmann spricht von „mehrere[n] Geschichten“ anstelle eines Master-Narrativs (siehe dazu Kapitel I, 2).

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schichten nach dem methodischen Vorbild Leslie A. Adelsons „Touching Tales´ 46. Nicht nur auf der Folie der Gesellschaftsgegenwart berühren sich die Lebens- und Erinnerungsräume unterschiedlicher Couleur, auch die Vergangenheit wird aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und perspektiviert. Um Möglichkeiten für Erinnerungshandlungen in der Zukunft zu schaffen, ist es so unabdingbar, diese pluralen Perspektiven in die Verhandlungsmasse aufzunehmen, ebenso aber auch nicht zu unterschlagen, woher diese stammen. Spätestens mit dem attestierten Übergang in die Postmoderne als „kulturelle Dominante“47 verschwimmen die Paradigmen der Moderne, lassen sie sich nicht mehr in einen „traditionellen Verstehenszusammenhang einbinden“48. Das methodische Handwerkszeug, um Literatur und Kultur in einem umfassenden Sinn zu betrachten, liefert die Diskursanalyse; im Interesse stehen hierbei speziell die politischen, kulturellen und sozial-gesellschaftlichen Diskurse. Um das methodologisches Vorgehen zusammenfassend mit Astrid Erlls bereits erwähnten ‚Social-Life-Formel‘ zu beschreiben: „Faszination, Herausforderung und Problematik eines solchen Social-life-Zugangs […] bleibt freilich die dazu notwendige Zusammenführung von Methoden der Geschichts-, Sozial-, Medien- und Literaturwissenschaften.“49 Neben der in der Tat faszinierenden Herausforderung und dem innovativen Ansatz eines solchen Vorgehens, nicht nur unterschiedliche Medien, sondern auch zwei wesentliche Diskurse, den sozialen und den im weitesten Sinne medialen, unter zwei Forschungszielen – einerseits die ästhetische Dimension der Holocaust-Repräsentationen und andererseits deren gesellschaftliche Funktion – zu integrieren, bringt dieser Ansatz auch ein methodisches Problem mit sich. Eine besondere Herausforderung stellt dabei nämlich die Lesbarkeit insbesondere multimedialer Medienformate und die Analyse ihrer Narrative vor dem Hintergrund literarischer Erzählformen, die den Ausgangspunkt und Kern dieser Arbeit bereiten. Die Frage, wie eine Website, ein Facebook-Profil oder ein YouTube-Video zu ‚lesen‘ ist, soll mit dem Modell der Transformation angegangen und die multimedialen Medien als kulturelle und literarische Transformationen ihrer traditionellen Formen betrachtet und unter weitgehend narratologischen Aspekten analysiert werden. 46 Vgl. Adelson, Leslie A.: „Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s“, in: New German Critique, 80 (2000), S. 93-124. 47 Jameson, Fredric: „Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“, in: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Postmoderne: Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek: Rowohlt 1986, S. 45-102, hier S. 47 f. 48 Förster, Nikolaus: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 9. 49 A. Erll: The social life of texts, S. 231.

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Diese Arbeit verlangt eine grundsätzlich integrative Methodik, was für die Einbindung theoretischer Aspekte bedeutet, dass diese im Wesentlichen innerhalb der Analysekapitel erfolgen und nicht als ‚Theorieblock‘ voran gestellt werden. Die exemplarischen Analysen in den Kapiteln II, III und IV bilden den Schwerpunkt der Arbeit und sind in unterschiedliche Mediensegmente – Literatur, Performances und Neue Medien – unterteilt, deren Verbindungsglied das Modell des Work in Progress bildet. Für die Auswahl der Beispiele gelten neben Innovationsanspruch, Relevanz für jüngere Adressaten sowie jüngerer Publikationszeit (um/nach 2000), z.T. auch die Autoren/Künstler selbst, die in ihrer Mehrheit der dritten Generation (um 1965 geboren) oder der ‚jungen Generation‘ (um 1975 geboren) angehören bzw. sich an diese anlehnend inszenieren. Die Autoren und Künstler sind entweder deutschsprachig, produzieren ihre Werke für eine deutsche Rezipientengemeinschaft oder werden im Diskurs deutscher Erinnerungskultur thematisiert. Es wird darüber hinaus keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen deutschsprachigen jüdischen und nicht-jüdischen Autoren vorgenommen. Die Fragestellungen dieser Arbeit richten sich ausdrücklich nicht an ‚typisch jüdische‘ oder ‚typisch deutsche‘ Texte, sondern an gegenwärtige Aushandlungsprozesse und ihre medialen Reflexionen, an denen deutschsprachige jüdische und deutschsprachige nicht-jüdische Autoren und Künstler gleichermaßen beteiligt sind, mehr noch: Sie sind gerade für das vielfältige Panorama, welches hier gebildet wird, wesentlich verantwortlich. Kapitel V bildet das Fazit und zieht eine knappe Bilanz aus den zuvor durchgeführten Analysen, um dann in einem Ausblick in die noch weiter entfernte Zukunft der Vergangenheit zu blicken und mit der Notwendigkeit eines andauernden Work in Progress zu enden.

2. M ODIFIZIERUNGEN

DES

G EDÄCHTNISBEGRIFFS

Für kaum eine andere Thematik wird die Gedächtnisforschung seit Jahren derart vielfältig und interdisziplinär fruchtbar gemacht wie für die Themen Holocaust und Nationalsozialismus. Gleichzeitig scheint der Untersuchungsgegenstand selbst, das Gedächtnis, auch in Bezug auf keine andere Thematik derartig „umkämpfter Gegenstand“50 der Gegenwartskultur zu sein. Der historische Zeitraum von 1933 bis 1945 ist, so darf man heute mit Gewissheit konstatieren, ein wichtiger Bestandteil des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses – mit je nationaler, vor allem für Deutschland, und internationaler Bedeutung als globales Zeichen. Um die Transformationen des Gedächtnisparadigmas zu zeigen, soll nun der zugrunde liegende

50 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 16.

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Gedächtnisbegriff und die Theorie, die sich hinter ihm verbirgt, auf Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten der Veränderung hin untersucht werden. „Memory Sells“51 – Die Bedeutung des Holocaust in den Erinnerungskulturen ist ungebrochen und erhält heute immer größere Aufmerksamkeit je deutlicher und provokanter seine Narrative in die Öffentlichkeit hineindrängen. Wie aber manifestierte sich dieses für die Weltbevölkerung traumatische Ereignis als „Memory“ derart fest im Bewusstsein, dass ein ebenso großes wie interdisziplinäres Forschungsfeld der Gedächtnistheorien als ein „neue[s] Paradigma der Kulturwissenschaft“52 ausgerufen wurde? Geschichte und Gedächtnis sind zwei immer wieder miteinander in Verbindung gebrachte Begriffe. Der in Deutschland in den 1990er Jahren festzustellende sogenannte „Gedächtnis-Boom“53 setzte zu einer Zeit ein, die wesentlich durch die Wiedervereinigung Deutschlands bestimmt war und in der sich nach Jahrzehnten der Trennung auch eine gesamtdeutsche Identität entwickeln sollte. Mit der Deutschen Wiedervereinigung wurde nicht nur auf politischer Ebene die Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Staaten postuliert, sondern auch das ‚Deutschsein‘ erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder als ‚nationale Aufgabe‘ empfunden. Ein „verstärkter Nationalismus“54 machte sich nach der Wende in beiden deutschen Staaten bemerkbar und intensivierte auch die Neuverhandlung von historischem Gedächtnis und historischer Identität. Etwa zeitgleich entstand ein internationales Forschungsinteresse daran, sich mit Hilfe der konkreten Verfahrensweisen des menschlichen Gedächtnisses wie auch seiner symbolischen Beschaffenheit den Zusammenhang von Vergangenheit, kollektiver Erinnerung und Identität zu erschließen.55 In Deutschland galt es dabei allem voran, den Holocaust nicht nur als „negativen Gründungsimpuls“56 des vereinten Deutschlands zu betrachten, sondern 51 A. Erll: The social life of texts, S. 228. 52 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 11. 53 Erll, Astrid: „Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen“, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart: Metzler 2003, S. 156-185, hier S. 3. 54 Dayioglu-Yücel, Yasemin: „Identität und Integrität in der türkisch-deutschen Migrationsliteratur“, In: Heinrich Böll-Stiftung (Hg.): Migrationsliteratur. Eine neue deutsche Literatur? Online-Dossier, März 2009, S. 31-36, hier S. 33. 55 Vgl. Neumann, Birgit: „Literatur, Erinnerung, Identität“, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, Berlin: De Gruyter 2005, S. 149179, hier S. 150. 56 Frevert, Ute: „Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit“, in: Assmann, Aleida/Frevert, Ute (Hg.): Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999, S. 151-293, hier S. 259.

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seine historischen, kollektiven und individuellen Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen Handlungen in der Gegenwart zu analysieren. Heute beschäftigt sich mit der Begriffskomposition ‚Geschichte im Gedächtnis‘ eine interdisziplinäre und zumal internationale Forschung: Psychologen, Historiker, Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaftler arbeiten an dem Phänomen Gedächtnis: „Das Phänomen des Gedächtnisses ist in der Vielfalt seiner Erscheinungen nicht nur transdisziplinär in dem Sinne, daß es von keiner Profession aus abschließend zu bestimmen ist, es zeigt sich auch innerhalb der einzelnen Disziplinen widersprüchlich und kontrovers“57, stellt Aleida Assmann 1999 fest. Auch gegenwärtig scheint der Forschungsbedarf an diesem Thema ungebrochen, besonders da sich durch den Generationswechsel und den damit verbundenen Wegfall der Augenzeugen erst kürzlich die akute Notwendigkeit einer solchen Arbeit wieder bestärkt hat. Für die literaturwissenschaftliche Forschung hat die Gedächtnistheorie eine breite Argumentationsfläche geschaffen, auf der besonders die Erinnerungsliteratur und ihre narrativen Gedächtniskonzepte interpretierbar werden.58 Inwiefern diese Konzepte auch in der jüngsten Literatur der dritten bzw. jungen Generation sowie in weiteren kulturellen Texten und Medien vorhanden sind, sollen die exemplarischen Analysen zu einem späteren Zeitpunkt klären. Den Ausgangspunkt einer Transformation des Gedächtnisparadigmas bilden im Kern vier Argumente. Dies ist zum einen das Faktum, dass gegenwärtig ein sich global vollziehender Generationswechsel bevorsteht, der für die Vergegenwärtigung der NS-Zeit und des Holocaust zur Folge hat, dass erstens die Zeit- und Augenzeugengeneration in wenigen Jahren völlig fehlen und es keine primären Erinnerungen mehr geben wird, und damit zweitens in den kommenden jungen Generationen nicht mehr erinnert werden kann. Beides zusammengenommen bringt eine Zäsur und Epochenschwelle hervor, denn: „40 Jahre markieren eine Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung: wenn die lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum Problem werden“.

59

Diese Schwelle wird heute überschritten. An die Stelle der erlebten, individuellen Erinnerung sind in den vergangenen Jahren durch den zunehmenden Wegfall der Zeit- und Augenzeugen mehr und mehr die kulturellen Gedächtnismedien getreten. Damit drängte sich auch in der interdisziplinären Holocaust-Forschung zunehmend

57 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 16. 58 Vgl. u.a. die Beiträge in: A. Erll/A. Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. 59 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 11.

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die Frage auf, wie sich künftige Generationen mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, den sie persönlich nicht mehr erinnern können, auseinandersetzen sollen, wie also die „Zukunft des Erinnerns“60 unter diesen Voraussetzungen aussehen könnte. Hier muss die Frage konkretisiert werden, nämlich: Wie sieht die Zukunft ohne ein Erinnern aus? Das zweite Argument ist im Grunde eine logische Folge aus dem ersten. Durch den Wegfall von persönlichen, familiären Tradierungen und einer zugleich nicht unwesentlichen zeitlichen und emotionalen Distanz zu den historischen Ereignissen werden die kulturellen Medien und ihre Deutungen diskursbestimmend. Die Gedächtnisforschung merkt an, dass in der Zukunft das kulturelle Gedächtnis die Aufgabe übernehmen wird, die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit auch ohne die unmittelbaren Erfahrungen der Zeitzeugen lebendig zu halten.61 „Während bestimmte Arten von Gedächtnis im Rückzug begriffen sind, […] in Bezug auf die Shoah, das Erfahrungsgedächtnis, nehmen andere Formen des Gedächtnisses, wie das der Medien oder der Politik offensichtlich an Bedeutung zu.“62

Dass sich durch den Machtgewinn der Medien aber nicht immer nur ‚Positives‘ entwickelt und z.T. Inhalte instrumentalisiert werden, bleibt ebenso zu beachten wie die Tatsache, dass sich Medieninhalte, insbesondere solche neuer oder digitaler Medien, auch auf unspezifische und wesentlich unkontrollierte Weise vervielfältigen und an ihre Empfänger weiter geleitet werden können. Die neuen und digitalen Medien sind in der Assmann’schen Gedächtnistheorie weitgehend ausgeklammert bzw. in die Systematik des kulturellen Gedächtnisses hinein gepresst.63 Dabei kön60 In einer Vielzahl jüngster wissenschaftlicher Abhandlungen finden sich häufig mind. ein Kapitel unter dieser Überschrift. Vgl. hier u.a.: Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg: Hamburger Editionen 2003. S. 309 f. Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, aktualisierte Neuausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 225 f. Jüngst: Assmann, Aleida/Hartmann Geoffrey: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz: University Press 2012. 61 Vgl. hierzu u.a.: Thamer, Hans-Ulrich: „Der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur vor und nach 1989“, in: Birkmeyer, Jens/Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 81-95. K. Prinz: Möchte doch keiner was davon hören. Assmann, Aleida: „Zwischen Pflicht und Alibi. Wozu nationales Gedenken? Die Debatte um das zentrale Holocaust-Mahnmal zeigt die Deutschen auf der Suche nach einem neuen Gedächtnis“, in: Michael Jeismann (Hg.): Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse, Köln: DuMont 1999, S. 157-166. 62 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 15. 63 Vgl. M. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 91 f.

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nen sie durchaus als gewissermaßen ‚transformierte Gedächtnis- bzw. Erinnerungsmedien‘ fungieren, indem sie über den Medienwechsel einen Form- und Sprachwechsel initiieren und so für die Frage nach einer ‚neuen Sprache‘ relevant sind. Dem dritten Argument einer Kritik am Gedächtnisparadigma wird insbesondere in Kapitel I, 4 Rechnung getragen. Die Gesellschaftsstruktur zeigt sich heute im Gegensatz zu den 1990er Jahren, dem Höhepunkt der Gedächtniskonjunktur, wesentlich verändert. In einer durch Globalisierung und Migration strukturell stark veränderten Gesellschaft können Gedächtnis, Erinnerungskultur und historisches Bewusstsein kaum noch isoliert, in ihren jeweiligen „nationalen Containern“ 64 betrachtet werden. Im Zuge der Entwicklung von heterogenen kollektiven Gedächtnissen und Erinnerungsgemeinschaften verlassen Gedächtnis- und Identitätsausbildung immer häufiger den nationalen Bezugsrahmen.65 In diese Richtung und unter dem Stichwort „Gedächtnis-Problem“ argumentierte auch bereits Aleida Assmann: „Das Gedächtnis-Problem besteht in der Transformation von ‚weichen‘, d.h. von diffusen und höchst unterschiedlichen biographischen Erinnerungen in Formen eines ‚harten‘, d.h. organisierten, gemeinsam geteilten und verbindlichen Gedächtnisses oder, mit den Worten Niethammers, von ‚individueller Erfahrungsverarbeitung‘ in ‚kulturelle Gerinnung‘.“66

Hier wird also ein Gedächtnisproblem angenommen, welches sich auf den Übergang von kommunikativer, individueller Erinnerung in das kulturelle Gedächtnis bezieht und durch den Generationswechsel zur eklatanten Hürde wird. Die Medien des kulturellen Gedächtnisses übernehmen die Deutungsmacht der Vergangenheit und müssen in der erinnerungslosen Zukunft die Vergangenheit vermittelbar gestalten. Interessant ist an dieser, jedoch nach wie vor zu kurz gegriffenen Problematisierung besonders Assmanns Wortwahl von „weichen Erinnerungen“ und „hartem Gedächtnis“, auf die noch zurückzukommen sein wird.

64 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 10. 65 Vgl. Georgi, Viola B.: „,Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren‘“. Zur Bedeutung der NS-Geschichte und des Holocaust für Jugendliche aus Einwandererfamilien, in: Georgi, Viola B./Ohliger, Rainer (Hg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2009, S. 90-109, hier S. 90. 66 Aleida Assmann: „Geschichtsvergessenheit/Geschichtsversessenheit“, in: Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit/Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt 1999, S. 19147, hier S. 30.

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In der Vergangenheit ließ sich beobachten, dass sich das kulturelle Gedächtnis weitgehend aus den Bedürfnissen der ersten und zweiten Generation heraus generiert hat und sich bisweilen wenig an den Ansprüchen und Erwartungen der jungen Generation orientierte. Die Konzeption wie auch die vorausgegangene Debatte um das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas67 lag beispielsweise gänzlich in den Händen der Initiatoren und Stadtväter. Weder erreichten Vorschläge junger Künstler den engeren Auswahlkreis noch wurde eine ernsthafte Diskussion mit der dritten Generation – für die das Mahnmal eigentlich bestimmt war – geführt. Die Diskussion verlief in den bekannten Bahnen der Wortführerschaft der ersten und zweiten Generation. „Einerseits ist die Ablösung der Erlebnisgenerationen des Nationalsozialismus nahezu abgeschlossen, andererseits zeigen die öffentlichen Diskussionen nach wie vor eine starke normative Bindung just an diese […] vormaligen Zeitgenossen Hitlers. Dabei kreist die Diskussion um die Veränderung der hiesigen Geschichtskultur längst um die Schwierigkeit, den jüngsten Nachgeborenen […] die fortdauernde politische Bedeutung von NS-Diktatur, Weltkrieg und Völkermord adäquat zu vermitteln.“68

Was nun mit den angelegten „kulturellen Gedächtnisspeichern“69 passieren wird, wie sie ihren Weg in das Gedächtnis und den Alltag der jungen Generation finden sollen, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen und vielfach diskutabel. Ein wichtiger Faktor scheint zu sein, dass sowohl die Anforderungen der Jüngeren als auch jüngste mediale Formate, an denen sie partizipieren, nicht auf eine dauerhafte Speicherung und normative Narrative bestehen, sondern dynamisch und in sich veränderbar sind. In der Weise, in der sich die mediale Gegenwart und Öffentlichkeit ändert, werden auch neue Begehrlichkeiten der Produktion und Vermittlung von Geschichtsnarrativen geweckt. Auf diese Möglichkeit der Vergangenheitsaneignung hat Aleida Assmann in ihrer Unterscheidung von Funktions- und Speichergedächtnis70 sowie in dem oben hervorgehobenen Zitat zum Gedächtnisproblem hingewiesen. Das Archiv wird darin zum funktionalen Ort, zum ‚weichen Archiv‘ oder ‚Diskurs-Archiv‘, in dem 67 Im Folgenden genannt: Berliner Holocaust-Mahnmal. 68 Schmid, Harald: Von der „‚Vergangenheitsbewältigung‘ zur „‚Erinnerungskultur‘. Zum öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus seit Ende der 1970er Jahre“, in: G. Paul/B. Schoßig: Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus, S. 171-203, hier S. 194 f. 69 Agazzi, Elena/Kocziszky, Eva: „Vorwort“, in: Agazzi, Elena/Kocziszky, Eva (Hg.): Fragile Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Unipress 2005, S. 7-21, hier S. 13. 70 Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 134 f.

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Inhalte nicht in primär archiviert, sondern ‚diskursiviert‘ werden. Dies setzt auch ein anderes Raum- und Zeitkonzept voraus, da die Archive aktiv angeeignet und dem Diskurs zugeführt werden müssen. Die Holocaust-Narrative ‚verstauben‘ bildlich gesprochen nicht im verschlossenen Archiv, sondern werden als dynamische Leerstellen oder als Anlässe zu Erinnerungshandlungen und Partizipationsprozessen funktional gemacht. „Das kulturelle Gedächtnis ist eine soziale Konstruktion, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten her ergibt.“71 Diese sozial-konstruktivistische Prämisse Jan Assmanns ist signifikant, da sie die Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart setzt. Anders formuliert bedeutet sie nämlich auch, dass nicht nur der Archivbegriff flexibel gedacht werden muss, sondern sich auch die junge Generation ihre Zugänge zur Vergangenheit und damit zum kulturellen Gedächtnis, welches in einer Gegenwart ohne Augenzeugen ihren einzigen Bezugspunkt bildet, aktiv neu aushandeln muss, denn – dies sei hier bewusst noch einmal erwähnt – das kulturelle Gedächtnis wird nicht automatisch an die nachkommenden Generationen vererbt. Das, was den erinnerungslosen Generationen fehlt – die Erinnerung, die Erfahrung – muss in den kulturellen Medien und Institutionen auf eine andere, aktive Weise erzeugt werden. Dabei sind didaktische wie auch künstlerische Projekte heute weniger um die Vermittlung von Fachwissen bemüht, sondern fokussieren Selbstreflexivität, Nacherleben, Teilhabe oder die Eventkultur. Historisches Wissen wird heute vielfach als Gegebenheit vorausgesetzt, nicht zuletzt auch deshalb, weil das kulturelle Gedächtnis nie zuvor derart leicht und vielfältig verfügbar war wie heute. Die Frage ist also gegenwärtig weniger eine des ‚Was‘ als des ‚Wie‘: Wie werden Pfade für die kommenden Generationen in die Vergangenheit gelegt?72 Aleida Assmann konkretisiert noch ein weiteres Problem, welches nun auf die veränderte Gesellschaftsstruktur und die daraus resultierende Pluralität der Geschichte(n) und ihrer Deutungen zielt: „Heterogene Perspektiven bestehen nebeneinander und fügen sich nicht zu einer gemeinsamen Geschichte, geschweige denn zu einer ‚master narrative‘. […] Die Deutschen sind längst eine heterogene Gruppe geworden, die unter den neuen Bedingungen einer Einwanderergesellschaft von Tag zu Tag noch heterogener wird. Bei der Wiedererfindung der Nation im Medium der Geschichte ist darauf zu achten, dass es nicht nur eine (lange oder kurze) Geschichte, sondern mehrere Geschichten gibt“.73

71 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 48. 72 Vgl. Düllo, Thomas: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, Bielefeld: transcript 2011, S. 189. 73 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 181, S. 193.

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Dieser Ansatz geht hier jedoch noch nicht weit genug. Obwohl Assmann nicht von der Vorstellung einer homogenen, nationalen Gesellschaft ausgeht, liegt ihrem Konzept doch ein gemeinsamer, national geprägter Verstehenshorizont zugrunde, an dem die unterschiedlichen Generationen partizipieren. In dieser Arbeit geht es nicht um die „Wiederfindung der Nation“, sondern gerade um alternative, auch hier ‚aufgeweichte‘ Formen. Wenn wir es in der heutigen Gesellschaftskonstellation, vor allem in den jungen Generationen, mit einer enormen Vielschichtigkeit der sozialen und kulturellen Prägungen zu tun haben und zudem ein großer Teil der Bevölkerung einen völlig anderen geschichtlichen und kulturellen Hintergrund als den deutschen besitzt, wird es dann nicht auch schwierig, diese Menschen für die deutsche Vergangenheit, zumal für eine derart unpopuläre wie die nationalsozialistische, zu sensibilisieren, damit sie an ihren Inhalten partizipieren? Hierbei muss nun eine zweifach fremde Vergangenheit in die Gegenwart übersetzt werden: die einer fremden Zeit und die eines fremden Landes. In der nationalstaatlichen Ausrichtung des Gedächtnisparadigmas weist sich hierzu ein Stillstand aus. Besonders die Debatten in den 1980er und 1990er Jahren forcierten exklusiv die deutsche ‚Schicksals- bzw. Haftungsgesellschaft‘ und schlossen damit andere Bevölkerungsgruppen aus.74 Den globalen Lebensverhältnissen unserer Gegenwart wird diese Exklusivität nicht mehr gerecht. Dass es, obwohl der Holocaust längst zu einer relevanten „global-politischen und global-kulturellen Norm“75 avanciert ist, nationale Unterschiede in der Bedeutung der deutschen Vergangenheit gibt, ist dabei selbstredend unstrittig. Dass sich jedoch innerhalb der Gesellschaft auch unterschiedliche Erinnerungskulturen ausbilden, die nebeneinander und ineinander verlaufen, sollte mit ins Kalkül gezogen werden. In diesem Zusammenhang ist es insbesondere spannend zu hinterfragen, inwiefern sich die junge Generation trotz proklamierter Unabhängigkeit und kosmopolitischer Gesinnung in Bezug auf die Themen Holocaust und Nationalsozialismus nicht doch noch oder gerade wieder an traditionellen Rollenmustern und der Diskurssemantik orientiert. Nimmt sie explizit oder implizit nicht doch die Bürden ‚ihrer‘ Vergangenheit auf oder ist sie tatsächlich die erste Generation, die den Holocaust nicht mehr als normativen Erzähltopos und „zentrale[n] Fokus deutscher Kultur und Poetik“, sondern als „Quelle für ein kreatives ethisches und ästhetisches Erinnern“76 begreift? Diese liminale Situation am Paradigmenwechsel

74 Vgl. Georgi, Viola B.: „Wem gehört die deutsche Geschichte? Bikulturelle Jugendliche und die Geschichte des Nationalsozialismus“, in: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Lieb– herz-Groß, Till (Hg.): „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft, Weinheim: Juventa 2001, S. 141-163, hier S. 142. 75 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter (2001), S. 18. 76 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien: Springer 2008, S. 264.

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wird vor allem medial gespiegelt und lässt sich in den verschiedenen exemplarischen Analysen nachweisen. Die bis hierhin wesentlichen Punkte können wie folgt zusammengefasst werden. Ausgegangen wurde von der These, dass aufgrund gesellschaftlicher, politischer, generationeller und medialer Veränderungen und Transformationen auch eine Neuverhandlung bzw. Modifizierung des traditionellen Gedächtnismodells erfolgen muss, welche in den Rahmen umfangreicher kultureller Transformationsprozesse fällt. Für die Reformierung des Gedächtnisparadigmas spricht offensichtlich die Tatsache, dass das kulturwissenschaftliche und stark sozialpsychologisch durch Generationen, Täter- und Opferkategorien geprägte Gedächtnismodell auf dem sehr starken Begriff der Erinnerung/des Erinnerns sowie einer recht statischen Begriffsdeutung des Gedächtnisses als Speicher aufbaut. Während der Begriff der Erinnerung/des Erinnerns spätestens mit den letzten Zeitzeugen seine Diskurshoheit einbüßt, bleibt das nationale, kulturelle Gedächtnis zwar als funktionale Größe bestehen, es wird jedoch stark durch die Veränderungen der Medien- und Kommunikationskultur und der Partizipationsweisen der jungen Generation aufgeweicht und modifiziert. Neben den Begriffspaaren Erinnerung/Erinnern und Gedächtnis/Gedenken müssen aber auch die verhandelten Inhalte und ‚alten‘ kategorisierten Diskursparameter wie ‚Opfer-/Täterzuschreibung‘, ‚Schuld‘, ‚Scham‘, ‚Wiedergutmachung‘, ‚Vergebung‘, ‚Versöhnung‘ etc. auf ihre ‚Aktualität‘ und vor allem auf ihr ‚Passen‘ auf die junge Generation und ihre Gegenwartsdiskurse hin untersucht werden. Damit steht nichts weniger als die Sprache und das Sprechen über den Holocaust selbst im Zentrum der Modifizierung. Einiges scheint darauf hin zu deuten, dass die nach wie vor bestimmende Diskurssemantik mit ihren Begriffen von ‚Schuld‘, ‚Trauma‘, ‚Erblast‘ etc. für die junge Generation und ihre Lebenswirklichkeit nicht mehr ganz zu ‚passen‘ scheint, zur leeren Worthülse verkommt bzw. einen semantischen „Eiertanz“ provoziert: „‚Unbefangene‘ Begriffe gibt es hier nicht, statt dessen tragen alle in sich die Last der Geschichte […]. Deshalb kommt jedes Reden darüber einem Eiertanz gleich. Auf der einen Seite bekannte, z.T. noch immer gebräuchliche Begriffe, die aber durch die Geschichte problematisch geworden sind; auf der anderen Seite neu geschaffene Kunstwörter, die mehr bis minder mühsam versuchen, die wertenden Assoziationen abzustreifen und neutrale Bezeichnungen zu finden. Dazwischen ein hochsensibler Balance-Akt.“77

An dieser Stelle muss konstatiert werden, dass nicht nur von einem Gedächtnisproblem aufgrund des Generations- und Gesellschaftswechsels, sondern auch von

77 E. Beck-Gernsheim: Schwarze Juden und griechische Deutsche, S. 149 f.

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einem Sprachproblem aufgrund der Übermacht sprachlich ‚dogmatischer‘ Diskurse und ‚festgezurrter‘, überdeterminierter Holocaust-Narrative auszugehen ist. Hier befindet sich schließlich das vierte und wichtigste Argument für die Transformation des Gedächtnisparadigmas. Auch wenn es immer wieder gegenteilige Äußerungen gibt, die behaupten, es gäbe keine Tabus mehr im Sprechen und in der Sprache über den Holocaust und den Nationalsozialismus, ist diese Freiheit wie schon einleitend bemerkt anzuzweifeln. Wir haben ein Sprachproblem.

3. G ENERATIONEN

IM

W ANDEL

Der Begriff ‚Generation‘ erfährt in der Gegenwartskultur eine enorme Popularität. In politischen, sozialen und ökonomischen Debatten werden Diskussionen über den ‚Generationenvertrag‘, ‚Generationengerechtigkeit‘ oder den ‚Generation Gap‘ zum Thema gemacht. Allen voran wissen vor allem die Popkultur und die Massenmedien die Generation als ‚Label‘ zu vermarkten, auch mit der Gefahr der Beliebigkeit oder in der Überdeterminiertheit des Begriffs als „Leerformel“.78 Auch für die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit ist der Begriff der Generation zur wichtigen Kategorie avanciert, mehr noch, es entsteht unlängst der Eindruck, die gerade beschriebene „Gedächtniskonjunktur“79 in den Kultur-, Politik-, Geschichts- und Literaturwissenschaften der vergangenen 20 Jahre hätte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts den ursprünglichen Gegenstand, das Gedächtnis, verlassen und sich stattdessen der Generation als Untersuchungseinheit für Erinnerungsprozesse zugewandt.80 Besonders für die Literaturwissenschaft haben sich die unterschiedlichen Generationen als fruchtbare Analysekategorien erwiesen, nicht zuletzt auch für die verschiedenen literarischen Genres der Erinnerungsliteratur – Augenzeugenberichte, Väterbücher, Familienromane. Für die exemplarischen Ana-

78 Jureit, Ulrike: Generationenforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 19. 79 Vgl. Nora, Pierre: „Gedächtniskonjunktur“, in: Transit 22 (2002), S. 18-31. 80 U.a. verzeichnet Kaspar Maase einen „Generationsboom“: Maase, Kaspar: „Farbige Bescheidenheit: Anmerkungen zum postheroischen Generationenverständnis“, in: Jureit, Ulrike/Wildt, Michael (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriff, Hamburg: Hamburger Editionen 2005, S. 220-244, hier S. 222. Andreas Kraft und Mark Weisshaupt erkennen eine Überschneidung von Generationen- und Erinnerungsdiskurs: Kraft, Andreas/Weisshaupt, Mark: „Erfahrung – Erzählung – Identität und die ‚Grenzen des Verstehens‘: Überlegungen zum Generationenbegriff“, in: Kraft, Andreas/Weisshaupt, Mark (Hg.): Erfahrung – Erzählung – Identität und die „Grenzen des Verstehens“: Überlegungen zum Generationenbegriff, Konstanz: UVK 2009, S. 17-49, hier S. 42.

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lysen in dieser Studie wird die Generation, hier besonders die ‚junge Generation‘, von wesentlicher Bedeutung sein. Allerdings soll dabei ihre Bindung an das Generations- und Gedächtnisschema ebenso gelöst werden wie die natürliche Genealogie und stattdessen ihre Inszenierung als Medien-, Pop- „Delete“81-Generation in den Fokus gestellt werden. Der Begriff ‚Generation‘ beinhaltet schon seit Karl Mannheims soziologischer Definition zweierlei Bezugsgrößen.82 Zum einen erhalten Generationsmitglieder durch ihr „biologisches Setting“83 bestimmte Rahmungen und Voraussetzungen, welche durch Erbschaft und Tradierung Kontinuität erzeugen.84 Zum anderen werden sie durch Prägung ihrer Lebenswirklichkeit und ihrer Altersgenossen erst zu einer Generation zusammengeschlossen bzw. inszenieren sich als eine Generation. Ein derartiges ‚Generationen-Konstrukt‘ zeigt sich in gewisser Weise typisch, das heißt, die Generation besitzt typische Eigenschaften wie einen ähnlichen, gemeinsamen Kommunikationsraum, kollektive Handlungsweisen etc. und ist damit nicht zuletzt durch eine gemeinsame Identität geprägt. Diese Identität gewinnt die Generation durch den Prozess der ‚Selbstthematisierung‘ und vermehrt durch Selbstinszenierung und bildet sich auf unterschiedlichen Ebenen bedeutsam heraus. Zu unterscheiden sind grundlegend politisch-gesellschaftliche und familiäre Generationen. Karl Mannheim hatte in seinen Ausführungen vor allem die Kategorie der politischen Generationen vor Augen, die sich z.T. in der Vorstellung politischer Eliten auflöst. Auch heute sind im allgemeinen Verständnis die ‚populärsten‘ Generationen jene politischen wie die 68er-Generation, welche vielfach als die diskursbestimmende Generation des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Beide Phänomene der sozialen Generation, das auf natürlicher, familiärer Tradierung beruhende und das durch Erfahrungen und Selbstthematisierungen erzeugte, dienen dem hier zu entwickelnden Generationenkonzept als Grundlage, wobei sich klar der Schwerpunkt von der ‚Natürlichkeit‘ auf den Inszenierungscharakter von Generation, Identität und Gedächtnis verlagert.

81 Carnaby, Penny: The Delete Generation. Citizen-created content, digital equity and the preservation of community memory. G Gorman public lecture: 2009. 82 Mannheim, Karl: „Das Problem der Generationen“, in: Mannheim, Karl: Wissenssoziologie. Soziologische Texte 28, Neuwied: Luchterhand 1964 (1928). 83 U. Jureit: Generationenforschung, S. 86. 84 Vgl. Jureit, Ulrike: „Generationen als Erinnerungsgemeinschaften. Das ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas‘ als Generationsobjekt“, in: Jureit, Ulrike/Wildt, Michael (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg: Hamburger Editionen 2005, S. 244-266, hier S. 251 f.

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3.1 Der Holocaust und ‚seine‘ Generationen Mit dem Holocaust hat nicht nur eine Zäsur in der Zivilisation stattgefunden; ‚nach dem Holocaust‘ beginnt eine neue Zeitrechnung. Auch für die Generationenabfolge ist diese Signatur im wortwörtlichen Sinne entscheidend, da in ihrer Folge die Generationen überhaupt zähl- und erzählbar werden. Der Holocaust gibt für das gesamte 20.- und bis ins 21. Jahrhundert hinein die Taktung der Generationenabfolge vor, die sich je nach der zeitlichen Nähe zum Ereignis in die Terminologie „erste“, „zweite“, „dritte“ Generation „nach dem Holocaust“ bringen lässt. Mit dem Holocaust wird ein Nullpunkt bestimmt, die „Gründungsinstanz einer Abstammungslinie“85 gesetzt und von dieser ausgehend die nachfolgenden Generationen mit den entsprechenden nummeralischen Bezeichnungen versehen. Die ‚Generationen nach‘ werden dadurch auch als generationelle ‚Schicksalsgemeinschaften‘ deklariert, deren gemeinsames, historisches Ereignis und Schicksal die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust ist. Die Kulturwissenschaft hat innerhalb dieser drei großen Generationen zusätzlich weitere ‚Untergenerationen‘ angelegt, die zum einen vom Zeitpunkt der Geburt, zum anderen von der damit verbundenen historischen Verantwortung abhängen. Auch Aleida Assmann führt in ihrer Abhandlung Geschichte im Gedächtnis (2007) insgesamt sieben historische Generationen des 20. Jahrhunderts auf und teilt der Zeit nach 1945 grundsätzlich drei große ‚Nachkriegsgenerationen‘ zu, die sie in Anlehnung an die Semantik ‚erste, zweite, dritte Generation nach dem Holocaust‘ an die Jahreszahlen 1945, 1968 und 1985 bindet. Die erste Generation, nach Assmann jene zwischen 1926-1929 geborene, ist diejenige, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt und überlebt hat und daher auch als Generation der Zeit- und Augenzeugen gilt. Die wohl unumstritten populärste und ebenso am meisten mythologisierte Generation der deutschen Nachkriegszeit ist die 68er-Generation, deren Angehörige, zwischen 1940 und 1950 geboren, die Studentenunruhen der Jahre 1968/1969 aktiv miterlebt bzw. selbst mitbestimmt haben und sich bis in ihr heutiges höheres Alter hinein selbst unter dem Etikett der politisch aktiven, streitbaren ‚Revoluzzer‘ präsentieren. Die 68-Generation machte sich nach Kriegsende die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs zum Thema und rebellierte offen gegen die ‚Verdrängungsmechanismen‘ und das Schweigen der Elterngeneration, ihrer ‚Täter-Eltern‘. Diese z.T. aggressive Wendung gegen die Eltern, der Versuch einer „jungfräulichen Kopfgeburt

85 Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 307.

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mit Trennung der Nabelschnur“86 und die „kollektive Selbstvergewisserung“87 des ‚Andersseins‘ macht einen Großteil der Popularität und des Mythos‘ der 68erGeneration aus. Keine andere Generation zuvor oder danach hat ihre Identität derartig offensiv inszeniert, behauptet und politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert wie die 68er-Generation. Auch wenn aus heutiger Sicht einiges ihrer Wirkmacht als Mythos entlarvt scheint, halten die Angehörigen der Generation ihren ‚Herrschaftsanspruch‘ vor allem in Bezug auf die Deutung und den Umgang mit der deutschen Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein aufrecht und inszenieren sich nicht selten als „moralische Elite“88 Deutschlands. Die Worte der 68er haben in den öffentlichen Debatten über die Vergangenheit und als Hüter der Political- und Memorial Correctness nach wie vor Gewicht. Die z.T. als absolut veranschlagte Deutungshoheit der 68er-Generation ist es, die sie immer wieder zu den Wort- und Debattenanführern macht, wenn es um den Umgang mit dem Nationalsozialismus und die vermeintlich ‚angemessene‘, ‚political- und memorial correcte‘ Auseinandersetzung mit dem Holocaust geht. Das Sprachproblem im Holocaust-Diskurs geht schließlich nicht zuletzt auch auf die Behauptung ihrer unanfechtbaren Sprecherposition als Generation der „Entronnenen“ zurück – eine Haltung, die auf Opferidentifizierung und höchsten, dabei umso fraglicheren, moralischen Anspruch referiert: „Sie [die 68er-Generation] fühlte sich – und inszenierte sich – als die Alterskohorte der ‚Entronnenen‘- und meinte, daraus das Privileg einer unangreifbaren Sprecherposition ableiten zu können.“89 Nach der 68er-Generation betitelt Aleida Assmann recht lapidar als „Zwischengeneration“ die 78er-Generation, die jedoch in anderen Abhandlungen durchaus einen dominanten Stellenwert im Generationsgefüge des 20. Jahrhunderts erhält. Heinz Bude etwa hebt diese Generation als ganz besonders ‚geeignet‘ für eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte hervor, da sie genau in der Mitte zwischen der „befangenen Generation“ der 68er und der „unbefangenen Generati-

86 Weigel, Sigrid: „Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik des Generationsdiskurses. Abwehr von und Sehnsucht nach Herkunft“, in: Jureit, Ulrike/Wildt, Michael (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg: Hamburger Editionen 2005, S. 108-126, hier S. 123. 87 U. Jureit: Generationen als Erinnerungsgemeinschaften, S. 258. 88 U. Jureit: Generationen als Erinnerungsgemeinschaften, S. 257. 89 Schneider, Christian: „Besichtigung eines ideologischen Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik“, in: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart: Klett-Cotta 2010, S. 105213, hier S. 166.

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on“ ihrer Kinder angesiedelt ist.90 Die unbefangene Kindergeneration der 68er wird bei Assmann die „85er-Generation“ genannt und umschreibt schließlich im Ansatz die Generation, die in dieser Arbeit als ‚junge Generation‘ an Bedeutung gewinnen soll. Die Angehörigen der 85er-Generation, zwischen etwa 1965 und 1980 geboren, sind die ersten, die „kriegsschadenfrei“91 aufgewachsen sind und ihre Sozialisation nicht im Nachkriegsdeutschland, sondern in den Wohlstandsjahrzehnten der 1980er und 1990er Jahre erfahren haben. Anders als die Generationen des 20. Jahrhunderts vor ihr ist diese, als „dritte Generation nach dem Holocaust“ bekannte Generation nicht mehr unmittelbar durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs geprägt und hat entsprechend nicht primär das eine, große historisches Ereignis zum Bezugspunkt ihrer Identität. Sie erfährt ihre Sozialisation und Prägung vor allem durch politische, gesellschaftliche und mediale Wandlungen sowie durch ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein. Die Schlüsselerlebnisse dieser Generation sind vielfältig und von globaler Bedeutung; zu ihnen zählen das Ende des Kalten Krieges, der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung, Tschernobyl, die Terroranschläge vom 11. September 2001, AIDS und HIV, Migration, Konsum, Markenidentität und die neuen Medien. In ihrer Abgrenzung zu den älteren Generationen verhält sich diese Generation auf den ersten Blick weniger resolut – vor allem im direkten Vergleich mit der 68er-Generation. Auch ihre politische und öffentliche Wirkmacht zeigt sich zurückhaltend, besonders in der Behandlung der deutschen Vergangenheit. Die dritte Generation hat sich von dem „zersetzenden Aufklärungsdruck“ der 68er gelöst und bekennt sich eher zu einem „fröhlichen Hedonismus und selbstzentrierter Indifferenz“92. Dennoch bleibt auch für diese Generation der Zweite Weltkrieg und der Holocaust als feste Größen ihres historischen Bewusstseins bestehen, jedoch nicht als primärer, normativ-identitärer Ausgangspunkt. Die dritte Generation wurde besonders seit den 1990er Jahren verstärkt im Zusammenhang von Erinnerung, Holocaust-Gedächtnis und transgenerationeller Traumatisierungen interdisziplinär untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass diese Generation trotz der zeitlichen Distanz zu den Ereignissen noch eine starke soziale Verankerung im Generationenverbund der ‚Holocaust-Generationen‘ besitzt und sich in die Chronologie ‚erste, zweite, dritte Generation nach Holocaust und Nationalsozialismus‘ eingliedern lässt. Das historische Großereignis, welches in dieser Generation zwar nicht mehr selbst erlebt wurde, prägt dennoch ihre Mitglieder – dies sicherlich in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlicher Intention, wie unter anderem Harald Welzer in seiner Studie Opa war kein Nazi (2002) unter90 Bude, Heinz: „Die Erinnerung der Generationen“, in: König, Helmut/Kohlstruck, Michael/Wöll, Andreas (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 69-85, hier S. 85. 91 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 64. 92 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 64.

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sucht. In politischen und öffentlichen Debatten zu diesen Themen tritt die dritte Generation hingegen nur selten in Erscheinung, was nicht unbedingt in einer allgemeinen Politik- oder Geschichtsverdrossenheit begründet liegt, sondern mitunter Resultat der erwähnten Sprecher-Dominanz der 68er-Generation ist. Die dritte Generation befindet sich in Bezug auf ihren Umgang mit dem Holocaust und der Verbundenheit mit den älteren Generationen sowie ihren Sprach- und Gedächtnisdiskursen in einer liminalen Situation, einer Schwellenposition. Einerseits erlebt sie noch die Augenzeugengeneration, ist in der Tradierungslinie und der familiären Erzählgemeinschaft gerade noch verankert, andererseits verlieren diese Bezüge an identitärer Kraft, sie werden elastisch oder drohen als ‚Gedächtnisstrang‘ gar abzureißen. Die ‚Last der Vergangenheit‘ tragen sie zwar nach wie vor in ihrem Bewusstsein; gleichzeitig aber erwacht eine primär sprachlich behauptete Emanzipation, sich selbst und ihre Generation zumindest als das zu inszenieren, was sie de facto sind: unbeteiligt und schuldlos. 3.2 Die junge Generation Trendforscher, Werber wie auch Generationenforscher rufen geradewegs saisonal immer wieder neue, mit wohlklingenden und sprechenden Namen versehene Generationen aus wie ‚Generation Ally‘, ‚Generation Golf‘, ‚Generation Praktikum‘ oder ‚Generation X‘, um hier nur einige zu nennen. Dabei scheint es, als habe sich „das Begriffsfeld Generation […] von lebenden, menschlichen Generationen auf die technischen Geräte und medialen Generationen ausgeweitet“93 – und von denen gibt es gegenwärtig unbestritten viele. Da der Begriff der jungen Generation für diese Arbeit deskriptiv Verwendung findet, ist unter ihm im Folgenden primär jene Gruppe der Bevölkerung zu fassen, deren Merkmale Aleida Assmanns oben genannter 85er-Generation entsprechen und der nun weitere Charakterisierungen zukommen sollen.94 Die besonderen

93 Zinnecker, Jürgen: „‚Das Problem der Generationen‘. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischen Text“, in: Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan (Hg.): Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 33-59, hier S. 51. 94 Bei Aleida Assmann ist im Begriff der „85er-Generation“ die „dritte Generation“ mit intendiert. Unter dem Begriff der ‚jungen Generation‘ ist nach diesem Schema die dritte bis vierte, wenn es um die ‚Digital Natives‘ geht, auch die fünfte Generation nach dem Holocaust gemeint. Nachfolgend wird im Wesentlichen diese Terminologie der ‚jungen Generation‘ verwendet, sofern es um eigene Herleitungen geht. In Bezugnahmen oder der Zitation anderer Theorien/Texte alterieren die Begriffe der ‚dritten Generation‘ bzw. ‚vierten Generation‘.

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Merkmale gilt es herauszustellen, um die so identifizierbare Gruppe später sowohl als Produzentin als auch als Adressatin in den Fokus der exemplarischen Analysen zu stellen und der Frage nachzugehen: Wohin bewegt sich die Gesellschaft? Welches sind mögliche Bestimmungs- und Bezugsgrößen dieser jungen Generation? Welche Ereignisse haben sie geprägt? Welche Vorbilder und Identifikationsobjekte haben sie? Schließlich und wesentlich: Welche Rolle spielen Nationalsozialismus und Holocaust in ihrem Gegenwartsraum? Die Gegenwart der jungen Generation in den westlichen Ländern ist seit etwa 20 Jahren stark durch zwei Einflüsse geprägt: Medialisierung und Globalisierung, beide inklusive ihrer vielfältigen Meta- und Subdiskurse. Nicht umsonst wird sie häufig als „Mediengeneration“95 bezeichnet und ist besonders durch subkulturelle Identitätsmerkmale wie Mode, Musik oder Medien geprägt, welche ein hohes Identifikationspotential bergen und darüber deutliche Zeichen der Abgrenzung zu der Elterngeneration herstellen.96 Medienereignisse lösen in dieser Generation zunehmend die historischen Ereignisse ab und ihre Identität erwächst im Wesentlichen aus medialen, statt aus historisch-politischen Erfahrungen. Die Medien markieren, charakterisieren und interpretieren die Generationen und der Generationswechsel wird zukünftig mehr und mehr von der Beschleunigung der Medienentwicklung vorgegeben.97 Besonders die neuen Kommunikationsmedien spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines „sozialisationsorientierten“ Raumes, in welchem Persönlichkeitsmerkmale und Trends Identitätszuschreibungen erhalten.98 Dieser Raum zeigt sich durch die „kleinen Dinge des Konsumalltags“99 geprägt, zu denen nicht nur Aspekte der sogenannten Hochkultur zählen, sondern gerade auch verschiedene Subkulturen identifikatorische Geltung erlangen. Eine dieser Subkulturen, die jedoch mittlerweile einen Anspruch auf Mainstream deklariert, wird im Folgenden noch besondere Bedeutung erhalten: die Popkultur. Seit mehreren Jahrzehnten lebt die Bevölkerung in Deutschland ohne Krieg und auch wenn es an bedrohlichen und krisenhaften Ereignissen nicht mangelt, hat die junge Generation heute keine auch nur annähernd ähnlichen Erfahrungen gemacht wie die Generation ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Die Mannheim’sche 95 Hörisch, Jochen (Hg.): Mediengenerationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 96 Für die heutige Generation der 20- bis 30-Jährigen ist beispielsweise der Umgang mit den neuesten Kommunikationsmedien wie Facebook oder Twitter selbstverständlich. Höhere Altersstufen sind zwar noch mit SMS und der E-Mail vertraut, können aber an vielen ‚digitalen Kommunikationsformen‘ der jüngeren nicht mehr teilnehmen. Dies kann eine ‚mediale Abgrenzung‘ bewirken, die als Folge des Medien- und Generationswechsels zu sehen ist. 97 S. Weigel: Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik, S. 115. 98 Vgl. K. Maase: Farbige Bescheidenheit, S. 223. 99 Vgl. J. Zinnecker: Das Problem der Generationen, S. 53.

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Theorie, dass sich Generationen durch die gemeinsame Teilhabe an einschneidenden historischen (Kriegs-)Erlebnissen bilden, ist in dieser Eindringlichkeit als Maßgabe für die junge Generation nicht aufrechtzuerhalten. Sucht man dennoch nach einem zentralen historischen Ereignis für die junge Generation, dann lässt sich dieses auf deutschem Boden in der Deutschen Wiedervereinigung finden, auf globaler Ebene sind dies die Terroranschläge vom 11. September 2001 und ihre Folgen. Doch auch wenn die Politik- und Geschichtswissenschaft in den Jahren 1989/90 eine deutliche Zäsur ausmacht, ist dieses Ereignis, an dem die Angehörigen der jungen Generation doch eher als „Zaungäste“100 beteiligt waren, nur mit Mühe als ‚identitätssichernd‘ zu veranschlagen. „Trotz der Schattenseiten der 68er-Bewegung hat die Teilnahme an Protestaktionen und Diskussion […] eine generationsspezifische Erfahrung vermittelt, die […] zum letzten Mal die Kraft zur Prägung einer politischen Generation besaß. Alle späteren Konstruktionen einer ‚Generation Golf‘ oder einer ‚Generation Reform‘ sind im Vergleich damit literarische Kunstprodukte, deren soziales Substrat nicht herbeigeschrieben werden kann.“101

Das „identitätspolitische Konzept“102 einer Generation als jahrgangsverwandte Kohorte, deren ähnliche Biographie durch ein bestimmtes, katastrophales, historisches Erlebnis geformt wurde, gerät also spätestens mit der jungen Generation an seine Grenzen. Identität wird in der jungen Generation weniger durch die innere Auseinandersetzung mit der (eigenen) Vergangenheit konstituiert. Nicht die historische Erfahrung, sondern Erlebnisse eines gegenwärtigen Lebensgefühls fingieren neue Deutungs- und Identifikationsangebote, welche vor allem durch die Medien, Werbung und subkulturelle Merkmale bestimmt sind und über Teilhabe und Kommunikation „Generation Building“103 ermöglichen. Generationen entstehen nicht, sie werden anhand von überwiegend äußeren, subjektiven Merkmalen gemacht.104 Die Inszenierung der jungen Generation, auch unter den oben von Wehler monierten Merkmalen als „literarische Kunstprodukte“, in die „soziales Substrat“ hineinge-

100 Leggewie, Claus: „Generationsschichten und Erinnerungskulturen – Zur Historisierung der ‚alten‘ Bundesrepublik“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXVIII (1999), S. 211-237, hier S. 227. 101 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 191. 102 Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften, München: Wilhelm Fink 2006, S. 95. 103 U. Jureit: Generationenforschung, S. 16 f. 104 Vgl. Bohnenkamp, Björn: Doing Generation. Zur Inszenierung generationeller Gemeinschaft in deutschsprachigen Schriftmedien, Bielefeld: transcript 2011.

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schrieben wird, bildet sich literarisch besonders eindrücklich in den Generationenund Pop-Romanen ab. Marken, Etiketten oder auch personale Identifikationsobjekte werden dort schon im Titel als besonderes generationsstiftendes Potential ausgewiesen, wie ‚Generation Golf‘ und ‚Generation Ally‘ deutlich machen. Neben einer prägenden Medien- und Sozialkultur, welche den natürlichen Alltagsraum der jungen Generation bestellt – die Jüngsten der jungen Generation werden nicht umsonst als „Digital Natives“105 bezeichnet –, bestimmt auch ein globales Krisenbewusstsein sowie deutliche multikulturelle Einflüsse das soziale Umfeld, in dem sich Generationen heute inszenieren. Die junge Generation wächst in sehr heterogenen, individuellen Milieus auf, die stärker als die familiären oder politischen Generationenverbunde der Vergangenheit eine soziale Verortung markieren.106 Sie ist kulturell und ethnisch vielfältig zusammengesetzt und damit eher als das Oxymoron einer ‚hybriden Einheit‘ denn als eine fest abzugrenzende Entität zu bezeichnen. Mit der „Ausdünnung“ von Großmilieus und der Entstehung unterschiedlicher „Szenen“ wird das soziale Umfeld der Jungen immer heterogener und das „Patchwork der Identitätsbildung wird kleinteiliger“.107 Besonders durch diese Faktoren, die nicht zuletzt Folgen von Globalisierung und Migration sind, lassen sich Generationenidentitäten per se nicht mehr unmittelbar durch ein gemeinsam geteiltes historisches oder politisches Urereignis bestimmen, sie werden vielmehr unabhängiger von ihnen. Menschen aus unterschiedlichen Ländern besitzen, auch wenn sie in die gleiche Zeit hinein geboren wurden, oft völlig unterschiedliche historische, soziale und kulturelle Prägungen, von den familiären ganz zu schweigen, wodurch die Frage berechtigt scheint, ob überhaupt von der einen jungen Generation und damit einer gewissen Positionierung im Generationen- und auch Gedächtnisdiskurs gesprochen werden kann oder ob hier nicht vielmehr die mediale Konstruktivität und Inszenierung ihre Konturen und Geschichten bestimmt108. Diese Perspektive gilt es weiter zu verfolgen.

105 Prensky, Mark: „Digital Natives, Digital Immigrants“, in: On the Horizon, Vol. 9 No. 5 (2001). 106 Vgl. J. Zinnecker: Das Problem der Generationen, S. 49 f. 107 K. Maase: Farbige Bescheidenheit, S. 241. 108 Vgl. A. Kraft/M. Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität, S. 24. May, Christina: „Rentnerkohorten und soziale Ungleichheit. Fakt und Fiktion generationeller Prägungen im Wohlfahrtsstatt“, in: Bohnenkamp, Björn/Mannig, Till/Silies, Eva-Maria (Hg.): Generation als Erzählung, Göttingen: Wallstein 2009, S. 226-242.

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3.3 ‚Generation‘ als Inszenierung „Der Generationencontainer ist letztlich auch eine gefräßige Entsorgungsmaschinerie, die immer nur ein massenkulturelles Kurzzeitgedächtnis auszubilden vermag.“109

Das kulturwissenschaftliche Gedächtnisparadigma fußt traditionell auf einem sehr starken Generationenbegriff, der dort gegenwärtig durch den Wegfall der Augenzeugengeneration zusätzlich an Bedeutung gewinnt. Ohne die Einteilung der deutschen Erinnerungsgemeinschaft in entsprechend charakteristische Generationen aus Augen- und Zeitzeugen sowie deren Nachkommen und ihren als spezifisch angenommenen Formen des kommunikativen, kollektiven und kulturellen Erinnerns lässt sich das Gedächtnisparadigma nicht erfassen. Die (Selbst-)Definition und Zuordnung Angehöriger einer bestimmten Generation in einen gesamtheitlichen Vergangenheitsdiskurs der Bundesrepublik ist außerdem auch längst zu einem politischen Instrument und „Medium der Gedächtnispolitik“ avanciert.110 Mit der Zuordnung zu einer Generation wird durch die spezifischen – und dabei häufig pauschalisierenden – Definitionen eine Identität vorausgesetzt, nach der auch die Themen Holocaust und Nationalsozialismus auf die eine oder andere Weise eine bestimmte Konnotation erhalten. Je nach Generationszugehörigkeit können die Ereignisse noch individuell erinnert, kommuniziert und weitergegeben oder nur noch rekonstruiert werden. In diesem Sinne ist die deutsche Gesellschaft derzeit etwa in – bleibt man bei der Hilfestellung der ‚Generationen nach dem Holocaust‘ – vier bis fünf Generationen aufgeteilt und durch die stattfindenden Generationswechsel verschiebt sich das „Erinnerungsprofil“111 der Gesellschaft regelmäßig weiter. Mit dem nun unmittelbar bevorstehenden Generationswechsel wird ein solcher Wandel im Profil eklatant und – so die hier zu vertretende These – vielerorts sichtbar. Die erste Generation zeigt sich unmittelbar durch das Ereignis des Zweiten Weltkriegs geprägt; ihre Angehörigen waren Augen- und Zeitzeugen des Nationalsozialismus und des Holocaust. Unter ihnen bildeten sich unterschiedliche Formen des kollektiven Gedächtnisses heraus: Sieger- und Verlierergedächtnis, Opfer- und

109 Birkmeyer, Jens: „Nicht erinnern – nicht vergessen. Das Gedächtnisdilemma in der Popliteratur“ in: Birkmeyer, Jens/Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 145-163, hier S. 153. 110 Vgl. S. Weigel: Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik, S. 120 ff. 111 Assmann, Aleida: „Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktionen im zeitgenössischen Familienroman“, in: Kraft, Andreas/Weißhaupt, Mark (Hg.): Erfahrung – Erzählung – Identität und die „Grenzen des Verstehens“. Überlegungen zum Generationenbegriff Konstanz: UVK 2009, S. 49-71, hier S. 57.

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Tätergedächtnis, wobei letzteres in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit besonders durch einen erstarkten deutschen Opferdiskurs variierte.112 Die zweite Generation, hier besonders die 68er-Generation, forcierte einen Neuanfang und stellte den Holocaust als ‚Singularität‘ und die Rebellion gegen die Eltern und deren ‚Verdrängungspolitik‘ in den Mittelpunkt ihres kollektiven Gedächtnisses und Handelns. In beiden Generationen setzten sich Tradierungen von Schuld und Trauma fort. In der dritten Generation, die nicht mehr unmittelbar von den Kriegsereignissen betroffen ist, und die schließlich kein auf diesem historischen Ereignis basierendes kollektives Generationengedächtnis entwickeln kann, sind die Deutungen der Vergangenheit zwar noch teilweise von familiären Erzählungen sowie durch institutionelle Einrichtungen wie die Schule geprägt, sie greifen aber immer mehr auf ein kulturelles Gedächtnis zurück, welches sich nicht ohne Weiteres vereinheitlichen lässt. Diese dritte Generation partizipiert nicht an einem identifizierbaren, spezifischen ‚Dritte-Generation-Gedächtnis‘ in der Weise, in der dies für die Generationen vor ihr gegolten hat. In der Assmann’schen Gedächtnistheorie ist neben der Verquickung von Generation und Gedächtnis auch die Identität ein weiterer manifester Bestandteil. Das kollektive Gedächtnis trägt erheblich zu dem „normativen Selbstbild“ einer Gruppe bei, heißt es z.B. bei Jan Assmann.113 Dass bestimmte Generationszuschreibungen als identitätsstiftend gelten können, liegt auf der Hand, die Frage ist aber, ob das Gedächtnis dabei eine entscheidende Rolle spielt oder ob es nicht eher um aktuelle Kommunikations- und Aushandlungsprozesse geht, um den Bezug zur Lebenswirklichkeit, welcher Identität generiert und sichtbar macht. Dabei geht es erneut um die Frage, welche Ereignisse eine Generation prägen und damit überhaupt als kollektive Gedächtnisinhalte in Frage kommen können. Assmanns Gedächtnisparadima lehrt, dass nur das erinnert wird und Einzug in das kollektive Gedächtnis erhalten kann, was im kommunikativen Austausch untereinander immer wieder erinnernd kommuniziert wird. Werden die Themen Holocaust und Nationalsozialismus aber in der jungen Generation verbalisiert, kommuniziert und besprochen, wenn sie doch nicht erinnert werden? Dies scheint nur zu einem Teil der Fall zu sein, der andere Teil zeigt sich durch vielfältige andere Alltagserfahrungen bestimmt. Der „Gezeitenwechsel“114 im Erinnerungsprofil der Bundesrepublik ist eingeläutet und damit auch ein Nachdenken über eine neue 112 Vgl. u.a. Hahn, Hans-Joachim: Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979, Heidelberg: Winter 2005, S. 89. 113 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9-20, hier S. 13. 114 Korn, Salomon: „Gezeitenwechsel“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.01. 2006.

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Handhabe der Vergangenheit, über neue Formen der Auseinandersetzung und eine neue Sprache (in) der jungen Generation. Die kulturellen Medien übernehmen die Transformation der lebendigen Erinnerung und setzten neue Herangehensweisen voraus. Durch den Generationswechsel und den Verlust der individuellen, unmittelbar kommunizierbaren Erinnerungen wurde ohnehin unlängst ein neuer Gedächtnisdiskurs auf den Plan gerufen, der nun nicht mehr primär die Weitergabe von Erlebtem und Erinnertem forciert, sondern deren Transformation in die mediale Gegenwart zum Ziel hat. Es macht somit wenig Sinn, Generationen per Definition als „Gedächtniskategorie“115 festzulegen, vor allem dann nicht, wenn die gegenwärtige junge Generation in das Blickfeld genommen wird. Durch die Loslösung vom Generationengedächtnis als etwas ‚Abgeschlossenem‘ eröffnen sich für die Untersuchung von Vergangenheitsreflexionen der jungen Generation neue Anknüpfungspunkte. Demzufolge muss die genealogische Linie der ‚Generationen nach‘ aufgebrochen und nicht mit immer weiteren Nummerierungen für die kommenden Generationen stoisch fortgeführt werden. Auch zu diesem Zweck wird hier der Begriff der ‚jungen Generation‘ gewählt. Für die ersten drei Generationen – wobei hier die dritte Generation bereits deutlich im Grenzbereich zu positionieren ist – mag die enge Identitäts- und Gedächtnisbeziehung zum Holocaust gerechtfertigt sein. Die junge Generation positioniert sich hingegen zunehmend außerhalb des Diskurses einer ‚Holocaust-Identität‘.

4. P LURALE R ÄUME Wohin bewegt sich die Gesellschaft? Als ‚neue Gesellschaft‘ wurde in letzter Zeit vor allem die durch den Soziologen Gerhard Schulze definierte „Erlebnisgesellschaft“ oder „Spaßgesellschaft“ proklamiert, wenn auch an dieser Stelle deutlich gemacht werden muss, dass Schulzes Definition die sozusagen Ultima Ratio beobachtbarer gesellschaftlicher Phänomene darstellt und zu gewissen Überzeichnungen neigt.116 Die Schulze’sche Erlebnisgesellschaft ist zum einen als Resultat vielfältiger politischer, wirtschaftlicher, kulturell-medialer Veränderungen der Gegenwart, zugleich aber auch als deren Katalysator zu betrachten, indem die Gesellschaft selbst immer neue Vielfalt in sämtlichen Bereichen des öffentlichen, privaten und politischen Lebens einfordert und gleichsam generiert. Dabei scheint alles ei115 S. Weigel: Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik, S. 125. 116 Die Definition stützt sich wesentlich auf: Schulze, Gerhard: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, 2. Auflage, Frankfurt a.M.: Campus 2000. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus 1992.

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nem Streben nach Erlebnishaftigkeit zu folgen, womit sich Wortschöpfungen wie „Politainment“, oder „Histotainment“118 erklären lassen, welche als Beschreibungen der „mediale Erlebnisgesellschaft“119 und des „Strukturwandel[s] der Öffentlichkeit“120 relevante Begriffe darstellen. Wichtige Handlungsweise eines Mitglieds der Erlebnisgesellschaft ist seine hedonistische Subjektbestimmtheit, nach der sich Aneignungen, Partizipation und sozialer Austausch wesentlich dem persönlichen Selbstzweck unterordnen. Die Erlebnisgesellschaft ist eine „Gesellschaft, die (im historischen und interkulturellen Vergleich) relativ stark durch innenorientierte Lebensauffassungen geprägt ist“, so lautet Schulzes primäre Definition.121 Während innenperspektivisch der Selbstverwirklichung nach dem Lustprinzip stattgegeben wird, gehört mit in diese Vorstellung hinein, dass sogleich „außenbezogene Managementkompetenz“122 gefragt ist. Diese äußert sich u.a. im Bestreben zur Selbstdarstellung und Performance, um deren mediale Ausdrucksformen es in dieser Arbeit noch explizit gehen wird. Vor allem die Massenmedien, die zur Entstehungszeit Schulzes ersten, namensgebenden Studie 1992 noch wesentlich auf Computerspiele, Videos, Fernsehen oder Massenveranstaltungen beschränkt waren, erkennt er als „Kontaktvernichter“, welche „Kontaktunfähigkeit“ und „Einsamkeit“ verursachen.123 Schulze erstellt mit seiner Definition der Erlebnisgesellschaft das Panorama einer Welt, die eigentlich alles hat bzw. von allem schon zu viel hat: zu viel Konsum, zu viele Erlebnisse, zu viele Events. Dieser alles umgebende ‚Erlebnismarkt‘ ist von der Art eines ‚Supermarktes‘, in dem alles im Überfluss verfügbar ist und zum Konsum zwingt. Als Metaphorik des ‚Geschichtsmarktes‘ und seiner ‚Erinnerungs117 Dörner, Andreas: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp 2001. 118 Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: „Geschichte in populären Medien und Genres. Vom Historischen Roman zum Computerspiel“, in: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript 2009, S. 9-61, hier S. 47. 119 Meyer, Erik: „Problematische Popularität? Erinnerungskultur, Medienwandel und Aufmerksamkeitsökonomie“, in: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript 2009, S. 267-289, hier S. 283. 120 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuauflage 1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 121 G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 54. 122 Willems, Herbert: „Events: Kultur – Identität – Marketing“, in: Gebhardt, Winfried/ Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Manuela (Hg.): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 51-71, hier S. 59. 123 G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 18.

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produkte‘ ist dieses ‚Zuviel‘ auch auf die Präsenz der Vergangenheitsdebatten und ‚doktrinären Sprachdiskurse‘ im öffentlichen und medialen Raum übertragbar. Das Überangebot kultureller Muster, Formen und Formate leitet zu einem permanenten Wählen an und die Möglichkeiten avancieren zu Produkten der Aufmerksamkeitsökonomie. Hier setzt Schulze mit seiner Kulturkritik ein, die er unter anderem an Schlagworten wie „Medien- und Eventfolklore“ entwirft.124 In der Übertragung auf den hier zu verhandelnden Gegenstand werden auch die unterschiedlichen Erinnerungsangebote in den Strudel der Aufmerksamkeitsökonomie aufgenommen und zum angestrebten populären Konsumprodukt. In einer als Supermarkt oder Erlebnismarkt gekennzeichneten Gegenwartskultur konkurrieren „alle Anbieter um Geld, Zeit und Aufmerksamkeit des Publikums“125. Zusammen mit Schulzes Prognose einer ‚Eventisierung‘ der Gesellschaft und Kultur erwächst hier eine Perspektive, die unter der Frage, ob auch Holocaust-Narrative und -Darstellungen zum Event werden (müssen), noch kritisch betrachtet wird. Wenn nämlich auf dem Erlebnismarkt auch die „Alltagsästhetik zur Erlebnisnachfrage“126 wird, entstehen neue Konkurrenzsituationen, unter denen letztlich auch sozial-gesellschaftliche Phänomene sowie der Umgang mit der Vergangenheit beobachtbar werden. Seit einigen Jahren gilt der Konsens, dass sich durch die Globalisierung des Holocaust-Diskurses neben den nationalen Tendenzen der Entdifferenzierung und der Ritualisierung der Gedenkkultur auch die transnationale Tendenz der Medialisierung und Kosmopolitisierung des Diskurses abzeichnet, die sich eng an die Entortung und Entgrenzung von Politik und Kultur als Zeichen der „Zweite Moderne“127 bzw. der „Postmoderne“ knüpft.128 Daran Anschluss nehmend ist festzuhalten, dass

124 G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 72 ff. 125 Meyer, Erik: „Erinnerungskultur 2.0? Zur Transformation kommemorativer Kommunikation in digitalen, interaktiven Medien“, in: Meyer, Erik (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 175-207, hier S. 178. 126 G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 24. 127 Die „Zweite Moderne“ ist vor allem durch ein Nebeneinander von lokaler und globaler Dynamik, durch Aufhebungen geographischer, aber auch zeitlicher Grenzen und Distanzen gekennzeichnet. Vgl. u.a.: Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Beck, Ulrich: Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Beck, Ulrich/Grande, Edgar (Hg.): Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 128 Vgl. u.a. F. Eigler: Gedächtnis und Geschichte im Generationenromanen, S. 16 f. D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 155 ff.

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der Holocaust als „negativer Gründungsimpuls“ Deutschlands und sein kulturelles und politisches Andenken als globale Verantwortung Bestand hat,129 auch dann wenn seine Ausdrucksformen neu bestimmt werden. Dabei bleibt ebenso zu konstatieren, dass die Perspektive eines globalisierten Holocaust-Gedächtnisses und dem damit verbundenen Grenzverlust nationaler Erinnerungsmaxime bisher ambivalent beurteilt wird. Gerade durch die enormen gesellschaftlichen und medial-kulturellen Wandlungen hat sich in jüngster Zeit immer wieder gezeigt, dass in Fragen des Gedenkens an den Nationalsozialismus und den Holocaust nationale ‚Vorlieben‘ relativ unflexibel sind bzw. Ausweitungsbestrebungen gar als „Verharmlosung dieser historischen Schuld“130 und ‚Bedrohung‘ für Geschichte und Gedächtnis aufgefasst werden können. Es sind jedoch bei Weitem nicht nur die medialen Veränderungen, die den Globalisierungsprozess sichtbar machen. Zu den dynamischen Zeichen der Zeit gehören insbesondere Mobilitätsphänomene wie Arbeitsplatzflexibilität, Reisen, Vielsprachigkeit und Migration. Besonders die Migrationsbewegungen und die Hybridität von Identität haben die Gesellschaftsstruktur in den letzten Jahrzehnten sichtbar verändert und zu neuen ethnischen, kulturellen und religiösen Gemeinschaften, aber auch zu neuen Konflikten, Konkurrenzen und – nicht zuletzt – zu ‚umkämpften Gedächtnissen‘ geführt. 4.1 Migration und Bindestriche „Die Postmoderne hat uns weisgemacht, dass die singuläre Identität unmöglich sei, dass man problemlos eine Flickenidentiät annehmen könne. Wenn die Eindeutigkeit aufgehoben ist, wird man aber instabil. Ein unbehagliches Gefühl, im falschen Leben zu stecken. Die Risiken und Nebenwirkungen sind beachtlich. In dem Moment, wo Globalisierung inszeniert worden ist, hat es angefangen zu knallen.“131

Migration ist nicht nur eine Folge der Globalisierung, sie ist auch beobachtbares Phänomen des ‚kosmopolitischen Europas‘. Was sich also auf formeller politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene durch die Globalisierung abzeichnet, wird auch in den ‚Zwischenräumen‘, in den sich durch Migrationsbewegungen neu zu-

129 Diese Verantwortung ist u.a. Bestandteil der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research. Seit 2005 gehört der Eintritt in die ‚Holocaust-Erinnerungsgemeinschaft‘ außerdem zu den Beitrittsauflagen der Europäischen Union. 130 F. Eigler: Gedächtnis und Geschichte im Generationenromanen, S. 84. 131 Zaimoglu, Feridun: „‚Ich bezeichne mich nicht als Europäer‘. Ein Gespräch mit Olaf Neumann“, in: Jungle World vom 03.03.2004.

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sammensetzenden Milieus, Subkulturen und Gesellschaften, deutlich. Dass sich ein struktureller Wandel nicht nur in der Wirtschaft und der Politik vollzieht, sondern auch und dadurch bedingt eine enorme Pluralisierung der Gesellschaftsstruktur zu beobachten ist, wird heute in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens sichtbar. Besonders in den westlichen Ländern und zumal in Deutschland, einem der größten Einwanderungsländer, lässt sich eine ‚Multikultur‘ der ethnischen Identitäten ausmachen, ist Migration die „dominante Erfahrung im Europa des 20. Jahrhunderts geworden“132. In dieser Studie ist primär von Bedeutung, wie sich die Identität der jungen Generation in Deutschland unter Migrationsbedingungen verändert und welchen Stellenwert dabei zum einen die Traditionen, Geschichte(n) und Kulturen der Migrationsgesellschaft und zum anderen die besonders in Deutschland präsente Erinnerungskultur des Holocaust einnehmen. Pointiert lautet die Frage: Kann überhaupt das national monolithisch geprägte Gedächtnisparadigma mit seiner Fokussierung der Holocaust-Erinnerung als zentrale Gedächtniskomponente dieser Gesellschaftsgruppe, der jungen Generation, greifen oder weist sich nicht gerade in diesem Bereich eine Vielfalt von Perspektiven auf die Vergangenheit aus? Haben die heute brisanten Diskussionen um Integrationsfragen die Debatten über die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit überlagert oder fordern sie diese sogleich verstärkt ein, wie der türkischstämmige Autor Zafer Senocak feststellt. Senocak erwog um 1990 die nicht minder provokante These, Deutschland lebe, agiere und erinnere in seinen Integrationsdebatten ohne den Bezug zur Gegenwart und damit ohne die veränderten Bedingungen seiner Kultur und Bevölkerung einzubeziehen. Dafür verwendet Senocak den Begriff der „ungeklärten Gegenwart“ in einer wortgewandten Umkehrung der im deutschen Erinnerungsdiskurs viel zitierten „unverarbeiteten Vergangenheit“.133 In seinem Roman Gefährliche Verwandtschaft (1998) konstatiert Senocak, „sie [die Türken] treten in die Fußstapfen der deutschen Juden von einst“134 und an anderer Stelle noch zugespitzter: „schon einmal hatte in Deutschland ethnische Herkunft über Leben und Tod entschieden.“135 Tatsächlich scheint es nicht nur in der Rezeption der Debatte um die Thesen Thilo

132 A. Assmann, A: Geschichte im Gedächtnis, S. 266. 133 Senocak, Zafer: Gefährliche Verwandtschaft, München: Babel 1998, S. 91. 134 Ebd., S. 90. 135 Senocak, Zafer: „Deutsche werden – Türken bleiben“, in: Leggewie, Claus/Senocak, Zafer (Hg.): Deutsche Türken. Das Ende der Geduld, Reinbeck: Rowohlt 1993, S. 9-17, hier S. 9.

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Sarrazins136 so zu sein, dass einige Charakterzuschreibungen von der „Rolle des Juden als paradigmatischer Anderer“137 auf die Migranten islamischer Länder übertragen werden und damit ein nicht unwesentlicher Zusammenhang von „Migrations“- und „Minderheiten“-Diskurs entsteht.138 In Deutschland hat gelebte, öffentliche Migrantenkultur kein nennenswertes Forum, ganz im Gegensatz zu der Wiederentdeckung der ‚deutschen Migrantengeschichte‘, in deren Fokus die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen der Nachkriegszeit stehen und die als deutsche Opfergeschichte nicht nur Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, sondern auch Teil der deutschen Geschichtspolitik geworden ist. Abseits wissenschaftlicher Forschung und der Popularität einiger weniger Kulturschaffenden, Künstler und Sportler hat die Zuwanderer-Kultur einen niedrigen Stellenwert in Deutschland und dies obwohl die in Deutschland lebende Bevölkerung zunehmend aus Zuwanderern anderer Länder besteht. „Sich einmal mit der Kultur derer auseinanderzusetzen, die seit 40 Jahren hier leben, wäre ja kein Schaden. Es wäre ein Zugewinn an Kenntnis und Perspektive“.139 Noch auffälliger ist aber die Abwesenheit migrantischer Geschichte, sieht man auch hier von einigen Ausnahmen wie Gedenktagen und vereinzelten Migrationsmuseen ab. Es lässt sich eher sagen, Migration sei in Deutschland ein „Gedächtnisvakuum“, ein „Thema ohne Geschichte, ohne Erinnerungsorte“140 und damit längst noch nicht Bestandteil der Erinnerungskultur. ‚Bürger mit Migrationshintergrund‘ sind heute jedoch keine ‚exotischen‘ Ausnahmen mehr, sondern die Regel. Dies gilt besonders für die junge Generation, die z.T. schon aus der dritten Einwanderer-Generation bzw. aus bi- oder multinationa-

136 Die ‚Sarrazin-Debatte‘ um das Buch Deutschland schafft sich ab (2010) von Thilo Sarrazin ist dokumentiert in: Bellers, Jürgen (Hg.): Zur Sache Sarrazin. Wissenschaft – Medien – Materialien, Münster: LIT 2011. 137 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 62. 138 Über einen „Trialog“ zwischen Deutschen, Juden und Türken reflektiert auch Zafer Senocaks Hauptfigur in seinem bereits erwähnten Roman Gefährliche Verwandtschaft, hier S. 89 f. Auch Leslie A. Adelsons Forschung zu den Touching Tales hat eine solche ‚Dreiecksbeziehung‘ im Visier. 139 Somuncu, Serdar: „Es geht mir nicht um Provokation, ich will Denkgrenzen auflösen.“ Interview mit Serdar Somuncu, in: Migrationsliteratur. Eine neue deutsche Literatur? Online-Dossier, März 2009, S. 48-58, hier S. 52. 140 Motte, Jan/Ohliger, Rainer: „Einwanderung – Geschichte – Anerkennung. Auf den Spuren geteilter Erinnerungen“, in: Motte, Jan/Ohliger, Rainer (Hg.): Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen: Klartext 2004, S. 17-53, hier S. 18.

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len Familien stammt. In Deutschland kommt inzwischen beinahe jeder dritte Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund – mit steigender Tendenz.141 „Identität im Singular verliert ihre Eindeutigkeit und Bedeutung. Multiple Identitäten, oft allerdings auch gebrochen durch Erfahrungen mangelnder Anerkennung, sind die Realität im 21. Jahrhundert in Europa und in Deutschland.“142

Der Begriff der ‚Bindestrich-Identität‘, der im Folgenden die Identität der jungen Generation komplettieren soll, entstammt der Forschung des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Martin Bronfenbrenner zum Phänomen der „Hyphenated Americans“143 in den USA. Als „Bindestrich Amerikaner“ bezeichnet Bronfenbrenner diejenigen amerikanischen Staatsbürger, die nicht mit dem Bindestrich, etwa in Form der doppelten Staatsangehörigkeit geboren sind, sondern die ihre Herkunft als Identitätsmerkmal ihrer politischen und kulturellen Identität voranstellen und qua Bindestrich verbinden. Auf den hier zu verhandelnden Untersuchungsgegenstand zugeschnitten lässt sich die Bindestrich-Formel von dem inhärenten Kulturpluralismus der Vereinigten Staaten auf einen Begriff von Transnationalität in globalen Gesellschaften adaptieren. In der deutschen Migrationsgesellschaft ist das ‚Bindestrich-Phänomen‘ besonders praktikabel und eindrücklich an den sogenannten ‚Deutsch-Türken‘ oder den ‚Russland-Deutschen‘ zu zeigen. Diese Zuwanderungsgruppe besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, identifiziert sich jedoch ebenfalls stark mit ihrem Heimatland, dessen moralischen, sozialen und familiären Bindungen. Auch auf die Gruppe jüdischer Deutscher ist diese Formel übertragbar, wie zu einem späteren Zeitpunkt anhand Maxim Billers Inszenierungen von deutscher und jüdischer Identität nachgewiesen wird. Hat man also nicht nur die Wahl des Heimatortes und der Lebensweise, sondern auch bezüglich seiner Identität? Tatsächlich sind Identitäten heute vielfach variabel, situativ und von dynamischen Lebensentwicklungen und den Möglichkeiten der Erlebnisgesellschaft beeinflusst. Auch die für die junge Generation geltend gemachte Inszeniertheit folgt dieser Feststellung. Je nach Lebens- und Bedürfnislage können sich unter postmodernen Bedingungen

141 Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: „Generation Global“, in: Beck, Ulrich (Hg.): Generation Global. Ein Crashkurs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 236-265, hier S. 247. 142 Georgi, Viola B./Ohliger, Rainer: „Geschichte und Diversität: Crossover statt nationaler Narrative?“ in: Georgi, Viola B./Ohliger, Rainer (Hg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2009, S. 7-25, hier S. 17. 143 Bronfenbrenner, Martin: Hyphenated Americans. Economic Aspects. Law and Contemporary Problems, Vol. 45, No.2 (1982).

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heute schneller und in kürzerer Abfolge soziale Gruppengemeinschaften bzw. aufgrund ihrer Kurzfristigkeit „situative Wahlverwandtschaftsformationen“144 herausbilden. Mit der Ausweitung des Lebens- und ‚Möglichkeitsraumes‘ der Erlebnisgesellschaft ist auch die Kategorie ‚Heimat‘ nicht mehr zwangsläufig der Ort, mit dem wir durch Geburt und Abstammung verwurzelt sind, und die eigene Identität ist nicht mehr zwangsläufig die gleiche wie die der Vorfahren. Den „gleichen Pass“ hat man heute sowieso nur „zufällig“, wie der Autor Kevin Vennemann klarstellt.145 Heimat ist vielmehr ein Prozess, der stets neu in der Gegenwart (temporär) verortet werden muss. Das auf diese Weise nur vorübergehende Heimatgefühl trägt zum instabilen, dynamischen Charakter von Identität in der Zweiten Moderne bei, nach welcher Identität nicht mehr als geschlossenes Paket aus Herkunft, Heimat, Sprache, Nation und Ethnie in die Wiege gelegt wird, sondern sich als andauernder, dynamischer Prozess des „Positioning“146 in einer wandelbaren, unsteten Gegenwart darstellt. In Zeiten der Globalisierung und der Beschleunigung unserer Gegenwart nehmen die ursprünglich manifesten Begriffe wie ‚Heimat‘, ‚Nation‘, ‚Herkunft‘ somit an Eindeutigkeit ab und geraten in die ‚Verhandlungsmasse‘. Identität ist damit letztlich nicht als etwas Dauerhaftes und Unwiderrufliches gekennzeichnet, sondern ihre Instabilität wird vielmehr zum „normalen Zustand“ in der globalen Welt.147 „Die kulturelle Praxis in den Einwanderungsgesellschaften zeigt, daß Menschen mehrere Heimaten haben, mehrere kulturelle und soziale Bindungen entwickeln und leben können, daß sie dabei nationale und ethnische Sortiermuster kreativ unterwandern und sich so ihre Welt über nationalstaatliche Grenzen hinweg entwerfen“.148

Gerhard Schulze nennt dieses permanent und überall „Unterwegssein“ die Technik des „Vorbeischauens“, bei der wie beim „Fernseh-Zappen“ in Sekundenschnelle das Programm gewechselt werden kann und man zugleich immer „alles im Griff

144 T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 254. 145 Siehe dazu Kapitel II, 1. 146 „You have to be positioned somewhere in order to speak.“ Hall, Stuart: „Old and New Identities, Old and New Ethnicities“ in: King, A.D. (ed.): Culture, Globalization and the World-System. Contemporary Conditions for the Representation of Identity, Binghampt-on 1991, S. 41-68, hier S. 51. 147 Beck-Gernsheim, Elisabeth: Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 102. 148 Römhild, Regina: „Globalisierte Heimaten. Kulturanthropologische Betrachtungen in der Alltagskultur“, in: Burmeister, Hans-Peter (Hg.): Die eine und die andere Kultur, Rehberg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 2003, S. 41-52, hier S. 42.

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hat“.149 Diese Merkmale verweisen auf eine Deutungsanlage von Identität als ‚performatives Ereignis‘, welches temporäre Identitätszusammenhänge formt. „Man hat sowohl Wurzeln als auch Flügel“.150 Diese Metapher trifft nicht nur den Kern der Migrations- und Integrationsthematik, sondern leitet auch über zu einer Identität des ‚Sowohl-als-auch‘. „Längst gibt es erhebliche Gruppen von Menschen, für die das eingeforderte Entweder/Oder – sei Deutscher oder sei Türke, sie Deutscher oder sei Grieche – schlicht dem widerspricht, was den Kern ihrer Erfahrung und ihres Lebensgefühls ausmacht. […] Dabei ist ihre Herkunftsverbundenheit als Ergänzung, nicht als Widerspruch zu ihrer Niederlassung im Gastland zu begreifen.“151

Interkulturelle Identitäten als Komposita-Identitäten sind wie alle weiteren fluiden Zeichen, Waren und Informationen per se als liminal und hybrid zu betrachten.152 Mit einem narrativen Bindestrich als Ergänzung lässt sich der Schwerpunkt auf das Verbindende der Bindestrich-Identität gegenüber dem Trennenden von MultiKultur stärken und dies ohne sich für die eine oder andere Seite zu ‚entscheiden‘. So können Menschen ‚Berliner Türken‘, ‚Nürnberger Griechen‘ oder „Anatolische Schwaben“153 sein und damit – nicht nur semantisch – verschiedene Herkunftslinien und Heimaten verbinden. Lassen sich auf diese Weise aber auch die Vergangenheiten verbinden und neue Perspektiven entwickeln? „Generell gilt, dass es Antworten auf Identitätsfragen, also darauf, wer wir sind und wie wir leben wollen, ohne Einbeziehung der Frage, wer wir gestern waren und wie wir gestern gelebt haben, nicht geben kann.“154

149 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 97. 150 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter (2001), S. 16. 151 Beck-Gernsheim, Elisabeth: Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Im Dschungel der ethnischen Kategorien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 174. 152 Vgl. Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin: „Hybride Kulturen. Einleitung zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte“, in: Bronfen, Elisabeth/Steffen, Therese (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 1-30, hier S. 17 f. 153 „Ich bin ein anatolischer Schwabe.“ – Selbstbeschreibung des deutschen Politikers Cem Özdemirs auf dessen Homepage, 1997. 154 König, Helmut: „Europas Gedächtnis. Sondierungen in einem unübersichtlichen Gelände“, in: König, Helmut/Schmidt, Julia/Sicking, Manfred (Hg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld: transcript 2008, S. 9-37, hier S. 11.

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Die Prozesse der Globalisierung und Migration, die generationellen und soziodemographischen Veränderungen und die Charakteristika der Erlebnisgesellschaft führen auch zu der Bildung vielfältiger historischer Narrative und heterogener Geschichtsbilder. In Deutschland leben heute nicht nur immer mehr junge Menschen, die aufgrund ihres jungen Alters keinerlei unmittelbare Berührungspunkte mit der deutschen Vergangenheit vorweisen, sondern auch immer mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund, deren Vorfahren keiner ‚Nachkriegsgeneration‘ angehören, die weder ‚Opfer‘ noch ‚Täter‘, ‚Mitläufer‘ oder ‚Zuschauer‘ während der Zeit des Nationalsozialismus waren und keine ‚Schicksalsgemeinschaft‘ bilden. Diese Menschen leben in Deutschland jedoch in einem Land, welches sich in schier ungebrochener Intensität mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzt. Holocaust und Nationalsozialismus besitzen für den öffentlichen und politischen Diskurs ebenso wie für das kollektive und individuelle Selbstverständnis Deutschlands eine überaus große Bedeutung.155 Es scheint kaum ein Tag zu vergehen, an dem in den Politik- oder Feuilletonseiten der Zeitungen, auf Nachrichten-Websites, in TVTalkshows oder Dokumentationen nicht zumindest das Thema der deutschen Vergangenheit tangiert wird. Auch für den Schulunterricht, an dem in deutschen Klassen mittlerweile nicht selten mehr Kinder mit Migrationshintergrund teilnehmen als ohne, bleiben Holocaust und Nationalsozialismus – auch in gekürzten Lehrplänen – präsente Themen. „Was bedeutet Geschichte als Quelle für Identifikation und Identität in einer Gesellschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenleben? Wie kommt es zu einem ‚wir‘ in einer solchen Gesellschaft? Muss es viele Geschichten geben oder müssen sich die vielen die eine Geschichte zu eigen machen?“156

Es bedarf eines ausgeprägten Bewusstseins dieser öffentlichen, medialen Präsenz der deutschen Vergangenheit einerseits und des verbreitet auszumachenden „Überdruss am Geschichtsunterricht“157 andererseits, um sich der Frage zuzuwenden, wie 155 Vgl. Georgi, Viola B.: „Nationalsozialismus und Holocaust im Selbstverständnis von Jugendlichen aus Einwandererfamilien“, in: Frölich, Margit/Lapid, Yariv/Schneider, Christian (Hg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland, Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004, S. 203-222, hier S. 203. 156 Johannes Rau, Rede auf dem 44. Deutscher Historikertag 2002, siehe: http://www. bundespraesdent.de/SharedDocs/Reden/DE/JohannesRau/Reden/2002/09/20020910_Rede2.html vom 12.04.2012. 157 Şölçün, Sargut: „‚Ich weiß es nicht, also erinnere ich mich!‘ Literatur als Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft“, in: Motte, Jan/Ohliger, Rainer (Hg.): Geschichte und

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sich eine so definierte deutsche Erinnerungsgemeinschaft dazu eignet, „Menschen aus anderen Traditionszusammenhängen zu integrieren“158. Welche Wirkung hat also die häufig emotional aufgeladene Thematisierung der deutschen Vergangenheit für nicht-deutschstämmige, nicht-christliche sowie auch nicht-jüdische Deutsche?159 Mit dem primären thematischen Fokus auf der deutschen Vergangenheit und unter Herausnahme der Gegenwart steht auch erneut das, was Zafer Senocak oben in seiner Rede über die ‚ungeklärte Gegenwart‘ äußert, zur Disposition. „A new subject of German remembrance […] is less about the danger of forgetting the past than it is about new conditions for re-membering twentieth-century Germany in a present that Turks and Germans in the Federal Republic already share.“160

Leslie A. Adelson hat in diesem Sinn auch eine Theorie der ‚Touching Tales‘, der sich berührenden Geschichten, stark gemacht.161 Dieses Konzept steht für die Verbindungen von jüdisch-deutsch-türkischen Vergangenheitsnarrativen, die sich nicht nur berühren, sondern auch verbindende Effekte hervorrufen. Um neue Perspektiven auf die Vergangenheit zu ermöglichen, muss sich die deutsche Gesellschaft nicht nur mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, sondern sich vor allem in dieser Auseinandersetzung dahingehend öffnen, dass neue Impulse, neue Sprecherpositionen, zuletzt eine neue Sprache in dem bislang monolithisch geprägten Diskurs zugelassen werden, auch wenn dies nicht immer eine „fröhliche Veranstaltung“ ist, wie Senocak konstatiert.162 Gleichwohl, auch dies darf nicht verschwiegen werden, kommen auf der anderen Seite diejenigen, die dauerhaft in

Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen: Klartext 2004, S. 189-199, hier S. 190. 158 V.B. Georgi: Nationalsozialismus und Holocaust im Selbstverständnis von Jugendlichen, S. 204. 159 Eine ähnliche Fragestellung stellt sich zum Beispiel für nicht-jüdische Bürger in Israel, wo die Erinnerungskultur des Holocaust einen ähnlich exklusiven, dabei natürlich grundsätzlich unterschiedlich gelagerten Stellenwert erhält wie in Deutschland. Die hier möglicherweise auftretende ‚Konkurrenz‘ unterschiedlicher Erinnerungskulturen und Gruppen wird in Kapitel III, 2 besonders anhand des interkulturellen Theaterstücks Dritte Generation aufgegriffen. 160 L.A. Adelson: The Turkish Turn, S. 330. 161

Siehe Adelson, Leslie A.: „Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s“, in: New German Critique, No. 80 (2000), S. 93-124.

162 Senocak, Zafer: „Der Nationalstaat und seine Einwanderer“, in: Der Tagesspiegel vom 07.04.2010.

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Deutschland leben wollen, ebenfalls nicht umhin, die Geschichte Deutschlands in ihre Bindestrich-Identität aufzunehmen, wenn sie ein „Eintrittsbillet“163 in die deutsche Gesellschaft lösen wollen: Mit der Einwanderung nach Deutschland wandert man auch in dessen jüngste Geschichte ein.164 Aus Ermangelung einer gemeinsamen, identitätsstiftenden Vergangenheit lässt sich die Aufforderung nach Teilhabe an der jeweils anderen Vergangenheit einerseits und nach gemeinsamen, geteilten Ereignissen und Erfahrungen in der gemeinsamen Gegenwart andererseits ableiten. Nur so kann überwunden werden, „dass wir in einer gemeinsamen Gegenwart leben, die keine gemeinsame Vergangenheit teilen kann.“165 Eine bedeutsame Untersuchung zum Umgang mit der deutschen Geschichte in der jungen, in Deutschland lebenden Migrantengeneration hat die Erziehungswissenschaftlerin Viola B. Georgi angefertigt.166 Georgi sieht gerade in dieser neu heranwachsenden multi-ethnischen Generation die Chance zum „Crossover“167 zwischen Einwanderern und der Mehrheitsgesellschaft und ihren Geschichten. Durch die Vervielfältigung von Geschichtsbildern und Narrationen in einer multiethnischen Gesellschaft entsteht Transkulturalität, die im Modell der BindestrichIdentitäten impliziert ist. An den Übergängen, Schnittpunkten und Zwischenräumen finden Überkreuzungen statt, lassen sich Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen „neu vermessen und justier[en]“.168 Hierbei nun entsteht auch die Möglichkeit, sich ‚Erinnerungen zu leihen‘, aus getrennten Erinnerungen gemeinsame Erfahrungen und daraus eine Gemeinschaft abzuleiten. Georgis Studie zeigt des Weiteren, dass die Migrations- und Integrationsdebatten wie von Senocak vermutet, in der Tat sehr eng mit den Debatten über die deutsche Geschichte zusammenhängen. Die Auseinandersetzung mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus hängt demnach weniger von der national-kulturellen Herkunft, sondern vielmehr von der aktiven Positionierung, der gesellschaftlichen Verortung und Zugehörigkeit ab, die wiederum über die Aneignung, Annahme oder Abgrenzung von Geschichte verhandelt wird.169 Was im Zuge dieser Positionierungen als Work in Progress entsteht, sind unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte, die sich in einem neuen multiethnisch zusammengesetzten Gegenwartsraum neu aushandeln und fixieren lassen. 163 V.B. Georgi: Wem gehört die deutsche Geschichte, S. 161. 164 Senocak, Zafer: „Deutschland – Eine Heimat für Türken?“, in: Senocak, Zafer: Atlas des tropischen Deutschlands. Essays, Berlin: Babel 1993, S. 9-19, hier S. 16. 165 Sznaider, Natan: Gedächtnisraum Europa. Die Visionen eines europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive, Bielefeld: transcript 2008, S. 19. 166 Vgl. u.a.: V.B. Georgi/Ohlinger: Geschichte und Diversität, V.B. Georgi: Ich kann mich für Dinge interessieren, V.B. Georgi: Entliehene Erinnerung. 167 V.B. Georgi/R. Ohlinger: Geschichte und Diversität, S. 7 ff. 168 V.B. Georgi/R. Ohlinger: Geschichte und Diversität, S. 7. 169 V.B. Georgi: Ich kann mich für Dinge interessieren, S. 103.

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Die Pluralisierung der Identitäten verweist auf die Existenz unterschiedlicher, nebeneinander bestehender ‚kollektiver Teilgedächtnisse‘ und Erinnerungsgemeinschaften, in denen unterschiedliche Geschichten erzählt werden.170 Dass die Vervielfältigung der Individualität gesellschaftlicher Gruppen und die Auflösung standardisierter Erinnerungsmuster nicht automatisch und ohne Kritik verläuft, sondern es mit der Existenz unterschiedlicher Geschichten auch zu Konkurrenzen und Deutungsrivalität kommen kann, sollte dabei beachtet werden, denn „im scheinbar bunten Durcheinander multikultureller Sinnentwürfe geht es keineswegs nur um Vielfalt, es geht vor allem auch um Deutungsmacht“.171 4.2 Die Pluralität der Geschichte(n)? „Gedächtnisse schlagen Purzelbäume und müssen sich neu arrangieren.“ DANIEL LEVY, NATAN SZNAIDER/ERINNERUNG IM GLOBALEN ZEITALTER

Durch die Veränderungen im Zuge der Globalisierung haben sich die Vorstellungen von ‚Generation‘ und ‚Gedächtnis‘, aber auch von ‚Nation‘, ‚Identität‘, ‚Heimat‘, gewandelt. Ihre Definitionsgrenzen sind heute durchlässiger und diffuser geworden. So erhält der Begriff der Nation als Einzelstaat mit autonomen Handlungen und Ordnungen den Einflüssen der Globalisierung nicht Stand und erweitert seinen Wirkungskreis zunehmend zugunsten politischer Verbunde und Verflechtungen. Das was sich hier ‚oberhalb‘ der Nationalstaaten als Dach entwickelt, fordert auch ‚unterhalb‘ der politischen Ebene seine Veränderungen ein. Dort setzt die Bildung ethnischer, sozialer, kultureller und sprachlicher Vielfalt eine neue Markierung für das gesellschaftliche Leben und die Identität. „Je mehr das gesellschaftliche Leben durch die globale Vermarktung von Stilen, Räumen, Vorstellungen, durch internationale Reisen, global vernetzte Medienbilder und Kommunikationssysteme vermittelt wird, desto mehr lösen sich Identitäten von besonderen Zeiten, Orten,

170 Skeptiker sehen jedoch anstelle geteilter bzw. geliehener Erinnerungen und sich berührender Geschichten immer häufiger auch getrennte Gedächtnisse: vgl. Maschler, Nicole: „Sprengstoff im Geschichtsunterricht“, in: Die Tageszeitung vom 20.08.2001; François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, München: C.H. Beck 2001, S. 22. Diese Aussagen nun referieren eher auf ein ‚Zwei-(Erinnerungs-)KulturenModell‘ und weniger auf eine Hybris. 171 U. Jureit: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung, 89.

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Vergangenheiten und Traditionen – sie werden entbunden und erscheinen als ‚frei flottierend‘.“172

Identität ist eine multiple und variable Zuschreibung, welche temporär und vor allem wesentlich konstruiert ist. Ähnliches gilt für den Ort der Heimat, der ebenfalls einen situativen, vorübergehenden Charakter gewinnt und mehr als metaphorischer (Übergangs-)Raum oder utopischer „Nicht-Ort“173 bezeichnet werden kann. „Wo man zu Hause ist, sagt nicht zwangsläufig etwas darüber aus, wohin man gehört.“174 Die Ausdehnungen von Lebens- und Möglichkeitsraum ermöglichen und erfordern immer neue Wahl- und Kompositionsmöglichkeiten. Dies gilt nicht nur für Lebensgewohnheiten, Berufe oder Freundschaften – als Bewohner der ‚Global Village‘ können wir, vor allem in der ‚Parallelwelt‘ des Internets, auch weitgehend frei aus einer Art Potpourri unterschiedlicher Identitätsentwürfe wählen und sind – theoretisch – weder an eine Nation noch an unsere Abstammung oder an die eingetragene Nationalität auf dem Pass gebunden. Wir können z.B. sowohl Deutscher als auch Europäer, sogleich „Jude und Nicht-Jude und alles gleichzeitig sein“175. Derart lebt es sich heute nach dem kompositorischen Prinzip des Sowohl-als-auch und des Bindestrichs und nationale Identität wird nicht selten eher über die Begeisterung für eine Fußballmannschaft, denn über den gemeinsamen Besitz „eines reichen Erbes von Erinnerungen“176 generiert. Auch fühlen wir uns mit Menschen verbunden, mit denen wir uns mehr über den aktuellen Lifestyle als durch gemeinsam erlebte historische Ereignisse identifizieren. Ein sich derart gestaltender Erfahrungs- und Handlungsraum ist nur schwerlich national begrenzt vorstellbar und passt damit auch nicht ohne Weiteres in die Deutungshoheit des Gedächtnisparadigmas. Vier Argumente – Generationswechsel, Gedächtnis-/Medienwechsel, Sprachwechsel und gesellschaftlicher Wandel – stellen die Grundlage für die Transformation des Gedächtnisparadigmas. Hier sei noch einmal besonders der sozialgesellschaftliche sowie demographische Wandel durch den Generationswechsel und den Verlust der Augenzeugengeneration herausgegriffen, der für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und dem Holocaust eine signifikante Kehrtwende bedeutet. Im Zuge des Generationswechsels lösen sich ja nicht nur die Generationen ab, son172 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994, S. 212. 173 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1994. 174 Senocak, Zafer: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift, Hamburg: Edition KörberStiftung 2011, S. 161. 175 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter (2001), S. 16. 176 Renan, Ernest: „Was ist eine Nation?“, in: Renan, Ernest: Was ist eine Nation? und andere politische Schriften, Wien: Folio 1995, S. 57.

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dern auch ihre ‚nationale Konsistenz‘ verändert sich, so dass in der jungen Generation heute eine Pluralität der ethnischen und sozialen Herkunft vorherrscht. Dies war noch vor einigen Jahrzehnten und besonders zur Phase der Hochkonjunktur der Gedächtnisforschung anders. Der nationale Bezugsrahmen, auf dem sowohl die deutsche Vergangenheitspolitik und die gesellschaftliche Erinnerungssituation als auch das Gedächtnisparadigma fußt, durchläuft in der Gegenwart derart starke Veränderungen, dass sich der Gedanke an ein nationales Erinnerungsnarrativ als Master Narrative nicht trägt. Während sich die nationalen Geschichten vervielfältigen und es ihnen an dem gemeinschaftsstiftenden Ereignis und seiner großen Erzählung mangelt, potenziert sich dieser Variantenreichtum in einer übernationalen Perspektive um ein Vielfaches. Heute geht es nicht um ein „europäisches MasterNarrativ“177 , sondern um die Vielzahl von Geschichten, die im dialogischen Austausch stehen. Imaginierte Selbstbilder einer nationalen Gesellschaft, die über „Generationenfolgen hinweg in Form einer Identität mittels einer spezifischen Form der Erinnerungskultur [kontinuiert werden]“178, sind in Anbetracht von pluralen Identitäten und differenten Erinnerungskulturen nicht kritiklos zu übernehmen. Ein klassifizierbares historisches, kollektives Generationengedächtnis, welches durch kommunikativ geteilte Erinnerungen an den Holocaust gestützt ist, wird um die Pluralität je unterschiedlich ausgeprägter kollektiver Subgedächtnisse erweitert. Das historische Gedächtnis, wie es im Nationalstaat unter den Bedingungen der Homogenität von Raum, Zeit und nationaler Bevölkerung bestanden hat, wird unter den Einflüssen der Globalisierung zumindest fragile. Die kollektive Erinnerung ist zur „Zombie-Kategorie“179 geworden – eigentlich schon tot, aber als ‚Schreckgespenst‘ immer noch unter den Lebenden. Der ‚Schrecken‘ und damit ein ‚GedächtnisDilemma‘ besteht darin, dass sich die Zeit des Nationalsozialismus‘ immer schwieriger in den Gegenwartsraum und damit in die kollektiven Gedächtnisse der jungen Generation und der multikulturellen Gesellschaft implementieren lässt und das obwohl zugleich Holocaust und Nationalsozialismus unter den Bedingungen des öffentlichen Strukturwandels unlängst zum „Weltgeschehen und Medienereignis“180 geworden sind.

177 Assmann, Aleida: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur. Rede zur Verleihung des Paul Watzlawick Ehrenringes. Wien, 30. 03.2009. Siehe: http://www.watzlawickehrenring.at/loadfile.php?f=5808 vom 12.12.2011. 178 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (1992), S. 18. 179 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter (2001), S. 9. 180 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin: Wagenbach 1990, S. 12. Pierre Nora geht überdies nicht nur von einem Dilemma des Gedächtnisses sondern gar von dem „zentralen Zusammenbruch unseres Gedächtnisses“ aus.

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Die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Holocaust hat ihren Stellenwert und ihre Bedeutung auch in der globalisierten Gegenwart nicht eingebüßt, mehr noch: Erinnerungshandlungen können auch heute zum „Anker in der Flut der Unsicherheit“ werden.181 Für die internationale Politik ist und bleibt die deutsche Vergangenheit und die Erinnerung an den Holocaust ohnehin und nach wie vor konstitutiver Faktor und „europäischer Bezugspunkt“182 wie unter anderem an den vielfachen politischen Gedenkritualen abzulesen ist, die aber mitunter auch Gefahr laufen, unter dem Diktat von Political- und Memorial Correctness Ritualisierung, Verkitschung, wenn nicht gar ‚Entlastungsstrategien‘ zu befördern. Die entscheidende Frage ist jedoch, inwiefern bei all der Beschäftigung mit der Vergangenheit, sei es international oder national, die Bedürfnisse und Anforderungen der jungen Generation berücksichtigt werden und ob sich für die heranwachsende Generation nicht unter dem ‚Deckmantel‘ der Moral und Verantwortung vielmehr eine ‚Last‘ und ‚Bürde‘ hält, welche die Auseinandersetzung mit der Thematik eher hemmt als zukunftsweisend lenkt. Die Frage ist also, wie ein Handlungsauftrag, eine Aufforderung zum Memory Work, zum Work in Progress des Erinnerungshandelns formuliert werden kann. Indem sich die etablierten Konzepte von nationaler, ethnischer, geographischer Zugehörigkeit aufweichen lassen, öffnen sich neue kulturelle Räume. In diesen Räumen entwickeln sich kulturelle Praktiken, wird die Vergangenheit neu kontextualisiert und repräsentiert. Dabei lassen sich nicht nur gewandelte Identitäten, sondern auch eine neue Sprache dokumentieren, mit der bekannte Narrative reflektiert sowie neue Geschichten erzählt werden und die mediale Transformation des Gedächtnisparadigmas ihren Lauf nimmt. So beginnt das Work in Progress.

181 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 40. 182 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 255.

II Work in Progress Teil 1: Literarische Verhandlungen

1. D ER H OLOCAUST IN DER L ITERATUR – E INORDNUNG UND V ORGEHEN

HISTORISCHE

„Spätestens 1995 war also die Epoche der Nachkriegsliteratur zu Ende, sechs Jahre nachdem mit dem Fall der Mauer die Nachkriegszeit zu Ende gegangen war. Spätestens 1995 begann eine neue Epoche, eine nach dem Nach.“183

Die Literatur gilt neben Filmen und Bildern als das speichernde und reproduzierende Erinnerungsmedium par excellence. Im kulturellen Gedächtnis ist heute ein kaum noch überschaubarer literarischer Kanon verfügbar, welcher gleichzeitig eine höchst produktive Forschung unterhält. Aus den literarischen Darstellungen und Reflexionen des Holocaust haben sich unterschiedliche Genres entwickelt, die sich wiederum mit heterogenen Themenfelder beschäftigen und von Autoren unterschiedlicher Generationen verfasst worden sind. Angefangen mit den Texten der Überlebenden, der Zeit- und Augenzeugen des Holocaust, entstanden bereits unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs die ersten, mittlerweile als ‚Klassiker‘ der Erinnerungsliteratur zu bezeichnenden, weitgehend autobiographischen Zeugnisse der NS-Zeit und des Holocaust. Zu ihnen lassen sich – um nur einige wenige beispielhaft herauszustellen – die Texte von Jean Amèry (Jenseits von Schuld und Sühne, 1966) oder Primo Levi (Ist das ein Mensch? 1961), die Lyrik Paul Celans (Der Sand aus den Urnen, 1948; Atemwende, 1967) sowie aus dem Theaterbereich die in den 1960er Jahren uraufgeführten ‚Auschwitz-Stücke‘ von Rolf Hochhuth (Der Stellvertreter, 1963) und George Tabori (Die Kannibalen, 1969) zählen; später vor allem auch Ruth Klügers Autobiographie Weiter leben (1992). 183 Freund, Wieland: „Nach dem Nach. 2001 – A Literary Odyssey“, in: Freund, Wieland/Freund, Winfried (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart, München: Wilhelm Fink 2001, S. 11-17, hier S. 12.

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Mit der öffentlichen Konfrontation und Diskussion der Schuldfrage in den 1960er Jahren fand auch in der Literatur der vermeintliche ‚Tabubruch‘ mit dem historischen Trauma statt. Die Medien- und Kulturlandschaft differenzierte sich zunehmend aus und demzufolge schrieben sich auch deutsche Autoren und Intellektuelle in den literarischen Holocaust-Diskurs ein. Die öffentlichen politischen Debatten und Prozesse dienten den jungen Schriftstellern und Dramatikern wie z.B. Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt, Peter Weiss oder Martin Walser als thematische Vorlage, das Drama der Vergangenheit medial zu verarbeiten. Neben dem (politischen) Theater etablierte sich als literarisches Genre zu dieser Zeit die sogenannte „Väterliteratur“.184 Zu den prominentesten Vertretern dieser Gattung gehören Günter Seuren (Abschied von einem Mörder, 1980), Christa Wolf (Kindheitsmuster, 1976) und Uwe Johnson (Jahrestage, 1984), welche die Anklage ihrer Elterngeneration zum thematischen Schwerpunkt ihrer Texte auserkoren. Daneben machte in den 1980er und 1990er Jahren auch die ‚große, deutsche Schriftstellerriege‘ von sich reden. Nachdem sie bereits in den 1950er und 1960er Jahren unter der Initiative Gruppe 47 deutschsprachige Nachkriegsliteratur als ‚Trümmerliteratur‘ diskutierten, erreichten Jahrzehnte später die teils autobiographischen, teils fiktiven Texte von Martin Walser, Günter Grass oder Bernhard Schlink das Forum wissenschaftlicher Kontroversen und politischer Debatten, in denen es nun zunehmend auch um die Schuld und (Mit-)Täterschaft des deutschen Volkes am Nationalsozialismus ging. Als beispielhaft in diesem Prozess darf – nicht zuletzt auch wegen seiner Streitbarkeit – Martin Walser gelten, der mit seinen ‚Auschwitz-Essays‘ und vor allem mit seiner bereits erwähnten ‚Friedenspreisrede‘ 1998 einen Kontrapunkt in der deutschen Vergangenheitsbewältigung setzte und eine bis dahin beispiellose Debatte über die deutsche ‚Kollektivschuld‘, ‚Normalisierungswünsche‘, die ‚Übermacht‘ der Medien und künstlerischer Freiheit hervorgerufen hat, deren Nachwehen auch in gegenwärtigen Diskussionen noch spürbar sind. Mit der dritten Generation, den Enkeln der ‚Täter- und Opfergeneration‘ verlagerte sich in den 1990er und frühen 2000er Jahren die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus von den Foren der Öffentlichkeit zurück in das Private der Familien und fand seinen Niederschlag in den Familienromanen. Zu den bekanntesten deutschsprachigen Autoren dieses Genres lassen sich Arno Geiger (Es geht uns gut, 2005), Tanja Dückers (Himmelskörper, 2003), Marcel Beyer (Spione, 2000) oder

184 Vgl. u.a. Blasberg, Cornelia: „Erinnern? Tradieren? Erfinden? Zur Konstruktion von Vergangenheit in der aktuellen Literatur über die dritte Generation“, in: Birkmeyer, Jens/Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 165-187, hier S. 167 ff. Mauelshagen, Claudia: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre, Berlin: Peter Lang 1995.

L ITERARISCHE V ERHANDLUNGEN

I 65

auch Gila Lustiger (So sind wir, 2005) und Eva Menasse (Vienna, 2005) zählen. Charakteristisch für diese Texte ist die Auseinandersetzung mit den Vergangenheitsdebatten, die hier in die Konzeption von Familiengeschichten eingebunden wird sowie die relativ schematische Anwendung des traditionellen Gedächtnis- und Generationsbegriffs. Thematisch verquickt werden hier noch einmal die verschiedenen Formen des Erinnerns und des Gedächtnisses, die den jeweiligen Familienmitgliedern – zumeist Großeltern, Eltern und Enkel – zugeschrieben werden. Wenn sich also beispielsweise die Protagonistin Freia aus Tanja Dückers Roman Himmelskörper auf die Recherche nach dem Trauma ihrer Familie macht, stößt sie dort auf ein weitgehend verdrängtes und umgedeutetes kommunikatives Gedächtnis ihrer Großmutter, auf die traumatischen Erinnerungen ihrer Mutter sowie in Selbstreflexion auch auf ihre eigene emotionale Betroffenheit und adaptive Verstrickung in die Geschichte der mehr als 60 Jahre zurückliegenden NS-Zeit. Dabei wird nun die Vergangenheit aus der Familiengeschichte heraus rekonstruiert und Rückschlüsse auf die ‚wahre‘ Geschichte möglich gemacht. Um eine geheimnisvolle Familientrias und ihre Verstrickungen in den Nationalsozialismus dreht sich auch Marcel Beyers Roman Spione. Auch dort geht es um die verschwiegene Lebensgeschichte der Großeltern und um den Versuch der Enkel, sich dem ‚Erinnerungsverbot‘ zu widersetzen und die wahre Geschichte zu (er-)finden. Hier sind sie, die beiden vermeintlich ‚typischen‘ Wege, zu denen in der Einleitung Meike Herrmann zitiert wurde: Spurensuche und Erfindung. Das ‚narratologische Drehbuch‘ der Familienromane ist, wie dieser kurze Einblick zeigt, in den meisten Fällen sehr ähnlich konzipiert. Häufig stoßen die Enkel zufällig auf Dokumente aus der NS-Zeit, auf Bilder, Tagebucheinträge oder Briefe ihrer Großeltern. Mit ihren unbeantworteten Fragen, dem Gefühl, nicht die ganze Wahrheit über ihre Familiengeschichte zu kennen und von einem latenten „Phantomschmerz“187 begleitet, begeben sich die Protagonisten auf Vergangenheitsrecherche. Jedoch bleibt in Anbetracht dieser Familiengeschichten festzuhalten, dass „das Erzählen entlang der Generationenkette es zum letzten Mal [ermöglicht], die historischen Augenzeugen an der privilegierten Ursprungsposition zu platzieren und das Denkmodell der transgenerationellen Traumatisierung zu plausibilisieren“188, wie Cornelia Blasberg in Aussicht stellt. Zunehmend tritt nun die Deutungsmacht der Vergangenheit durch die Autorität des Erfahrungs- und Familiengedächtnisses hinter die Repräsentations- und Inszenierungsmacht des kulturellen Gedächtnisses zurück und statt kommunikativer Erinnerung übernehmen die Medi185 Dückers, Tanja: Himmelskörper, Berlin: Aufbau 2003. 186 Beyer, Marcel: Spione, Köln: DuMont 2000. 187 Brunner, Claudia/von Seltmann, Uwe: Schweigen die Täter reden die Enkel, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 7 f. 188 C. Blasberg: Erinnern? Tradieren? Erfinden, S. 181.

66 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST

en die Vermittlung. In naher Zukunft wird dieser ‚Machtwechsel‘ weiter an Relevanz gewinnen und die Deutungsmacht durch den Wegfall der Augen- und Zeitzeugen und ihrer Erinnerungen vollends an die kulturellen Medien abgegeben werden, denn wie Jan Assmann sagt: „Was heute noch lebendige Erinnerung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein.“189 1.1

Was kommt nach dem Familienroman?

„Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach der Entlassung der Literatur aus ihrem aufklärerisch-moralischen, zuweilen moralisierenden Auftrag der unmittelbaren Nachkriegszeit, nach ihrer Politisierung im Gefolge der antimilitaristischen und antiautoritären sechziger Jahre, nach dem Rückzug in die Neue Subjektivität in den Siebzigern, nach dem apokalyptisch geprägten, postmodernen Zitatenspiel in den Achtzigern, nach den deutsch-deutschen Literaturstreitigkeiten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre und der schließlichen Ankunft im apolitischen Medienzeitalter, in denen alle nur denkbaren Natur- und Gesellschaftkatastrophen und neuerdings auch ‚gerechte‘ Kriege bequem und lustvoll geführt und in der heimischen Sicherheit des Wohnzimmers am Fernsehbildschirm miterlebt werden können, da wird nicht mehr nach moralisch bemühten, aufklärenden, kritisch denkenden oder sonstwie sich engagiert einmischenden Autoren und Autorinnen gefragt.“190

Seiner Rede des „Nach“ fügt der Germanist Thomas Jung hinzu: „Allein die Rundum-die-Uhr-Unterhaltung und die Ausrichtung auf den […] momentanen Lebensgenuß, auf den lust- und triebgesteuerten Hedonismus, hat Konjunktur.“191 Wenn dem so ist, dann ist nicht nur die Frage, was kommt in der Vergangenheitsliteratur als Nächstes berechtigt, sondern es wirft gar die Frage auf, ob in diesem Umfeld überhaupt etwas kommt, das an die literarische Tradition anknüpfen kann und vor allem möchte. Wenn Hedonismus und gegenwärtiger Genuss Priorität haben, sind die Erbschaften des Nationalsozialismus und Auseinandersetzungen mit dem Holocaust sicherlich nicht die ersten Punkte auf der Agenda einer möglichen neuen Literatur. Wie skizziert füllt die literarische Beschäftigung mit dem Holocaust nicht nur einen Kanon primärer Texte, sondern unterhält auch eine virulente Forschung. Die Literaturwissenschaft hat sich bei diesem Thema stets eng mit anderen Wissen-

189 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 51. 190 Jung, Thomas: „Trash, Cash oder Chaos? Populäre deutschsprachige Literatur seit der Wende und die sogenannte Popliteratur“, in: Jung, Thomas (Hg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2002, S. 15-29, hier S. 22. 191 T. Jung: Trash, Cash oder Chaos, S. 22.

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schaften wie der Psychologie, der Sozial-, Politik- und Geschichtswissenschaft oder der Kulturwissenschaft verzahnt, wodurch z.B. Trauma, Erinnerung oder Gedächtnis zu beobachtbaren Phänomenen in der Literatur werden konnten. Seit Mitte der 2000er Jahre scheint sich hier jedoch eine Vakanz in der literaturwissenschaftlichen Forschung abzuzeichnen, die neue bedeutsame Untersuchungsfelder schier ausblendet. Dabei wird in der jüngsten Literatur nach wie vor die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gesucht und heterogen thematisiert. Dass dabei auch literarische Diskurs-Dekonstruktionen oder mediale -Vermischungen stattfinden, etwa Pop- und Holocaust-Diskurs miteinander verknüpft werden, Literatur als Inszenierungsplattform von Künstleridentität fungiert oder der Holocaust als Narrativ in anderen, neuen Medien thematisiert wird, eröffnet ein weites Feld für die Literaturwissenschaft. Dabei ist klar, dass diese z.T. drastischen und ‚radikaleren‘ Formen und Formate nicht unkritisch oder naiv betrachtet werden dürfen, da sie und ihre Urheber in einer Verantwortung und Tradition verankert sind, die nachdrücklich relevant bleibt. Zudem ist die Literatur nicht nur das kulturelle Gedächtnismedium par excellence, sie reagiert und reflektiert auch auf besondere Weise gesellschaftliche, soziale und politische Strömungen. Wenn sich nun die Deutungsmacht der Vergangenheit verschiebt und die kulturellen Medien den Blick auf die Vergangenheit bestimmen, müssen auch in der Literatur neue Zugänge, Pfade, gefunden werden, um die Vergangenheit zum anhaltenden Thema der Gegenwart zu machen und nicht unter der „hedonistischen Leichtigkeit“ zu zerstreuen. Diese Zugänge sind aber niemals unabhängig von der Gegenwart ihres „Erfinders“ noch losgelöst von den „Vorleistungen“ der Älteren192, sondern immer eine Transformation dessen, was war im Hinblick auf das, was kommt. Wie ein daraus resultierender Balanceakt in der Literatur, besonders in der Literatur einer jungen, erinnerungslosen Generation gelingen kann, ist mitunter streitbar, zumal in Deutschland, dessen wiedervereinigte Identität auf dem Holocaust fußte, dessen „negative Symbiose“193 das deutsch-jüdische Zusammenleben geprägt hat und dessen Kunst und Kultur oft auf einer Art ‚Prüfstand der Kulturkritik‘ zu stehen scheinen. Wie wird sich nun die deutschsprachige Literatur heute und in der Zukunft der Vergangenheit stellen und wie wird Vergangenheit unter den gegebenen Wandlungen der Gegenwart literarisch und medial konzipiert? Oder anders gefragt: ‚Was kommt nach dem Familienroman?‘ Die Frage nach dem ‚Danach‘ ist im postmodernen Sinne nicht als temporär zu verstehen und soll ebenso keinerlei Anspruch auf Autarkie oder Loslösung von dem Gewesenen erheben. Von einer Art „Zweiter Stunde Null“, von der einst Iris Ra-

192 Vgl. A. Eichenberg: Zwischen Erfahrung und Erfindung, S. 1 f. 193 Diner, Dan: „Negative Symbiose“, in: Diner, Dan (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt a.M.: Fischer 1987, S. 185-198, hier S. 185.

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disch gesprochen hat,194 soll deutlich Abstand genommen werden. Dennoch gilt, dass mit dem Generationswechsel und dem Auftritt einer jungen Generation die grundsätzliche Hoffnung nach etwas Neuem einhergeht und wenn es auch nur der Abgrenzung zum Alten, Etablierten dient. Einer anderen Literaturkritikerin, Sigrid Löffler, ist in ihrer Replik auf den Familienroman zuzustimmen, wenn sie konstatiert: „Der Familienroman ist bequem wie ein abgetragener Pullover, und wie ein solcher ist er flexibel und dehnbar und hält die Leserseele warm.“195 Familiengeschichten und der Familienroman wurden in der Vergangenheit allzu gern als bequeme Lesart einer nationalen Kollektivgeschichte angenommen, die sich auf weitgehend gesichertes historisches Wissen, das „Primat der Erfahrung“196 der Zeitzeugen und der dritten Generation als „Träger der Verantwortung“197 stützt. Doch wie grobmaschig ist dieser Pullover gestrickt? Und wollen wir jeden Tag den gleichen Pullover tragen, vor allem dann, wenn er möglicherweise aus der Mode gekommen ist? Aleida Assmann sieht in den jüngeren Erinnerungsromanen, zu denen sie etwa Marcel Beyers Kaltenburg (2008) zählt, ein „neues Genre“ und die Möglichkeit, auf Leerstellen und blinde Flecken „neue Perspektiven auf unerzählte Aspekte der belastenden deutschen Geschichte sowie neue Wissens-, Reflexions- und Deutungsrahmen“ zu entwickeln.198 Die hier zu vertretende These lautet, dass in diesem literarischen Feld nur noch wenige dieser Leerstellen und blinden Flecken vorhanden sind, die einen wirklich neuen Blick auf die Geschichte und in die Zukunft entwickeln können. Wenn die Deutungsmacht der Vergangenheit in die Zuständigkeit der kulturellen Medien und der nachkommenden, erinnerungslosen Generationen übergeht und sich dieser Zustand in der Literatur widerspiegelt, transformieren auch die Inhalte und Formen der literarischen Vergangenheitsdiskurse durch die Entwicklungen der modernen Gegenwart, dem Social life of texts. Dieser Transformationsprozess verläuft über die Erkenntnis eines Sprachproblems und durch das Aufspüren einer neuen Sprache. Mit der Sprache sind dabei sowohl sprachliche Diskurse gemeint, die sich auf Teile der Kultur und besonders der Literatur, auf die interkulturelle Kommunikation und den öffentlich-politischen Diskurs beziehen als auch das tatsächlich gesprochene resp. geschriebene Wort sowie seine mediale Repräsentation. Für die Literatur kommt der Suche nach einer neuen Sprache vor allem auch eine Ausei-

194 Radisch, Iris: „Die zweite Stunde Null“, in: Die Zeit vom 07.10.1994. 195 Löffler, Sigrid: „Die Familie. Ein Roman: geschrumpft und gestückelt, aber heilig“, in: Literaturen 06 (2005), S. 18-16, hier S. 20 ff. 196 A. Assmann: Wem gehört die Geschichte, S. 213. 197 Vgl. M. Herrmann: Spurensuche in der dritten Generation, S. 154. 198 A. Assmann: Wem gehört die Geschichte, S. 225.

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nandersetzung mit ihrem eigenen Gegenstand hinzu. Im Zeitalter sich ständig übertreffender technischer, medialer Neuerungen geraten nämlich nicht nur kommemorative Inhalte unter Beobachtung und in Konkurrenz, sondern auch die Form, das Medium selbst, muss sich im kulturellen Gedächtnis gegebenenfalls neu behaupten. Die Frage, was sich an den Familienroman anschließt, ist somit nicht zuletzt auch eine Frage nach Art und Form der medialen Repräsentation von Vergangenheit. Dass nun die Vergangenheit nur noch in den neuen Medien und nicht mehr in der traditionellen Literatur vermittelt sein könnte, ist selbstverständlich eine Utopie bzw. von einem Kulturpessimismus begleitet, der fragwürdig ist. Dass sich aber durch die mediale Sozialisation der jungen Generation auch deren Ansprüche an die Medien geändert haben, dem ist zuzustimmen. Bereits Primo Levy erkannte beim jungen Publikum einen „schlechten Empfang“, der sich darin gründet, „daß es [das Publikum] heute in einer Welt der Bilder lebt, die aufgenommen, vervielfältigt und ausgestrahlt werden, und daß besonders das junge Publikum immer weniger geneigt ist, Informationen aus Geschriebenem zu beziehen“199. Für einen schlechten Empfang, so könnte man ergänzen, sorgt wiederum eine ‚schlechte‘ bzw. ‚unverständliche‘ Sprache oder eine, die nicht mehr passt. Als symbolisches Kennzeichen der gegenwärtigen Erinnerungs- und Sprachsituation der jungen Generation eignet sich auch hier der Übergang. Ihr Sprach- und Diskursraum ist einerseits einer, der noch in dem dominanten Vergangenheitsdiskurs der älteren Generationen verhaftet ist, aber schon in den gegenwärtigen Wirklichkeitsraum der jungen Generation hineinwirkt. Die historischen Einzelheiten sind bekannt, die Dokumentation der Ereignisse weitgehend abgeschlossen; die junge Generation ist über den Holocaust und den Nationalsozialismus so aufgeklärt wie keine Generation vor ihr. Auch sind Themen wie Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsbewahrung oder die Opfer- und Schulddiskurse zwar bekannt, aber nicht mehr die entscheidenden Parameter ihrer Auseinandersetzung, sondern vielmehr Anknüpfungspunkte für eine Neupositionierung. Die Bedeutung der nationalsozialistischen Geschichte gründet in der jungen Generation primär in der Frage nach den Auswirkungen dieser auf ihre eigene Gegenwart, auf ihren Umgang mit dieser Geschichte und deren Bedeutung für ihre weder genealogisch noch national durch sie bestimmte Identität. Weil weder die aufklärerische Rekonstruktion der Vergangenheit noch die biographischen oder tradierten Erinnerungen zum zentralen literarischen Thema, zum „leitende[n] Paradigma“200 werden, arrangieren sich neue Metadiskurse über die Reflexionen der kanonisierten Erinnerungskultur. Dies führt auf der Erzählebene zu immer neuen Konstrukten aus Vielstimmigkeit, Pluralität, 199 Levi, Primo: „Wiedersehen mit Konzentrationslagern“, in: Young, James E. (Hg.): Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München: Prestel 1994, S. 163. 200 Vgl. M. Herrmann: Spurensuche in der dritten Generation, S. 142.

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sprachlichem Changieren zwischen Altem und Neuem, ‚Diskursgewirr‘ oder Diskurs-Demontage. Dabei ändert sich auch die Intention, mit der sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu nähern ist. Statt genealogische oder historische Vergangenheitsforschung zu betreiben, die ‚große Geschichte‘, das Master Narrative, wieder und wieder zu erzählen, geht es in der neuen Literatur auch darum, die „Reflexion der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit in Deutschland um andere, bislang weniger beachtete Aspekte zu erweitern“.201 Nach Lyotard kennzeichnet sich die Kultur der Postmoderne als „Prozess widerstreitender Repräsentation“ und zugleich stellt er die Frage nach der Legitimität der „großen Erzählungen“: „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren.“202 Es stellt sich also die Frage, welche Geschichten wie erzählt werden, wenn alles schon erzählt wurde und es keine Orientierung und kein Festhalten mehr an der einen Mastererzählung gibt. Da es in dieser Studie um die Auseinandersetzungen der jungen Generation mit der Vergangenheit von Holocaust und Nationalsozialismus geht und diese Auseinandersetzung nicht unwesentlich durch ein bewusstes, forderndes ‚Abarbeiten‘ gekennzeichnet ist, lässt sich das Modell des Work in Progress als analytisches Werkzeug zum einen auf der Abstraktionsebene, zum anderen auch explizit als Erzählverfahren übernehmen. „[…] hatte ich plötzlich die Eingebung, dass ich nicht rannte, um mich in den Griff zu kriegen, sondern um förmlich aus allen Poren auszuschwitzen, was man Erinnerungsgiftstoff nennen könnte. Zuvor hatte ich freilich andere Wege gesucht, um aus dem Schlamm meiner Kindheit zu kriechen und mich von einer Vorgeschichte zu befreien, die, so dachte ich, nicht mit mir zu tun haben durfte. Vergebens. Nun rannte ich.“203

Dieses psychische wie auch fast schon physische Abarbeiten an der Vergangenheit, an dem „negativen Eigentum“204 , ist im traditionellen Gedächtnisdiskurs bisher stark an manifeste Opfer- und Täterperspektiven gebunden. Die ethnische Unterscheidung von ‚Juden‘ und ‚Deutschen‘ trägt hier den Diskurs und setzt Unter-

201 Leonhard, Nina: „Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus im Verlauf von drei Generationen“, in: Birkmeyer, Jens/Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 63-81, hier S. 79. 202 J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 112. 203 Lustiger, Gila: So sind wir. Ein Familienroman, Berlin: Berliner Taschenbuch-Verlag 2005, S. 7. 204 Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München: Szczesny 1966, S. 98.

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scheidungen voraus und fest, denen sich auch die Nachgeborenen nicht ohne Weiteres entziehen können. An den folgenden analytischen Beispielen soll gezeigt werden, wie sich die junge Generation zu ihrem kulturellen Erbe in Beziehung setzt, welche Topoi und Referenzen hier reflektiert werden und welche Möglichkeiten des ‚Entkommens‘ aus der genealogischen und nationalen Erbfolge sich dabei offenbaren. Welche Erfahrungen und Erinnerungen aus der Eltern- und Großelterngenerationen können überhaupt literarisch ‚durchgearbeitet‘ werden und welche Aspekte bleiben als Übertragung auch für das Wirken der Jungen manifest? Hierbei wird deutlich, was bereits als Übergangs- und Schwellensituation für die junge Generation deklariert wurde: ‚Befangenheit‘ und Tradition einerseits, Aufbegehren nach ‚Freiheit‘ und Distanz andererseits. „Daß nun aber die Hoffnung aufgekommen ist, ‚meine‘ Generation wolle oder könne ein Plädoyer für einen ‚unbefangenen Umgang‘ mit der Vergangenheit einlegen, wundert mich. Da wünschen sich einige der Älteren, wie mir scheint, nur Schuld-Lossprechung von den Jüngeren, und dafür gibt es weder jetzt noch irgendwann in ferner Zukunft einen Grund.“ 205

Das Changieren zwischen diesen beiden Polen, ‚Unbefangenheit‘ einerseits und ‚Diskursgefangenheit‘ andererseits, wird an semantischen und narratologischen Aspekten deutlich; einen ‚Ausweg‘ lässt dabei das Streben nach einer neuen Sprache in Aussicht stellen. „Ziel des Durcharbeitungsprozesses ist es nicht, die Erinnerungsdiskurse ‚loszuwerden‘, sondern ihre Macht und Kontrolle zu entschärfen“.206 Tanja Dückers bringt in obigem Zitat zunächst jene Ambivalenz zum Ausdruck, die als typisch für ihre Generation gelten darf und die in vielen literarischen Texten ihrer Generation einen konsensualen Ausdruck beschreibt. Besonders in den Familien- und Generationenromanen lässt sich diese liminale Situation zwar als Motiv erkennen, die Geschichten bleiben allerdings wie erwähnt sehr stark in gedächtnisparadigmatischen Zusammenhängen verhaftet und geben wenig Raum für neue Anschlussmöglichkeiten. Sie werden in dieser Arbeit als Vorgänger, Reflexionsaber auch Kontrastebene für weitere Literatur- und Mediengattungen und ihre Erzählweisen herangezogen. „Die postnationale, globale Gesellschaft braucht neue Formen der Erzählung, die es erlauben, der hohen Reflexivität und den veränderten Gedächtniskonfigurationen einen adäquaten Ausdruck zu verleihen.“207 Grundsätzlich geht es in den fol205 T. Dückers: Der Schrecken nimmt nicht ab. 206 Bar-On, Dan: Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden zu den Enkeln – Drei Generationen des Holocaust, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, S. 450. 207 Rutka, Anna: „Erinnern als Dialog mit biographischen Texten. Zu aktuellen Familienromanen von Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders (2003), Wibke Bruns Meines Vaters Land (2004) und Stephan Wackwitz Ein unsichtbares Land (2003)“, in: Gansel,

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genden exemplarischen Analysen tatsächlich darum, neue Formen, Formate und Themen aus den literarischen, performativen und digitalen Erzählungen zum Holocaust und dem Nationalsozialismus zu extrahieren. Dabei soll das ausgewiesene Gedächtnis- und Sprachproblem sowie die gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Transformation als ästhetisches und narratives Prinzip herausgestellt werden, um neue Zugänge zur Vergangenheit aufzuzeigen, die bereits theoretisch mit den Begriffen Touching Tales, Crossover, Work in Progress, Inszenierung etc. eingeführt wurden. Das erste Analysekapitel eröffnen zwei Texte von Kevin Vennemann, Nahe Jedenew und Mara Kogoj. Nicht nur der Autor selbst ist als ‚typischer Vertreter‘ der jungen Generation interessant, auch seine beiden Erzählungen heben sich durch die Erzählästhetik einer innovativen literarischen und sprachlichen Konzeption von Vergangenheit gegenüber den klassischen Familien- und Generationenromanen besonders stark ab. In diesem Sinn bildet das ‚Vennemann-Prinzip‘ den Startschuss und zugleich eine Klimax für neue literarische Auseinandersetzungen mit der deutschen Vergangenheit. Anschließend sollen unter der Frage ‚Wo, wer und was ist Deutschland?‘ zunächst die beiden Autoren Christian Schüle und Maxim Biller und deren Positionierungen im Deutschland-Diskurs und dem deutsch-jüdischen Gegenwartsdiskurs zur Sprache kommen. Beide Autoren äußern in ihren überwiegend essayistischen Texten Kritik am deutschen ‚Betroffenheitsdiskurs‘ und plädieren gegen diskursive Eingefahrenheit und für sprachliche Freiheit. Die Pop-Romane, die im Anschluss exkursiv verhandelt werden, können aufgrund ihrer Bezugsphänomenologie als ‚Nachfolger‘ der Familienromane gelten, in denen nun aber nicht mehr die Familie und das Familiengedächtnis als Identifikationsinstanz veranschlagt werden, sondern die Generation mit ihren popkulturellen Symbolen, Ikonen, Idolen und ihren Inszenierungsstrategien von Gedächtnis und Identität. Von besonderem Interesse für die sich anschließenden Untersuchungen aus dem Bereich der Performance und der Neuen Medien ist die Popliteratur überdies vor allem hinsichtlich ihrer Reflexion der Erlebnisgesellschaft und -Kultur. Hier kristallisiert sich die Frage heraus, ob die Holocaust-Narrative zunehmend selbst zum Ereignis und Event gerieren, womit sich sogleich der ‚U-Verdacht‘ ihrer illegitimen Trivialisierung und Verkitschung stellt, der ebenfalls noch diskutiert werden soll. Unter der konkreten Fragestellung der Inszenierung des Holocaust werden daraufhin kulturelle Erinnerungsformate im Bereich der Performance/Theater und der neuen Medien besprochen. Im Theaterstück Dritte Generation der israelischen Regisseurin Yael Ronen werden relevante, u.a. literarisch geprägte Holocaust-

Carsten/Zimniak, Pawel (Hg.): Das ‚Prinzip Erinnerung‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 107-119, hier S. 117.

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Narrative und -Debatten in performative Sprache und reduziertes, postdramatisches Schauspiel übersetzt und ihre Relevanz für die Gegenwart der dritten Generation durch Überzeichnungen demontiert. In den als ‚Performance Radikal‘ titulierten (Comedy-)Inszenierungen Oliver Polaks geht es um die Zuspitzung von jüdischdeutschen Provokationen, die drastische Vorführung erinnerungspolitischer und sprachlicher Blockaden und um den versuchten Ausweg über die sprachliche Radikalität. Wie auch in Ronens Stück ist hier der Einbezug der Zuschauer in die Performance von erheblicher Bedeutung, indem diese Teil der Aufführung werden und zugleich ihre eigene Inszenierung von Political- und Memorial Correctness auf besondere Weise und z.T. schmerzhaft vorgeführt bekommen. Um einen Paradigmenwechsel auch in den Erinnerungsmedien selbst zu diskutieren, beschäftigt sich das letzte Analysekapitel ausführlich mit den neuen Medien. Für die kulturwissenschaftliche Ausrichtung dieser Arbeit ist diese mediale Öffnung unerlässlich. Mit den Formaten Facebook und YouTube werden nicht nur neue Erzähl- und Darstellungsweisen des Holocaust herausgestellt, sondern auch die mitunter streitbare Frage erörtert, ob diese neuen populären und vornehmlich auf Unterhaltung ausgerichteten Medien geeignet sind, Erinnerungshandeln zu ermöglichen und als zukünftige ‚alternative Gedächtnismedien‘ das ‚GedächtnisDilemma‘ aufzuheben.

2. D AS V ENNEMANN -P RINZIP 2.1 Vennemann als Vertreter der jungen Generation „Ich will die Emotionalität heraushalten, fast nüchtern setze ich die Struktur – auch im Wissen um die Unmöglichkeit, das Unmögliche zu schildern.“ KEVIN VENNEMANN/DIE ZEIT

Mit den Texten Kevin Vennemanns gelingt im Vergleich zu den Familienromanen und Generationsstudien anderer Autoren wie z.B. Doron Rabinovici, Marcel Beyer, Gila Lustiger oder Tanja Dückers nicht nur ein neuer Zugang zur deutschen Vergangenheit, sondern auch ein deutlich radikalerer. Vennemann schlägt einen neuen Ton, schlägt Misstöne in der literarischen Aushandlung der Vergangenheit an.

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Kevin Vennemann, 1977 in Dorsten, Westfalen, geboren, lässt sich bereits durch seine Vita als typischer Vertreter der „Generation Global“208 zuordnen. Seine Familie ist deutsch-österreichischer Herkunft, er selbst hat lange in Kärnten und Klagenfurt gelebt, wodurch er auch durch die Kultur und Geschichte des nahen Sloweniens beeinflusst ist, was er ebenso inhaltlich in seinen Erzählungen zum Ausdruck bringt. Vennemann ist aufgrund seiner binationalen Herkunft nicht nur als Angehöriger der Bindestrich-Generation zu klassifizieren, sondern er partizipiert auch an einem transnationalen Gedächtnis und unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen. Dabei involviert er Erfahrungen der slowenischen Minderheit in Kärnten, der österreichischen und der deutschen Bevölkerung. Vennemann studierte in Berlin, Wien, Innsbruck und Köln Germanistik, Judaistik, Anglistik und Geschichte und lebte in Wien, Berlin und New York. In seinem künstlerischen Schaffen zeigt Vennemann immer wieder Interesse an politischen und historischen Themen und publiziert unter anderem über die Minderheitenproblematik in Österreich und die Identität und Geschichte Osteuropas. Einen besonderen Schwerpunkt in seinen Arbeiten setzen jedoch die Felder Antisemitismus und Rassismus, die Vennemann zunehmend als globales Problem erkennt. Sein literarisches Debüt brachte er 2002 mit dem Erzählband Wolfskinderringe heraus, in dem sein erzählerisches Talent bereits zu erahnen war.209 Die beiden darauf folgenden Romane sind es jedoch, die Kevin Vennemann zumindest in Fachkreisen einen hohen Bekanntheitsgrad verschafft haben und um die es im Folgenden gehen soll. Sowohl Nahe Jedenew (2005)210 als auch Mara Kogoj (2007)211 sind Reflexionen über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Dabei sind beide Texte sehr unterschiedlich konzipiert und erhielten nach ihrem Erscheinen ebenfalls auch eine verschiedene Rezeption. Während Vennemann in Nahe Jedenew das Szenario eines Pogroms in einem polnischen Dorf während des Zweiten Weltkriegs entwirft und für diese Geschichte von der Kritik gelobt wurde, stieß sein Roman Mara Kogoj, in dem er die Gegenwart des vom Nationalpopulismus bedrohten Kärnten als Reflexionsfläche einer verstrickten Geschichtsaufarbeitung wählt, überwiegend auf Unverständnis. Vennemanns Handschrift als Erzähltalent tragen beide Texte dennoch unverkennbar und auch die sprachliche Form und Erzählästhetik, mit der sich Vennemann der Thematik stellt, hat herausragenden Charakter – gerade in der Ab-

208 Beck, Ulrich (Hg.): Generation Global. Ein Crashkurs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 2007 (2007 a). 209 Vennemann, Kevin: Wolfskinderringe, Köln: Tropen 2002. 210 Vennemann, Kevin: Nahe Jedenew, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 211 Vennemann, Kevin: Mara Kogoj, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.

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grenzung zu den Familienromanen.212 Auch wenn es nach seinen beiden Romanen bis dato ruhig um ihn geworden ist, darf Vennemann durchaus zu einem der talentiertesten deutschsprachigen Autoren der Gegenwartsliteratur gezählt werden. Seine Erzählungen Nahe Jedenew und Mara Kogoj wurden von der Literaturkritik und den Preisstiftern vielfach bedacht, wobei immer wieder seine unangepasste Sprache herausgestellt wurde – positiv wie auch negativ. Vennemann entwickelt in seinen Texten einen einzigartigen literarischen sprach-musikalischen Erzählrhythmus, gar eine Art Strudel, durch welchen der Leser durch die Geschichte des Zweiten Weltkriegs geführt wird oder besser gesagt in diese Geschichte hineingezogen wird. Vennemanns Erzählungen Mara Kogoj und Nahe Jedenew sind vielschichtige Montagen aus fiktiven Beobachtungen, Vor- und Rückblenden, Dialogen, Imaginationen und persönlichen Reflexionen des Autors, die eine zyklische Textur herstellen. In Nahe Jedenew entwickelt Vennemann darin das bedrückende Panorama eines Überfalls auf ein fiktives polnisches Dorf aus der Sicht eines kindlichen „unzuverlässigen Erzählers“213. Der dynamisch-hastige Rhythmus der Erzählung spiegelt die Unausweichlichkeit der Situation und lässt den Leser durch die Augen eines Kindes teilhaben an dem Schreckensszenario ‚nahe Jedenews‘. In Mara Kogoj sind wir als Leser Zeuge eines Gesprächs zwischen vermeintlichem Täter und Opfer, die ständig ihre Rollen und Stimmen (ver-)tauschen und werden eingeführt in die komplexen und widersprüchlichen Gedanken- und Erinnerungswelten der Protagonisten und in die Diskurs-Reflexionen des Autors Vennemann. Durch die Überfrachtung seiner Erzählungen mit Sinneseindrücken und Meta-Reflexionen verwehren sich zudem beide Texte leichter Konsumierbarkeit und ihnen gelingt dabei auf eine spielerische, z.T. auch paradoxe Weise, die Absurdität, das Unmögliche als Teil der Gegenwart zu schildern und ‚erfahrbar‘ vorzuführen. Das erzählerische ‚Vennemann-Prinzip‘ soll im Folgenden unter zwei Aspekten untersucht werden. Zum einen ist Kevin Vennemann als Geschichtenerzähler zu zeigen, der das Erzählen konzeptionell an die Stelle des Erinnerns stellt und damit deutlich macht, dass Erinnerungshandlungen nur über eine neue, erinnerungslose (Erzähl-)Sprache gelingen können. Damit stellt er nicht nur die Wahrnehmungen seiner Protagonisten unter Beobachtung, sondern reflektiert auch seine eigene Posi-

212 An dieser Stelle sei erwähnt, dass Vennemanns Texte stellenweise orthographisch und grammatikalisch nicht den Regeln der deutschen Rechtschreibung entsprechen. In den wörtlichen Zitaten werden diese ‚Fehler‘ nach der wissenschaftlichen Zitationsregel übernommen. 213 Zur Bedeutung des unzuverlässigen Erzählers in der Literatur der dritten Generation vgl. u.a.: Beßlich, Barbara: „Unzuverlässiges Erzählen im Dienst der Erinnerung“ ,in: Beßlich, Barbara (Hg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 35-53, hier besonders S. 15 f.

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tion als deutschsprachiger Autor einer jungen, erinnerungslosen Generation. Die außergewöhnliche Erzähltechnik, die Vennemann in Nahe Jedenew beweist, wird den ersten Teil der Analyse des Vennemann-Prinzips darstellen. Der zweite zu untersuchenden Aspekt soll an dieser Stelle als Ästhetik der ‚literarischen Zerschreibung‘ gekennzeichnet werden. Vennemann inszeniert in Mara Kogoj besonders eindrucksvoll das Scheitern der Sprachformeln des Holocaust-Diskurses, führt den Diskurs über das Gedächtnis, das Gedenken und die Erinnerung geradewegs ad absurdum und eröffnet, indem er die alten Grenzen sprachlich aufsprengt, neue Räume der Aushandlung von Vergangenheit. Im letzten Abschnitt dieses Vennemann-Kapitels wird außerdem der Versuch unternommen, Vennemanns Schreibweise als ‚Holocaust-Diskurs-Pop‘ zu lesen. 2.2 Vennemann als Geschichtenerzähler: Nahe Jedenew Nahe Jedenew (2005), Vennemanns erster Roman, brachte ihm umgehend die Beachtung aller großen Feuilletons sowie einige Literaturpreis-Nominierungen, unter anderen für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2006 ein. „Kevin Vennemann erzählt von der deutschen Schuld und schreibt den ersten Kriegsroman einer neuen Generation“ lautet es in der Überschrift Georg Diezs Besprechung in DIE ZEIT.214 Der Kennzeichnung als Repräsentanten einer „neuen Generation“ kann durchaus zugestimmt werden, die Vereinnahmung Nahe Jedenews als „Kriegsroman“ erscheint hingegen ebenso ambivalent wie die Formulierung, Vennemann schreibe von „der deutschen Schuld“. Das, wovon Vennemann in Nahe Jedenew erzählt, handelt zwar ohne Frage von einer Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, doch weder wird der Krieg episch beschrieben noch stellt Vennemann die Schuldfrage, schon gar nicht die deutsche. Vielmehr ist Nahe Jedenew eine Geschichte, die beinahe zufällig um die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust kreist und deren eigentliche Handlung sich ebenso auf andere (Kriegs-)Zeiten übertragen ließe. Vennemanns Text ist vor allem ausdrücklich keine Geschichtsschreibung und kein historischer Roman, sondern eine erzählte fiktive Geschichte: „Diese Geschichte ist […] vor allem eine Geschichte.“215 Der durchgehend eingehaltene Referenzverzicht ist eine wesentliche Eigenschaft des Textes Nahe Jedenew. Obwohl Vennemann mit dem Pogrom in einem polnischen Dorf ein historisches Ereignis beschreibt, bleiben verifizierbare Verweise auf das realgeschichtliche Geschehen völlig aus bzw. sie werden nur sehr

214 Kevin Vennemann im Gespräch mit Georg Diez. In: Diez, Georg: „Die schönste traurige Geschichte. Kevin Vennemann erzählt von der deutschen Schuld und schreibt den ersten Kriegsroman einer neuen Generation“, in: Die Zeit vom 12.01.2006. 215 G. Diez: Die schönste traurige Geschichte.

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vage eingesetzt.216 Dies macht einen markanten Unterschied zu Kriegsromanen und historischen Erzählungen aus, denen gründliche Recherche und Genauigkeit unbedingt zugrunde liegen. Die Kriterien der neueren deutschen Erinnerungsliteratur, in welcher eine Mischung aus wesentlichen historischen Fakten und fiktional hinzugefügten Geschichten, eine Bewegung „zwischen Fiktionen und Fakten, zwischen Imagination und Recherche, zwischen Phantom und Reflexion, zwischen Erfindung und Authentizität“ üblich geworden ist,217 bedient Vennemanns Nahe Jedenew ebenfalls nur bedingt. Jedoch sind auch in seiner Romananlage die abtastenden Bewegungen und das Changieren zwischen den verschiedenen Polen durchaus wahrnehmbar. Vennemann erzählt die Geschichte eines Geschwisterpärchens, welches sich vor dem Überfall auf ihr Heimatdorf in ein Baumhaus flüchtet. Die historische Datierung lässt sich an den Beginn des Zweiten Weltkriegs ansetzen, zu deren Zeit es in den polnischen Gebieten nachweislich immer wieder zu Überfällen von deutschen Besatzern, polnischen Plünderern und katholischen Nachbarn auf die jüdische Bevölkerung gekommen ist. Dieser historische Rahmen wird jedoch so zaghaft gezogen, dass im Vordergrund des Textes immer das kindliche Erzählen steht. Vennemann begibt sich in die Position der mit dem Tod bedrohten Geschwister und entwirft aus der Vogelperspektive ihres Baumhauses heraus eine fiktive Geschichte zu einem historischen, für ihn, Vennemann, selbst bedeutsamen Thema. Nach Sicht der Literaturkritik unternimmt er damit zugleich den „für einen jungen deutschen Autor waghalsigen Versuch, die Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus in eine literarische Form zu bringen.“218 Die Kritiker bedachten die literarische Erzählsprache Vennemanns in Nahe Jedenew mit einiger Bewunderung und wurden zu Äußerungen wie „meisterhaftes literarisches Exerzitium“219 und „kleines literarisches Wunder“220 veranlasst. Vennemanns aus der Perspektive eines kindlichen Zeugens erzählte Geschichte erzeugt durch ihre ungeschönte Unmittelbarkeit eine sprachliche Intensität, die den Leser unverzüglich und trotz aller Lektüreschwierigkeiten – Vennemann verzichtet weitgehend auf Interpunktion, Grammatik und Satzbauregeln – in das Geschehen 216 Es ist anzunehmen, dass es sich bei der Ortsangabe „Nahe Jedenew“ um den polnischen Ort Jedwabne handelt und die Geschichte auf den historischen Geschehnissen dort beruht. 217 Vgl. A. Assmann: Wem gehört die Geschichte, S. 216 ff; S. 223. 218 Süselbeck, Jan: „Tübinger Methode“, in: literaturkritik.de 4 (April 2007). Siehe httpp://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10527 vom 07.04.2012. 219 Neuhaus, Andrea: „Mit Kinderaugen: Kevin Vennemanns Roman über ein Pogrom“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.02.2006. 220 Kedves, Alexandra: „Kaddisch für eine Kindheit. Kevin Vennemanns Romandebut ‚Nahe Jedenew‘“, in: Neue Züricher Zeitung vom 06.04.2006.

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nahe Jedenew einbezieht. Mit dem, was die Kinder beobachten, lässt sich zwar Naivität, nicht aber Arglosigkeit simulieren. Die Naivität wird durch das Bewusstsein zu wissen, was sich ereignet, vielmehr zu einer gebrochenen.221 Durch die Beobachterperspektive, die auch der Leser einnimmt, gewinnt die Szenerie unterhalb des Baumhauses die Anordnung einer Theaterbühne, auf der eine Inszenierung des „Theaters der Grausamkeit“222 aufgeführt wird. Nicht nur durch die Augen der Geschwister erscheint es, dass hier ein bedrohliches Schauerstück aufgeführt wird. Die aufgenommene dynamische und sich überschlagende Erzählrhythmik steigert die Bedrohlichkeit der Szenerie zusätzlich und versetzt nicht nur die beiden Kinder, sondern auch das (Leser-)Publikum in Angst und Schrecken. Vennemann wählt mit der Perspektive und der unmittelbaren kindlichen Sprache den literarischen Pfad des Nachempfindens. Obwohl sich die vor den Augen des Geschwisterpaares abspielende Gewalt im Plot in der kindlich naiven Sprache lediglich angedeutet wird, transportiert die intonierte Erzählweise die Bedrohlichkeit der Situation und macht sie nachempfindbar. Das Baumhaus, welches in glücklichen Zeiten ein Ort für kindliches Versteckspielen war, wird zunächst zum Zufluchtsort und zum Versteck und bezeichnet zuletzt den traumatischen Ort, von dem aus die Gewaltszenarien beobachtet werden und der letztlich über Leben und Tod entscheidet. „Wir sehen nicht mehr auf und nicht mehr hin zu den Jedenewer Bauern, den Soldaten im Garten unseres Hauses, wir sehen auf den Baumhausboden und sehen uns von Zeit zu Zeit, wir halten unsere Blicke gesenkt […] wir reden kein Wort, ganze Ewigkeiten, ein Jahrtausend schon und länger […]. Anna sagt ohne zu reden: Reden wir, trägt der Wind unsere Stimmen ins Tal, also reden wir nicht. Wir reden nicht und bewegen uns nicht, es gibt nichts zu sagen, und es gibt nichts zu tun.“223

Die Performativität des Textes wird durch sein elliptisches, zyklisches Erzählen unterstützt, welches an die Komposition eines Musikstücks erinnert und das Erzählte so rhythmisch unterstützt. Derart werden in Phasen großer Furcht und Panik, etwa dann, wenn die Familie der Geschwister vergeblich zu flüchten versucht, Worte und Satzteile als Anapher immer wieder wiederholt und aneinander gereiht. „Und rennen also hinter ihm her, stolpern durch den Garten hinterm Haus, stolpern durch den Garten hinterm Haus und über den Wall hinterm Haus in Richtung Wald, in Richtung Feld, und Antonina mit der kleinen Julia auf dem Arm verdreht sich den Köchel und fällt […] wei-

221 Vgl. G. Diez: Die schönste traurige Geschichte. 222 Vgl. u.a. Artaud, Antonin: Schluss mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit, München: Matthes & Seitz 1988. 223 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 27 f.

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nend liegen und legt den Kopf in die Arme, wie wir sehen könnten, wenn wir uns umdrehten, aber wir drehen uns nicht um, wir rennen weiter, wir laufen ins Feld hinein und denken: Sie fällt, sie legt den Kopf in die Arme, wie wir sehen könnten, wenn wir uns umdrehten, aber wir drehen uns nicht um, wir rennen weiter¸ wir laufen ins Feld hinein, wir denken: Sie fällt, sie legt den Kopf in die Arme, wie wir sehen könnten, wenn wir uns umdrehten, aber wir drehen uns nicht um, wir rennen weiter, wir laufen ins Feld hinein […].“224

Permanent wechseln die Zeitebenen der Erzählung. Dabei wird nicht immer deutlich, um welchen Zeitraum es sich gerade handelt, wie lang die erzählte-, wie lang die Erzählzeit ist. Es sind mehrere Nächte, in denen die Geschwister abwechselnd den Schutz des Baumhauses verlassen und im Wald und in den umliegenden Feldern Nahrung zusammentragen. Der Beginn des Pogroms – mit der performativen Sequenz „Sie kommen“ gekennzeichnet –, ist auf einen der ersten Sommertage datiert, an dem die Familie in Badeanzügen am Teich liegt, Sommerbowle trinkt und sich die Geschwister gegenseitig aus den Büchern des Vaters vorlesen lassen. Das Ende der Geschichte – die Entdeckung der Geschwister bzw. der Tod der Erzählerin – „Ich atme nicht“ – ist ebenfalls auf den Sommer zu datieren, so dass sich die erzählte Zeit lediglich auf einen Zeitraum von einigen Tagen, maximal wenigen Wochen festlegen lässt. Im Text selbst verlieren sich die Zeitangaben im Vagen und Märchenhaften, etwa wenn von einer „Handvoll Augenblicke“225 die Rede ist oder während des Vorlesens des Vaters konstatiert wird: „Ein Jahrtausend schon und länger sitzen wir dicht nebeneinander.“226 Zeit, die reale Zeit, die historische, die Jahres- und Uhrzeit, verliert in Nahe Jedenew ihre Bedeutung. Die Chronologie der Erzählung kann auch durch das erzählte Thema nicht eingehalten werden. Der Inhalt verwehrt sich der kohärenten Erzählung und verfängt sich im hektisch Suchenden, Tastenden und in ekliptischen Erzählschleifen. Eine dieser Erzählschleifen ist neben der beschriebenen Beobachtung des Überfalls auf das Dorf mit der Plünderung und Zerstörung des Eltern- und Nachbarhauses und der Ermordung der Familienmitglieder, auch die Innensicht der Geschichte des Geschwisterpaares selbst, ihr Verstecken, ihre nächtlichen Ausflüge, ihr Zeitvertreib im Baumhaus. Zwischen diesen beiden Perspektiven, Innen- und Außensicht, winden sich die Reflexionen und die Erinnerungen an unbeschwerte Kindheitstage und fröhliche Familienfeste wie z.B. die Hochzeit des Bruders, welche bis ins Detail hinein erinnert wird oder die erzählten (Märchen-)Geschichten von dem Bruder und Vater, deren Wiederholung den Kindern in ihrer Situation Normalität simuliert. Während sich das beobachtete Geschehen unterhalb des Baumhauses auf wenige Sequenzen konzentriert, wird das Geschichtenerzählen mehr und mehr zum 224 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 13. 225 Ebd., S. 47. 226 Ebd., S. 122.

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eigentlichen Erzähl- und Handlungsstrang in Nahe Jedenew. Dabei verlaufen die Geschichten ineinander und nicht immer erkennbar wechselt auch die Erzählstimme zwischen Ich-Erzähler und erinnerter, indirekter Rede des Vaters und Bruders. Im Widerhall der Partisanenlieder ertönt auf „wundersame Weise melodiös“ 227 der Klangteppich aus Erinnerungen. 2.2.1 Geschichte erzählen anstatt erinnern „Erzähl die Geschichte, erzähl die Geschichte, wie sie sich ereignet hat. Erzähl sie, auch wenn es nicht deine eigene Geschichte ist.“ ZAFER

SENOCAK/GEFÄHRLICHE

VERWANDT-

SCHAFT

In der deutschsprachigen Literatur der 1980er und 1990er Jahre wurde vielfach eine Wiederkehr des Erzählens proklamiert,228 welche neben dem Wegfall der Erinnerungsgenerationen auch nicht zuletzt mit dem vielerorts geradezu herauf beschworenen Ende der Nachkriegsliteratur einhergehen sollte. An der Schwelle bzw. in der Mixtur von Dokumentarischem und Fiktivem wie es z.B. der Familienroman zeigt, lässt sich ein Wechsel zur Konstruktion von historischer Realität beobachten. Die Ereignisse, von denen erzählt wird, werden in der Figurencharakteristik nicht mehr per se erinnert und vermehrt auch nicht reflektierend oder gar autobiographisch erzählend reproduziert. Stattdessen muss die Vergangenheit konstruiert, rekonstruiert oder eben frei erfunden und erzählt werden, um zu einem identitätsstiftenden Narrativ zu werden. Wer also erinnern will, muss eine Geschichte erfinden, „die reich ausgestattet [ist] mit all den Kennzeichen einer wohlgeformten Erzählung“229 . Vennemann macht in Nahe Jedenew von Anfang an die Konstruktivität der Geschichte durch die Erzählperspektive und den Referenz- und Autorisierungsverzicht deutlich. Dies ist vor allem im Modus des metafiktionalen Erzählens Kevin Vennemanns zu betrachten. Vennemann deutet die Metafiktion seiner Erzählung zusätzlich an, indem er die fiktiven Geschichten und die Verstrickungen von Wahrheit und Erfindung sogleich selbst auf der Textebene zum Thema erhebt und dem Leser durch den Ich-Erzähler vor Augen führen lässt: 227 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 9. 228 Vgl. N. Förster: Die Wiederkehr des Erzählens. 229 Gergen, Kenneth J.: „Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. Eine sozialkonstruktivistische Darstellung“, in: Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 170-202, hier S. 191.

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„Wir denken uns Geschichten aus, alles was bei uns nahe Jedenew passiert, ist eine Geschichte, und wenn nichts passiert, denken wir uns etwas aus. Hier im Baumhaus wissen wir von keiner einzigen der vielen Geschichten, die wir uns im Baumhaus erzählen, während Wasznars und Antoninas Hof verbrennt, weil diese Geschichten tatsächlich passieren, oder weil wir sie uns nur ausdenken, uns als unsere Geschichten verkaufen, weil wir uns für Augenblicke nicht erinnern können an das, was wirklich passiert, welche Geschichte wahr ist und welche falsch, wir beschließen, daß uns das egal ist, wir erinnern uns oder erfinden im Baumhaus sitzend einfach irgendwas.“230

„Was passiert ist eine Geschichte“. Hier wird der Vollzug der Geschichte auf der ‚Erzählbühne‘ als konstruierte, vorgeführte Geschichte markiert, während es weiter unten im Zitat dann lautet: „weil diese Geschichten tatsächlich passieren“. Noch weiter unten heißt es, dass es letztlich auch „egal ist“, was wahr und was falsch, was erinnert und was erfunden ist. Für die beiden Geschwister ist dieses Verfahren des untrennbaren Vermischens von Erinnern und Erfinden ihre Überlebenstaktik: Solange sie erzählen, erfinden, erinnern, überleben sie und können das eigentlich unfassbare Geschehen in ihre Erzählungen einschließen. Die Verständigung zwischen den Geschwistern vollzieht sich im Verlauf der Geschichte zunehmend über eine Zeichensprache, die sie sich mühsam beigebracht haben, um in ihrem Baumhaus unentdeckt zu bleiben, denn „reden wir, trägt der Wind unsere Stimmen bis ins Tal hinunter, bis zu unserem Haus“ 231. Die Geschichten, die sie im Baumhaus erzählen und manchmal im Stil von Souffleusen kommentieren, sind Imaginationen und Erinnerungen, nicht tatsächlich ausgesprochene Worte. Als der Vater noch lebte und sich die Geschwister einmal zwei Wochen lang aus Spaß nur mithilfe der Zeichensprache verständigt haben, machte der Vater Witze über die ungewöhnliche Stille: „Er macht Witze über uns und tut so, als sehe er uns nicht, wenn wir vor ihm stehen, weil wir, wie er sagt, eigentlich ja sofort zu existieren aufhören, sobald wir einmal nur kurz still sind.“232 Im Baumhaus nun wird die Fähigkeit der Zeichensprache, des Nicht-Sprechens, zum Garanten ihres Überlebens. „Wir schreiben und wir teilen uns mit, was wir vermuten, was drüben im Nebel mit unserem Haus geschieht und was mit unserem Garten, was mit unserem Teich und was mit unseren Felder geschieht, fragen uns, ob sie uns nicht längst schon suchen und ob ihnen überhaupt auffällt, daß wir fehlen, wir zwei.“233

230 K. Vennemann: Nahe Jedenew, S. 65 f. 231 Ebd., S. 71. 232 Ebd., S. 73. 233 Ebd., S. 73 f.

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Eine Geschichte erzählen sich die Kinder in ihrem Baumhaus immer wieder. Es ist das Märchen von einem Fuhrmann, welches als Lieblingsgeschichte des Vaters nun für die Erinnerung an ihn Bedeutung gewinnt. Es geht darin um einen Fuhrmann, der mit seinem Pferdeschlitten in einem Schneesturm die Orientierung verliert, im Kreis fährt und immer wieder nur seine eigenen Spuren im Schnee kreuzt. „Vater erzählt und diese Geschichte, die nicht die seine ist, so oft bereits als seine eigene. Wir stören uns nicht daran. Denn alles, was bei uns nahe Jedenew passiert, ist eine Geschichte […] aber wir beschließen, daß diese Geschichte, die er sich als seine entwirft und zusammenstiehlt, nun für uns seine Geschichte ist, die ebenso gut erfunden sein kann wie Vaters. Die wir aufbewahren und für uns behalten oder vergessen oder auch einmal weitererzählen oder aber auch nur für uns erinnern können […]. Aber immer erinnern und ein letztes Mal wieder erinnern müssen, wenn, wie wir beschließen, uns keine andere Wahl bleibt.“234

Die Geschichte, die der Vater zu allen Gelegenheiten immer wieder erzählte, hat er – so vermuten es die Geschwister – aus einem Märchenbuch entnommen und als seine eigene Geschichte adaptiert. Der Vater und seine Geschichte sind der Inbegriff des Geschichtenerzählers und spiegeln als metatextueller Einschub die Erzählstruktur Nahe Jedenews als zyklische Anordnung. Den Kindern ist es derweil gleich, ob die Geschichte die des Vaters ist oder aus einem Märchen stammt; für sie zählt einzig die Geschichte, die ihnen Erinnerung und Überleben zugleich ist. Die Geschichte lebt weiter und bannt die Geschwister vor allem durch ihre bestehenden Leerstellen, die der Vater nicht mehr mit Inhalt füllen kann. Die ‚verschwiegene Geschichte‘, welche nicht in der Erzählung auftaucht, ist schließlich diejenige, die sich am stärksten überträgt.235 „Alles was […] passiert, ist eine Geschichte.“236 Dies könnte auch als programmatischer Titel oder Resümee von Vennemanns Erzählung Nahe Jedenew gelten. Es ist vor allem aber auch eine widersprüchliche Aussage, denn etwas, das passiert und sich somit tatsächlich zuträgt, ist keine erfundene, erinnerte, erzählte Geschichte, sondern ein Ereignis in der Jetzt-Zeit. Vennemanns Text besteht aus nahezu nahtlos aneinander gereihten, tatsächlich ausgesprochen, gedachten, erinnerten oder stumm kommunizierten Geschichten. Die montierten Geschichten halten die Erzählung ‚am Laufen‘ und ‚im Fluss‘ und sichern so die Handlung, welche im Fort- und Überleben des Geschwisterpaares besteht. Das (stille) Geschichtenerzählen erhält in Vennemanns Erzählung eine existenzialistische Bedeutung: Solange

234 K. Vennemann: Nahe Jedenew, S. 97 f. 235 D. Bar-On: Furcht und Hoffnung, S. 62. 236 K. Vennemann: Nahe Jedenew, S. 65.

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erzählt wird, sind nicht nur die Erinnerungen, sondern ist auch das (Über-)Leben gesichert. Kevin Vennemann verwendet eine kunstvolle, teilweise ins Lyrische tendierende Erzählsprache, die nicht unwesentlich und vermutlich auch nicht zufällig an Paul Celans Gedicht Todesfuge (1948) erinnert.237 Besonders charakteristisch ist zudem die schon erwähnte Grundmelodie, welche in ihrem Rausch- und Sprunghaften sowie in ihrer Mehrstimmigkeit an die Komposition eines Musikstücks erinnert. Die Sätze, einzelnen Worte und Wortphrasen wie „wir atmen nicht“ erhalten eine rhythmische Dynamik und die montierten Geschichten werden durch das Nebenund Nacheinanderschalten verschiedener Themen und Stimmen – Erinnerungen, Beobachtungen, Träume, innere Monologe, Reflexionen, Phantasien – zu einem Gesamtkunstwerk arrangiert. Musik, der Klang von Stimmen und das (Zu-)Hören besitzen dabei auch auf erzähltechnischer Ebene eine besondere Bedeutung, indem sie als eine Art Verbindungsglieder zwischen den einzelnen Erzählfragmenten, zwischen Innen- und Außensicht, fungieren. „Abends hören wir Vater zu, der aus seinen Büchern Märchen, alte Sagen, Gedichte liest, nachts hören wir die Jedenewer Bauern singen, spielen, ungeordnet marschieren. Abends zählen wir die Mückenstiche auf unseren Beinen und flechten uns Zöpfe, nachts hocken wir in die Speisekammer gedrängt […] hören die Jedenewer Bauern singen und Klarinette, Akkordeon spielen, als stünden sie unmittelbar neben uns, und sehen ihre Schatten, neunzehn insgesamt, im zersprungenen Glas überall auf dem Boden zerschnitten, langsam am Fenster vorbeiziehen, wir atmen nicht.“238

Mit der Gleichzeitigkeit von kindlich naiver Erzählsprache und der sich aufbäumenden und im Staccato näher rückenden Bedrohung inszeniert Vennemann die Ausweglosigkeit, die schiere Unmöglichkeit des Wegsehens oder Weghörens in diesem Theater der Grausamkeit, zu welchem der Leser im Grenzbereich zwischen Empathie und Distanz als Voyeur ‚verdammt‘ ist. ‚Leichte Kost‘ ist Vennemanns Nahe Jedenew wahrlich nicht und das obwohl keine direkten Vokabeln des Terrors oder der Vernichtung bemüht werden, um Grauen zu erzeugen. Das Grauen stellt sich einzig über die subtile Erzählsprache Vennemanns, die changierenden Erzählperspektiven und -Stimmen und das szenisch-dramatische Arrangement ein. Auch wenn Vennemann hier von einem Verbrechen erzählt, welches in der jüngsten Ge237 Lyrische Anleihen, besonders zu Paul Celan, sind in Vennemanns Poetik eindeutig auszumachen. Sein wiederholter Leitsatz „Wir atmen nicht“ verklammert den Text auf ähnliche Weise wie Celans Refrain „Schwarze Milch der Frühe“. Die Lebensbedrohung, die beiden Motiven innewohnt, aber nicht durch direkte Sprechweise genannt wird, erscheint ebenfalls als augenscheinliche Übereinstimmung. 238 K. Vennemann: Nahe Jedenew, S. 10.

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genwart oftmals Bestandteil vieler, auch sensationshungriger Schauergeschichten war – man denke hier als Kontrast nur an das Beispiel des Romans Die Wohlgesinnten (2006) von Jonathan Littell –, ist das Statement seines Textes der ausdrückliche Verzicht auf jegliche Form der Sentimentalität und des Kitsches ebenso wie auch der wahrheitsgemäßen Familiengeschichte. Vennemann schafft es mit einer mimetisch reduzierten Sprache, einfachen, unaufgeregten Worten, aneinandergereiht und in schier zufällig alternierender Wiederholung eine grausame Episode des Zweiten Weltkriegs so ‚harmlos‘ zu erzählen und dabei dennoch zu keinem Zeitpunkt Zweifel an ihrer Bedrohlichkeit und Grausamkeit zuzulassen. Somit stellt sich am Ende der Erzählung die moralische Frage auch gar nicht, ob diese Geschichte gut ausgeht und das letzte verbleibende Geschwisterkind seinen Angreifern entkommt. Vennemann beendet seinen Roman und damit die Geschichte um die beiden polnischen Kinder genau so, wie er sie begonnen hat: harmlos offen und dennoch schockierend endgültig: „Einer der Soldatenhunde beginnt zu jaulen, als er die Strickleiter fallen hört, und einige der Jedenewer Bauern sehen mich, lachen laut, dann ist alles still und nichts mehr zu hören, nichts mehr zu sehen, und also stehe ich im ewig dachlosen Baumhaus in der Baumhausöffnung, die keine Tür mehr bekommt, und höre und sage nichts, es gibt nichts mehr zu sagen. Ich atme nicht.“239

Durch die von Vennemann bewusst vorgeführte konstruierte Fiktionalität aller Geschichten ist weder eine Chronologie noch Authentizität in Vennemanns Text angelegt, womit sich keine authentische Zeugenschaft, Aufklärung oder Faktizität erwarten lässt. Nahe Jedenew ist „das Buch einer Generation, die sich nicht mehr die Frage stellt, wie sie sich zur deutschen Schuld verhalten soll – diese Geschichte ist für sie, das sagt Nahe Jedenew, vor allem eine Geschichte“240 – eine von vielen, wie hinzuzufügen ist. Der Autor Vennemann entzieht sich dem Aufklärungs- und Deutungsdruck der Vergangenheit, indem er sie zwar zu seinem Thema macht, aber immer deutlich vor Augen führt, dass er hier etwas aus Mangel an ‚wahren Erinnerungen‘ zu erzählbaren Erinnerungshandlungen konstruiert. Vennemann gehört einer Generation an, welche keine eigenen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hat und sich auch nicht mehr unmittelbar in der Verantwortung sieht, zu diesem geschichtlichen Ereignis etwas zur Dokumentation oder Aufklärung beitragen zu müssen. Schier sämtliche Details dieser Zeit sind nicht nur bekannt und aufgearbeitet, sondern auch als fester Bestandteil der kulturellen Reproduktion verfügbar und in das kulturelle Gedächtnis eingegangen. „Je mehr Zeit vergeht, desto weniger

239 K. Vennemann: Nahe Jedenew, S. 143. 240 G. Diez: Die schönste traurige Geschichte.

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wird es nötig sein, diese Details zu beschreiben.“241 Für Vennemann erwächst demnach aus seiner Generationszugehörigkeit keine Verpflichtung, die Vergangenheit aufzuarbeiten, „weil sie sich ja nicht mehr aufarbeiten läßt“242, wie Doron Rabinovici konstatiert. Vennemann selbst gibt zu Protokoll, dass es seinem Text ausdrücklich an einer Stellungnahme zur Schuldfrage fehlt: „Die Schuldfrage ist historisch geklärt, sie muss also nicht mehr Thema sein. […]. Das sind historische Fakten, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen muss.“243 Dieses ‚Nicht-Müssen‘, sich aber dennoch mit der Thematik literarisch auseinander setzen zu wollen, unterstreicht noch einmal Vennemanns nicht nur schriftstellerische, sondern auch seine ‚generationelle Freiheit‘, die er sich zu Eigen und zum literarischen Konzept macht. Da die Ereignisse nicht mehr zu erinnern und somit folglich für Vennemann auch nicht adäquat zu erzählen sind, wird ein anderes Erzählmuster zum Vennemannschen Prinzip: die schriftstellerische Distanz bei größtmöglichem erzählerischen Distanzverlust. Diese insofern ambivalente Distanz, sich hier nicht eindeutig äußern zu müssen, verschafft er sich durch die Erzählperspektive seiner Figuren, welche als kindlich-naive Beobachter und offensichtliche Geschichten-Erfinder die Erzählfigur des unzuverlässigen Erzählers einnehmen, was an einen anderen Roman erinnern lässt, der als einer der kanonischen ‚Dritte-Generation-Romane‘ große Popularität erlangt hat: Marcel Beyers Flughunde (1995)244. In diesem Roman wird aus variierenden Perspektiven, vorwiegend aber aus der Sicht der elfjährigen Goebbels Tochter Helga, ein Zeitabschnitt zwischen 1943 und 1945, der durch die historisch verifizierbaren Ereignisse der ‚Sportpalastrede‘ Joseph Goebbels vom 18. Februar 1943 und den Tod der Goebbles Familie am 1. Mai 1945 abgesteckt ist, erzählt. Beyer verbindet hier teils historisches Faktenmaterial zur Familie Goebbels, teils fiktive Geschehnisse zu einer Romanerzählung, die in dieser Art in das Zentrum der u.a. von Aleida Assmann genannten neueren deutschen Erinnerungsliteratur gehört. Durch die wechselnden und unsicheren Erzählstimmen fließen auch in Flughunde innere Monologe, Zeitebenen und Sprecherstimmen ineinander, so dass die Romanstruktur Eigenschaften einer Montage aus unterschiedlichen Bildern und Tönen aufweist. Die Naivität Helgas, welche sich durch ihre kindlichen, unreflektierten Erzählungen und Beschreibungen von historisch eindeutigen Geschehnissen aus241 Klüger, Ruth: „‘Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamme aus Wien‘“, in: Mittelweg 26 6 (1993), S. 37-45, hier S. 45. 242 Rabinovici, Doron: Wie es war und wie es gewesen sein wird. Eine Fortschreibung von Geschichte und Literatur nach der Shoah, 2007. Siehe: http://www.rabinovici.at vom 03.09.2010. 243 Kevin Vennemann im Interview. In: Diez, Georg: „‚Ein bißchen Moral ist doch nicht schlecht‘.“ Interview mit Kevin Vennemann und Nikolaus Wachsmann, in: Die Tageszeitung vom 16.02.2008. 244 Beyer, Marcel: Flughunde Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

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zeichnet, bringt die Unzuverlässigkeit der Erzählung zum Ausdruck und zeigt dem Leser Unstimmigkeiten und Leerstellen auf, welche er selbst durch sein besseres historisches Wissen verifizieren kann. Im Gegensatz zu Vennemann setzt Beyer aber bewusst Interpretationsspielräume und appelliert an die eigenverantwortliche Reflexion und an das historische Wissen des Lesers, welches Vennemann – man könnte ihm hier auch Arroganz unterstellen – schlichtweg voraussetzt. „Geschichten haben bekanntlich […] eine Moral, sie sind untrennbar mit einem normativen Code verwoben.“245 Während Beyers Geschichten dem Leser stets ein ethisch-moralisches Urteil „aufzwingen“246 wollen, versperrt sich Vennemann mit Nahe Jedenew jeglicher Implementierung von Moral, zumindest in Hinsicht auf die historische Sinnbildung seiner Geschichte. Das Fehlen aber einer ‚Moral der Geschichte‘ und stattdessen die Konzentration auf das ‚bloße‘ Erzählen von Geschichte(n) gehören zu den herausragenden Eigenschaften dieser Erzählung. Mit dem Fehlen einer Moral der Geschichte ist neben der unzuverlässigen Erzählperspektive zugleich das weitere Erzählverfahren der ambivalenten Distanzierung noch einmal erwähnt. Neben der Erzählerdistanz ‚erkämpft‘ sich Vennemann mit der Autorendistanz die Legitimität, sich zwar mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus auseinander zu setzten, jedoch ohne die Erwartung, sogleich auch eine generations-, nationaltypische oder gar ideologische Meinung abgeben zu müssen.247 Die vorgeführte doppelte Distanz und die Moralverweigerung seiner Erzählung bedeutet allerdings nicht, dass Nahe Jedenew ohne persönliche Autor-Intention bleibt: „Ich lese das [Nahe Jedenew] eben nicht ausschließlich als Holocaust-Geschichte, sondern eher als allgemeingültige Parabel, ein Paradebeispiel der Funktionsweise des Antisemitismus.“248 Einführend in dieses Kapitel wurde bereits auf die Biographie Kevin Vennemanns und die ‚Nebensächlichkeit‘ der Holocaust-Narrative in seiner Erzählung hingewiesen. Somit ‚funktioniert‘ Nahe Jedenew nicht nur in der Bezugnahme auf den historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs, sondern kann ebenso im Zusammenhang mit anderen, antisemitischen, rassistischen Übergriffen als Parabel gelesen werden und erfüllt so auch das Schema der Touching Tales. Der Holocaust, welcher Vennemanns Erzählung als Thema inhärent ist, ohne dass er expli-

245 Straub, Jürgen: „Temporale Orientierung und narrative Kompetenz. Zeit- und erzähltheoretische Grundlagen einer Psychologie biographischer und historischer Sinnbildung“, in: Rüsen, Jörn (Hg.): Geschichtsbewußtsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde, Köln: Böhlau 2001, S. 14-45, hier S. 31. 246 Vgl. B. Beßlich: Unzuverlässiges Erzählen. 247 Agazzi, Elena: Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und die Fragen der Vergangenheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 135. 248 Vennemann, in G. Diez: Ein bißchen Moral.

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zit erwähnt wird, wird auf diese Weise seinem normativen, historischen Kontext entnommen und in globale und gegenwärtige Zusammenhänge gesetzt.249 Mit diesem auf gegenwärtige Krisen gerichteten Blick liegt Vennemanns Anspruch ganz in der Gegenwart begründet, in die er seine Texte hineinsetzt und die auch seine politische Intention zum Ausdruck bringt. „Viele Schüler heute werden sich, zu Recht, fragen, warum sie das mit Hitler immer noch lernen sollen, wenn ihnen nicht der Bezug zur Gegenwart klargemacht wird: Dass das Ressentiment eben weiterlebt. Dieser Schritt, der oft fehlt, darum geht es mir: Am 8. Mai 1945 hat das Morden aufgehört, nicht aber das dazugehörige Denken.“250

Ganz in diesem Sinne der fortbestehenden Ressentiments beschreitet Vennemann mit seinem zweiten Roman Mara Kogoj ein Feld der literarischen Aushandlung von Vergangenheit in der Gegenwart, welches nun vor allem unter dem Aspekt der ‚Dekonstruktion des Holocaust-Diskurses‘ besprochen werden soll. 2.3 Mara Kogoj: Die Dekonstruktion des Diskurses 2.3.1 Press ‚Play‘: Das Spiel beginnt „Denn jetzt muß es weitergehen […]: das Richtige, du wirst schon sehen und hör gut zu, sagt Mara, was wir tun.“ K. VENNEMANN/MARA KOGOJ

Mara Kogoj, Kevin Vennemanns zweiter Roman, ist ebenfalls alles andere als eine leicht konsumierbare Erzählung und wurde mit seinem Erscheinen 2007 nicht zu Unrecht als eines der „schwierigsten Bücher dieser Saison“251 bezeichnet. Wesentlicher Bestandteil des reduzierten Erzählgerüsts in Mara Kogoj sind mehrere Gesprächssequenzen zwischen Mara Kogoj, Angehörige der slowenischen Minderheit in Kärnten und vermutlich eine Nachkommin Holocaust-Überlebender, ihrem Kollegen Tone Lebonja und Ludwig Pflüger, dem 60-jährigen, wegen Verstößen gegen das NS-Verbotsgesetz vorbestraften Journalisten, Herausgeber der Vierteljahresschrift des Heimatschutzbundes und wie sein Vater mutmaßlicher Nationalsozialist. Die Gespräche zwischen diesen drei Personen finden im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie zum Thema Heimat statt, zu welcher Klagenfurter Bürger be249 Vgl. D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 243. 250 Vennemann, in G. Diez: Ein bißchen Moral. 251 Kappert, Ines: „Textteppichknüpfer“, in: Die Tageszeitung vom 05.05.2007.

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fragt werden und welches Kogoj und Lebonja als Wissenschaftler begleiten. Worum es in dieser Studie genau geht und welche Ergebnisse sich die beiden Interviewer erhoffen, wird wie so vieles anderes in dieser Erzählung nicht klar. Die Befragung Pflügers lässt allerdings darauf schließen, dass es hierbei um Motive der österreichischen Vergangenheit und Identität geht, die mit abgefragt werden.252 Primäres Thema ist dabei das ‚Österreichbewusstsein‘ und das umkämpfte Gut nationaler, österreichischer Identität auf der schmalen Basis einer dort spät einsetzenden, verhinderten Erinnerungskultur.253 Das Interview mit Pflüger entpuppt sich für die beiden Wissenschaftler Kogoj und Lebonja schnell als besondere Herausforderung. Nicht nur, dass sie Ludwig Pflüger alsbald als Nationalsozialisten enttarnen, bzw. dieser selbst offen seine Gesinnung zum Ausdruck bringt, auch treten unterschwellig persönliche Beziehungen zwischen den Interviewern und dem Interviewten zu Tage, die jedoch ebenfalls weitgehend im Vagen bleiben und nur spekulativ vom Leser rekonstruiert werden können. So scheint Lebonja Pflüger vor mehr als vierzig Jahren schon einmal begegnet zu sein, ohne dass hier Genaueres über diese Begegnung oder die damalige Beziehung berichtet wird. Der Tod von Kogojs Vorfahren, dies geht aus dem in Mara Kogoj einleitenden Verweis auf die historische Tatsachengeschichte des Peršmannhofes hervor – „ereignete sich […] eines der furchtbarsten NS-Verbrechen an der Kärntner Zivilbevölkerung. Elf Familienmitglieder der Familien Sadovnik und Kogoj wurden […] ermordet“254 –, scheint mit Pflüger in Verbindung zu stehen. Im Verlauf der Gespräche wird deutlich, dass der Heimatdiskurs in der Unterhaltung nur eine periphere Rolle spielt und die beiden Interviewer vielmehr an den persönlichen Verstrickungen des Befragten Pflügers und seines Vaters in den Zweiten Weltkrieg interessiert sind. „Erzählen Sie bitte gerne von Ihrer Kindheit und Jugend, das wollen wir tatsächlich hören, uns interessiert kein bestimmter Themenkomplex, sondern ihr Leben.“255 Was hier wie ein Prozess des „Storytelling“256 be-

252 Eine motivische Vorlage könnte Vennemann aus einer österreichischen Studie aus dem Jahr 2004 entnommen haben. Eine Kommission aus Historikern, Sozial- und Kulturwissenschaftlern stellte dort eine empirische Untersuchung zum österreichischen Gedächtnis und seinen Erinnerungsorten an. Vgl. Brix, Emil/Bruckmüller, Ernst/Stekl, Hannes (Hg.): Memoria Austriae, Band I-III: Menschen, Mythen, Zeiten, Wien: Böhlau 2004/2005. 253 Vgl. u.a. Bruckmüller, Ernst: Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien: Böhlau 1996, S. 60 f. 254 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 9. 255 Ebd., S. 31.

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ginnt, verändert schnell seinen Plot. Der Interviewrahmen verengt sich zunehmend auf die persönlichen Geschichten und Erinnerungen Pflügers und schließlich auch Mara Kogojs, die während der Befragung unvermittelt zu einer Gegenrede ansetzt. In der Folge kommt es immer wieder zu Rede- und Gegenrede dieser beiden Erzähler, die in dem von Vennemann eng gestrickten sprachlichen Netz zudem kaum mehr auseinanderzuhalten sind. Doch nicht nur der Inhalt der Unterhaltungen ändert sich, auch dessen Form gerät zunehmend von einem Gespräch zu einer Befragung, zu einem Therapiegespräch, schließlich zu einem Verhör, bei dem über weite Strecken jedoch gar nicht klar wird, wer nun eigentlich Ankläger, wer Angeklagter ist, so sehr vermischen sich die (Sprecher-)Rollen. Einige Rezensenten vernehmen in Anbetracht der derart arrangierten erzählerischen ‚Anti-Struktur‘ aus Stimmenarrangement und sprachmusikalischer Komposition direkte Reminiszenzen an den streitbaren Autoren Thomas Bernhard.257 Den dazu passenden szenisch-motivischen Rahmen des Gesprächs bildet dann auch das (Verhör-)Spiel, welches sich als ein Spiel um Identitäten, um Wahrheit und schließlich als eine Art Quiz äußert, in dem Pflüger, nunmehr auf der Anklagebank sitzend, die gestellten Aufgaben zu lösen hat: „Für Fairneß und Überlegtheit bleibt anderswo noch ausreichend Platz, und ein Quiz daher, Pflüger, ein Quiz nun für Sie, hören Sie zu: Meine Preisfrage.“258 Die „Preisfrage“, um die es geht, soll die Identität einer Person aufdecken, deren Schicksal mit Pflüger in Verbindung gebracht wird. Pflüger soll deren Identität erraten: „Haben Sie schon eine Idee: von wem hier die Rede sein könnte.“259 Der Roman Mara Kogoj spielt auch mit dem Opfer- und Tätergedächtnis und den vermeintlichen Zugehörigkeiten zu der einen oder anderen Gruppe. Mit dem Start der Geschichte, dem Beginn des Gesprächs, scheinen zunächst die Rollen konkret verteilt: auf der einen Seite der Täter Pflüger, auf der anderen Seite die Opferangehörige Kogoj. Im Verlauf der Erzählung und durch die wechselnden Sprecher- und Gesprächsrollen, welche Vennemann kunstvoll ineinander montiert, kann der Leser nicht Herr der Rollenzuschreibungen bleiben und verliert mehr und mehr den Überblick. Dazu verzichtet Vennemann wie auch schon in Nahe Jedenew auf eine strukturierende, leserfreundliche Interpunktion, lässt zwei Ich-Erzähler in 256 Die Praxis des Storytelling wurde u.a. von dem bereits erwähnten israelischen Sozialpsychologen Dan Bar-On zur Gesprächstherapie mit Täter- und Opfer-Nachkommen entwickelt und in zahlreichen Abhandlungen publiziert. Siehe dazu Kapitel III, 2. 257 Vgl. Jung, Werner: „Hören Sie zu!“, in: Der Freitag vom 06.07.2007; J. Süselbeck: Tübinger Methode; Henneberg, Nicole: „3 Stimmen und 1 Tonband“, in: Frankfurter Rundschau vom 21.03.2007. Zu der in diesem Kontext relevanten Streitbarkeit Bernhards siehe Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, München: Beck 2001, S. 118-133. 258 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 188 f. 259 Ebd., S. 202.

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indirekter Rede berichten und wechselt z.T. innerhalb eines Satzes die unterschiedlichen Sprecherrollen, Perspektiven und Gedanken, gerade so als ob – dann wiederum aus einer dritten, Beobachterperspektive heraus – zuerst in den einen, dann in den anderen Kopf hineingesehen wird. Neben dem Switchen zwischen den Blickrichtungen und Gedanken oft aller drei beteiligten Personen wie in einem filmischen Schuss-Gegenschuss-Verfahren werden auch die Aktionsebenen von Denken, Sprechen und Aufschreiben permanent gewechselt: „Lebonja schrieb: Leider hat niemand wissen wollen, worum es genau gegangen ist. Niemand weiß es, sprach Lebonja mir nach und schrieb auf und mit, Niemand will es je genau gewußt haben, diktiert Kogoj. Ich jedenfalls habe es nie erfahren, sagt Pflüger.“260

Während sich Mara Kogoj dem Gespräch immer wieder entzieht – durch die physische Abwesenheit ihres mehrwöchigen Fortbleibens wie auch in ihrer psychischen Abwesenheit durch die Missachtung Pflügers – wird Tone Lebonja mehr und mehr in die Rolle des Zuhörers gedrängt, der das Gespräch zwar lenkt, dabei aber nicht eingreift, geschweige denn widerspricht. Das Schweigen Lebonjas auch zu dem immer wieder durchscheinenden nationalsozialistischen Gedankengut Pflügers erweckt bei Kogoj den Verdacht der fatalen stillschweigenden Zustimmung, wenn nicht sogar der Lüge durch Schweigen. „[…] und recht gibst du ihm schon dann, wenn und weil du nicht widersprichst: sein Zuhörer bist und niemals etwas anderes, Kogoj: Mehr braucht er nicht von dir: dein reines Zuhören, deine Zustimmung zugleich. Nur, wenn jemand nicht zuhört, befindet sein Reden sich im Stillstand, dein Zuhören besitzt er und: dich zugleich. Deshalb funktioniert sein Gespräch bei und mit mir nicht […].“261

„Ein Monolog steht noch aus und eine Korrektur, ich sollte sie vornehmen.“262 Mit der – wiederum – Bernardschen „Korrektur“ beginnt der zweite Teil des Romans, in dem Mara Kogoj das Geschehen an sich reißt und eine Gegenrede vornimmt. Sie setzt gegen die Geschichten Pflügers und gegen das schweigende Zuhören Lebonjas ihre eigene Geschichte und bietet so die notwendige Gegenposition auf, welche dem verklärenden Schwadronieren Pflügers Einhalt gebieten soll: „Ein Monolog steht noch aus und eine Korrektur gegen den Kitsch der: mechanisiert gültigen Kunstware bisher, eine zusätzliche Stimme oder zwei sogar: dagegen und endlich notwendige Mehrstimmigkeit.“263 Die Mehrstimmigkeit und der Kontrast zu Pflü260 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 102. 261 Ebd., S. 141. 262 Ebd., S. 147. 263 Ebd., S. 153.

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gers verkitschten (Kindheits-)Erinnerungen durchbrechen die Harmonie des idyllischen ‚Heimatliedes‘ Ludwig Pflügers. „Präpariert werden muß bei jeder Gelegenheit gegen Harmonie und Stille […]: ein Instrument zu haben und sogar einen Lautsprecher, denn ohne beides wäre alles einfach nur Musik und Unterwürfigkeit.“264 Im Zuge von Mara Kogojs einsetzender Rede gegen Harmonie und Unterwürfigkeit und vor allem gegen Pflüger gewinnt die Gesprächssituation durch das Abschließen der Tür zum Ende der Befragung endgültig einen offensiv bedrohlichen Charakter. Neben den in- und übereinander gelagerten Stimmen befördert ein weiteres Medium die Mehrstimmigkeit in Vennemanns Text. Auf dem Tonbandgerät, welches während der Gespräche zwischen Kogoj, Lebonja und Pflüger mitläuft, werden alle Stimmen und Laute aufgenommen, deren einzelne Segmente im Verlauf der Erzählung wiederholt, vor- und zurückgespult werden. Dieses analoge Aufzeichnungsmedium ist aber nicht nur in der Lage, die Gespräche und Nebengeräusche aufzunehmen, es dokumentiert vielmehr auch das häufig einsetzende, „vielsagende Schweigen“ in den Gesprächen mit Pflüger: „Zweimal hatte Lebonja die Kassette gewechselt währenddessen, die nichts weiter aufgezeichnet hatte als: Stille, und aber doch nur Pflügers vielsagendes Schweigen.“265. Das „vielsagende Schweigen“ lässt den beiden Wissenschaftlern den Raum zu Interpretationen und gibt beizeiten mehr Auskunft als die dahin schwadronierten Erinnerungen Pflügers. Das Tonbandgerät ist wie Lebonja und im Gegensatz zu Kogoj ein stummer und in dieser Sprachlosigkeit gütiger Zuhörer, ein „ausgeliefertes Tonbandgerät kein einziger Einspruch.“266 Als sogleich auch Speichermedium der individuellen Erinnerungen Pflügers dokumentiert es nicht nur seine Geschichte, sondern symbolisiert zugleich ein mediales, abrufbares Gedächtnis. Auch wenn Kogoj Pflügers Erinnerungen keine Beachtung schenken will, sind sie durch den Einsatz des Tonbandgerätes längst als Metatext gespeichert. Das Tonbandgerät, welches neben der Erzählspur mitläuft, sichert die Erinnerungsaufzeichnungen Pflügers entgegen Kogojs eigentlichem Willen der ‚Zerstörung‘ in Form ihrer Missachtung doppelt ab. Durch diese Gleichzeitigkeit von Gespräch und paralleler Tonbandaufnahme überschneiden sich auch hier die Zeitebenen und die Chronologie des Erzählten wird immer wieder unterbunden. 2.3.2 Press ‚Stopp‘: Opfer- und Täterperspektiven „Noch spiele ich und spiele notwendigerweise Opfer, zugegeben. Aber ich habe die Kontrolle und spiele nur, mein bisher erfolgreiches Opferspiel: eine Möglichkeit, ihn seinen Vortrag stattfinden zu lassen in aller Ruhe alles der Reihe nach, um zu erfahren: Wie sehr oder wie 264 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 174. 265 Ebd., S. 108. 266 Ebd., S. 152.

92 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST wenig ist der Vortrag meines Spielkameraden nun tatsächlich der seine. Ich kann zuhören, mir in aller Ruhe meinen Teil zu allem denken, er sieht, er erkennt mich nicht.“267

Mit der Vermischung von Täter- und Opferperspektiven macht Vennemann die Verwirrung seiner Leser perfekt. Durch den permanenten Sprecherwechsel, der sich während der Gespräche zwischen Kogoj, Lebonja und Pflüger vollzieht, verschwimmen auch Täter- und Opferrhetorik. Das Interview wird als Quiz veranstaltet, geradewegs als perfides Versteckspiel, bei dem alle Beteiligten bis zum Schluss nicht wissen, gegen wen oder was sie eigentlich antreten. Es ist vor allem auch ein Spiel der Identitäten und ein geheimnisvolles ‚Täter-/Opfer-Spiel‘, da die tatsächlichen, schicksalhaften Verknüpfungen zwischen den Personen bis zum Schluss offen bleiben. Ludwig Pflüger gibt weder seine eigene noch die Identität seines vermutlich in die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verstrickten Vaters in aller Offenheit preis und Lebonja, von dem Pflüger in seinen Reden scheinbar in der Person Janez Sorls spricht, bemüht sich bis zum Schluss, seine wahre zurückliegende Beziehung zu Pflüger ebenso zu verdecken wie sein eigenes Trauma. Dabei bleibt offen, inwiefern und ab welchem Zeitpunkt Pflüger weiß, wen er als Gesprächspartner vor sich hat, und ob nicht vielleicht gar er es ist, der im Wissen um Lebonjas Unkenntnis das Identitätsspiel inszeniert. Kogoj erkennt: „Ein Spiel also: Der Name Sorl schließt den Namen Lebonja ganz automatisch ein, wenn Pflüger Sorl sagt, meint er Lebonja und also sein konsequent schweigendes Gegenüber. Er hat dich längst als Janez Sorl erkannt und als sein Opfer seit Jahrzehnten.“ 268 Die Tatsache, dass Lebonja selbst im Spiel, von dem er annimmt, es zu lenken, in seiner Opferrolle durch Schweigen verharrt, erkennt Kogoj als Kontinuität unverrückbarer Opfer- und Täterzuweisungen, die „selbst nach Jahrzehnten noch so deutlich verteilt [sind] unveränderbar, als wäre euch diese Verteilung angeboren.“269 Mara Kogoj sieht Lebonja als Verlierer dieses Spiels, als „Zuhöreropfer“270, welches der Illusion aufsitzt, durch Stille und Schweigen den Selbstschutz aufrechterhalten zu können. In der Interpretation Kogojs ist Lebonja das ewige Opfer. Wer dieses Rollenspiel am Ende ‚gewinnt‘, wer sich hier Opfer oder Täter nennen ‚darf‘ oder muss, bleibt offen und damit bleiben auch die Deutungen der Geschichte, der Vergangenheit Kärntens, des Nationalsozialismus etc., um die es hier eigentlich ursprünglich ging, offen und lassen keine Prominenz einer Perspektive zu. Obwohl die Initiative des Gesprächs um die Fragen nach Eigenverantwortung, Schuldtradierung, Erziehung und Trauma kreist, werden diese Fragestellungen nicht

267 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 65 f. 268 Ebd., S. 141 f. 269 Ebd., S. 142. 270 Ebd., S. 143.

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aufgelöst. Während Kogoj die Aussagen Pflügers permanent in Frage stellt und ihm die Verantwortung für sein Handeln zuschreibt, unterstellt sie Lebonja, Pflügers Theorie von der schwierigen, belasteten Kindheit und der familiär geprägten Ausnahmesituation durchaus als Erklärungsparameter in Erwägung zu ziehen und deklariert dieses als Fehler und falsches Verständnis. „Verständnis aufzubringen, zu erklären: ein Fehler. Ich sage es ihnen, egal, ob sie mich fragen oder nicht: keinerlei Verständnis für jemanden wie Pflüger niemals.“271 Auch Pflügers Vater, mutmaßlich SS-Offizier im Einsatz gegen die Partisanen in Kärnten und damit möglicherweise verantwortlich für den Tod von Kogojs Vorfahren, wird von Ludwig Pflüger unter dem Sicherungsverschluss seiner brüchigen Erinnerung, seinem Schweigen und seiner Verdrängung gehalten. „Sein Vater sei Soldat gewesen, worauf sich nun unser Interesse an solcherlei Differenzierungen gründe, er könne sich dafür nun gar nicht interessieren. Kogoj: Was immerhin darauf schließen lässt, daß es auch in der Erzähltradition, die die seine ist, wenigstens eine unausgesprochene Einsicht gibt, etwas verharmlosen zu müssen, und das Wissen womöglich sogar bei Pflüger, daß es tatsächlich etwas zu verharmlosen gibt. Mehr ist nicht in Erfahrung zu bringen, da setzt die Lücke wieder ein.“272

Bis zum Schluss wird nicht klar, ob Pflügers mitunter wirren Ausführungen letztlich ein mentales Ungenügen zugrunde liegt, ob er bewusst hinzuerfindet und auslässt oder ob er „sein nur allzu bereitwilliges Mitsingen und sein Weitermalen eines ihm zwar gegebenen. Aber freiwillig angenommenen plausibel erscheinenden Bildes“273 fortführt. Überhaupt ist die Frage nach der Authentizität seiner Erinnerungen nicht zu beantworten. Was Pflüger spricht oder erfindet, was von dem Erfinder ausgedacht oder von dem ‚Aufdecker‘ entlarvt wird, verliert im Spiel sogleich an Bedeutung und wird geradewegs zur Farce stilisiert. „Vielleicht stimmt gar nichts von alldem, vielleicht alles, wen interessiert das schon. Vielleicht weiß ich die Antwort aber verrate sie nicht, vielleicht habe ich keine Ahnung.“274 Die Geschichte, die Kogoj über die Zeit des Nationalsozialismus, über die Partisanenkämpfe und über die Familie Pflüger erzählt, ist ebenfalls nicht zu verifizieren, sie nennt sie gegenüber Lebonja „Spekulation“, „zusammengeschrieben aus Geschichtsbüchern, nichts davon mehr als Spekulation.“275 Ihre Geschichte setzt Kogoj als Inszenierung der Gegenposition einer ambivalenten Sprecherrolle zu Pflüger ein, um Wahrheit geht es hier, auch wenn es sich um Kogojs „wahre“ Geschichte handelt, nicht. Die271 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 92. 272 Ebd., S. 111. 273 Ebd., S. 140. 274 Ebd., S. 175. 275 Ebd., S. 215.

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ses Spiel mit Authentizität, Inszenierung und Wahrheit ist eines der Kernthemen in Vennemanns Erzählprinzip wie auch schon die Analyse Nahe Jedenews gezeigt hat. 2.3.4 Die ‚Zerschreibung‘ des Gedächtnisparadigmas Was folgt auf den Familienroman? Als wollte Vennemann auf diese Frage antworten, hat er in einem Interview seine Abneigung gegenüber dem ‚aufklärerischen‘ Familienroman und seiner darin enthaltenen Bewältigungs- und Erinnerungsarbeit kundgetan: „Deshalb [Distanz zu den NS-Verbrechen – K.F.] lehne ich diese Art des persönlichemotionalen Erzählens ja auch ab. Diesen Generationenroman. Dieses Bedürfnis zu klären, was der Großvater gemacht hat, um die persönlichen Verstrickungen zu beleuchten. Was absurd ist. Ich sehe da keine irgendwie blutsmäßig eingeschriebene Notwendigkeit. Man hat nur zufällig den gleichen Pass.“276

Vennemann beschreibt hier eine Aussage, die sich sowohl auf seine persönliche Situation als auch auf die Darstellung in seinen literarischen Texten anwenden lässt. Vennemann markiert für sich selbst und implizit für seine Generation eine deutliche Trennlinie zwischen seinen Großeltern und ihm selbst und sieht sich nicht in einer unentrinnbaren Erbfolge gefangen. Seine geburtsmäßige Nationalität, im Besitz des gleichen Passes wie seine Großeltern zu sein und damit intendiert auch von Geburt an entweder der Opfer- oder der Täterseite anzugehören, begreift Vennemann als Zufall und stellt damit fest, dass sich gegen diesen Zustand zwar nicht zu wehren ist, dass er aber keinesfalls allzu große Aufmerksamkeit benötigt. Vennemanns Abwendung vom Familienroman, die ebenfalls im obigen Zitat mitschwingt, macht er auf der Ebene seiner beiden Texte sichtbar. Weder Nahe Jedenew und noch weniger sein Roman Mara Kogoj sind mit den charakteristischen Merkmalen des Familienromans als Familien-/Vergangenheitsrecherche oder der historischen Erzählung als Vermittlung von Wissen und Fakten über die Zeit des Zweiten Weltkrieges angelegt. Dies kennzeichnet vor allem die Figurenrede, welche zu jedem Zeitpunkt im Ungewissen und Vagen verläuft. Vennemanns Texte beschreiben, wenn auch in ihrer Anlage verschieden, in ihrem Erzählverfahren ästhetische Alternativen zu den klassischen Erinnerungs- und insbesondere den Familienromanen, die zumeist auch einen aufklärerischen Duktus, eine Moral, beinhalten und historische Genauigkeit einfordern, wie der knappe Vergleich mit Marcel Beyer gezeigt hat. Vennemann setzt jedoch bei seinen Lesern – seine Zielgruppe dürfte allein schon aufgrund der experimentellen Schreibweise auf die jüngere Generation

276 Vennemann, in G. Diez: Ein bißchen Moral.

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abzielen – schlichtweg eine grundsätzliche historische Kenntnis und Diskurssicherheit voraus, die er insbesondere in Mara Kogoj durch die eingestreuten Reflexionen u.a. sozialwissenschaftlicher und philosophischer Theorien abverlangt. Die knappen einleitenden Worte, die dem Text auf Seite 7 f. in einem Epilog Tone Lebonjas voran gestellt sind, verweisen zwar auf den historischen Bezugsrahmen – in einer nachträglichen historischen Einbettung der Handlung Nahe Jedenews wird Mara Kogoj als Nachfolge-Erzählung verhandelbar –, sind aber zugleich artifizielles Erzählmoment als doppelte Text- und Diskursklammer. Zum einen wird diese Episode nämlich am Ende der Erzählung, Seite 173 f., mit gleichem Wortlaut, allerdings aus der Perspektive Kogojs wiederholt, zum anderen klammert dieser Textabschnitt bereits ein wesentliches inhaltliches Kernelement der Erzählung ein. In dieser auf solche Weise herausgehobenen Sequenz sprechen zunächst Lebonja, später dann Kogoj Bezug nehmend auf ein Zitat von John Cage – „There are two great dangers for magnetic tape: one is music (all the history and thinking about it); and the other is feeling obliged to have an instrument“277 – von „drei Gefahren“, nicht für Cages „Magnetband“, sondern in Auflösung dieser Metapher für das Gedächtnis und die Erinnerungen als „Blick zurück“: „Denn zwei Gefahren für ein Tonband unter drei möglichen Folgen des Blickes zurück: das Falsche, erstens, zweitens gar nichts (ebenfalls falsch) […]. Denn jetzt muß es weitergehen, drittens also (keine Gefahr): das Richtige, du wirst schon sehen und hör gut zu, sagt Mara, was wir tun.“278

Diesen drei unterschiedlichen Erinnerungs- bzw. Diskurstypen entsprechend werden die drei Romanfiguren zugeordnet: Ludwig Pflüger als derjenige, der Falsches zugunsten der Geschichtsverfälschung erinnernd berichtet, Tone Lebonja als abwartender, weitgehend neutraler Beobachter, der sich hinter seinem Schweigen und Hinnehmen verschanzt und schließlich Mara Kogoj, die das vermeintlich einzig Richtige – „keine Gefahr“ – macht und „es“ weitergehen lässt. Hier wird nicht das Gedächtnismodell mit seinen drei Stufen (kommunikativ, kollektiv, kulturell) angewandt, sondern als nicht fruchtbar demontiert. Auf diese Weise wird Ludwig Pflüger zum „Wirklichkeitsmixer“, „Erinnerungskomponist“, „Pseudomemorizer“279 und berichtet zumeist, anstatt Klartext über seine Verwicklungen in die NSZeit zu sprechen, immer wieder von seinen frühen Kindheitserinnerungen und seinen Geschichten aus dem „Komponierhäuschen“: „Nichts leichter als das, behauptet er, Pflüger an solchermaßen guten oder ähnlichen Tagen: Als Kind beim Kom277 Cage, John: Silence. Lectures and writings, Middletown/Connecticut: Wesleyan 1973. S. 197. 278 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 7 f. 279 Ebd., S. 21.

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ponierhäuschen.“280 Des Weiteren greift Pflüger in seinen Ausführungen auch die offiziellen Institutionen sowie die kulturellen Medien an und bescheinigt ihnen die bewusste und gezielte Aufrechterhaltung und Verbreitung von Lügen, Pauschalvorwürfen und historischen Anklagen, die zur „Rattenplage“281 für die unschuldigen, verdienstvollen Pflichterfüller wie ihn selbst oder seinen Vater werden. Tone Lebonja, obwohl ihm Pflüger in keiner guten Erinnerung bekannt zu sein scheint und er durch dessen Ausführungen permanent an seine eigene traumatische Vergangenheit erinnert wird, weigert sich beharrlich zu erinnern: „Ich erinnere nichts und tauche nicht auf, und nichts anderes will ich: untergetaucht bleiben und kein bißchen erinnern: nichts wissen nichts hören.“282 Zugleich erhofft er sich auch keine Wahrheitsfindung aus den Erzählungen Pflügers, die er von Anfang an unter dem Verdacht der Verfälschung sieht, denn „die Wahrheit ist eine andere, welche auch immer“283 . Neben diesen drei Reflexionstypen, welche die drei Personen bedienen, gewinnt besonders das „restriktive Konsensgedächtnis“ an konstitutiver Textrelevanz und wird zum Kernpunkt Vennemanns literarischer ‚Diskurs-Zerschreibung‘: „Einen Begriff demnach von der kompakten, überschaubaren Geschlossenheit eines solchen vermeintlich restriktiven Konsensgedächtnisses. In das ein nicht minder zwingendes, von seinem übergeordneten Rahmen gut gefüttertes Familiengedächtnis eingebettet gewesen sein soll, innerhalb dessen wiederum alle Wahrnehmungen Handlungen Erinnerungen, Bestimmungen nicht zuletzt: auf welche Weise Vergangenes erzählend vergegenwärtigt werden muß, vorgeprägt sind von den Erforder- und Bedürfnissen eines geschlossenen und überschaubaren Wir: Miterzählen darf, wer nur das erzählt, was sowieso schon bekannt ist und nicht stört. Derlei ewig gleiches und aus unveränderbaren semantischen Versatzstücken zusammengefügtes Berichten muß bis zur Mythologie nur immer und immer wieder und letztlich häufig genug erfolgen und vererbt werden, um auch über die Generationen hinweg eine verbindende, verbindliche Erzählung entstehen zu lassen, die für sich zu beanspruchen hat, dauerhaft und umfassend gültig zu sein, um nicht etwa andere Versionen oder gar Nachfragen aufkommen zu lassen: die von oben herab instrumentierte Gleichschaltung eines atomisierten Gedächtnisses vor dem Wunschbild eines möglichst geschlossenen Geschichts- und Gegenwarts- und Selbstverständnisses.“284

280 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 10. 281 Ebd., S. 130. 282 Ebd., S. 34. 283 Ebd., S. 63. 284 Ebd., S. 43 f.

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Diese Passage hat auch deshalb zentrale Bedeutung in Vennemanns Roman, da sie als Tonbandaufnahme mehrmals wiederholt, vor- und zurückgespult wird und sich damit aus der Erzählchronologie ebenso herauslöst wie die schon erwähnte Passage Lebonjas bzw. Kogojs. An der Wortschöpfung des „restriktiven Konsensgedächtnisses“ und seiner umständlichen Definition durch den Alt-Nazi Pflüger störten sich Vennemanns Kritiker immens. Der Versuch, in der Umkehrung des Begriffs gegen „Geschichtsklitterung“285 und die Manipulation des historischen Gedächtnisses anzuschreiben, wird vom Autor bewusst durch seine verschachtelte Sprache zum hochartifiziellen Akt stilisiert, den viele jedoch als gescheitert betrachten: „‚Mara Kogoj‘ ist ein literarischer Angriff auf solches ‚Konsens‘- und Familiengedächtnis, das aus SS-Männern Soldaten, aus Soldaten Heimatschützer und aus Morden Untaten macht, die immer nur die andern begangen haben. […]. Das ist fein beobachtet, aber leider hat Vennemann seinen Text in einen Rahmen gequetscht, und der ist dessen Verstehen nicht gerade förderlich. […]. Das eigentliche Problem dieses Textes aber ist seine Form, sein Formalismus.“286

Zum einen lässt Vennemann das kollektive Gedächtnis als ein manipulatives, „gleichgeschaltetes“ definieren – eine nicht minder ‚gefährliche‘ Einschätzung. Zum anderen vermischt er scheinbar willkürlich unterschiedliches Vokabular des Vergangenheitsdiskurses zu einem „unglaublichen Diskursmischmasch“287 ohne semantische Kontur. In wenigen Zeilen kombiniert Vennemann verschiedene, per se schon ‚diskursbelastete‘, Begriffe und fügt sie einer noch brisanteren Neukomposition zu. Im Gegensatz zu Nahe Jedenew, wo Vennemann nicht eine einzige Vokabel des Terrors aus der Holocaust-Narratologie verwendet, bemüht Vennemann in Mara Kogoj geradezu pedantisch das Vokabular aus den politischen, öffentlichen und wissenschaftlichen Holocaust-Debatten und ruft zudem noch altbekannte Provokationen, Sinnverkürzungen und Stereotypen mit ab. Allein in diese Passage über die Beschaffenheit des restriktiven Konsensgedächtnisses formuliert Vennemann Begriffe hinein, von denen jeder einzelne bereits debattenträchtig sein kann: „gut gefüttertes Familiengedächtnis“, „Vergangenes erzählend vergegenwärtigt“, „geschlossenes und überschaubares Wir“, „aus unveränderbaren semantischen Versatzstücken zusammengesetztes Berichten“, „Mythologie“, „Wunschbild“ etc. Dieses Verfahren der An- und Ineinandermontage der Holocaust-Semantiken 285 Wester, Christel: „Gegen Geschichtsklitterung. Kevin Vennemann ergeht sich in überflüssiger Komplexität“, in: Deutschlandfunkradio/Kultur, 04.07.2007. Siehe: http:// www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/643122/ vom 07.04.2012. 286 Baron, Ulrich: „Was geschah wirklich am Peršmanhof?“, in: Die Welt vom 20.06.2007. 287 Radisch, Iris: „Jurydiskussion zum Bachmannpreis 2006“. Siehe: www.bachmannpreis. orf.at/bachmannpreis/autoren /stories/117774/ vom 07.04.2012.

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durchzieht den gesamten Textaufbau, so dass in dicht gedrängter Abfolge die politischen Gedenkrituale als „jährliches feierliches Gedenken und Aufwärmen immer wieder aufs neue“288, die ‚Schlussstrichdebatte‘ als „emphatischer Blick zurück“289 , die Umdeutungsversuche der NS-Geschichte als „Teil der großflächigen Rehabilitierungs- und Idealisierungsbemühungen der Täter“290 vom Autor angerissen und in den Romanraum geworfen werden. Auch lässt es sich Vennemann nicht nehmen, am Ende seiner Erzählung noch einmal in allerbester ‚Maxim Biller Manier‘ und mit unübersehbarem Verweis auf Martin Walser die große Provokationswelle zu schlagen, wenn er Mara Kogoj über den ‚Schlussstrich‘, das ‚Wegsehen‘ und die ‚Allmacht‘ der Medien referieren lässt und dabei zugleich seine Diskurs-Kenntnis unter Beweis stellt: „Seien Sie ehrlich: Können eigentlich auch Sie all das inzwischen längst nicht mehr hören. Pflüger. Immer wieder dasselbe, immer nur rückwärtsgewandt […] Stichwort: zugemüllt, Schuldfrage hin, Massenmord her, warum nicht mal weg- und vorausschauen […] abschließen, gestehen, bewältigen, erinnern, vergeben, Fortschritt […]. Ganz genauso geht es auch mir. […]. Ich hasse es, immer und immer wieder, tagtäglich wieder dasselbe Thema im weitesten Sinne, immerzu dasselbe, langweilig, zermürbend […] all diese nötigen Vorsichts- und Rücksichtsnahmen, heiklen Themen, Dinge, die man nicht an- und aussprechen darf, wie man will, immer dasselbe, niemals ein unverkrampftes Verhältnis zu irgendwas.“ 291

Vennemann, dies ist nicht zuletzt auch aufgrund der semantischen Dichte seines Textes anzunehmen, kennt all diese Diskurse und Debatten, die er wie hier mit Referenz auf die Walser-Debatte seine Figuren zitieren lässt. Der Autor gehört einer Generation an, der die Einzelheiten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs durch schulische und kulturelle Bildung sowie durch die alltägliche Diskursöffentlichkeit der Medien bekannt sind. Es ist offensichtlich, dass Vennemann das, was er hier so lax in den Mund Kogojs legt, nicht der reinen Provokation wegen wählt. An Martin Walser oder Günter Grass denkend wissen wir, dass auch ‚schon‘ weniger als der Inhalt dieser ‚Schlussstrich-Parole‘ dazu ausreicht, politische Debattensammlungen und wissenschaftliche Abhandlungen zu füllen oder einen medialen Affront zu inszenieren.292 Vennemann jedoch stellt selbst diese Passage in keinen aufkläreri-

288 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 206. 289 Ebd., S. 89. 290 Ebd., S. 165. 291 Ebd., S. 210 f. 292 Neben der ‚Friedenspreisrede‘ Martin Walsers hat auch Günter Grass im Jahr 2012 mit seinem Gedicht Was gesagt werden muss (u.a. in Süddeutsche Zeitung vom 04.04.2012) eine Debatte über dessen unterstellten inhärenten Antisemitismus entfacht.

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schen Kontext, weder kommentiert er noch lässt er durch die Protagonistencharakteristik Schlüsse auf seine Intention zu. In Mara Kogoj werden im Sekundentakt Diskurse aneinandergereiht und Terminologien abgerufen, aber eben nur vorgeführt, präsentiert und in den Schlingen des Diskurswirrwarrs belassen. So bleibt einiges an ‚hartem Tobak‘ als leere Worthülse auf der Strecke und durch das sprachlich enorm enge Diskursgeflecht weiß der schon durch die fehlende Interpunktion angestrengte Leser zudem bald ohnehin nicht mehr, in welchem Diskurs der Autor sich eigentlich gerade aufhält. Die Zerschreibung des Gedächtnisparadigmas vollzieht Vennemann nicht zuletzt auch durch seine Textstruktur, die keine Linearität, keinen wirklich erkennbaren Anfang, kein Ende, keine eindeutigen Sprecherrollen und schon gar keine traditionellen Gedächtniskonfigurationen besitzt, sondern durch Diskurs-Versatzstücke, die wie zu entschlüsselnde Codes und Quizfragen arrangiert sind, Verwirrung stiften. Das regelrechte Inferno der Diskurse geht jedoch keineswegs zu Lasten Vennemanns narratologischer Ästhetik, es ist vielmehr ihr ausdrucksstarkes Charakteristikum und eine bewusst eingesetzte Stilblüte Vennemanns, durch die nicht nur leichte Konsumierbarkeit verhindert, sondern auch die Diskursallmacht und die Überdeterminiertheit der ‚Holocaust-MasterNarrative‘ geradewegs ad absurdum geführt werden. Die Vennemannsche sprachliche ‚Nicht-Form‘ ist durch einen poststrukturalistischen Diskursmix gekennzeichnet, dem er sich durch seine literarische Handschrift verpflichtet. Um die Überfrachtung der Diskurse und seine Distanz zu ihnen kenntlich zu machen, wählt Vennemann die sprachliche Überfrachtung, dröhnt mit Stereotypen, Schlagworten, Metaphern und schiefen Tönen, dass es dem Leser, wie zum besseren Nachdruck, regelrecht in den Ohren pfeift. Die Nicht-Auflösbarkeit des Diskurswirrwarrs wird auch auf der Inhaltsebene vollzogen. Trotz aller Bemühungen der beiden Wissenschaftler Kogoj und Lebonja kann das Quiz um die ‚wahre‘ Geschichte, die wahrhaftigen Identitäten, Biographien und Familiengeschichten Pflügers, Kogojs und Lebonjas sowie ihre Verknüpfungen, nicht gelöst werden. Auch die inhärenten Fragen – wer trägt welche Schuld, wie wahr sind die Erinnerungen, wie kann die Geschichte rekonstruiert werden, welches Gedenken ist angemessen, was ist Kitsch, Überhöhung, Interpretation – bleiben unbeantwortet und es werden keine ‚nutzbaren‘ Formen von Erinnerung, Gedenken oder Gedächtnis fingiert. Vennemanns Text soll keine Authentizität simulieren, wo es keine mehr gibt und schon gar nicht die Wahrheit der kleinen oder gar der großen Geschichten aufdecken, die längst bekannt ist. Auch Vennemanns Figuren Kogoj und Lebonja müssen dies schnell feststellen, da sie weder an ihren Gesprächspartner noch an die eigene Vergangenheit wirklich heran kommen. Vennemann führt an ihnen vielmehr ein doppeltes Scheitern der Vergangenheitsrecherche vor Augen: das Scheitern des Zeitzeugengesprächs einerseits und das Scheitern der Rekonstruktion der eigenen (Familien-)Geschichte andererseits. Damit markiert er deutlich jenen Übergang zwischen dem Familienroman, seinem

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„Scheitern“ und der Frage: Was tun mit all den Diskursen und Debatten, die noch da und präsent sind, die aber irgendwie weder in eine Romanhandlung noch in die eigene Sprache passen wollen. Im Kontext des gesellschaftlichen Wandels als Tendenz zur Eventisierung von Kultur und der Entwicklung einer Erlebnisgesellschaft fallen die demontierten Holocaust-Diskurse zudem auf ein neu bestelltes Feld. Erinnerungsgemeinschaften, Opfer- und Tätergedächtnisse, die traditionellen Narrative und Diskurse des Holocaust geraten bei Vennemann in eine „Zertrümmerungsmaschine“293 , welche die bestehenden erinnerungskulturellen Zusammenhänge ebenso auflöst wie die narrativen Strukturen des Textes und seiner Sprache. Während Vennemann überprüft, „ob die Kategorien und Begriffe der überkommenden Debatten und Gesellschaftsbeschreibungen […] und die aktuellen Probleme mit diesen Begriffen überhaupt noch angemessen erfasst werden können“294 , beantworten die Figuren seines Romans Mara Kogoj diese Fragen deutlich negierend. Die zurückbleibenden Misstöne, das Pfeifen in den Ohren, diese Polyphonie und Mehrstimmigkeit der Erzählung ist vom Autor gewollt und lässt wie schon in Nahe Jedenew auch Mara Kogoj an ein Musikstück erinnern. Da erstaunt es wenig, dass Kevin Vennemann für seinen zweiten Roman ursprünglich den Titel „In Komponierhäuschen“ vorgesehen hatte.295 Die Geburtsstunde des Begriffs verlegt Vennemann in den Text selbst: „Pflüger selbst hat mich darauf gebracht, als Lied bezeichnet und als: Komposition heißt: eine Idee auszudrücken, sie steckt im Lied selber. Um mir über diese Umwege einen sich annähernden Begriff zu machen von denjenigen Bildern, über welche Pflüger sich und all sein Denken und Reden als Ergebnis präsentiert einer angeblich zwanghaft vererbten Erfahrung dessen: Was war und zu sein hat.“296

Vennemanns Erzählstrategie des z.T. grausam-spielerischen Erzählens, der Zerstreuung von historischen Diskursen, Realitäten und Fiktivem ist als innovative Auslegung einer eingangs erwähnten ‚Wiederkehr des Erzählens‘ zu charakterisieren. „Keine authentische Rekonstruktion historischer Ereignisse, sondern ein Erzählen, das seine eigene narrative Ordnung behauptet und sich dabei […] historischer

293 G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 18. 294 Ruge, Undine/Morat, Daniel: „Deutschland denken. Plädoyer für die reflektierte Republik“, in: Ruge, Undine/Morat, Daniel (Hg.): Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden: VS 2005, S. 9-23, hier S. 10. 295 Kevin Vennemann beim Bachmann Wettbewerb 2006. Siehe: http://bachmannpreis.orf. at/bachmannpreis/texte/stories/117774/index.html vom 09.11.2011. 296 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 43.

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Stoffe bedient.“297 Soweit folgt das Vennemann-Prinzip also durchaus noch einer narratologischen Tradition. Die Frage, ob es zugleich durch seine musikalischen Anleihen, durch die Erzähltechnik der Komposition, des Sampling, Mixens und der Dekonstruktion, auch einer Pop-Tradition folgt, soll im Folgenden als Versuch eines Fazits zum Vennemann-Prinzip untersucht werden. 2.4 Vergangenheit als Komposition und Diskurs-Pop „Was will dieser Mann, der trotz seines dafür tauglichen Alters keine irgendwie im Register der Pop-Literatur einzufangende Ich-Erzählung anbietet? Wo er doch schon aussieht als ob er auf Partys eingeladen würde. Dieser Autor passt offenkundig nicht in derzeit gängige Einsortierungen und Moden.“298

Es fällt in der Tat schwer, den Autor Kevin Vennemann sowie seine beiden, zudem auch noch sehr unterschiedlichen Erzählungen einem literarischen Zeitgeist und Genre zuzuordnen. Während Ines Kappert im Zitat oben Vennemann eine Abstinenz von dem Pop-Diskurs seiner Generation attestiert, soll hier versucht werden, Vennemanns literarische Ästhetik der Diskurs-Zerschreibung unter das Register eines Diskurs-Pops und seine Texte unter den Fokus ihrer Pop-Ästhetik zu stellen. In einer Stellungnahme zum Schreibverfahren des Pop-Autoren Andreas Neumeister in Gut Laut (1998) heißt es bei Eckhard Schumacher: „Vom Standpunkt der Gegenwart aus wird Vergangenheit bei Neumeister nicht in handlungsangereicherten Narrationen vergegenwärtigt, sondern in monologisierenden Reflexionen, die über die stakkatohafte Aneinanderreihung von stereotypisierten Fragen und Formeln, über parataktische Loops, über Wiederholungsfiguren im Prozeß der Vergegenwärtigung von Vergangenem die Konzentration immer wieder auf die Konstituierung eines Textes lenken.“299

Diese Rezensionsnotizen zu Neumanns Text lassen sich in den wesentlichen Merkmalen auch auf Vennemanns Textästhetik anwenden. „Monologisierende Reflexionen“, „stakkatohafte Aneinanderreihung stereotypisierter Formeln“, „Wiederholungsfiguren“ bilden ebenso Vennemanns besondere sprachliche Komposition in Mara Kogoj ab. Es sei also die Hypothese formuliert, Vennemanns literarisches Schreiben als eine Spielart des Diskurs-Pop und zwar als wortschöpferischen ‚Ho-

297 N. Förster: Die Wiederkehr des Erzählens, S. 161. 298 I. Kappert: Textteppichknüpfer. 299 Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 48 f.

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locaust-Diskurs-Pop‘ zu betrachten. Diskurs-Pop bedeutet nach der hier nur verkürzten und bewusst vereinfachten Definition, dass verschiedene kulturelle und zeitgenössische Diskurse wie auch intertextuelle Bezüge im literarischen Text reflektiert und als literarisches Konzept produktiv gemacht werden. Dabei ist der performative Akt des Präsentierens und Darstellens ebenso wichtig wie das Arrangement von nebeneinander und ineinander greifenden Diskursen. Beides führt Vennemann in Mara Kogoj wie auch in Nahe Jedenew u.a. an dem narratologischen Verfahren des Archivierens und Inventarisierens vor. Um das bedrohliche und chaotische Geschehen unterhalb des Baumhauses erfassen zu können, beginnen die beiden Kinder in Nahe Jedenew ihre Erinnerungen und Geschichten wie die Mückenstiche auf ihren Beinen zu zählen und für den späteren – überlebenswichtigen – Gebrauch zu archivieren. In Mara Kogoj übernimmt diese Eigenschaft vor allem das Tonbandgerät, auf dem alles archiviert wird, was gesprochen oder ‚beschwiegen‘ wird. „Der Diskurspop jongliert auf eine Weise mit Diskurselementen, daß sich letztlich keinerlei faßbare Botschaft heraushören läßt.“300 Die Musikalität von Vennemanns Text Mara Kogoj wird durch das Sampling und die Auf- und Aneinanderreihung von unterschiedlichen Textfragmenten wie wissenschaftlichen Reflexionen, Erinnerungs- und (fiktiven) Erzählfragmenten, Alltagsreden und Geschichtsreferaten sowie der Mehrstimmigkeit erhoben. Vennemann führt unterschiedliche Reflexionseinheiten zusammen, um in den Diskursmix, der das Sprechen über die Vergangenheit markiert, einzusteigen. Dazu adaptiert Vennemann zwar keine direkten Merkmale der Popkultur, er imitiert jedoch teilweise die popliterarische Schreibweise. Bei ihm werden nicht etwa Markennamen, Labels und Musikstücke aufgezählt und inventarisiert, sondern Fragmente, Definitionen und Debatten des Holocaust-Diskurses: „Ich habe ein wenig zusammengemischt, hiervon etwas, davon ein bißchen, ein wenig Wissenschaft, ein wenig Volksmund, jede Menge Memoirenliteratur, den Rest erfunden und daraus zusammenkonstruiert […] und zusammenzuschreiben ist durchaus erlaubt, wen interessiert schon, wie gesagt: Originalität, wenn es darauf ankommt.“301

‚Mix and Match‘ – dieses Verfahren macht sich Kevin Vennemann zum literarischen Prinzip seiner Erzählung Mara Kogoj. Dabei erinnert die Ästhetik des „Zitie-

300 Höfler, Günther A.: „Sampling – das Pop-Paradigma in der Literatur als Epochenphänomen“, in: Jocobsen, Dietmar (Hg.): Kontinuität und Wandel, Apokalyptik und Prophetie. Literatur an Jahrhundertschwellen, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2001, S. 249-269, hier S. 252. 301 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 215 f.

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ren[s], Protokollieren[s], Kopieren[s], Inventarisieren[s]“302, an den literarischen Pop-Diskurs. Doch genügen diese Übereinstimmungen in der literarischen Schreibweise, um Vennemann als einen ‚Pop-Autoren‘ und seinen Text Mara Kogoj trotz der verhandelten Thematik von Holocaust und Nationalsozialismus unter ‚Pop-Gesichtspunkten‘ zu erfassen? Einiges könnte dafür sprechen, z.B. wenn Vennemann in Mara Kogoj die Stimmen und erzählten Geschichten seiner Protagonisten mixt und sampelt und auf dem ‚Mixtape‘, dem „magnetic tape“, festhält oder er Gedanken, Sprachfetzen und Einwürfe aus den Vergangenheitsdiskursen wie wertvolle ‚Konsumgüter‘ der Popkultur inventarisierend hintereinander aufzählt: „Alle Wahrnehmungen Handlungen Erinnerungen, Bestimmungen […].“303 Vennemanns Diskurs-Sampling in Mara Kogoj ist auf diese Weise als Sampling relevanter Holocaust-Diskurs-Bestandteile als ‚Holocaust-Diskurs-Pop‘ arrangiert. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Herleitung des Diskurs-Pop aus der Musik im Vergleich zu Vennemanns literarischer und musikalisch anmutenden Sprachkomposition. Der Diskurs-Pop, in seiner ursprünglich auf das Entstehen einer musikalischen, gleichnamigen Stilrichtung der späten 1990er Jahre bezogenen Herkunft, resultierte aus einer allgemein attestierten ‚Song-Krise‘ der neuen deutschen Popmusik. Als Ausweg aus dieser Krise, in der es musikalisch vermeintlich nichts Neues zu erzählen gab, entwickelte sich der sogenannte Diskurs-Pop deutschsprachiger Bands wie Blumentopf, Tocotronic, Die Sterne etc.304 Für Vennemanns Texte kann daher adaptiv gelten, dass sie durch ihre neuen Töne und Misstöne eine Antwort auf die Feststellung sind, dass es über den Holocaust und den Nationalsozialismus nichts Neues, zumindest nicht mehr auf herkömmliche Weise, zu erzählen gibt. Hier ist es nicht die ‚Song-Krise‘, sondern die ausgemachte Gedächtnis- und Sprach-Krise, die den neuen Ton angibt. „Sie [die Autoren der Popliteratur – K.F.] maskieren sich, spielen Mimikry, remixen mit Verve und Phantasie und überwinden auf diese Weise Kausalitäten und Kategorien.“305 Vennemann überwindet in beiden seiner Erzählungen die historischen Kausalitäten und weicht die fest in den Konventionen des HolocaustDiskurses verankerten Sprachkategorien systematisch auf. Die Bedeutung von 302 E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 13. 303 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 88. 304 Vgl. u.a. Huber, Till: „‚Ich will da nicht leben, wo es niemals Leben gab. Der DiskursPop der Sterne als kapitalistischer Realismus“, in: Baßler, Moritz/Gödden, Walter/Grywatsch, Jochen/Riesenweber, Christina (Hg.): Stadt, Land, Pop. Popmusik zwischen westfälischer Provinz und Hamburger Schule, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 133153. 305 Kraft, Thomas: „The show must go on. Zur literarischen Situation der neunziger Jahre“, in: Kraft, Thomas (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er, München: Piper 2000, S. 9-25, hier S. 16.

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Sprachdekonstruktion und -Komposition bringt Vennemann auf geradezu natürliche Weise in die Nähe des musikalischen Diskurs-Pops. Diese konzeptionelle Nähe zur Musik und das Erzählen als musikalische Komposition lassen sich auch in Vennemanns Text Nahe Jedenew zeigen. In Mara Kogoj übernimmt außerdem ein ausgewiesenes Hilfsmittel der musikalischen Komposition auch auf Inhaltsebene eine besondere Eigenschaft. Als so gesehen ‚prä-populäres‘ Medium ermöglicht das Tonbandgerät in Mara Kogoj ein ‚analoges Sampling‘ und die Speicherung von Tonsequenzen sowie der Schweigepassagen. Derart erweist sich das Tonband in Vennemanns Textgefüge als wesentliches Mittel der Vergangenheitsvergegenwärtigung, des „Blicks zurück“, indem es die wesentlichen Eigenschaften des Speicherns, Reproduzierens und Wiederholens des unzuverlässig bzw. ‚nutzlos‘ gewordenen Gedächtnisses und Erzählers übernimmt und so als Medium und ‚materieller Ort‘ permanenter Aktualität, Unmittelbarkeit und Reproduzierbarkeit im Sinne der Popästhetik fungiert.306 Zudem ‚verklammert‘ das Tonband auch die Erzählund Erinnerungsfragmente in der Art, dass sich auf ihm die Stimmen versammeln und zu einer stimmhaften Komposition angereichert werden können. Der oben erwähnte Prolog Lebonjas öffnet diese ‚Erzählklammer‘ und führt die „Gefahren für ein Tonband“ respektive den „Blick zurück“ vor. Bezug nehmend auf das Zitat John Cages heißt es dort noch einmal wiederholt: „There are two great dangers for a magnetic tape: one is music (all the history and thinking about it); and the other is feeling obliged to have an instrument.“307 Mit diesem Zitat des Musikers und Komponisten Cage beginnt also Mara Kogoj. Cage gilt als Schlüsselfigur einer neuen Musik und „Happening-Kunst“, die Erika Fischer-Lichte innerhalb ihrer Ästhetik des Performativen unter dem Prinzip einer „Zusammenhanglosigkeit“ fasst.308 Bekanntheit hat John Cage vor allem durch die Kompositionen seiner ‚Nicht-Musik‘ als ‚komponierte Stille‘ erlangt. In seinem Stück 4‘33“ macht er die Stille zur Musik. In der aus drei Sätzen bestehenden Komposition werden keine Töne erzeugt, der Pianist oder ein beliebig anderer Musiker, denn das Stück ist für jegliche Art von Instrument ‚spielbar‘, sitzt am Klavier ohne die Tasten zu betätigen. Das Stück erzeugt Stille, während das Publikum durch seine Reaktionen wie Murmeln, Unbehagen, Unmut, Aufstehen und empört den Saal verlassen, die Geräuschkulisse und damit auch die Komposition des Stückes mit erzeugt.

306 Vgl. E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 31 f. Auf diese Weise in sein literarisches Schaffen übernommen hat z.B. Andy Warhol das Tonband-Verfahren, vgl. dazu: Warhol, Andy: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück, München: Droemer Knau 1991, S. 179. 307 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 7. 308 Zu Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen siehe vor allem Kapitel III, 1.

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„In der Komposition 4'33" [...] wird die radikale Befragung des traditionellen Kunstbegriffs exemplarisch deutlich: ein systematisches Aufbrechen von Bedeutung und Sinnstrukturen sowie eine bedingungslose Konfrontation des Zuhörers oder Betrachters mit sich selbst.“309

Diese Rezension des Musikstücks Cages’ liest sich wie ein Resümee zu Kevin Vennemanns Text Mara Kogoj: „Ein systematisches Aufbrechen von Bedeutung und Sinnstrukturen“ und die „bedingungslose Konfrontation des Zuhörers oder Betrachters mit sich selbst“ verweist auch auf die performative Sprache Vennemanns. Mit diesem nur knapp hergestellten Bezugsrahmen zu John Cage wird deutlich, dass Vennemann dieses Zitat keinesfalls zufällig ausgewählt haben wird. Mara Kogoj, darum bemüht, die „Korrektur“, das „Richtige“ entgegen der „Gefahr für ein Tonband“ zu unternehmen, wiederholt in Mara Kogoj einige Male eine Aussage in je nur wenig abgeänderter Variation: „Es gibt so etwas wie Stille nicht […] das kann es gar nicht, keine Stille. Etwas geschieht immer, das einen Klang erzeugt.“310 Mit dieser weiteren syntaktischen Klammer beschließt Vennemann sogleich sein literarisches Oeuvre und referiert auf eine Ästhetik der ‚Nicht-Sprache‘ und ‚NichtForm‘. Insofern sie bei Vennemann selbstredend neue Dimensionen annimmt, verweist die Darstellung des Holocaust durch ‚Nicht-Sprache‘ auf ein durchaus traditionelles Prinzip, um die eigentliche Undarstellbarkeit des Holocaust zu beschreiben311 – darauf hat Vennemann in seinem zu Anfang dieses Kapitels wiedergegebenen Zitats von der Unmöglichkeit das Unmögliche zu schildern verwiesen. Vennemanns Position als sozusagen ‚Nicht-Zeuge‘ stellt ihn demnach paradoxer Weise vor ähnliche Probleme wie die primären Augenzeugen. Um die für ihn nicht zu erfassende Vergangenheit darzustellen, bietet sich für Vennemann allerdings die Dekonstruktion der vermeintlich sinnstiftenden Sprache als ‚Nicht-Sprache‘ postmoderner Literatur an.312 Ob er sich damit letztlich in die Nähe der Popliteratur katapultiert, an die Performance oder an Cages klassische Nicht-Ton-Erzeugung anzuknüpfen versucht, bleibt zunächst nicht eindeutig aufzulösen und muss es in der Betonung der Offenheit seiner Texte möglicherweise auch gar nicht. Man sollte Mara Kogoj noch einmal lesen, das Tonband zurückspulen und noch einmal auf ‚Play‘ drücken, so wie

309 Staeck, Klaus/Odenthal, Johannes: A year from Monday. 365 Tage Cage, Programmheft, Berlin: Akademie der Künste 2011, S. 3. 310 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 79, S. 141, S. 217. 311 Vgl. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 312

Vgl. Bayer, Gerd: „Der Holocaust als Metapher in postmodernen und postkolonialen Romanen“, in: Bayer, Gerd/Freiburg, Rudolf (Hg.): Literatur und Holocaust, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 267-290.

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es Vennemanns letzter Satz verlangt: „Hören Sie zu:“313 Dieser Doppelpunkt als letztes ‚Wort‘ in Vennemanns Text macht auch noch einmal die zyklische Struktur seines Textes deutlich und verweist auf dessen Offenheit im Kontrast zu der ‚hermetischen Abgrenzung‘ der ‚Holocaust(-Sprach-)Diskurse‘.

3. P OSITIONIERUNG UND N EUVERORTUNG : W O , WER IST D EUTSCHLAND ?

WAS UND

3.1 Vermessungskategorien des Deutschland-Diskurses – Einleitung und Rahmen „Über Deutschland wird immer nur mit den alten Herren geredet, nicht mit der jungen Generation, die inzwischen auch schon nicht mehr so jung ist. Warum geht keiner zu Christian Kracht oder Rainald Goetz, um mit ihnen über dieses Land zu sprechen? […] Alles ist immer noch Martin Walser, Günter Grass, und jedes Jahr wird von neuem der 20. Juli diskutiert. Ja, ich langweile mich zu Tode in diesem Land.“314

Nicht nur Martin Walser und seine Zeitgenossen redeten und reden gern kontrovers und streitbar über Deutschland, auch einige Vertreter der jüngeren Autorengeneration blicken bisweilen kritisch hinter die Kulissen des eigenen Landes und äußern ihre Bedenken zur Lage der Nation oder auch nur zur ‚royalen Tristesse‘ der gegenwärtigen Kultur.315 Dass die Themen Holocaust und Nationalsozialismus dabei oft nur Randbemerkungen darstellen und zunehmend populäre Symptome und Alltagserscheinungen in das Zentrum des Interesses rücken, mag zwar auf den ersten Blick als Resultat postmoderner Entwicklungsstufen gelten, wird aber durch eingehende Debatten, die sich auch auf die deutsche Historie rückbeziehen lassen, des Öfteren korrigiert. Die großen Debatten über Deutschland und seine Vergangenheit gehen jedoch immer noch von der alt eingesessenen Intellektuellengarde aus. Worin liegen die Gründe für die Wortkargheit der Jüngeren? Ist es dem zunehmenden 313 K. Vennemann: Mara Kogoj, S. 218. 314 Maxim Biller im Gespräch mit Galore. In: Wildermann, Patrick: „Ich langweile mich zu Tode in diesem Land. Interview mit Maxim Biller“, in: Galore 38 (2008). 315 Unter dem Titel „Popkulturelles Quintett“ trafen sich 1999 im Berliner Hotel Adlon die Pop-Literaten Christian Kracht, Joachim Bessing, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre, um über deutsche Kultur, Popkultur und deren

vermeintliche

Tristesse

zu

debattieren.

Dokumentiert

in:

Bessing,

Joachim/Kracht, Christian/Nickel, Eckhart/von Schönburg, Alexander/von StuckradBarre, Benjamin: Tristesse Royale: das popkulturelle Quintett, Berlin: Ullstein 1999.

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Verblassen der Brisanz der deutschen Vergangenheit geschuldet, dass sie in gegenwärtige Diskussionen junger Generationen weniger einbezogen wird? Oder ist es eine möglicherweise oktroyierte Scheu der jungen Intellektuellen zu diesem ‚Steckenpferd‘ der älteren Generation Stellung zu beziehen, solange diese noch am Diskurs teilnehmen? Klar ist, dass diejenige Generation, die heute noch das Zepter des Deutschland-Diskurses in Händen hält, mehr und mehr abtritt und die kritischen Stimmen zukünftig aus der jungen Generation erhoben werden müssen. Das Interesse des folgenden Kapitels ist es, in den essayistisch-journalistischen Texten Maxim Billers und Christian Schüles der Frage nachzugehen ‚Wo, was und wer ist Deutschland?‘ und die Texte in ein Zwiegespräch zu versetzen. Erweitert wird dabei auch die Frage tangiert: Wo in diesem diffusen Deutschlandbild ist heute noch Platz für Auschwitz?316 Dabei geht es vor allem erneut darum, das Changieren zwischen dem kanonisierten Holocaust-Diskurs und seiner ‚Sprachdoktrin‘ und möglichen literarisch-sprachlichen Loslösungen zu kontrastieren. Die Autoren beschreiben dabei in ihren Texten neben der liminalen Situation ihrer Generation auch einen Zwischenraum zwischen Deutschland und der globalen Welt: Einerseits sind ihre Intentionen und Charaktere als Abbilder ihrer Generation ‚ganz deutsch‘, sie kreisen um die regelrechte Obsession, „was ‚deutsch‘ ist oder sein soll“ 317, andererseits sind sie so multikulturell und international aufgestellt wie keine Generation zuvor und verkörpern das Sinnbild des Bindestrichs. Mit der Frage nach Neuverortung, danach wo, was und wer Deutschland ist, geht es in diesem Kapitel also nicht um geographische Standortbestimmungen, sondern um identitäre Positionierungen im ‚Deutschland-Raum‘. Insbesondere der Heimatbegriff wird dort wie auch in den Kapiteln zur Popliteratur/Popkultur zum Motiv und Abbild der Gegenwart, vor allem in seinem postmodernen ‚Äquivalent‘ der Reise. „Solch eine Moderne fußt nicht auf der stabilen Materialität einer dauerhaften Heimat, sondern auf der risikoreichen Erfahrung von Reise und Passage.“318 In den Termini von Reise und Passage sind jene Merkmale enthalten, die den Konzepten von Liminalität und Übergang zugrunde gelegt wurden. Der Begriff der Heimat hat sich in seiner Relevanz jedoch nicht erst und ausschließlich durch die postmodernen Veränderungen von Globalisierung, Migration und Technologisie-

316 Danach fragte 2006 die Berliner Autorin Katharina Schäfer in ihrem Literaturprojekt Auschwitz: heute und begab sich auf eine Literaturreise durch Berlin, in die Wohnzimmer der Menschen und auf die Spur von Holocaust und Nationalsozialismus in der Gegenwart. Schäfer, Katharina: Auschwitz: heute, Berlin: Joanmartin 2006. 317 U. Ruge/D. Morat: Deutschland denken, S. 11. 318 Chambers, Iain: „Zeichen des Schweigens, Zeilen des Zuhörens“, in: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenberg 1997, S. 195-219, hier S. 207.

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rung verändert, sondern wird insbesondere im Hinblick auf die Implikation der deutschen Geschichte zum Identifikationsfaktor der jungen Generationen. „Germany’s never-ending struggle with its soul reached a new plateau this week when a leading opposition figure dared to say: ‚Ich bin stolz, Deutscher zu sein‘[…] unremarkable most anywhere else. But in history-haunted Germany, even the simplest expression of patriotism elicits a cold shower in some quarters.“319

Auch wenn ausdrücklich davon abgesehen werden soll, der Rede einer ‚belasteten deutschen Seele‘ und ‚unauflösbaren Schuld‘ beizupflichten, lassen sich anhand der im Folgenden zu analysierenden Texte problematische Identifikationsprozesse ableiten, welche sich (auch) aus den Erbschaften der Vergangenheit und ihrem ‚NichtPassen‘ in der Gegenwart ergeben. Dazu kann noch einmal das Bild der Reise aufgenommen werden: Die Reise zur eigenen Identität und Positionierung in Deutschland wird oft durch das ‚schwere Gepäck‘ und die Anwendung eines ‚moralischen Kompass‘ erschwert. Die Reise als Synonym für Übergang und Entwicklung stellt für die Prozesse der kulturellen Transformation und des Paradigmenwechsels den metaphorischen Rahmen und erscheint in vielen der um die 2000er Jahre publizierten Texten den Autoren als probates Mittel, sich Deutschland und eine literarische Sicht auf Deutschland zu erschließen. Die in postmodernen Definitionen ohnehin zunehmend metaphorisch gedeutete Heimat wird in ihren Texten durch das Reisen, das Unterwegs- und in Bewegung-sein als ‚variabler Zustand‘ weitgehend ersetzt bzw. in Frage gestellt. In der Aushandlung von deutscher Identität und Positionierung im deutschen Vergangenheitsdiskurs wird die Reise auch zum Sinnbild einer Suche, was z.B. das von Christoph Schlingensief durchgeführte Theater-FilmProjekt „Deutschlandsuche“320 illustriert: „Die Mitreisenden haben Ihre Rolle nun

319 Finn, Peter: „Debate over a ‚Defining Culture‘ Roils Germany“, in: Washington Post vom 02.11.2000. Mit der „leading opposition figure“ ist der Politiker Lorenz Meyer gemeint. 320 Mit dem Projekt „Deutschlandsuche ’99“ begibt sich Schlingensief laut Projektbeschreibung „auf eine Expedition durch das Zentrum und die Provinzen der Berliner Republik, auf der Suche nach einem neuen Siegfried, einem neuen deutschen Helden.“ Ohne Drehbuch bereist die Schauspieltruppe zehn deutsche und deutschsprachige Städte wie Weimar, Stuttgart, Hamburg, Basel und Kassel, in denen sie ‚Deutschland‘ und das ‚Deutschsein‘ suchen. Siehe: http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t031 vom 12.01.2012.

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akzeptiert, spielen, ja, spielen mit. Suchen plötzlich Deutschland. Überlegen nicht mehr, wie das klingt – sondern wo das liegt.“321 „Die Suche ist beendet. […]. Ein eingegebener Begriff wie ‚Deutschland‘ bietet unzählige Auswahlmöglichkeiten, von denen aus es wiederum zahllose Verweise und Stichwege gibt. Man kann alles bekommen, bloß keine Garantie, alles kann stimmen und auch falsch sein.“322

Die Reise-Motive in den noch folgenden Texten sind ebenfalls nicht selten solche, die narratologisch durch das deutsche (Heimat-)Land, die Gesellschaft und Kultur führen, oftmals verbunden mit der Suche nach sich selbst und der eigenen nationalen oder generationellen Identität. Das Motiv der Reise hat vor allem in modernen Entwicklungsromanen, zu denen z.T. auch die Pop-Romane gezählt werden dürfen, Initiationscharakter und verweist zugleich zurück auf deren klassische Vorbilder.323 Während das Reisen und seine vorausgesetzte Freiheit und Mobilität in den PopRomanen häufig auch Ausdruck eines gewissen Lebensstandards ist, trägt das Reisen in seiner Metaphorik vor allem die Bedeutung als Zwischen- und Übergangsstadium: „Das ist so eine Art Übergang von einem Leben ins andere oder eine Mutprobe […]. Irgend etwas ändert sich im Leben, alles wird für einen kurzen Moment erhabener“.324 Last but not least ist die Reise natürlich auch als klassisches Motiv einer Reise in die Vergangenheit metaphorisch aufgeladen und kommt als dieses, oftmals als affektives Initial, auch in den hier zu behandelnden Texten zum Einsatz. Neben der Reise ist eine weitere zentrale Denkfigur dieses Kapitels erneut die Metapher des Raumes. Während die Reise der aktive Prozess einer Suche nach Orten bzw. Verortung ist, ist der Raum durch den Gegensatz von Enge und Weite, von Grenzen und Entgrenzungen gekennzeichnet und lässt nicht zuletzt Abbildungen Deutschlands und der deutschen Identität als (Verhandlungs-)Raum zu. Christian Schüle operiert in seinem Text Deutschlandvermessung in direkter Weise mit dieser geographischen Raumvorstellung und tastet Deutschland nach Räumen für die Aushandlung der Themen Generation, Identität und Geschichte ab. Maxim Biller ist hingegen eher als ‚Zerstörer‘ in Deutschland unterwegs und wirbelt, wo auch immer er sich mit deutsch-jüdischen Zusammenhängen befasst, viel Staub auf. Auch in der anschließend behandelten Popliteratur sind Reise- und Raummetaphern vorhanden, jedoch liegt dort der Fokus vor allem auf der Dynamik des Social life of texts. Für alle diskursiven ‚Wanderungen‘ gilt, dass die Durchsuchung Deutsch321 Stuckrad-Barre, Benjamin von: Deutsches Theater, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 244. 322 B. von Stuckrad-Barre: Deutsches Theater, S. 249. 323 Gansel, Carsten: „Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur“, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik, München: Edition text + kritik 2003, S. 234-258, hier S. 137. 324 Kracht, Christian: Faserland, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995, S. 59.

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lands und seiner Identität immer eng an die Suche nach der Verortung der deutschen Vergangenheit gekoppelt zu sein scheint. Neben der Frage, wo, was und wer Deutschland ist, wird es dementsprechend immer auch um die Frage gehen, wer spricht was und wo über die Themen Holocaust und Nationalsozialismus. 3.2 Christian Schüle Christian Schüles 2006 erschienene Deutschlandvermessung. Abrechnungen eines Mittdreißigers325 ist, was der Titel verspricht: die Abrechnung eines jungen, 1970 geborenen, kritischen Beobachters, Autoren und Journalisten mit Deutschlands Politik, Gesellschaft und den Medien. Was sich zu Beginn des recht umfangreichen essayistischen, aus der Ich-Perspektive des Autors verfassten Textes noch als Generationsstudie der Mittdreißiger-Generation liest – auch wenn er selbst prologisiert, keine Generation ausrufen zu wollen und nur für sich allein zu sprechen326 –, wird im Verlauf zu einer kritischen Deutschlandstudie, deren Dreh- und Angelpunkt Schüle im Niedergang des Bildungsbürgertums und seiner nahen und entfernten (kulturellen) Werte ausmacht. An zentraler Stelle, nachdem er über seine Generation, die Veränderungen der Gesellschaft und der politischen Öffentlichkeit durch die Globalisierung und Medialisierung und die problematische Haltung gegenüber der deutschen Vergangenheit referiert hat, heißt es hierzu resümierend: „Das war Deutschland. Es war das Deutschland des Bildungsbürgertums. Das Bildungsbürgertum aber wird gerade zu Grabe getragen. Es werden seine letzten Stunden. Es geht unter im Sog der Wendekreise.“327

In einigen Zitaten und Verweisen auf die großen Dichter und Denker des deutschen Bildungsbürgertums, vor allem auf Thomas Mann, inszeniert Schüle die romantische Verklärung, die Nostalgie einer scheinbar besseren Welt in Opposition zum „Totalboulevard“328, den er heute allerorts wahrzunehmen meint. Mit der Bezeichnung des Boulevards weist Schüle dabei auf die gesellschaftliche Entwicklung zur vermeintlichen Oberflächlichkeit und der Eventisierung der Gegenwart hin. In die Vorstellung einer „Boulevardepoche“329 fällt nicht zuletzt auch die Selbstbeschreibung der ‚Boulevard-Literatur‘, die sich vom klassischen Erzählen unterscheidet

325 Schüle, Christian: Deutschlandvermessung. Abrechnungen eines Mittdreißigers. München: Piper 2006. 326 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 11. 327 Ebd., S. 123. 328 Ebd., S. 83. 329 Ebd., S. 44.

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und auf „Gefälligkeit und Erfolgsbewußtsein […] Stoffreiz und Verarbeitungseffekt“330 setzt. Auch die Literatur wird auf diese Art zum Gradmesser des Erlebnisses. Schüles Vermessungs-Reise ist eine im zweifachen Wort- sowie im Übertragungssinn. Zum einen vermisst er Deutschland tatsächlich, zwar nicht indem er wie ein Landschaftsingenieur oder „Meßtechniker“331 tatsächlich Maß nimmt, wohl aber indem er verschiedene Stationen und kennzeichnende Eckpfeiler Deutschlands wie auf den Pfaden einer Landkarte abgeht und von ihrem ‚geographischen Material‘ ausgehend die ‚Kernkompetenzen‘ deutscher Identität absteckt. Diese Stationen überschreibt Schüle in seinem Text mit geographischen Begriffen wie „Verortungen“, „Achsen“, „Rückräume“, „Wendekreise“ und „Pfade“. Die zweite Vermessung ist eine metaphorische und von der eigentlichen Wortbedeutung abgewandelte Übertragung. In der Ableitung des Wortes ‚Vermessung‘ als ‚Vermessenheit‘ kann eine entsprechende Bedeutungsebene in die Titelwahl hinein interpretiert werden. Die morphologische Analogie einer ‚Vermessenheit‘ im Titel lässt die intensionale Deutung zu, dass im Deutschland-Diskurs ‚etwas im Argen‘ liegt bzw. „etwas stimmt nicht“332. In der folgenden exemplarischen Analyse Schüles Texts Deutschlandvermessung geht es um die Frage, welche Vermessungsgeraden Schüle aus Sicht seiner Generation, aus seiner Identität als junger Deutscher und aus seiner Eigenschaft als Künstler und Autor heraus an Deutschland anlegt. Diese Fragen werden an zwei wesentlichen Vermessungsstationen entwickelt: an der Generation und an der Geschichte von Holocaust und Nationalsozialismus. 3.2.1 Vermessung der Generation Christian Schüle beginnt seinen Deutschlandbericht mit einer detaillierten Studie über seine eigene Generation, mit der er sich durch das Personalpronomen ‚Wir‘ verbündet und welche er als ‚Gattung der ICHlinge‘, in Versalien geschrieben und sicherlich nicht unbewusst auf Sigmund Freuds psychischen Apparat anspielend, bezeichnet. Nach dem dieser Arbeit zugrunde gelegten Generationenkonzept entspricht die Generation, um die es ihm geht, der 1985er-Generation, welche in den 1980er und 1990er Jahren sozialisiert wurde. Eines ihrer besonderen Kennzeichen ist, dass sie als erste Generation nach dem Holocaust nicht an dessen Parametern, sondern aus dem Ende des Kalten Krieges, der deutschen Wiedervereinigung und 9/11 ihre primäre historische Sozialisation ableitet. Der Terminologie entsprechend sind die ICHlinge auch der jungen Generation zuzuordnen. Ohne von Vereinnahmungen und Pauschalisierungen gänzlich Abstand zu nehmen, verknüpft Schüle die 330 Baumgart, Reinhard: Boulevard – was sonst? In: Die Zeit vom 06.04.1990. 331 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 13. 332 Biller, Maxim: Deutschbuch, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2001, S 27.

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Sozialisation der Dreißigjährigen zum einen mit ihrer Marken-, Musik- und Lifestyle-Affinität, zum anderen auch anhand dessen, was er „geistige Sozialisation“ nennt und wofür er das Symbol des – u.a. aus dem Pop-Genre stammenden – Synthesizers wählt. „Der Synthesizer war das Instrument unserer Jugend, und er ist das Symbol unserer geistigen Sozialisation: die Auflösung des Ganzen, des entschiedenen, schöpferischen Wurfs, das Mischen, Sampeln, Verschieben, das Ziselieren und Fisseln, das Ausschneiden und Wiedereinfügen der Apfel+X-und-Apfel+V-Tasten-Kultur des Computerzeitalters.“333

Diese Passage ist zentral für die Charakterisierung der jungen Generation und in Vernachlässigung der Anspielungen auf den Markenfetischismus der ‚AppleJünger‘ auch besonders aufschlussreich, nicht nur für die geistige Sozialisation, sondern auch in Übertragung auf die Konstitution des Gedächtnisses und die Aneignung von Vergangenheitsthemen in der jungen Generation. Im „Mischen“, „Sampeln“, „Verschieben“, „Ziselieren“ und „Fisseln“ erhalten die Erinnerungsanstrengungen, das Erinnerungshandeln, eine begriffliche Entsprechung im Sprachjargon der Gegenwart. Die Sozialwissenschaftlerin Penny Carnaby spricht in diesem Zusammenhang von einer Art ‚Copy-and-Paste-Mentalität‘ und der Digitalisierung der Delete-Generation, die sich ihr historisches Gedächtnis nicht durch analoge, historische Quellen, sondern durch sich permanent verändernde Versionen von Quellen und Geschichten aufbaut und dabei immer Altes ‚löschen‘ muss um Neues anzueignen. Die ersten Seiten des Kapitels „Verortungen“ ähneln recht auffällig den Beobachtungen, die auch der Erzähler in Florian Illies Roman Generation Golf bezüglich seiner Generation anstellt.334 Schüle beschreibt, wie auch bei Illies reichlich ausgestattet mit Zitationen von Markennamen, die 1985er-Generation als die der Illiesschen Wohlstandskinder, die in den langweiligen, aber goldenen 1980er und 1990er Jahren frei von „ideologischen Scharmützeln“, die einen „existentiellen Leidensdruck“ ausgelöst hätten, aufgewachsen sind.335 Einer postmodernen Idylle gleich, wuchsen die „postmodernen Zöglinge“ der Generation der ICHlinge ohne finanzielle, historische oder politische Not- oder Krisensituationen auf, die sie zur etwaigen Aufruhr oder gar zu Revolutionsgedanken angestiftet hätten. Das Jahr 1985 markiert nach Schüles Definition einen Paradigmen- und Generationswechsel, der mit dem Wechsel in die Postmoderne einhergeht und an dem seine Generation aktiv teilhat. Kenzeichen dieses Übergangs ist das Nachlassen der gesellschaftli333 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 15 f. 334 Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion, 6. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 2001. 335 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 18.

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chen und politischen Diskursmacht der 68er-Generation und mit ihr das Entstehen einer neuen, jungen Generation: „Das Jahr 1985 also ist der Gründungsmythos einer Kohorte, die anders denkt und handelt.“336 Dieses andere Denken und Handeln ist in erster Linie ein Resultat aus den neuen Möglichkeiten der Alltagsgegenwart, die eng an den medialen, technologischen Entwicklungen dieser Zeit (Erfindung des Internets, Mobilfunks etc.) korrespondieren und einen Möglichkeitsraum erschaffen, in dem sich das Individuum anders positionieren muss. Zur Beschreibung dieses neuen Raumes nutzt Schüle ein aussagekräftiges Symbol: das Netz(-Werk). „Haltlos schwirrend im globalen Netz“337 verortet Schüle die Angehörigen seiner Generation. Hier ist alles in Bewegung und nur temporär oder lose miteinander verknüpft. Das Netz und die digitale Welt werden zu Parabeln einer Gegenwart, in der es keine linearen Entwicklungsstufen gibt, keine historische Verankerung und Einheit der Erlebnisse: „Also betreiben die heterogen geprägten Zöglinge Graswurzelpolitik.“338 Der Begriff der „Graswurzelpolitik“ ist hier besonders interessant, lässt er sich doch in die metaphorische Nähe der Deleuze/Guattarischen „Vielheit“ einer „Ästhetik des Rhizoms“339 bringen. Rhizomatische Strukturen der Lebenswirklichkeit macht Schüle auch in seiner Definition von Heimat und gesellschaftlichen Vergemeinschaftungsprozessen aus. „Man dockt hier an, dann dort, dann zieht man weiter. […] Man richtet sich in Intervallen ein, nicht mehr im Leben.“340 In der Fluktuation der Lebensorte, Kontakte und Lebensweisen wird der Lebenslauf der ICHlinge zwar dynamisiert und beschleunigt, diese Beschleunigung ist dabei aber zugleich auch ziel- und in gewisser Weise herkunftslos. „Unsere Identität ist eine gespaltene. Vielleicht haben wir gar keine eindeutig verortbare mehr. Vielleicht können wir keine stimmige, runde, abgeschlossene Geschichte von uns mehr erzählen und also keine neue Erzählung schreiben.“341

Schüle referiert mit diesen Ausführungen auf das Modell der Zweiten Moderne, der Globalisierung und auf das Leben in der „Weltrisikogesellschaft“342. Ebenso lässt sich die Aussage, keine „abgeschlossene Geschichte“ mehr erzählen und „keine neue Erzählung“ schreiben zu können, als Zuspruch für ein ausgeschöpftes traditionelles Erzählen und als Ablehnung eines großen Master Narratives lesen. Mit dem

336 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 26. 337 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 26. 338 Ebd., S. 81. 339 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Deutsche Ausgabe, Berlin: Merve 1977. 340 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 77. 341 Ebd., S. 25. 342 U. Beck: Weltrisikogesellschaft.

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weiteren Begriff der „Communio“,343 der Gemeinschaft aus Kommunikation, nimmt Schüle nicht nur an dem Aufstieg der digitalen Kommunikationsmedien Anstoß, sondern auch an deren Alltagsdominanz und einem unter anderem daraus resultierenden Eindruck der Gegenwart als Boulevardepoche, in der auch die identitäre Gemeinschaft austauschbar wird und hinter der Selbstverwirklichung und Selbstinszenierung der Erlebnisgesellschaft zurück steht: „Ihre Losung heißt: Erlebe dich!“344 Diese Erlebnisorientierung bei gleichzeitiger vermeintlicher Wurzellosigkeit des Einzelnen überträgt sich ganz konkret auch auf das soziale, politische und kulturelle Engagement der ICHlinge. Die junge Generation zeigt sich auf den ersten Blick – vor allem in der Gegenüberstellung zu der als regelrechtes politisches ‚Generationsbollwerk‘ hoch stilisierten 68er-Generation – politisch weitgehend inaktiv, sozial verantwortungslos und in ihrem künstlerischen Innovationsanspruch eingeschränkt. Indem alles einer permanenten Dynamik und Vorläufigkeit unterliegt, wird dabei der Aktionismus nahezu beliebig. Die historischen Einschnitte wie Tschernobyl, der Mauerfall oder die Entdeckung des Aids-Virus‘ sind zu wichtigen Markierungen in den Biographien der ICHlinge geworden, auch wenn das eine ‚historische Großereignis‘ fehlt. Die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse werden nur selten durch aktive politische Teilhabe oder lauten Protest begleitet und wenn, dann in Form „gängiger Boulevard-Proteste“ oder dem „Happeningcharakter der Party“345. Dies macht auch Christian Kracht in seinem Text Faserland deutlich, wenn sein Protagonist z.B. an Demonstrationen nur aus ‚Image-Aspekten‘ teilnimmt. „Das PR-Modewort der letzten Jahre heißt ‚Event‘; man promotet, wirbt und pflegt Images durch Inszenierungen.“346 Die Eventisierung der Gegenwart, die Deklarierung politischer oder historischer Ereignisse zu Events, deutet Schüle als typisches Verhaltensmuster der jungen Generation, in dem auch beispielsweise der Papsttod zum „emotionalen Massenevent wie Woodstock und die Olympischen Spiele“347 und zum Bestandteil des Boulevards wird. Auf einem solchen Boulevardplatz wird schließlich auch die Erinnerungskultur des Holocaust zur möglichen Ereignis- und Konsumkultur – sie lässt sich so auf dem Erlebnismarkt besser verkaufen. „Hitler funktioniert immer. […] Hitler ist eine popkulturelle Marke und als solche eine Ware der Konsumkultur.“348

343 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 33. 344 Ebd., S. 33. 345 Ebd., S. 78. 346 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 80. 347 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 135. 348 Ebd., S. 98.

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Christian Schüle markiert das Leben seiner Generation als eine Art Reise, als einen Übergang und als „Provisorium“. In diesem Zusammenhang erfährt auch der von Schüle selbst bemühte Begriff des „Work in Progress“349 seine Bedeutung. Schüle legt hiermit eine weitere Beschreibungsformel für die Lebenshaltung der ICHlinge in der Postmoderne zugrunde, die sich neben dem Rhizomatischen zum Bild des immer unabgeschlossenen, sich in permanenter Weiterentwicklung befindlichen Lebensraumes manifestiert. Zugleich wird auch der Begriff des Work in Progress für die Erinnerungsanstrengungen und die Partizipation an der nationalsozialistischen Vergangenheit relevant. 3.2.2 Vermessung der deutschen Geschichte Schüles Beschreibungsmetapher für die postmoderne Gegenwart ist der Boulevard, den er zum einen als quasi folgerichtiges Entwicklungsprodukt einer mediatisierten Gegenwart ernennt, in dem er zum anderen aber auch das Sinnbild einer vergnügungssüchtigen Effekt- und Eventkultur sieht, die alles einschließt: Politik, Religion, Geschichte – und sogar den Holocaust. Nachdem Schüle im ersten Kapitel „Verortungen“ die Bestimmungen der mediatisierten Welt und der in ihr lebenden jungen Generation rekapituliert hat, nähert er sich in seiner Vermessung danach den „Achsen“ Deutschlands zu, die er in der politischen Situation der Berliner Republik und ihrer Nachkommenschaft ausmacht. Schüle sieht mit der Berliner Republik den Start des politischen Boulevards und leitet seine Kritik am politischen Milieu zunächst am Beispiel des zu dieser Zeit neu entstehenden und immer populärer werdenden ‚Öffentlichkeits-Genres‘ der PolitTalkshow ein, welche die Ankunft der Erlebnisgesellschaft auf dem Parkett der Staatsbühne“350 markiert. Mit der Formulierung „Parkett der Staatsbühne“ meint Schüle die Verschiebung der Sphären ‚ernsthafter‘ Politik und konsumerabler Unterhaltung auf ein und derselben öffentlichen, ereignisorientierten Plattform. Als „Politainment“ werden im Massenmedium des Fernsehens politische Meinungen unter den Aspekten der Aufmerksamkeitsökonomie und des Unterhaltungsfaktors offeriert.351 Auch diese Beobachtungen fasst Schüle unter den Eindruck des Boulevards zusammen, auf dem – nun als ‚Marktplatz‘ intendiert – auch um politische Meinungen gefeilscht wird. Die öffentliche Medialisierung und schließlich Theatra-

349 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 29. 350 Ebd., S. 59. 351 Ebd., S. 59. Zum Begriff „Politainment“ siehe auch: Dörner, Andreas /Vogt, Ludgera: Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Schicha, Christian /Brosda, Carsten: Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus, Münster: LIT 2002.

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lisierung als Form von „symbiotischer Verflechtung“352 sämtlicher Bereiche des öffentlichen Lebens macht für Schüle einen markanten Wert an sich aus. Selbstdarstellung und Inszenierungen werden nicht nur Teil einer allgemeinen Öffentlichkeit, sondern auch zum Garanten der Meinungsexistenz. Inwiefern Schüle selbst sowie implizit seine Texte in dieses Zeichensystem der Öffentlichkeit hinein streben, soll noch zur Diskussion gestellt werden. Aufbauend auf seiner Kritik am politischen System Deutschlands zieht Schüle das Panorama der deutschen Vergangenheitsbewältigung auf. Ausgangspunkt dieses Kapitels ist der montierte autobiographische Bericht einer Reise, die Schüle als Rucksacktourist nach Israel unternimmt: „[…] war ich in Israel. Im Land der Opfer, im Land der Geschändeten. Im Land der Juden.“353 Schüle berichtet über die sich ihm unmittelbar aufdrängenden Täter- und Opferzuschreibungen, die sich dem Besucher als, „merkwürdige[s] Gefühl von Schuld […] [und] Beklommenheit“ äußern.354 Als Basis für diesen Rekurs legt Schüle eine selbstreflektorische Abhandlung zu der Frage zugrunde, ob es ihm als deutschen Autoren gestattet ist, das Wort ‚Jude‘ zu verwenden. „In dem Augenblick, in dem ich das Wort Jude schreibe, zensiere ich mich bereits selbst. […] Darfst du dich überhaupt dazu äußern? In dem Augenblick, in dem ich das Wort Jude niederschreibe, lastet eine unglaubliche Hypothek auf mir. […] Spätestens jetzt wird seine ganze Umgebung aufhorchen und hellhörig darauf achten, in welchen Kontext der Wortverwender das Wort Jude stellt. Unvoreingenommen kann niemand das Wort Jude sagen [Herv. i.O.].“355

Die Schwierigkeit beim Aussprechen oder auch bei der literarischen Verwendung des Wortes ‚Jude‘ sowie die damit verbundene Implikation des ‚Dürfens‘ ist eine konstante Problematik im Aushandlungsprozess von Vergangenheit in der Gegenwart. Schüle fügt dieser Passage ein nun ironisierendes Rechtfertigungs-Bekenntnis hinzu: „Ich muß an dieser Stelle also gleich sagen, daß ich mich niemals versündigen werde, stets erinnern und niemals vergessen. Jeder der sich zu diesem Thema zu äußern wagt, muß es sagen. Es wird erwartet. Es ist die moralische Matrix der bundesdeutschen Demokratie.“356

352 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 63. 353 Ebd., S. 90. 354 Ebd., S. 92. 355 Ebd., S. 90 f. 356 Ebd., S. 91.

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Schüle nimmt auch intendiert Stellung zu der Frage nach der ‚nächsten Gesellschaft‘ bzw. zu der Frage ‚Wohin bewegt sich die Gesellschaft?‘: „Deutschland soll sich nicht mehr maßgeblich rückblickend negativ, sondern vorgerichtet positiv definieren: als Staats- und Gesellschaftsordnung, die sich ihrer Herkunft bewusst ist, ihren Bezugspunkt aber als europäisches Mitglied einer künftigen Weltbürgergesellschaft findet.“357

Der Autor plädiert dafür, den rückwärtsgerichteten, verharrenden Blick auf die deutsche Vergangenheit zugunsten einer neuen Weitsicht in die Zukunft zu wechseln. Die Gründe für eine missliche Deutschlandliebe und mangelnden Nationalstolz liegen nicht nur in der unverarbeiteten NS-Vergangenheit und der HolocaustSchuld, sondern auch in einer Zukunftsblindheit. Damit impliziert er in die Rede von der ‚nicht bewältigten Vergangenheit‘ die ‚ungeklärte Gegenwart‘. Schüle appelliert für eine gesunde Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart, in der die deutsche Vergangenheit mitnichten vergessen, aber auch nicht zum alles Gegenwärtige überdeckendem Thema werden soll. Für den jungen deutschen Autor scheint die Zeit gekommen zu sein, den ‚Fluch‘ des Double Bind zu überwinden. Dies bedeutet nichts weniger, als einen Ausgleich zwischen zwei Erbstücken zu schaffen: zwischen dem auch aus einem ‚negativen Nationalismus‘ resultierenden permanenten Zwang zum Erinnern und dem ‚positiven Nationalismus‘, der ein gewisses Maß an Vergessen dieser Verpflichtung beinhaltet. Schüle will stattdessen in seiner Deutschlandvermessung gar eine „Gegenwartsverachtung“358 erkennen. Diese Verachtung des Gegenwärtigen in Opposition zu der Übermacht der Vergangenheit ist nicht nur deshalb als problematisch gekennzeichnet, weil damit der Blick für die Bedürfnisse und Anforderungen der globalisierten Gegenwart und ihrer interkulturellen Gesellschaft verstellt wird, sondern vor allem weil sie der jungen Generation die Möglichkeit verwehrt, ihre ‚unbelastete‘ Identität zu entwickeln. Letztlich geht es damit in Schüles Deutschlandvermessung um nichts Geringeres als um die Frage nach der fragilen, möglicherweise gar hinfälligen, deutschen Identität, die Frage, was „Deutschsein“ heute bedeutet und warum es so schwer ist, ‚ausgesprochen deutsch‘ zu sein: „Jeder weiß, was Deutschsein war. Niemand weiß, was Deutschsein ist“.359 Wenn Schüle also im Kontext globaler Gesellschaftsmodelle von einer gewissen Basis- und Wurzellosigkeit und dem Fehlen eines kämpferi357 Schüle, Christian: „Minima Moralia der nächsten Gesellschaft“. Vier Thesen zur Zukunft der Republik, in: Dettling, Daniel/Schüle, Christian (Hg.): Minima Moralia der nächsten Gesellschaft. Standpunkte eines neuen Generationenvertrags, Wiesbaden: VS 2009, S. 16-20, hier S. 16. 358 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 119. 359 Ebd.,S. 114.

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schen Gestus‘ spricht, dann lässt sich dies schließlich auch mit der Überdeckung gegenwärtiger Entwicklungsressourcen durch die drängende Präsenz der Vergangenheit begründen. An dieser Stelle erweckt Schüles Text den Eindruck einer ‚Kampfschrift‘ gegen die auch von Maxim Biller kritisierten ‚Bewältigungsarien der Deutschen‘. Schüle konstatiert die Nutzlosigkeit endloser Bewältigungs- und Wiedergutmachungsversuche und macht deutlich, welche Auswirkungen dadurch nicht zuletzt auf seine Generation folgen: „Wir leben im Würge- und Klammergriff der zweifachen, unentrinnbaren Schuld, die der deutschen Kultur eingeschrieben ist: der christlichen Erbsünde und der Sünde des faschistischen Erbes.“360

Diese ‚Lasten‘ sind nicht nur für die fehlende ‚Lockerheit‘ der Deutschen, sondern vielmehr auch für ihre mangelhafte Identifikation und ihren fehlenden Nationalstolz verantwortlich. Deutschlands Problem mit seiner Vergangenheit ist in erster Linie ein Problem der vorherrschenden, ‚doktrinären‘ Sprache, die vor allem durch ihre Wortwahl und das Kreisen um die immer gleichen Begriffsdefinitionen zum Problem wird. Als Beispiel nennt Schüle den Begriff „Schuld“, der sich, obwohl metaphysisch nicht aufrechtzuerhalten, an immer neue Generationen weiter zu geben scheint: „Schuld ist Teil der Sozialisation. Ihren Schrecken hat sie verloren. Ihren Sinn. Ihren Inhalt. Schuld ist eine verselbstständigte Worthülse. Wir wissen, daß die Nation schuldig geworden ist. Wir wissen aber auch, dass es die Nation nicht mehr gibt. […] Noch beherrschen jene, die den Krieg unmittelbar erlitten haben, die Erinnerungssemantik.“361

Schüle extrahiert hier eine Erinnerungssemantik, die ihm übermächtig und durch die älteren Generationen, „jene, die den Krieg unmittelbar erlitten haben“, bestimmt und zugleich in die Gegenwartssemantik und die Belange der Nachkommen nicht zu passen scheint. Die nicht zuletzt durch die stoische Verwendung einer ‚dogmatisch belasteten‘ Sprache beanspruchte Deutungshoheit der Älteren evoziert nicht nur die Bevormundung der Jüngeren, sondern durch Nichtbeteiligung auch einen Ausschluss aus eben jenem Deutschland-Diskurs, an dem sie andererseits teilhaben sollen.362 Indem sozusagen im öffentlichen Bewältigungsdiskurs eine ‚altertümliche

360 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 107. 361 Ebd., S. 109. 362 An der ‚Grass-Debatte‘ im Frühjahr 2012 ließ sich erkennen, dass sich die jüngere Generation aus sensiblen Themen, die (entfernt) die deutsche Vergangenheit oder den Ho-

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Sprache‘ gesprochen wird, wird die junge Generation zum Zuhören und Schweigen gedrängt. Eine auch in der Wortwahl sehr ähnliche Intention beweist Maxim Biller, wenn dieser polemisiert: „Worte wie ‚Trauerarbeit‘, ‚Vergangenheitsbewältigung‘ und ‚Nie wieder‘[…]. Es sind ja auch nicht meine Worte, sie kommen von draußen, aus Leitartikeln und Gedenkreden, aus Fernsehansprachen und Grußadressen, es sind Worte, die ich in meinem Leben inzwischen öfter gehört habe, als ‚danke‘ und ‚bitte‘.“363

Die Begriffe, „Trauerarbeit“, „Vergangenheitsbewältigung“, „Nie wieder“, „Schuld“, bezeichnen schließlich das, was bereits als ‚belasteter Begriffskanon‘ des Holocaust-Diskurses und ‚doktrinäre‘ Sprache benannt wurde. Christian Schüle macht in Deutschlandvermessung sehr deutlich, dass zwischen die Deutungsmacht der älteren Generationen, der Augen- und Zeitzeugen wie auch der 68er-Generation und den ICHlingen nicht nur die ‚unhistorischen‘ und ‚unpolitischen‘ 1980er und 1990er Jahre liegen, sondern schließlich auch eine veränderte Wahrnehmung von und Positionierung zu der deutschen Vergangenheit eingesetzt hat. Diese begründet sich durch die zeitliche und damit einhergehend auch emotionale Distanz zum Geschehen und seinen ‚Akteuren‘ aus der Eltern- und Großelterngeneration. Erinnern im Sinne einer individuellen Erinnerung an eine erlebte Erfahrung können die Angehörigen der dritten oder vierten Generation ohnehin nicht mehr: „Das Erinnern im eigentlichen Sinn kann es für die ICHlinge nicht mehr geben, weil sie, diese Jüngeren, nicht erinnern können, was sie nicht erlebt haben.“364 Diese so gesehen natürliche Fähigkeit zur Distanz, die vor allem auch als Generationsmerkmal entscheidend ist, steht in Ambivalenz zu gleichzeitig nachweisbaren transgenerationellen Weitergabeprozessen, von denen die Sozialpsychologie spricht: „Die Vergangenheit [reicht] über intergenerationelle Weitergabeprozesse höchst lebendig in die Gegenwart hinein […] man muss gar nicht psychoanalytisch nach der Tiefendimension solcher Latenzinhalte der Vergangenheit suchen um […] Vergangenheitsbilder und -vorstellungen zu finden, die für die Entwicklung von Gegenwartsorientierungen und von politischen Urteilen äußerst wirksam sind.“365

locaust tangieren, überwiegend öffentlich heraushält. Auch auf Aufforderung u.a. von Grass selbst, erschienen so gut wie keine Debattenbeiträge junger Intellektueller, dafür in kürzester Zeit solche aller ‚üblichen Verdächtigen‘ wie Broder, Rosh oder ReichRaniki. 363 Biller, in P. Wildermann: Ich langweile mich zu Tode. 364 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 109. 365 H. Welzer/S. Moller/K. Tschuggnall: Opa war kein Nazi, S. 11.

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Dieser Aporie, einerseits selbst nicht erinnern zu können und möglicherweise auch gar nicht zu wollen und gleichzeitig aber an den Erinnerungen der Älteren als tradiertes Wissen teilhaben zu sollen, ist von der jungen Generation kaum aufzulösen. Schüle beobachtet sich selbst dabei, wie er in Rollenzuweisungen und Täter- / Opferkategorisierungen verfällt und ihn ein merkliches Unbehagen in Israel und gegenüber den dort lebenden Menschen, ‚den Juden‘, beschleicht, die er unausweichlich geradezu aus Reflex als Opfer vereinnahmt. „Stets nahm ich eine defensive Haltung ein, nicht wirklich sichtbar vermutlich, aber gefühlt als geistiger Kniefall, als schamvolle Verbeugung, als wollte ich mich entschuldigen für mein Deutschsein, nicht für mein Volk, aber für meine Zugehörigkeit zu einer hochmodern entwickelten Nation, aus deren Eingeweiden die Shoah gekrochen ist, entschuldigen für das Deutsche, das auf ewig befleckt sein wird, nicht reinzuwaschen von den Wettern der Zeit und Jahrhundertreden von Präsidenten.“366

In seinem Rucksack trägt Schüle also nicht nur sein Weggepäck, sondern im übertragenen Sinne vor allem die ‚Wucht der Geschichte‘ und die ‚Last‘ seines Deutschseins: „Ich bin Deutscher, Verzeihung.“367 Christian Schüle markiert hier die Abwehrmechanismen, die sich auf einem imaginativen, stellvertretenden Schuldeingeständnis gründen, welches nicht zuletzt auch durch die oben erwähnte ‚doktrinäre‘ Sprache verinnerlicht scheint. Obwohl sich die ICHlinge aus diesem ‚Schulddogma‘ zu befreien suchen, wird an Schüles Selbstreflexion deutlich, wie sehr sie dennoch in dem deutschen Schulddiskurs verhaftet sind und in ‚unsicheren‘ Situationen sich selbst unwillkürlich imaginativ in die Rolle des ‚Beschuldigten‘ zurückziehen und ebenso intuitiv bzw. agitativ schuldig zeigen. An dem Eingeständnis der eigenen Befangenheit bei gleichzeitig postulierter Schuldabwehr lässt sich außerdem die Ambivalenz und Liminalität der jungen Generation in einem diskursbestimmenden ‚Dazwischen‘ zeigen: „Wir haben die Chance, uns nicht mehr negativ über die Vergangenheit definieren zu müssen, sondern uns positiv in der Gegenwart begreifen zu können. Die Vergangenheit interessiert uns nicht mehr wirklich, weil die Erinnerungskultur von der persönlichen Emotion abgetrennt ist. […] Hitler, Auschwitz, die Shoah sind untilgbare Bestandteile unseres kulturellen und persönlichen Selbstverständnisses, sie sind nicht mehr wegzudenken aus dem psychosozialen Fundament der Kohorte.“368

366 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 92. 367 Ebd., S. 92 f. 368 Ebd., S. 108.

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Explizit auf das entsprechende Diskurs-Vokabular, seine Autorität der Deutung und den Versuch der ‚Befreiung‘ bezieht sich Schüle mit den folgenden Zitaten: „Noch kontrolliert die ‚skeptische Generation‘ der heute Sechzig- bis Siebzigjährigen den historischen Gedächtnisraum.“ „Die ICHlinge sind die erste Kohorte, die sich aus dem Würgegriff dieser zweifachen Schuld befreien kann. Wir bestimmen uns nicht mehr über Patriotismus, Nation und deutsche Hymne.“369

Die Gegenüberstellung der beiden Beobachtungen, einerseits einer Diskurshoheit, einer „Beherrschung der Erinnerungssemantik“ und „Kontrolle des Gedächtnisraums“ durch die älteren Generationen ausgesetzt zu sein und andererseits als erste Generation nach dem Zweiten Weltkrieg faktisch in der Lage zu sein, sich „aus dem Würgegriff der Schuld zu befreien“, stellt genau diese Ambivalenz her, um die es in der Identität der jungen Generation geht. Während es für die Angehörigen der jungen Generation natürlich ist, stets neue Verknüpfungen und Loslösungen zu generieren, sich in permanenter Bewegung und Neudefinition zu befinden, stößt diese Variabilität jedoch beim Thema deutsche Vergangenheit auch an starre, nationale Grenzen. Deren Überwindung und die damit möglichen Verknüpfungen von Vergangenheit und Gegenwart erfolgen bisweilen nur unter großen Anstrengungen als Work in Progress. Auch wenn sich in der Gegenwart der ICHlinge einiges rhizomatisch und netzwerkartig zu verknüpfen scheint, bleiben im historischen Diskurs die Entitäten weitgehend bestehen. Somit rechnet Schüle in seiner Geschichtsvermessung auch ganz konkret mit der deutschen Gedenkkultur und ihrer (professionalisierten) Erinnerungsarbeit ab, der er schließlich ähnlich dem Politikzirkus‘ einen Hang zum Boulevardesten, zum Event und zum Entertainment unterstellt: „Der Boulevard verleibt sich das Dritte Reich als Stoff ein. Hitler ist zur Ikone der Entertainmentindustrie geworden.“370 Diese populäre Ikonisierung des Holocaust oder auch Hitlers bezieht er insbesondere auf die Film- und Fernsehindustrie, die in jüngster Zeit dazu tendiert, z.T. absurde Figurationen von Hitler und seinen Gefährten ins Bild zu rücken.371 In dieses Bild einer ‚boulevardesten Holocaustindustrie‘ passen des Weiteren auch die zuverlässig hoch quotierten Dokumentationen etwa von Guido Knopp, in denen die Historie mitunter

369 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 108 f. 370 Ebd., S. 96. 371 Zwei jüngere Beispiele sind: Mein Führer – die wirklich wahrste Geschichte über Adolf Hitler (2007) von Daniel Levy oder Hotel Lux (2011) von Leander Haußmann.

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regelrecht ‚pornographisch‘ entblößt wird.372 Dem Zuschauer wird dazu ein plakatives, z.T. sensationslüsternes Bild vorgesetzt, in dem es „keine Leerstelle, keine offenen Fragen, keine Möglichkeit zum Einhaken, zur Phantasie für eigene Bilder [gibt] jegliche Vorstellung wird besetzt.“373 Schüle moniert in seinem Essay die mangelnde Verantwortung der Medien und nimmt in seiner folgenden Medienschelte nicht nur rhetorisch Anstoß an Martin Walsers ‚Friedenspreisrede‘, auch inhaltlich bezieht er sich auf dessen Auslassungen zur freien Rede, zu eigenen Gedanken und dem individuellen Gewissen. „Mit seinem Gewissen ist jeder allein. Öffentliche Gewissensakte sind deshalb in der Gefahr, symbolisch zu werden.“374 Als ob Schüle dieses zum Anlass nehme, über Metaphern und Stigmatisierungen der freien Rede und „‘richtiges‘ Gedenken und Sprechen“375 zu sinnieren, formuliert er: „Die bundesrepublikanische Gedenkkultur, kurzum, ist eine Kultur erstarrter Metaphern. Das eindeutig codierte und also entsprechend zu decodierende Zeichensystem ist also etwas wie ein moralischer Kompaß nach dem sich Anker werfen läßt. ‚Richtiges‘ Gedenken und Sprechen über das Undenk- und Unsagbare gibt Halt, Orientierung und Verläßlichkeit.“376

Die „erstarrte[n] Metaphern“ und das sprachlich vorgefertigte politisch korrekte Zeichensystem der „Gedenkkultursprache“377 sollen zwar Halt, Orientierung und Verlässlichkeit ermöglichen, sind aber vor dem Hintergrund eines reflektierten, offenen Nachdenkens und Sprechens über den Holocaust vielmehr kontraproduktiv, da so auch absurde (Sprach-)Regeln aufgestellt werden, deren Nichteinhaltung zwangsweise zur Tabuisierung von freier Meinungsäußerung führt. „Gerade die angestrengte Tabuisierung der freien Rede über Juden und Hitler und das Dritte Reich [schafft] einen unkontrollierbaren Raum an Möglichkeiten zum Tabubruch […]. Gesteuertes Nachdenken verhindert, daß sich die nachfolgenden Deutschlandbürger ihre Art des

372 Siehe dazu u.a.: Kansteiner, Wulf: „Zwischen Aufklärung und Geschichtspornographie“, in: Goethe Institut Online, Januar 2008. Siehe: http://www.goethe.de/ges/pok/ dos/dos-/ern/kug/fuf/deindex.htm vom 18.05.2012. 373 Wirtz, Rainer: „Alles authentisch: so war’s. Geschichte im Fernsehen oder TVHistory“, in: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: UVK 2008, S. 9-32, hier S. 31. 374 M. Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, S. 22. 375 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 101. 376 Ebd. 377 Ebd., S. 102.

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Erinnerns suchen, ihre Freiräume. Ihre Weise eines geeigneten Verhältnisses zum Abgrund.“378

Für die nachfolgenden Generationen werden die starren sprachlichen Regeln und die Walsersche ‚Dauerpräsentation unserer Schande‘ zu mehr als nur einer Hürde, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und „geeignete Verhältnisse“ zu schaffen. Durch die negativen Konnotationen des „gesteuerten Nachdenkens“ und eines „unkontrollierbaren Raumes“ formuliert Schüle eine Gefahr mit in sein Plädoyer hinein, welche Möglichkeiten des Missbrauchs und der Amoralität einschließt, die eine Begrenzung zur ‚Memory Incorrectness‘ eigentlich gerade zu verhindern sucht. Sprachgebote und gleichermaßen -Verbote können nämlich auch eine Aufforderung oder ein Freifahrtschein für das Schweigen über die Vergangenheit sein – eine Variante des Umgangs mit der Vergangenheit, welche kalkuliert die Gefahr des Vergessens und der Nichtachtung in sich birgt. Diese Gefahr hat Vennemann in seinem Roman Mara Kogoj als eine „Gefahr für das Tonband“ bzw. für den „Blick zurück“ an der Figur Tone Lebonja und seinem resigniertem Schweigen gekennzeichnet. Die Kritik an den deutschen ‚Gedenkroutinen‘ macht Schüle an zwei Punkten fest: zum einen an einer überladenen Symbolik und dem sinnentleerten Pathos der kulturellen Repräsentation, zum anderen an der ‚dogmatisch standardisierten‘ Sprache, die jede verbale Abweichung guten Ansinnens, die nur „um Millimeter verschobene“ Abweichung von dem „festcodierten und streng bewachten Zeichen-, Sprach- und Denksystem“379 aburteilt und auf den ‚kulturellen Prüfstand‘ stellt. Für dieses Verfahren gibt Schüle eine Handvoll Beispiele – neben dem Eklat um Martin Walser erwähnt er noch Joachim Kardinal Meisner, Ludwig Stiegler, Herta Däubler-Gmelin –, denen durch die Verwendung von vermeintlich political- bzw. ‚memorial incorrectem‘ Vokabular ein öffentlicher Eklat mit z.T. erheblichen Folgen für den Sprecher beschert wurde. Dass sich diese Dynamik auch Jahre nach Schüles Text nicht wesentlich verändert hat, könnten zahlreiche aktuelle Beispiele belegen. Schüle vertritt keinesfalls die Meinung, die NS-Vergangenheit sei gänzlich zu bewältigen und abzuarbeiten oder sollte – im Sinne eines Schlussstrichs – für bewältigt oder beendet erklärt werden. Sehr wohl aber sieht er in dem auferlegten Sprachgebot bzw. -Verbot das eigentliche Verdikt und die doppelte, wenn nicht gar die eigentliche ‚Last der Vergangenheit‘ für seine Generation. Indem nämlich das ‚freie Sprechen‘ derart unterbunden bzw. erschwert wird, bleibt für den eigentlich ausgemachten Sinn einer Auseinandersetzung und Reflexion über die Vergangenheit und die Zukunft mit dieser Vergangenheit, kaum Spielraum. Ein derart strenges, starres und von den Hütern der Political Correctness gut bewachtes Sprach378 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 101. 379 Ebd., S. 100.

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und Zeichensystem lässt kaum Freiraum für eigene Form- und Sprachgebungen und unterstellt dem mündigen Bürger auch dann inhärent ‚böse Absichten‘, wenn dieser mit anderen Worten möglicherweise doch nur das Gleiche sagen möchte: „Man mißtraut dem mündigen Bürger, weil er eine andere Sprache sprechen – und dennoch das gleiche meinen könnte.“380 3.2.3 Wir brauchen eine neue Sprache Nachdem sich Christian Schüle an seinen Mitmenschen, dem Politik- und Kulturbetrieb und besonders an den ‚eingefahrenen‘ Gedenk- und Sprachmustern im Deutschland-Diskurs abgearbeitet hat, bündelt er seine Kritik in einem finalen Plädoyer für nichts weniger als eine neue Sprache: „Ein solch ritualisiertes Verhältnis zur deutschen Schuld und Abgründigkeit, die seelenlose Vergangenheitsbewältigungsverwaltung, kann nur heißen, daß wir eine neue Sprache finden müssen.“381 Eine neue Sprache finden, bedeutet in Deutschlandvermessung weniger die Schuldabwehr einer opferdefinierten Rhetorik wie sie etwa Martin Walsers Verbalofferten gegen eine vermeintlich ungerechtfertigte Schuldlast zugrunde liegt. Primär geht es Schüle um das Aufdecken der Fehlfunktionen und der Vermessenheit eines als allgemein anerkannten, aber dennoch ‚belastetet‘ geltenden Diskursvokabulars und der ‚schuldbeladenen Doktrinen‘ älterer Generationen, die den jüngeren den richtigen und falschen (sprachlichen) Umgang mit der NS-Zeit und dem Holocaust vorzuschreiben versuchen. Seine Kritik richtet Schüle an jene, die wie die Walserschen „Meinungssoldaten“382 zu wissen glauben, „wie man über Hitler und den Holocaust zu reden hat […], worüber nicht geredet werden kann, keineswegs geschwiegen werden soll.“383 Schüle fühlt sich weniger durch die Opfergenerationen im freien Sprechen eingeschränkt wie Walser, stimmt jedoch eine Medienkritik an, in der es auch darum geht, wie öffentlich gelebtes – im persönlichen Aktionismus ebenso wie in der sprachlichen Agilität – Erinnerungshandeln medialisiert und z.T. bewusst skandalisiert wird. „Geschichte lebt. Man geht nicht mehr in Sack und Asche. Das Stelenfeld wird Spielfeld, das Holocaust-Mahnmal Event. Jugendliche hüpfen von Stele zu Stele, und es sieht so aus unerhört leichtfüßig aus. Für jeden engagierten Moralisten traditioneller Geschichtsdidaktik ist diese Leichtfüßigkeit ein Schlag in die Magengrube. Für den Freund eines von pawlowscher Reflexhaftigkeit befreiten Umgehens mit der deutschen Schande ist sie ein Gewinn. […] Wenn die Rucksackkinder von Stele zu Stele springen und sich darauf Eis essend in der Son-

380 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 100. 381 Ebd., S. 111. 382 M. Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, S. 25. 383 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 93.

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ne aalen, ist das mitnichten eine Katastrophe der bürgerlichen Gedenkmoral, sondern bezeugt eine Ankommen des Gedenkens in der Erlebnisgesellschaft.“384

Schüle wendet das ‚Stelenspringen‘ oder ‚Eisessen‘ als positive, quasi folgerichtige Entwicklung einer Erlebnisgesellschaft, in der auch das Gedenken an den Holocaust zum populären Event werden kann, ohne dass seine Bedeutung der Trivialität anheimfällt. Über das dadurch mit veranlasste, selbstverständliche Aufbrechen oktroyierter Handlungsanweisungen und sprachlicher Zwänge kann auch das ritualisierte, Pathos und Unantastbarkeit verkörpernde, institutionalisierte Gedenken in neue dynamische Erinnerungsformen geleitet werden, welche – um beim Beispiel des Berliner Holocaust-Mahnmals zu bleiben – nicht selten auch die eigentliche Intention institutionalisierter Gedenkkultur sind. Am Ende seines Essays verliert sich Schüles bis dahin trotz steigender Emotionalität weitgehend analytisch-beobachtende Argumentation in recht plakativer Ideologie und – dies auch programmatisch durch den Titel „Pfade nach Utopia“ gekennzeichnet – in Utopie: „Die Generation der Ungenerierten hat Erhebliches zur Res publica, zum Wohl der Gesellschaft beizutragen. Sie hat Kraft, Geist, Lust, und sie hat den Mut der Verzweifelten, die Bescheidenheit der Ratlosen, die Klarheit der Ernüchterten, die Freiheit der Unbelasteten. Sie kann den Wandel gestalten.“385

Schüle verweist in Deutschlandvermessung auf das Leben und die Identität seiner Generation in einer Situation des Übergangs, in der Erinnerungshandlungen nunmehr nicht ‚natürlich‘ sondern als Work in Progress gelingen müssen. Zum anderen bemisst er sehr genau die Geschichtsvermessenheit der Bundesrepublik und ihrer (insbesondere) politischen Vertreter und verweist mit seiner selbst „nicht immer politisch korrekten“386 Sprache auf das Sprachdilemma unter dem Deckmantel der Political- und Memorial Correctness.

384 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 106 f. 385 Ebd., S. 187 f. 386 Florin, Christiane: „Das Maß ist voll“, in: Rheinischer Merkur vom 13.04.2006.

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3.3 „Was wollen Sie? Die Absolution? 387 – Maxim Biller als ‚enfant terrible‘ „Maxim Biller […] hat einen Handel mit Gott geschlossen: Lass mich meine Geschichten aufschreiben, und lass die Menschen dann entscheiden, ob du meine Feder führst.“ ZAIMOGLU/DIE WELT

Es verwundert nicht, dass Maxim Biller in dem programmatischen Sammelband Literatur und Skandal (2007) gleich in zwei Artikeln Thema ist.388 Besonders in seiner Eigenschaft als deutschsprachiger jüdischer Autor jüngerer Generation gibt es momentan keinen vergleichbaren Zeitgenossen, der sich auf ähnliche Weise ‚skandalös‘ in den literarischen und journalistisch-politischen Diskurs eingeschrieben und ihn gleichsam mitbestimmt hat wie der 1960 geborene Maxim Biller.389 Dies liegt sicherlich nicht zuletzt an den Themen, denen er sich nicht ohne Leidenschaft hingibt. Nimmt man seine ‚Lieblingsthemen‘, die deutsch-jüdischen Beziehungen und die deutsche Erinnerungskultur des Holocaust, zum Kristallisationspunkt seines Schaffens, dann erhält er durchaus einen Sonderstatus als ‚berufsmäßiger Provokateur‘, der dieser Art auch im internationalen Vergleich alleinstellend ist.390 387 Eke, Norbert Otto: „‚Was wollen Sie? Die Absolution?‘ Opfer- und Täterprojektionen bei Maxim Biller“, in: Gilman, Sander L./Steinecke, Hartmut (Hg.): Deutsch-Jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah, Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 89-107. 388 Siehe die Beiträge: Jagow, Bettina von: „Maxim Billers Roman ‚Esra‘ (2003): Warum ein Skandal?“, S. 678-686 und Hielscher, Martin: „Bilse, Biller und das Ich“, S. 686695. Beide in: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 389 Dass Maxim Biller qua seines Geburtsjahres nicht in die definierte junge Generation gehört, stellt insofern keinen Widerspruch zur Fragestellung dieser Arbeit dar, da die junge Generation nicht als feststehende ‚Ausschluss-Kategorie‘, sondern in ihrer Funktion als Inszenierung fruchtbar gemacht werden soll. Darüber hinaus inszeniert sich Biller selbst als Stimme der ‚jungen Wilden‘ und erfüllt außerdem die Funktion des ‚Deutschlandbeobachters‘. 390 Sein provokanter und nicht selten von Sarkasmus geprägter Sprachduktus ähnelt dem des Publizisten Henryk M. Broders, auch wenn diesen Vergleich beide Bezeichneten ablehnen: vgl. Haberl, Tobias/Roll, Evelyn: „Henryk M. Broder trifft Maxim Biller. Interview“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin 50 (2009).

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„Empört Euch!“ – mit dem Titel des 2011 u.a. in Deutschland zum Bestseller gewordenen Pamphlets des französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessels lässt sich auch Billers literarisches Substrat kennzeichnen.391 Durchgehend wiederkehrendes Thema in Billers Werk ist der Tabubruch in verschiedenen Facetten, dabei aber zumeist mit einer Variante des gleichen Ausgangspunktes: dem Holocaust. Der Holocaust bestimmt das Thema und die Grundhaltung seines Schreibens, auch wenn es ihm weniger um das historische Verbrechen an sich, sondern vielmehr um die Transformation seiner Bedeutungsnarrative als „Diskurskonfiguration“392 geht. In seinen essayistischen und journalistischen Arbeiten fokussiert Biller überwiegend die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden, während er sich in seiner Prosa auch anderen zwischenmenschlichen Konfliktherden annimmt. Alterierend geht es ihm dabei immer auch um sein schriftstellerisches Selbstverständnis, seine künstlerische Autonomie und schließlich darum, nicht nur sagen zu dürfen, was er will, sondern auch wie er es will. 393 Auf diese autonome Deutungsmacht bezieht sich Biller gerade immer dort, wo er bewusst Tabus und Pietäten antastet, wie in seinen z.T. drastischen Anmerkungen zum deutsch-jüdischen Schuld- und Opfer-Komplex. Zugleich sind es vor allem jene provokanten Wortspitzen, die ihm stets das Gehör der Öffentlichkeit versprechen, vor allem dann, wenn er in voller Kenntnis und Absicht politische Inkorrektheiten ausspricht. In Billers Texten geht es somit häufig nicht nur im Subtext um die Fragen nach Political- und Memorial Correctness, oft werden sie offensiv zum Mittelpunkt seiner Rhetorik gemacht: „Seine Themen sind: Was darf man sagen? Was muss man sagen? Was ist um der Wahrheit Willen notwendig? Gibt es eine Instanz, die mir etwas zu verbieten hat?“394 Für Biller selbst sind dies eigentlich nur rhetorische Fragen und schnell mit seinem oben erwähnten Alleinstellungsmerkmal sowie seiner beanspruchten Deutungshoheit als Angehöriger der ‚Opfergruppe‘ in Deutschland zu beantworten. Weniger jedoch als an der ‚Wahr391 Hessel, Stéphane: Empört Euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon, Berlin: Ullstein 2011. In dem Text fordert Hessel zum kritischen Denken und engagierten Handeln gegen bestehende Missstände wie zum Beispiel in der Umwelt- und Finanzpolitik, der Einhaltung von allgemeinen Menschenrechten, aber auch konkret zum Empören gegen Diskriminierung von Ausländern und die Haltung Israels in der ‚Palästina Frage‘ auf. 392 N.O. Eke: Was wollen Sie, S. 89. 393 In einem seiner jüngeren Prosawerke Esra (2003) provoziert Biller den Konflikt zwischen künstlerischer Autonomie und Einhaltung von Persönlichkeitsrechten, indem er die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion derart empfindlich aufweicht, dass ihm dies (realiter) juristische Konsequenzen eingebracht hat. Siehe auch: M. Hielscher: Bilse, Biller und das Ich, S. 690. 394 M. Hielscher: Bilse, Biller und Ich, S. 686.

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heit‘ liegt Biller an seiner Stellung als junger deutsch-jüdischer Autor im jüngsten deutsch-jüdischen Diskurs, den er nur allzu gerne in der Rolle des ‚kritischen Juden‘ mitbestimmt. Es geht ihm dabei im Wesentlichen um seine eigene Positionierung in dem sonst von deutschen Meinungsführern geprägten literarischen, vor allem aber auch öffentlichen und medialen Holocaust-Diskurs und dabei letztlich um nichts weniger als um die Behauptung seiner Deutungsmacht. Diese spielt er vornehmlich sprachlich in seinen Erzähltexten und journalistischen Abhandlungen aus, wie die folgenden Beispiele aus seinem Textportfolio – vorwiegend Der gebrauchte Jude (2009) und Deutschbuch (2001)395 – zeigen. Anhand Billers Gesellschaftspanoramas soll die provokante Haltung zur deutschen Erinnerungskultur, Politik und Öffentlichkeit, die auch schon in Schüles Text zum Ausdruck kam, um weitere Aspekte angereichert werden. Nicht zuletzt ist es auch bei Biller der sprachliche, auf Political Correctness bzw. ‚-Incorrectness‘ zielende Holocaust-SprachDiskurs, den er selbst kritisiert, demontiert und dennoch sogleich mitbestimmt. Biller spielt mit genau jener formelhaften Sprache, den eingefahrenen Stereotypen und Klischees von ‚den Deutschen‘ und ‚den Juden‘, die er in anderen Kontexten harscher Kritik unterzieht. Zugleich stellt Biller ‚den Juden‘ nicht nur als Opfer, sondern auch als ‚nervenden‘, seinerseits auf politische Korrektheit pochenden ‚Spielverderber‘ dar und bedient damit sogleich entsprechende Ressentiments und das Aufbegehren der Hüter der Political Correctness. Dies wird auch bei Oliver Polak zum Prinzip, wenn dieser z.B. den Zentralrat der Juden als ‚Miesepeter‘ tituliert und sein Publikum mit deren eigenen Ressentiments konfrontiert. Biller spielt die Klaviatur der gewollt politisch inkorrekten Töne rauf und runter, um deren Paradoxität einen anhaltend störenden Ton zu verleihen. 3.3.1 Billers Generationen/Billers Deutschland „Wir sind als Juden neurotisch, arrogant, moralisierend, wir sind als Deutsche betroffen, skrupulös, abwehrend, und alle zusammen sind wir ständig damit beschäftigt, uns auf die eine oder andere Art von diesem übermächtigen, alles prägenden Gründungsmythos der Nachkriegszeit zu befreien.“396

Hört man Billers Interviews und liest seine Texte auf die Fragestellung hin, wo und wie er seine eigene Generation beschreibt, fällt auf, dass er kaum positive Äußerungen und Charakterisierungen findet, sondern auch im Hinblick auf seine Altersgenossen eher die pauschalisierende Kritik federführend ist. Dazu muss zunächst kon395 Biller, Maxim: Der gebrauchte Jude, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009. M. Biller: Deutschbuch. Auch wenn die Texte Maxim Billers älteren Datums und z.T. auch vor der Zäsur von 9/11 verfasst wurden, dienen sie hier als zusätzliche Argumentationsfolie. 396 M. Biller: Deutschbuch, S. 237.

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statiert werden, dass sich Biller stets zwei (ethnischen) Generationen zugehörig fühlt: der jungen jüdischen, die an ihrer jüdischen Herkunft und Tradition festhält und der jungen deutschen Intellektuellen-Avantgarde. In dieser Hinsicht entspricht Biller auf geradezu exemplarische Weise dem Anliegen dieser Arbeit, keine kategorische Unterscheidung zwischen deutschsprachigen jüdischen und deutschsprachigen nicht-jüdischen Autoren vorzunehmen und Identität als eine vorwiegend inszenierte zu betrachten. Diese Rechnung der Inszenierung, sozusagen je nach Gusto, geht mit Biller besonders dahingehend auf, dass er zwar immer wieder den Anschein erweckt, er gehöre beiden Gruppen an, dann jedoch auch wieder vehement Oppositionen aufbaut und sich mit einer gewählten ‚Parade-Identität‘ in Szene setzt. Die Identität ‚der Deutschen‘ bringt Biller stets unmittelbar mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit in Verbindung und stellt damit auch die Nachkommen qua Abstammung in diese Traditionslinie. „Wenn sie dann aber auch noch erklären, sie, die Jungen, Neuen, Anderen, fühlten sich für die Taten ihrer durchgedrehten Omas und Opas verantwortlich, glaube ich ihnen überhaupt kein Wort.“397 Zwei wesentliche Kritikpunkte Billers an der jungen, dritten Generation lassen sich in diesem Zusammenhang ausmachen. Neben dem unablässigen Drang, die Vergangenheit der Eltern- und Großeltern auf- und abzuarbeiten – hier ist an die auch von Schüle benannte Anstrengung als Work in Progress zu erinnern – vollzieht die Generation junger Deutscher auch einen merkwürdigen Rückzug in die „systemoppertunistische“ Pop-Welt.398 Im Verhältnis zu den schwermütigen ‚Vergangenheitsexzessen‘ betrachtet Biller dies aber nicht etwa als Möglichkeit einer neuen, vielleicht schon längst nötig gewordenen positiv besetzten Form der Reflexion, sondern als „besonders raffinierte Art des Schweigens“399 und sogleich als Verdachtsmoment: „Mit einer Generation [ist] etwas nicht in Ordnung […], die zu Modedesignern, DJs und Grafikern so selbstvergessen betet wie andere zu Jesus Christus und der Heiligen Jungfrau Maria“400 . Dass beides, die Beschäftigung mit Popkultur und mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, diskursiv verknüpft sein kann, scheint nicht in Billers Generationenkonzept hinein zu passen. Biller charakterisiert die jungen Deutschen als wankelmütige Geister, die einerseits auf ihrer Autonomie beharren und die andererseits die Vergangenheit ihrer Vorfahren nicht loslassen können – beides Eigenschaften, die sich auch auf ihn selbst anwenden lassen. Dabei ist es vor allem die schier pathologische ‚Vergangenheitsbesessenheit‘, die Biller immer wieder ironisch wendet:

397 M. Biller: Deutschbuch, S. 28. 398 Ebd., S. 322. 399 Ebd. 400 Ebd.

130 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST „Wir wollen keine Mörderkinder mehr sein, wie hassen den Gedanken daran, dass in unserem Namen – also in deutschem Namen – Hitler beschloss, bis auf die eigene weinende Nation den Rest der Menschheit in den Mülleimer zu werfen. Die Verantwortung geht auf der Stelle zurück an die Geschichte! Die Geschichte war vor uns, und sie wird nach uns sein, und wir sind zu Hause in einer uns gewogenen Zeit – das redet ihr uns nicht aus, ihr nachtragenden Opferkinder.“401

Anders als Schüle, der primär die Schuldzuweisungen der älteren politischen Wortführer und der Medien im Sinn hat, geht Biller hier von Vorhaltungen von Seiten der Opfernachkommen aus und meint damit wiederum auch sich selbst. Gleichzeitig will Biller eine Abwehrhaltung, wenn nicht sogar ein ‚Vergessen-Wollen‘ der jüngeren Deutschen erkennen, für welche die Vergangenheit ihrer Vorfahren offensichtlich immer weniger Bedeutung bereit hält. Dieser ‚Vergessens-Unterstellung‘ stellt sich Schüle an exponierter Stelle in ähnlich provokantem Tenor genau entgegen: „Ich muß an dieser Stelle also gleich sagen, daß ich mich niemals versündigen werde, stets erinnern und niemals vergessen.“402 Die Vergangenheitsbesessenheit erkennt Biller einige Jahre zuvor als jenes Hemmnis, eine deutsche Identität auszubilden, was auch Schüle in Bezugnahme auf eine oktroyierte Versessenheit herausgestellt hat. „Das Gestern aber interessiert sie [die Deutschen – K.F.] offenbar nicht, sie verstehen sich nicht als Teil einer Kette, sie begreifen sich nicht als Fackelträger einer langen, auf faszinierende Weise in die Vergangenheit zurückreichenden Tradition, und wer jetzt entgegnet, dies sei auch verdammt schwer angesichts der ganzen peinlichen Nazisache, dem antworte ich – und trotzdem kein Grund, auf eine eigene Identität zu verzichten.“403

Wenn er die Jungen in der Nachfolge ihrer Vorfahren sieht, meint Biller keinesfalls eine ‚direkte Vererbung der Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Er beobachtet vielmehr einen hausgemachten, schier irrationalen Selbstzerstörungstrieb bei den jungen Deutschen, die sich selbst fortwährend die ‚Last der Vergangenheit‘ aufladen. Dieses Verharren in vergangenen Problem- und Schuldkonstellationen sowie die daraus resultierende Unmöglichkeit, offen und ‚unbelastet‘ mit den jüdischen Nachkommen umzugehen, machen für Biller die Hauptargumente des problematischen deutsch-jüdischen Verhältnisses aus. Jedoch ist er selbst gerade auch für diese ‚Komplikationen‘ mit verantwortlich.

401 M. Biller: Der gebrauchte Jude, S. 154. 402 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 91. 403 M. Biller: Deutschbuch, S. 128.

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Wenn Biller in seinen Essays und autobiographischen Reflexionen von seinem Leben in Deutschland erzählt, weist er immer wieder auf die Übermacht der NSVergangenheit und der ihr nachgeschalteten, andauernden Bewältigungsmaßnahmen der deutschen Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit hin. Im Duktus Schüles „Geschichtsbesessenheit“404 attestiert Biller den Deutschen eine „Besessenheit“405 für ihre Holocaust-Erinnerungskultur, die nicht nur allgegenwärtig in der Öffentlichkeit präsent ist, sondern die auch mit einer geradezu leidenschaftlichen Inbrunst immer wieder rituell inszeniert wird. Um diese Zustände aufzudecken, begibt sich Biller in die Rolle des beobachtenden Kritikers und sieht sich selbst nicht als Teil dieser Kultur, an der er doch maßgeblichen Anteil hat. In Position eines solchen außenstehenden – außerhalb des deutschen und des jüdischen Diskurses stehenden – Zuschauer beobachtet er fragwürdige Gedenkkonventionen, in denen der Holocaust gar als ‚großer nationaler Topos‘ in einer Reihe mit Goethe, dem Hambacher Fest oder Bismarck inszeniert wird: „Diese unglaubliche, unerhörte Tat […] schenkte diesem seit Jahrhunderten geographisch, geistig und mental uneinigen, unfertigen Volk von einem Tag auf den andern den großen nationalen Topos, den Schlüsselbegriff, der alle […] zusammenband wie kein Goethestück, kein Hambacher Fest, keine Bismarckverordnung vorher.“406

Mit dieser Konnotation des Holocaust als ‚Kulturgut‘ und verbindliches Element reizt Biller zweifelsohne den Begriff des „prägenden Gründungsimpuls“407 aus. Als einen in abstruse ‚Heiligkeit‘ – u.a. verweist darauf auch Billers Begriff „Heiliger Holocaust“408 – gewendeten Schlüsselbegriff „lieben die Deutschen den Holocaust so – vor allem die, die immer wieder sagen, daß sie von ihm nichts mehr hören wollen.“409 Die permanente, öffentlich zur Schau gestellte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unter dem Deckmantel ihrer Bewältigung, welche genau betrachtet nur zwanghaft erinnernde Bewahrung ist, bezeichnet Maxim Biller in seiner Erzählung Heiliger Holocaust als die „endlose Bewältigungsarie“ der Deutschen.410 Signifikant ist dabei, dass Biller hier lediglich Deckerinnerungen und Rechtfertigungsmuster ausmacht, die nicht für die Bewältigung, sondern nur für das (künstliche) Aufrechterhalten einer Schuld- und Opferdebatte sorgen. Hier konstatiert Biller wie auch schon mit Blick auf seine Generationsgenossen: „Etwas stimmt an 404 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 111. 405 M. Biller: Deutschbuch, S. 21. 406 Ebd., S. 29. 407 Ebd., S. 237. 408 Ebd., S. 27. 409 Ebd., S. 29. 410 Ebd., S. 27.

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dieser endlosen Bewältigungsarie nicht […], etwas ist faul.“411 Der Gedanke, dass in dem Land, in dem er lebt, „irgendetwas nicht stimmt“ mit den Deutschen und ihrer merkwürdigen Hassliebe zum Holocaust, prägt Billers erzählerisches Werk in besonderem Maße. Deutschland ist aber für Biller zugleich auch eine ‚ungeliebte Verwandtschaft‘ geworden, in deren Großfamilie es sich so gut streiten lässt. Das zutiefst ambivalente Verhältnis feiert er, so könnte man schließen, gerade deshalb, weil es in dieser deutschen Familie so vertrackt zugeht, gezankt und unendlich viel diskutiert wird.412 3.3.2 Biller und die deutsche Sprache und Literatur Einen weiteren durchgehenden Kritikpunkt in Billers Texten stellt der deutschsprachige Literaturbetrieb dar. Billers Wortschöpfung der „Schlappschwanzliteratur“ gehört mittlerweile zum kanonisierten Fundus seiner Rezeption und lässt sich in Billers unerschöpflicher Polemik auf schier jede Gattung und Autorengeneration deutschsprachiger Literatur anwenden. In seiner Erzählung Die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit413 – hier ließe sich eine ironisch-semantische Nähe zu Martins Walser Rede Gedenken beim Verfassen einer Sonntagsrede konstruieren – bezieht Biller diesen Begriff auf seine Altersgenossen, „die Anhänger des sogenannten Pop“414. Als selbsternannte Wortführer ihrer Generation unterstellt Biller den Pop-Autoren nicht nur einen Hang zur leichten Unterhaltung und Oberflächlichkeit, sondern auch die Verweigerung einer notwendig kritischen Haltung, welche nicht weniger als das „Sagen der Wahrheit“ unterbindet und sie somit zu „JaSagern“, notorischen „Rückziehern“ und eben zu „Schlappschwänzen“ im „demoralisierten Weichei-Deutschland“415 degradiert. „Ich nenne sowas Schlappschwanz-Literatur. Es ist eine Literatur, an der man merkt, daß ihre Verfasser sich längst aufgegeben haben […]. So geistern durch unsere Gegenwartsliteratur Dutzende von Papierleichen, die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben.“416

Folgerichtig muss das Gegenteil von vermeintlich emotionsloser Popliteratur ein offensives Aufbegehren gegen die deutsche Verstocktheit, die Kleinbürgerlichkeit

411 M. Biller: Deutschbuch, S. 27. 412 Stein, Hannes: „Wie altmodisch, Herr Biller! Portrait eines konservativen Schriftstellers“, in: Kraft, Thomas (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er Jahre, München: Piper 2000, S. 117-127, hier S. 121 f. 413 M. Biller: Deutschbuch, S. 307-331. 414 Ebd., S. 322. 415 Ebd., S. 315. 416 Ebd., S. 325.

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und Selbstgerechtigkeit sein, welches für Biller das Alleinstellungsmerkmal einer gelungenen, nach dem „handwerklichen Prinzip der ‚Moral‘“417 funktionierenden Literatur ist. Hier spricht Biller der deutschen Pop-Gegenwartsliteratur implizit Moralität ab und bläst damit nicht nur in das Horn einer redundanten Pop-Kritik, sondern redet zugleich auch den eigentlich von ihm verhöhnten 68er-Mei– nungsführern das Wort. Wie auch der Literatur der 68er-Generation, besonders der Väterliteratur, der sich Biller in seinem Erzählband Land der Väter und Verräter (1994)418 widmet, bescheinigt er der jungen Pop-Generation eine salopp als „schlapp“ bezeichnete literarische Qualität. Während Biller auf der einen Seite die Dauerthematisierung und moralisierende Dauerpräsentation der Vergangenheit moniert, fordert er sie für die Literatur doch auch andererseits ein und missachtet die natürliche Distanz sowie den weitgehend immanenten Moral- und Referenzverzicht, welchem sich die Pop-Autoren verschrieben haben. Doch nicht nur die Pop-Literaten kritisiert Biller. Zur Anklage der sozusagen ‚Schlappschwanzliteratur par excellence‘ macht Biller nicht vor großen Namen halt. Besonders der deutsche Schriftsteller Martin Walser, welcher Biller als Stereotyp deutscher Identität, der deutschen Intellektuellenriege und als „Vertreter der ‚Political Correctness‘“419 gilt, wird für Biller immer wieder zum Kristallisationspunkt und Stellvertreter seiner Kritik am deutschen Nachkriegs-Literaturbetrieb. Während Schüle die Medienschelte Walsers, die vor allem aus dessen ‚Friedenspreisrede‘ spricht, wenn auch nicht in ausschließlicher Befürwortung und unter der Herausnahme seiner Provokationsmittel, so aber doch in dessen Kernargumentation unterstützt und sie ihm zum Anlass seines eigenen Aufbegehrens gegen die diktierende Medienmacht geriert, wird Walser für Biller zum ‚Schriftsteller-Feindbild Nummer eins‘. Walsers verbalen Vorstöße gegen die ‚Dauerpräsentation der deutschen Schande‘ und die ‚Vernachlässigung des Nationalen‘ durch die ‚Last der Vergangenheit‘ urteilt Biller brüsk ab als: „wehleidige Selbstgerechtigkeit eines früheren Flakhelfers und späteren Nachkriegsintellektuellen, der es eines Tages nicht mehr aushielt, daß die historische Corporate Identity seines Landes im Vergleich mit der von Luxemburg oder San Marino gewisse moralische Makel aufwies.“420

Auch wenn schnell ein genereller Anlass der Kritik an Walsers ‚reißerischen‘ Wortwahl sowie seinen nicht zu verkennenden ‚Normalisierungswünschen‘ zu fin417 M. Biller: Deutschbuch, S. 326. 418 Biller, Maxim: Land der Väter und Verräter. Erzählungen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994. 419 M.N. Lorenz: Die Motive des Monsters, S. 121. 420 M. Biller: Deutschbuch, S. 31.

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den ist, die Verurteilung von Walsers Sprache und Rhetorik als u.a. „endlose Armes-Deutschland-Sprüche und Anti-Holocaust Reden“421 macht stutzig, auch da sich hier gewisse Ähnlichkeiten im rhetorischen Niveau von Biller und Walser auszeichnen lassen. Beide machen sich häufig mit einer schonungslosen Offenheit und einem regelrecht ‚militanten‘ Sarkasmus über die deutschen Aufarbeitungs- und Bewältigungsprozedere her. Die bekannte ‚Friedenspreisrede‘ sowie die brisanten Debatten im Umfeld seiner umstrittenen Essays oder des Romans Tod eines Kritikers (2002) sind trotz des höchst umfassenden und vielfältigen Werkes Martin Walsers Wahrzeichen geworden und bis heute geblieben. In der Rezeption Billers Werkes sind es ebenfalls dessen deutsch-jüdische Streitthemen und sein polemisches Vokabular, die gemeinhin hervorgehoben, gewürdigt oder kritisiert werden und Biller schließlich erst zu einer populären, öffentlichen Streitfigur im literarischen Diskurs gemacht haben. Während Walser sich laut Biller „mit Deutschland verwechselt“, sich als „Opfer und Objekt fremder Mächte und Interessen“ sieht,422 nimmt Biller selbst gleichsam allzu häufig die Rolle des vermeintlichen Gegenparts, des „Paradejuden“423 ein, dessen publizistisches wie auch persönliches Anliegen darauf gemünzt zu sein scheint, den Deutschen ihren unredlichen Umgang mit der eigenen Geschichte und mit den Minderheiten in ihrem Land, vor allem mit ‚den Juden‘, vorzuhalten. Das Walser durch Biller in den Mund gelegte Mantra „Wer bei sich ist […] kann nicht mit den anderen sein, der ist immer irgendwie gegen alle“424 , lässt sich ebenso gut auch auf Maxim Biller münzen, dessen überreizt polemische und konfliktgetragene Rhetorik ihn nicht selten als penetranten Einzelkämpfer charakterisiert. Billers Reden, Essays und Interviews weisen oftmals den Tenor einer „kritische[n] Predigt“ oder den Aufruf zur Empörung aus. „Irgend jemandem oder gleich allen die Leviten lesen“ – was hier der Charakterisierung Billers genügt, ist nun allerdings eine autoreflexive Selbsteinschätzung Martin Walsers aus dessen ‚Friedenspreisrede‘.425 3.3.3 Billers Inszenierungen Wie bereits an der Rhetorik und der Themenwahl der beiden Autoren deutlich gemacht, sind zwischen Walser und Biller rhetorische Parallelen markant, insbesondere in der Umkehrung ihrer Kritik am jeweils ‚anderen Part‘. So verweist Biller bei-

421 M. Biller: Deutschbuch, S. 31. 422 Ebd., S. 32. 423 „Mir sind die Paradejuden zuwider.“ George Tabori im Gespräch, In: Müller, André: ‚Ich habe mein Lachen verloren‘. Ein Gespräch mit George Tabori“, in: Die Zeit vom 06.05.1994. 424 M. Biller: Deutschbuch, S. 32 f. 425 M. Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, S. 9.

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spielsweise allzu gerne darauf, dass Walser dem Irrtum einer deutschen Opferidentifikation aufsitzt, die er auch noch öffentlich durch seine Reden vom armen Deutschland und der ungerechtfertigten Dauerbeschuldigung ausstellt. Für Maxim Biller ist seine eigene Opferidentifikation indes nicht diskutabel. Als Zehnjähriger in Deutschland bemerkte Biller nach eigenen Angaben sehr schnell die Vorteile einer Identifikation mit dem ‚Opfervolk‘ und den ‚Sonderstatus‘, der ihm allein aufgrund seiner jüdischen Herkunft zugetragen wurde. „Das Menschenlemmingleben als Emigrantenkind also und nicht als Holocaust-Überlebender: In Deutschland wurde ich als eine Art Staatsgast empfangen.“426 Heute behauptet Biller seinen ‚Sonderstatus‘ und inszeniert sich mit Vorliebe als Outsider, Störenfried und „Meinungswüterich“427, indem er die Originalität seiner Identität, seiner Herkunft und seiner Geschichte(n) proklamiert – wenn nicht anders möglich auch mithilfe einer durchschlagenden ‚K.O.-Argumentation‘. Solidarisieren kann sich Maxim Biller nur mit anderen ‚Deutschland-Opfern‘, wie z.B. mit den in Deutschland lebenden Türken, deren Literaten wie Feridun Zaimoglu er auch als positives Gegenbeispiel zu den „Papierleichen“428 der Schlappschwanzliteratur anführt. Um sich als Gegengewicht zu den von ihm kritisierten Deutschen zu inszenieren und zugleich seine gesellschaftliche Positionierung klar zu machen, bezeichnet er sich selbst als Teil der „Türken-Tschuschen-Negern“: „‚Integration bedeutet hineinwachsen in die deutsche Kultur und Gesellschaft‘ sagt einer von ihnen [den Deutschen – K.F.], worauf einer von den Türken-Tschuschen-Negern – nämlich ich – denken muß: Das also ist euer neuester Trick, um uns loszuwerden […]. Ihr denkt, ihr macht einfach aus uns euch, und wie kalt und egozentrisch und verlogen eure Motive sind, sieht man schon daran, daß die Argumente, die ihr für eure seltsame Alle-Menschen-werdenDeutsche-Anwandlungen vorbringt, in Wahrheit nur etwas mit euch zu tun haben, nicht mit uns.“429

Das Inszenieren der eigenen Person über das Spiel mit verzerrten, stereotypen Fremdzuschreibungen vereint in der Tat einige deutschsprachige Autoren mit türkischem und jüdischem Hintergrund. Die deutsch-türkischen und jüdisch-deutschen Autoren spielen im Deutschland-Diskurs mit ihren Identitätszuschreibungen, die sie in provokanter Überspitzung vor allem anhand von schlagwortartigen Selbstcharakterisierungen herausstellen und damit deren Umdeutung beabsichtigen. Während in diesem Sinne z.B. Zafer Senocak von „Durchschnittsdeutschen“ 430, Feridun Za426 M. Biller: Deutschbuch, S. 121. 427 H. Stein: Wie altmodisch, Herr Biller, S. 119. 428 M. Biller: Deutschbuch, S. 325. 429 M. Biller: Deutschbuch, S. 87. 430 Z. Senocak, Zafer: Der Nationalstaat und seine Einwanderer.

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imoglu vom ‚Alibi-‘‚ oder der deutsch-türkische Comedian Serdar Somuncu vom „Anti-Türken“431 spricht, kokettiert Maxim Biller vor allem mit seiner Zuschreibung als „gebrauchter Jude“, die er auch als Titel seines literarischen Selbstportraits verwendet. Besonders in diesem autobiographischen Text Der gebrauchte Jude setzt sich Maxim Biller mit seiner eigenen Identitätsproblematik auseinander und reflektiert dort auch sein Changieren zwischen deutscher und jüdischer Identität. Dabei sieht sich Biller, auch seine oben erwähnten Kindheitserfahrungen reflektierend, von den Deutschen in seiner jüdischen Identität ‚missbraucht‘. „Zuerst war ich der süße Jude, dann der kafkahafte junge Jude, dann der widerspenstige Jude, dann der destruktive Jude, dann der jüdische Jude. Sie sollten mir dankbar sein. Wüssten sie ohne mich, wer sie sind? […] Es hilft ihnen, nach sorglosen Jahrzehnten der Selbstverleugnung sie selbst zu sein. Ich bin also auch nur ein gebrauchter Jude.“432

Anhand der Phrase „Der gebrauchte Jude“ lassen sich Interpretationen von Billers Rolle im Deutschland-Diskurs anstellen. Zum einen wird er selbst immer wieder als ‚Vorzeigejude‘ in deutsch-jüdischen Kontexten ‚gebraucht‘ oder provokanter ausgedrückt ‚missbraucht‘. Dieses Bild des eloquenten und allzeit zur Provokation bereiten Juden ist von Biller wesentlich selbst inszeniert und wird durch seine öffentlichkeitswirksamen Polemiken immer wieder aufs Neue befeuert. Auf der anderen Seite stellt Biller ohne Zweifel einen ‚brauchbaren‘ Gegenpart dar, der besonders in der Konstellation von deutschen, jüdischen und deutsch-türkischen Autoren für identitäre ‚Ordnung‘ sorgt, ein ‚brauchbares‘ Ordnungssystem zurechtrückt. Billers Inszenierung von jüdischer Identität wird ‚gebraucht‘ oder ‚missbraucht‘, um die deutsche von ihr abzugrenzen, sie überhaupt erst als ‚deutsch‘ bestimmen zu können. Andererseits ist es auch genau umgekehrt so, dass Biller die deutsche Kontrastfolie benötigt. Durch die bewusste Gegenüberstellung ‚der jüdischen‘ und ‚der deutschen‘ Identität inszeniert Biller Unterschiede, welche eine Abgrenzung und damit auch die Ausrufung feindlicher bzw. zumindest konträrer Kollektivgruppen herausfordert und gleichwohl der eigenen Identifikation dient: „Merkte ich wirklich nicht, dass sich das Jüdische immer auch aus dem Gegensatz zum Nichtjüdischen, zum Antisemitismus, zu den Nazis definiert?“433. Die semantische Gleichsetzung vom ‚Nichtjüdischem‘ mit dem ‚Antisemitismus‘ und ‚den Nazis‘ ist an dieser Stel-

431 Somuncu, Serdar: Der Antitürke, Reinbeck: Rowohlt 2009. Zaimoglu, Feridun: „‚Viel später wird man dann die Skelette der Hunde in der Wüste zählen.‘ Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu zur Integrationsdebatte rund um Sarrazin“, in: Heise-Blog. Siehe: http://www.heise.de/tp-/blogs/6/148288 vom 06.10.2010. 432 M. Biller: Der gebrauchte Jude, S. 163. 433 Ebd., S. 19.

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le selbstverständlich eine dieser regelrecht unverfrorenen, provokanten Spitzen Billers, mit denen er sich bewusst im sarkastischen Grenzbereich positioniert. Um sich aber gleichwohl im gegenwärtigen Deutschland wie auch in seiner Rolle im deutschen Vergangenheitsdiskurs einzuordnen, braucht Biller offensichtlich zwingend die Negativfolie der Deutschen und dies – so scheint es – auf möglichst plakative Weise, durch die ihm die Inszenierung seiner Identität überhaupt erst möglich wird. Die pauschalisierende Rhetorik, die Zitation der Schlagworte ist dabei Billers Sprache im Deutschland-Diskurs. Biller fühlt sich auch von dem deutschen Literaturbetrieb, vor allem der Literaturkritik, ‚verfolgt‘ und als Jude und damit zugleich – erneut eine problematische Gleichsetzung – als ‚heißes Eisen‘ stigmatisiert. „Wenn der Spiegel vor einem jüdischen Thema Angst hat, schickt er dich [Henryk M. Broder] los. Hmm, denkt da einer in der Spiegel-Kulturredaktion, Der gebrauchte Jude, das neue Buch vom Biller, gefährlicher Titel. Das lassen wir lieber einen von denen erledigen, dann machen ‚wir‘ keinen Fehler.“434

Diese geradezu paranoide Hervorhebung seiner Stellung als Jude im öffentlichen und literarischen Diskurs trägt erheblich zu Billers ‚Freund-Feind-Schema‘ bei, welches aber in erster Linie eben ein von ihm selbst inszeniertes ist und in dem er sich selbst und seine vorgehaltene jüdische Identität fast schon als ‚geschützte Marke‘ produziert. Die dabei zugrunde liegende Absicht, eine „Gegen-Schrift zum deutsch-jüdischen Bewältigungsdiskurs“ zu verfassen und mit der „Kraft der Zuspitzung“ die „Öffnung des verstellten Wahrnehmungsfeldes“ zugunsten „neuer Denkräume jenseits der geschlossenen Kammern der Erinnerung“435 zu veranlassen, bleibt unter dem starken Inszenierungscharakter seines Schaffens allerdings oft blass und kommt über den Provokationsfaktor nicht hinaus. Wie sehr Biller auch den Charakter des „altmodischen, parodistischen, konservativen, untröstlichen Autor[en]“436 bedient, den er selbst eigentlich lieber Autorenfiguren wie Martin Walser zuschreiben möchte, zeigt sich in einer Begegnung zwischen ihm und Henryk M. Broder, welche das Süddeutsche-Zeitung-Magazin 2009 initiiert und begleitet hat. Dort stürzt sich Biller auf das Wort „ironiefrei“, welches Broder zu dessen Charakterisierung verwendet und versucht es in eine schier irrwitzige Bedeutungsanalogie zu dem Begriff ‚judenrein‘ zu stellen. Broder kommentiert: „Du bist ironiefrei. Dich haben die Deutschen wirklich vollkommen germanisiert.“ Maxim Biller erscheint vor allem dann, wenn er bei anderen, ‚feindlich‘ gesinnten Gegenübern ein politisch inkorrektes Verhalten oder eine entsprechend 434 Biller, in T. Haberl/E. Roll: Henryk M. Broder trifft Maxim Biller. 435 N.O. Eke: Was wollen Sie, S. 3. 436 H. Stein: Wie altmodisch, Herr Biller, S. 126.

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verdächtige Sprache unterstellen möchte, geradewegs selbst als ‚(selbst-)ironie– freier‘, absurder Verfechter einer abgetragenen Political Correctness. Zugleich ist er es ebenfalls selbst, der die Grundregeln politisch korrekten Sprechens bewusst verhöhnt und verletzt. Trotz Billers steter Bemühung um Avantgarde verfällt er dadurch nur allzu häufig in einen tatsächlich permanent aufklärerischen, geradezu konservativen Sprachduktus437 , der keinen Raum für eine neue Sprache zulässt. Obwohl Biller je nach Situation an beiden Generationen, der jungen jüdischen und der deutschen nicht-jüdischen partizipiert, sieht er sich – sozusagen wenn es hart auf hart kommt – doch zumeist klar in der Verantwortung und im Besitz der Deutungsmacht seiner jüdischen Herkunft, durch die auch sein Verhalten gegenüber Deutschland und dessen ‚Aufarbeitungskultur‘ bestimmt ist. Gänzlich uneingeschränkt scheint sich Biller dennoch mit keiner Seite identifizieren zu wollen. Die Pop-Generation ist ihm zu oberflächlich und kritiklos, die ‚Vergangenheitszitierer‘ sind gerade im Gegenteil zu sehr der NS-Vergangenheit ‚hörig‘. Seine jüdischen Mitmenschen erscheinen Biller nicht nur in seinen Texten häufig als überzogene Fratzen ihrer eigenen Klischees, wie er z.B. in einer seiner literarisch stärksten Erzählungen Harlem Holocaust aus seinem Erzählband Wenn ich einmal reich und tot bin (1990)438 als Abarbeiten an Klischees, Stereotypien und Vereinnahmungen und zur Aufdeckung einer absurden Opferempathie und „Trauerpolitik“439 vorführt. Seine Kritik an Deutschland, der deutschen Gesellschaft, der Politik, der Kultur und ihrer Schaffenden erscheint teilweise derart resolut und verbittert, dass ihr kaum jemand entkommen und niemand etwas entgegnen kann – die 68erGeneration ebenso wenig wie die junge Pop-Generation. Indem sich Biller auch als ‚moralischer Kompass‘ im Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur inszeniert, werden in seiner Argumentation sogleich aber auch Leerstellen und Ungereimtheiten erkennbar, da zwar ersichtlich wird, was er kritisiert, nicht aber was er alternativ entgegenzusetzen hat. Die größte Ambivalenz seiner Person besteht darin, dass Biller, der ein übermäßiges Moralisieren im deutschen Vergangenheitsdiskurs ablehnt, selbst auf Schritt und Tritt moralisiert. Das mehr opportunistische denn wirklich rebellische Aufbegehren gegen die deutsche Schriftstellerzunft sowie gegen die deutsche Gedenkkultur verweist auf den geradezu typisierenden Hang zur Generalkritik am Deutschland-Diskurs, der Biller als notorischen ‚Nörgler‘ zeigt. Mit seiner ‚aufmerksamkeitsökonomisch‘ dennoch sehr geschickt eingesetzten, provokanten Sprache, seiner Selbstinszenierung als Stimme der ‚kritischen Juden‘ und seinem ungeheuren Geltungsdrang knüpft Biller (unbewusst) ein Band zu den

437 Vgl. H. Stein: Wie altmodisch, Herr Biller. 438 Biller, Maxim: Wenn ich einmal reich und tot bin. Erzählungen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 89-144. 439 Vgl. N.O. Eke: Was wollen Sie, S. 94.

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Autoren der von ihm herabgestuften Popliteratur. In Vorwegnahme einer noch auszuführenden ‚Marken-Euphorie‘ und im Sinne der Inszenierung jüdischer Popkultur lässt sich sogar so weit gehen, Maxim Biller als „Marke des Jüdischen“440 zu beschreiben. Die Marke ist hierbei mehr als ein Merkmal und Alleinstellungsmerkmal, sondern der Versuch der Neukonnotation eines abgenutzten Sprachduktus. Billers schreibendes Alter Ego ist eine Kunstfigur im Spiel von Kunst, Öffentlichkeitsmarkt und Popularität, in welchem dieser die Rolle des übermütigen Deutschlandkritikers übernimmt. Die performative Substanz seiner Texte imitiert überdies den Pop-Modus, insbesondere hinsichtlich der onomatopoetischen Wortbedeutung als „Laut, Knall oder Zusammenstoß“441. Biller fordert im übertragenen Sinn den Zusammenprall, den Clash, geradezu heraus. In diesem Zusammenhang steht auch sein energisches Streiten, der mit so viel Energie und Leidenschaft heraufbeschwörte Zusammenprall mit Deutschland und ‚den Deutschen‘: Hier lässt es sich so schön streiten und der Widerhall des Knalls ist besonders laut zu hören. „Sowohl die Grenz- und Tabusetzung, als auch deren Überschreitung haben eine produktive Funktion […]. An der Setzung wie an der Auflösung von Tabus ist die Literatur entscheidend beteiligt. Die Überschreitung von Erzählkonventionen macht unsere blinden Flecken ebenso sichtbar wie die sensiblen Zonen der Kommunikationspartner im deutsch-jüdischen Dialog und ermöglicht erst die Formulierung neuer Erfahrungen.“442

Mit dem mutwilligen und insistierten Aufbrechen von sprachlichen Tabus, Regeln und Grenzen der Political Correctness im Überschreiben von Erzählkonventionen und vor allem in der Überzeichnung stereotyper Rede setzt Maxim Biller nicht zuletzt über das Provokationsmoment auch neue Energien für eine mögliche Neuverhandlung dogmatischer Begrifflichkeiten und Zuschreibungen frei, die es im Weiteren zu konkretisieren gilt.

440 Battegay, Casper: Judentum und Popkultur, Bielefeld: transcript 2012, S. 32. 441 Ernst, Thomas: Popliteratur, Hamburg: Rotbuch 2001, S. 7. 442 Dahlke, Birgit: „Lachverbote. Veränderte Erzählstrategien in Literatur und Film über den Massenmord an Juden“, in: Braun, Michael (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 69-84, hier S. 82.

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4. H OLOCAUST

UND

P OPKULTUR

4.1 Thematische Hinführung „Raus aus dem Wort-Knast.“ THOMAS MEINECKE/2 PLATENSPIELER, 1 MISCHPULT

„Raus aus dem Wort-Knast“ – mit diesem Imperativ Thomas Meineckes ist auch in Anlehnung an die zuvor vor allem durch Christian Schüle angeregte Diskussion um eine neue Sprache bereits pointiert, was hier unter dem Überbegriff ‚Holocaust und Popkultur‘ untersucht werden soll. Ziel dieses Kapitels ist nichts weniger als im ‚Pop‘-Modus eine Form des sprachlichen Auswegs aus dem ‚doktrinären‘, ‚eingesperrten‘ Holocaust-Sprachdiskurs aufzuzeigen und eine möglicherweise zeitgemäßere (Formen-)Sprache zu extrahieren, die nicht nur für den Alltagsgebrauch, sondern speziell auch für die Verhandlung von vergangenheitsrelevanten Themen im Sinne eines transformierten Gedächtnisparadigmas und neuer Erinnerungskulturen funktional ist. „In der Bundesrepublik war ‚deutsche Vergangenheit‘ ein Synonym für die Jahre 1933 bis 1945, allenfalls noch für die unmittelbare Nachkriegszeit. Alle veröffentlichte Erinnerung, selbst noch die der Nachgeborenen, blieb auf Nationalsozialismus, Krieg und Shoah bezogen und gewann aus diesem Bezug ihre Legitimität. Gegenwart hieß: nach Auschwitz – schlechte Zeiten für Pop.“443

Die Repräsentation von Holocaust und Nationalsozialismus in der Popliteratur ist bislang weder in der Popliteratur-Forschung, noch in der Forschung zu Erinnerungsliteratur ausreichend untersucht worden.444 Gleiches gilt auch für außerliterarische Formen und Formate der Popkultur, auf die in weiteren Analysen noch detailliert eingegangen wird. Diese Vernachlässigung des ‚Pop‘ im Holocaust-Diskurs mag zunächst einmal schlicht darauf zurückzuführen sein, dass der Popkultur gemeinhin die lebensbejahende Gegenwartsorientierung und die Beschäftigung mit vermeintlich ‚leichter Kost‘ zugeteilt wird, welche keineswegs auf Anhieb in Ein-

443 Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman: die neuen Archivisten, München: Beck 2002, S. 46. 444 Jüngste Ausnahmen bilden hier zum Beispiel die bereits erwähnten Sammelwerke: G. Paul/B. Schoßig: Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus und B. Korte/S. Paletschek: History Goes Pop.

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klang mit einer Auseinandersetzung und Repräsentation der traumatischen deutschen Vergangenheit und des Holocaust zu bringen ist. „ ,Pop‘ ist dann ein Text, in dem die Figuren über Popmusik sprechen, vielleicht sogar in einer Band spielen, auf jeden Fall gerne in Clubs rumhängen, womöglich Drogen nehmen und ausgiebig Sex haben, sich aber nicht für die deutsche Vergangenheit interessieren.“445

Popliteratur ist als – zugegeben phrasenhafte – Sujetbeschreibung einer jungen, politik- und geschichtsverdrossenen, marken- und selbstverliebten Generation zugleich als genaues Gegenteil von ‚klassischer‘ Holocaust- und Erinnerungsliteratur anzusehen. Trotzdem ist das Forschungsdesiderat hier zumindest bemerkenswert, da gerade in der jüngsten Gegenwart die Generation, die in der Popliteratur ihren exemplarischen Widerhall erfährt, nicht nur in unterschiedlichen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Bereichen an Bedeutung gewonnen hat, sondern auch bzw. vor allem im Bereich der Erinnerungskulturen und als Kategorie des Gedächtnisbegriffs. Für den Untersuchungsfokus dieser Arbeit gilt die Popliteratur als Generationstext, wodurch sie auch als Argument für das Ende der Nachkriegsliteratur bzw. als Teilantwort auf die Frage ‚Was kommt nach dem Familienroman?‘ fungieren kann. „Die deutsche Nachkriegsliteratur ist […] definitiv beendet […]. Erinnerungskultur und Gedächtnisorte avancieren vor dem Hintergrund des Kriegsendes vor 50 Jahren zum Thema von Talkshows und Symposien.“446

Einleitend soll im Folgenden ein kurzer allgemeiner Einstieg in das „PopPhänomen“447 gelingen, bevor mit dem „Pop-Paradigma“448, welches sich insbesondere für die Kultur- und Literaturwissenschaften in den letzten Jahren weisend gezeigt hat, auf das Kernthema ‚Holocaust und Popkultur‘ übergeleitet wird. Der Untersuchung von Holocaust und Popkultur liegen dabei zwei Herangehensweisen zugrunde. Zum einen zeigen die literaturwissenschaftlichen Kurzanalysen der Bei445 Schäfer, Jörgen: „‚Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit‘. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968“, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik, München: Edition text + kritik 2003, S. 7-26, hier S. 10. 446 T. Kraft: The show must go on, S. 11. 447 Unter den Begriff ‚Pop‘ beziehungsweise ‚Pop-Phänomen‘ werden in erster Linie gesellschaftliche, soziale und besonders kulturelle Beobachtungen und lebensweltliche Phänomene der Alltagsgegenwart gefasst. 448 Zur Theorie des Pop-Paradigmas für die Literaturwissenschaft siehe: Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen: Francke 2003, S. 282 ff.

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spieltexte Faserland von Christian Kracht und Generation Golf von Florian Illies die Implikationsmöglichkeiten von Holocaust-Narrativen im Genre der Popliteratur Zum anderen interessiert hier besonders das Social life of texts, also jene Bedeutung und Funktion von ‚Holocaust-und-Pop-Erzählungen‘ in aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Diskursen und in der Alltagsgegenwart, insbesondere in derjenigen der jungen Generation und für die Prozesse ihrer Erinnerungshandlungen. „Pop ist immer Transformation, im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten: Klassengrenzen, ethnische Grenzen oder kulturelle Grenzen.“449

Um die Transformationen von Kultur- und Gesellschaftsprozessen und die durch sie angeregte kritische Inbezugnahme der deutschen Vergangenheit offenzulegen, eignet sich die Popkultur durch den Inszenierungscharakter ihrer kulturellen Performanz im besonderen Maße. Schließlich darf dieses gesamte Kapitel auch als Einleitung zu den Analysekapiteln ‚Performances‘ und ‚Neue Medien‘ angesehen werden, in denen einige der hier grundgelegten Thesen diskutiert und an weiteren Beispielen (pop-)kultureller Erinnerungsformate exemplifiziert werden. Als durchgehende analytische Grundlinie wird im Zusammenhang von Popkultur und Holocaust die Frage nach Memorial Correctness eine konstante Relevanz erhalten. 4.2 Zum Pop-Phänomen in der Gegenwartskultur „Das Populäre. Was heißt denn das?“ RAINALD GOETZ/ABFALL FÜR ALLE

Nicht alles was populär ist, ist ‚Pop‘ und was als ‚Pop‘ zu bezeichnen ist, muss nicht gleichzeitig populärer Natur sein, sondern ist manchmal gerade nicht „der Masse gefallend“, wie die wörtliche Übersetzung von ‚Pop‘ meint, und stattdessen gerade polarisierend und streitbar. Pop ist vor allem eines: nie langweilig. „Pop darf nie langweilig werden und muss deshalb auch provozieren und schockieren, er soll aber auch unterhalten und sich verkaufen.“450 Dass der Begriff ‚Pop‘ ursprünglich aus dem Amerikanischen und der Musikwelt stammt und den Laut, „pop“ als „Zu-

449 Diederichsen, Diedrich: „Pop – deskriptiv – normativ – emphatisch“, in: Hartges, Marcel (Hg.): Pop, Technik, Poesie: die nächste Generation. Rowohlts Literaturmagazin 37 (1996), S. 36-44, hier S. 38. 450 C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 13.

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sammenstoß“ oder „Knall“ bezeichnet,451 ist in der heutigen inflationären Vereinnahmung des ‚Pops‘ als globales Kulturzeichen weitgehend in Vergessenheit geraten. Popkultur erfasst mit ihren Signifikationsprozessen heute schier sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Alltagslebens, ebenso aber auch Diskurse der Politik und der Wissenschaft. Dabei ist Pop, wenn auch nicht mehr ausschließlich, so doch in der ursächlichen Herkunft des Begriffs, ein Jugend-Phänomen, welches als Indikator für die Sozialisation und Identität der jungen Generationen gilt. Die Partizipation an Regeln, Codes und Medien der Popkultur zeigt sich an ihren alltäglichen Handlungsweisen besonders eindringlich und soll später u.a. an den Beispielen von Facebook und YouTube konkretisiert werden. Die Selbstzuschreibungen und Selbstinszenierungen der jungen Generation erfolgen heute zunehmend durch Lifestyle- und Markenaffinitäten, welche durch die mediale und vor allem visuelle Kultur sowie Alltagserfahrungen generiert werden. Identitätsbildung vollzieht sich im Reflexionsmodus des Pop über situative Selbstdarstellungen mit der Möglichkeit zur relativen Offenheit und Flexibilität.452 Derart wird die Ausbildung von (Generationen-)Identität zur variablen Größe, zum „Identitäts-Surfing“453 mit flüchtiger, spielerischer und vor allem nach außen getragener Pose. Die Grenzen und Kategorien wie ‚Herkunft‘, ‚Heimat‘ oder ‚Gedächtnis‘ lassen sich dabei zugunsten dynamischer Bewegungen und als Work in Progress auflösen. Die Lebensraum der jungen Generation, der „durch Flexibilität, Loslösen von festen Werten und Lebensentwürfen und Markierungen starker Brüche gekennzeichnet ist“454, bildet sich in der Popkultur exemplarisch ab. In seine soziologische Studie über die Gegenwartskultur der Gesellschaft hat Gerhard Schulze auch die Phänomene der Popkultur einbezogen. Neben der Definition der ‚Erlebnisgesellschaft‘ sind es in diesem Zusammenhang insbesondere seine Begriffsbestimmungen der ‚Spaßgesellschaft‘ und ‚Eventkultur‘, welche den abstrakten Pop-Begriff in kultursoziologische Zusammenhänge bringen und auf die hier im Fokus stehenden Lebensbedingungen der jungen Generation zuschneiden. ‚Spaß‘ wird zum exemplarischen Ausdruck der jungen Generation, die wie keine andere die Spaßgesellschaft inkorpiert und in dieser Art auch in der Literatur und

451 T. Ernst: Popliteratur, S. 7. 452 Vgl. Hepp, Andreas/Höhn, Marco/Vogelgesang, Waldemar: „Einleitung: Perspektiven einer Theorie populärer Events“, in: Hepp, Andreas/Höhn, Marco/Vogelgesang, Waldemar (Hg.): Populäre Events: Medienevents, Spielevents, Spaßevents, Wiesbaden: VS 2010, S. 7-37, hier S. 12. 453 Jankowski, Martin: „Tanz nach zwölf. Techno als Erscheinungsform Democratischer Decadance Reality“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), Heft 1, S. 28-42, hier S. 37. 454 Vgl. T. Ernst: Popliteratur, S. 71.

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weiteren kulturellen Formaten präsentiert wird – dies zumindest die weitgehend einhellige Meinung. Eine Prämisse der Spaßkultur ist ihr relativer Ausschluss von politischer Teilhabe und politischem Aktionismus, was jedoch nicht einzig als Ausdruck eines grundsätzlichen Desinteresses oder der Konfliktscheue gelten darf. Sie referiert vielmehr auf veränderte Bezugskomponenten, die sich in der durch sozialen und medialen Wandel bestimmten Gegenwart herausgebildet haben und die in dieser Weise identitätsstiftend sind. So bildet den Referenzpunkt für die Ausbildung von Gruppenidentität und historisch-politischem Bewusstsein in der Erlebnis/Spaßgesellschaft weniger die übereinstimmende politische Einstellung als vielmehr gemeinsame Interessen wie ein bestimmter Musik- oder Modegeschmack. Dazu, ‚zur Szene‘, gehört, wer das Zeichen- und Codesystem beherrscht, sich also durch Kleidung, Musikgeschmack, Mediennutzung oder Sprechweisen ‚pop-konform‘ gibt und auf diese Weise mitreden kann. An die Stelle der historischen Zäsuren setzen sich lebensweltliche Bezugsgrößen, welche auch die Verortung der Generation im Generationengefüge übernehmen.455 Mit der Spezifikation der Zeichen forciert die junge Generation die notwendige Abgrenzung zu anderen Personengruppen und Generationen, die ihre zentralen Inhalte nicht decodieren können. Moritz Baßler erklärt das identitätsbestimmende Zeichensystem gar zum „Pop-Paradigma“, dem sich neue Werte unterordnen. Die „folkloristische Umdeutung“456 materieller Gegenstände in geradezu ideologisch aufgewertete Statussymbole gewährt nicht nur einen generationstypischen Lifestyle, sondern überhaupt auch erst den Einlass in die Generationengemeinschaft. Die im weitesten Sinne äußerlichen Körperzeichen sind „Ausdruck, Instrument und Ergebnis sozialer Orientierung“457 und gestatten dadurch auch den Zugang zu bestimmten Szenen und Milieus. Neben den materiellen Gütern und äußeren Statussymbolen dient darüber hinaus auch der eigene Körper als Ausstellungsfläche und Identitätsmarker. Das Repertoire an Identifikationsobjekten oder gemeinschaftsstiftenden Handlungen wird um ästhetische Phänomene wie z.B. (Körper-)Schmuck, Frisuren, Tätowierungen oder (Körper-)Inszenierungen wie Tanzstil und Partykultur erweitert, welche nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl der Mitglieder einer Gruppe stärken, sondern sogleich auch optisch als Abtrennung zu anderen Gruppen wirksam sind.458 In dieser Form folgen auch aktuelle Popphänomene zu einem hohen Maß rituellen Partizipationsweisen von Gruppendynamik bis hin zum sakralen Kultus. Als eine Art „Religionsersatz“ können

455 Vgl. U. Jureit: Generationenforschung, S. 96 f. 456 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 99. 457 Soeffner, Hans-Georg: Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 78. 458 Vgl. C. Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung, S. 248 ff.

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Produkte oder Verhaltensweisen der Popkultur gar als „quasi heilige Gegenstände“ wahrgenommen werden.459 Die ‚geheiligte‘ Inanspruchnahme von Zeichen und Relikten der Popkultur sowie ihr z.T. andachtsvolles Archivieren stellt eine Verbindung zu Aneignungen historischer Relikte und Narrative und ihrem Archivierungszwang her. Einst als Emblem der Einzigartigkeit im kulturellen Feld eingeführt, ist Pop heute zum gesamt-gesellschaftlichen Zeichen einer pluralisierten und immer unübersichtlicheren westlichen Gesellschaft avanciert.460 Pop ist nicht nur ein kulturelles Phänomen sondern vor allem ein ausdrücklich kollektives, was bereits aus seiner morphologischen Bedeutung hervorgeht. Als Populärkultur intendiert ist Kollektivität und kollektive Teilhabe der Ausgangspunkt für ein beobachtbares PopPhänomen. Pop entwächst nicht einer autonomen Erfahrung, sondern entsteht im geteilten, kollektiven Erleben.461 Der Wandel der Gegenwart durch den Einfluss der Popkultur nimmt auch auf sprachliche Modi Einfluss, deren Charakter vor allem Pluralität und Diversifikation erfährt und sich durch medienaffine Beschreibungsmuster charakterisieren lässt. Entsprechende Begriffe sind jene, die z.B. eine Durchmischung, Verknüpfung oder ein Überlappen kennzeichnen, wie das ‚Mixen‘, ‚Sampling‘, ‚Scratching‘ etc. Diese Beschreibungsmerkmale sind auch Indikatoren von Beschleunigungen, Dynamik, Wandelbarkeit und Heterogenität und damit zugleich Spiegelungen des sichtbaren sozial-gesellschaftlichen und medialen Wandels. Mediale Durchkreuzungen und kulturelle Vielfalt, die unter dem Pop-Begriff subsummiert werden können, verweisen auf eine allgegenwärtige Machart „in der Art eines Crossover“462. Diese Verund Durchmischung wird besonders in den sogenannten ‚Crossover-Medien‘ wie den Neuen Medien oder Performances deutlich, denen Inszenierungen aus Sprache, Bild und Bewegung zu Eigen sind. Pop steht außerdem wesentlich für die Transformation von Kulturprozessen und befördert und beschleunigt diese zugleich. Damit sind Popkultur, Pop-Medien und Popliteratur als Indikatoren für den kulturellen Wandel und das Social life of texts in besonderem Maße funktional.

459 C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 75. 460 Diederichsen, Diedrich: „Ist was Pop?“ in: Diederichsen, Diedrich (Hg.): Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 272286. 461 Vgl. Gamper, Michael: „Phänomen ‚Masse‘ und Medium ‚Literatur‘. Eine Konstellation bei Goetz, Jelinek und Sleef“, in: Caduff, Corina/Vedder, Ulrike (Hg.): Chiffre 2000 – neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur, München: Wilhelm Fink 2005, S. 123-141, hier S. 128 f. 462 G.A. Höfler: Sampling, S. 251.

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4.3 Popliteratur als Generationenroman An dieser Stelle erfolgt keine einschlägige Definition des Genres ‚Popliteratur‘. Es soll im Folgenden auch weniger um die literaturwissenschaftliche Detailanalyse denn um die Einbettung von Popkultur im Kontext der Erinnerungskultur des Holocaust gehen. Darüber hinaus verhält es sich mit der Popliteratur ähnlich wie mit dem Familienroman: Sie wurde in der Vergangenheit oft ‚über-analysiert‘, definiert und schematisiert.463 Zum Popliteratur-Genre als eines der jüngeren in der deutschen Gegenwartsliteratur gibt es mittlerweile eine Fülle einschlägiger Theorien und Modelle sowie Einzelanalysen und Überblicksdarstellungen zum PopPhänomen in der Literatur.464 Für die Fragestellungen dieser Arbeit von Interesse sind nun besonders das spezifische Generationenbild, welches in den Texten gezeichnet wird, die darin zu verortende Bedeutung der deutschen Vergangenheit, die Kategorien Kultur, Öffentlichkeit und Medien, zumal in ihrer Verformung als (ironisierte) Anti- oder „Verfallskultur“465 sowie insbesondere die spezifische PopSprache. „Popular culture is made by the people.“466 Der Pop-Roman ist in erster Linie ein Produkt ‚seiner‘ Generation: ein Generationenroman, der die „totale Gegenwart“467 abbildet und besonders die Lebensbedingungen der jungen Generation reflektiert, in denen immer weniger die Familie und immer mehr die Generation eine Rolle spielt. Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim hat Ende der 1990er Jahre die Frage nach möglichen Nachfolgemodellen für das Konzept der Familie gestellt – „Was kommt nach der Familie?“ – und erkannt, dass viele in diesem Zusammenhang stehende Modelle, Kategorien und Begriffe „das Lebensgefühl und

463 In eine ähnliche Richtung argumentiert u.a.: Jung, Thomas: „Von Pop international zu Tristesse Royal. Die Popliteratur zwischen Kommerz und postmoderner Beliebigkeit“, in: Jung, Thomas (Hg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2002, S. 29-55, hier vor allem S. 49 ff. 464 Jüngstes ‚Mammutwerk‘ zum Pop-Konzept: Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld: transcript 2009. Das Standwerk für die Literaturwissenschaft ist: M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman. 465 Siemes, Isabelle: „Pop-Literatur und Jugendkultur in der Mediengesellschaft. Eine Generation, die ihr Leben als Zitat der 80er-Jahre-Show empfindet“, in: Kammler, Clemens/Pflugmacher, Torsten (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg: Synchron 2004, S. 173-183, hier S. 176. 466 Fiske, John: Understanding Popular Culture, Boston: Unwin Hyman 1989, S. 25. 467 Meinecke, Thomas: „From A to B and back again. Über Andy Warhol“, in: Frankfurter Rundschau vom 25.11.1998.

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die Lebenswirklichkeit der jüngeren Generation nicht mehr abbilden“, „die Begriffe nicht mehr stimmen“.468 Ersetzt die Generation mit ihren Identifikations- und Inszenierungsmerkmalen auch den (literarischen) Stellenwert der Familie? Findet hier ein Paradigmenwechsel statt, der sich ausgehend von dem gesellschaftlichen Wandel auch in der Literatur niederschlägt? Wird der Pop-Roman an die Analysekategorie der Generation gebunden und damit funktional dem Begriff des Generationenromans gleichgesetzt, während der Familienroman an die Deutungsinstanz der Familie orientiert bleibt, dann erfolgt zumindest eine Verschiebung der zugrunde liegenden Analysekategorien. Es darf also nicht unbedingt als Zufall gelten, dass sich im gleichen Zeitraum ausgiebiger soziologischer Untersuchungen zu der Zukunft der Familie in den 1990er Jahren auch die Generation als Protagonist in den Popund Generationenromanen behauptete. Im Generationen- oder Pop-Roman wird zu dem Perspektivwechsel nun auch ein neues kulturelles Setting aufgebaut, in dem schließlich ein anderes Wertesystem eingefordert wird, welches die identifikatorische Nähe und Bindung zur (ideologischen) Familie aufzulösen vermag. An die Stelle der Familie und ihrer Identifikationsmerkmale treten so für den Ich-Erzähler in der Popliteratur zunehmend die Merkmale der eigenen Generation, ihre Werte, Ideale und Vorbilder. Die Teilhabe an der Erzählgemeinschaft der PopGeneration und ihrer Deutungssicht wird aber nicht nur durch das erwähnte Dekodieren von Codes, sondern auch durch einen neuen Eifer am Archivieren geleistet. Im Archivieren wird sinnhaft Aufgeladenes wie auf einer Liste abgehakt, inventarisiert, zitiert, kopiert, protokolliert und schließlich archiviert. Der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler nennt in diesem Sinne die Pop-Autoren auch „die neuen Archivisten“469 . Die entstehende literarisierte Liste bildet ein neues strukturelles, paradigmatisches Ordnungs- und Orientierungssystem gegen die chaotischen Zustände der sich permanent wandelnden Alltagsgegenwart. Hier wird alles aufgelistet oder „durchgecheckt“470 und mit Bedeutung aufgeladen, was bisher außerhalb des traditionellen Hochkultur-Kanons stand und nun auf einer neuen Pop-Liste seinen Platz findet: „Das sind Fischstäbchen. Das sind Drogentote. Das ist eine Hämorrhoide. Das ist ein Herz-für-Tiere-Aufkleber. Das ist das Ozonloch. Das ist Gott, und das ist Godzilla.“471 Das narratologische ‚Inventurmachen‘ erinnert markanter Weise an das inventarisierende Aufzählen, die Bestandsaufnahme der nach dem Zwei-

468 Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, München: Beck 1998, S. 10. 469 Siehe M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman. 470 Winkels, Hubert: Gute Zeichen: Deutsche Literatur 1995-2005, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 373. 471 Schamp, Matthias: „Das letzte der großen Gefühle“, in: Link, Heiner (Hg.): TrashPiloten, Leipzig: Reclam 1997, S. 19.

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ten Weltkrieg zurückbehaltenen Habseligkeiten und an Günter Eichs Nachkriegsgedicht Inventur (1947): „Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen.“472

In der Popliteratur sind es nicht die Überlebenswerkzeuge und letzten Habseligkeiten der Nachkriegsgeneration, die trotz ihrer eigentlichen Gewöhnlichkeit als besonders erwähnenswerte Kostbarkeiten akribisch aufgezählt werden, sondern die Markenprodukte und Merkmale der Konsumgeneration, die von allem zu viel hat. Das literarische Auflisten verlangt nach einem anderen Erzählverfahren als dem linearen Erzählen, wie es sich u.a. für die Familienromane strukturgebend zeigt. Das Erzählen im Zeichen des Pops ist im Gegensatz zum ‚großen Geschichtenerzählen‘ vielmehr ein ‚Dahinplappern‘ und verläuft damit fernab einer Wiedergeburt des Erzählens. „Was die reine Narration angeht, ist diese Literatur [die Popliteratur] eher schwach auf der Brust.“473 Für die semantische Verbindung mit HolocaustNarrativen lässt sich in der literarischen Verfahrensweise des ‚Abcheckens‘ und ‚Plapperns‘ jedoch möglicherweise nicht nur Problematisches, sondern ein Hinweis auf die bereits zur Disposition gestellte Abkehr vom geschlossenen MasterNarrativ in neue Erzählstrategien finden, nach dem Motto: „Von den Zwängen der Nachkriegsliteratur […] zu den Freuden des popkulturellen Archivs“474 . Die Popliteratur arbeitet mit Effekten des Samplings oder Collagierens, um neue Erzählzusammenhänge zu akkumulieren. Diese Machart popkultureller Texte ermöglicht es nicht nur in die Alltagsgegenwart des Erzählers einzutauchen, sondern auch in meist unterschwellig intendierte komplexe Problemfelder und damit auch in die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Das Einsammeln und Archivieren wird unter dieser Prämisse zur herausragenden Eigenschaft, da nicht nur vordergründig Alltägliches eingesammelt, sondern sogleich auch Tiefenstrukturelles mit reflektiert wird. Neben den markanten Zeichen und aktuellen Trends der Gegenwart sind demnach auch Erinnerungen und der Blick zurück in die Vergangenheit im Poptext grundsätzlich möglich.475 Die ‚Fundstücke‘, die in einem solchen Prozess des Archivierens mit Bedeutung aufgeladen werden, sind im Pop-

472 Eich, Günter: „Inventur“, in: Eich, Günter: Abgelegene Gehöfte, Frankfurt a.M.: Schauer 1948, S. 38-39. 473 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 186. 474 Ebd., S. 187. 475 Vgl. T. Ernst: Popliteratur, S. 62.

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Roman aber eben nicht primär solche aus der Vergangenheit, wie dies in den Familienromanen zuhauf der Fall ist, sie werden vielmehr direkt aus der Alltagsgegenwart entlehnt. „Als ob sie die Versäumnisse einer Nachkriegsliteratur, die sich an anderen Problemen abgearbeitet hatte, nachholen wollten, archivieren ihre Bücher [die Bücher der Pop-Literaten – K.F.] in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur.“476

Häufig sind es in diesem Verfahren die zwar banalen, aber geradezu ideologisch aufgewerteten Erinnerungsstücke wie ein Kleidungsstück, ein Nahrungsmittel oder ein Musiktitel, die an vergangene Ereignisse erinnern und nachträglich sinnstiftend aufgeladen werden. Diese Gegenstände, Personen, Musik oder Literatur erhalten nicht nur für den Einzelnen einen besonderen Stellenwert, sie werden durch soziale Aneignungsprozesse zu Identitätsfaktoren der Generation Pop. Durch die Montage von Alltagsgegenständen sowie Marken- und Medienfetischismus bilden popliterarische Texte kulturelle und sozial-gesellschaftliche Generationssujets ab und modellieren „ein Sittenbild unserer Gesellschaft“477, welches hier zu der Weltkonsumgesellschaft in Beziehung gesetzt werden kann und zugleich den Pop-Kritikern eine große Angriffsfläche bietet. Während sich Inhalte wie Formen der Popliteratur zunehmend ausdifferenzieren, bleibt die Kritik an ihr mit Begriffen wie ‚Entleerung‘, ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Hedonismus‘ im Wesentlichen auf die immer gleichen Aspekte einer unterstellten Kultur der Oberflächlichkeit reduziert. Mit dem Merkmal ‚Pop‘ wird in der allgemeinen Wahrnehmung des Begriffs oft ein eher niedrigeres, leichteres kulturelles Niveau assoziiert, welches sich in Konkurrenz zu der oppositionell arrangierten ‚Hochkultur‘ besonders dem Unterhaltungssegment zuweisen lässt. Nach diesem Ansatz stellt sich die populäre Kultur entgegen der Hochkultur als „Massen- und Alltagskultur“478 dar. Popliteratur steht demnach mit all ihren Merkmalen im Gegensatz zur ‚wahren Literatur‘, die sich nicht nur durch Ernsthaftigkeit, sondern auch durch Dauer, Innehalten und Reflexion auszeichnet und damit keinesfalls die Kriterien des schnellen Konsumierens, schon gar nicht von den Nichtigkeiten des Alltags, erfüllt, welche die Popliteratur hortet.479 Diese grundsätzliche Trennung von hoher, ernsthafter Kultur und Literatur entgegen der niedrigen lässt sich zwar mitunter im Zuge der florierenden Cultural Studies nicht aufrechterhalten; die Kul476 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 184. 477 Bessing, Joachim: „Vorwort“, in: Bessing, Joachim/Kracht, Christian/Nickel, Eckhart/von Schönburg, Alexander/von Stuckrad-Barre, Benjamin: Tristesse Royale: das popkulturelle Quintett, Berlin: Ullstein 1999, S. 11. 478 T. Ernst: Popliteratur, S. 9. 479 Vgl. E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 39.

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turen-Trennung ist heute dennoch in weiten Teilen der Gesellschaft sowie auch in wissenschaftlichen Diskursen vertreten. Dabei lässt sich gerade auch zeigen, dass die Pop-Autoren indes selbst einen (Um-)Weg aus dem vermeintlichen ‚Kanonzwang‘ der Hochkultur, zu der sie allzu häufig in Opposition gestellt werden, wählen, indem sie (hoch-)kulturelle Zeichen und Signifikanten überlagern, verfremden und umcodieren und sich damit der „Kontrolle“ durch die Kulturindustrie weitgehend entziehen480 oder aber gleich andere Medienformate wählen. Neben der generellen Kritik an der Popliteratur schlagen in ihrer Verbindung mit Holocaust-Narrativen die Wogen der Empörung noch einmal um einiges höher. Die Möglichkeit, dass sich beide Themenbereiche – Pop-Lebensart, mit allem was vor allem auch klischeebehaftet dazu gehört wie z.B. Sexualität, Drogenkonsum, Techno-Musik etc. und die ernsthafte Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit – sinnstiftend in dieser literarischer Form verhandeln ließen, erweckt zunächst den kaum verleugbaren Verdacht der Unmöglichkeit. Mit nüchternem Blick und erneut mit dem Fokus auf jene junge Generation sowie auf die bereits in Gang gesetzten kulturellen Transformationsprozesse und den bevorstehenden Paradigmen- und Generationswechsel kann diese Möglichkeit jedoch zumindest in Erwägung gezogen werden, denn: „die dritte Nachkriegsgeneration klappt das Große Buch der Geschichte jetzt einfach zu […] keine Schatten, keine Tiefe, keine Details. Die Väter und Mütter sind irgendwie abhanden gekommen. Auch von der Weltgeschichte ist nichts mehr übrig […] nichts erfinden, nichts verbessern, nichts entlarven, niemanden entblößen. Sie hat keine Absichten und Ansichten mehr […] will keine epochalen Werke mehr schreiben, und das gerade ist ihre Stärke. Wie es aussieht, schlägt sie im Buch der Literaturgeschichte ein neues Kapitel auf, ohne Last, ohne Begrenzung, ohne Verpflichtung – so frei, wie die Kunst immer sein wollte und wie sie es selten war.“481

Mit den Pop-Autoren und ihren Protagonisten und Adressaten aus der dritten, vierten, der jungen Generation, verortet sich eine Generation im literarischen Diskurs, welche sich als erste Generation „ohne Last, ohne Begrenzung, ohne Verpflichtung“ aus den von Christian Schüle benannten „Fängen der zweifachen Schuld“ befreien kann. Bei aller im Vordergrund der literarischen Variation befindlichen Gegenwartsfixierung haben aber auch die Poptexte die Heimat Deutschland, deren Vergangenheit und ihre historische Bürde und Identität mit im Blick. Indem hier nun eine starke Verbindung mit der Gegenwart und ihren unzweifelhaft bestehenden Pop-Elementen eingegangen wird, lässt sich mit Fokus auf die liminale Situati-

480 Vgl. J. Schäfer: Neue Mitteilungen, S. 15. 481 I. Radisch: Die Zweite Stunde Null.

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on der Generation und die in Frage stehende (erinnerungs-)kulturelle Transformation eine neue Chance oder auch nur eine natürliche Konsequenz in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit markieren: „Gerade die ernsten und großen Themen der Kultur- und Zeitgeschichte, nämlich die Sinnfrage angesichts einer undurchsichtigen und zufällig erscheinenden Welt und die Erinnerung an die Shoah, [werden] in der Popkultur neue Formen finden.“482

Möglicherweise findet sich gar über die Erschreibung der Gegenwart auf deren Rückseite die Möglichkeit, Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig zu klären, wie oben von Schüle und Biller eingefordert und u.a. von Senocak als Problem erfasst. Mehr noch, es wird mit der (literarisierten) Pop-Sprache als neue „kleine Sprache“ ein „Ausweg für die Sprache, […] für das Schreiben“483 aus den strengen Grenzen der Political Correctness ausgewiesen. „Nun, […] da zudem die Vergangenheit auch biologisch aufhört, präsent zu sein, und in einer Zeit, in der manch deutscher Politiker und Intellektueller nach dem ‚Schlußstrich‘ unter diesem Kapitel deutscher Geschichte gerufen haben, da sind die Jüngeren nun aus den moralischen Vorgaben entlassen und damit frei, sich von der belastenden Geschichte abzuwenden.“484

Während die Mehrheit der Pop-Kritiker eine ‚moralische Entlassung‘ und geradezu pathologische ‚Abwendung‘ der Jüngeren von der Holocaust- und NS-Thematik erkennt, finden auch in der Popliteratur respektive Popkultur Verhandlungen von Vergangenheit statt, deren Kontext gerade Anlass für Erinnerungshandlungen bietet und einen neuen Beitrag zu der Erinnerungskultur leisten kann. In der Popliteratur und dem Generationenroman haben wir es nur mit einer scheinbaren Oberflächlichkeit zu tun, da die Texte auf „veränderte Verhältnisse und Konstruktionsprinzipien“485 Bezug nehmend neue Formen von gesellschaftlichen Erinnerungshandlungen erzeugen können. Im Folgenden sollen nun zwei kurze exemplarisch angerissene Beispiele die Verhandlung von Holocaust- und Vergangenheitsnarrativen in der Popliteratur illustrieren, bevor ihre Kernpunkte in den beiden sich anschließenden Kapiteln zusammengeführt und noch einmal verdichtet werden. Literarische Schlaglichter sind 482 C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 20. 483 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur (1975). Übersetzt von Burkhart Kroeber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 38. 484 T. Jung: Trash, Cash oder Chaos, S. 19 f. 485 Vgl. Leggewie, Claus: Die 89er. Portrait einer Generation, Hamburg: Hoffmann und Campe 1995, S. 302.

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zwei kanonische Texte von zwei ebenso bekannten Autoren: Faserland von Christian Kracht und Generation Golf von Florian Illies. Da es in diesem Kapitel wie auch schon zuvor bei Maxim Biller nicht auf die Deklarierung der Texte als Novi ihres Genres ankommt, sondern hier besonders ihrer Diskursaktivität im Mittelpunkt steht, ist die Textauswahl trotz ihres älteren Datums und ihrem Klassikerstatus gleichwohl geeignet. Auch spielt die Autorenidentität keine unwesentliche Rolle, da Kracht und Illies einer Autorengeneration angehören, die autoreflexiv mit den Themen ihrer Prosa umgehen und sich außerdem schon allein von journalistischen Berufswegen her als kritische Geister und Sprachrohre ihrer Generation inszenieren bzw. sich als solche inszenieren lassen und in dieser Eigenschaft auch als ‚Ergänzungen‘ zu Christian Schüle und Maxim Biller betrachtet werden können. Dies gilt besonders für Christian Kracht, dessen jüngster Roman Imperium (2011) erst kürzlich wieder für einen enormen Wirbel um seine Person gesorgt hat.486 4.3.1 Christian Krachts Faserland Christian Krachts Roman Faserland gilt als der „historische Roman“487 der deutschen Popliteratur und markiert zugleich den Wendepunkt, das „Ende der Nachkriegsliteratur“.488 Um das Jahr 1995 galt schließlich der allgemeine literaturkritische Tenor, dass von der deutschen (Nachkriegs-)Literatur nichts Neues zu erwarten sei. Sigrid Löfflers bereits erwähntes Zitat vom „bequemen, abgetragenen Pullover“ beschreibt diesen Zustand sehr bezeichnend. Zu dieser Zeit erlebte der Familienroman als Genre der Erinnerungsliteratur den quantitativen Höhepunkt der Veröffentlichungen. In den gleichen Zeitraum fällt aber auch die ‚Entdeckung‘ des deutschen Pop-Romans, der sehr schnell seinerseits Popularität behauptete, so dass mit Krachts Faserland nicht nur ein Kontrapunkt gesetzt, sondern auch die Entwicklungsstufe ‚nach dem Familienroman‘ markiert werden kann.

486 Christian Krachts Roman Imperium, in dem es um die Geschichte des Aussteigers August Engelhardts geht, wurde vom Spiegel-Redakteur Georg Diez als „durchdrungen von einer rassistischen Weltsicht“ bezeichnet und der Autor selbst als „Türsteher rechten Gedankenguts“. Daraufhin entfachte sich eine Debatte um Christian Kracht und seine, auch in früheren Romanen, so auch in Faserland, möglicherweise deutsch-nationale rechte Haltung. Kracht bliebt auch in diesem Streit um seine Person seiner Inszenierung als „unnahbarer, arroganter Dandy“ treu. Zu Zusammenfassung der Debatte siehe: http:// www.spiegel.de/thema/christian_kracht/ vom 12.06.2012. 487 M. Baßler: der deutsche Pop-Roman, S. 110. 488 Vgl. auch Beuse, Stefan: „‚154 schöne weiße leere Blätter‘. Christian Krachts ‚Faserland‘ (1995)“, in: Freund, Wieland/Freund, Winfried (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart, München: Wilhelm Fink 2001, S. 150-156, hier S. 150.

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In der Rahmenhandlung Faserlands unternimmt Krachts namenloser Protagonist und Ich-Erzähler eine Reise durch Deutschland, beginnend im Norden auf Sylt und nach Zwischenstationen in Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und dem Bodensee beendend in der Schweiz. Auf der Folie dieser Reisebeschreibung versucht sich der Autor Kracht dabei an einer Art Sozialstudie, die er als „Nacherzählen popkulturell geprägter Sozialisationsmuster“489 durch seinen Protagonisten ausführen lässt. Der Protagonist selbst reflektiert zugleich in der Figurenrede seine eigene, überwiegend naive Sicht auf die Jugend- und Kulturszene Deutschlands, ihre Codes und Stereotypen. Das Reisemotiv, welches die literarische Handlungsstruktur ebenso ausmacht wie den Entwicklungsprozess der Hauptfigur, markiert hier das literarische Schreibverfahren und ist sogleich Auslöser der DeutschlandReflexion. Das Reisen bezeichnet für den Protagonisten in Faserland einen Übergang und Zustand der Rastlosigkeit. Angetrieben von der Ablehnung seiner gegenwärtigen Lebenssituation in seiner Heimat tritt er seine Reise ins Unbekannte und zugleich hoffnungsvoll Zukünftige an. Da er in keiner seiner Zwischenstationen länger verweilt, bleibt der Reisezustand sein temporäres Zuhause und während er gegenüber der alten Heimat zunehmend Unbehagen entwickelt, wählt der Protagonist in der Reise eine hybride Umgebung.490 Die Gedanken und inneren Monologe des Ich-Erzählers erscheinen zunächst von völlig belangloser Natur und bedienen geradezu typisch die an die Popliteratur gerichtete ‚Nonsens-Unterstellung‘. Auch die Reise ist in der Aufwartung banaler Argumente zunächst keinem persönlichen Erkenntnisinteresse geschuldet, sondern das Unterwegssein, die Fortbewegung wird als „Ereignis“ begriffen491 oder durch die Begleitung utopischer Vorstellungen karikiert, z.B. wenn der Erzähler sich als Reiseziel die kitschige, utopische Idylle herbeisehnt: „Und dann würde ich mit den Kindern Ausflüge machen bis an die Baumgrenze, […] und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. […] Ich hätte immer recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr. Dann hätte es auch einen Sinn gehabt, sich alles zu merken.“492

Nach dieser pseudo-philosophischen Ausschweifung verfällt der Erzähler sogleich wieder in das bestimmende oberflächlich-naive Sampling der Erzählsprache, in der sich nun zunehmend das Vermischen von Gegenwarts- und Vergangenheitsrhetorik als charakteristisch abzeichnet. 489 E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 10. 490 Grabienski, Olaf/Huber, Till/Thon, Jan-Noёl: „Auslotung der Oberfläche“ in: Grabienski, Olaf/Huber, Till/Thon, Jan- Noёl (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, Berlin: De Gruyter 2011, S. 1-13, hier S. 8. 491 G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 428. 492 C. Kracht: Faserland, S. 152.

154 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST „Von Deutschen würde ich erzählen, von den Nationalsozialisten mit ihren sauber ausrasierten Nacken, von Raketen-Konstrukteuren, die Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer weißen Kittel stecken haben, fein aufgereiht. Ich würde erzählen von den Selektierern an der Rampe, von den Geschäftsleuten mit ihren schlecht sitzenden Anzügen.“493

Am Ende dieser Aufzählungen, in die er NS-Vergangenheit und Gegenwart ineinander montiert, resümiert der Erzähler dann jedoch in einer für seine Figurenzeichnung anspruchsvollen Reflexion: „Das wäre alles eigentlich auch etwas, das der Vergangenheit angehören würde, dieses Erzählen da oben am Bergsee. Vielleicht bräuchte ich das alles nicht zu erzählen, weil es die große Maschine ja nicht mehr geben würde.“494 Neben den literarischen Motiven der Reise und des Rückzugs in die Idylle wird hier der Wunsch des Protagonisten nach einem Leben ohne die ‚belastete deutsche Geschichte‘ deutlich; nicht durch einen Schlussstrich veranlasst, sondern durch den Verweis, dass die belastenden Erinnerungen und ihr semantischer Rahmen nun wirklich und ausschließlich ‚der Vergangenheit angehören‘. Trotz der vordergründigen Verhandlung anderer, popkultureller, Themen, haben einige Rezensenten auch explizit auf die Gedächtnis- und Erinnerungsthemen in Faserland verwiesen.495 Dieser Richtung ist nur eingeschränkt zu folgen, da es vielmehr vorrangig darum geht, literarisch inszenierte Erinnerungshandlungen außerhalb der gedächtnisparadigmatischen Konstellationen ausfindig zu machen. Die Vermischung von expressivem Gegenwarts- und repressiv mit verhandeltem Vergangenheitsdiskurs ist dabei besonders von Interesse. In Faserland lässt sich die Ineinanderführung von Pop- und Holocaust-Diskurs auf verschiedenen Ebenen exemplifizieren. Zum einen finden syntaktische Überschneidungen statt, wie das Zitat oben zeigt. Pop als Gegenwarts- und der Holocaust als Vergangenheitsdiskurs werden ineinander vermengt. Dieses Verschachteln der Diskurse ähnelt als Schreibverfahren nicht nur in Ansätzen dem poststrukturalistischen Diskursmix Kevin Vennemanns, sondern auch einem weiteren Vertreter der Popliteratur, Thomas Meinecke, der in seinem Roman Hellblau (2001) explizit Diskurse des Holocaust mit Popdiskursen eng führt.496 Über diese syntaktischen Verknüpfungen hinaus finden bei Kracht zum anderen auch semantische statt, die in der Figurenrede des Protagonisten angelegt sind. Wenn der Ich-Erzähler die Vergangenheit reflektiert, dann geschieht dies stets vor dem Spiegel seiner persönlichen Gegenwart,

493 C. Kracht: Faserland, S. 153. 494 Ebd. 495 Eine solche Lesart vollzieht z.B.: Krüger, Meike: „Spuren des kollektiven Gedächtnisses im Roman Faserland von Christian Kracht“, in: Scripta Minora, Nr. 47 (2006). 496 Meinecke, Thomas: Hellblau, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.

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wodurch Vergangenheitsaspekte im Wesentlichen als Event- bzw. als Momentaufnahmen begriffen und die Übergänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen ernsthafter Auseinandersetzung und naiver, ins Lächerliche driftender Beobachtungen fließend sind. Die Parallelführung von Pop- und Erinnerungskultur verweist in Faserland auf literarische Reflexionen im Zeichen der Eventisierung der Gegenwart. Als primär relevant eingestufte Ereignisse und Identifikationsobjekte entstammen hier sowohl der Erinnerungs- als auch der Popkultur, auf deren Oberfläche sie vermittelt werden. Derart vollzieht sich auch die Vergegenwärtigung der Vergangenheit durch den Protagonisten entlang der Bedürfnisse einer Event- und Erlebniskultur. Die Fundstücke, welche den Protagonisten in Faserland zu seinen überwiegend als rudimentär einzustufenden Reflexionen und Gedanken über die deutsche Vergangenheit anregen, sind keine, die er auf den (metaphorischen) Dachböden seiner Großeltern oder in historischen Archiven ausfindig macht, sondern Produkte bzw. Ereignisse der Alltagswelt, die aus einem völlig anderen Kontext heraus bei ihm Vergangenheitsreflexionen hervorrufen. Die Auseinandersetzungen mit der deutschen Vergangenheit sind – ganz der Einschätzung Maxim Billers folgend – im Fall von Krachts Protagonisten dabei eher als Deck- oder Alibierinnerungen eines für ihn ersichtlichen Mainstreams, denn als tatsächliche Reflexionen zu charakterisieren. An einer Allgemeingültigkeit partizipierend erkennt zwar auch er die Bedeutungsschwere der Vergangenheit, die er als Angehöriger der Nachfolgegeneration mitträgt, den zugrundeliegenden Motiven dafür geht er jedoch nicht nach. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht selbstgewählter Reflexionsmechanismus oder bewusstes Erinnerungshandeln im Modus des Work in Progress, sondern erfolgt im Wesentlichen aus Gründen der Identitätsbestätigung und um in seiner Generation ‚dazu zu gehören‘. „Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das verstehe ich ja noch. Aber manchmal verstehe ich den Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise.“497

Der Ich-Erzähler bemüht sich in diesem Punkt nur wenig um die Nachahmung der „Kampfhaltung“ seiner Altersgenossen, den Menschen, die er „kennt und gern hat“. Da er offensichtlich hierbei auch keine eigene Meinung vertritt, äußert sich die Haltung zur NS-Vergangenheit Deutschlands als vage Kenntnisnahme und lediglich im Abrufen stereotyper, oberflächlicher und z.T. despektierlicher Parolen wie z.B. in der Benennung äußerlicher Merkmale von Taxifahrern und der inflationären, pau497 C. Kracht: Faserland, S. 70.

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schalisierenden Verwendung des Ausdrucks ‚Nazi‘: „Vorne fährt so ein armes Nazischwein in einem Trainingsanzug“498 , „ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutsche aus wie komplette Nazis. Der Fahrer auch“499, „dabei sieht man es ihm im Gesicht an, daß er einmal KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben“500. Das oben für die Popliteratur als charakteristisch beschriebene ‚Dahinplappern‘ erfährt hier mit dem stupiden, papageienartig wiederholten Wort ‚Nazi‘ seine Exemplifizierung. Der Protagonist in Krachts Roman stellt nicht nur eine stark verkürzte Semantik, sondern auch ein pauschalisierendes, eingeschränktes historisches Wissen in Aussicht, obwohl er – seine bildungsbürgerliche Herkunft durch Schulaufenthalte u.a. in Salem andeutend – wie seine Altersgenossen zu der am besten aufgeklärten Generation nach dem Kriegsende gehört. Der Protagonist will weder auf Fertigkeiten eines historischen Bewusstseins noch auf die Deutungsmuster eines gut gefütterten Familiengedächtnisses zurückgreifen. Dass das familiäre Gedächtnisband zerrissen ist, wird daran kenntlich, dass es in den wenigen Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit Deutschlands an keiner Stelle um seine eigene Familie, seine Großeltern oder Eltern, auch nicht um seine eigene Biographie geht. Zugleich scheitert der Ich-Erzähler an der Adaption der gängigen Verhaltensweisen seiner Generationsgenossen und wird dadurch schließlich isoliert. Wie in anderen Alltagssituationen kann er die im HolocaustDiskurs implizierten kulturellen Texte und Zeichen nicht dekodieren. Stattdessen verhält er sich zur Vergangenheit, indem er lediglich besonders prägnante, effektreiche Vokabeln und Parolen wie ‚Nazi‘ zitiert. Dieser plakative Habitus des Protagonisten entwickelt sich im Verlauf des Romans zunehmend zur parodistischen und sinnentleerten Pose. Die jungen Menschen, die Christian Kracht in seinem Roman beschreibt, sind Paradebeispiele der ‚Generation Golf‘. Ihren Lebensraum kennzeichnen vor allem Konsumaffinität und ein Hang zur Selbstinszenierung – klare Anzeichen für die Inszenierung des Alltags in der postmodernen Gegenwart, in der man nicht nur konsumiert, sondern den Konsum zugleich zur ‚Performance‘ erklärt, ihn aus- und darstellt.501 Dafür sind die geradezu ikonische Bedeutungsaufladung der „BarbourJacke“ in Faserland oder das „Volkswagen-Auto“ in Illies Generation Golf Bei-

498 C. Kracht: Faserland, S. 38. 499 Ebd., S. 93. 500 Ebd., S. 94. 501 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Einleitung: Theatralität als kulturelles Medium“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Umathum, Sandra/Warstat, Matthias (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Band, Tübingen: A. Francke 2004, S. 727, hier S. 7.

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spiele, die zugleich aber auch als kulturelle Zeichen, Codes und „Ordnungsmacht“502 fungieren. Auch die Aufmerksamkeit auf die Körperzeichen wie den gegelten Scheitel offenbart, dass Krachts Protagonist durch Äußerlichkeiten, Selbstdarstellung und Inszenierung beeinflusst ist. Im für die Popkultur typischen Modus der performativen Selbstinszenierung, werden Alltagssituationen und Alltagsgegenstände in Szene gesetzt, um Körper bzw. Personality zu zeigen.503 Unter soziologischen Parametern betrachtet zeichnet Faserland eine Parabel der Spaß- und Erlebnisgesellschaft, einer Gesellschaft, die ganz nach Schulzes Modell durch innenorientierte Lebensauffassungen geprägt ist. Die projektierte Innensicht auf das eigene Leben und seinen Hedonismus zeigt sich bei Krachts Protagonisten in dessen Außenseitertum und der gestörten Kommunikation zu seinen Mitmenschen, die sich als Anzeichen von Egozentrik, wenn nicht sogar als eine Form des Autismus lesen lassen. „Hinter den Fassaden einer immer stärker performativ ausgerichteten Ereigniskultur verbirgt sich eine zirkuläre, nur noch auf sich selbst bezogene, tendenziell kommunikationsunfähige und latent autistische Subjektivität“.504 Im Gegensatz dazu bewirken gerade die Überforderungen der Erlebnisgegenwart den Wunsch nach Gemeinschaft, welche sich aber nicht mehr zwangsläufig durch geteilte Werte und Anschauungen generiert, sondern durch die Affirmation äußerer, optischer Merkmale und vorübergehender Bindungen. Neben der gestörten Kommunikation werden die gemeinschaftlichen Defizite auch in dessen ungenügenden sozialen Kompetenz und seiner Rastlosigkeit bedeutsam, die er einzig in der utopischen Überzeichnung aufzulösen vermag. Er bewegt sich zwar auf dem sicheren Terrain seines Vaterlandes – die paratextuelle Ebene des Titels zum englischen Fatherland ist hier mehr als offensichtlich –, seine Heimatvorstellungen bleiben aber stets im Imaginativen verhaftet, so wie auch seine Reise durch die Republik fortwährend unvollendeten Charakter aufweist und weder auf ein Ziel ausgerichtet ist, noch je eines erreicht. Faserland als Parabel der Erlebnisgegenwart zeigt eine Gegenwart, in der zwar alles existentiell Notwendige im Überfluss verfügbar ist, die (lebens)notwendigen Entscheidungen aber unter permanent wachsenden Bedürfnissen und Wahlmöglichkeiten ausbleiben. Das ziellose Umherirren und die mutmaßliche Interesselosigkeit an der Politik und Geschichte Deutschlands sind hier nicht nur ein Merkmal postmodernen Lebens unter der Pluralität der Möglichkeiten, sie bieten sich auch als Abbilder einer ‚No-Future‘-Mentalität der Jungen an. Ein Sinnzusammenhang oder ein sinnstiftendes Lebensangebot stehen dem Protagonisten in Faserland nicht zur Verfügung.505 ‚No-Future‘ bedeutet dem hier vorgeführten Sinn nach auch ein pathologisches Verharren im Hier und Jetzt und impliziert in der 502 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 92. 503 Vgl. G. Klein: Körper zeigen, S. 253. 504 J. Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen, S. 148. 505 Vgl. H. Winkels: Gute Zeichen, S. 151 f.

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Beliebigkeit der Handlungen folgerichtig die verhinderte Rückschau auf die Vergangenheit und die Vorausschau in die Zukunft. Die No-Future-Parole lässt sich in diesem zugespitzten Sinn in ein ‚No-History‘-Plädoyer erweitern: keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur das Hier und Jetzt. Am Ende des Romans wird zumindest die No-Future-Metapher zur Realität für den Protagonisten. Nachdem sein Freund Rollo vermutlich durch Selbstmord oder einen tragischen Drogen-Unfall zu Tode gekommen ist, verweist das Schlussarrangement in Faserland auf den bevorstehenden Tod des Protagonisten. Im Anschluss an die vergebliche Suche nach dem Grab Thomas Manns – in der Faserland-Rezeption zumeist als missglücktes homosexuelles Outing interpretiert; in der Zusammenschau mit Christian Schüle auch als Verlust des Bildungsbürgertums an den Pop zu lesen – fährt der Ich-Erzähler mit dem Boot auf den Zürichsee in Naherwartung des eigenen Todes. Sein Leben auf der Überholspur und im Transitraum, in bzw. doch nur am Rande der hippen Szenekultur, hat ihm am Ende keinen Lebenssinn eingebracht. Mit der Oberflächlichkeit und dem Nonsens der Sinnlosigkeit hat er sich schier „zu Tode amüsiert“.506 Die permanente Suche nach dem nächsten Erlebnis und Event, der besten Unterhaltung und dem aufregendsten Amüsement führt am Ende zum genauen Gegenteil von all diesen Möglichkeiten, zum Tod des Protagonisten. 4.3.2 Florian Illies Generation Golf Die schlussendlich dramatische Zuspitzung des Handlungsverlaufs in Krachts Roman Faserland fehlt in Illies Buch Generation Golf. Dies ist auch der Art des Berichtes geschuldet, in dem es keinen fiktiven Handlungsrahmen, keine fiktive Romanerzählung gibt. Um eine Studie, eine „Inspektion“ der jungen Generation Golf, die auch titelgebend ist, und das soziale Sujet der Pop-Generation geht es jedoch auch hier.507 Illies Text ist der retrospektive Bericht seines Ich-Erzählers und Alter Egos, der ausgehend von seinen Kindheitserinnerungen Überlegungen zu seinem deutschen Heimatland, der deutschen Gesellschaft und Politik und schließlich auch der deutschen Vergangenheit als kontroverses Thema seiner Identität anstellt. Während der Protagonist in den ersten Kapiteln im Sprachduktus der programmatischen

506 Der von dem gleichnamigen Buch Neil Postmans abgeleitete Slogan „Wir amüsieren uns zu Tode“ ist nicht nur ein „Urteil über das Zeitalter der Unterhaltungsindustrie“, sondern begrifflich in der Pop-Sprache verankert. Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a.M.: Fischer 1985. 507 Interessant ist die begriffliche Analogie der ‚Inspektion‘ im Titel zu Christian Schüles ‚Deutschlandversmessung‘. In beiden Fällen wird eine aktive Handlungsanweisung zur Suche nach dem ‚Wie, Was und Wer ist Deutschland?‘ impliziert.

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Aussage „Mir geht es gut“508 die Kindheit und Jugend in den 1980er und 1990er Jahren Revue passieren lässt, befasst er sich im letzten Viertel von Generation Golf relativ unvermittelt mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus. Dem Versuchsaufbau einer Inspektion folgend wird dabei eine kritische Haltung zunächst über die Abgrenzungsmechanismen eines zugrunde liegenden „Distanzierungswunsches“509 zu den älteren Generationen – auch hier handelt es sich wie schon bei Schüle, Biller und Kracht primär um die 68er-Generation – eingeleitet. Ähnlich wie in Schüles Deutschlandvermessung wird dabei auch in Generation Golf die Absolutheit der Deutungshoheit dieser Generation in Zweifel gezogen. Die Übermacht der 68er-Generation in den öffentlichen, privaten und vor allem politischen Vergangenheitsdebatten bei gleichzeitiger bzw. durch sie bedingter Zurückhaltung der jungen Generation exemplifiziert Illies an der Walser-Bubis-Debatte. „Die Generation Golf verstand sehr gut, was Martin Walser meinte, als er von der ‚Dauerpräsentation unserer Schande‘ redete und von der Kultur des Wegschauens. […] Zugleich sah dennoch kein Generationsangehöriger weder im ganzen Walser-Bubis-Streit noch im Kosovo-Krieg Anlaß, sich zu äußern.“510

Für die anhaltende Diskurs- und Sprachhoheit der älteren Generationen und dem weitgehenden Ausbleiben konkurrierender Meinungen können auch neuere Debatten angeführt werden, in denen die junge Generation weitgehend ausgegrenzt wurde bzw. sich selbst durch Nicht-Beteiligung ausgegrenzt hat. Illies nennt dieses ausbleibende Positionieren zwar „professionell“, vermerkt aber zugleich, dass dies nicht nur auf der Dominanz der älteren Generationen bei gleichzeitigem politischen Desinteresse bzw. „kluger“ Zurückhaltung der jüngeren basiert, sondern auch aus einer ‚Übersättigung‘ aufklärerischer, didaktischer Maßnahmen resultiert, welche die junge Generation bereits mit der Muttermilch aufgenommen und die sich vor allem in der Institution Schule potenziert hat. „Wir [hatten] das Thema Nationalsozialismus zwischen dem dritten und dreizehnten Schuljahr mindestens achtmal auf dem Lehrplan stehen […]. Das Wissen um die Grauen des Nationalsozialismus sind mit solchem Nachdruck in das Hirn eines jedes Mitgliedes der Generation Golf implantiert worden, daß wir bis heute eher die acht Gründe aufzählen können, die zum Ende der Weimarer Republik führten, als die Zehn Gebote.“511

508 F. Illies: Generation Golf, S. 9. 509 Ebd., S. 181. 510 Ebd., S. 175. 511 Ebd., S. 174 f.

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Hier bezieht sich die ‚Übersättigung‘ primär auf die Didaktik des traditionellen Gedächtnisdiskurses und die Inhalte seiner historischen Bewusstseinsbildung, auf jene Inhalte also, die in den Schulklassen der 1980er und 1990er Jahre gelehrt wurden und durch welche die Generation Golf sozialisiert wurde. Daneben expandierte auch die kulturelle und mediale Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus und des Holocaust in den 1980er und 1990er Jahren vor allem in Form und in Formaten massenmedialer und aufmerksamkeitsstarker Darstellungen. Dass eine einsetzende Sättigung des kulturellen, öffentlichen und politischen NSDiskurses beim Einzelnen oder auch bei kollektiven (Generations-)Gruppen zu Abwehrmechanismen und damit zum genauen Gegenteil einer historischen Sozialisation führen kann, macht Illies Alter Ego in Generation Golf deutlich. Der IchErzähler bemängelt in den Vergangenheitsdebatten, denen sich die Generation Golf schier nicht entziehen kann, die ausschließliche Fixierung auf die NS-Zeit, welche entsprechend den Horizont des historischen Bewusstseins einschränkt. Andere Themen der Gegenwart sowie auch andere Geschichten der Vergangenheit werden unter dieser Fixierung ausgespart. Durch die Dauerthematisierung des Holocaust gerät auch die historische Ordnung in eine ‚Schieflage‘, indem an jede abseitige Bewegung der ‚moralische Kompass‘ angelegt wird. „Alle Meinung und Emotion, die ein Mitglied der Generation Golf für Hitler übrig hat, ist auf die Nazi-Zeit gemünzt. […] Die Moral, so haben wir jahrelang gelernt, beginnt immer erst, wenn es zu einer durch deutsche Großmachtträume verschuldeten Katastrophe kam.“ 512

Das Motiv Schüles ‚Geschichtsversessenheit‘ ist auch in Illies Text wesentlicher Bestandteil einer Positionierung der jungen Generation im historischen- und im Deutschland-Diskurs. Als überzeichnetes Resultat dieser Versessenheit und Dauerpräsenz steht auch bei Illies die Gefahr einer Wendung in die ‚Geschichtsvergessenheit‘, welche mitunter auch mit der allgegenwärtigen Popkultur und der für sie typisch geltenden Abwendung von politischen Gegenwartsthemen korrespondiert. In der Argumentation Illies‘ Protagonisten zieht dieser noch einmal die Abgrenzung von der 68er-Generation heran, nach der die junge Generation stets bemüht ist, strikt das Gegenteil von dem zu unternehmen, was sich die Gruppe der „Latzhosenträger“513 einst auf die Fahnen geschrieben hatte. Dazu gehört in dieser Folgerichtigkeit auch die Ablehnung offensiven politischen Engagements sowie die Verkündung von Moral und Ideologie, „denn die Abgrenzung gegen die Vorgängergeneration mit ihrer Moralhoheit war für uns früh eine entscheidende Lebensmaxime“ 514.

512 F. Illies: Generation Golf, S. 175 f. 513 Ebd., S. 181. 514 Ebd., S. 177.

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Illies hebt eine Person des öffentlichen Lebens und älteren Jahrgangs in seiner Erzählung hervor, die weder in das Generationsschema der 68er noch in das der jungen Generation passt, aber aus beiden Gruppen Charakteristika ableitet: der Moderator und „berufsmäßige Satiriker“ Harald Schmidt, an dem die Generation Golf „ihren Humor gefunden“515 hat. Qua Geburtsdatum (1957) eigentlich Angehöriger jener kritikwürdigen Elterngeneration, erhält Schmidt in Illies Text geradezu einen Ikonenstatus für die Generation Golf. Die Vermutung liegt nahe, dass es hier in erster Linie Schmidts ironisierender Sprachduktus, seine Offerten gegen seine Alters- und Landesgenossen sowie sein mehrdeutig süffisanter Witz sind, die ihn zu einer besonders herausragenden „Lehrerfigur“516 machen. Nicht zuletzt sind es gerade Schmidts offensiv verkündete politische Inkorrektheiten, durch die er sich sowohl Zustimmung als auch vehemente Kritik einholt und damit gegen oktroyierte Political Correctness aufbegehrt. Harald Schmidt scheint der durch Sprachverbote und -Gebote verunsicherten jungen Generation aus dem tiefsten Herzen zu sprechen. Ohne der Personalie Harald Schmidt hier einen allzu großen Exkurs einzuräumen, sei kurz auf eine Episode seines Schaffens eingegangen, die als ShowPerformance seine satirische Auseinandersetzung mit der Frage nach einem korrekten Sprechen über den Holocaust und die NS-Vergangenheit illustriert. 2007 erregte Harald Schmidt in der ARD-Show Schmidt & Pocher Show mit dem sogenannten ‚Nazometer‘ Aufsehen. Das Nazometer, welches Schmidt als Reaktion auf den Eklat um die damalige Nachrichtensprecherin Eva Herman einsetzte, sollte als ‚Messgerät‘ für ‚grenzwertige Begriffe‘ fungieren. Dass dabei an sich vollkommen harmloses, gängiges Sprachvokabular wie ‚Autobahn‘, ‚Dusche‘ oder ‚Gasherd‘ auf den Prüfstand des Nazometers kam und Ausschläge ‚nach rechts‘ provozierte, deutet nicht nur auf die Absurdität und mediale Konstruiertheit der Herman-Debatte hin. Besonders die spontane Reaktion der Zuschauer – unangenehmes, unterdrücktes Lachen – und deren Quittierung vom Moderator Schmidt als betont ‚anstößig‘, greifen auch manifeste Sprachbarrieren und Tabus auf, die sich in den entfernten Bereichen eines möglichen semantischen Zusammenhangs mit dem Holocaust und der NS-Zeit gebildet haben. „Erst wir können über Polenwitze lachen, ohne gleich an den Polenfeldzug von 1939 denken zu müssen“517, konstatiert Illies Protagonist und stellt das Heranbrechen einer neuen Sprach- und ‚Lachfreiheit‘ in Aussicht. Auch wenn der Schmidt-Show-Performance ohne Frage satirische Überzeichnung und Showcharakter zugrunde liegen, zeigt diese Episode das bisherige Fehlen einer freien Diskurssprache. Schmidt verweist unausgesprochen auf die ‚Bürde‘ der Ge-

515 F. Illies: Generation Golf, S. 179. 516 Ebd., S. 175. 517 Ebd., S. 180.

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neration Golf: die permanente Vorsicht vor dem vermeintlich falschen Wort oder dem richtigen Wort im vermeintlich falschen Kontext. In Illies Generation Golf wird zum Ende hin noch einmal deutlich diese ‚Befreiung‘ von den Doktrinen der älteren Generationen und die Überwindung transgenerationeller Traumata eigefordert. „Es wirkte befreiend, daß man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern empfand, auch öffentlich albern nennen konnte.“518 „Also Schluß mit den Geschichten von 68, Schluß mit der Mißtrauenskultur, Schluß mit der Identität von Lebensgefühl und Politik, Schluß mit dem Muff von zwanzig Jahren. Einfach Schluß.“519 Diesem geforderten „Schluß“ – ob als womöglich skandalös intendierter ‚Schlussstrich‘ oder lediglich als notwendige Abkehr vom festgefahrenen Holocaust-Sprachdiskurs – sollen im Fortgang dieser Arbeit noch weitere Bedeutungsebenen zugeführt werden. 4.3.3 Der Holocaust als Narrativ in der Popliteratur Kaum ein anderes literarisches Genre lässt sich sowohl auf Seiten der Autoren und der Leser als auch aufgrund der behandelten Themenfelder und ihrer vermittelnden Sprache derart deutlich an einen bestimmten Zeitgeist und eine bestimmte Altersgruppe binden wie die Popliteratur. Mit in ihr Portfolio gehört ein bewusst wahrgenommener Generationswechsel, der sich textimmanent in den Selbstthematisierungen und Generationsbekenntnissen einerseits und den Abwehr- und Loslösungsmechanismen andererseits äußert. In diesem Sinne quasi als Reaktion auf Maxim Billers Frage ‚Warum geht keiner zu Rainald Goetz oder Christian Kracht, um mit ihnen über dieses Land zu sprechen‘ tritt in der Popliteratur die junge Autorengeneration in Opposition zu ihren literarischen Vorgängern. Der Generationswechsel und die Ablösungserscheinungen äußern sich ebenso auch in der Absetzung von Werte- und Sprachnormen der älteren Generationen, der Politik und Öffentlichkeit. Dabei wird jedoch immer auch der Dualismus, die liminale Situation der Generation deutlich, indem ein Hang zum Neo-Konservatismus, zur Idylle und traditionellen, bürgerlichen Werten, dem Bestreben nach Innovation und Andersartigkeit beiseite gestellt wird. So pflegt z.B. Christian Krachts Protagonist am Rande seines ‚Ego-Trips‘ ja durchaus nostalgisch-romantische Gefühle für sein Vaterland, wenn er in Heidelberg sinniert: „So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären.“520 Diese Nostalgie, die auf eine „deutsche Sehnsucht nach einem schönen Land […], in dem es den Holo-

518 F. Illies: Generation Golf, S. 155. 519 Ebd., S. 181. 520 C. Kracht: Faserland S. 85.

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caust […] nie gegeben hätte“521 verweist, ist auch kritisch zu sehen. Ihr immanent ist ein Wunsch nach ‚Normalität‘ einerseits, aber auch – negativ gewendet – nach Verklärung und Verdrängung – ein Zwiespalt, der nach den jüngsten Debatten um den Autor Kracht als „Türsteher rechten Gedankenguts“522 neu befeuert werden dürfte. Die unterschwellig oder offensiv unterstellte „Vergangenheitsvergessenheit der Pop-Kultur“523, welche sich aber oft nur als künstlich erzeugte und inszenierte Opposition zu der Geschichtsversessenheit der älteren Generationen zeigt, wird als Kritik auf die Autoren selbst rückbezogen. „Die Popliteraten verbindet die Sehnsucht nach einer Normalisierung im Sinne einer Loslösung von den Konfliktkonstellationen und Diskursregeln der Nachkriegszeit.“524 Für die Ich-Erzähler scheint dies insofern zu gelten, als z.B. Illies Protagonist am Ende den ‚Schluß‘ offensiv einfordert, das Ende der Abhängigkeit von den älteren Generationen und ihres als ‚versch(r)oben‘ wahrgenommenen Wertediktats. Mit diesem Schluß ist jedoch hier nicht die Verdrängung, nicht der Strich unter die Vergangenheit gemeint, sondern vielmehr die Aufbruchsstimmung, oft verbunden mit dem Motiv der Reise, in etwas Neues. Dabei bleibt dieses Neue zunächst in der Illusion und Utopie verhaftet. „Das intellektuelle Dilemma unserer Generation: Es gibt lauter Schlußakkorde, denen aber nichts nachfolgt außer einem rührenden Glauben an das grundsätzlich Bessere des Neuen.“525 Hier verbirgt sich also mehr als die bloße Skepsis gegenüber einer besseren Zukunft. Hier treten Zweifel an den Normalisierungstendenzen und der oktroyierten Oberflächlichkeit zutage, die sich durchaus auch als „beträchtliches Unbehagen“526 lesen lassen. In der Kritik an der Popkultur und ihrer Aufnahme von Thematisierungen des Holocaust und der NS-Zeit geht es insbesondere um deren unzulässige Trivialisierung. Nicht mehr die Tabuisierung der Vergangenheit ist Anstoß der Kritik, sondern vielmehr ihr genaues Gegenteil: die Ausbreitung des Themas in alle Richtungen bis hin zum trivialen Nonsens. Derart negative Einschätzungen gibt es mannigfach und sie beziehen sich in ihrer Hauptsache darauf, dass sich die Popliteratur generell nicht zur Reflexion und „Gedächtnisbildung“ eignet. 527 Diese Erkenntnis muss nicht widerlegt werden, vor allem dann nicht, wenn man im literarischen Pop-Modus gar nicht nach den Kategorien ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ sucht. Die Popliteratur führt vielmehr exemplarisch und eindringlich vor Augen, was in anderen Wissenschaften soziologisch und psychologisch unlängst als gesichert gilt. Wir haben es 521 C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 122. 522 Diez, Georg: „Die Methode Kracht“, in: Der Spiegel 7 (2012). 523 Wieland Freund: Nach dem Nach, S. 15. 524 J. Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen, S. 151. 525 F. Illies: Generation Golf, S. 181. 526 J. Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen, S. 151. 527 Siehe exemplarisch J. Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen, besonders S. 164.

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hier im Speziellen und gegenwärtig allgemein immer häufiger mit einschlägigen gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozessen zu tun, durch welche sich auch die Modalitäten von Erinnerung und Gedächtnis, ihrer literarischen Reflexion und medialen Repräsentation verändern. Es erscheint demnach vielmehr sinnvoll in diese Richtung der Transformation zu argumentieren und nicht etwa den bedrohlichen „Befall“ der Mediengeneration von dem Verlust historischen Bewusstseins zu kennzeichnen.528 Es verkürzt die Sicht auf die Popliteratur und befördert zugleich eine schwierige Überdeterminiertheit der Gedächtnisthematik, wenn die Texte lediglich als Abbild eines Verlustes von historischem Bewusstsein bei gleichzeitiger Überregulierung durch die Medialität und den Konsumdruck der Gegenwart betrachtet werden. Vielmehr wird hier doch eine Alternative zum normativen, kulturellen Gedächtnis und zum Kanon der Erinnerungsliteratur entworfen, die, und dies ist in Zeiten des Generations- und Paradigmenwechsels nicht unwesentlich, die breite Masse ansprechen kann. Die Formate der Popkultur erreichen durch ihren vordergründigen Unterhaltungsgestus ein breites (Massen-)Publikum.529 Gleichwohl muss gerade die Erinnerungskultur des Holocaust, die sich zunehmend in Konkurrenz zu der Aktualität anderer Themen und Alltagsphänomene sieht, an der Publikumswirksamkeit ergo Popularität ihrer vermittelnden Medien interessiert sein.530 Durch die vielfältigen Eindrücke und Anforderungen der Gegenwart müssen immer neue Formen und Formate gefunden werden, in denen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gelingen kann. Die Trennung zwischen ernsthafter Literatur, aufrichtiger und angemessener Beschäftigung, wie sie den klassischen Erinnerungstexten zugeschrieben wird, und der mutmaßlich leichten Literatur des Pop-Genres, in dem es um Konsum und Lebensgefühl, nicht aber um Tod und Vernichtung geht, ist in diesem monokausalen Sinne destruktiv. Popelemente, die längst im Kern des gesellschaftlichen Diskurses angekommen sind und in anderen kulturellen Bereichen als weitgehend selbstverständliche Diskurselemente anerkannt werden, sind in der Erinnerungskultur des Holocaust noch lange nicht impliziert und gelten dort nach wie vor nicht selten als anstößig. Die konstruktivistische Unterscheidung von ‚U‘- und ‚E-Literatur‘ erweist sich jedoch als unpassend, da sich durch die Popkultur ja gerade differenzierte Subkulturen und mit ihnen neue Sprachmodi entwickeln und sich die Popliteratur in ihrem Ausdruck als „Diversifikation von Kultur“ 531 nicht in zwei Schubladen – ernsthaft oder unterhaltend – anordnen lässt.

528 T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 188. 529 Vgl. B. Korte/S. Paletschek: Geschichte in populären Medien und Genres, S. 13 ff. 530 Vgl. E. Meyer: Problematische Popularität, S. 268 ff. 531 Vgl. A. Hepp/M. Höhn/W. Vogelgesang: Perspektiven einer Theorie, S. 10.

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Die Archivierung der Vergangenheit, welche die traditionelle Erinnerungsliteratur auszeichnet, wird in der Popliteratur umgekehrt und auf marginale Alltagsgegenstände und -Zustände übertragen. Anstelle von Relikten aus der Vergangenheit, leiblich erfahrbaren bzw. tradierten Trauma- oder Schuldreflexionen archiviert das ‚Pop-Gedächtnis‘ als funktionales Archiv gedacht, mitunter ebenfalls „leiblich erfahrbare“ Bezugsgrößen wie Schallplatten, Songtexte, Jugendlichkeit oder Lifestyle.532 Unter der oberflächlichen Ausklammerung der deutschen Vergangenheit bzw. ihrer Erwähnung als lapidare Randerscheinung werden aber trotzdem Strukturen von Erinnerungshandlungen im Pop-Roman angelegt, die dabei stark an die Bedürfnisse der Gegenwart nach einer Neuformulierung der Diskurssprache angelehnt sind. Die Aneignung der Alltagsgegenstände und Identifikationsobjekte aus der Popkultur erfüllt einen ganz ähnlichen „Akt kultureller Praxis“533 wie auch die Aneignung von Erinnerungsangeboten und das Partizipieren an Erinnerungsanlässen. Im Pop-Roman werden kulturelle Gedächtnisinhalte nicht ausschließlich marginalisiert oder obsolet, sondern als neue „Archivierungs- und Re-Kanonisierungs– maschine“534 nutzbar gemacht. Dieses literarische Verfahren entspricht der Funktionalität des Funktionsgedächtnisses als neu konzeptualisiertes Archiv und greift auf, was an anderer Stelle über die Delete-Generation und ihre Gedächtniseigenschaften gesagt wurde. Die junge Generation verhandelt nicht die große, umfassende Quellenlage neu, sondern setzt sich mit deren verschiedenen wandelbaren Versionen auseinander. Indem die Popliteratur unterschiedliche Diskurse parallel und ineinander führt, diffundieren auch die Holocaust-Narrative zwischen verschiedenen Ebenen und Themenkomplexen. Diese Wendung steht mit dafür ein, dass das historische Gedächtnis ausreichend gefüllt und verfügbar ist und durch ein dynamisches, erweitertes ergänzt wird. Derart werden in dem ‚an Überfüllung leidenden‘ Generationengedächtnis der jungen Generation, wie bei Illies gezeigt, zwar nicht zwangsläufig Gedächtnisinhalte gelöscht, aber doch mit anderen, aktuellen Diskursen parallelisiert, vermischt und gesampelt wie in Faserland oder wie es bei Schüle heißt: „Der Synthesizer […] ist das Symbol unserer geistigen Sozialisation: […] das Mischen, Sampeln, Verschieben, das Ziselieren und Fisseln, das Ausschneiden und Wiedereinfügen der Apfel+X-und-Apfel+V-Tasten-Kultur des Computerzeitalters.“535 Auf diese Weise wird der Holocaust als Subtext in die Diskurse der Gegenwart eingespeist ohne ihn präsent in den Vordergrund zu stellen und ihm damit ein besonderes, möglicherweise gar sakral aufgeladenes – im Sinne Billers „Heili532 Andreas Kraft und Mark Weisshaupt stellen in Aussicht, dass die „leibliche Erfahrung“ mit der generationellen Rhetorik verbunden zu sein scheint: Vgl. A. Kraft/M. Weisshaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität, S. 26. 533 T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 77. 534 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 46. 535 C. Schüle: Deutschlandvermessung, S. 15 f.

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gen Holocaust‘‘ – Gewicht zu verleihen. Anders nämlich als beim traumatischen Verdrängen oder Vergessen oder auch der vollständigen Ausgrenzung von Vergangenheitsnarrativen in einer ‚Schlussstrich-Metaphorik‘ setzt sich in der Diffusion von Gegenwarts- und Vergangenheitsdiskursen gerade Neues zusammen, indem nach der Copy-and-Paste-Methode die Narrative aus dem einen, alten Zusammenhang (Holocaust-Erinnerung als Master Narrative) ausgeschnitten und in einen neuen Kontext (Holocaust als Paralleldiskurs in der Popkultur) wieder eingesetzt werden. In der Fixierung der Gegenwart und der sich überlagernden und überschlagenden Gegenwartsdiskurse bleiben exakte Reflexionen der Vergangenheit in den PopTexten zunächst rückständig. So erscheint Krachts Protagonist als völlig heimatund familienloses Individuum, obwohl er aufgrund seines sozialen Status‘ eigentlich in die Mitte der Gesellschaft gehört. Von seiner Familie, seinen Eltern, seiner Herkunft oder Kindheit ist jedoch zu keiner Zeit die Rede. Seine Wesenhaftigkeit scheint sich einzig aus der Gegenwart zu speisen und bedarf selbst keiner Biographie. Diese „Lebensunmittelbarkeit“536, die „Affirmation der Gegenwart bis zum Zynismus“537, schließt die Gegenwart belastende und die persönliche wie generationelle Freiheit einschränkende Diskurse wie den Holocaust zunächst kategorisch aus. Trotz dessen Hedonismus reflektiert aber auch Krachts Protagonist traumatisch besetzte Fragmente der Vergangenheit, wenn auch zweifelsfrei verkürzt bzw. zur popkulturellen Pose verformt: „Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier.“538 Das historische Bewusstsein von Illies Protagonisten in Generation Golf präsentiert sich daran anschließend als „verengter Gedächtnisraum“539 , der einseitig geprägt und durch die Omnipräsenz des Holocaust in den Medien, der Politik und der Institution Schule vollständig ausgefüllt ist. Zum Reflektieren oder gar kritischen Hinterfragen bleibt der Generation Golf wenig Raum. Reflexionen erleben die Protagonisten der hier exemplifizierten Texte lediglich durch spontane Konfrontationen, die eine imaginative Verbindung herstellen und in der Mehrzahl zu ‚Übersprungshandlungen‘ in Form von standardisierten Aussagen und Nachahmungen führen. Dabei werden sprachliche Formeln des etablierten Holocaust-Diskurses überzeichnet und in neue ‚atypische‘ Verwendungsweisen und Kontexte übersetzt. Indem außerdem die HolocaustNarrative in beiden Texten als sozusagen ‚Sub-Subdiskurse‘ implementiert sind und in ihrer Versprachlichung, dem trivialen und provinziellen Dahinplappern ihrer

536 Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Be– ziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 431. 537 Wieland Freund: Nach dem Nach, S. 14. 538 C. Kracht: Faserland, S. 70. 539 J. Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen, S. 158.

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Protagonisten, den Anschein platter Attitüden bedienen, wird jedoch auf der Rückseite dieser Oberflächlichkeit die Dekodierung übermächtiger ‚doktrinärer‘ Sprachdiskurse eingeleitet und die Frage nach nichts anderem als nach einer neuen Sprache beantwortet. Nicht nur die analytischen Kategorien wie ‚Gedächtnis‘, ‚Generation‘, ‚Geschichte‘, ‚Nation‘ etc. haben ihre Legitimität als starke Diskursbegriffe weitgehend eingebüßt, auch die Diskurssprache, die mit diesen Formeln operiert, scheint nicht mehr richtig in die Gegenwart zu passen und zeigt sich überdeterminiert. Diese Erkenntnisse werden in der Popliteratur als literarisches Programm in eine neue Sprache übersetzt. ‚Begriffsdropping‘, ‚moralisierende Sprache‘ oder ‚festgefahrene Deutungshoheiten‘ sucht man im Pop-Roman vergebens und wenn dann nur als Negativfolie oder als Verfremdung. Damit wird im Popdiskurs wirklich eine neue Sprache des Holocaust-Diskurses gesprochen, eine literarische Sprache, die wie ihr musikalisches Pendant von Offenheit und Ideologie-Freiheit geprägt ist und nonchalant die Tücken der Political Correctness umschifft, weil sie gar nicht erst versucht, ihnen gerecht zu werden. Pop arbeitet bewusst wenig mit Anführungszeichen und kennt keine „Kategorie des Eigentlichen“, konstatiert Moritz Baßler.540 Zuletzt könnte das marginale fehlende Setzen von Anführungszeichen Grund dafür sein, warum dem Pop bislang unterstellt wurde, sich nicht gut auf HolocaustThematisierungen zu verstehen, bei denen die Anführungszeichen stets zur Wahrung der Political- und Memorial Correctness (voraus-)gesetzt werden. „Die Aura des moralisch Fragwürdigen jedenfalls kann moderne Massenkultur nach Auschwitz nicht abstreifen.“541 Was genau stört die Moral, wenn Holocaustund Jugendkultur-Diskurse in popkulturellen Modi eng geführt werden? Wenn wir Popkultur als Ausdruck kultureller Transformationsprozesse und die Popliteratur als eine ihrer Beschreibungsmittel betrachten, dann wird ein Punkt erreicht, an dem es in Bereichen von Kultur und Öffentlichkeit zu einer tendenziellen „Ablösung der Moral durch die Ästhetik“542 kommt und damit das ohnehin höchst disparate Motiv des ‚guten Geschmacks‘ in Frage gestellt wird, denn: „dass beides häufig miteinander vermengt wird, dass also Kulturbeschreibung oft mit dem Gestus allgemeinverbindlicher Geschmacksbewertung und nörgelnder Stilkritik daherkommt, wirkt wie eine Marotte unbelehrbarer Lehrer, auf die kaum noch jemand hört.“ 543

540 Vgl. Baßler, Moritz: „‚Das Zeitalter der neuen Literatur‘. Popkultur als literarisches Paradigma“, in: Caduff, Corina/Vedder, Ulrike (Hg.): Chiffre 2000 – neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur, München: Wilhelm Fink 2005, S. 185-203, hier S. 187. 541 Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 279. 542 F. Illies: Generation Golf, S. 168. 543 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 14.

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4.4 Pop-Modus als neue Sprache „Gezeigt wurde […] welcher Ausweg Literatur bleib, wenn sie unter Druck bestehen will: die radikale Inszenierung, die Orientierung am Showgeschäft und die reflexive Ausrichtung an Moden und Trends.“544

„The show must go on!“ – Durch die allgegenwärtige Medialisierung, die Präsenz des Boulevards und seiner Erlebnismarkt-Mentalität werden geradezu zwangsläufig auch erinnerungskulturelle und sensible Themen zum Bestandteil der Popkultur. Warum auch nicht, möchte man fragen, wenn doch das Ende der Nachkriegsliteratur nicht das Ende der Literatur über die deutsche Vergangenheit und die Ausweitung ihrer Narrative auf popkulturelle Bereiche der Alltagskultur auch gerade nicht die Nivellierung ihrer Bedeutung meint. Dass aber mit solchen Entwicklungen auch die Befürchtung einhergeht, der Holocaust selbst, sein Andenken, könne zum ‚Showeffekt‘ einer aufmerksamkeitssüchtigen Erlebnisgesellschaft avancieren – nach dem Motto „The inquisition – what a show!“545 – sollte keinesfalls sarkastisch als Hysterie abgewertet, sondern hier nun noch einmal kritisch perspektiviert werden. Als Konsens aufgeklärter und auf Fortschritt bedachter Wissenschaft darf gleichwohl gelten, dass die Repräsentation des Holocaust heute längst den starren Rahmen klassifizierbarer hoher Kunst und Kultur verlassen hat, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich ihre Grenzen selbst im Gegensatz zu der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Hochphase der ‚Kunst-und-Kultur-nach-Auschwitz-Debatte‘ wesentlich erweitert haben. Um die Thematik Popkultur und Holocaust zu einem Zwischenfazit zu bringen und eine Überleitung für die folgenden Analysen zu schaffen, sei ein kurzer Blick auf diese essentielle und im Wesentlichen durch die Kulturkritik Theodor W. Adornos angestiftete Debatte erlaubt. Adorno und Horkheimer widmen sich in einem Kapitel ihrer Abhandlung Dialektik der Aufklärung (1969) geradezu hellseherisch der später unter dem Begriff der Popkultur florierenden Kulturindustrie, in der sie neben der Systematisierung von Masse, Mainstream und Markt auch die leichte Unterhaltung und die ‚banale Witzattitüde‘ mit gemischten Gefühlen beobachten. „Fun ist ein Stahlbad. Die Ver-

544 Porombka, Stephan: „Slam, Pop und Posse. Literatur in der Eventkultur“, in: Harde, Matthias (Hg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 27-43, hier S. 39. 545 „The inquisition – what a show“ ist der Refrain eines Songs in Mel Brooks Musical History of the World Part 1. Als Metapher für den Massenmord in der Popkultur hat ihn Caspar Battegay verwendet, von dem hier Kontext und Zitat übernommen werden. Vgl.: C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 104.

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gnügungsindustrie verordnet es unablässig. Lachen in ihr wird zum Instrument des Betrugs am Glück.“546 Die Kulturindustrie als Vergnügungsmaschinerie, welche die Massen euphorisiert, erzeugt in Adornos Augen „falsches Bewußtsein“ und „Schund“547, der sich zwar zur kurzfristigen Unterhaltung eignet, nicht aber für wirkungsvolle und ästhetisch wertvolle Kunst einstehen kann und damit letztlich nichtig wird. „Als neutralisierte und zugerichtete aber wird heute die gesamte Kultur nichtig; […] entbehrlich, überflüssig, Schund geworden, worauf dann wieder die Geschäftemacher der Massenkultur grinsend hinweisen können, die sie als solchen Schund behandeln.“548

Mit seinem Verweis auf die Vergnügungsindustrie und die Gefahr einer unter kapitalistischen Produktionsbedingungen gedeihenden Übermacht der bloßen Reproduktion anstelle der Reflexion von Kultur stellt Adorno die Weichen in Richtung einer Kritik an Massenkultur als Zerfalls-Kultur, welche ihrerseits als Argumentationsfolie neuer Kulturkritik dient. Hier bietet sich auch noch einmal ein Blick auf Gerhard Schulze Theorie der Erlebnisgesellschaft an, konkret auf den folgenden Abschnitt, in dem er Bezug nehmend auf die Kulturkritik konstatiert: „Der traditionellen Kulturkritik wird nicht einmal mehr die Autorität einer Mahninstanz im Dienst der hochkulturellen öffentlichen Ordnung eingeräumt. Möge sie das Verbot geistiger Müllablagerungen aller Art aussprechen, so oft sie will, man hört nicht auf sie, denn ihre Imperative sind zu einfach: Nehmt eure öffentliche Verantwortung wahr! Denkt an die Werte! Seid der Wahrheit verpflichtet und nicht dem Showeffekt!“549

Auch wenn Schulze sich hier nicht explizit auf den Holocaust-Diskurs und Adorno bezieht, soll sein Zitat entsprechend dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit in jene Richtung ausgelegt werden. Mit den „geistigen Müllablagerungen“ referiert Schulze auf das Adorno’sche Diktum, alle Kultur nach Auschwitz sei Müll und verbiete sich der Darstellung.550 Dass dem zweifellos nicht so ist, ist eine banale Feststellung, die keiner Erklärung bedarf. Die Frage jedoch, ob eine Kulturkritik, wenn sie 546 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer 1969, S. 126. 547 Adorno, Theodor W.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. 3. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 26. 548 T.-W. Adorno: Prismen, S. 26. 549 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 58. 550 „Alle Kultur nach Auschwitz [...] ist Müll.“ Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften. Band 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 359.

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sich auf die Verhandlung des Holocaust bezieht, nicht aber doch als „Mahninstanz“ zur öffentlichen Verantwortung und Wertewahrung dienen kann, ja dienen muss, soll zunächst nicht in Abrede gestellt werden. Interessant ist die von Schulze aufgestellte Opposition von „Wahrheit“ und „Showeffekt“ – „seid der Wahrheit verpflichtet nicht dem Showeffekt“. Wenn Schulze in obiger Passage feststellt, dass „die Imperative zu einfach sind“, entspricht dies der These, dass die ‚festgezurrten Narrative‘ und die ‚doktrinäre Sprache‘ nicht mehr ‚passen‘. In dem Moment, da sich die Kulturkritik als Kontrollinstanz „hochkultureller öffentlicher Ordnung“ und ästhetischer- und politischer Korrektheit präsentiert, werden die mahnenden Imperative in der Tat zu ‚leeren Worthülsen‘ oder schlimmer noch zu ‚Drohgebärden‘ stilisiert. Der vermeintliche ‚Schund‘ und die ebenfalls vermeintliche Oberflächlichkeit der Popkultur gereicht der Popliteratur in diesem Sinne zur „Ironie-Strategie“551 , zum ästhetischen Programm, indem sich die Popliteraten von vornherein adaptiv dem Produzieren von ‚Müll‘ für ‚schuldig‘ erklären, ihn gar zum programmatischen Titel machen wie Rainald Goetz mit Abfall für alle.552 Dadurch dass Goetz das „Verbot gegen geistige Müllablagerungen“ umkehrt und so in der Vorwegnahme eines Urteils expressiv „Abfall“ bzw. ‚Adorno’schen Müll‘ produziert, nimmt er bewusst die Position des „Abfallproduzenten“553 ein und schlägt damit der Kulturund Popkritik ein Schnippchen. Indem die Autoren der Popliteratur so von vornherein klarstellen, keine Meinung profilieren zu wollen, sondern auf Showeffekt und Inszenierung statt auf Wahrheit oder Aufklärung zu setzen, entziehen sie sich der Kritik und sogleich einem an sie gerichteten ‚High-End‘-Anspruch, den sie so weder erfüllen können noch wollen. „Die schreibende Pop-Fraktion, die ihr Selbstverständnis in teilweise lustvoller Absetzung von der High-Culture bzw. im Switchen zwischen High und Low erworben hat, macht sich daran, die Welt nicht mit der literarischen Tradition im Rücken, sondern von der Seite des Pop her aufzuschließen.“554

Der Holocaust-Diskurs und seine Sprachkonventionen präsentieren sich den Jüngeren oftmals verschlossen und – auch dies ist von Bedeutung – in weiten Teilen the-

551 H. Winkels: Gute Zeichen, S. 158. 552 Goetz Tagebuch-Titel Abfall für alle ließe sich dahingehend als ‚Antwort‘ auf Adornos Verdikt lesen, indem der Autor Goetz für eine nicht-kulturkritische Lesart wirbt. Eine weitere Anspielung unternimmt Goetz außerdem in Bezug auf gegenwärtige kultur- und sozialpolitische Parolen wie „Arbeit für alle“, „Bildung für alle“, „Kultur für alle“. 553 E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 162 554 Günther A. Höfler: Sampling, S. 249.

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matisch erschlossen. Zum ‚Aufschließen‘ der Vergangenheit wird von den Autoren mitunter ein neues literarisches Handwerkszeug und eine neue Sprache benötigt: „Rhizomatisches Beschreiben der Oberfläche. Bekenntnis zur Postmoderne. Zitate, Fragmente und Samples galore. […] Raus aus dem Wort-Knast.“555 Lässt sich auf diese Weise also auch der ‚Wort-Knast‘ des Holocaust-Sprachdiskurses aufschließen? Moritz Baßler unterscheidet in seinem Pop-Manifest wesentlich zwei Textsorten: „Texte ohne Markennamen, ohne Popmusik-, Film- und Fernsehtitel“ und „Texte mit all diesen Dingen“556. Dabei denkt Baßler freilich an populäre [sic!] Namen, Embleme und Slogans aus Funk, Fernsehen oder der Kunst. In diesem Sinne adaptiert auch Florian Illies die Werbeslogans des Unternehmens Volkswagen als Kapitelüberschriften und überträgt damit die Werbesprache als ‚passende‘ Formensprache in das literarische Feld. Wenn es in der Popliteratur somit durchaus üblich ist, plakative Sprachformeln und Wörter als sinnstiftende Argumente zu verwenden, ist eine sich daraus ableitende These die, dass auch die Begriffe ‚Holocaust‘, ‚Auschwitz‘ oder ‚Hitler‘ schon zu ‚Markennamen‘ oder ‚Titeln‘ avancieren. „Dazu kommt eine Körperkult-Ästhetik, bei der die Übergänge fließend sind von Leni Riefenstahls lichtumflossenen Heldenbildern aus dem Dritten Reich und der selbstverliebten Verzückung beim wummernden Viervierteltakt der Berliner Love Parade. […] Als GlatzenPop auf der Bühne, als Mode-Gag in der Disco und als Soap-Opera auf dem Bildschirm haben die Accessoires der SS-Herrenmenschen noch einmal Karriere gemacht.“557

Mit einem Markennamen, einem Label oder Slogan werden gewisse Emotionen und Begehrlichkeiten geweckt und bestimmte Konnotationen hervorgerufen, für die das Produkt, die Institution, Person oder das Ereignis mit ihrem Namen einsteht. Neben anderem hat Adorno auch deshalb gegen die künstlerische bzw. speziell literarische Befassung mit Auschwitz protestiert, da durch die Versprachlichung auch eine Sinngebung von Auschwitz stattfindet, aus dem Schicksal der Opfer ein „sei’s noch so ausgelaugter Sinn gepreßt wird“558. Der Begriff ‚Auschwitz‘, der Name des größten nationalsozialistischen Vernichtungslagers in Polen, steht heute, soviel ist unbestritten, metonymisch für die betriebsmäßige Massentötung und ist zur Chiffre des Zivilisationsbruchs geworden. Der Begriff hat damit in der Tat einen ‚Wort555 Meinecke, Thomas: „2 Plattenspieler, 1 Mischpult“, in: Kagel, Marin/Schulz, Gudrun (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts, Vechta: Eiswasser 2001, S. 188-190, hier S. 189. 556 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 155. 557

Leinemann, Jürgen: „Eine Nation auf der Suche“, in: Der Spiegel Spezial: Die Deutschen. 60 Jahre nach Kriegsende 4 (2005).

558 T.-W. Adorno: Negative Dialektik, S. 354.

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sinn‘ erhalten, wenn auch für ein völlig sinnloses Verbrechen. In den Erinnerungsliteraturen gilt der Ort Auschwitz häufig als (auto-)biographischer Ausgangspunkt traumatischer Erinnerungen oder aber auch als schwarzer Fleck in der Erinnerung, über den kein Wort berichtet werden darf.559 Der Begriff ‚Holocaust‘, griechisch für „Brandopfer“, ist einst durch die gleichnamige Fernsehserie in den 1970er Jahre bekannt geworden und steht heute als universale Bedeutungsklausel für die Vernichtung der Juden und den Genozid schlechthin. Im Diskurs der Popkultur, im Modus der Pop-Sprache wird dieser „Zentralsignifikant[en] der Nachkriegszeit“560 als ‚Label‘ und ‚populärer Code‘ deklariert und durch dessen Übertragung in ein neues Gegenwartssetting als neue Sprache und Verhandlungsweise der Vergangenheit fruchtbar gemacht. Es wurde in dieser Arbeit bisher mehrmals auf das sinngemäß ‚hermetisch abgegrenzte Gebiet‘ verwiesen, auf dem sich ein Sprechen über den Holocaust häufig bewegt und sich die Fragen nach dem ‚Dürfen‘ aufdrängen. Unzählige Begriffe, die direkt oder indirekt mit der NS-Zeit verbunden sind oder entsprechend adaptiert werden, haben zu Eklats und Debatten geführt – in der Öffentlichkeit und Politik ebenso wie in der Kunst und Kultur. Von einer anderen Seite aus gedacht, sozusagen von der Rückseite der angestrengten Überprüfung von Political Correctness, können die Begriffe ‚Holocaust‘ oder ‚Auschwitz‘ auch gewisse ‚Begehrlichkeiten‘ wecken und evozieren nicht nur eine problematische Sinngebung, sondern auch sensationshungrige, wenn nicht gar ‚ketzerische‘ Erwartungshaltungen, das zu ‚bekommen‘, was ‚draufsteht‘ und es gegebenenfalls einzufordern. Auch dies meint die ‚Gefahr‘, die Christian Schüle als Resultat „gesteuerten Nachdenkens“ in „unkontrollierbare[n] Räumen“ benennt. Nicht zuletzt gewinnen Texte, Ausstellungen oder Filme heute ihre Popularität gerade dadurch, dass sie mit bekannten Namen und Labels entsprechend ‚gebrandet‘ sind: „There is no business like Shoah business.“561 Die Begriffe ‚Holocaust‘, ‚Auschwitz‘ oder ‚Hitler‘ ziehen per se eine eingeforderte und angesichts des „nervösen Öffentlichkeitsbetriebs, der testet, hochspült und verwirft, der Profile erzeugt und verwässert, Markenzeichen kreiert und wieder vergisst“562 auch zunehmend notwendig werdende Aufmerksamkeit auf sich. Anders jedoch als bei den typischen popkulturellen Markenprodukten und Labels behalten die Begriffe ‚Holocaust‘ oder ‚Auschwitz‘ ihre grundlegende Kon-

559 Die konträren Positionen lassen sich z.B. in den autobiographischen Schriften Elie Wiesels, Jorge Sempruns oder Ruth Klügers nachlesen. 560 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 178. 561 Zitat von Abba Eban, ehemaliger israelischer Außenminister. In diese Richtung argumentiert u.a. auch Norman G. Finkelstein in seinem Buch Holocaust-Industrie (2001), an dessen Veröffentlichung sich eine mediale Debatte anschloss. 562 H. Winkels: Gute Zeichen, S. 372.

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notation auch in fluktuierenden Erlebnisgesellschaften und unter sich verändernden Kontexten bei. Sie bleiben Konstanten in den verschiedenen Diskursen, so viel darf auch dann als gesichert gelten, wenn das einschlägige Wissen, gerade der jüngeren Generationen, nachlässt. Es liegt nahe, mit dem Begriff ‚Holocaust‘ als ‚Markenname‘ zugleich auch das historische Ereignis als ‚populär‘ vermittelbar zu bezeichnen. Inwiefern der Holocaust als ‚repräsentatives Ereignis‘ tatsächlich den Status eines Events annimmt, sollen weitere Analysen im Fortgang dieser Arbeit zeigen. Moritz Baßler macht auf eine Episode in Wolfgang Hilbigs Roman Das Provisorium (2000) aufmerksam, in welcher der Autor Parallelen zwischen Markenwelt, Konsum und dem Holocaust in das Handlungsgeschehen einzieht. So wird z.B. der Satz „Arbeit macht frei“ in einem Abschnitt über Shoppingcenter in den Slogan „Shopping macht frei“ verwandelt.563 Baßler gibt zu bedenken, warum die sonst so wache Kultur- und Literaturkritik über diesen Fehltritt des Autors derart wohlwollend hinweggesehen hat. Erwähnenswert ist in diesem Kontext noch ein anderer Vergleich, der zeigt, dass die Verwendung eines ähnlichen Satzes aus der NSTerminologie in einen anderen medialen Kontext gestellt zu einem verhältnismäßig großen Negativ-Echo in den entsprechenden kritischen Lagern geführt hat. Als die Unternehmen Tchibo und Esso 2009 in einer gemeinsamen PR-Kampagne den Satz „Jedem das Seine“ als Werbeslogan verwendeten, wurde ihnen prompt allumfassende ‚Geschmacklosigkeit‘ unterstellt. Trotz der Dominanz von Marken, Werbung und Kommerz, die fest in unseren postmodernen, popkulturell geprägten Alltag gehören, wird mit diesem Beispiel offensichtlich der ‚gute historische Geschmack‘ gestört und – im Vergleich zu Hilbigs Romanpassage – der Unterschied zwischen Kunst und Kommerz behauptet. Festzuhalten ist, dass die oben erwähnte Formensprache der Popkultur, wie sie in Slogans und Werbetiteln verwendet wird, bei der Inanspruchnahme von Holocaust-Narrativen an die Grenzen der Political- und Memorial Correctness stößt und offenbar an die Zerfallskultur moralischer Werte appelliert. Eine Zerfallskultur wird gerade dort zum eklatanten Problem, wo im Bereich der Memorial Correctness ein sensibles Thema wie der Holocaust in populären Formen und Formaten zu aufmerksamkeitsökonomischen Zwecken repräsentiert werden soll. Massenkulturellen Formaten, die in ihrer primären Bedeutung Unterhaltung und Vergnügen stiften sollen, wird die ‚moralisch korrekte‘ Bearbeitung dieses historischen Stoffes zunächst aberkannt – ein Vorbehalt, der auch gegenwärtig populär bleibt. Jedoch kann „gerade ein offensiv zur Schau gestellter Oberflächenfetischismus als moralisch unterfütterte Entlarvung gegenwärtiger Zustände begriffen werden“564. Unter der 563 Hilbig, Wolfgang: Das Provisorium, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2000, S. 263 f. Zur kritischen Rezension von Baßler unter der Überschrift „Generation Pop in Auschwitz“ vgl. M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 176 ff. 564 E. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 34.

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„Poetik der Oberfläche“565 des Populären, leicht Konsumierbaren verbirgt sich nicht nur eine neue Sprache, sondern auch eine neue oder zumindest andere „Poetik nach dem Holocaust“566, eine, die durch ‚Anti-Narration‘ ein zukünftiges Sprechen möglich macht.

565 Siehe O. Grabienski/T. Huber/J.-N. Thon: Poetik der Oberfläche. 566 Zangl, Veronika: Poetik nach dem Holocaust: Erinnerungen – Tatsachen – Geschichten, München: Wilhelm Fink 2009.

III Work in Progress Teil 2: Performances

1. „P ERFORMING

THE PAST “

567

– E INFÜHRUNG

„Wer nicht(s) darstellt, der ist gar nicht da. Was nicht darstellbar ist, das existiert nicht. Wir sind jetzt alle Darsteller, vor allem aber Selbstdarsteller auf dem Sichtbarkeitsmarkt. Wir haben eine Performance abzuliefern.“568

Der Begriff ‚Performance‘ hat sich vor allem im Zuge des durch Erika FischerLichte ausgerufenen Performative Turns, der Darstellung von Kunst als Aufführung, zum kulturwissenschaftlichen Credo der Postmoderne entwickelt und außerdem zu einer Dominanz von Cultural Performances in schier jeglicher alltäglichen Interaktion geführt.569 In diesem Sinne ist auch in unserer Alltagsgegenwart die Tendenz zu Performances, Ereignishaftigkeit und insbesondere zur „Selfperformance“570 ebenso beobachtbar geworden wie die Medialisierung und Visualisierung, um die es noch gehen wird. Mit diesem breitenwirksamen Phänomen einhergehend wird der Begriff ‚Performance‘ heute häufig als inflationäres Label und ohne eindeutige, zumal wissenschaftliche, Trennschärfe verwendet. Zugrunde lie-

567 Unter dem Titel „Performing the Past“ versammeln Karin Tilmans, Frank van Vree und Jay Winter Texte u.a. von Aleida und Jan Assmann, Marianne Hirsch und Reinhart Koselleck über die ‚Macht der Performance‘ in Geschichts- und Identitätsdarstellungen in Europa: Tilmans, Karin/van Vree, Frank/Winter, Jay (Hg.): Performing the Past. Memory, History, and Identity in modern Europe, Amsterdam: University Press 2010. 568 Bartmann, Christoph: „Die Performance-Falle“, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.01.2012. 569 Als Standardwerk zur Ästhetik des Performativen gilt: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 570 Grundlegend dazu u.a.: Goffman, Erving: The presentation of self in everyday life, New York: Doubleday 1959. Bemerkenswert ist hier, dass Goffman als Analysegrundlage sozialen Verhaltens die Theateraufführung wählt. Die deutsche Übersetzung lautet entsprechend: Wir alle spielen Theater.

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gende wissenschaftliche Konzepte sind Performanz-Aspekte in der generativen Linguistik, in der Sprechakttheorie, in technologischen und ökonomischen Diskursen, in der anthropologischen Untersuchung von Ritualen und Zeremonien und Performance als ästhetische Praktiken der Inszenierung.571 Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sind erstens Performances als Ästhetiken kultureller (Erinnerungs-)Medien und zweitens Performances als (Gedenk-)Rituale und Zeremonien von Interesse. Nicht zuletzt referiert Performativität auf das Verständnis von Kultur als ‚Handlungs‘- und ‚Aushandlungsraum‘ – eine hier vorausgesetzte wesentliche Forschungsprämisse. „Performance ist eine emblematische Kunstform in einer Zeit geworden, in der SelbstBewusstheit und Reflexivität, Simulation und Theatralität in allen Bereichen des Lebens so wichtig geworden sind.“572

Erinnerungskulturen unter dem Prinzip ihrer Inszenierung oder der Performance zu betrachten, ist nicht ausschließlich einer Orientierung an Popkultur oder einem medialen Fortschritt der Gegenwart geschuldet, korrespondiert aber mit den Veränderungen der Alltagswelt, die immer mehr auf Äußerlichkeit und Erlebnis fokussiert ist. Performance ist somit zum einen als Kunstform im engeren Sinne zu fassen und zum anderen als Kultur erzeugendes Modell, welches über den Bereich der Kunst hinaus in gesellschaftliche, kollektive und individuelle Verhaltensweisen hineinwirkt. Ebenso wie uns die Gegenwart mit einer zunehmenden Visualisierung und Medialisierung der Alltagswelt konfrontiert, lässt sich auch die „Theatralisierung unserer Lebenswelt“ anhand von Inszenierungen, besonders anhand von Selbstinszenierungen erkennen.573 Gerade in den jüngeren Generationen besteht daran ein erhöhter ‚Bedarf‘, welcher sich besonders im Internet und seinen mitunter eigens zu diesem Zweck geschaffenen Plattformen befriedigen lässt. In den neuen Medien wird das ‚Sich-in-Szene-Setzen‘ zur wichtigen Handlungsebene, wenn nicht sogar zur eigentlichen Bedingung sozialer, gesellschaftlicher Teilhabe. Doch auch in den analogen Medien wie dem Text, speziell der Gattung Tagebuch und seiner Subkategorien, in Fotografien, Filmen etc. ist die Tendenz zu Selbstinszenierungen signi571 Siehe u.a. Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris: „Vorwort“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris (Hg.): Kulturen des Performativen, Berlin: Akademie 1998, S.11. Außerdem: Göttlich, Udo/Nieland, Jörg-Uwe: „Alltagsdramatisierung und Medienperformanz. Aspekte und Dimensionen entgrenzter Medien“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Umathum, Sandra/Warstat, Matthias (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen: A. Francke 2003, S. 205-225, hier S. 206. 572 G. Klein: Körper zeigen, S. 254. 573 Vgl. dazu u.a.: Fischer-Lichte: Theatralität als kulturelles Medium, und weiter Beiträge dieses Bandes.

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fikant.574 Die vielfältigen medialen und alltagsweltlichen Verknüpfungen und medialen Transformationen sind es, die den besonderen Reiz ausmachen, Performances hier genauer zu betrachten und sie unter den Möglichkeiten zukünftiger Erinnerungskulturen zu untersuchen. Obwohl auch die Kunstform Performance sowie die theatrale Aufführung literarische Motive aufgreifen, drückt sich der Charakter der Inszenierung auf einer anderen medialen Ebene als der geschriebene Text aus. Dies lässt sich insbesondere auch an den Partizipations- bzw. den Rezeptionsweisen der Performances erkennen. Während die Lektüre in einem irrelevanten Verhältnis zu ihrem materiellen Medium, dem Buch, steht, kann das Theaterstück oder die Performance erst durch seine Inszenierung und öffentliche Aufführung faktisch inhaltliche Relevanz gewinnen. Die Interaktion zwischen Produzent bzw. Produkt und Konsument bzw. Zuschauer spielt in Performances die entscheidende Rolle, nicht nur in Bezug auf ein Gelingen der Kommunikation und Interaktion, sondern auch im Hinblick auf das Gelingen der Performance als Kunstwerk an sich. Als Veranstaltungs- bzw. Aufführungsformat wird die Performance durch die Interaktion zwischen den Teilnehmern, Publikum und Akteur, überhaupt erst als kultureller Event zum Leben erweckt. „In ihrem Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Inszenierung trifft sie [die Performance-Kunst – K.F.], selbst wo sie auf Unmittelbarkeit und Authentizität pocht, kritisch die Bedingungen einer postmodernen Kultur der events und des Spektakels.“ 575

Zum einen geht es also um die mediale Beeinflussung der Alltagswelt im Sinne einer gesellschaftlichen Theatralisierung oder Eventisierung des Alltags. Zum anderen wird es auch aufschlussreich sein zu beobachten, wie diese Dimensionen unseres Alltags wiederum Zugang in die Medien erhalten und welche Transformationen sie dort als performative Ereignisse eingehen. Diese alltagsweltlichen Vorgänge auf die Formen von Holocaust-Reflexionen und Erinnerungshandlungen anzuwenden, ist anschließend die Herausforderung, der sich die folgenden Kapitel stellen. Der Begriff ästhetischer ‚Kunst-Performances‘ bzw. ‚Performance-Art‘ ist nicht nur auf die Aktionskunst etwa einer populären Marina Abramovic oder anderen anzuwenden. Performative Aspekte haben in vielen künstlerischen Werken außerhalb der Aktionskunst Eingang gefunden und sind, wie bei Vennemann, Biller und in der Popliteratur gezeigt wurde, als ästhetisches Prinzip auch in traditionellen Medien wie der Literatur auffindbar. Neben dem Theater, den szenischen Lesungen 574 Vgl. Becker, Barbara: „Selbst-Inszenierung im Netz“, in: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004, S. 413-431, hier S. 427. 575 Pfister, Manfred: „Performance/Performativität“, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart: Metzler 2005, S. 172-175, hier S. 173.

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und Stand-Up-Comedy-Shows Oliver Polaks und den neuen Medien, welche den Inszenierungscharakter in besonders eindringlicher Weise als ästhetisches Konzept implementieren, soll einleitend in diesen Themenkomplex ein wie die Literatur höchst klassisches Erinnerungsmedium eingesetzt werden, welches als ein „Ausgangspunkt“ von Performances576 zu sehen ist: die bildende Kunst, im Speziellen die „aktiven“, „reflexiven“ oder auch „Anti-Denkmale“ und Mahnmale des Holocaust577 . An ihrem Beispiel und mit ihren Merkmalen wie Unwiederholbarkeit und (körperliche) Präsenz lässt sich zum einen zeigen, wie sehr performative Aspekte von je her auch in die kommemorativen Medien Einzug halten, zum anderen wird die klassische Denk- und Mahnmalkunst sowie die Gedenkstätten- und Museumskultur in den folgenden Kapiteln immer wieder als Referenz, aber auch als Kontrastfolie zu den neuen Formen und Formaten der Erinnerungskulturen, heranzuziehen sein. In den traditionellen Erinnerungsmedien des Holocaust gab und gibt es seit jeher eine performative Ästhetik, durch die das Unvorstellbare vorstellbar gemacht werden soll. Besonders in den visuellen Medien, zu denen die Denkmalkunst, die Fotografie oder das Theater gehören, werden Holocaust-Narrative dem Inszenierungs- und Aufführungscharakter seiner Trägermedien zugeführt. Dabei geht es aber nicht nur um das inszenierte Arrangement von etwa historischen Relikten, sondern die Performanz bezieht sich auch auf die performative Teilhabe, d.h. die Partizipation durch den Betrachter, Zuschauer oder Nutzer. Ein illustrierendes Beispiel aus der Denkmalkunst sind hier die reflexiven, ‚sprechenden‘ Denkmale des deutschen Künstlers Jochen Gerz, der vor allem in den 1980er und 1990er Jahren die ästhetischen Möglichkeiten der Holocaust-Denkmalkunst erweitert hat. Entgegen der Statik herkömmlicher Mahnmale, Museumsausstellungen oder WeltkriegsDenkmale setzte Gerz etwa mit dem verschwindenden Mahnmal in HamburgHarburg ein performatives Denkmal in den öffentlichen Raum. Mit dem Mahnmal gegen den Faschismus (1986-1993), so der offizielle Titel, errichtete er ein Monument gegen den Faschismus und für die aktive, reflexive Erinnerung an den Holocaust. Das Denkmal war als Work in Progress konzipiert, indem es erst durch einen performativen Akt der Betrachter zum Kunstwerk vollendet werden sollte. Die Besucher wurden aufgefordert, sich selbst durch ihre Unterschrift oder mit kurzen Statements und Texten auf der zwölf Meter hohen, bleiverkleideten Vierkantsäule 576 Vgl. auch G. Klein: Körper zeigen, S. 254. 577 Vgl. u.a. die Beiträge in: Martinez, Matias (Hg.): Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik, Bielefeld: Aisthesis 2004. Köppen, Manuel/Scherpe, Klaus R.(Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst, Köln: Böhlau 1997. Young, James E. (Hg.): Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München: Prestel 1994.

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des Mahnmals einzuschreiben.578 Dabei beschränkte sich der performative Akt nicht nur auf dieses Selbst-Mitgestalten. Die Besonderheit des Denkmals war seine von Anfang an auf Auflösung und Verschwinden hin konzipierte Projektanlage, denn je mehr Passanten auf der Stele unterschrieben, desto schneller wurde sie abgesenkt, bis nur noch eine metallende Grabplatte übrig blieb. Damit kam dem Besucher neben der Aufgabe der Errichtung des Mahnmals sogleich auch der Vollzug seines ‚Zerstörens‘ zuteil. In der Durchführung dieser Interaktion wurden das Kunstwerk zur Performance und der Betrachter zum Performance-Künstler. Um Interaktion und angeregte Aktivität des Besuchers ging es auch in der Projektanlage des Berliner Holocaust-Mahnmals, auf dessen Performativität später noch zurückzukommen sein wird. Wenn es im folgenden Beispiel auch um das postdramatische Theater579 bzw. die postmodernen Performances geht, dann impliziert dies ebenfalls zum einen die Transformation traditioneller Erinnerungsmedien und zum anderen die Transformation kommemorativer Narrative, die durch den Medienwechsel auch veränderte Rezeptionen und Aneignungen erfahren. Das einleitende Beispiel aus dem Bereich der Denkmalkunst soll dahingehend auch belegen, dass neuere ‚Erinnerungsperformances‘580 nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern traditionelle Vorläufer haben, an die sie kreativ anknüpfen und deren Merkmale sie transformieren. In diesem Transformationsprozess können jedoch durchaus die Absichten und Aussagen des künstlerischen Ausdrucks variieren. Dies bedeutet konkret, dass Kontext und Inhalt hinter die darstellende Form zurücktreten können und damit der Prozess der Aufführung zum eigentlichen Mittelpunkt des Interesses geriert. Dies nährt wiederum die konstante Kritik, die sich darauf beruft, dass dem ‚schönen Schein des Neuen‘ die inhaltliche Korrektheit untergeordnet ist.

578 Zur Projektanlage siehe u.a.: Schmidt-Wulffen, Stephan: „Ein Mahnmal versinkt. Ein Gespräch mit Esther und Jochen Gerz, 1987“, in: Young, James E. (Hg.): Mahnmale des Holocaust, München: Prestel 1994, S. 43-51, hier: S. 48. 579 Zur allgemeinen Definition des Postdramatischen Theaters siehe u.a.: Lehmann, HansThies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999. 580 Der Begriff ‚Erinnerungsperformance‘ ist soweit erkennbar bislang nicht in die wissenschaftliche Forschung eingegangen. Unter dem Begriff „Acting art of memory“/„Erinnerungsperformance“ sind verschiedene Kunstaktionen Wolfram Kastners geführt.

180 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST „If truthfulness is less important for a performance to be successful than energy and effect, completely fake life stories can actually be as effective in conveying the memory of certain event as real testimonies, as long as they are successfully performed.“581

Die Zunahme an Performance-Einflüssen, von Fiktion und Inszenierung in Thematisierungen des Holocaust gilt zwar in den alten Diskurses als problematisch, es ist jedoch gleichwohl ebenso zu beobachten, dass der Hang zur Inszenierung und zum Ausprobieren immer neuer avantgardistischer Auseinandersetzungsformen mit der Vergangenheit in der jüngsten Zeit tendenziell zunimmt und viele neue Möglichkeiten bereitstellt. Die erste hier genauer betrachtete Möglichkeit ist die Theaterinszenierung Dritte Generation von Yael Ronen – auf den ersten Blick eine Erinnerungsperformance par excellence und zugleich eine eindringliche Stellungnahme der multikulturellen dritten Generation gegen die Vehemenz des Erinnerungs-, Vergangenheits- und Deutschland-Diskurses.

2. Y AEL R ONENS D RITTE G ENERATION . W ORK IN P ROGRESS 2.1 Prolog „Die Kunst darf alles, besonders im Theater, wo das Undenkbare gedacht, das Unsagbare gesagt wird.“ GEORGE TABORI/SPIEL UND ZEIT

Als erstes Beispiel zum Thema ‚Performing the past‘ und zum Performative Turn, den es auch in den Erinnerungskulturen des Holocaust nachzuweisen gilt, wird die Theaterinszenierung Dritte Generation. Work in Progress582 der israelischen, u.a. in Deutschland lebenden Regisseurin Yael Ronen besprochen, welche anlässlich des Festivals „Theater der Welt“ im Sommer 2008 in Halle uraufgeführt und anschlie-

581 De Bruyn, Dieter: „World War 2.0: Commemorating War and Holocaust in Poland through Facebook“, in: Digital Icons: Studies in Russian, Eurasian and Cenral European New Media 4 (2010), S. 45-62, hier S. 54. 582 Ronen, Yael: Dritte Generation. Work in Progress. Eine Koproduktion der Schaubühne Berlin, dem Habima National Theatre of Israel, Tel Aviv und der RuhrTriennale 2009. Tel Aviv/Berlin 2008. Die Interpretation sowie alle wörtlichen Zitate beziehen sich, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf die transkribierte Aufführung vom 29.01.2010 im Thalia Theater Gaussstraße, Hamburg.

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ßend in einigen deutschen Städten gezeigt wurde. Yael Ronen sowie die meisten ihrer Ensemblemitglieder, Schauspieler, Dramaturgen, selbst Techniker und Assistenten, ist Angehörige derjenigen Generation, die sie zum Titel ihres Stückes macht: der dritten Generation nach Holocaust und Nationalsozialismus. Seine besondere Eignung um Transformationen der Erinnerungskulturen zu exemplifizieren, erhält das Stück dank seiner ästhetischen, inszenatorischen Eigenschaften sowie durch das innovative Aufgreifen und Demontieren traditioneller HolocaustNarrative und Vergangenheitsdiskurse. Hierzu werden in erster Linie Referenzen und Bezugnahmen bekannter kanonisierter Debatten der Nachkriegszeit wie die ‚Schulddebatte‘, die ‚Singularitätsthese‘, der ‚Opferdiskurs‘, reproduziert und durch ihre Aufführung als Bühneninszenierung dekonstruiert. Neben dieser Ebene, die sich mit der deutschen Vergangenheit und dem Holocaust befasst, werden auch gegenwärtige interkulturelle Themen am Beispiel des aktuellen Nahostkonfliktes zwischen Palästina und Israel thematisiert. Als dritte Ebene hält ein ‚gordischer Knoten‘ die Angehörigen der dritten Generation aus Israel, Palästina und Deutschland umspannt, dessen Knotenpunkte unabhängig ihrer nationalen und ethnischen Herkunft die alltäglichen, typischen Generationsthemen markieren, die auch Anleihen aus der Popkultur beziehen. Diese drei Diskurse bilden das Fundament der Inszenierung Dritte Generation. Der Begriff ‚Work in Progress‘, welchen Ronens Stück im Untertitel führt, verweist zum einen auf den besonderen Entstehungshintergrund des Stückes, zum andern auch darauf, dass der Inszenierung eine permanente Neubearbeitung immanent ist. Obwohl Theateraufführungen per se gerade nicht die Eigenschaft besitzen, in konstant wiederholbarer Weise fixierbar zu sein, sondern ihre performativen Elemente je prozessual und variabel sind, kommen dem ausdrücklichen Statement als Work in Progress darüber hinaus weitergehende Zuschreibungen zu. Nach der Definition als ein „zur Veränderung und zur Prozessualität explizit angelegtes Werk“ erhält Ronens Stück durch den programmatischen Zusatz Work in Progress von vornherein den Charakter eines einmaligen, veränderbaren Ereignisses, welches in seiner je aufgeführten Form kein zweites Mal wiederholt werden kann.583 Stattdessen wird der Plot als Neu- und Re-Formulierung alterierend neu gestaltet und als unabgeschlossener, transformativer Prozess „jeden Abend neu in die jeweilige Gegenwart hergestellt“584 . Dieses dynamische Verfahren des Work in Progress wurde 583 Der Begriff des ‚Werkes‘ findet in Dritte Generation gerade nicht im klassischen Sinn eines dramatischen Werkes seine Entsprechung wie noch ausgeführt wird. Die Veränderlichkeit wird aber auch im Vergleich unterschiedlicher Aufführungen deutlich. So weist die Aufführung in Hamburg vom 29.01.2010 im Vergleich zu dem Mittschnitt einer Aufführung der Schaubühne Berlin vom 25.03. 2009 einige Unterschiede in der szenischen Abfolge, den Dialogen und Sprecherrollen auf. 584 M. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 185.

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in dieser Arbeit bereits an anderen Beispielen motivisch und narratologisch herausgearbeitet. Wenn hier zudem die Wandelbarkeit des Stückes selbst in den Fokus gerät, dann ist auch das Thema, die Reflexion der Vergangenheit, in dieser Anlage im höchsten Maße durch Prozessualität, Übergang und Veränderung gekennzeichnet. Die Wandelbarkeit als wesentliche Eigenschaft von Performances an sich lässt kein Master Narrative, keine Gedächtnisspeicherung einer Master-Version entstehen und bleibt derart als ‚archivierte Gedächtnisformation‘ notwendig ungeeignet. Auch ein erneuter Besuch der Aufführung kann dem nicht entgegenwirken, da sich jedes Mal eine neue Performance darbietet und immer neue Wahrnehmungen erzielt werden.585 Die Wahrnehmung und Rezeption des Theaterstücks Dritte Generation ist somit der Ereignishaftigkeit seiner Inszenierung mehr verpflichtet, als der Speicherung eines Master Narratives. Da sich das Stück Dritte Generation in einer erwähnten postdramatischen Inszenierungspraxis verortet, wird sich die Analyse nicht auf die dramaturgische, sondern auf die performative, im Wesentlichen an das Improvisationstheater Anschluss nehmende, Aufführungspraxis beziehen. Nach der Theorie des postdramatischen Theaters wandelt sich das „Werk der Darbietung […] zum Akt und Monument der Kommunikation“586. Ronen verzichtet demzufolge weitgehend auf die zwei wesentlichen dramaturgischen Mittel Schauspiel und Bühnenbild. Den Bestand der Inszenierung erzeugen so in Dritte Generation primär die linguistischen Aspekte wie eine höchst komplexe Kommunikationsstruktur aus gesprochener Sprache, Dialogen, Monologen, verbalen Angriffen, ebenso wie eine metaphorisch implizite Sprache.587 Ohne die Dramaturgie, die durch das Stück führt und mit der vorherrschenden Work-in-Progress-Situation werden der gesprochene Text und das Sprechen als quasi einziger schauspielerischer Akt neben der reduzierten pantomimischen Darstellung der Monologe ausgezeichnet. Texte entstehen dabei nur als performative, die nicht nur als Figurenrede, sondern auch als autonome Theatralik fungieren.588 Als Sprecher stehen bzw. sitzen sich zehn Schauspieler und Schauspielerinnen unterschiedlicher Herkunft gegenüber. Sie kommen aus beiden ehemaligen Teilen Deutschlands, aus jüdischen Familien unterschiedlicher Herkunftsländer, sie sind muslimische und christliche Palästinenser mit israelischen Pässen. Ihr Schauspiel ist eigentlich nur teilweise eines im Wortsinn, da sich die Akteure vorwiegend selbst spielen und sich das diktierte Gesprochene untrennbar mit dem autobiographischen vermischt. Durch die Entdramatisierung und den weitgehenden Verzicht auf Skript 585 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 278. 586 G. Klein: Körper zeigen, S. 255. 587 Die auf der Bühne gesprochenen Sprachen sind Deutsch, Englisch, Arabisch und Hebräisch, teilweise mit Übertiteln in Deutsch und Englisch. 588 Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 14 f.

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und Drehbuch gestaltet die soziale Aufführungspraxis die theatrale Form.589 Dies wird auch durch die körperliche und räumliche Platzierung der Schauspieler auf der Bühne unterstützt. Dadurch dass sie in einem Halbkreis auf den Stühlen sitzen, gewinnt die Gruppenkonstellation von Beginn an den Anschein einer Therapie- oder Selbsthilfegruppe-Sitzung, in deren verlängerten Halbkreis das Publikum, ebenfalls auf seinen Stühlen sitzend, mit einbezogen wird. Da das Stück zusätzlich aus direkt in das Publikum gesprochenen Monologen sowie direkten Publikumsansprachen konzipiert ist, wird der Besucher im postdramatischen Sinn der auflösenden Trennung von Akteuren und Zuschauern zum ‚elften Bühnenschauspieler‘ bzw. hier zum ‚elften Therapiegruppenmitglied‘. Ohne Bühnenbild und Kulisse gewinnt der reduzierte Bühnenaufbau den Anschein einer postdramatischen Theaterinszenierung als „Theater als Labor“.590 Von dieser ‚Versuchsanordnung‘ ausgehend und nach einer kurzen Vorstellungsrunde, die von den Schauspielern pantomimisch begleitet wird, beginnen die Akteure in Monologen und sich allmählich in offene Dispute verwandelnden Streitgesprächen, ihre eigenen Geschichten und die ihrer Familien darzubieten. Auch wenn dabei stets wie oben erwähnt drei Diskurse miteinander verwebt werden, wird der eigentliche Ausgangspunkt des Disputs, die deutsche NSVergangenheit, nach nur kurzer Zeit offensichtlich. Die Akteure diskutieren auf dessen Folie die ihnen selbst anlastenden Rollenzuschreibungen, Klischees und Stereotype lautstark, bevor sie dazu übergehen, sich in explosiver Abfolge geradezu sämtliche Diskursdebatten – von der ‚Schulddebatte‘, über die ‚Singularitätsthese‘ bis hin zur Gedenkstättenkultur – „um die Ohren [zu hauen], dass es kracht“591 . Dabei machen die Akteure weder vor Pietäten noch vor Tabus halt: Hier kommt alles zur Sprache. Dass sich die Schauspieler dabei dennoch permanent bewusst sind, welch ‚heißes Eisen‘ sie anfassen, drücken sie mit einer ‚Performance des Unwohlseins‘, des „Unbehagen[s] mit sich selbst“592 aus. Theateraufführungen können im besonderen Maße „Schwellenerfahrungen“ auslösen und erfahrbar machen.593 In Dritte Generation gelingt dies nicht nur über die Partizipation der Zuschauer, sondern auch durch die Performances der Akteure. 589 G. Klein: Körper zeigen, S. 255. 590 Vergleichend siehe die Stücke Yoko Tawadas u.a. in: Arens, Hiltrud: „‚Die Toten erzählen grundsätzlich anders‘: Yoko Tawadas postdramatischer Text Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt“, in: Lützeler, Michael/Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkte: Nach der Postmoderne, Jüdischdeutsche Themen. Nation und Vergangenheit, Tübingen: Stauffenberg 2010, S. 59-82, hier S. 61. 591 Laudenbach, Peter: „Entschuldigung, tut mir leid. Yael Ronens ‚Dritte Generation‘ an der Berliner Schaubühne“, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.03.2009. 592 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 52. 593 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 341.

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Das Stück ist geradewegs als Replik auf die gegenwärtige, durch vielfache Übergangserfahrungen geprägte Erinnerungssituation der jungen multikulturellen Generation zu sehen. Hauptmerkmale ihres transitären Status‘ sind das Changieren zwischen verschiedenen Deutungshoheiten und der daraus resultierende Balanceakt zwischen starker ‚Diskursgefangenheit‘ einerseits und streitwilliger ‚Sprachfreiheit‘ anderseits. Dieses Changieren nimmt auch Einfluss auf den sozialen Austausch und die Interaktionen der einzelnen Gruppen. So werden in Dritte Generation auch Möglichkeiten des interkulturellen Austausches und -Dialogs strukturell aufgegriffen, in welchen neben kaum überbrückbar erscheinenden Ambivalenzen auch, vor allem auf der Gegenwartsebene, augenscheinliche Gemeinsamkeiten zu Tage treten. Im Mittelpunkt stehen jedoch die Auseinandersetzungen mit den Inhalten des Holocaust-Diskurses, die sich in der ästhetischen Darbietung mit der ‚literarischen Zerschreibung‘ Kevin Vennemanns in Beziehung setzen lassen. In diesem Zusammenhang interessiert Dritte Generation besonders im Hinblick auf seine ästhetischen Verfahrensweisen der Dekonstruktion und Demontage von etablierten Diskurselementen, die hier – auch durch das Medium bedingt – wesentlich performativer, theatraler Natur sind, sich aber dennoch auch an literarischen Mustern orientieren. Nach dieser Fasson treten nämlich immer auch spezifische literarische Motive u.a. der Interkulturalität wie Satire, Groteske, Komik und Parodien hervor, welche auf Fremde und Verfremdung verweisen und damit die interkulturelle Ebene der Inszenierung hervorheben. 2.2 Dan Bar-On: Storytelling und interkultureller Dialog „Manche fragen vielleicht, warum sollte man sich mit ungelösten Problemen aus der Vergangenheit beschäftigen, wenn die Gegenwart mit neuen Themen drängt? Meine Antwort ist, daß wir beides bewältigen müssen, denn wenn wir uns nur auf eines konzentrieren, ohne dem anderen Beachtung zu schenken, werden wir nie verstehen können, in was für einer Welt wir leben, wo wir herkommen und wo wir hingehen.“594

Der Untertitel „Work in Progress“ des Stückes Dritte Generation ist kein bloßer Zusatz. Der ihm inhärente veränderliche Prozess, der in Dritte Generation ein wichtiges Mittel der Aufführungsästhetik ist, kann zunächst mit dem Verweis auf die Entstehungsgeschichte des Stückes deutlich gemacht werden. Ein Merkmal von Dritte Generation ist nämlich in diesem Zusammenhang, dass es sich bei dem Stück nicht um eine reine Autorenarbeit handelt. Auch wenn sich die Regisseurin Yael Ronen federführend in der Entwicklung des Stoffes für die Bühne erweist,

594 Bar-On, Dan: Erzähl dein Leben. Meine Wege zu Dialogarbeit und politischer Verständigung, Hamburg: Edition Körber Stiftung 2004, S. 63.

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handelt es sich um eine Kooperationsarbeit in Zusammenarbeit mit den beteiligten Schauspielern, die wie erwähnt zu einem erheblichen Teil aus autobiographischen Inhalten besteht und essentiell von den Improvisationen der Schauspieler getragen wird. Das in seiner Anlage offene Drehbuch entstand in einem zweijährigen Entwicklungsprozess, der durch das Verfahren des Storytellings der beteiligten israelischen, palästinensischen und deutschen Schauspieler eingeleitet wurde. Das Initial zum Drehbuch war eine gemeinsame Reise, bei der die Schauspielergruppe samt der Regisseurin Ronen nach Israel, Berlin und in die palästinensischen Gebiete reiste. Neben den Besuchen von authentischen (Tat-)Orten der NSZeit, Gedenkstätten und Museen waren geleitete Gruppengespräche fundamentaler Bestandteil der Entwicklung des Plots.595 Im Zuge dieser Vorbereitungstreffen erzählten sich die Schauspieler ihre biographischen Familiengeschichten, dabei vor allem die Geschichten ihrer Großeltern, die den Holocaust z.T. selbst erlebt hatten. Durch die Aufarbeitung und Rekonstruktion der Geschichte der eigenen Familie wurden die persönlichen bzw. emotionalen Verstrickungen in die ‚große Geschichte‘ des Holocaust aufbereitet und durch weitere Perspektiven ergänzt oder aber auch in ihrer Deutungshoheit gefährdet. Entlang der Reibungsflächen, die diese Geschichten offenlegten, inszenierte Ronen den thematischen Plot aus Monologen und Dialogen, dessen Umsetzung auf der Bühne die Schauspieler in die Position versetzt, die Dialoge und Geschichten noch einmal nach- und physisch durch zu leben. Die Übertragung der Familiengeschichten auf die Bühne verändert aber auch die Geschichten selbst. Anstatt die Geschichte der Familie einer stabilen Form, wie etwa im Familienroman gegeben, zuzuführen, bleibt sie in Ihrer Mündlichkeit als Bühnendialog oder -Monolog ‚flüssig‘, dynamisch und vor allem auch diskutabel und veränderbar. Die Deutungsmacht an der eigenen und an der großen Geschichte wird notwendig zur Disposition gestellt, denn erst durch die Anwesenheit und Interaktion der Zuhörer, Gesprächs- und Diskussionspartner konstituiert sich die Erzählgestalt der Familiengeschichte.596 Als auf die Bühne und vor Publikum verlängerter persönlich-emotionaler Auseinandersetzungsprozess gewinnt außerdem der inszenatorische Akt der Vergegenwärtigung und des Geschichtenerzählens besondere Relevanz. Durch die Sprecher-Hörer-Interaktion des Geschichtenerzählens werden auch Räume interkultureller Empathie geschaffen. Dieses auch für die spätere Bühneninszenierung wichtige interkulturelle Moment wurde durch die Anwesenheit des isra595 Über diese Vorbereitungstreffen und den Entstehungsprozess des Stückes informiert der im Anschluss an die Hamburger Vorführung gezeigte „Making-of-Film“, aus dem im Folgenden wörtlich zitiert wird. 596 Vgl. Welzer, Harald: „Das gemeinsame Verfestigen von Vergangenheit im Gespräch“, in: Welzer, Harald. (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg: Hamburger Editionen 2001, S. 160-179, hier S. 171.

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elischen Sozialpsychologen Dan Bar-On gestützt. Bar-On begleitete neben Historikern wie z.B. Dan Diner sowie Politikern und Schriftstellern die Vorbereitungstreffen der Schauspielergruppe und unterstützte die Gespräche durch sein psychoanalytisches Konzept des Storytellings und des dialogischen Modells zur interkulturellen Verständigung reflect and trust.597 Besonders in den 1990er Jahren hatte Bar-On umfangreiche empirische, soziologische Forschungen zu Therapiemöglichkeiten von Traumapatienten und Täternachkommen unternommen, die ihn zu einem der bedeutsamsten Wissenschaftler der NS-Nachkommen- sowie der TraumaForschung und zum herausragenden Autoren der „Verständigungsliteratur zum Generationentransfer“ gemacht haben.598 Mit der Initiation eines dreijährigen deutsch-israelischen Forschungsprojektes, welches sich mit den psychologischen Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die unterschiedlichen Täter- und Opfergruppen befasste, untersuchte Bar-On insbesondere die Übertragungen von Erfahrungen der Zeitzeugengeneration, der ersten Generation, auf ihre Nachkommen, die zweite, bzw. auch dritte Generation – erstmalig auch explizit auf Seiten der Täterfamilien. Die therapeutischen Gruppengespräche wurden nicht nur innerhalb ethnischer Gruppen, sondern auch im Gespräch unter den verschiedenen Generationen angeleitet. Dabei sollten Mauern überwunden werden, zum einen die zwischen den Generationen, die „doppelte Mauer“ zwischen Eltern und Kindern und zum anderen die Mauer zu der Erkenntnis, „Gefühle dem anderen gegenüber zu artikulieren und zu diskutieren – als Deutsche und als Israelis.“599Aus diesen empirischen Untersuchungen entstand Bar-Ons Arbeit zur Dialog- und Gesprächsstrategie, die schließlich im Jahr 1992 in der Gründung der Gruppe „TRT“ (to-reflect-and-trust) mündete und für Dritte Generation Pate stand. Die Gruppen, die Bar-On in den Gesprächen der TRT-Sitzungen zusammenbrachte, waren nicht nur unmittelbar Betroffene oder involvierte Opfer- und Täterangehörige, sondern auch deren Nachkommen in zweiter und dritter Generation,

597 Siehe dazu insbesondere Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2003 und D. Bar-On: Erzähl dein Leben. 598 Kutz, Susanne: „Vorwort: Verstehen und Verständigung“, in: Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern, Hamburg: Edition KörberStiftung 2003, S. 11-15, hier S. 11. 599 Hare, A. Paul: „Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse des deutschisraelischen Forschungsprojekts“, in: Bar-On, Dan/Brendler, Konrad/Hare, A. Paul (Hg.): „Da ist etwas kaputt gegangen an den Wurzeln.“ Identitätsformation deutscher und israelischer Jugendlicher im Schatten des Holocaust, Frankfurt a.M.: Campus 1997, S. 273-287, hier S. 283.

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denen mitunter die Feindschaften weitervermittelt wurden.600 Bar-On wollte wissen, inwieweit sich die einzelnen Mitglieder ihrer ‚vererbten Belastung‘ bewusst und wie tief ihre Vorurteile verankert sind. Vor allem aber war Bar-On daran gelegen, Auswege aus diesen nachhaltig gestörten Kommunikationssystemen zu finden, wobei sich schnell herausstellte, dass die offene Konfrontation, der Dialog und auch das kontroverse Streitgespräch die Erfolg versprechenden Lösungen gegen lang währende Vorurteile und Feindschaften sind. Die Quintessenz, die Bar-On schließlich aus den Gruppentreffen zog, war die, dass ein für die interkulturelle Verständigung und das Auflösen von Feindschaften fruchtbares Gespräch erst ab der dritten Generation überhaupt möglich ist, da die ersten beiden Generationen ihre Traumata kaum ablegen können. Jedoch musste Bar-On ebenfalls erkennen, dass die Traumatisierungen und Feindseligkeiten mit der dritten Generation nicht eingestellt werden, sondern auch hier ihre dysfunktionale Wirkung beibehalten: „Die Ersteren leiden am häufigsten unter der ‚Schuld des Überlebens‘, da viele Familienangehörige ermordet wurden. Die Täter versuchen meist, die von ihnen verübten Gräuel vor ihren Familien zu verbergen […]. Das Ergebnis des Schweigens kann jedoch das gleiche sein: Es führt dazu, dass das Trauma auf die nachfolgenden Generationen übertragen wird.“601

Mit seinen Gesprächsrunden zwischen den interkulturellen Gruppen der dritten Generation empfahl sich Bar-On für Yael Ronens Theaterprojekt als Experte. Auch in den Vorbereitungsgesprächen zu Dritte Generation zeichnete sich schnell ab, dass sich hier problematische transgenerationelle Belastungen und Schuldverschiebungen konsequent in die Familiengeschichten der Schauspieler eingeschrieben haben. Bemerkenswertes Resultat des Storytellings während der Vorbereitungen zum Stück war, dass alle drei beteiligten Gruppen, Israelis, Palästinenser und Deutsche, unabhängig ihrer individuell unterschiedlichen Biographien und Familiengeschichten, die Opferrolle für sich selbst und ihre Eltern und Großeltern beanspruchen, sie „alle ihre Großeltern zunächst mal als Opfer darstellten“602. Diese durch Tradierungen im Familiengedächtnis implementierte, standardisierte Annahme wurde durch die bereits erwähnte Studie von Harald Welzer u.a. für deutsche Familien evaluiert und setzt sich hier in einem erweiterten Radius fort. Die Gespräche und Erzählungen erfüllten weder Regeln der Aufklärung oder Wahrheitsfindung noch orientierten sie sich in dieser Phase an hinlänglich bekannten ‚ Opfer-/ Tätermerkmalen‘. Im kommunikativen Familiengedächtnis geht es darum, unter 600 Zu diesen untersuchten Gruppen zählen neben ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ auch palästinensische und israelische Gruppen. 601 D. Bar-On: Erzähl dein Leben, S. 48. 602 Ronen, in: Wellershaus, Elisabeth: „Jeder hält seine Großeltern für Opfer“, in: Die Welt vom 27.06.2008.

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den „Erfordernissen von Kohärenz, Identität und wechselseitiger Loyalität […] die ‚gute Geschichte‘ der Familie aufrechtzuerhalten und fortzuschreiben.“603 Diese Haltung übersetzen Yael Ronens Schauspieler später auf der Bühne in eine besonders eindringliche, zentrale Performance: das Fingerzeigen. Ziel des therapeutisch unterstützen interkulturellen Dialogs mit Bar-On war es, gegenseitiges Vertrauen zu ermöglichen. Die Gruppengespräche sollten dazu dienen, über die Reflexion des fremden Gegenübers, „die Anderen in uns“ zu erkennen, Vertrauen aufzubauen (to reflekt and trust) um, wenn auch nicht den am Krieg beteiligten, so doch den nachfolgenden Generationen ein Zusammenleben der beiden Opfer- und Tätergruppen zu ermöglichen. Den Begriff ‚Vertrauen‘ macht BarOn insbesondere als Alternativformel zum Begriff ‚Versöhnung‘ stark, der konstituent in den Opfer-/Täterdiskursen anzutreffen ist. Vertrauen als per se nicht messbare Größe bedeutet nach Bar-On zugleich nicht das endgültige Ziel, sondern den Weg dorthin. Es ist der Prozess, der Bar-Ons Vorstellung von interkultureller Annäherung erfüllt.604 Am praktischen Beispiel seiner Therapiegruppen macht Bar-On deutlich, dass im Zusammenwirken der ethnischen, durch den Holocaust belasteten Gruppen, nicht nur alternative Begriffe die Kommunikation, sondern explizit eine eigene Sprache, eigene gruppenspezifische Idiome und Verhaltensregeln das Zusammenleben erleichtern. Diese Ergebnisse nehmen Einfluss auf die Inszenierung von Dritte Generation. Auch hier steht die Entwicklung einer eigenen Diskurssprache und Streitkultur der interkulturell geprägten dritten Generation im Fokus. Dies gelingt dergestalt aber nur über den Versuch, die alten sprachlichen Zwänge, Traumata und Diskursregeln erst einmal zu durchbrechen und zu dekonstruieren. Dass die Diskurse dabei aber dennoch gleichzeitig auch bedient und genährt werden, wird zur inszenatorischen Herausforderung und zum Kernelement der Dekonstruktionen à la Yael Ronen. 2.3 Dekonstruktionen Ronens Stück Dritte Generation wurde noch vor seiner Uraufführung unlauterer Umgang mit dem Andenken an die Opfer des Holocaust unterstellt. Besonders die Tatsache, dass hier der aktuelle Gazakonflikt und die Verfolgung und Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg auf gleicher Bühne und Diskursebene verhandelt werden sollten, stieß auf kritische Stimmen, insbesondere aus den jüdischen Ge-

603 H. Welzer/S. Moller/K. Tschuggnall: Opa war kein Nazi, S. 24. 604 Vgl. D. Bar-On: Erzähl dein Leben, S. 76 f.

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meinden und Institutionen. „Auch die Kunst muss ihre Grenzen haben“605 , wurde in diesem Zusammenhang z.B. von Isaak Behar, dem ehemaligen Gemeinde-Ältesten der Jüdischen Gemeinde Berlin gefordert. Dass sich das Stück in der Tat an den Diskursen des Holocaust und den Traumata und Tabus nicht nur kritisch abarbeitet, sondern sie auch vergleicht, dekonstruiert und zuweilen satirisch unterwandert, ist Haupttenor des Stückes und setzt wahrlich Provokationen frei, die auch durch das künstlerische Selbstverständnis und die Person Yael Ronens zunächst nicht gänzlich abgemildert werden können. Dabei geschieht in der Konsequenz hier das genaue Gegenteil von unreflektierter Gleichsetzung und unter dem Deckmantel der Kunst versteckter Verharmlosung und Verkürzung: Hier kommen alle relevanten Nachkriegsdiskurse offen und reflektiert zur Sprache. Auf der Inszenierungsebene werden dazu jedoch zunächst auch Demontagen des etablierten HolocaustDiskurses und Dekonstruktionen der traditionellen Gedenkkultur vorgenommen. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um deklassierende Ansprachen der Schauspieler oder inszenierte Geschichtsklitterung. Die Demontage der Diskurselemente wird als wesentliche Intention zum Gelingen des Stückes inszeniert. Sie zeigt auf dramatische, schonungslose Art und Weise die ambivalente Situation der dritten Generation und das Kollidieren von ‚oktroyiertem Unbehagen‘ und selbst eingeforderter Sprachfreiheit. Besondere Stilmittel sind dabei vor allem der (jüdische) Witz, Humor, Ironie und Sarkasmus sowie Paradoxie, Verfremdung und Alterität. Letztere gelten auch als Topoi der Interkulturalität. Im Folgenden werden nun die drei primären Diskursfragmente des Stückes – ‚Opferdiskurs‘, ‚Singularität‘ und ‚Schlussstrich‘ – in ihrer performativen Darstellung und semantischen Konnotation analysiert sowie zugleich deren Dekonstruktion von Zeichen, Sinn und Bedeutung grundgelegt. Dabei geht es insbesondere darum zu untersuchen, wie hier sprachlich und performativ konstruiert, demontiert und vorgeführt wird, was über die vergangenen Jahrzehnte hinweg den HolocaustDiskurs bestimmt hat und nun nicht mehr ‚zu passen‘ scheint. 2.3.1 Opfer- und Schulddiskurs Der Opfer-/Täterkonflikt stellte sich bereits in den Vorbereitungsgesprächen als Siedepunkt des interkulturellen Dialogs und als Reflexionsfolie der Familiengeschichten heraus. Auch in der Bühneninszenierung bilden der Opferdiskurs und die sich ihm anschließende Schulddebatte den erzählerischen wie inszenierten Mittelpunkt. Die Frage nach Opfertum und Schuld schreibt sich als durchgehendes Narrativ in das Stück ein, zum einen als Performance durch das Fingerzeigen, zum anderen auf sprachlicher Ebene in den Wortbeiträgen der Schauspieler. Bereits die erste 605 Behar, Isaak, in: Weigand, Frank: „Protest gegen ‚Dritte Generation‘. Verharmlost die Schaubühne den Holocaust?“, in: Welt-online: http://www.welt.de/kultur/theater /article3407471/Verharmlost -die-Schaubuehne-den-Holocaust.html vom 05.03.2010.

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Szene beginnt mit einer ‚Schuldperformance‘ des deutschen Schauspielers Niels Bormann, welcher das Thema Schuld in weiteren Szenen immer wieder variierend wiederholt.606 Als erster und für eine Zeitlang auch einziger Schauspieler auf der Bühne epilogisiert Bormann in selbstdenunzierender Haltung eine groteske Selbstanzeige gepaart mit Entschuldigungsfloskeln, die er im Verlauf des Stückes zu seinem Leitsatz „es tut mir leid“ stilisiert. Bormann entschuldigt sich zunächst für die Verspätung, das fehlende Bühnenbild, das zu erwartende Laienspiel etc. Dabei bedient er sich, naiv verwandelt, stereotyper Vorurteile gegenüber den mitspielenden Bevölkerungsgruppen, der Regisseurin und den „afrikanischen Zuständen“ während der Vorbereitungen. Er präsentiert in diesem Prolog einen Katalog an politischen Inkorrektheiten, obwohl ihm anzumerken ist, wie sehr er sich zugleich bemüht, alles richtig zu machen und gerade ausgesprochen politisch korrekt zu agieren. Weitgehend unvermittelt entschuldigt er sich dann bei allen Juden stellvertretend für alle Deutschen für den Holocaust: „Als Deutscher muss ich sagen […] es tut mir leid.“ Auch hier versucht er, politisch und historisch korrekt zu formulieren, indem er sofort auch andere Opfergruppen des Holocaust, Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, bedenkt und mit in seine General-Entschuldigung aufnimmt. Im Anschluss daran wechselt Bormann in die noch jüngere Vergangenheit und entschuldigt sich stellvertretend bei den Türken für die Verbrechen gegen sie in den 1990er Jahren. „Sind Türken anwesend? […] Es tut mir leid, was damals passiert ist.“ Von der ersten Szene an deklassiert sich Bormann selbst zum personifizierten deutschen Schuldeingeständnis. Permanent, teilweise grotesk und kontextlos und immer pauschalisierend, entschuldigt sich Bormann wieder und wieder mit der in ihrer Redundanz ins Lächerliche tendierenden Sprachformel: „Es tut mir leid“. Unterstützt wird der Anschein der unfreiwilligen Komik überdies durch den naiven Habitus des Schauspielers. Bormann mimt den vorbildlich „säuselnde[n] Schuldkomplex auf zwei Beinen“607. Er übernimmt die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen, an denen er selbst, vermutlich auch seine Familie, nicht schuldhaft geworden ist allein aufgrund seiner Nationalität als Deutscher und als Nachkomme des in diesem Sinne konnotierten ‚Tätervolkes‘. Charakteristisch bezeichnet Welzer diesen Nachkommentypus als „Tradierungstyp Rechtfertigung“, dessen Reagieren auf Grundlage unterstellter Schuldvorwürfe an die Zeitzeugengeneration in der 606 Da alle Schauspieler sich selbst unter ihrem eigenen Namen spielen, ist auch der Name Bormann kein fiktiver, in diesem Fall gleichwohl semantisch aufgeladener Figurenname, sondern der Familienname des Schauspielers. Eine verwandtschaftliche Beziehung zu dem NS-Kriegsverbrecher Martin Bormann besteht nicht. 607 Slevogt, Esther: „Du sollst nicht Vergleichen“, in: Nachtkritik.de, 20.03.2009. Siehe: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=2559%3A dritte-generation-yael-ronens-work-in-progress-geht-in-die-zweite-phase&catid=34%3 Schaubuehne-berlin&Itemid=40 vom 03.02.2010.

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Wiederholung routinierter Rechtfertigungsstrategien liegt.608 Diese kausale Eindimensionalität ist, auch wenn sie in ihrer performativen Übersetzung in Dritte Generation ins Groteske verzerrt ist, als Paralleldiskurs zum Opferdiskurs etabliert und insbesondere im Zeichen transgenerationeller Traumatisierungen als literarisches Motiv auch in der jüngeren deutschsprachigen Literatur belegt, z.B. bei Doron Rabinovicis Protagonisten in Suche nach M. (1997): „Es tut mir leid. […] Ich war’s, ich bin’s gewesen“, lautet dort die schon pathologische Bekenntnisformel des geheimnisvollen Mullemanns.609 Auch in der Erzählung Die Flatterzunge (1999) von Friedrich Christian Delius heißt es gleich zu Beginn an die Adresse eines imaginären Richters: „Ich gebe alles zu, Herr Richter, ich habe alles falsch gemacht, ich bin schuldig.“610 Interessant ist am Phänomen dieser ‚inkorpierten Schuld‘, dass sie einen Gegenpart, eine Entschuldigungen einfordernde juristische oder moralische Instanz voraussetzt, denn ‚wo kein Kläger, da kein Richter‘ und ohne Anklage keine Entschuldigung. Im Fall von Niels Borman und seiner an die Adresse des Publikums gerichteten Entschuldigungswelle wird dementsprechend das Publikum stellvertretend als diese Instanz eingesetzt und gewinnt als Garant für die Performance eine zusätzliche Bedeutungsebene. Bei Niels Bormann findet die Schuldübernahme nicht nur aufgrund seiner Nationalität, sondern zudem auch transgenerationell statt. Seine deutsche Abstammung sowie die Zugehörigkeit zur dritten Generation und damit zu einer – dem traditionellen Diskurs folgend – Nachkommenengeneration der Täter macht ihn zur „Projektionsfigur der beschädigten Ich-Identitäten der Älteren“611 und zum für ihn ausreichenden Indiz seiner Schuldhaftigkeit. So sehr diese Haltung dem Anschein des Welzerschen Rechtfertigungstypus‘ wie auch dem von Bar-On elaborierten Phänomen kollektiver Reue und Schuldgefühle entspricht612, äußert sie sich in einer Performance, die Ansatz an der Verkörperung des deutschen Opferdiskurses nimmt. Anstatt seine Angehörigen und sich selbst als Opfer zu betrachten wie es auch seine Schauspielerkollegen unternehmen, beharrt Bormann zunächst in seiner ‚Meaculpa-Haltung‘, in die er jedoch trotz seiner Entschuldigungsformeln nicht recht hineinzupassen scheint und in der er sich sichtbar unwohl fühlt. Die Körperhaltung sowie Gestik und Mimik des Schauspielers verraten seine Scham und sein Unwohlsein, sein mitunter desorientierter, flapsiger Gang lassen auf die „vergifteten Wur608 H. Welzer/S. Moller/K. Tschuggnall: Opa war kein Nazi, S. 82 f. 609 Rabinovici, Doron: Suche nach M., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 610 Delius, Friedrich Christian: Die Flatterzunge. Erzählung, Reinbeck: Rowohlt 1999, S. 10. 611 Freund, Winfried: „‚Keine Vorstellungen mehr […]‘. Doron Rabinovicis ‚Suche nach M.‘, in: Freund, Wieland/Freund/Winfried (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart, München: Wilhelm Fink 2001, S. 183-189, hier S. 186. 612 D. Bar-On: Erzähl dein Leben, S. 85 f.

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zeln“613 seines ‚Deutschseins‘ schließen. Bis auf eine Szene, in der sich Bormann paradoxer Weise lautstark gegen die ihm als Deutscher pauschal auferlegte Schuldzuschreibung zur Wehr setzt, verharrt er in seiner Stellvertreterrolle als ‚schuldiger Deutscher‘. Durch seine ungewollt lächerliche Körpersprache und die selbstkasteiende Schuldannahme erscheint Bormann keinesfalls als ‚Täter‘, sondern gebärdet sich vielmehr als ‚das andere Opfer‘, als Opfer stereotyper Schuldzuweisungen und eines ‚sinnentleerten‘ deutschen Opferdiskurses, welcher ihn in diese Haltung hineinzwängt. Die übrigen Schauspieler bieten zu dieser inkorpierten Schuld Bormanns den Kontrast dar, indem sie nach den Funktionsweisen des „Tradierungstyps Opferschaft“614 agieren. In ihren Wortbeiträgen berichten sie von den traumatischen Ereignissen in ihren Familien, die sich neben dem Holocaust auch auf die aktuellen Geschehnisse und die Nakba-Katastrophe beziehen. Als wiederkehrendes performatives Mittel gewinnt das bereits erwähnte Fingerzeigen eine besondere Relevanz, mit welchem das ‚Opferbekenntnis‘ durch die körperliche Performance verstärkt wird. Sobald in einem Redebeitrag das Wort ‚Opfer‘ fällt, zeigen alle Schauspieler sofort per Fingerzeig auf sich selbst, während beim Begriff ‚Täter‘ unmittelbar mit dem Finger auf jemanden beliebig anderen aus der Runde verwiesen wird. Dass diese wiederholte Performance einen abstrusen, humoristischen Aspekt hervor bringt, lässt sich leicht vorstellen. Zugleich verweist sie aber auch auf die Schwierigkeit, in der dritten Generation entsprechende Täter- oder Opferzuweisungen überhaupt ‚sinnstiftend‘ vorzunehmen bzw. entsprechende Bezeugungen von den Akteuren selbst einzufordern. Die deutsche Schauspielerin Judith Stößenreuter zeigt sich sichtlich schockiert darüber, dass sie bei ihrem Besuch in Israel nicht einmal Juden und Muslime auseinanderhalten konnte, geschweige denn israelische und palästinensische Juden: „They look the same.“ Zugleich ist ihr die Unterscheidung durch stereotype Attribute und Charakteristika gerade in Bezug auf vermeintliche Täter- und Opferzugehörigkeiten überaus wichtig: „Aber es ist wichtig zu wissen, wer wer ist.“ Das Bedürfnis oder die Erwartung nach augenscheinlichen Unterscheidungsmerkmalen korreliert mit der Verwirrung darüber, wer denn nun eigentlich die ‚echten‘ Opfer sind, wer mehr gelitten hat und wer letztlich die Schuld trägt. Indem die eingeforderten eindeutigen Identitäten parodiert und desillusioniert werden, stiften sie „Verwirrung und Vervielfältigung“615. Während es auch im Kontext der aktuellen Ausschreitungen im Gazagebiet um die Schuldfrage, vor allem aber um eine inhärente ‚opfer-hierarchische‘ Konkurrenz, ein abstruses ‚OpferRanking‘ geht, entwickelt sich für die deutschen Schauspieler die historisch eviden613 D. Bar-On: Erzähl dein Leben, S. 69. 614 H. Welzer/S. Moller/K. Tschuggnall: Opa war kein Nazi, S. 82. 615 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 61.

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te Frage, ob ‚die Deutschen‘ und ihre nachfolgenden Generationen auf Ewig ‚das Tätervolk‘ bleiben oder ob sie ihre historische Schuld möglicherweise gerade durch die Anwesenheit anderer ‚Schuldiger‘, Schuldige im Gazakonflikt, mit den Generationswechseln und der wachsenden zeitlichen Distanz allmählich ‚abgegolten‘ haben. Indem sie sich selbst bzw. ihre Vorfahren auch als Opfer eines Systems beschreiben, können sie diese Wendung als eigenen Schutzschild in Gebrauch nehmen. Die Frage nach beständiger oder abgegoltener Schuld präsentiert sich als zentraler Ausgangs- und Angriffspunkt für die Auseinandersetzungen der jungen Generation mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus. Aus der Erkenntnis ihrer Unlösbarkeit heraus leitet sich der Auftrag einer Neuverhandlung der Schuld-/ Opfer-Semantik ab. Neben den persönlichen bzw. familiären Verstrickungen der Vorfahren in die Verbrechen des Nationalsozialismus wird der Opfer-/Täterdiskurs in Dritte Generation auch immer wieder großzügig generalisiert. Dies bezieht sich nicht nur auf das vermeintliche Opferkollektiv, dem nach der hier dargebotenen Inszenierung alle Schauspieler mit Ausnahme der drei deutschen angehören, sondern auch auf die kollektive Täterschaft, welche hier ‚die Deutschen‘ inkorpieren. In einem ähnlich stereotyp stigmatisierenden Tenor wird dem deutschen Täterkollektiv in mehreren Sequenzen und von verschiedenen Protagonisten des Stückes vorgeworfen, sich bis heute nicht (genügend) mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander zu setzen: „You do not face your past“. Angesichts der enormen Anstrengungen, die Deutschland seit der Nachkriegszeit in die Aufarbeitung und die Bewältigung der NS-Zeit wie in die Opferentschädigung investiert hat, ist dies jedoch eher ein bewusst provozierender Vorwurf denn eine fundierte Anklage. Eine weitere, im Zusammenhang mit der deutschen Täterschaft überaus populäre Fragestellung ist die danach, wie viel die Deutschen während des Dritten Reichs von den Verbrechen gegen die Juden gewusst haben und wovor sie möglicherweise absichtlich die Augen geschlossen haben: „You don’t want to know“ – so wird dieses Thema in Dritte Generation eingeführt. Auch diese Fragestellung ist in den vergangenen Jahrzehnten sowohl politisch diskutiert, als auch in unterschiedlichen kulturellen Medien wie der Wanderausstellung Verbrechen der Wehrmacht (1995-1999) oder Goldhagens Skandal Buch Hitlers willige Vollstrecker (1996) reflektiert worden. Während sich die rein ‚biologisch‘ möglichen Verantwortlichen, die Generation der Zeitzeugen des Holocaust, jedoch immer mehr reduziert und die persönliche Schuldfrage daher juristisch oder politisch kaum noch zu validieren ist, überträgt sich die Schulddebatte als kollektives Thema weiterhin auf ihre Nachkommen. Obwohl die Angehörigen der dritten Generation, die hier auf der Bühne stehen, weder am Holocaust noch an der Nakba-Katastrophe beteiligt waren, findet die moralische Implikation der Schuldfrage in ihren Gegenwartshorizont Einzug, indem sie implizit ihren Deutungsanspruch aus der Opfer- und Tätertradition ihrer Vorfahren ablei-

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tet.616 Doch auch die andere Seite des Schulddiskurses, die auf das Mantra ‚Nie wieder Auschwitz‘ referiert, pflanzt sich in den Debatten der jungen Generationen fort und wird auch in Ronens Diskursarrangement aufgenommen. ‚Nie wieder Auschwitz‘ hatte einst insbesondere der 68er-Generation als pazifistische Parole gegolten und wird heute, als moralischer Grundsatz unanfechtbar, zum Anlass künstlerischer Verfremdung und Agitation. Yael Ronen verfremdet diese Aussage in Dritte Generation, indem sie diese z.B. als sarkastischen Witz in dem Lied „Don’t stopp sending us to Auschwitz“ umwandelt. 2.3.2 ‚Singularitätsthese‘, Vergleichbarkeiten und Touching Tales Dritte Generation macht es sich von der ersten Szene an zur Aufgabe, mit den Identitäten, Stereotypen und Charakterzuschreibungen der einzelnen Gruppen zu spielen. Einerseits werden dabei wie oben erwähnt Fronten ausgewiesen, indem distinktive Opfer- und Tätercharakterisierungen forciert werden, zugleich durchdringen sich diese letztlich dann doch nur konstruierten, holzschnittartigen Gruppen gegenseitig und verschmelzen zu der einen Gesamtgruppe ‚3G‘. Gleich zu Beginn wird mit wenigen requisitatorischen Mitteln auf die äußerliche Uniformität der performenden Gruppe insistiert: Die Kleidung der Schauspieler ist einheitlich, sie tragen alle die gleichen roten T-Shirts mit den prägnanten, in schwarzen Lettern gedruckten Aufdrucken ‚3G‘. Dieses ‚3G‘ steht für ‚dritte Generation‘ und stellt damit zum einen eine Analogie zum Titel des Stückes her und kennzeichnet zum anderen sogleich die handelnden Personen in ihrer herausragenden Eigenschaft: Sie sind alle Angehörige der dritten Generation nach Holocaust und Nationalsozialismus und markieren damit eine zunächst einmal angenommene und stereotyp überzeichnete generationelle Gruppenidentität und Zusammengehörigkeit. Die T-Shirts sind nicht zufällig gewählte Kleidungsstücke, sondern sogleich Bühnenkostüme und damit Teil der Inszenierung. Mit dem T-Shirt als „Transformationskleidungsstück schlechthin“617 und der Identifikationssiegle ‚3G‘ geriert auch der performative Akt des T-Shirt-Tragens nicht nur zur Körpergestik, sondern zur Transformation von Botschaften, hier zur performativen Praxis von Gedächtniseinschreibungen. Durch die Botschaft ihrer T-Shirts geben die Akteure nicht nur Auskunft über ihre Alterskohorte, sondern implizit auch über ihre aufoktroyierte Gedächniskonstitution, der zunächst mit der Bezeichnung ‚dritte Generation‘ unmissverständlich ein ausgewiesener Platz im Gefüge des Gedächtnismodells zugewiesen wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang die generationsspezifische Betitelung einer weiteren ‚Person‘, die am Ende des Stückes auf die Bühne gebracht wird. Es handelt sich dabei um eine Handpuppe, die einen grauen Bart und ebenso ein rotes T-Shirt trägt, auf dem allerdings die Aufschrift ‚1G‘ für ‚erste Generation‘ gedruckt ist. 616 Vgl. U. Jureit: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung, S. 85 ff. 617 Vgl. T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 77 f.

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Während auf der einen Seite der Uniformität der Schauspieler durch die T-Shirts stattgegeben wird, wird auf der anderen Seite mit typisierten Gegenständen, die vor Beginn der Aufführung unter den Sitzplätzen der Schauspieler deponiert wurden, die Personalisierung der Charaktere vorgenommen. Die Kennzeichnung der Plätze bzw. Orte auf der Bühne lässt sich in Anlehnung an das Modell des Gedächtnistheaters als dessen „Re-Aktualisierung“ lesen618. Auf der ‚bewegten Bühne‘, auf der die Schauspieler immer wieder ihre Plätze und auch die Bühne verlassen und in ihrem Schauspiel die Rollen wechseln, verweisen die z.T. individuell markierten Plätze auf Beständigkeit und Gedächtnisunterstützung. Gleichzeitig sind die verwendeten Gegenstände, die als Individualitätsmerkmal gelten sollen, äußerst plakativ und weisen national-ethnische Unterschiede anhand von standardisierten Merkmalen aus, wie z.B. der ‚Palästinenserschal‘ für die palästinensischen Schauspieler als typisch gelten soll. Trotz der Zugehörigkeiten zur dritten Generation werden für den Zuschauer damit auch von Beginn an Unterscheidungen sichtbar gemacht und die Körper der Schauspieler mithilfe körpernaher Symbole wie dem T-Shirt oder dem Schal zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen. Alle Zeichen, die der Individualisierung der Gruppen dienen sollen, werden jedoch in dem Moment gleich wieder zunichte gemacht, in dem sich die Schauspieler selbst als Opfer und gegenseitig als Täter bezichtigen. Sowohl die Zeichen der Individualisierung als auch auf der anderen Seite die geradezu skurrile Kollektivierung werden dabei ins Groteske verzerrt. Der Vorwurf, mit überzeichneten Stereotypen von jüdischen und deutschen Charakteren und sinnlosen Monologschleifen den konfliktären Holocaust-Diskurs zu bagatellisieren, oblag der Inszenierung Yael Ronens von Beginn an. Diesen Tenor bedient zudem der hierarchisierende Vergleich der einzelnen Gruppen und ihrer Opfererfahrungen, der gemeinhin als problematisch gilt und Deutungskonkurrenzen provoziert. Auch wenn in Dritte Generation das verbindende Zeichen ‚3G‘ Übereinkunft und generationelle Gemeinschaft symbolisiert, drehen sich die Gespräche auf der Bühne um genau jenen Vergleich von Opferbiographien, Leid- und Schuldhaftigkeit und die Deutungshoheit an der Geschichte. Indem sich die Vergleiche nicht nur auf die (Opfer-)Gruppen beziehen, sondern auch die jeweiligen historischen Ereignisse ‚in einen Topf‘ geworfen werden, erhöht sich die Brisanz der Vergleichbarkeit, mit der auch gegen ein seit Jahrzenten bestehendes Gebot der Singularität des Holocaust argumentiert wird. Yael Ronen unternimmt dieses bewusst: Sie stellt auf der Bühne nicht nur die unterschiedlichen Opfer- und Tätergruppen gegenüber, sondern vergleicht auch die Geschehnisse zweier Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Holocaust und Nakba. Ein derartiger Vergleich gilt als wissenschaftliches, politisches wie auch moralisch zweifelhaftes und gar ‚historisch inkor618 Matussek, Peter: „Computer als Gedächtnistheater“, in: Darsow, Götz-Lothar (Hg.): Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad-Cannstatt: Frommann-Holzboog 2000, S. 81-100, hier S. 91.

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rektes‘ Unterfangen und tangiert auch aktuelle juristische Belange, wie sich 2011/2012 durch eine Kontroverse über die strafrechtliche Verfolgung der Leugnung des Genozids am armenischen Volk durch das Osmanische Reich während des Ersten Weltkrieges bewies.619 In Dritte Generation werden implizit die Nakba und der Holocaust bzw. ihre Auswirkungen miteinander verglichen, obgleich die politische wie auch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit bezüglich der Erinnerung an die Nakba sich nachweislich verschieden zur institutionalisierten Erinnerung an den Holocaust verhält. Weder der Begriff ‚Nakba‘ selbst – insbesondere im Vergleich zum Begriff ‚Holocaust‘ – noch die politische oder gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Verbrechen weist eine ähnliche Elaboriertheit und öffentliche Aufmerksamkeit, schon gar nicht in Israel selbst, aus. Die Kontroversen um diesen Begriff und sein Verständnis als Bestandteil der Erinnerungskultur werden in Dritte Generation an dem bloßen Wort ‚Nakba‘ aufgezogen. Die Schauspielerin Orit Nahmias stößt mit der Verwendung dieses Begriffs innerhalb der israelischen und palästinensischen Gruppe auf Empörung, was sie jedoch nicht davon abhält, in einem leidenschaftlichen Plädoyer das Wort wieder und wieder zu wiederholen: „Nakba, Nakba […], Nakba.“ Obwohl es sich hier um einen Begriff aus der gleichen, arabischen Sprache handelt, wird ‚Nakba‘ zum „interkulturelle(n) Tabuwort“620 und verletzenden Wort im Sinne der hate speech. Im Vergleich dazu besitzen die Terminologien ‚Auschwitz‘ und ‚Holocaust‘ eine Allgemeingültigkeit, obwohl sie aufgrund ihrer Herleitung und Wortbedeutung ebenfalls nicht unumstritten sind. Der Begriff ‚Nakba‘ bzw. ‚Al-Nakba‘ ist jedoch noch nicht durch die ‚Mühlen‘ des Erinnerungsdiskurses gegangen und muss daher, ähnlich wie das Armenienmassaker, für welches es z.B. in der Türkei nicht einmal einen eigenen Begriff gibt, erst mit allgemeingültiger Bedeutung aufgeladen werden.621 Die ‚Nakba619 Der Vorstoß Frankreichs, ein Gesetz gegen „die öffentliche Preisung, Leugnung oder grobe Banalisierung von Genoziden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen“ (Satzung des Gesetzes gegen Genozid-Leugnung) zu erlassen, welches den Völkermord an den Armeniern eindeutig mit einbezieht, provozierte einen Disput, insbesondere zwischen der französischen und der türkischen Regierung. Unabhängig von der heiklen politischen Ebene stellte Frankreich damit auch den Holocaust in ein neues Bewertungssystem, da das Genozid-Gesetz und seine strafrechtliche Verfolgung bis dato ausschließlich für die Leugnung, Preisung und Banalisierung des Holocaust Anwendung erfuhr. Die Empörung über eine so implizierte ‚Herabstufung‘ der Einzigartigkeit des Holocaust verwies einmal mehr auf das Tribut der Singularität des Holocaust und die Aktualität der ‚Singularitätsthese‘. 620 Schröder, Hartmut: „Zur Kulturspezifik von Tabus. Tabus und Euphemismen in interkulturellen Kontaktsituationen“, in: Benthien, Claudia/Gutjahr, Ortrud (Hg.): Tabu. In– terkulturalität und Gender, München: Wilhelm Fink 2008, S. 51-73, hier S. 64. 621 Vgl. F. Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen, S. 75.

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Performance‘ in Dritte Generation plädiert aber nicht nur für die Ungleichheit von Holocaust und Nakba in Bezug auf ihre Aufarbeitung und Akzeptanz; sie zeigt vor allem an einem neuen, in einem anderen Diskurs angelagerten Wortbeispiel die Problematik, die richtige Sprache, den richtigen, nicht verletzenden Begriff für traumatische Ereignisse zu finden, mit dem sich ‚unbefangen‘ sprechen lässt. Die primäre Performance des ‚Singularitätsthemas‘ trägt die israelische Schauspielerin Orit Nahimias dann vor, wenn sie in einem ihrer Monologe den Satz „Please don’t compare“ in Verbindung mit seiner Relativierung durch das betonte „but“ in Endlosschleife durchexerziert. Diesen Satz, der sich ebenso leitmotivisch durch die Inszenierung webt wie die Phrase „Es tut mir leid“ von Bormann, wiederholt Nahimias immer und immer wieder, mit ansteigender Intensität und rhetorischer Eindringlichkeit, bis sie ihn fast als Drohung gebärdet: „Excuse me, how can you compare? Palestinians are Palestinians, Germany is Germany and the Holocaust is the Holocaust. The Holocaust is a very unique event in the human history. Of course, there were other genocides in the history – like the genocide of the Kurds, genocide of the Armenians, the slaughter in Sudan, in Rwanda, mass murder in former Yugoslavia – but please, don’t compare. The Holocaust is the Holocaust, and Rwanda is Rwanda. It’s a completely different continent.“

Die Widersprüchlichkeit, die diesem sich über mehrere Minuten erstreckenden Monolog immanent ist, zeigt sich schon an den beiden erwähnten Kernbestandteilen der Sätze: Sie beginnen oder enden mit „don’t compare“ und werden je verbunden mit einem „but“: Man soll nicht vergleichen, aber macht oder muss es eben doch. Trotz der Dringlichkeit und der Ernsthaftigkeit, welche Nahimias auch gestisch und mimisch darbietet, versteht sie es sogleich, die Utopie dieser Debatte offen zu legen, indem sie stets auch einen ‚Lacher‘ platziert wie im oben zitierten letzten Satz. Dass der Holocaust in Europa und der Genozid in Ruanda auf dem afrikanischen Kontinent stattgefunden hat und sich beide deshalb nicht vergleichen lassen, ist ein derart banales Argument, dass sich die Logik von Nahimias Kausalkette in einem Lacher aufzulösen vermag. Auch die folgenden Vergleiche, die sie in einem Atemzug nennt, z.B. zwischen Schweizern und Belgiern, zwischen der ‚Sinnhaftigkeit‘ verschiedener Mauern oder verschiedenen Formen des Unwissens, sind derart konstruiert und phrasenhaft, dass sie dem eigentlichen ‚Singularitätsdiskurs‘ entweichen und ihn vielmehr als lächerlich demontieren. Nahimia plädiert (unbeabsichtigt) vielmehr für die Absurdität von Vergleichen, die derart nur zur unrechtmäßigen Legitimierung schuldhafter Vergehen nützen können. Dies gilt besonders für „die Deutschen“, wie Nahimias zu verstehen gibt. Auch wenn die Bevölkerungsgruppen eigentlich nicht zu vergleichen sind, erhalten die Deutschen, dadurch dass sie am meisten von allen gehasst werden, eine gesonderte Erwähnung in ihrem Plädoyer.

198 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST „The orthodox Jews hate the zionist Jews; the zionist Jews hate the Arabs. The Arabs hate all the Jews. The muslim Arabs hate the Christian Arabs. The Europeans hate the Muslims – and the Jews! – and the whole world hates the Germans.“

Signifikant ist über die Klassifizierung der nationalen, ethnischen Gruppen im ‚Container-Dogma‘ hinaus, die darin enthaltene formulierte Antithese zu hybriden Identitäten, welche in der Gesellschaft, vor allem in der Generation Nahimias und als Bestandteil einer Dritte-Generationen-Identität wesentlich ist. Ein Beispiel für die in diesem Sinne paradoxe Stereotypie zeigt sich in dem Versuch, der Aufzählung von kategorisierten Nationalitäten triviale Argumente hinzuzufügen: „Of course, not all Germans were Nazis. But not all Arabs are terrorists, but some of them do bomb themselves killing innocent women and children […] but please, please, don’t compare.“

Alle Alleinstellungsmerkmale und trivialen bzw. despektierlichen Beschreibungen werden augenblicklich wieder relativiert und hebeln sich folglich gegenseitig aus. Aus dem Monolog Nahimas, ihrer Predigt über die Rollenzuweisungen der einzelnen Gruppen, bleibt als Quintessenz nicht mehr zurück als die Negation der Negation. Dass nun eine Angehörige der dritten Generation derartig starre nationale Fronten markiert und derart absurde Parallelen und Verknüpfungen zieht, verkündet sich durch die Art der Inszenierung als ironische Überzeichnung und diktierte Plattitüde. Die überpointiert gesetzten Lacher und eine starke Verfremdung und Diskursverzerrung lassen dieses Geschehen nur als Demontage sinnhaft werden. Besonders die Absurdität der Vergleiche unterwandert die ‚Singularitätsthese‘, dekonstruiert sie satirisch und macht sie eher zur ‚Lachnummer‘. Nahimias plädiert vielmehr dafür, nicht zu vergleichen, indem sie die Vergleiche performativ ad absurdum führt. Ein anderer Vergleich erhält eine herausragende Stellung in Dritte Generation. Ohne auf die politischen und völkerrechtlichen Einzelheiten des Palästinerkonfliktes an dieser Stelle eingehen zu können, ist die aus dem Konflikt resultierende moralische Bewertbarkeit und die Durchdringungen des deutsch-jüdischen Schuld/Opferdiskurses besonders relevant. Hierbei sind es vor allem die Fragen nach der ‚Hierarchie‘ der Opfergruppen und der ‚Validierung‘ des größeren Leids, die eine Rolle spielen. ‚Wer hat mehr gelitten?‘, ‚Wem gehört der Holocaust‘ – dies sind Fragestellungen, die nicht nur innerhalb des deutsch-jüdischen Kontextes und nicht nur in Bezug auf die Deutungsmacht an der Geschichte des Holocaust Brisanz entfalten. Auch in jüdisch-israelisch-palästinensischen Zusammenhängen verweisen sie auf die strittige Deutungsmacht und Legitimierung wie u.a. Avraham Burg in

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seinem Buch Hitler besiegen (2009) thematisiert.622 Angesichts der aktuellen politischen Lage in den Gazagebieten erwächst eine zumeist achtsam unterschwellig geführte Debatte darüber, ob das jüdische Volk und die israelische Politik den Holocaust als Rechtfertigung für die eigenen Vergehen im Gazakonflikt und als fortwährenden Anklagegrund gegenüber Deutschland und anderen Nationen wählen und in der Betonung des größten erlittenen Leids die Rechtfertigung für gegenwärtige eigene Verbrechen suchen. Durch die Inanspruchnahme des ‚ersten Platzes‘ im „Traumawettbewerb“623 und auf einer ‚Skala des Leidens‘ wird zwar an ein zutiefst menschliches Grundbedürfnis nach qualitativen Wertesystemen appelliert, in der Zweckentfremdung als ‚Pauschalargument‘ können derartige Instrumentalisierungen des Traumas und Opferstatus‘ durchaus als kritikwürdig gelten, wie jüngst auch Günter Grass in seinem Gedicht Was gesagt werden muss argumentierte.“624 Da es in Dritte Generation permanent gegenseitige Schuldvorwürfe und Rechtfertigungen hagelt, warum was wie gesagt werden kann oder darf, wird dieser Diskurs auf exponierte Weise in dem Stück ausgestellt. Beispielhaft lässt sich dafür die folgende Episode anführen. In einer Szene mit Niels Bormann und seinem jüdischen Freund Yousef Sweid geht es um die Frage, ob es einem jüdischen Nachkommen qua seiner Abstammung und Zugehörigkeit zum ‚Opfervolk‘ per se eher ‚gestattet‘ ist, ‚niedere‘ Lebewesen wie einen Moskito zu töten, als es auf der anderen Seite deutschen Nachkommen erlaubt ist. In der Performance zu dieser Fragestellung entlädt sich der Disput daran, dass Bormann eine Maus töten will und sich zu rechtfertigen versucht, indem er darauf verweist, dass Yousef einst einen Moskito „mit viel Blut“ getötet und daher keine Berechtigung für die Äußerung moralischer Bedenken hat. Wirkungsvoll ist diese ansonsten ohne Zweifel eher lapidare Szene zum einen aufgrund der oben erwähnten Legitimierungsansprüche, aber zum anderen vor allem auch auf Basis der hier wirksam werdenden kulturhistorischen Adaptionen. Insbesondere die Referenz auf die ‚Mäuse‘ ist von semantischer Relevanz, da sie auf die nationalsozialistische Vernichtungsideologie und ihren Sprachjargon verweist, in dem Juden als ‚Ungeziefer‘ oder als ‚Mäuse‘ bzw. ‚Ratten‘ deklassiert wurden und die Begriffe bis heute in der rechtsextremistischen NSTerminologie manifestiert sind. Die Differenzierung von ‚Deutschen‘ als ‚Katzen‘ und ‚Juden‘ als ‚Mäuse‘ nimmt darüber hinaus künstlerische, literarische Motive und Diskurse auf, wofür als populärstes Beispiel Art Spiegelmans Maus-Comics gelten darf.625 In Dritte Generation ist noch eine weitere intertextuelle Ebene der 622 Burg, Avraham: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt a.M.: Campus 2009, hier besonders S. 172-204. 623 A. Burg: Hitler besiegen, S. 39. 624 G. Grass: Was gesagt werden muss. 625 Spiegelman, Art: Maus. Die Geschichte eines Überlebenden. 3. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 2009.

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oben genannten Maus-/Moskito-Episode interessant, die auf eine Beschreibung in Erzähl Dein Leben von Dan Bar-On referiert.626 Dort berichtet Bar-On von einer Begebenheit, die sich während einem der TRT-Gruppentreffen ereignete, bei der einer der jüdischen Teilnehmer aus einem Reflex heraus eine Mücke tötet und sich in Folge dieser eigentlich minder bedeutsamen Aktion zunächst eine spürbare Unsicherheit bei den übrigen Gruppenmitgliedern wie auch bei ihm selbst einstellt, ob es sich hier um Mord handle und dergestalt um einen Mord von einem Juden an einer hilflosen Kreatur, was prompt eine Analogie zum Mord an den hilflosen Juden im Zweiten Weltkrieg herstellt. Als nächstes ging es dann um die Frage, wie eine solche Aktion, das Töten der Mücke, angesichts dieser Personenkonstellation moralisch zu bewerten ist und ob wegen der Vergangenheit des jüdischen Volkes das Töten eines Insektes durch einen ‚Juden‘ weniger verurteilungswürdig sei, als wenn es durch einen ‚Deutschen‘ erfolgt wäre. So abstrus diese Überlegungen und die Reaktionen der Gruppenteilnehmer auch zugegeben erscheinen mögen, verweisen sie implizit doch zurück auf jene oben erwähnte Frage, wer mehr gelitten hat und wem daher ein gegenwärtiges Verhalten eher ‚erlaubt‘ oder verziehen wird als dem anderen, der nicht ‚so sehr‘ gelitten hat bzw. der gar dem ‚Täterkollektiv‘ angehört. In der Szene in Dritte Generation verändert sich hier auch für einen Moment die Haltung Niels Bormanns. Zum ersten und einzigen Mal innerhalb des Stückes lässt er sich nicht widerstandslos als Schuldiger deklarieren, nimmt keine oktroyierte Schuld auf sich, sondern appelliert mit dem Verweis auf die verübte MoskitoTötung Yousefs auf die Vergleichbarkeit beider Aktionen und der dadurch gewährleisteten Legitimierung der einen Schuld gegenüber der anderen. In Bar-Ons Schilderung löst sich die beschriebene Situation während einer Sitzung erst mit dem Erkennen ihrer Lächerlichkeit und dann mit einem gelösten Gelächter auf. Auf der Bühne von Dritte Generation lachen die Akteure nicht; das Lachen im Publikum, welches sich unweigerlich aufgrund der Absurdität der Szene einstellt, ist ebenso kein wirklich lösendes und freies, sondern eines, das auf Unbehagen basiert. Da es auf die Frage, wer mehr gelitten hat und wer es folglich mehr ‚verdient‘, sich Opfer zu nennen, keine gültige Antwort geben kann, dreht sich auch die ‚Singularitätsdebatte‘ auf der Bühne von Dritte Generation irgendwann im Kreis, dargestellt durch die redundanten Monologe der Schauspieler. So wie Orit Nahimias behaupten auch die anderen Akteure in ihren Monologen die Einzigartigkeit der ihnen oder vielmehr ihren Vorfahren widerfahrenen Verbrechen, Ungerechtigkeiten, Blessuren. Dabei vermitteln die Anstrengungen der Akteure den Eindruck, dass es zudem nicht mehr ausschließlich um die historische ‚Opferhierachie‘ geht, sondern auch um ein ‚Ranking‘ im gegenwärtigen interkulturellen Dritte-GenerationGefüge. Dass diese beiden Diskurse jäh ineinander verlaufen und miteinander verknotet sind, verweist auf die Einflussnahme der Vergangenheit auf die Gegenwart 626 Vgl. D. Bar-On: Erzähl dein Leben, S. 75.

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als ‚ungeklärte Gegenwart‘, ihre Bedeutung in gegenwärtigen Generationskonstellationen sowie auf die Behauptung individueller Identität. An die Einflussnahme der Vergangenheit auf die Gegenwart der dritten Generation knüpft sich die Frage nach der Möglichkeit von interkulturellen Dialogen und Vergemeinschaftungsprozessen, welche sich durch verhärtete ‚Opferhierachien‘ erschwert zeigt. Braucht diese Generation überhaupt noch klare Rollenverhältnisse und eine eindeutige Definition von Gut und Böse, Opfer und Täter, wie es oben die Schauspielerin Judith Stößenreuter einfordert? Können derartige Kategorisierungen überhaupt erfolgen oder wird hier nicht ein extremer Kontrast zu jener Pluralität unserer Gegenwart aufgebaut, die immer weniger auf festen Kategorien und Systemen beharrt? Dieses sind einige der Fragen, die das Stück Dritte Generation aus dem Staub der Geschichte aufwirbelt, aber die vorerst – vielleicht auch notwendiger Weise – unbeantwortet bleiben. Bevor in Abschnitt 2.4 noch einmal auf den ‚Clash‘ dieser vermeintlichen Konventionen und Diskursregeln zurückzukommen sein wird, der – und das ist hier sozusagen der ‚dekonstruktivistische Clou‘ – gerade nicht zu getrennten (Diskurs-)Entitäten, sondern zu Touching Tales führt, soll mit der so genannten ‚Schlussstrichdebatte‘ eine weitere Holocaust-Debatte in die Analyse des Stückes eingebunden werden. 2.3.3 ‚Schlussstrichdebatte‘ „Wir haben genug bezahlt.“ Kurz bevor sich der Culture Clash auf Yael Ronens Bühne in einem regelrechten Crash entlädt, arbeiten sich die Schauspieler, in diesem Fall der deutsche Karsten Dahlem, an der ‚Schlussstrichdebatte‘ ab. Die Platzierung dieser Debatte an das Ende des Stückes bildet in der Inszenierung einen Höhepunkt und ist ebenso auch innerhalb der etablierten Holocaust-Debatten an der Grenze zum ‚Clash des guten Geschmacks‘ und der revisionistischen Sackgasse positioniert. Die ‚Schlussstrichdebatte‘ verdankt ihren Ausdruck unter anderem dem Schriftsteller Martin Walser und seiner ‚Friedenspreisrede‘ sowie der sich anschließenden, insbesondere für das Feuilleton produktiven ‚Walser-Bubis-Debatte‘. Walser hatte 1998 mit seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche Diskussionen zur Beendigung der ‚omnipräsenten‘ und ‚omni-präsentierten‘ Schuld der Deutschen angeleitet. Besonders mit seiner These vom ‚Wegschauen‘ wurde dem Schriftsteller Walser von Seiten der von ihm selbst heraufbeschworenen ‚Meinungssoldaten‘ die Absicht zur Beendigung der Auseinandersetzung über die Verbrechen der Nationalsozialisten unterstellt und die sogenannte ‚Schlussstrichdebatte‘ vorangetrieben, die auch heute noch zumindest als unterschwelliger Faktor in Diskussionsbeiträgen um Political- und Memorial Correctness auszumachen ist. Walsers Intention war es nach eigener Aussage gegen die ‚Instrumentalisierung des Gedenkens‘ zu argumentieren und an ihre Stelle die persönliche, individuell freie Auseinandersetzung, Reflexion und vor allem Sprache zu setzen. Durch die Instrumentalisierung der Vergangenheit sah Walser aber nicht nur jegliche künstlerische Freiheit unter einer

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„moralischen Haube verdeckt“, sondern auch jede Sprache ihrer Kreativität beraubt.627 Ohne auch hier allzu tief in die Komplexität der Debatte eingehen zu wollen, scheint von einem ‚Schlussstrich‘ mit unterschwelligem Geschichtsrevisionismus bei Walser grundsätzlich nicht die Rede zu sein. Sehr wohl geht es ihm aber um ‚Normalität‘, die er insbesondere in der Beendigung manipulativer Vorhaltungen, welche das freie Wort und die freie Meinungsäußerung unterbinden, einfordert. Yael Ronen formuliert diesen Ansatz aufnehmend die Intention ihres Stückes radikaler, wenn sie in einem Interview davon spricht, dass es ihr darum geht, „darüber zu reflektieren, wie eine Gesellschaft ein historisches Gedächtnis manipuliert und für ihre politischen Zwecke nutzt“628 . Dieser Satz Ronens lässt zudem die bereits erwähnte Analogie zu Kevin Vennemanns literarischer Dekonstruktion des „restriktiven Konsensgedächtnisses“ als „von oben herab instrumentierte Gleichschaltung eines atomisierten Gedächtnisses vor dem Wunschbild eines möglichst geschlossenen Geschichtsverständnisses“ erkennen. Aus Walsers Vorwurf der Instrumentalisierung der Vergangenheit zieht Ronen die einzelnen Sprachdiskurse heraus und lässt sie durch ihre Schauspieler als Probleme eines notwendig offenen, dialogisch reflektierten Austausches vorführen. Auf diese Weise formuliert auch Ronen einen Wunsch nach Normalität. Ronens Haltung zur politischen Zweckentfremdung intendiert jedoch eher ein persönliches und generationelles Unwohlsein, welches aus der Verschlossenheit der Diskussionen resultiert, in denen nicht offen gesprochen, sondern jedes Wort politisch aufgeladen wird. Indem Yael Ronen relevante Bruchstücke aus der ‚Schlussstrich‘- bzw. ‚Normalisierungsdebatte‘ in die Inszenierung einflicht, hetzt sie im Gegensatz zu Walser nicht gegen die politischen- oder Kultur-Kritiker, sondern zunächst einmal die Schauspieler gegeneinander auf. Auch wenn eine Vielzahl von Monologen und Dialogpassagen in Dritte Generation auf den Appell von Unbeschwertheit und Loslösung von der ‚Last der Vergangenheit‘ Bezug nehmen, entlädt sich der verbale Angriff auf das ‚Ewigkeitsgebot‘ des Holocaust erst mit dem Monolog des deutschen Schauspielers Karsten Dahlem am Ende der Aufführung. Dahlem, der sich im vorherigen Bühnengeschehen weitgehend zurückgehalten hat, wendet sich in dieser Passage direkt an das Publikum und erklärt, warum er der Meinung ist, dass es nun an der Zeit wäre, „endlich Schluss zu machen mit der fortwährenden Thematisierung des Holocaust auf allen Kanälen und Gebieten“. Zudem möchte er als junger Deutscher auch endlich wieder einmal „stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein“. Zunächst bleibt der 627 Vgl. Goppelsröder, Fabian: „Erinnerungskultur als Diskurs. Probleme und Chancen ästhetischer Kommunikation in der Holocaustdebatte“, in: Pyper, Jens Fabian (Hg.): „Uns hat keiner gefragt“. Positionen der dritten Generation zur Bedeutung des Holocaust, Berlin: Philo 2002, S. 187-209, hier S. 194. 628 Ronen, in F. Weigand: Protest gegen „Dritte Generation“.

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Monolog Dahlems ganz der Aufführungsästhetik des Stückes treu: Er monologisiert während die anderen Schauspieler schweigend um ihn herum sitzen und die Übersetzung seiner Rede von der Leinwand ablesen. Auch verkörpert Dahlem ähnlich wie Niels Bormann zu Beginn seiner Rede ein starkes Unbehagen, welches er durch die Performance des Unwohlseins zum Ausdruck bringt. Seine besondere Brisanz erhält der Monolog erst mit der Offensivansprache an das Publikum. Nach dem anfänglichen Monolog Niels Bormanns ist dies die zweite direkte Ansprache, die den Zuschauer unmittelbar in das Bühnengeschehen und vor allem mitten hinein in die kontroverse ‚Schlussstrich-Debatte‘ zieht. Dahlem wendet sich nach seinem kurzen Monolog an das Publikum und stellt offen die Frage, ob man sich denn nicht auch endlich einen Schlussstrich unter die „ganze Sache“, unter die deutsche Vergangenheit und die Schulddebatten wünsche. Auf diese Ansprache folgend vollzieht sich die performative Einbindung des Publikums in die Aufführung, welcher sich keiner der anwesenden Zuschauer entziehen kann, da die Antwort auf Dahlems Fragen aus einem menschlichen Reflex bzw. einer affektiven Reaktion heraus resultiert: betroffenes, verschämtes Schweigen. Zum wiederholten Mal fühlt sich der Zuschauer ‚ertappt‘, woraufhin wiederum reflexartig eine beklemmende Stille einsetzt, während Dahlem, eine Antwort erwartend versucht, Blickkontakt mit Einzelnen aufzunehmen und damit das Unwohlsein des Publikums noch mehr schürt. „Viele von ihnen denken genauso, aber trauen sich nicht, es zu sagen“, konstatiert Dahlem nach unendlich erscheinenden Sekunden schließlich. Diese unwillkürlichen Reaktionen des Publikums lassen darauf schließen, dass Dahlem mit der Formulierung der ‚Schlussstrichfrage‘ ein historisches Tabu beschneidet. Sich den ‚finalen Schlussstrich‘ unter die deutsche Vergangenheit zu wünschen, ist wesentlich durch das Tabu des Revisionismus belegt. Dabei muss der Schlussstrich – dies war auch schon Bestandteil der Walser-Debatte – jedoch keinesfalls die Beendigung der Auseinandersetzung mit dem Holocaust bedeuten und schon gar nicht auf deren Nivellierung hinaus laufen. Die Anleihen aus Walsers ‚Friedenspreisrede‘ sind in den Äußerungen Dahlems im Übrigen deutlich erkennbar. Er verwandelt Walsers Begehren für die deutsche Sprache in ein Begehren deutscher Innovation und Technik um, die er mit Stolz als ‚deutsches Erbe‘ im Ausland behaupten möchte, ohne sie durch das historische Erbe herab gewertet zu sehen. Auch wenn Dahlem die ‚gefährlichen‘ Äußerungen Walsers nicht in den Mund nimmt, wählt er z.B. mit seinen Ausführungen über das Berliner Holocaust-Mahnmal, welches er als ein „Mahnmal so groß wie ein Fußballfeld“ beschreibt, die semantische Nähe zu Walsers Kennzeichnung als „Fußballfeld großer Albtraum“629. Von der dritten Generation ausgehend, die sich nicht primär in der ‚deutschen Stellvertreterrolle‘ wie etwa Walser positioniert, kann die Forderung nach einem ‚Schlussstrich‘ als ‚Normalisierungswunsch‘ in Form einer ‚Sprach- und Diskurs629 M. Walser: Gedanken beim Verfassen einer Sonntagsrede, S. 20.

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freiheit‘ verstanden werden, auch wenn der Begriff der ‚Normalisierung‘ zweifelsohne auch in diesem Zusammenhang nicht als unbelastet gelten darf. Mit dem Präsentieren der Schlussstrich-Debatte führt das Stück Dritte Generation jedoch zugleich auch noch einmal eindringlich vor, was den Kern der liminalen Situation der jungen Generation beschreibt: Sie kennt den Diskurs, weiß, dass sie sich womöglich auf dünnes Eis begibt, wenn sie ‚Normalisierung‘ und ‚Sprachfreiheit‘ einfordert oder sich auf Walser beruft und beansprucht dennoch einen Diskurswechsel, den sie jedoch nicht allein und nicht unabhängig von ihrer Geschichte bewerkstelligen kann und will. Inwiefern diese Forderung bzw. die bloße Erwähnung der Debatte auch einen Zwist innerhalb der dritten Generation verursacht, führt Ronen in der Inszenierung im Anschluss an diese Dahlem-Sequenz vor. Dessen Ansprache verfolgen zunächst alle übrigen Akteure angestrengt, indem sie, da er in dieser Passage Deutsch spricht, das Protokoll seiner Rede auf der Leinwand mitlesen. Mit zunehmendem rhetorischem Gebaren Dahlems, durch welches er sein Unwohlsein immer mehr ablegt und durch das Einschalten des Schauspielers Sweids gerät die Szene jedoch zusehends aus den Fugen. Am Ende wandelt Dahlem die Vorhaltungen der deutschen Schuld von Seiten ‚der Juden‘ in den erweiterten Tenor von Walsers Kritik an der Instrumentalisierung und der Debatte um die Schuldlegitimierung ‚der Juden‘: „Die Juden sprechen dauernd über den Holocaust, um zu legitimieren, was sie heute tun.“ 2.4

‚Hate Speech‘, ‚Culture Clash‘ und eine neue Diskurssprache

„Die erste und zweite Generation hat einen eigenen Diskurs über den Holocaust […]. Sie hat eine ganz bestimmte Terminologie, sie denken in den Kategorien ‚Opfer‘ und ‚Täter‘. Die dritte Generation erlebt momentan eine große Diskrepanz: Einerseits liegen die Ereignisse historisch weit zurück, andererseits bestimmt es ihr Leben und ihre Identität so sehr, dass man es kaum ignorieren kann […]. Sie sind nicht mehr ‚Opfer‘ oder ‚Täter‘, sie haben andere Positionen, für die sie eine neue Sprache und neue Terminologie brauchen […]. Die dritte Generation braucht einfach ihre eigene Sprache.“630

Die Forderung nach einer neuen Sprache ist im Verlauf dieser Arbeit schon mehrmals implizit oder explizit eingefordert worden. In Dritte Generation ist es nun der performative Aufführungscharakter dieser Forderung, welcher dieser Art zur leiblichen Erfahrung der Schauspieler wie auch der Zuschauer wird. Es soll daher im Folgenden noch einmal um die performative Inszenierung der ‚nicht-passenden‘

630 Amit Epstein, in: Lösch, Christiane: „‚Auschwitz was the best‘ – Die eigene Sprache der dritten Generation“, in: cafébabel.com, 30.04.2009. Siehe: http://cafebabel.de/ article/ 29808/theater-holocaust-sprache-dritte-generation.html vom 30.01.2010.

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Diskurse gehen, die zwar mit großer, z.T. übertriebener Vehemenz ins Bild gerückt werden, die letztlich aber durch ihre Überzeichnung und Verzerrung dekonstruiert und als nicht passend demontiert werden. Das performative ‚Durchexerzieren‘ der Diskurse und ihre anschließende Demontage ist als wesentlicher Bestandteil des Plots und Kern der Aufführung zu erfassen, da hiermit gezeigt wird, dass mit diesen Elementen des ‚belasteten‘ Holocaust-Diskurses in der jungen Generation nicht mehr angemessen bzw. ‚unfallfrei‘ umzugehen ist. Obwohl Dritte Generation keine klassische Dramaturgie zugrunde liegt und der gesprochene Text somit in seiner Aufführung als variabel und veränderbar gilt, ist die Sprache elementares Stilmittel der Performance und so gesehen ihr Protagonist bzw. der eigentliche Ausdruck der Theatralität des Stückes. Außerdem kennzeichnet die Varietät der gesprochenen Sprachen nicht nur die Interkulturalität des Stückes, sondern ist auf Inhaltsebene für die Diskurse der Singularität und der ‚Opfer/Täter-Thematik‘ wichtiges Ereignis. Durch die Vielstimmigkeit der Inszenierung wird zudem auch das autobiographische Schauspiel überhaupt erst ermöglicht. Die Schauspieler können so in ihrer Muttersprache kommunizieren, die mit deutschen, wenn Arabisch oder Hebräisch gesprochen wird auch mit deutschen und englischen Übertiteln übersetzt wird. Während die biographischen Geschichten sowie die Dialoge in den Sprachgruppen in ihren jeweiligen Muttersprachen erfolgen, findet die primäre Kommunikation untereinander in der für alle Gruppen gleichsam neutralen Sprache Englisch statt. Die Sprachvielfalt und der z.T. schnelle Wechsel zwischen den einzelnen Sprachen werden in besonders emotional aufgeladenen Episoden außerdem als Mittel zur Intensivierung und Verfremdung eingesetzt. In den Rückblenden auf die jeweiligen traumatischen Familiengeschichten sowie in kontroversen Dialogen mit zwei oder mehreren Sprechern, verfallen die Schauspieler immer wieder in ihre Muttersprachen, was ein ‚Sprachwirrwarr‘ und große Verständigungsschwierigkeiten zur Folge hat – bei den Akteuren auf der Bühne wie auch bei den Zuschauern, die beide über eine digitale Leinwand eine nun englische Übersetzung des Gesprochenen erhalten. Das Bühnenelement der Leinwand trägt außerdem dazu bei, dass das Schauspiel immer wieder durch die Blicke auf die Übersetzungsleinwand unterbrochen wird, dabei das gesprochene Wort aber durch den geschriebenen Text erst verständlich wird. Diese Interaktion, die durch die simultane Übersetzung entsteht, ist als performativer Akt interessant. Die Leinwand ist derart nämlich nicht nur Kulisse oder Hilfsmittel, sondern ein sinn- und aktionsstiftendes performatives Bühnenelement. Sie unterbricht die Aufführung und versetzt die Schauspieler in die Lage der Zuschauer, die während der gesamten Aufführung die Textpassagen simultan mitlesen. Gleichzeitig ist die Leinwand als Anzeigetafel auch Ausstellungsstück und Installation der Performanz von Sprache und Text und verleiht der Inszenierung eine zusätzliche „plurimediale

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Ausdrucks- und Kommunikationsform“631. Die übersetzte Sprache ist zudem Mittel der Zuschaueragitation, indem das Publikum auch durch diese Übersetzungsleistung immer wieder von seinem Beobachtungs- in einen Aktionsmodus versetzt wird. Die Zuschaueraktion ist im Wesentlichen eine spontane, impulsive, wie bereits am Lachen und dem Unwohlsein deutlich gemacht wurde und als solche weder vorauszuberechnen noch zu lenken. Der Affekt kann nicht gesteuert werden, er äußert sich impulsiv als motorische oder physiologische Reaktion, zu der das im Halse stecken bleibende Lachen ebenso zählt wie das peinliche Berührtsein und die unangenehme, schier fühlbare Stille. Hierdurch entsteht in der SchauspielerPublikum-Kommunikation auch eine empathische Annäherung, die den vorübergehenden Rollentausch mit möglich macht. Die Aufführung, die überhaupt erst in diesem Wechselspiel gelingen kann, wird zum erfahrbaren Ereignis für beide Seiten.632 Die Vielsprachigkeit und die damit einhergehende zeitweilige Verständigungsproblematik sowie die bewusst inszenierte Sprachlosigkeit, die gesetzten Sprechpausen und die rhetorischen Fragen an das Publikum verweisen nicht nur auf die Problematik der verhandelten Diskurssprache, sie führen diese gleichwohl vor und machen sie am ‚eigenen Körper‘ geradezu schmerzhaft nachempfindbar. Neben dem Lachen, welches dem Zuschauer, kaum ist es ihm im Hals hochgestiegen, auch schon aus Scham wieder in selbigem steckenbleibt, sind es durch das extrem reduzierte Schauspiel und das nicht vorhandene Bühnenbild besonders die entstehenden teilweise verstörenden (Sinn-)Bilder in den Köpfen der Zuschauer, durch welche sogleich die Performance aber auch erst zustande kommt und die ein um das andere Mal, sobald sie „sichtbar“ geworden sind, im Augenblick ihres Entstehens schon wieder zerfallen.633 Der Reflex des Lachens im einen sowie der Impuls zum Schweigen im anderen Fall sind natürliche und spontane menschliche Reaktionen darauf. Jedoch ist die anschließende Wahrnehmung – in beiden Fällen ist es das peinliche Berührtsein, das Unbehagen und die Scham vor dem eigenen Verhalten – vielmehr als Reaktion auf ein im Tenor von Political- und Memorial Correctness impliziertes gesellschaftliches Tabu, welches man, ohne es eigentlich zu wollen, verletzt hat. „Die Frage ist nicht, was ich sagen kann, sondern was den Bereich des Sagbaren konstituiert, in dem sich mein Sprechen von Anfang an bewegt.“634 Während auf 631 Pailer, Gaby/Schößler, Franziska: „GeschlechterSpielRäume. Einleitung“, in: Pailer, Gaby/Schößler, Franziska (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam: Rodopi 2011, S. 7-21, hier S. 7. 632 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Performativität und Ereignis“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Umathum, Sandra/Warstat, Matthias (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen: A. Francke 2003, S. 11-41, hier S. 28. 633 Vgl. E. Slevogt: Du sollst nicht Vergleichen. 634 J. Butler: Haß spricht, S. 189.

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der einen Seite eine schonungslose Sprache die Interaktionen auf und vor der Bühne anleitet, bleibt mit der problematischen Zitation der Diskurssprache die Referenz auf den Topos der ‚Unsagbarkeit des Unsagbaren‘, die Frage, wie man vom „Unvorstellbaren“ sprechen kann, „wo man doch einem Wörterdelirium anheimfällt“ 635 als Negativfolie bestehen. In der dritten Generation ist es nicht das Delirium der Überlebenden, sondern das Dilemma, nicht die richtigen Worte zu finden, um über das „Unsagbare“ zu sprechen, nicht die passenden Formulierungen zwischen Betroffenheit und Offenheit wählen zu können. Dieses macht sich schon dort bemerkbar, wo es lediglich um banale Begriffsbestimmungen geht. Welche Bezeichnungen sind politisch korrekt, darf man ‚Juden‘ sagen – „klingt wie ein Schimpfwort – darf man ‚das‘ denn noch sagen?“636 In Ronens Stück Dritte Generation darf man „das“ sagen und dennoch klingt auch hier vieles, was sich die Akteure „um die Ohren hauen, dass es kracht“637 nach Schimpfwort, Walser’scher ‚Moralkeule‘ oder ‚Generalvorwurf‘ und vermeintlich strittige Begriffe werden in die Waagschale der Memorial Correctness geworfen. „Ich habe nicht Angst etwas gegen Juden zu sagen, sondern überhaupt irgendetwas Falsches zu sagen“, konstatiert in diesem Sinne Karsten Dahlem, nicht als sein Alter Ego auf der Bühne, sondern in dem Makingof-Film über die Entstehungsgeschichte des Stückes. Die vermeintlichen Tabus und „verwundenen Wörter“638, die sich im deutsch-jüdischen, aber auch israelischpalästinensischen Kontext bewegen, erschweren die Kommunikation auf und abseits der Bühne. Am Ende der Aufführung führen sie tatsächlich zum finalen (Tabu-) Bruch und zu nicht bloß sprachlichen, sondern zu (inszenierten) physischen Verletzungen. Nicht nur die Vielsprachigkeit und die Publikumsansprachen machen das gesprochene Wort bzw. seine Opposition, das Sprachtabu, zum Protagonisten in Rones Stück und setzen einen Kontrapunkt in den vermeintlich politisch korrekten Holocaust-Diskurs. Dritte Generation spielt auch mit einem sarkastischen Wortwitz und intelligentem Humor, der im Theater George Taboris sein Vorbild findet. Tabori macht in seinen ‚Holocaust-Stücken‘ die Frage nach sprachlicher Darstellung zu seinem Hauptthema und inszeniert seine Stücke gegen das (Ver-)Schweigen vor allem durch verbale Provokationen.639 Yael Ronen lässt z.B. in Dritte Generation drei jüdische Schauspieler in die Rolle israelischer Schüler schlüpfen, die von ihren in Israel obligatorischen Klassenfahrten in das ehemalige Konzentrationslager

635 Kofman, Sarah: Erstickte Worte, Wien: Passagen 1988, S. 55. 636 E. Beck-Gernsheim: Schwarze Juden, S. 150. 637 P. Laudenbach: Entschuldigung, es tut mir leid. 638 J. Butler: Haß spricht, S. 25. 639 Vgl. u.a.: Strümpel, Jan: Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris ErinnerungsSpiele, Göttingen: Wallstein 2000.

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Auschwitz berichten.640 Im pazifistischen Tenor einer Pfadfindergruppe stimmen sie das Lied „Don’t stopp sending us to Auschwitz“ an, um gegen die Einstellung finanzieller Bezuschussungen dieser Fahrten zu protestieren. Dass der Satz „Hört nicht auf, uns nach Auschwitz zu schicken“ hier auf den ersten Blick eine überaus makabere Analogie zu den Judendeportationen herstellt, ist als bewusst inszenierte Provokation zu bewerten, welche erneut ein im Hals stecken bleibendes Lachen provoziert. Dass mit den ‚Auschwitz-Verschickungen‘ in Ronens Stück aber Klassenfahrten in der Gegenwart gemeint sind, kann durch den Kontext selbstverständlich generiert werden. Der erste Impuls ist jedoch unwillkürlich derjenige, der hier einen unerhörten Wortwitz vermutet und durch den sich sofort die Nadel des ‚moralischen Kompasses‘ regt. Gefangen in den eigenen Moraldiskursen führt auch diese ‚witzige‘ Szene zum Unbehagen mit sich selbst – ein Zeichen für das Gelingen der Performance, denn: „der Witz der Gegenwart wird subjektbezogen. Er reagiert auf die mit der Ausdehnung des Möglichkeitsraums verbundene Notwendigkeit, das Leben durch Wählen zu gestalten. […] Thema des Witzes ist nicht mehr das Unbehagen in der Kultur, sondern das Unbehagen mit sich selbst.“641

Ronen verweist durch die Gestaltung solcher Szenen, die sie hinter einem so harmlosen Gewand von Lagerfeuerromantik versteckt, auf die Angestrengtheit politscher Korrektheit im Holocaust-Diskurs. Es darf hierbei jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass Ronen mit Ironie und Satire, die das Stück ohne Frage implementiert, einer brachialen Demontage von Moral oder einer pietätlosen Oberflächlichkeit und Nivellierung stattgibt. Diese verkürzende Sicht wurde oben bereits für die Popliteratur/Popkultur argumentativ widerlegt. Die Stilmittel des Witzes, der Ironie, Satire oder des Sarkasmus dienen vielmehr als ‚Ablenkungsmanöver‘, hinter dem bei genauem Hinsehen sehr schnell Ronens Intention, eine neue Sprache zu finden, zum Vorschein kommt. Abseits der beiden primär verhandelten Vergangenheitsdiskurse, Holocaust und Nakba, verweisen die direkte, generationstypische Sprache und die Thematisierungen von Alltagswelt auf den Gegenwartsraum der dritten Generation, in dem sich schließlich alle drei Gruppen, Deutsche, Israelis, Palästinenser, verorten. Die beiden Primärdiskurse vermischen sich stets mit typischen, auch marginalen Alltagsthemen der jungen Generation, worin sich auch der Pop-Diskurs mit seinen Merkmalen einfügt. In kurzen Episoden über Sexualität und Liebe wird eine weitgehend unre640 Organisierte Klassenfahrten in das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz sind in Israel trotz anhaltender Kritik bis heute für Schulklassen der Mittel- und Oberstufe obligatorisch. 641 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 52.

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flektierte Jetztzeit illustriert, in der weder die nationale oder ethnische Herkunft noch historische Traumata einen Bedeutungsunterschied machen, sondern über die basalen Themen der Alltagsgegenwart Gemeinschaft und Identität generiert wird. Auf der Metaebene erzeugt diese Vermischung jedoch die diskutable Frage, ob es legitim und ‚memorial correct‘ ist, in der direkten thematischen Nachbarschaft des Holocaust von pubertärer Liebe, körperlichen Erkundigungen, Sexualität und Leidenschaft zu sprechen. „Natürlich geht es in erster Linie um die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. In Deutschland scheint dabei vor allem die Frage im Raum zu stehen, wo die eigene Kultur beginnt und wie patriotisch man sich mit ihr identifizieren darf. Bei den Israelis und Palästinensern geht es eher darum, sich aus der ewigen Opferrolle zu befreien. Ich will wissen, an welchen Stellen diese biographischen Befindlichkeiten miteinander verknüpft sind.“642

Die Mehrsprachigkeit des Stückes ist neben dem ästhetischen Mittel der Inszenierung auch ein Resultat der Entstehungsgeschichte von Dritte Generation. Neben dem Storytelling, welches den Plot sowie die Bühnendialoge und –Monologe hervorbrachte, wurden während der Vorbereitungstreffen auch Fragen der interkulturellen Verständigung unter der Gesprächsleitung Dan Bar-Ons diskutiert. Mithilfe seiner Dialogstrategie sollten unterschiedliche kontroverse Sichtweisen und Geschichten entworfen und in einen gemeinsamen Kontext von Reflekt-and-Trust gestellt werden. Dieses Projekt offenen Ausgangs übersetzte Ronen als Work in Progress auf die Bühne und überließ es schließlich den Schauspielern und der Eigendynamik des Stückes, ob das Projekt gelingt, scheitert oder sich als unabgeschlossener Prozess weiter transformiert. Die Verständigungsschwierigkeiten, die es bereits im Vorfeld gab, entwickeln in der Bühnenpräsentation und dort vor allem durch die unterschiedlichen Sprachen ihre Dynamik. Das Ziel ist nicht die Versöhnung, sondern die gemeinsame Sprache für die verschiedenen Vergangenheitsdiskurse und ebenso für die z.T. übereinstimmenden Gegenwartsthemen. Damit nicht zuletzt trotz der unterschiedlichen Sprachen und Sprecherpostionen ein gemeinsamer Dialog initiiert wird, aus dem dann die Möglichkeit einer gemeinsamen, neuen Sprache hervorgehen kann, muss zunächst bei den Beteiligten der dritten Generation die Bereitschaft vorhanden sein, die Geschichte(n) des anderen als anders wahrzunehmen und nicht von vornherein assimilieren zu wollen. Um die Figur des Anderen zu erkennen, wird die eigene Figur z.T. stereotyp (wie durch den Palästinenserschal) und als autarker Körper (durch personalisierte Sprache) in einem Akt der Selbstthematisierung dargestellt. Trotz der offensichtlichen Verschiedenheit soll eine gemeinsame neue Sprache gefunden werden, deren Suche dergestalt nicht über eine der Nationalsprachen – hier trifft das englische Vokabular die Unterscheidung 642 Ronen, in E. Wellershaus: Jeder hält seine Großeltern für Opfer.

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besser –, einer gemeinsamen language (Englisch, Deutsch etc.), sondern nur über eine gemeinsame speech gelingen kann, die im Transitraum zwischen den Kulturen liegt und sich im ebenfalls transitorischen Raum der Theateraufführung erproben und inszenieren lässt. Dritte Generation ist sicherlich kein klassisches „Theater der Migration“643 , auch wenn diese Definition auf die Regisseurin sowie inhaltliche Assoziationen zutreffen mag. Das Stück ist aber durchaus als ein interkulturelles zu bezeichnen, da es in seinem Aufführungsraum das aufnimmt, was bereits über die Zeichen der Zweiten Moderne und die multikulturelle, hybride Bindestrich-Generation gesagt wurde. Die Hybridität wird besonders über die Mehrsprachigkeit konstruiert, welche neben der Individualität der language auch Vernetzungen und Überlagerungen der speech zulässt. Im Konzept der Mehrsprachigkeit ist auch die rhizomatische Struktur der Überlappungen und Kreuzungen angelegt, die entgegen einer hierarchischen Sprecher-Hörer-Kommunikation auf die dynamische Redevielfalt referiert und damit veränderliche Verflechtungen und Vernetzungen evoziert644, die hier im Modell des Gordischen Knotens, der Touching Tales oder Crossover-Verbindungen von Geschichte ihre Entsprechung finden. Statt eines einheitlich verbindlichen Erinnerungsnarrativs entstehen Erinnerungsräume multipler Identitäten, Sprachen und Kulturen, deren Dreh- und Angelpunkt zwar die Vergangenheit bildet, die aber gerade durch ihre kulturelle Vielfalt gekennzeichnet bleiben. Dies darf als weiteres Argument dafür herangezogen werden, dass normative Narrative im Sinne eines Master Narratives nicht Identität bestimmend sind, sondern sich auch für die Lesart von Dritte Generation vielmehr das Modell der Touching Tales zugrunde legen lässt. Die autobiographischen Geschichten der Schauspieler „versperren sich einem einheitlichen ‚Narrativ‘, das in der Sequenz der je spezifischen Erfahrungen und Erinnerungssplitter eine spezifische Logik und einen übergeordneten Sinn einschreibt, denn sie existieren nur nebeneinander.“645 Doch was sagt diese Fokussierung auf die Sprache, der ‚multikulturelle Angriff‘ auf die etablierten Sprachkonventionen über die Forderung des Stückes nach einem interkulturellen Dialog und einer gemeinsamen Sprache aus? Geht es hierbei nicht doch auch wieder um die Thematisierung des altbekannten Topos der ‚Unsagbarkeit des Unsagbaren‘? Die Formulierung einer gemeinsamen Sprache lässt neben der 643 Differenzierend zu diesem Begriff siehe u.a.: Sappelt, Sven: „Theater der Migrant/in– nen“, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2000, S. 275-294. 644 Amodeo, Immacolata: „Die Heimat heißt Babylon.“ Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 109. 645 Assmann, Aleida: „Pathos und Passion. Über Gewalt, Trauma und den Begriff der Zeugenschaft“, in: Assmann, Aleida/Hartman, Geoffrey: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz: University Press 2012, S. 9-40, hier S. 19.

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Hoffnung auf einen unbefangenen Umgang mit der Vergangenheit auch Gedanken an Vergemeinschaftungs- und Identitätsprozesse aufkommen, die nicht zuletzt durch Bar-Ons Theorien grundgelegt wurden. Wenn sich die Belastungen der Eltern und Großeltern nicht gänzlich ‚abschütteln‘ lassen, so könnte es mit der neuen gemeinsamen Sprache zumindest möglich werden, eine gemeinsame multikulturelle ‚Dritte-Generation-Identität‘ zu entwerfen. In Dritte Generation führt das Beharren auf der eigenen Identität und Sprache jedoch zunächst einmal ins Chaos. Das ‚Aufeinanderprallen der Kulturen‘, welches sich bereits zuvor dramatisch aufgebaut hat, löst den Gordischen Knoten vorerst nicht, sondern zieht ihn nur noch fester zusammen und führt am Ende in einen Clash, nicht jedoch als Culture Clash, als „Clash der Kulturen“ gedacht, sondern als Crash des ‚Holocaust-Sprachdiskurses‘. 2.5 Epilog: Diskursverschiebung und Work in Progress Die Analogien zu der Vennemannschen Ästhetik der ‚literarischen Zerschreibung‘, die als ‚Vennemann-Prinzip‘ herausgearbeitet wurden, sind in Dritte Generation unter der Prämisse der Sprachkomposition und Diskursüberladung als ‚Aufführung der Diskurse‘ geradezu wörtlich impliziert und grundieren u.a. die Lesart des Stückes. Ähnlich wie Vennemann in Mara Kogoj ein Diskursgewirr polyphoner Stimmen inszeniert, sind auch die Figuren in Ronens Stück zunächst ‚Gefangene‘ in den Vergangenheitsdiskursen und aufoktroyierten Rollenspielen. So verwundert es wenig, dass sich die kritischen Besprechungen auf das ‚Zuviel‘ an Stimmen und Diskursen sowie auf den für diese Thematik als unpassend scharf eingestuften Zynismus beziehen. „Das Stück flüchtet sich zu oft in Stimmengewirr und überklatschenden Zynismus“.646 Die dennoch eher zögerliche Kritik von Seiten der nationalen und internationalen Kritiker irritiert mitunter, da sich Dritte Generation sehr intensiv und besonders progressiv mit dem Brechen von erinnerungskulturellen und -politischen Tabus beschäftigt – eine Vorgehensweise, die ansonsten eher auf offenen Protest denn auf vornehme Zurückhaltung stößt. Es scheint sich an diesem Beispiel bemerkbar zu machen, dass die Grenzen zur Überschreitung des guten Geschmacks bzw. zum Aussetzen seiner Bewertung nach Maßgabe der Political- und Memorial Correctness veränderlich und je von Kontext, Sprecherposition und Gruppenspezifik abhängig sind.647 In beiden medial unterschiedlichen Beispielen, in Kevin Vennemanns Text Mara Kogoj und in Yael Ronens Dritte Generation, ist die Dekonstruktion von Fragmenten des etablierten Holocaust-Diskurses und seiner Diskurssprache wesentlicher

646 Krause, Till: „Vergiss es!“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22.03. 2009. 647 Vgl. S. Kramer: Tabuschwellen, S. 181 f.

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intentionaler Bestandteil der Erzählästhetik bzw. des ästhetischen Aufführungskonzeptes. Um sie zu verhandeln, inszenieren die Autoren eine Diskursüberfrachtung, die kunstvolle Inanspruchnahme von Tabus und Sprachbarrieren sowie ein mitunter verstörendes Sprachgewirr: Sprache und Diskurse werden performativ ad absurdum geführt. Wenn Ronen außerdem ihre Akteure in Endlosschleifen und ohne einen Ausweg aus der semantischen Einbahnstraße der Vergangenheitsdebatten zu finden, die Diskurse regelrecht physisch durchexerzieren lässt, setzt dies gepaart mit Zynismus und Sarkasmus auch Provokationen frei, die ebenso in Vennemanns Werk aufzufinden sind, z.B. dann, wenn sich seine Figuren ‚fälschlicher Weise‘ an den ‚belasteten Begrifflichkeiten‘ wie dem ‚Konsensgedächtnis‘ bedienen und diese in grotesker Überzeichnung als Provokation verzerren. In Dritte Generation werden die Provokationen auf zweierlei Weise inszeniert: Zum einen in den Passagen der Zuschaueransprachen durch die Schauspieler Bormann und Dahlem, zum anderen durchzieht die gesamte Inszenierung eine mehr oder minder subtile Unterwanderung und Dekonstruktion von etablierten erinnerungspolitischen und -kulturellen Konsensdiskursen, die im Stück zunächst kraftvoll aufgebaut werden, bevor sie dann mit lautem Getöse in sich selbst zusammenbrechen bzw. von der dritten Generation zum Einsturz gebracht werden. Die Performances des Unwohlseins der Schauspieler wie auch der Zuschauer tragen ihr Übriges dazu bei: Die Diskurse, an denen sie sich abarbeiten, die sie hier vorführen oder mit denen sie konfrontiert werden und das national geprägte Gedächtnisparadigma, das dabei die Regieanweisungen gibt, sind nicht passend, sie führen zu Unwohlsein, Unverständnis und prägen eine problematische Interaktion auf und fernab der Bühne. Die ‚alten Sprachhülsen‘, die Ronen den Schauspielern in den Mund legt, scheinen nicht mehr ohne Weiteres ins Bild und in ihre Sprache zu passen. Diese Performance der gescheiterten Diskurse geht dabei über die bloße Infragestellung der normativen DiskursBegriffe wie ‚Erinnerung‘, ‚Schuld‘, ‚Opfer‘ und ‚Täter‘, wie dies z.B. bei Maxim Biller oder Christian Schüle praktiziert wurde, hinaus, indem Ronen deren Dekonstruktion durch die Performances der Darsteller körperlichen Aus- und Nachdruck verleiht. Diese inszenieren sie mit aller körperlichen Anstrengung, die für das Work in Progress notwendig ist. Dritte Generation ist derart als eine Aporie des Erinnerungsdiskurses und die Demontage einer längst redundant gewordenen „Arbeit am Gedächtnis“648 zu lesen. Zusammen mit der Sprache als vielfältig eingesetztes herausragendes Stilmittel des Stückes ist Dritte Generation strukturell als Dekonstruktion und Demontage von diskursbestimmenden Parametern des Gedächtnisparadigmas der Nachkriegszeit angeordnet. Vor allem die Vorstellung eines normativen 648 Lühe, Irmela von der: „Verdrängung und Konfrontation – die Nachkriegsliteratur“, in: Reichel, Peter/Schmid, Harald/Steinbach, Peter (Hg.): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München: Beck 2009, S. 243-261, hier S. 259.

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‚Dritte-Generation-Gedächtnisses‘, wie es durch das Gedächtnisparadigma geprägt und im Stück z.B. durch die Uniformität der ‚3-G‘-T-Shirts als Kontrastfolie aufgebaut wird, lässt sich als unzureichend entlarven und wird mit steigender Dramatik des Stückes demontiert. Mit dem Auftauchen eines Augenzeugens aus der ersten Generation in Gestalt der bereits erwähnten Handpuppe spitzt sich am Ende des Stückes die Situation auf der Bühne noch einmal deutlich zu. Während alle Schauspieler zunächst andächtig den Erinnerungen des Zeitzeugens lauschen, versucht Yousef Sweid, als es darum geht, welche Gruppe im aktuellen Gazakonflikt welche Schuld trägt, die Puppe handgreiflich zum Schweigen zu bringen. Durch den Angriff auf einen Angehörigen der ersten ‚unantastbaren Opfer-Generation‘ kommt es zu einem heillosen Durcheinander und Handgemenge. Der Crash mit der Vergangenheit, der durch das Auftauchen der Puppe noch einmal ins Zentrum rückt und der in dieser abschließenden Vorführung nicht nur ein verbaler, sondern auch ein körperlicher ist, entlädt sich jedoch erst auf Initiative eines letzten Monologs der israelisch-jüdischen Schauspielerin Ayelet Robinson, in dem es direkte Vorwürfe, Anklagen und Provokationen – auch an die Adresse der Zuschauer – hagelt. „You germans clean up their dirty hands of the palestinian conflict. […] But this doesn’t clean up what you did. […] You always were and always will be NAZIS.“ Das letzte Wort, ‚NAZIS‘, wird als agitative Verstärkung in Versalien auf die Leinwand projiziert. Dabei handelt es sich nun aber nicht um eine Übersetzungsleistung, denn ‚Nazi‘ ist ein in allen Sprachen bekanntes (Schimpf-)Wort. Hier wird es als Tabuwort aufgeladen, um den finalen Crash einzuleiten, auf den hin die Schauspieler, wild in ihren Muttersprachen durcheinander schreiend, aufeinander los stürzen und nach kurzer Abwesenheit die Bühne mit sichtbaren Blessuren und notdürftig bandagierten Verletzungen wieder betreten. Dass sich am Ende die Szenerie der gescheiterten Dialoge und Monologe in einem solchen ‚Babylonischen Sprachgewirr‘ und Crash entlädt, lässt weder für das Generationenkonzept und die Erinnerungssituation noch für die interkulturelle Verständigung und die Vergemeinschaftung der dritten Generation Hoffnung. Der von Bar-On initiierte Versuch einer Reflekt-and-trust-Beziehung ist nicht zu erfüllen, aber: „es wird keinen abrupten Szenenwechsel geben […] aber die Gefangenen [des Gordischen Knotens – K.F.] können einen Dialog beginnen, eine Zigarette teilen, einen Gedanken, ein Buch, ein Lied, einen Theaterabend. Und falls die dritte Generation das nicht schafft, wird es vielleicht die vierte schaffen.“649

649 Eran Baniel, in: Brendel, Gerd: Presseinformationen, Theater der Welt 2008. Siehe: http://www.kulturfalter.de/index.php?id=theater-der-welt-dritte vom 08.03.2009.

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Dritte Generation versucht keine ‚Aussöhnung‘ im Sinne eines Szenenwechsels, sondern fokussiert die Ereignishaftigkeit des gemeinsamen, aktiven Durchlebens, das auch schmerzhaft sein kann. Statt eine Lösung der Probleme zwischen den Generationen, Nationalitäten, Ethnien und den je individuellen Traumata anzustreben, geht es letztlich um das Austarieren eines offenen Dialogs zwischen diesen vermeintlich oppositionellen Positionen. Diese Interpretation des Endes lässt zwar Hoffnung für den Dialog, kaum jedoch für die Heilung tief sitzender, transgenerationell vererbter Wunden und Tabus und für einen ‚unbefangenen‘ Umgang mit dem Holocaust in der dritten Generation. Derart ließe sich konstatieren, dass Ronens Stück lediglich die alten Diskurse bediene und zeigt, dass sich auch in der dritten Generation immer noch nichts geändert hat an den Schuldvorwürfen, der Sprachlosigkeit und dem Umgang mit dem ‚Immer-noch-Tabuthema‘ Holocaust. Oder sind es hier die Tabubrüche, die erprobt werden, welche unabhängig von der kulturellen Herkunft der Akteure auf allen Seiten die gleichen zu sein scheinen und gegen die offen und lautstark angegangen wird, gerade das herausragende, verbindende und identitätsstiftende Moment in der Gemeinschaftsbildung der dritten, der jungen Generation? „Tabubrüche haben für die gesellschaftliche Entwicklung eine wichtige Bedeutung und erfüllen gleich mehrere Funktionen: Sie markieren das, was in einer Gesellschaft überhaupt tabu ist, sie machen Grenzen und Schranken bewusst, weisen auf Missstände hin und ermöglichen Entwicklung.“650

Mit dem Tabubruch wird die Gemeinschaftsbildung demnach nicht unterbunden, sondern kann Entwicklungsmöglichkeiten gerade insofern ermöglichen, dass es sich hier um eine verhandelbare Dynamik und einen stets unabgeschlossenen Work in Progress Prozess handelt. Dies müsste bedeuten, dass erst der Tabubruch Möglichkeiten für Neuformierungen zulässt. „Niemand wird geschont, jeder kriegt sein Fett ab, und während man als Zuschauer gerade noch meint, zu erkennen, wo die Grenze von Recht und Unrecht, Opfer und Täter verläuft, würfelt der Abend schon alles wieder durcheinander, und die Gewissheiten zerfallen.“651

In dem Sinne, in dem die dritte Generation äußere, übereinstimmende, verbindliche Tabus und Narrative dekonstruiert und ihr ‚Nicht-Passen‘ inszeniert, gewinnt sie einen inneren Zusammenhalt, der sie wiederum von anderen Gruppen abzugrenzen vermag. Damit sind die Tabus, die sich im Sprechen über den Holocaust verbergen, nicht in erster Linie ein streng genommen kulturspezifisches, sondern auch ein Kul650 H. Schröder: Zur Kulturspezifik von Tabus, S. 62. 651 E. Slevogt: Du sollst nicht Vergleichen.

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tur- und Generationen verbindendes Diskurselement, in dem es gerade nicht darauf ankommt, einen Konsens zu schaffen und Einigkeit zu proklamieren, sondern das Tabu erst einmal beim Namen zu nennen und auch auf seine Unversöhnlichkeiten hinzuweisen. So bleiben die Fragen und Antworten wie auch bei Vennemann vielerorts offen. Der ‚Schulddiskurs‘ ist nicht eindeutig zu klären, die Debatte um die ‚Opferhierarchie‘ hält an, die ‚Singularitätsthese‘ bleibt streitbar und der Holocaust Dreh- und Angelpunkt jeglicher Identitätsbildung auf allen Seiten. Zugleich ist deren diskursives Fortbestehen aber nicht als Scheitern oder ‚Endstation‘ zu bezeichnen, sondern als streitbarer Ausgangspunkt für immer neue Prozesse des Tabubruchs und der (interkulturellen) Verhandlung des Holocaust. Indem nämlich mit einer schonungslosen Offenheit, Direktheit und Konfrontation alles durcheinander gewirbelt und wieder bruchstückhaft zusammengesetzt wird, bleibt durch die Hintertür mehr zurück als das Scheitern an den alten Debatten, Tabus und Vorurteilen. Wir befinden uns, ehe wir uns versehen, in einem andauernden, sich selbst immer wieder erneuernden Work in Progress und damit direkt in der Zukunft des Erinnerungshandelns.

3. P ERFORMANCE R ADIKAL 3.1 Comedy und Holocaust Am Beispiel von Yael Ronens Theaterstück Dritte Generation wurden die Präsentation und die Inszenierung gescheiterter Holocaust-Diskurse in der performativen Aufführung gezeigt. Die Regisseurin bzw. ihre Schauspieler machen wortstark darauf aufmerksam, dass die Formeln des traditionellen Gedächtnisdiskurses in ihrer Monokausalität nicht mehr in ihre Lebenswelt hinein passen und demontieren diese u.a. durch den Einsatz von Satire bis hin zum Sarkasmus. In seiner Performance noch eine Spur weiter geht das nun folgende, an dieser Stelle schlaglichtartig als Ausblick dieses Performance-Kapitels behandelte Beispiel, welchem versuchsweise der Genrebegriff ‚Performance Radikal‘ zugeteilt wird. Wie nämlich ein weitaus radikalerer „Weg von einer Gedächtniskultur zu einer Kultur der Aufmerksamkeit“652 aussehen kann, hat kürzlich ein Autor bzw. Künstler der jungen deutschjüdischen Avantgarde gezeigt. Der Comedian – so möchte er selbst am liebsten bezeichnet werden – Oliver Polak, Jahrgang 1976, tritt gewissermaßen die Nachfolge von Maxim Biller an und setzt dessen deutsch-jüdische Provokations-Rhetorik

652 A. Assmann: Druckerpresse und Internet. Auf dem Weg von einer Gedächtniskultur zu einer Kultur der Aufmerksamkeit.

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unter Berufung auf die Narrenfreiheit der Comedy-Kunst auf den Stand-Up-Bühnen deutscher Städte fort.653 Polak arbeitet sich in seinen Programmen weitgehend am autobiographischen Material ab und verhandelt in seinen geschriebenen und vorgetragenen Texten primär die eigene und die Geschichte seiner Papenburger Familie, seine Herkunft und vor allem sein Leben als Teil der jüdischen Minderheit in Deutschland. Als kontrovers diskutierter Sprecher einer Minderheit und in seiner rhetorischen Anlage nicht unähnlich agiert auch der deutsch-türkische Autor Serdar Somuncu, der insbesondere durch seine szenischen „Mein-Kampf-Lesungen“ von sich reden machte und als ähnlich provokante Stimme und ‚Radikal-Performer‘ der türkischen Minderheit gelten darf wie Polak für die jüdische.654 Auch wenn Henryk M. Broder hinter der künstlerischen Pose beider eine „therapeutische Maßnahme“655 vermutet, geht es Polak und Somuncu weniger um das Therapieren ihrer eigenen Person. Vielmehr ist es ihr Ansinnen, der deutschen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und sie auf deren z.T. wohlwollenden, meistens jedoch fehlgeleiteten, kulturellen Vereinnahmungen des ‚Jüdischen‘ bzw. des ‚Türkischen‘ aufmerksam zu machen. Indem Polak und Somuncu vor allem stereotype Bilder von ihrer jüdischen und türkischen Kultur und Identität zeichnen, bedienen sie die vorgeformten Klischees zugleich, jedoch nur, um sie drastisch zu überzeichnen und ihre Klischeehaftigkeit auf die Urheber zurück zu spiegeln. Indem sie dieses in einem Performance-Akt inszenieren, stellen sie ihre Meinung auch körperlich aus und verleihen ihrer ‚MinderheitenStimme‘ so inszenatorischen Nachdruck. Daraus folgt die Anklage deutscher Klischeebildungen als eine radikale Performance. Zu diesem Zweck bedienen sich beide des stärksten aller Narrative, welches sich im deutschen Kontext finden lässt: des Holocaust. Polak und Somuncu stammen zwar aus unterschiedlichen Kulturen und doch verbindet sie in ihren Performances gegen deutsche Vereinnahmungen das Touching Tale Holocaust. Auf diesen, auch aus der realen Not geborenen Schulterschluss deutet Somuncu in einem gemeinsamen Interview mit Polak hin: „Die Türken [sind] die neuen Juden Deutschlands.“656 In ihren Performances wird 653 Im Zentrum steht hier Polaks Buch Ich darf das, ich bin Jude, erschienen im Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008 und dessen Bühnenfassung, die unter den Titel „Jud-süßsauer“ 2011 auch als DVD erschienen ist. 654 Zu Somuncus Texten und Programmen zählen das Stand-Up-Programm „Hassprediger“, mit dem er u.a. in der Saison 2011/2012 durch deutsche Städte tourte sowie seine „Mein Kampf-Lesungen“. Außerdem verfasste Somuncu 2009 mit Der Antitürke eine autobiographische Schrift. 655 Broder, Henryk M.: „Jud süß-sauer“. in: Spiegel online, 22.10.2008. Siehe: http: //www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,585695,00.html vom 15.03.2012. 656 Serdar Somuncu, in: Lindemann, Thomas/Schuhmacher, Claus: „‚Wir kriegen auf die Fresse, die anderen die Preise‘. Ein Gespräch mit Oliver Polak und Serdar Somuncu“,

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nun diese vermeintliche Verschwisterung nicht nur zum gemeinsamen Narrativ, sondern erfährt eine radikale Umdeutung als Drohung. Die Radikalisierung der Holocaust-Narration, die hier sowohl im Format als auch im Thema stattfindet, entspricht ganz dem Hayden Whiteschen Sinne der poststrukturalistischen, dekonstruktiven Infragestellung der Narratologie im Medium der Performance.657 Das Genre der Unterhaltungsperformance, welches in der westlichen Kultur überaus populär ist, scheint überdies eine Kunstform zu sein, in der sich besonders Künstler mit Migrationshintergrund auszudrücken vermögen, vor allem dann, wenn sie Misstöne produzieren wollen. Ein ausländischer Akzent oder Habitus, eine südländische Pose oder fremde Religiosität sind dem Entertainment-Faktor offensichtlich eher zu- als abträglich und treiben die Radikalität zudem deutlich voran. Wenn es in dieser Arbeit bisher um die literarische, künstlerische, zuletzt mit Yael Ronen auch performative Verhandlung der NS-Zeit und des Holocaust ging und auch schon die Frage aufgeworfen wurde, wo möglicherweise die Grenzen medialer Darstellungen und Argumentationen liegen, dann wird mit dem Beispiel ‚Performance Radikal‘ noch einmal eine neue Dimension dieser Fragen erreicht. Dabei sind diese Performances neben dem Aspekt ihrer sprachlichen Radikalität vor allem im Hinblick auf ihren (Selbst-)Inszenierungscharakter zu betrachten, auf den als Merkmal der Erlebnisgesellschaft und als Programm der Performances im Alltag schon verwiesen wurde. Darauf aufbauend und Bezug nehmend auf die im Zentrum dieser Arbeit stehende Frage nach zukünftigen Verhandlungsformen von Vergangenheit soll erwogen werden, ob wir uns auch in der Repräsentation des Holocaust nicht nur immer mehr der Inszenierung annähern, sondern diese, um Aufmerksamkeit zu generieren, zugleich auch immer radikaler – im Sinne von weniger rücksichtsvoll, provokativer und politisch inkorrekt – werden. Neben der Inanspruchnahme der Radikal Performances als weiteres Beispiel für die performative Darbietung von Holocaust-Narrativen unter dem Motto ‚Performing-the-Past‘ soll der Exkurs zu Polaks spezifischer Kunstform der Stand-up-Comedy und der jüdischen Popkultur sowie Polaks Implementierung als Kunstfigur im Diskurs deutscher Erinnerungskultur einen erweiterten Blick auf die Frage nach Memorial Correctness zulassen. „Ich weiß nicht, was ich bin, aber ich kann ihnen deutlich machen, dass sie ‚deutsch‘ sind. Da muss ich nur mal ganz kurz über Juden reden und ihr innerer Zensor, der sich fragt ‚Darf man so etwas?‘ ist dann das erste an dem sie spüren, wie ‚deutsch‘ sie eigentlich sind.“658 in: Die Welt Online, 14.04.2010. Siehe: http://www.welt.de/kultur/article7174642/Wirkriegen-auf-die-Fresse-die-anderen-die-Preise.html vom 22.12.2011. 657 Vgl. u.a. White, Hayden: What is a Historical System? Vortrag im Rahmen der Konstanzer Meisterklasse ‚Trauma und Nation, 19.07.-27.07.2009. 658 S. Somuncu: Es geht mir nicht um Provokation, S. 49.

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„Darf man so etwas?“ – Auch diese Frage begleitet diese Studie durch das Feld neuer Verhandlungsformen von Vergangenheit. Zuletzt wurde sie in Dritte Generation und der Sprecherrolle Yael Ronens relevant. Die Frage des ‚Dürfens‘ oder ‚Nicht-Dürfens‘ korrespondiert eng mit jener Frage nach der Political- und Memorial Correctness und damit nach dem ‚guten Geschmack‘ von HolocaustDarstellungen und -Repräsentationen. Dass Serdar Somuncu im obigen Zitat diese Frage ‚den Deutschen‘ in den Mund legt, ähnelt sehr der Aufführungspraxis in Dritte Generation, bei der das (deutsche) Publikum immer als Gegenpart, Ankläger bzw. als Partner für die gelingende Performance mit gedacht wird. Dabei leuchten in den Köpfen der Zuschauer nicht nur Bilder, sondern permanent die warnende Frage auf: ‚Dürfen die das?‘ und vor allem ‚Dürfen wir das, Lachen z.B.?‘ Diese doppelt intendierte Fragestellung, gerichtet an die Akteure auf der Bühne und an das Publikum gleichermaßen, ist auch in den Performances Polaks ein immanentes Aufführungsmuster. Für sich selbst nimmt Polak die Antwort auf die Frage des Dürfens im Übrigen sofort und unmissverständlich vorweg: „Ich darf das, ich bin Jude.“ Die Kunstform, der sich Oliver Polak in seinen Stücken widmet, ist die relativ neue, sich zugleich ungeheuer rasch populär entwickelnde Stand-Up-Comedy, die in Deutschland in der Tradition des ‚Stehgreifhumors‘ und nicht zuletzt durch die Programme etwa Mario Barths in der jüngsten Unterhaltungskultur zu einigem Ruhm gelangt ist. Als Kunstform ist die Stand-Up-Comedy im deutschen Sprachraum wissenschaftlich bisher völlig ignoriert worden, was in Bezug auf Formate wie die von Mario Barth sicherlich nachvollziehbar, in Anbetracht der mannigfaltigen Ausweitung kulturwissenschaftlicher Gegenstandsbereiche, vor allem auch im Hinblick auf das Dach-Genre der Performance-Art, jedoch ein durchaus relevantes Forschungsdesiderat darstellt. Selbstverständlich ist hier eine qualitative Unterscheidung vonnöten, um nicht einer z.T. in diesem Genre vorherrschenden Trivialität unnötige Bedeutung zukommen zu lassen. Als kulturelles wie auch gesellschaftliches Phänomen bedacht, werden Stand-Up-Comedies jedoch für den Kontext dieser Arbeit durchaus auch über ihre performativen und linguistischen Merkmale hinaus relevant. Auch unter medien- und medien-kulturwissenschaftlichen Wandlungskriterien ist die ‚Spoken-Word-Performance‘, die etwa unter ihrem Sub-Genre ‚Poetry Slam‘ vornehmlich im US-amerikanischen Sprachraum auch wissenschaftlich zumindest zart verankert ist, interessant. Zum einen entsteht hier ein neues, weitgehend gleichermaßen literarisch wie performativ geprägtes Format, zum anderen lassen sich über die Partizipation an diesem Medium Rückschlüsse auf die Rezeption und Popularität dieses neuen kulturellen (Veranstaltungs-)Mediums auf Seiten der Konsumenten ableiten. Mit einer „Intensivierung des Erlebniskonsums“659, welche auch Einfluss auf den Kulturkonsum nimmt, wird nicht primär das 659 S. Porombka: Slam, Pop und Posse, S. 38.

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geschriebene oder gesprochene Wort zum Gradmesser der Vermittlung von Inhalt, sondern auch die Veranstaltung selbst. Die Live-Performance, die über das Sprechen oder szenische Lesen hinaus in einem performativen Akt Bedeutung erzeugt und die Generierung von Sinn an die Präsentationsleistung und Darbietung koppelt, stellt so mitunter das Erlebnis über den Inhalt. In der Inszenierung und Aufführung von literarischem Text und Sprache werden diese selbst zum Ereignis. Die Inszenierung entwirft – dies ist eines ihrer wesentlichen Momente – spezifische Strategien zur Erregung von Aufmerksamkeit.660 Dass bei den Programmen Polaks oder Somuncus dabei vor allem das Thema Holocaust zur Strategie der Aufmerksamkeit und als Narrativ ‚live performed‘ wird, könnte sich durchaus unter einen „populärkulturellen Trivialisierungsverdacht“661 fassen lassen. Auch angesichts des wissenschaftlichen Brachlandes, welches mit der Untersuchung der Performance Radikal betreten wird, darf dieser Verdacht sicherlich nicht außer Acht gelassen werden. Um jedoch auf den Spuren der Neuverhandlung von Holocaust-Narrativen einen weiteren Ausblick zu gewähren, soll Polaks Comedy im Folgenden nicht unter dem Mikroskop möglicher Trivialisierung, sondern als Möglichkeit unkonventioneller, radikaler Repräsentation und Verhandlung des Holocaust betrachtet werden. 3.2 Oliver Polak: „Ich darf das, ich bin Jude!“ Political correct? ‚memorial correct‘? – oder handelt es sich einfach nur um Geschmacklosigkeiten, um schlechte Gags auf Kosten von Minderheiten, sogar auf Kosten von Holocaust-Opfern? Das biographische Buch Ich darf das, ich bin Jude (2008) sowie die Bühnenprogramme Jud-süß-sauer (2008/2009) und Ich darf das ich bin Jude – Wollt ihr den totalen Freak (2012) von Oliver Polak setzen schon bereits mit ihren programmatischen Titeln alles daran, diese Fragen zur Diskussion zu stellen. Was Polak jedoch ausdrücklich von Beginn an nicht zur Diskussion stellt, ist seine ‚Autorität‘ als Künstler einerseits und seine Deutungslegitimation als ‚Jude‘ andererseits. Auch dies enthält bereits der Titel Ich darf das, ich bin Jude, mit dem Polak jegliche Kritik von Seiten politisch korrekter Ordnungshüter von vornherein im Keim ihres Entstehens erstickt. Da es vor allem auch darum geht, Polaks Performances im Sinne des Aufführungscharakters einer ‚Performing-thePast-Performance‘ zu untersuchen, beschäftigen sich die folgenden Untersuchungen

660 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 330. 661 E. Meyer: Problematische Popularität, S. 273.

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wesentlich mit seinem ersten Bühnenprogramm, welches bis auf wenige Ausnahmen auf der gleichnamigen literarischen Fassung Ich darf das, ich bin Jude basiert.662 Polaks Stand-Up-Comedy und sein Buch sollen als gesellschaftskritische Satire klassifiziert werden, die sich vor allem in der Tradition von Maxim Biller oder Henryk M. Broder bewegt. Wesentlich vehementer noch als die beiden zuvor genannten Autoren parodiert Polak jedoch beide ‚seiner‘ Kulturen, die jüdische und die deutsche. Neben gesellschaftlicher Kritik bewegt er sich also auch stets im Bereich der Selbstironie, die als wesentliches Stilmittel seiner Kunst auszumachen ist und vor allem in den Erzählungen seiner eigenen Biographie zum Ausdruck kommt. In der Performance Jud-süß-sauer rezitiert er dazu Teile aus dieser Lebensgeschichte, basierend auf der autobiographischen Erzählung Ich darf das, ich bin Jude. Dabei erweckt die Auswahl der Episoden den Eindruck, Polak habe aus seinem biographischen Text, in dem er an sein Leben angelehnte Geschichten vom Kindergarten- bis zum Erwachsenenalter sowie über das Leben seiner Eltern erzählt, explizit jene Fragmente für seine Performance ausgewählt, die sich auf sein ‚Jüdischsein‘ und insbesondere auf das durch Missverständnisse und Klischees geprägte Verhältnis zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ beziehen und sich daher vor deutschem Publikum besonders gut und aufmerksamkeitsökonomisch ertragreich ‚verkaufen‘ lassen. Unter dem Phänomen des Pops gilt hier auch für die jüdische Popkultur, dass sie nie ‚langweilig‘ sein darf. Auch wenn Polak immer wieder betont, dass seine jüdische Identität nicht im Vordergrund seines Auftretens steht, inszeniert er sie an einer Kultur der Aufmerksamkeit partizipierend doch zuvorderst. „Verzeihen sie, dass ich mich kurz vorstelle: Mein Name ist Oliver Polak […] und ich bin Jude. Sie müssen trotzdem nur lachen, wenn es ihnen wirklich gefällt. […] Lassen sie uns ganz unverkrampft miteinander umgehen. Wie lange ist diese dumme Geschichte jetzt her? Über 60 Jahre oder? […] Wir treffen eine Vereinbarung: Ich vergesse die Sache mit dem Holocaust und sie verzeihen uns Michel Friedman.“

Polaks inszenierte Selbstdarstellung ist durchgehend in Opposition zum Publikum angelegt. Im nächsten Akt wendet er sich sogleich an das Publikum und tastet nun im Gegenzug zur Offenlegung seiner eigenen die Identität der Zuschauer ab, wenn er fragt: „Noch andere Minderheiten hier? Schwule? Schwarze? Schwule Schwarze? Ossis mit Job?“ Diese Szene erinnert derart stark an die Eingangsszene im Theaterstück Dritte Generation, in der Niels Bormann in seinem Prolog fast den identischen Wortlaut nutzend in das Publikum hinein fragt, welche Minderheiten anwesend sind, dass hier der ‚Verdacht‘ aufkommt, Polak könnte diese Episode direkt 662 Grundlage dieser Analyse ist die transkribierte Bühnenfassung vom 22.10.2009 im „Malersaal“ des Schauspielhauses Hamburg. Wörtliche Zitate stammen außerdem aus: Polak, Oliver: Ich darf das, ich bin Jude, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008.

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von Ronens Theaterfassung übernommen haben. Oder eignet sich diese Art der Publikumsansprache einfach ganz besonders, um in das sensible Thema einzusteigen und den Zugang (vermeintlich) zu erleichtern? Wie auch in Ronens Stück generiert dieses direkte Abfragen der nationalen, ethnischen oder sexuellen Identität eine Aufmerksamkeitsbündelung und den Einstieg nicht nur in die problematisch aufgeladene deutsch-jüdische, sondern in weitere gegenwärtige (Minderheiten-) Thematiken und sozial-gesellschaftliche Problemfelder. Der Unterschied zu Ronens Stück ist in der weiteren Darbietung dieser Passage hingegen frappierend. Während Bormann in Dritte Generation die Anfrage nutzt, um sich bei den anwesenden, so wie stellvertretend auch bei allen nicht-anwesenden, MinderheitenAngehörigen zu entschuldigen, schürt Polak sofort identitäre Ressentiments und provoziert: „Ich kann verstehen, dass ihr [die Ostdeutschen – K.F.] sauer seid auf uns Juden. Ihr habt ja noch nicht mal einen eigenen Staat. Unsere Mauer steht noch!“ Mit diesem Auftakt initiiert Polak selbstverständlich das genaue Gegenteil von Unbefangenheit und ‚Verzeihen‘ wie er sie mit seinem ‚Friedman-Kompromiss‘ zu Anfang in Aussicht stellt. Sofort wird klar, welche oppositionellen Räume der Künstler hier aufmacht: ‚Ich, der Jude hier, und ihr, die Deutschen, da; dazwischen, unüberwindbar, der Holocaust.‘ Auch seine ernste Mimik, strenge Gestik und verkrampfte Körperhaltung machen in Ambivalenz zu der ansonsten betont lässigen, die Hip-Hop-Kultur zitierenden Kostümierung mit Jogginganzug und Turnschuhen – „fast alle Juden tragen Jogging-Hosen“663 – von Anfang an deutlich, dass hier eigentlich nichts auf die leichte Schulter genommen werden kann und sich die Zuschauer vor dem ‚kampfeslustigen‘ Polak in Acht zu nehmen haben. Die Performance des Unwohlseins ist auf Seiten Polaks, der darin eine konträre Haltung zur direkten, provokanten Ansprache einnimmt, wie auch auf Seiten des Publikums deutlich wahrzunehmen und löst sich auch durch zögerliches Lachen in den Zuschauerrängen niemals gänzlich auf. Dieses zögerliche Lachen in Polaks Publikum erinnert an das Lachen, das im Halse stecken bleibt, welches die Schauspieler in Dritte Generation bei ihrem Publikum auslösen. Ebenso sind auch die bewusst gesetzten Sprechpausen, die Polak insbesondere im Anschluss an die Publikumsansprachen setzt, Aufführungsstrategien, um dem zuvor Gesagten noch mehr Ausdruck zu verleihen. Die Interaktion mit dem Publikum ist in Polaks Performance wie für jede Aufführung wichtigster Garant für deren Gelingen. Dabei ist der Akt der Wahrnehmung und damit auch die Reaktion der Zuschauer nicht steuerbar664 663 Oliver Polak, in: Weddeling, Britta: „‚Ich darf das, ich bin Jude‘. Ein Gespräch mit Oliver Polak“, in: Fokus Online, 17.10.2008. Siehe: http://www.focus.de/kutur/buecher /tid-12163li–teratur-lea-rosh-ist-echt-ein-schraeger-vogel_aid_341423.html vom 17.03. 2012. 664 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 330.

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und dadurch letztlich, gerade wenn es wie bei Polak um Radikal-Performances geht und auch vom Publikum ‚Radikalität‘ abverlangt wird, mit einem gewissen Risiko des Scheiterns behaftet. Neben den affektiven Reaktionen des Publikums wie Lachen, unruhiges Murmeln, ungeduldiges Herumrutschen auf den Sitzen oder betroffenes Schweigen, stiftet Polak seine Zuschauer auch zum offensiven, verbalen Eingreifen ein. Als Replik auf den Untertitel seines zweiten Programms „Wollt ihr den totalen Freak?“, der zweifelsohne auf die ‚Sportpalastrede‘ Joseph Goebbels‘ von 1943 und dessen rhetorische Frage ‚Wollt ihr den totalen Krieg‘ anspielt, initiiert Polak das von ihm sogenannte ‚Judenspiel‘. Bei diesem werden die Zuschauer von Polak aufgefordert, in den Saal hinein zu rufen, welche der von ihm genannten Personen, ‚Jude‘ ist und wer nicht und damit ‚normal‘. „‚Mein Vater?‘ – ‚Jude‘, ‚Jesus?‘ – ‚Jude!‘, ‚Alfred Biolek?‘ – ‚Jude!‘ – ‚Falsch! Der ist normal!‘“ usw. Die zuvor durch Polaks Auftreten und seinen z.T. makaberen Wortwitz eingeschüchterten Zuschauer entwickeln in diesem Spiel schlagartig eine impulsive Gruppendynamik und rufen sich nicht nur in Rage, sondern in einen regelrechten Rausch hinein. Ehe sie sich versehen, schreien sie lauthals wie aus einer Kehle: „Jude […] Jude […] Jude […]!“ – Polaks Performance gelingt. Polak glückt mit diesem Aktionismus der Zuschauer im ‚Judenspiel‘ die Inszenierung vom Rauschhaften als Adaption der ‚Sportpalastrede‘ bzw. anderer mit der NS-Zeit und im Umfeld der nationalsozialistischen Propaganda in Verbindung stehender rauschhaft eigendynamischer Ereignisse. Durch den Live-Charakter des Spiels wird eine Art des selbstbeteiligten Nacherlebens ermöglicht, die den Zuschauer an einem Erlebnis im Hier und Jetzt teilhaben lässt, welches aber auf das Nachfühlen einer problematischen Vergangenheit zurückwirkt.665 Hier wird zugleich performativ ein großes Kapitel der NS-Geschichte thematisiert, nämlich die Frage, ‚wie konnte das passieren und warum hat sich niemand bzw. nur so wenige dem vernichtenden Rausch der Nationalsozialisten entzogen?‘ Im Nacherleben dieses Rausches kann der Zuschauer seine eigenen Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen entwickeln oder vor seiner eigenen, möglicherweise nicht vorhandenen, Courage zurückschrecken. In die zweite, tiefere Ebene seines ‚Judenspiels‘ inszeniert Polak also eine selbstreflexive Aufforderung an die Adresse des Publikums mit hinein. Die Zuschauer rufen nach einer Weile impulsiv und ohne zu überlegen, ob sie dies ‚dürfen‘ oder nicht, das Wort ‚Jude‘ hinaus – „Heute haben Sie die einzigartige Gelegenheit, einen Juden Juden zu heißen“666 . Auf die Hemmung, 665 Vgl. zum Charakteristikum des Spiels in Aufführungen: Schulze, Gerhard: „Was bedeuten die Bretter, die die Welt bedeuten?“, in: Balme, Christopher/Schläder, Jürgen (Hg.): Inszenierungen. Theorie – Ästhetik – Medialität, Stuttgart: J.B. Metzler 2002, S. 1-15, hier besonders S. 12 ff. 666 Oliver Polak, in: Brobinski, Matthias: „Kein Witz“, in: Suddeutsche Zeitung vom 07.03.2012.

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einen Juden auch ‚Jude‘ zu nennen, wurde bereits, auch im Kontrast zu dem allseits inflationär verwendeten Begriff ‚Nazi‘, an anderer Stelle verwiesen und auch in der Aufführung Dritte Generation konnte dieser Aspekt des Sprachproblems als Teil der Inszenierung kenntlich gemacht werden. Jüngst wurde das ‚Judenspiel‘, die Frage ‚Darf man Jude sagen‘, auch in anderen Kontexten als künstlerische Bearbeitung implementiert. Das jüdische Museum im österreichischen Hohenems präsentierte beispielsweise im Rahmen seiner 2012er Ausstellung „Was sie schon immer über Juden wissen wollten“ auf diese Frage als Antwort ein Mikrofon, in welches die Besucher das Wort ‚Jude‘ hinein rufen und ihr darauf folgendes Unbehagen reflektieren sollen.667 Derart lauthalsige, rauschhaft vollzogene ‚Juden-Rufe‘, wie sie das Museum oder Polak hier anstiften, wären außerhalb des Bühnen- bzw. Ausstellungsraumes möglicherweise in der Tat ein sofortiger Agitationspunkt und Störfaktor der Political Correctness. Die Frage ist dabei weniger, ob der Begriff ‚Jude‘ ein ‚Reizwort‘ oder im Sinne Butlers ein verwundenes Wort der Hate Speech ist, sondern in welcher (Sprech-)Situation, in welchem Modus die Anrede oder der Ausruf steht. „Das Problem des verletzenden Sprechens wirft die Frage auf, welche Wörter verwunden und welche Repräsentationen kränken […]. Allerdings ist die sprachliche Verletzung offenbar nicht nur ein Effekt der Wörter, mit denen jemand angesprochen wird, sondern ist der Modus der Anrede selbst.“668

Im Bedeutungsraum von Polaks Show ist das Wort ‚Jude‘ Bestandteil der KunstPerformance und darüber hinaus auch schon ausgesprochen, ehe sich das Publikum darüber Gedanken machen kann und ihm bewusst wird, was es eigentlich gerade ‚Verbotenes‘ tut. Von einigen Kritikern wurde Oliver Polak geradezu euphorisch als Geburt des ‚neuen, jungen Juden‘ mit frischem, jüdischem Witz gefeiert. Polak selbst gibt an, sich dazu „keine Gedanken zu machen“ bzw. diese Bezeichnungen für „totalen Schwachsinn“ zu halten669 , auch wenn er in seinem Buch durchaus selbst mit dem natürlichen Besitz des „jüdischen Humors“ kokettiert:

667 Siehe: http://www.jm-hohenems.at/. Außerdem hat das Museum unter http://www. Wassieschonimmerueberjudenwissenwollten.at/ einen Blog eingerichtet, auf dem Interessierte „alle Fragen zu Juden stellen (können), die sie sich sonst möglicherweise nicht zu fragen wagen“. 668 J. Butler: Haß spricht, S. 10. 669 Oliver Polak, in: Sterngast, Tal: „Ressentiments sind zum Zerstören da. Gespräch mit Oliver Polak“, in: Die Tageszeitung online, 23.03.2012. Siehe: http://www.taz.de/ Oliver-Polak-ueber-Rassismus-auf-der-Buehne/!90148/ vom 24.03.2012.

224 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST „Wir haben den ‚jüdischen Humor‘. Der ist ein bißchen wie der englische Humor, nur weniger böse, dafür aber bitterer. In einem guten jüdischen Witz stecken eine Prise Selbstkritik, eine Spur Antisemitismus (wir dürfen das, wir sind Juden!), ein Batzen Ironie, eine Schaufel Selbstmitleid und ein Hauch Wahrheit.“670

In seinem Bühnenprogramm liefert Polak stets einen solchen Witz hinterher, über den das Publikum aber nur unterdrückt lachen kann. Trotz Adaptionen dieses künstlerischen Mittels des jüdischen Witzes,671 ist sein Grundhumor wohl vielmehr eine karikierte Überzeichnung desselben, den er bewusst als spitzen Stachel in seinem metaphorischen „Kampf ums Dasein“672 einsetzt. Polaks Kampf ums Dasein ist dabei jedoch nicht das Weiterleben mit der ‚Last des Überlebens‘, sondern ein Kampf gegen wohlwollende Vereinnahmungen als ‚jüdischer Witzbold‘. Die in seinem Humor stets präsente Kampfhaltung behält Polak auch dann bei, wenn er das jüdische Trauma des Holocaust und die Schwierigkeit seiner Artikulation anspricht: „Manche Dinge sind so traurig, dass man sie nur mit Humor ertragen kann.“673 An dieser Stelle scheint sich Polak nicht nur an seine sarkastischen ‚WortGenossen‘ wie Maxim Biller oder Henryk M. Broder anzulehnen, sondern tatsächlich auf die literarische Tradition des jüdischen ‚Überlebenden-Humors‘ zu referieren, welcher unter anderem bei Ruth Klüger, deren Autobiographie hier schon genannt wurde, zum Mittel ihres „weiter leben[s]“ wurde. Oliver Polak erzählt die Geschichte seiner Familie, deren Familienmitglieder den Holocaust teilweise nicht überlebt haben, mit den Stilmitteln der Komik und des Humors. In seinem derart abgewandelten Storytelling rekonstruiert er zwar die Familiengeschichte, ihre Traumatik und Emotionalität lässt er jedoch gänzlich außen vor. Vordergründig geht es ihm um die Lebenden, in erster Linie um ihn selbst sowie um seinen Vater und seine Mutter. In Rückblenden erfährt der Zuschauer oder Leser immer wieder bruchstückhaft etwas über die Familie Polak und ihre Holocaust-Erinnerungen, deren traumatische Inhalte jedoch immer sofort mit einer komischen Pointe außer Kraft gesetzt werden. Auf diese Weise stellt Polak z.B. die posttraumatische Neurose, den Hygiene- und Waschzwang des Vaters, der als einziger seiner Familie das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hatte, als lustigen kleinen ‚Spleen‘ dar. Die Ermordung Polaks Großeltern in Buchenwald, über die er als Kind nur spärlich aufgeklärt wurde, findet ebenso lediglich humoristische Randerwähnung: 670 O. Polak: Ich darf das, S. 162. 671 Siehe zur Definition exemplarisch das Standardwerk von: Landmann, Salcia: Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung, Olten: Walter 1988. 672 Fischer, Kuno: Über den Witz. Ein philosophischer Essay, Tübingen: Klöpfer & Meyer 1996, S. 67. 673 Polak, in B. Weddeling: Ich darf das, ich bin Jude.

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„Von Oma und Opa hörte ich immer nur, daß sie in Buchenwald ermordet wurden. […] Ich habe meiner Kindergärtnerin den peinlichsten Moment ihres Lebens beschert, als sie uns die Gewitterweisheit ‚Vor Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen‘ beibrachte und ich ihr erklärte, daß meine Großeltern aber in einem Buchenwald getötet worden seien. Sie stammelte dann mit hochrotem Kopf und erklärte, daß ich natürlich wegen meiner besonderen Situation […] wenn ich wollte […] auch unter Eichen stehen dürfte. […] Es wäre doch fatal gewesen, wenn ich bei einem emsländischen Sommergewitter unter einer Eiche das letzte Opfer des KZ Buchenwald geworden wäre.“674

Welche Haltung soll das Publikum als Reaktion auf eine solche Episode einnehmen? Ist das noch komisch, soll man darüber lachen oder peinlich berührt sein oder sich gar schuldig fühlen? Dies fragte sich auch eine Redakteurin, die Polak 2008 für die Online-Ausgabe des Magazins Focus interviewte und einen Satz zum Anlass nimmt, welchen Polak in Verbindung mit seinen Familienausflügen nach Osnabrück, zu der in der Nähe der Heimatstadt Papenburg gelegenen jüdischen Gemeinde, formuliert. „Als ich zum ersten Mal das Wort ‚Juden-Deportation‘ hörte, dachte ich spontan: ‚Ja, kenne ich!‘“. „Finden Sie das witzig?“ fragt die Redakteurin Britta Weddeling und dies fragt sich zwangsläufig auch das Publikum, welches Zeuge dieses makaberen Gags wird. Auch hier ist eine Parallele zur Inszenierung Dritte Generation erkennbar. Dort wird mit dem Lied „Don’t stopp sending us to Auschwitz“ ein ähnlich sarkastischer Wortwitz für die Beschreibung bzw. Umschreibung der Juden-Deportationen gewählt und entsprechende Konnotationen aufgerufen. Ronen und Polak verwenden beide den sarkastischen Witz als rhetorisches Mittel zur Distanzerzeugung, durch welche es nun gelingt, Traumatisches nicht nur überhaupt, sondern auch ‚witzig‘ zu erzählen. Polak findet seinen Satz im Übrigen „total witzig“ und führt im Gespräch mit der Redakteurin weiter aus: „Sie (dürfen) so einen Witz auch nicht machen“675 – und verweist damit auf das klar positionierte Prinzip der legitimierenden oder tabuisierenden Sprecherpositionen: Je nachdem, welche Seite spricht, handelt es sich entweder um einen „total witzigen“ jüdischen Witz oder um einen antisemitisch verdächtigen ‚Judenwitz‘. Diese oppositionellen Kategorien, die Polak hier selbst verhärtet, sind ihm allerdings in Bezug auf seine eigene Person zuwider. Dort will er nicht permanent Stellung beziehen müssen und zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ befinden. „Macht einer einen unpassenden Kalauer über Juden, Nazis, Israel, dann wollen die Journalisten von ihm [Oliver Polak] wissen, ob das noch o.k. ist oder schon nicht mehr geht, als wäre er eine Art Bundesprüfstelle für judengefährdende Witze.“676 Mit der oben zitierten Antwort an

674 O. Polak: Ich darf das, S. 46. 675 Polak, in B. Weddeling: Ich darf das, ich bin Jude. 676 Drobinski, Matthias: „Kein Witz“, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.03.2012.

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die Adresse der Focus-Redakteurin inszeniert sich Polak jedoch als genau diese Prüfstelle, als die unter anderem auch Maxim Biller immer wieder auftritt. 3.2.1 Inszenierung von Misstönen± Inszenierung von ‚Jüdisch-Pop‘ Das Erheben des moralischen Zeigefingers einerseits, um dabei sogleich andererseits zu behaupten, man stelle keinen Anspruch auf moralische Deutungsmacht, diese Ambivalenz, häufig mit den Worten genau das Gegenteil von dem zu tun, was sie bedeuten, durchzieht die Polakschen Inszenierungen und ist Kennzeichen seiner Performance-Kunst. Einerseits bietet er, wie etwa in der zitierten Eingangspassage, einen unverkrampften Umgang zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ an, höhlt aber durch seine Performances, die Auswahl seiner Worte, die sarkastische Sprache und seine gezielt auf Unbehagen ausgerichteten Gags den Graben zwischen beiden Parteien nur noch tiefer aus. ‚Normalität‘ und ein Umgang auf Augenhöhe werden in Polaks Show gerade nicht angeboten. In seiner Bühnenpräsenz inszeniert er seine jüdische Identität als Abgrenzung zu der deutschen und als ‚Marke‘ jüdischer Popkultur. In der Ko-Präsenz zu den Zuschauern stilisiert Polak sich so als ‚Gegenöffentlichkeit‘ und wird zum „Oppositionellen“677, zum Künstler mit Migrationshintergrund und zur Figur jüdischer Popkultur, die ihm letztlich – hier wieder in Analogie zu Maxim Biller – Identität und Authentizität verleihen soll. Mit seinem Bühnenspiel der identitären Ambivalenz, welches er in Opposition zu seinem deutschen Publikum vorführt, greift er auch wie eingangs erwähnt auf Merkmale deutschtürkischer Popkultur zurück, für die es in der Gegenwartskultur zahlreiche Beispiele gibt.678 Das Provozieren von Misstönen ist durchaus kein spezifisch jüdisches Phänomen, jedoch wirkt es in diesem Kontext besonders nach. Mit seinem gesellschaftssatirischen ‚Szene-Kabarett‘ hält Polak seinem Publikum immer wieder den Spiegel vor, reizt es, fordert es heraus und verstärkt dabei die Interaktion zwischen Künstler und Publikum und damit auch die radikal Wirkung seiner Aufführung. „Der Kabarettist führt dem einheimischen Publikum an sich selbst dessen Identität vor wie auch dessen rassistische und ausgrenzende Prämissen und das ist schwer zu ertragen.“679 Die Vorwürfe, die Polak dem deutschen 677 Terkessidis, Mark: „Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren“, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler 2000, S. 294-302, Hier S. 299. 678 Neben den Bühnenstücken des Stand-up-Comedian Serdar Somuncus kann zum Beispiel auch Feridun Zaimoglus Textsammlung Kanak Sprak - 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995), welche 1999 auch als Bühnenstück durch Deutschland tourte, als Pop-Inszenierung der deutsch-türkischen Community und als Vergleichsfolie herangezogen werden: vgl. Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Hamburg: Rotbuch 1995. 679 M. Terkessidis: Kabarett und Satire, S. 299.

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Publikum macht, bestehen wesentlich im Hinblick auf die altbekannten Ressentiments und Pauschal-Verurteilungen, wie z.B. dem Vorhalten des Fehlverhaltens der deutschen Mehrheitsgesellschaft während der NS-Herrschaft. Immer wieder flicht Polak die Sequenz ‚Juden in papenburgischen Kellern‘ in seine Erzählung ein. So häufig wie ihm angeblich in seinem Leben von Papenburgern erzählt wurde, man habe während der NS-Zeit Juden, vorzugsweise Polaks Vater, im eigenen Keller versteckt, „müsste ganz Papenburg unterkellert sein“ – konstatiert Polak und entblößt damit die selbstschützenden Lügen bzw. Umdeutungen der deutschen Bevölkerung. Polak spricht jedoch nicht ausschließlich die Unbeholfenheit, die Klischees und Ausflüchte der deutschen Gesellschaft an. In einem ähnlichen, aber noch einmal radikaleren Tenor als Maxim Biller kritisiert Polak auch die ‚Berufsjuden‘ oder „offizielle TV-Juden“680 , jene, die entweder keine Juden sind, sich aber für jüdischer als alle anderen Juden halten – Polak nennt als Beispiel Lea Rosh – oder jene Juden, die ihr Jüdischsein als moralisches Aushängeschild und Mitleidspose vor sich her tragen, wie z.B. die Mitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland, welche Polak u.a. ‚Miesepeter‘ nennt. Den Slogan „Jude sein ist in!“681 beobachtet er demnach entweder als leere Pose oder als ebenso sinnentleertes ‚Modeobjekt‘ zur Erzeugung einer (Pseudo-)Aufmerksamkeit. „Wie zum Beispiel Amelie Fried, die ein Buch über die Geschichte ihrer Familie und ihres jüdischen Großvaters geschrieben hat. Das darf sie dann bei Johannes B. Kerner vorstellen, der engagiertes Interesse heuchelt, während er wahrscheinlich denkt: ‚Hab lange keine mehr rausgeschmissen. Sobald sie ‚Autobahn‘ sagt, fliegt sie!‘ Was ihm sein Redaktionsleiter schon vorher dringend ans Herz gelegt hat, weil seine Sendung schon seit Wochen keine fette Schlagzeile mehr in der Bild hatte.“682

Polak übt an dieser Stelle auch eine kleine Medienschelte und Kritik an der medialen Überzeichnung der Political Correctness in Deutschland. Polak verweist mit dem Seitenhieb auf den 2007 medial inszenierten ‚Herman-Skandal‘ auf die häufig durch Nichtigkeiten ausgelöste, zu wesentlichen Teilen durch die Medien kalkulierte und auf skandalöse Aufmerksamkeit zielende Diskussion um Political Correctness. Die überreizte Inszenierung des Skandals geht über das eigentliche Skandalon weit hinaus und verläuft sich in medialer Redundanz und Nonsens, womit jedoch auch Polak selbst in den skandalisierten Verbalattacken seiner Performances spielt. Durch die Verzerrungen vermeintlich skandalöser Themenfelder ins teilweise bitterböse Sarkastische provoziert er zwar einen Lacher, aber zunächst keine 680 Polak, in B. Weddeling: Ich darf das, ich bin Jude. 681 O. Polak: Ich darf das, S. 56. 682 O. Polak: Ich darf das, S. 56.

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zielführende Debatte. Polaks travestieartige Karikieren seiner eigenen jüdischen Künstlerpose in Kombination mit der Überzeichnung der Vergangenheitsdiskurse führt in ein semiotisch-ironisierendes Spiel, welches jedoch Gefahr läuft, wenn die Anschlusskommunikation ausbleibt, am Ende bloß sinnentleere Künstlerpose oder reine Provokation zu bleiben. Wie Polak in einem jüngeren Interview mitteilt, möchte er die Ressentiments, die er in seinen Performances ja durchaus selbst bedient, eigentlich widerlegen: „Ressentiments sind dazu da, um sie zu zerstören.“683 Bei Polak meint das „Zerstören“ zunächst einmal das Kennzeichnen dieser Ressentiments. Dies gelingt ihm künstlerisch in einem zweistufigen Vorgehen, welches ähnlich auch die Schauspieler auf Yael Ronens Bühne vollziehen. Als erstes wirft Polak dem Publikum die Ressentiments weitgehend ungefiltert an den Kopf, bevor er sie in einem zweiten Schritt durch satirische Überzeichnung vorführt und ihre ‚Überspanntheit‘ parodiert. Danach stellt er sie für mögliche Kompromisse oder Neuverhandlungen zur Verfügung, deren weitere Verantwortung er jedoch nicht annimmt. Polaks Bühnenprogramm kommt ohne große Kulisse oder requisitatorische Ausstattung aus. Als einzige Requisite, die jedoch nicht nur schmückendes Beiwerk ist, sondern zugleich inszenatorische Bedeutung hat, befindet sich im Hintergrund Polaks Bühne eine Deutscher-Schäferhund-Pappfigur – Polak nennt sie bezeichnender Weise „Blondie“ – mit SS-Offiziersmütze und einem Davidstern um den Hals. Diese Requisite gehört ebenso auch zu Polaks Inszenierung als ‚jüdischer Hip-Hop-Bösewicht‘, der dem Hund, anstelle leicht bekleideter Tänzerinnen, als seine ‚Hintergrundassistentin‘ nicht die protzigen Goldketten, sondern den Davidstern um den Hals hängt.684 Bei aller spitzen Ironie und z.T. nachlässigen Naivität, die Polaks Auftritte, Interviews und Texte charakterisiert, ist es mitunter schwierig, die Trennschärfe zwischen ironischer Floskel und ernsthafter Gesellschaftskritik aufrecht zu erhalten, zumal Polak selbst immer wieder betont, Kunst und keine Politik machen zu wollen, was sich jedoch angesichts des Themas oftmals nicht leicht trennen lässt. Polak verschreibt sich ganz dem Pop-Charakter der „Selbstverkunstung“685 und inszeniert sich als Kunstfigur, sowohl auf der Bühne als auch Abseits davon. Die ironisierende Inszenierungstaktik des ‚So-tun-als-ob‘ macht sich Polak zum Aufführungsgebot seiner Selfperformance und zur künstlerischen Pose. Schon der Titel Ich darf das, ich bin Jude zeigt seine in Anspruch genommene ‚Narrenfreiheit‘. Der gespielte Narr, der er eigentlich nicht sein will, den er aber dennoch immer wieder abgibt, genügt Polak gleichermaßen als Versteck und als Ausdruck seiner Kunst. „Viel-

683 Polak, in T. Sterngast: Ressentiments sind zum Zerstören da. 684 Vgl. auch C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 67. 685 Siehe: O. Gabienski/T. Huber/J.-N. Thon: Auslotung der Oberfläche, S. 9.

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leicht darf ich gar nicht, sondern tu nur so.“686 Ein wenig erscheint die Künstlerfigur Polak wie dieses „glitschige grüne Gelkissen“ der Political Correctness, welches in der Einleitung dieser Arbeit als Metapher zitiert wurde: er ist nicht zu fassen. Mit dem So-tun-als-ob schreibt sich Polak zudem in ein Authentizitätsmodell ein, welches z.B. auch in Videoclips – hier wäre erneut eine Analogie zu Polaks Hip-HopAttitüden auszumachen – zum Einsatz kommt und wonach Authentizität nur noch in einer inszenierten Haltung, „als ob etwas echt und natürlich wäre“ zum Ausdruck kommt.687 Dieses Modell von inszenierter Authentizität wird auch in den folgenden Analysebeispielen noch einmal auf den Plan treten. 3.2.2 Was wollen Sie? Den finalen Tabubruch? Eine Ästhetik des Performativen zielt auf die Kunst der Grenzüberschreitung.688 Während sich in der performativen Ästhetik Yael Ronens Dritte Generation die Vorführung noch an einer Schwelle positionieren lässt, ist bei Polak die Grenzüberschreitung im Programm bereits vollzogen. Mit der Überschreitung nicht nur sprachlicher, im Sinne einer semantischen Tabulosigkeit, sondern auch bewusst der Schranken der politischen Korrektheit vermischt Polak Bedeutungsvolles mit Trivialem. Die Grenzen der Memorial Correctness tangiert er unterdessen, indem er zusätzlich Traumatisches mit humorvoll Unterhaltendem zusammen bringt wie etwa in der Buchenwald-Episode. Durch beide Vorgehensweisen bricht er zwar nicht originäre Tabus, er schafft es aber, seinem deutschen Publikum das eigene ‚Würgen‘ an diesen Tabus vor Augen zu führen und ihm sogleich eine temporäre Auflösung und anschließende Verstärkung dieser abzuringen wie bei dem ‚Judenspiel‘. Polak bietet die vermeintlichen Manifeste des guten historischen Geschmacks nicht nur selbst dar bzw. imitiert sie, sondern verlangt seinem Publikum das, was man ‚als Deutscher‘ eigentlich nicht sagen oder denken darf, als Performance ab, indem er die Zuschauerperformance in sein parodistisches Spiel mit einbezieht. So zeigt Polak nicht nur, was im Vergangenheitsdiskurs frei nach Maxim Biller ‚faul‘ ist, sondern lässt sein Publikum dieses Faule gleichsam selbst probieren und am eigenen Körper nachempfinden. Polak karikiert das übertriebene und vor allem aus ‚falschen Motiven‘ resultierende Festhalten an Sprach- und Erinnerungsdiskursen sowie an Vorstellungen von Hochkultur und elitärem Kunstverständnis, welche zur Zensur und Sprachlosigkeit, nicht aber zur ‚Unbeschwertheit‘ führen, die Deutschland eigentlich so gerne beweisen möchte. Dabei betont er zugleich, dass er selbst es nicht auf Provokationen 686 Polak, in B. Weddeling: Ich darf das, ich bin Jude. 687 Vgl. Düllo, Thomas: „Geile Geräusche, coole Körpermaschinen – Videoclips und Gesamtkunstwerk“, in: Balme, Christopher/Schläder, Jürgen (Hg.): Inszenierungen. Theorie – Ästhetik – Medialität, Stuttgart: J.B. Metzler 2002, S. 17-35, hier S. 32. 688 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 356.

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absehe, sondern lediglich Episoden aus seinem jüdischen Leben erzähle und sich die Provokationen einzig aus den Reaktionen der Zuschauer heraus entwickeln. Dazu nimmt er sehr wohl auch den seine Autonomie als jüdischer Künstler schützenden und begrenzenden Rahmen der Political- und Memorial Correctness wahr, auf den er in Deutschland immer wieder stößt. Es ist auffällig, dass sich die Kritik an Polaks Radikal Performances in einem sehr überschaubaren Rahmen hält. Das Buch Ich darf das, ich bin Jude ist seit seinem Erscheinen in einigen deutschen Bundesländern gar als Lektüre im Deutschunterricht zum Einsatz gekommen und in wiederholter Auflage erschienen. Dies bedeutet zumindest an der Oberfläche, dass Polaks Kunst eine gewisse didaktische und kanonische Substanz auch von jenen, unterstellt konservativen, Hütern der historischen Korrektheit zugesprochen wird. Dennoch ist Polaks Witz eher derb und auch in seiner literarischen Form bleibt es, dies muss kritisch festgehalten werden, allzu häufig beim Bedienen bekannter Provokationsmechanismen. „Es geht ja nicht darum, dass ich schräge Töne spiele, um sie zu belästigen, sondern ich spiele die Töne, weil mir die anderen Töne nicht mehr gefallen, so wie ich nicht Dinge sage, um sie zu provozieren, sondern ich sage Dinge auf eine Art und Weise, wie es mir am besten gefällt. Dass sie das provoziert, hat etwas mit ihrer Hörgewohnheit, mit ihrer Sehgewohnheit und Denkgewohnheit zu tun.“689

Während Oliver Polak in seinen Programmen auf seiner künstlerischen Authentizität und seinem sozusagen ‚jüdischen (Marken-)Recht‘ beharrt und damit immer auch unüberwindbar die Distanz zum Publikum, zu ‚den Anderen‘, aufrecht erhält, betont Serdar Somuncu etwa, dass er sein Programm auch deshalb auf die Bühne und vor Publikum bringt, damit ein Dialog entstehen kann, der dem normalen Umgang miteinander, der Akzeptanz und letztlich auch der Integration von Minderheiten durch die Reduzierung von Vorurteilen, Rassismus und Antisemitismus zugutekommen kann: „Dabei habe ich gemerkt, wie wichtig das Sprechen ist. Der Dialog, der dabei zu Stande kam, ist in den meisten Fällen effektiv gewesen. Der Nazi, der in meine Lesung kommt, ist ja schon auf halbem Wege, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen.“690

Ist diese Stellungnahme, die den notwendigen Anschlussdialog fordert, auch als Appell zu einer neuen Sprache, einer speech – hier einer von ‚jüdischer‘ und ‚deutscher Sprache‘ gefärbten – im wichtigen Sprechen über den Holocaust zu verstehen, wie sie auch Yael Ronen mit ihrem Stück Dritte Generation eingefordert hat? Um 689 S. Somuncu: Es geht mir nicht um Provokation, S. 49. 690 Somuncu, in T. Lindemann/C. Schuhmacher: Wir kriegen auf die Fresse.

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Distanz zu gewinnen und aus dieser heraus eine freiere Sprache, ein ‚leichteres‘ Sprechen über den Holocaust zu ermöglichen, sind Performances, Erinnerungsperformances oder auch Anti-Erinnerungsperformances offensichtlich besonders geeignet. „Wir sind cool, weil es uns noch gibt. Das ist zwar nicht witzig, aber wahr.“691 Für die jüngeren Leser bzw. für solche Nicht-Leser, die in eine von Polaks Shows ‚gelockt‘ werden – vielleicht sogar über das Attribut seiner ‚anderen‘ Vergangenheit, nämlich der als Viva-Moderator – kann so in der Tat eine neue Facette jüdischer Kultur und jüdischen Lebens entgegen des „langweiligen Image[s]“692 vermittelt werden. Als sozusagen ‚verbesserter Prototyp‘ des „lebenden Mahnmals“, als welches er seinen Vater bezeichnet, nimmt sich Polak seiner „unfreiwillige[n] Funktion als Gedächtnisträger“693 an und inszeniert sich, jedoch um popkulturelle Attribute der Jugendkultur und -Sprache wie der Hip-Hop-Attitüde erweitert, als „Mahnmal next Generation“694 Ist Polak damit – um in diesem Bild zu bleiben – ein Mahnmal, welches gerade für die Jugend zur ‚Anlaufstelle‘ werden kann, zu einem ‚Ort‘, an den man gerne geht? Polak selbst weigert sich indes in seinen Interviews beharrlich, einen solchen übergeordneten Sinn im deutsch-jüdischen Verständigungs-Kontext zu erfüllen und vollzieht mit der schonungslosen Direktheit und Provokation seiner Performances wie auch mit den oben erwähnten, z.T. verstörenden Interviews stets auch einen Akt der bewussten Distanzierung. „Wenn man mir sagt, ‚Sie sind ein Kopf der neuen jüdischen Generation‘, sage ich Nein. Ich mache das, was ich mache, und ich bin kein Sprecher des neuen Judentums oder für irgendwelche jüdischen Jugendlichen, daran habe ich gar kein Interesse. Mein Ziel ist nicht nichtjüdische und jüdische Menschen zusammenzuführen.“695

Dies ist demselben Oliver Polak, der im gleichen Interview davon spricht, „Ressentiments zerstören zu wollen“, nicht ganz abnehmen. Möglicherweise belässt man Polak aber am besten in seiner nicht greifbaren, ‚glitschigen‘ Künstler-Identität oder findet einen gänzlich positiven Aus- und Übergang wie Caspar Battegay: „Die Vieldeutigkeit dieses Schlusses und die angedeutete Offenheit der Identität besitzen die Leichtigkeit im Umgang mit jüdischer Identität, die in Deutschland bis dahin nicht erreicht wurde. Die Rolle, die Oliver Polak auf der Bühne […] verkörpert, stellt bei aller Naivität eine

691 O. Polak: Ich darf das, S. 161. 692 Ebd., S. 25. 693 C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 132. 694 O. Polak: Ich darf das, S. 31. 695 Polak, in T. Sterngast: Ressentiments sind zum Zerstören da.

232 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST Figur des Jüdischen dar, für die Identität nichts Festgelegtes und Eindeutiges hat, sondern einen Grenzbereich darstellt, der Spielwiese und Mahnmal verbindet.“696

696 C. Battegay: Judentum und Popkultur, S. 133.

IV Work in Progress Teil 3: Neue Medien

1. ‚T HINGS MIGHT CHANGE ‘ – M EDIEN - UND K OMMUNIKATIONSWANDEL DER G EGENWART In Kapitel I wurde dargelegt, wie sich die soziale, politische und gesellschaftliche Gegenwart unter den Einflüssen von Globalisierung, Kommerzialisierung und Individualisierung und unter dem Stichwort der Erlebnisgesellschaft in den letzten Jahren verändert hat. Es klang dort außerdem bereits an, dass sich gegenwärtig und insbesondere für die junge Generation als Mediengeneration und ‚Kommunikations- und Diskursgemeinschaft‘ die Parameter im Hinblick auf ihre sozialen Interaktionsprozesse enorm verändern. In den vorangegangenen exemplarischen Analysen konnten zudem literarische und performative Beispiele für den sich gegenwärtig vollziehenden kulturellen Transformationsprozess angeführt werden und unter dem Aspekt neuer Verhandlungen über die Bedeutung von Holocaust und NS-Zeit in der Gegenwart Auskunft geben. Die gesellschaftlichen und kulturellen Umgestaltungen der Gegenwart sind auch in diesem Abschnitt über den medien- und kulturwissenschaftlichen Kontext noch einmal Thema, wobei hierbei vor allem der Medien- und Kommunikationswandel in den Blick gerät, der sich durch die Etablierung neuer Medien697 und unter dem Stichwort der „Mediatisierung der Alltagswelt“ als einer der „Metaprozesse der Prägung der Moderne“ herauskristallisiert hat.698

697 Die hier zu besprechenden Medientypen schließen sämtliche Formate und Handhabungen im Internet, also auch auf interaktive Kommunikation, Chats, soziale Netzwerke, Computerspiele, Blogs, Twitter etc. ein und werden unter den Überbegriff der „Neuen Medien“ gefasst, auch wenn dieser ursprünglich nur die Websites im Internet bezeichnet. 698 Das Konzept der Mediatisierung wurde insbesondere von dem Sozial- und Kommunikationswissenschaftler Friedrich Krotz etabliert. Vgl. dazu u.a.: Krotz, Friedrich: Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation, Wiesbaden: VS 2007; Krotz, Friedrich: Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien, Opladen: Westdeut-

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Im Zuge des objektiv beobachtbaren technologischen Fortschritts, zu dem die Entwicklung völlig neuer Medien und Medienkompetenzen gehört, hat sich der subjektive Eindruck einer nahezu völlig durch die Medien gesteuerten Alltagswelt manifestiert, der wiederum besonders im Wandel der sozialen Interaktion durch immer neue Kommunikationsmedien des WWW relevant ist.699 Eine daraus resultierende ‚Neugestaltung‘ der Kommunikation durch das Web 2.0 ist nach Aleida Assmann derzeit unter anderem an drei wesentlichen Faktoren kenntlich zu machen: an der medialen Programmierung der Kommunikation, der Universalisierung des Freundschaftsprinzips und an den Grenzverschiebungen zwischen Geselligkeit und Einsamkeit.700 Durch die Möglichkeiten der neuen Kommunikationsmedien wie EMail, Chat, Twitter oder Weblogs werden Hoffnungen und Erwartungen geweckt, immer und überall, über nationale, kulturelle und sprachliche Grenzen hinaus mit jedem vernetzt zu sein, über alles kommunizieren und sich informieren zu können. Diese grenzüberschreitenden Kommunikationsbeziehungen gehen in ein „globale[s] Kommunikationsnetzwerk“701 ein und sind damit prägnantes Merkmal unserer globalisierten Gegenwart. Als Zeichen des sozialen Wandels der Kommunikation, welcher sich vor allem bei den Digital Natives nachweisen lässt, verweist zugleich deren Mediennutzung auch auf die Ausgestaltung realer sozialer Bindungen: „Künftige Generationen erleben die Organisation ihrer Freundschaften und sozialen Netzwerke […] wie ein Fernsehprogramm, durch das man sich mit einer Fernbedienung bequem durchzappt.“702

Es ist eine Omnipräsenz des Internets, der sozialen Netzwerke und der interaktiven Kommunikationskultur im gesamten öffentlichen Sektor zu attestieren. Sei es der Online-Wahlkampf Barack Obamas im Jahr 2008, sei es die „Nordafrikanische Revolution“ im Jahr 2011, die auch von renommierten Medienanstalten als „Face-

scher Verlag 2001. Als „Prägung der Moderne“ betrachten in Anlehnung an Krotz u.a. Sonia Livingstone und Knut Lundby die Medialisierung: Vgl.: Lundby, Knut: „Introduction. ‚Mediatization‘ as Key“, in: Lundby, Knut (Hg.): Mediatization: Concept, Changes, Consequences, New York: Peter Lang 2009, S. 1-21. 699 Siehe dazu u.a. die Beiträge in: Bianchini-Hartmann, Maren/Hepp, Andreas (Hg.): Die Mediatisierung der Alltagswelt, Wiesbaden: VS 2010 sowie F. Krotz: Medialisierung. 700 Assmann, Aleida: „Hier bin ich, wo bist du? Einsamkeit im Kommunikationszeitalter“, in: Mittelweg 36, Februar/März (2011), S. 4-23, hier S. 5 ff. 701 Hepp, Andreas: „Globalisierung der Medien und transkulturelle Kommunikation“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 39 (2008), S. 9-17, hier S. 9. 702 Schirrmacher, Frank: „Apples Macht. Die Politik des iPad“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 31.01.2010.

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book- oder Twitter-Revolution“ betitelt wurde703 , – Beispiele für eine offenbar immer höhere Nachfrage nach digitaler und interaktiver Information und Kommunikation gibt es gegenwärtig wahrlich zahlreiche. Dabei sind trotz des unumstrittenen Zugewinns, welchen diese Medien ermöglichen auch schon ‚Negativ-Trends‘ ausfindig zu machen, welche insbesondere die moralische Zweischneidigkeit und den persönlichkeitsrechtlichen Missbrauchsverdacht aufnehmen. Neben der Revolution auf dem Gebiet der Nachrichten- und Informationsdienste avancieren die neuen Medien spätestens seit der Entdeckung der sozialen Netzwerke auch im privaten Lebensbereich zum Must-have bzw. um auf die räumliche Metaphorik zu verweisen, zum Place to be. Auch im Privaten scheint ein hoher Bedarf an zeit- und grenzenloser Medienpräsenz und Kommunikation zu bestehen, dessen besonderes Merkmal erneut die Entgrenzung ist. In unserem Medienalltag spielen dabei unterschiedliche Faktoren der Entgrenzung eine Rolle. So erkennen wir die zeitliche Entgrenzung der Medien- und Kommunikationskultur eindringlich an der raschen Abfolge neuer, temporär ‚angesagter‘ Medienangebote, die räumliche Entgrenzung in der Vernetzung über die sozialen Netzwerke wie Facebook und dadurch folglich nicht zuletzt die soziale Entgrenzung in dem Bedeutungsgewinn dieser virtuellen Kontakte für die Entstehung neuer Gemeinschaften.704 Dabei ist es nicht nur die Nachfrage, sondern letztlich auch das Angebot, welches durch immer neue Möglichkeiten des sozialen Kontaktes und der Kommunikation die zeitliche, räumliche und soziale Entgrenzung befördert. Heute entsteht derart in den westlichen Gesellschaften eine Kommunikationskultur, die immer weniger eine analoge Face-to-Face Kommunikation verfolgt, sondern zunehmend wie ein mehrdimensionales Netz weite Räume und Entfernungen überspannt und in Stichworten wie ‚Konnektivität‘ und ‚Vernetzung‘ sowie ‚Rhizom‘- und ‚Vielheit-Machen‘ ihre metaphorische Entsprechung erfährt. Die – um in diesem Bild zu bleiben – dergestalt entstehenden globalen Netzwerke werden zu einem Hauptmerkmal gesellschaftlicher Hybridisierung, von der unter dem Begriff des Bindestrichs bereits die Rede war. In keinem anderen Medium unserer Zeit zirkulieren die Zeichen und Codes derart rasant wie im Internet, nirgendwo sonst erfährt der Begriff der Hybridität einen derart starken symbolischen Niederschlag wie in diesem virtuellen Raum. Im Internet, welches so quasi die Umgebung unserer Gegenwart und zugleich den Kommunikations- und Handlungsraum für Interaktionen darstellt, findet also die Vorstellung vom entgrenzten Raum ihre sinnbildliche Entsprechung. Von diesem Raummodell ausgehend soll das Internet nicht nur als Kommunikationsraum, sondern auch als ein tatsächlicher Aktions- und Lebensraum, der erst die 703 U.a. verwendeten in diesem Zusammenhang die Internetportale der Magazine Stern und Spiegel diese Begriffe. 704 Vgl. A. Hepp/M. Höhn/W. Vogelgesang: Perspektiven einer Theorie populärer Events, S. 17.

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faktischen Möglichkeiten von entgrenzter sozialer Kommunikation und Handlung eröffnet, betrachtet werden. In diesem entgrenzten Raum, so die hier zu vertretende These, werden schließlich auch historische Themen wie der Holocaust und der Nationalsozialismus global verhandelbar und mit in den medialen und kulturellen Transformationsprozess unserer Gegenwart aufgenommen. Auch dafür steht letztlich die Prognose, dass „die nationale Katastrophe des Holocaust […] aus ihrem historischen Kontext gelöst und unter globalen Voraussetzungen neu formuliert [wird]“705. Erinnerungskulturelle Themen gelangen zwar nicht erst durch das Internet in den globalen Diskurs; durch die neuen Medien und ihre Kommunikationsformen weitet sich aber der Radius, die Distribution und möglicherweise auch ihre Aufmerksamkeit erheblich aus. Mit Blick auf die Expansion des Kommunikationsund Handlungsspielraumes ließe sich an dieser Stelle sogar die These formulieren, dass mit dem entgrenzten Raum des Internets nicht nur der im Denkmodell der Zweiten Moderne verhafteten erweiterten Raumvorstellung von Nation und nationalem Containern stattgegeben wird, sondern der virtuelle Raum mit seinen Eigenschaften der Vernetzung und des Flusses möglicherweise als neue Beschreibungsmetapher an die Stelle des nationalen Containers treten kann. In dieser Denkfigur ließen sich auch die bisher stark national geprägten Vergangenheitsnarrative aus dem Gedächtnisparadigma und ihren nationalen Kontexten in das globale Netzwerk transportieren und dort neue Verbindungen eingehen.

2. E RINNERUNGSKULTUREN

IM

W EB 2.0

Unter dem mittlerweile allgemein gebräuchlichen Begriff der „Erinnerungskultur 2.0“706 wird nun ein Wirkungsbereich der neuen Medien und zugleich ein weiterer Aspekt medialer Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus herausgearbeitet. Kennzeichen von Erinnerungshandlungen im Web sind zunächst im Wesentlichen solche, die auch schon in den literarischen und performativen Beispielen zuvor gezeigt wurden und die sich besonders in der Pluralität und dem Nebeneinander der Deutungen sowie den verschiedenen, sich berührenden und überlagernden Narrationen von Vergangenheit auf der Folie der im Vordergrund stehenden Gegenwart ausmachen lassen. Die Formen virtueller Geschichtsverhandlungen im Internet exemplifizieren überdies als Hypertexte auch semantische Überkreuzungen und syntaktische Vernetzungen im Sinne von Crossover-Beziehungen und Touching Tales. Im Verhandlungsraum des Internets bilden sich so verschiede-

705 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter (2001), S. 237. 706 Den Begriff prägte u.a. Erik Meyer. Siehe vor allem E. Meyer: Erinnerungskultur 2.0. Außerdem: D. Hein: Erinnerungskulturen online.

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ne, hybride, sich berührende und sich abstoßende Geschichte(n), Kleinst- und Subgedächtnisse und -Identitäten und folglich auch neue Erinnerungsgemeinschaften, die wiederum ihre Entsprechung in der beobachtbaren Erinnerungssituation der jungen Generation und globalisierten Erinnerungskulturen finden. Trotz möglicherweise berechtigter Skepsis gegenüber den neuen Medienformaten und ihrer zunehmenden Übernahme erinnerungskultureller Arbeit, auf die insbesondere unter dem Aspekt der Memorial Correctness noch einzugehen ist, wird die Erinnerungskultur im Web 2.0 für die Zukunft des globalen Erinnerungshandelns wegweisend sein und sich mit ihr ggf. gar jener Paradigmenwechsel ausweisen lassen, der unter den Transformationsaspekten in Aussicht steht. Nicht nur die Entwicklung der neuen Medien und speziell solcher, welche die Vermittlung von Geschichtsnarrativen aufnehmen, erfolgt unaufhaltbar rasant, besonders auch die Tatsache, dass diese Ausdehnung durch und von den Nutzern selbst generiert und befördert wird, lässt einen nicht unerheblichen Wandel in den Erinnerungskulturen erwarten.707 Der zunehmende Einfluss der neuen Medien in unserem Alltag lässt sich nicht nur an den Reichweiten und Distributionsstärken sowie dem Einfluss auf die Bereiche Öffentlichkeit und Privates messen, sondern auch daran, dass diese Medien immer mehr in Bereiche vordringen, die wir noch vor wenigen Jahren als ‚immun‘ gegenüber verjüngender, multimedialer ‚Special-Effects‘ geglaubt haben und von denen auch heute viele der Meinung sind, sie ließen sich mit dem gemeinhin unterstellten ‚Populärtribut‘ der neuen Medien nicht verbinden. Seit einiger Zeit hat sich nun aber unabhängig dieses Diskurses ganz offensichtlich die Tendenz bewiesen, dass auch das Thema Holocaust in einer Kultur der Aufmerksamkeit zum Gegenstands- und Zuständigkeitsbereich der neuen Medien gezählt werden muss. In der jüngsten Gegenwart schießen fast täglich neue interaktive, multimediale Formate der Erinnerungskultur im Web 2.0 aus dem Boden hervor. Von digitalen Videozeugnissen Holocaust-Überlebender, geschichtsdidaktischen E-Learning-Programmen, virtuellen Rundgängen durch Museen und Gedenkstätten, dem EichmannProzess als YouTube-Video, der Real-Time-Chronik des Zweiten Weltkrieges auf Twitter und Holocaust-Blogs bis hin zu virtuellen Freundschaften mit HolocaustOpfern auf Facebook oder dem YouTube-Video Dancing Auschwitz spannt sich der Bogen der schier unbegrenzten Möglichkeiten der multimedialen Erinnerungsangebote, die sich grundlegend, dabei zugegeben schematisch, in didaktische und künst-

707 Siehe Beißwenger, Achim: „Audiovisuelle Kommunikation in der globalen Netzwerkgesellschaft“, in: Beißwenger, Achim (Hg.): YouTube und seine Kinder. Wie OnlineVideo, Web TV und Social Media die Kommunikation von Marken, Medien und Menschen revolutionieren, Baden-Baden: Nomos/Edition Reinhard Fischer 2010, S. 13-37, hier S. 33.

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lerische Formate unterscheiden lassen.708 In der mediatisierten Gegenwart der Erlebnisgesellschaft werden auch die vermeintlich ‚sperrigen‘, sensiblen und moralisch schützenswerten Themen zunehmend in die populäre Vielfalt der neuen Medien aufgenommen. Dabei rücken die Inhalte der Erinnerungskulturen erneut – dies wurde bereits in den Kapiteln ‚Holocaust und Popkultur‘ sowie ‚Performances‘ thematisiert – in die Nähe einer populären Eventkultur. Es darf als ein ‚Moment des Faktischen‘ gelten, dass der unaufhaltsame Fortschritt der Medien- und Kommunikationskultur sowie der begleitende „Strukturwandel der Öffentlichkeit in eine mediale Erlebnisgesellschaft“709 auch immer neue Auseinandersetzungsformen mit der Vergangenheit hervorbringt. Zugleich ist es der Bedeutung und Emotionalität der Thematik geschuldet, dass sich an die innovativen Repräsentationsformen des Holocaust sogleich eine leidenschaftliche Debatte über die Chancen und Risiken dieser anzuschließen vermag.710 Obwohl die Nutzung der neuen Technologien heute alltäglich geworden ist, bleibt der ‚mediale Relaunch‘ des hier tangierten historischen und zumal traumatischen Gegenstands zunächst ein wenig selbstverständlicher Prozess. Auf den ersten Blick erscheinen Medium und Inhaltsebene keineswegs faktisch kompatibel, sondern vielmehr ambivalent und sich abstoßend. Die Annahme, der Holocaust sei in den traditionsreichen Erinnerungsmedien wie der Literatur, dem Film, der Fotografie, dem Museum, grundsätzlich besser aufgehoben als im nur vage und symbolisch erfassbaren Raum des Internets, zeigt sich im etablierten Holocaust-Diskurs beständig. Müssen wir, nur weil es der technologische Fortschritt ermöglicht, auch das Erinnerungshandeln in die virtuelle Welt verlagern und über die neuen Medien neue Wege zur Vergangenheit beschreiten? Wo bleiben die ‚alten‘ Medien, wenn erinnerungskulturelle Inhalte immer mehr über die Bahnen des virtuellen Netzwerkes den zunehmend anonymisierten Adressaten erreichen? Haben wir es bei der Erinnerungskultur 2.0. mit einem unaufhaltbaren Prozess der Modernisierung zu tun, der vor keiner historischen oder moralischen Hürde halt macht oder aber entstehen mit dem WWW auch gerade neue Möglichkeiten, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in 708 Beispiele zu didaktischen Angeboten finden sich etwa in Form des „Lebendiges virtuelles Museum Online“ (LeMO) oder unter Memoro.org. Besonders die Geschichtsdidaktik hat sich die Online-Archivierung von Zeitzeugenaussagen zu Eigen gemacht, wie z.B. die Plattform Lehrer-online zeigt. Siehe: http://www.lehrer-online.de/oral-historyim-internet.php. 709 Vgl. E. Meyer: Erinnerungskultur 2.0, S. 178. 710 Siehe dazu auch: Schmidt, Kirstin: „Erinnerungskultur 2.0 – Narrative Transformationen des Holocaust in den digitalen Medien und auf Facebook“, in: Nünning, Ansgar/Rupp Jan (Hg.): Narrative Genres im Internet: Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen. Handbücher zur Medien- und Kulturwissenschaft, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2012, S. 313-333.

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die Gegenwart ‚hinüber zu retten‘? Neben anderen sollen diese Fragen in den folgenden Kapiteln diskutiert werden. 2.1 Der Holocaust als mediales Massenphänomen Die Zunahme eines ‚Histotainments‘, der Eventisierung historischer und politischer Themen, und die gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer Erlebnisgesellschaft verweisen darauf, dass die Holocaust-Thematisierungen auch zum globalen, populären Massen- und Medienereignis avancieren – dies jedoch nicht erst seit der Evolution neuer Medien. Im weitgehend übereinstimmenden wissenschaftlichen Tenor positioniert sich die im Jahr 1979 erstmalig in Deutschland ausgestrahlte amerikanische TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss als Ausgangspunkt der populären, massenmedialen Repräsentation des Holocaust.711 In der fiktiven, vierteiligen TV-Erzählung der Geschichte der jüdischen Familie Weiss ließ sich erstmals in epischer Breite die Darstellung des Holocaust massenmedial ermöglichen und sogleich Erinnerungsprozesse, die bis dahin eher privater bzw. familiärer Natur waren als kollektiv erfahrbares, mediales Ereignis inszenieren. In der Bundesrepublik wurde die Serie innerhalb einer Woche in den dritten Fernsehprogrammen ausgestrahlt und erzielte hohe Zuschauerquoten. Zugleich erreichte die Ausstrahlung nicht nur eine erhebliche Personenanzahl, sondern auch Zuschauer aus schier allen Altersklassen und sozialen Schichten.712 Als somit auch generationsübergreifendes Ereignis im Familienkreis erhielt Holocaust neben der Bedeutung für das kollektive, nationale Gedächtnis auch im Familiengedächtnis eine besondere Tragweite und Relevanz, die sich unter anderem an einer anschließenden allmählichen kommunikativen Überwindung des Schweigens ablesen lässt.713 Mit ihrer medialen und sozialen Wirkmacht wird die Serie auch heute noch als Meilenstein in

711 Vgl. dazu u.a. die Beiträge in G. Paul/B. Schoßig: Öffentliche Erinnerung und Medialisierung sowie in B. Korte/S. Paletschek: History Goes Pop. Jüngst außerdem: Benz, Wolfgang: „Auschwitz“, in: Den Boer, Pim/Duchhardt, Heinz/Kreis, Georg/Schmale, Wolfgang (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa, München: Oldenbourg 2012, S. 465-479, hier S. 474. 712 Da sich im Jahr 1979 noch nicht in jedem Bundeshaushalt ein TV-Gerät befand, wurde die Serie z.T. in größeren Gemeinschaften bei Nachbarn, Verwandten oder Freunden geschaut und vollzog dadurch auch einen ‚(erinnerungs-)‘gemeinschaftsstiftenden Akt. 713 Interessant wäre es an dieser Stelle, zu eruieren, wie die in Deutschland lebende Migrationsgesellschaft auf die Serie reagierte bzw. wie sie die im Umkreis der Ausstrahlung stattfindende Debatte wahrgenommen hat. Zu dieser Frage nach der Kulturspezifik und den möglicherweise kulturell geprägten Rezeptionsgewohnheiten von ‚HolocaustFilmen‘ liegen bis dato keine aussagekräftigen Untersuchungen vor.

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der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur bezeichnet. Mit Holocaust setzte ein Perspektiv- und Paradigmenwechsel im kulturellen Auseinandersetzungsprozess mit der deutschen Vergangenheit ein, der sich vor allem in dem Übergang von ehemals privaten, individuellen Erinnerungen und ihrer bis dato traumatischen Verschwiegenheit hin zu einer öffentlichen, medienwirksamen Thematisierung ausmachen lässt. Außerdem wurde mit Holocaust erstmalig ein zuvor weitgehend eingehaltenes Bilderverbot auf gravierende Weise unterlaufen, indem sich der Regisseur Marvin J. Chomsky nicht nur Bildern, sondern sogleich bewegten Bildern für die Umsetzung in einem emporstrebenden Massenmedium bediente. Zum ersten Mal wurde mit Holocaust die „für eine breite Öffentlichkeit sichtbar und wirksam werdende Medialisierung des westdeutschen Vergangenheitsverhältnisses“714 illustriert. Die visuelle und ‚massenkompatible‘ Bearbeitung des Stoffes hatte aber nicht nur die Entwicklung von der unmittelbaren, primären Repräsentation hin zu sekundären Darstellungen und Deutungen der Vergangenheit hervorgerufen,715 sondern auch die Frage nach der Legitimität der populären Medienwahl aufgeworfen.716 Ein jüngeres Beispiel zu diesem Diskurs lieferte 1993/1994 Stephen Spielbergs Kinofilm Schindlers Liste, der weltweit zum Kassenschlager wurde und besonders Jugendliche für die Taten des Naziregimes sensibilisierte und mit den artifiziellen, filmischen Mitteln eines Blockbusters eindringliche Bilder vom Holocaust vermittelte. Obwohl die populären Massenmedien heute fester Bestandteil unseres Alltags sind, bleibt ihre ‚Repräsentationserlaubnis‘ in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit und damit die Adaption des Holocaust als „Produkt der Popular Culture“717 ein strittiges Thema. Beide populären Filmproduktionen, die Serie Holocaust und der Kinofilm Schindlers Liste, gelten gemeinhin als ‚geglückte‘ Auseinandersetzungen mit dem Holocaust, auch wenn das damals neue Darstellungsfor-

714 H. Schmid: Von der Vergangenheitsbewältigung zur Erinnerungskultur, S. 175 f. 715 Vgl. dazu exemplarisch u.a.: H.-J. Hahn: Repräsentationen des Holocaust, sowie die Beiträge in: Krankenhagen, Stefan (Hg.): Auschwitz darstellen, Köln: Böhlau 2001. 716 Vgl. u.a. Erll, Astrid/Wodianka, Stephanie: Phänomenologie und Methodologie des ‚Erinnerungsfilms‘. In: Erll, Astrid/Wodianka, Stephanie (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin: De Gruyter 2008, S. 1-21. Außerdem die Beiträge in: Fischer, Thomas (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: UVK 2008. 717 Paul, Gerhard: „Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung. Über Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der Mediengesellschaft“, in: Paul, Gerhard/Schoßig, Bernhard (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen: Wallstein, S. 1539, hier S. 19.

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mat zunächst ungewöhnlich und dem Thema unpassend erschien.718 Heute, filmische Thematisierungen der NS-Zeit und des Holocaust gehören längst zum Kanon des kulturellen Gedächtnisses, erhitzen die Gemüter vor allem die Formate der neuen Medien, welche die ohnehin nicht stillstehende Diskussion über angemessene Darstellungs- und Auseinandersetzungsformen des Holocaust immer wieder neu befeuern. Mit Medienformaten wie dem Videospiel, z.B. Wargame 1942 oder mit Online-Angeboten kultureller Einrichtungen wie dem virtuellen Museum LeMO, dem virtuellen Denkmal Memory Loops oder Repräsentationen auf Facebook und YouTube stehen eine Fülle neuer Onlineformate in den Startlöchern, um die Repräsentation der Geschichte zu übernehmen und insbesondere für ein junges Publikum attraktiv und zugänglich zu machen. „Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte werden Erzählkultur und Geschichtsbewusstsein bald vollständig durch interaktive Medien vermittelt.“719 Viele neue Medienangebote haben dabei ihren Ursprung zweifelsohne in den traditionellen Erinnerungsmedien wie der Literatur, dem Film, der Fotografie, dem Museum oder Denkmal und transformieren deren Eigenschaften als intermediale Versatzstücke, ohne dass diese einer etwaigen ‚Modernisierungswut‘ anheimfallen, in ein neues, populäres Format – ein Luhmanscher Fakt: „characteristic of all media, means that the ‚content‘ of any medium is always another medium. The content of writing is speech, just as the written word is the content of print, and print is the content of the telegraph.“720 Die traditionellen kulturellen Medien werden – so viel sei hier bereits festgehalten – keinesfalls abgelöst oder ersetzt, sondern lediglich dem aktuellen Medienwandel angeschlossen.721 Von geradezu apokalyptischen Vorstellungen, vom Ende der Literatur, der traditionellen Erinnerungsmedien und der kulturellen Öffentlichkeit722 , dem unaufhaltbaren Verlust des Kollektivgedächtnisses, seiner archivierenden kulturellen Medien und schließlich dem „Verschwinden von Realität, Geschichte und Gedächtnis“723 kann also deutlich Abstand genommen werden. Der 718 Zur Resonanz von Holocaust in Deutschland siehe zusammenfassend u.a.: Thiele, Martina: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Münster: LIT 2001, S. 298-339. Außerdem: A. Erll/S. Wodianka: Phänomenologie und Methodologie des Erinnerungsfilms. 719 W. Kansteiner: Alternative Welten, S. 30. 720 McLuhan, Herbert Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man, New York: New American Library 1964, S. 8. 721 Vgl. E. Meyer: Problematische Popularität, S. 271. 722 Siehe u.a. die Beiträge in: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen – Symptome – Simulationsbrüche, München: Boer 1996. 723 Assmann, Aleida: „Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses“, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin: De Gruyter 2004, S. 45-61, hier S. 58. Außerdem

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Medienwandel vollzieht sich zwar in rasanter Geschwindigkeit, dies aber nicht auf Kosten bereits bestehender Medien und Technologien. 724 Niemand wird in absehbarer Zeit seine geschätzte Bibliothek vernichten und aufhören Bücher zu lesen, nur weil wir heute Texte auf der Oberfläche der Tablet-PCs lesen können. Spiegelreflexkameras erfreuen sich herausragender Beliebtheit und das, obwohl es seit Jahren digitale Kameras gibt. Die Umsätze der Buch- und Zeitungsverlage steigen und eine historische Ausstellung wie die über „Hitler und die Deutschen“ im Deutschen Historischen Museum Berlin erfuhr auch im Jahr 2010/2011 einen enormen Besucheransturm.725 Auch in Bezug auf die Nutzung unterschiedlicher Medienangebote leben wir heute mehr denn je nach der Maxime des Sowohl-als-auch und nicht nach dem Entweder-Oder-Prinzip. All dies, die rasanten Entwicklungen in der Medienlandschaft und die Übertragung vergangenheitsrelevanter, auch traumatischer Inhalte auf die dynamischen, unsteten, z.T. unter ‚U-Verdacht‘ stehenden neuen Medien wird der Auseinandersetzung mit dem Holocaust keinen Abbruch tun und schon gar nicht dazu führen, dass wir hierbei in die „Phase der dritten Verdrängung“ eindringen, wie Gerhard Paul lakonisch anmerkt. Paul sieht in der neuerlichen „Medialisierung von NS und Holocaust […] letztlich nichts anderes als die zeitgenössische Form des Beschweigens. Wir befinden uns in der Phase der dritten Verdrängung.“726 Derartiges prognostizierte auch Volkhard Knigge in Bezug auf das Blockbuster-Kino, für welches wiederum Schindlers Liste ein Beispiel wäre, wenn er despektierlich von dort entstehenden „massenkulturellen Gebrauchsanweisungen“727 spricht. Diesen Reden und endzeitlichen Prophezeiungen ist nicht zuzu-

referieren auf diese Szenarien weitere Betrachtungen Aleida Assmanns, z.B.: „Wie lange wird das Gedächtnis noch hausen in unserer Welt der Zerstreuungen? Gegen elektronische Medien […] kann sich kein Gedächtnis behaupten“, in: A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 412. In ihren jüngsten Beiträgen relativiert Assmann einen ‚Alarmismus‘ deutlich, siehe u.a. in: Assmann, Aleida: „Tontafeln halten länger. Ein Interview“ in: Graber, Hedy/Landwehr, Dominik/Sellier, Veronika (Hg.): Kultur digital. Begriffe, Hintergründe, Beispiele, Basel: Christoph Merian 2011, S. 73-87. 724 Vgl. dazu auch das „Rieplsche Gesetz“ der Kommunikationswissenschaften, welches besagt, dass neue Medientechnologien die alten stets nie vollständig verdrängen, sondern ihre Verwendungsweisen verändern. 725 „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“ – Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin vom 15.10.2010-27.02.2011. Die Ausstellung haben laut dpa vom 28.02.2011 über 265.000 Menschen besucht. Damit gilt sie bis dato als eine der erfolgreichsten des Hauses. 726 G. Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung, S. 31. 727 Knigge, Volkhard: „Abschied von der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland“, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.):

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stimmen. Das Internet als Ort der populären Geschichtsdarstellung und -Vermittlung erschafft vielmehr ein vielfältiges Panorama von Zugängen, Deutungsmustern und Darstellungsformen, die auf eine nicht mehr monolithisch gedachte Erinnerungskultur verweisen und damit ganz dem Ansatz entsprechen, neue Versionen und Räume für Vergangenheitsverhandlungen zu öffnen. 2.2 Diversifikationen und Neuverortungen der Medienangebote Durch den umschriebenen Medienwandel ändern sich nicht nur die formalen Eigenschaften und Formate der Medien, sondern auch die Anforderungen an ihre Rezipienten. Die Art und Weise der Mediennutzung, die Einbettung der Medien in den Alltags- und Lebensraum sowie die Verknüpfungen von populärer Medienkultur und sozialer Kommunikation mit Erinnerungsnarrativen und Holocaust-Repräsentationen erfordern und ermöglichen neue kommemorative Erinnerungshandlungen. Angesichts solcher medialer und kultureller Transformationen, die eine schrittweise Umwälzung der alltäglichen Medienpartizipation und der Kommunikation bedingen, drängt sich auch unwillkürlich eine neu perspektivierte Beobachtung von Erinnerungskultur auf. Wenn sich nämlich unser alltägliches Leben und besonders das der jungen Generation mehr und mehr in virtuellen, entgrenzten Lebensräumen abspielt, sich unser Lebens-, Erfahrungs- und Kommunikationsraum zunehmend in den virtuellen Räumen des WWW ansiedelt, können und müssen wir uns auch die Frage stellen, ob der virtuelle Raum nicht auch zu einem Ort von Gemeinschaftbildung, Erinnerungshandlungen und Erinnerungskollektiven und somit zu einem Verhandlungsraum multi-medialer und multi-dimensionaler Erinnerungskultur wird. Die Zusammenhänge von Internet als möglicher neuer, alternativer Gedächtnisort, als Verhandlungsraum von Erinnerungshandlungen sollen im Folgenden zunächst anhand zweier kurzer Bespiele offengelegt werden, ehe sie an den exemplarischen Fallanalysen der Erinnerungskultur auf Facebook und auf YouTube zu präzisieren sind. 2.2.1 Vom Gedächtnisort zum Verhandlungsraum „Erinnerungsorte stehen als Topoi für eine Vielzahl heterogener Erscheinungen, wie z.B. für Ereignisse, Begriffe oder Bücher.“728 Soweit sich dieses sicherlich weitgehend unstrittig auf die traditionellen Speichermedien und Geschichtsvermittler anwenden lässt, bleibt diese Aussage in Bezug auf eine Erinnerungskultur im

Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München: Beck 2002, S. 423-440, hier S. 430. 728 Vgl. E. François/H. Schulze : Deutsche Erinnerungsorte, S. 18.

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Internet noch zu überprüfen.729 Sind diese Topoi wirklich auch auf virtuelle Ereignisse, Geschichten und virtuelle ‚Ges(ch)ichtsbücher‘730 übertragbar? Lassen sich die Eigenschaften des Mediengedächtnisses auch auf das virtuelle adaptieren? Nach der Definition Jan Assmanns ist ein Gedächtnisort in erster Linie ein geographischer Raum, der kontextualisiert und damit mit Bedeutung für die Gedenkkultur aufgeladen wird.731 Dabei ist grundsätzlich zwischen authentischen ehemaligen (Tat-)Orten wie z.B. den KZ-Gedenkstätten einerseits und für das Gedenken ‚eingerichteten‘ Orten, die erst auratisch aufgeladen werden müssen, andererseits zu unterscheiden, wobei Pierre Nora davon ausgeht, dass sie immer drei, unterschiedlich stark ausgeprägte sinnhafte Merkmale besitzen: einen materiellen, einen symbolischen und einen funktionalen Sinn.732 Das Erinnerungspotential solcher Gedächtnisorte gehört als wichtiges Konstitut in den Kanon der Erinnerungskulturen; sie sind vielfach, herausragend von Pierre Nora, elaboriert und sollen insofern hier nicht weiter vertieft werden. Elementar wichtig für die Frage nach möglichen neuen Gedächtnisorten ist dabei vor allem Noras ‚Zeitpunktbestimmung‘, die eine Übergangsphase von großer Tragweite markiert. „Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewußtsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber einen Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, daß sich die Frage nach dessen Verkörperung stellen lässt.“733

Dass sich die unmittelbare Bedeutung der Gedenkorte durch den wachsenden zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen gemeinhin reduziert, darf hier als Konsens veranschlagt werden. Mittlerweile droht damit einhergehend die unmittelbare Authentizität der Schauplätze ehemaligen Terrors ebenso wie ihre ‚Nachbildungen‘ in Form von Gedenkstätten und Denkmale zum ‚leeren Zeichen‘ und ‚leblosen Ge729 Die jüngste Zusammenstellung sehr heterogener europäischer Erinnerungsorte versammelt: Den Boer, Pim/Duchhardt, Heinz/Kreis, Georg/Schmale, Wolfgang (Hg.): Europäische Erinnerungsorte, Band 1 und 2, München: Oldenbourg 2012. Erinnerungsorte im Internet sind hier nicht aufgeführt. 730 Dieses Wortspiel lehnt an der wörtlichen deutschen Übersetzung des englischen Begriffs ‚Facebook‘ an. Dabei ist selbstverständlich klar, dass die Übersetzung ‚Facebook‘ sinngemäß ‚Studenten-Jahrbuch‘ bedeutet. Dennoch wird die wort-wörtliche Übersetzung des Begriffs aufgrund ihrer semantischen Doppeldeutigkeit hier und an weiteren Stellen bemüht. 731 Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (1992), S. 60. 732 Vgl. P. Nora : Zwischen Geschichte und Gedächtnis, E. Francois/H. Schulze: Deutsche Erinnerungsorte. 733 P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 11.

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dächtnisspeicher‘ zu verblassen. Als Gegenmaßnahme dazu versuchen die Initiatoren solcher Einrichtungen die Überreste der Vergangenheit in nunmehr zunehmend symbolischen und – darum soll es hier gehen – digitalen Zeichen und Räumen in die Gegenwart zu implizieren und dort in einem neuen räumlichen und zeitlichen Rahmen für die Zukunft zu bewahren.734 Der Rahmen dieser Gegenwart ist dabei wie bereits erwähnt ein zeitlich, räumlich und sozial entgrenzter und durch starke Wandelbarkeit gekennzeichnet. In einem solchen Modell werden auch die Gedächtnisorte des Holocaust nicht nur als geographische Orte, sondern auch als virtuelle Räume denkbar und zwar auch dann, wenn grundlegende Parameter der klassischen Definition eines Gedächtnisortes zunächst obsolet erscheinen. Ein anschauliches Beispiel für die Frage, ob das Internet im definitorischen Sinne Jan Assmanns und Pierre Noras überhaupt als alternativer Gedächtnisort fungieren kann, ist das webbasierte „Nachklickwerk“735 Wikipedia. Die Gedächtniskonnotationen im Zusammenhang mit der Enzyklopädie-Website liegen zunächst einmal nahe, wird Wikipedia doch gemeinhin als „neues Leitmedium“736 des digitalen Wissenspools verstanden und besitzt in dieser Auslegung durchaus den Charakter eines ‚Menschheitsgedächtnisses‘. Analogien zur traditionellen Definition des kulturellen Gedächtnisses, auch aufgrund seiner strukturellen Ähnlichkeiten zum Archiv und der Ordnungsstruktur der Bibliothek, scheinen darüber hinaus auf der Hand zu liegen. Im Unterschied zu diesen traditionellen Vorstellungen sammelt und archiviert Wikipedia jedoch nicht nur das ‚Wissen der Vielen‘. Durch seine Verortung im virtuellen Raum wird es sogleich dem dynamischen, digitalen Fluss zugeführt, welcher die Inhalte an eine schier unendlich große Nutzergruppe transportiert und sie sogleich auch transformiert und veränderbar macht. Das auf Wikipedia publizierte Wissen ist somit ein vorrübergehendes und nach Möglichkeit maximal verkürztes; von seiner z.T. mangelnden Wissenschaftlichkeit soll an dieser Stelle nicht weiter gesprochen werden.737

734 Vgl. Rigney, Peter: „Der Gedächtnisort des Mahnmals. Eine Lokalisation des temporären Raumes“, in: Pyper, Jens Fabian (Hg.): „Uns hat keiner gefragt“. Positionen der dritten Generation zur Bedeutung des Holocaust, Berlin: Philo 2002, S. 209- 245, hier S. 223. 735 Lorenz, Maren: „Repräsentation von Geschichte in Wikipedia oder: Die Sehnsucht nach Beständigkeit im Unbeständigen“, in: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript 2009, S. 289-313, hier S. 289. 736 M. Lorenz: Repräsentation von Geschichte in Wikipedia, S. 308. 737 Siehe dazu u.a.: Lorenz, Maren: „Wikipedia als Wissensspeicher der Menschheit: Genial, gefährlich oder banal?“, in: Meyer, Erik (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitale Medien, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 141-171.

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Interessant ist am Beispiel Wikipedias, dass sich hier im Kleinen (auf einer Website) durchaus einige Problemstellungen abbilden lassen, die im Großen (im WWW) eklatant werden. Dies beginnt schon bei der Rollenverteilung von Produzenten und Konsumenten. Auf den Wissensspeicher und -Transfer auf Wikipedia können grundsätzlich alle Internetnutzer zugreifen und ihn gleichsam mit generieren. Diese relativ weite Öffnung der Plattform einerseits und die Kanonisierung, Zensierung und Löschung durch die Administratoren andererseits sind zwar genau die Kennzeichen der Fluktuation von Wissen im Internet, sie sind aber ebenso auch stark geprägt durch die Institutionalisierung von Wissen und Gedächtnisinhalten. Wikipedia kann als schwieriges und dennoch „paradigmatisches Beispiel für den Web 2.0-Erinnerungskanon“738 herangezogen werden. Der auf diese Weise angelegte Wissenskanon unterliegt permanenten Neu- und Aushandlungen, Vermessungen, Überarbeitungen und Anpassungen. Diese finden z.T. unbemerkt und ‚von außen‘ gesteuert statt, z.T. werden die Bestände öffentlich in Diskussionsforen zur Disposition gestellt. Mit der internationalen Vernetzung der Wikipedia-Autoren und Diskutanten wird zwar globale Kommunikation und Wissensaustausch ermöglicht, gleichzeitig bleiben diese Kontaktsituationen anonymisiert, temporär und erfüllen damit keinen Anspruch auf Authentizität, Wahrheit oder reale Kommunikationsmöglichkeiten. Während sich diese mangelhafte Verifizierung bei der OnlinePlattform Wikipedia qua ihrer Definition als Lexikon und Enzyklopädie als Problem darstellt,739 können wir uns bei anderen virtuellen Angeboten sicherlich die Frage stellen, ob es überhaupt deren Sinn und Zweck ist, autorisiertes und wahrheitsgemäßes Wissen zu publizieren oder ob deren Aufgaben nicht in anderen Bereichen, in der Unterhaltung, dem Spiel, der Kunst etc. zu vermuten sind. Auch wenn die Inhalte auf Wikipedia theoretisch durch eine globale Webgesellschaft hergestellt werden, ist die Plattform längst institutionalisiert und ihre Inhalte autorisiert. Die ‚Autorisierer‘, die sogenannten ‚Admins‘, erfüllen bei Wikipedia u.a. die Aufgabe, anstößige, verletzende oder historisch-revisionistische und rechtsextreme Artikel zu löschen und so im Sinne politischer und erinnerungskultureller Korrektheit ein ‚gesichertes‘ Menschheitsgedächtnis zu konstituieren. Da auch politisch inkorrekte Aussagen selektiert werden, übernehmen die Admins in gewisser Weise nicht nur die Verantwortung der Wahrheitssicherung, sondern auch die Aufgabe, das politische und moralische Gewissen zu autorisieren und auf diese Weise die Wahrung und Bewertung der Memorial Correctness vorzunehmen. Die Admins 738 Dornik, Wolfram: „Internet: Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher? Der Holocaust in den digitalen Erinnerungskulturen zwischen 1990 und 2010“, in: Paul, Gerhard/Schoßig, Bernhard (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen: Wallstein 2010, S. 79-98, hier S. 88. 739 Vgl. dazu u.a. M. Lorenz: Wikipedia als Wissensspeicher.

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zeigen sich somit auch „moralisch verantwortlich“740 und nehmen die Stellung des moralischen und wenn man so will ‚virtuellen Gewissens‘ ein – vorausgesetzt man gesteht diesem Medium ein solches zu. Auf der anderen Seite genießen auch die Admins im Netz weitgehende Anonymität, können z.B. nur schwer rechtlich belangt werden und verfügen im Gegenzug zumindest über die theoretischen Möglichkeiten und Mittel zur Manipulation und zum Machtmissbrauch. Ist Wikipedia also ein Beispiel für einen virtuellen Erinnerungskanon und lassen sich tatsächlich Eigenschaften und Funktionsweisen eines Gedächtnisortes übertragen? Da es nicht im Speziellen um die Plattform Wikipedia geht, soll an dieser Stelle wieder der Transfer zurück zu der Frage nach dem virtuellen Raum als alternativen Gedächtnisort gelingen. Wird der Gedächtnisort in Anlehnung an die Assmann’sche Gedächtnistheorie als Speicherort oder Archiv des kulturellen Gedächtnisses verstanden, in dem Erinnerungen gebündelt und aufbewahrt werden, wird die analoge Adaption einer Website oder allgemeiner des Internets zweifelhaft. Hilfestellung kann hier die Unterscheidung in Speicher- und Funktionsgedächtnis leisten. Die Besonderheit und zugleich das Dilemma des Internets ist es, dass einerseits die Kommunikationswege enorm beschleunigt und vervielfältigt werden und damit auch der Output von Information und Wissen vorangetrieben wird, das Internet auf der anderen Seite aber vor allem im Vergleich zu den klassischen Archiven der Literatur, des Films oder der Fotografie keinerlei dauerhafte Beständigkeit bereithält. „Im Grunde ist das Internet ein Speichergedächtnis ohne Speicher“, beschreibt Aleida Assmann diese den neuen Medien inhärente Ambivalenz.741 Da hier nicht wie in traditionellen Gedächtnismedien eine ‚materielle‘ Speicherung und Archivierung stattfindet, bleibt die Frage zu klären, ob das Internet denn im Sinne eines kulturellen Mediengedächtnisses funktional, also wandelbar und durch NeuInterpretation und Anpassung seiner Inhalte an gegenwärtige Horizonte gekennzeichnet sein kann. Dies setzt voraus, dass immer neue Zugänge gefunden werden und Transformationen stattfinden, die eine Anpassung an gegenwärtige Anforderungen und Umstände ermöglichen. Den Medien- und Kommunikationswandel eingeschlossen, welcher auf diese permanent veränderbaren Voraussetzungen referiert, bedeutet dies auch die Transformation von Medien und die Inanspruchnahme neuer Kommunikationswege. Wenn das Internet also überhaupt als Gedächtnisort denkbar ist, dann nur als abgewandeltes Modell des Funktionsgedächtnisses, indem seine Inhalte nicht langfristig gespeichert, sondern permanent neu erschaffen und gestreamt werden. Diese Form der ambivalenten, flüchtigen und inkonsequenten

740 M. Lorenz: Repräsentation von Geschichte in Wikipedia, S. 304. 741 A. Assmann: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, S. 56.

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Speicherung wäre derart eine Art „Memory on the Fly“742. Alle ‚Zustände‘ unterliegen im Internet einer gewissen Instabilität, durch welche Ordnungssysteme und Zuschreibungen variabel, stets veränderbar und in zirkulierende Prozesse eingebunden sind. Im Internet entspricht dies dem Kurzzeitgedächtnis (Random Access Memory) im Gegensatz zum Langzeitgedächtnis (Festplatte oder Read Only Memory): „Das Kurzzeitgedächtnis schließt das Vergessen als Prozeß mit ein; es ist nicht mit dem Augenblick, sondern mit dem kollektiven, zeitlichen und nervlichen Rhizom verbunden. Das Langzeitgedächtnis [...] kopiert oder übersetzt, aber was es übersetzt, wirkt in ihm weiter, aus der Distanz, zur Unzeit, unzeitgemäß, indirekt.“743

Das Kopieren und Übersetzen im Medium Internet beschreibt einen Aspekt der neuen Erinnerungskulturen, die sich zunehmend dadurch bestimmt zeigen, dass Erinnerungshandlungen weniger stark einem konstitutiven Master Narrative einer kollektiven Erinnerungsgemeinschaft verpflichtet sind, sondern in entgrenzten Räumen und Zeiten florieren und dabei verschiedene semantische Verknüpfungen, Crossover-Verbindungen und Touching Tales eingehen. Durch die Interaktivität der Onlineangebote und die Möglichkeiten zur webbasierten Kommunikation ist es dem Benutzer außerdem möglich, nicht nur als User oder Konsument aufzutreten, sondern gleichsam wie einleitend gesagt und am folgenden Beispiel der Videospiele zu zeigen, Inhalte selbst mitzugestalten, seine eigenen Spuren zu legen und „mediale Selbstreferenz“744 zu erzeugen. 2.2.2 Der virtuelle Raum als neues Erinnerungsmedium und Aktionsraum für Erinnerungshandlungen Im Bereich der Forschung zu den neuen Medien hat sich in den letzten Jahren die Disziplin der „Game Studies“745 als neues interdisziplinäres Forschungsgebiet hervorgetan, welches u.a. auch Anschlussmöglichkeiten für literatur- und kulturwis742 Siehe: Hoskins, Andrew: “Digital Network Memory“, in: Erll, Astrid/Rigney, Ann (Hg.): Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory, Berlin: De Gruyter 2009, S. 91-109. 743 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve 1992. S. 28. 744 Nöth, Winfried/Bishara, Nina/Neitzel, Britta: Mediale Selbstreferenz. Grundlagen und Fallstudien zu Werbung, Computerspiel und den Comics, Köln: Herbert von Halem 2008. 745 Siehe u.a. die Beiträge in: Neitzel, Britta/Bopp, Matthias/Nohr, Rolf F. (Hg.): „See? I´m real ...“. Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ‚Silent Hill‘, Münster: LIT 2004. Außerdem die Beiträge in: Gendoller, Peter (Hg.): Formen interaktiver Medienkunst. Geschichte, Tendenzen, Utopien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.

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senschaftliche Untersuchungen ermöglicht und unter dieser Prämisse auch hier eine weitere Perspektive eröffnen soll. Am Beispiel von Computerspielen, Onlineforen und Chats lässt sich besonders eindrucksvoll zeigen, wie Eigenschaften des Gedächtnis(ortes) gespiegelt und transformiert werden und die soziale Interaktion und Kommunikation in den virtuellen Raum verlagert wird.746 Dies beschreibt erneut den Aspekt der kulturellen Transformation medialer Erinnerungsangebote, indem Erinnerungshandlungen nicht ausschließlich an ein Master Narrative und an ein Erinnerungskollektiv gebunden werden, sondern in entgrenzten Räumen und Gesellschaften florieren. „Die Spiele [interaktive Computerspiele – K.F.] machen das Angebot, Geschichte in scheinbar unmittelbarer Weise nachzuerleben, in den eigenen Horizont zu holen, und zwar in einer anderen, einer intensiveren Form als der Geschichtsunterricht, ein Sachbuch, ein Film oder eine Dokumentation im Fernsehen. Sie machen ein solches Angebot allen und erreichen somit selbst jene Menschen, die sich sonst eher als uninteressiert an Geschichte bezeichnen würden. Geschichte bzw. das, was in den Spielen als solche präsentiert wird, kann dadurch eher in die Lebenswelt integriert werden.“747

Dies klingt beinahe nach der ‚Allzweckwaffe‘ gegen geschichtsmüde Jugendliche: Das Computerspiel entwirft einen Kontextraum, in dem Geschichte erlebbar, nachvollziehbar und in die eigene Lebenswelt integrierbar wird. Durch das aktive Moment, das Spielen, gewinnt das Computerspiel darüber hinaus einen Handlungsmodus, über den aktive Teilhabe und kommunikativer Austausch gelingt und damit nicht nur die Möglichkeit des Konsumierens oder Rezipierens, sondern vor allem die Möglichkeit der Selbstreferenz und des Selber-Mitgestaltens gegeben wird. Das Computerspiel ist eines derjenigen neuen Medienformate, welches besondere kommunikative Eigenschaften besitzt und dies sowohl für die interpersonale als auch für die öffentliche Kommunikation.748 746 Vgl. Kücklich, Julian: „Online-Rollenspiele als soziale Experimentierräume“, in: Bevc, Tobias (Hg.): Computerspiele und Politik. Zur Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen, Berlin: LIT 2007, S. 55-75, hier S. 67 f. Vgl. hierzu außerdem: Schwarz, Angela: „‚Wollen Sie wirklich nicht weiter versuchen, diese Welt zu dominieren‘: Geschichte in Computerspielen“, in: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: transcript 2009, S. 313-341. W. Kansteiner: Alternative Welten. 747 A. Schwarz: Geschichte in Computerspielen, S. 315. 748 Vgl. Wimmer, Jeffrey: „‚More than a game‘ – Die Bedeutungsdimensionen von Computerspielkultur(en) am Beispiel der World Cyber Games 2008 in Köln“, in: Hepp, Andreas/Höhn, Marco/Wimmer, Jeffrey (Hg.): Medienkultur im Wandel, Konstanz: UVK 2010, S. 349-365, hier S. 350 f.

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Dass das Computerspiel ein trans- und intermediales Medium ist, liegt auf der Hand. Seine intermediale Referenz verweist auf prä-digitale Anleihen aus dem Film, der Literatur, der (Comic-)Kunst und der Musik, welche in mediale Crossover-Verbindungen versetzt werden749 und damit die Wirkmacht der einzelnen traditionellen Medien um ein Vielfaches erweitern. Als Weiterentwicklung von Film und Fernsehen und den sozialen Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten wird das Videospiel auch zu einem „wichtigen medialen Sozialisationsfaktor und damit zu einem bedeutsamen Element der Lebenswelt“750 . Sein ‚Drehbuch‘ schreibt nicht nur auf hypertextuelle Art und Weise Geschichte(n), sondern reproduziert dabei – wenn es sich um entsprechende Spielformate handelt – auch Geschichtsbilder, die zu einem gemeinschafts- und identitätsbildenden Instrument werden können. An den neuen Medien im Web partizipiert vor allem die junge Digital NativeGeneration, wobei sie zum ‚Prosument‘, zum Hybrid aus Produzentin und Konsumentin ihrer neuen Verfahrensweisen wird. Historisches Wissen und Nacherleben, sofern sie konzeptionell in den ‚Erlebnispark‘ des Spiels eingebaut sind, werden so quasi im Vorbeigehen durch die „gefällige Benutzung“ mit vermittelt und angeeignet.751 Dabei bleibt die Nutzung des Mediums gerade nicht auf das gefällige Konsumieren beschränkt, denn das selbstreferentielle Ich des Spielers ist der zentrale Bezugspunkt des Spiels.752 Durch den Aktivitätsmodus des Spielens gestaltet der Benutzer und sein Avatar sogleich auch das virtuelle Geschehen, erzählt die Geschichten mit und weiter, hinterlässt seine Handschrift im Plot und agiert so als ‚Prosument par excellence‘. In seiner Funktion als Erzähler der digitalen Geschichte kommt ihm gar die grundlegende Rolle als „dramatisch handelnde Person“753 zu, indem er die Erzählzeit, die Chronologie und die Wiederholungen der Geschichte selbst bestimmt und die Navigation – u.a. gekennzeichnet durch Bewegungen des ‚Scrollens‘, ‚Switchens‘ oder ‚Surfens‘ – übernimmt. Gegenüber den traditionellen Formen von (historischem) Erzählen wird dabei „schreibendes Lesen, lesendes Schreiben im Modus permanenter Revision der Inhalte […] dementsprechend zum Normalfall hypertextueller Kulturtechnik.“754 Soziale Handlungen im Online-

749 Auf diese Weise wird zum Beispiel der Film zum Videospiel, während Videospiele wiederum verfilmt werden. Offensichtlich sind außerdem mediale CrossoverBeziehungen zwischen Comics und Videospielen. 750 Vgl. A. Schwarz: Geschichte in Computerspielen, S. 318. 751 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 94. 752 Vgl. W. Nöth/N. Bishara/B. Neitzel: Mediale Selbstreferenz, S. 119 ff. 753 Missomelius, Petra: Digitale Medienkultur. Wahrnehmung – Konfiguration – Transformation, Bielefeld: transcript 2006, S. 131. 754 Krameritsch, Jakob: „Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien“, in: Popp, Susanne/Sauer, Michael/Alavi, Bettina/Demantowsky, Marko/Paul,

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Status, sei es das Spielen von Computerspielen oder das Austauschen über Lexikonartikel, akzentuieren nicht nur die Möglichkeit an interaktiven Präsentationen teilzuhaben, sondern sich durch Partizipation auch in subjektive Produktionen anderer, zumal unbekannter Nutzer aktiv einzuschreiben.755 Übertragen auf das Erinnerungshandeln als sozialer Akt und Vergemeinschaftungsprozess erzielen diese Voraussetzungen eine enorme Aktivität und Dynamik, in der nicht normative, kollektiv gültige Erinnerungsprodukte konsumiert werden, sondern individuelle Erinnerungsspuren in einem interaktiven Prozess produziert und mit anderen dynamisch vernetzt werden. Aleida Assmann verwendet in einer ihrer jüngeren Definitionen für das Internet und seine digitalen Medien den Begriff der „Börse“, um u.a. auch erneut die ambivalenten Speichermöglichkeiten digitaler Medien zu beschreiben.756 Mit Blick auf das funktionale Archivmodell erscheint der bereits argumentativ eingebundene Terminus des Work in Progress an dieser Stelle erneut passend, um die Erinnerungshandlungen im Internet zu beschreiben. Bis hierher ist festzuhalten, dass der virtuelle Raum, wie theoretisch und an den beiden Kurzbeispielen Wikipedias und der Videospiele charakterisiert, zwar Parameter des Gedächtnisortes abbildet, ihn jedoch adaptiv als einen solchen zu bezeichnen, nicht sinnvoll und in Anbetracht der hier zu vertretenden These von der Transformation des Gedächtnisthemas auch nicht zielführend ist. Als performatives Archiv, Verhandlungsraum und Anlass für Erinnerungshandlungen bilden sich jedoch auf den virtuellen Plattformen neue Möglichkeiten, die Reflexion und Auseinandersetzung mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus anzuleiten – als alternatives Programm zum Paradigma von Erinnerung und Gedächtnis. Nach Pierre Noras Modell der Gedächtnisgeschichte befindet sich die Gesellschaft gegenwärtig, bedingt durch die „Beschleunigung der Geschichte“, die „Entritualisierung unserer Welt“757, den Generationswechsel und veränderter Aufmerksamkeiten, in einem Übergangsstadium, in dem allmählich die gruppen-, nationenund identitätsstabilisierenden Verbindungen zur Vergangenheit abreißen und dadurch vermehrt neue Erinnerungsorte eingefordert und im kollektiven Gedächtnis verankert werden müssen. In diesem Sinne erfüllt das Internet genau diese Funktion, indem es über die Eigenschaften als sozialer Kommunikations- und Erfahrungsraum zum symbolischen Erinnerungsort wird, in welchem Vergangenheitsbezüge vermittelt und Geschichtsdeutungen ausgehandelt werden können.758 Derart wird Gerhard (Hg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 261-281, hier S. 272. 755 E. Meyer: Problematische Popularität, S. 283 f. 756 A. Assmann: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, S. 56. 757 P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 11; S. 17. 758 Vgl. auch W. Dornik: Internet – Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher, S. 86.

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das Internet nicht als klassisch definierbarer Gedächtnisort im Dreiklang von Materialität, Symbolik und Funktionalität, sondern als Handlungsraum und Kontaktzone evident, in der Möglichkeiten des sozialen Handelns und damit auch des Erinnerungshandelns abgebildet werden. Als prinzipiell unabgeschlossener Ideen- und Informationspool und mit der Möglichkeit interaktiver Mitgestaltung und Aktion, bietet das Internet so vor allem den entsprechenden sozialen Rahmen als ‚Ort der Begegnung‘ und „Stätte des Verhandelns“759. 2.3 Netzgemeinschaften Für die Generation der Digital Natives sind die virtuellen Räume des Internets schon längst zu Parallelwelten geworden, in denen sie sich oft besser orientieren können, als in ihrer realen Umgebung oder ihrer ohnehin variabel und austauschbar gewordenen Heimat. Das Internet hat sich derart zu einem alternativen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Lebensraum entwickelt, in dem Kommunikation stattfindet, Erfahrungen und Erinnerungen ausgetauscht werden und sich neue Trends und Gemeinschaften formieren. Im umgekehrten Sinn geben diese gemeinschaftlichen Zusammenschlüsse im Netz auch in der Realität Anlass für gemeinschaftstiftendes Handeln, wofür z.B. Aktionen wie ‚Flashmobs‘ als plakatives Beispiel gelten dürfen. Es ist in Folge dessen durchaus naheliegend, dass sich im Internet auch multiple kollektive Erinnerungsgemeinschaften, Gedächtnisse und Identitäten herausbilden. Auch wenn zunächst die Vorstellung, dass wir gerade in der Anonymität des Internets soziale Gemeinschaften und kollektive Erinnerungen teilen, befremdlich erscheinen mag, bilden sich in den medialen Netzwerken, im Chat, auf den Seiten sozialer Netzwerke und Internetforen durchaus (Interessens-)Gemeinschaften, die nicht nur gemeinsame kollektive Identitätsmerkmale austauschen, sondern auch kollektive Erinnerungen formen oder erfinden, die zum Ausdruck ihrer Gruppenzusammengehörigkeit werden. Im digitalen Zeitalter ist prinzipiell jedes Individuum in der Lage, private oder historische Narrative zu kreieren, virtuelle „Miterzähler“ zu bewerben und damit eine Erinnerungsgemeinschaft zu bilden760 – kaum etwas anderes findet im Prinzip auf den Seiten sozialer Netzwerke statt. Durch die Eigenschaften des entgrenzten, virtuellen Online-Raumes wird dabei die gleichzeitige Partizipation an verschiedenen Gedächtnisinhalten ermöglicht. Entgegen der Zuordnung zu ‚Schicksalsgemeinschaften‘, deren Narrative durch konfigurierte ‚Eintrittsbillets‘ autorisiert sind, erhält der Nutzer von Onlinemedien ein Vielzahl von

759 Massey, Doreen: „Keine Entlastung für das Lokale“, in: Berking, Helmuth (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt a.M.: Campus 2006. S. 2531, hier S. 26. 760 Vgl. W. Kansteiner: Alternative Welten, S. 45.

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Wahlmöglichkeiten verschiedener narrativer Angebote, die von einer große hybriden Masse von Prosumern, ihren Werten und Imperativen hergestellt und zugänglich gemacht werden.761 Im Internet bleibt das Konzept der wählbaren Identitäten und geliehenen Erinnerungen nicht nur eine Vorstellungsfigur, sondern sie wird nutzbar gemacht. Die Kategorien ‚Herkunft‘, ‚Heimat‘, ‚Ethnie‘ oder ‚Sozialstatus‘ sind für die Nutzung und für die Identifikation mit den (User-)Gruppen weitgehend irrelevant. In den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Studi-VZ entstehen Gruppen und Freundeskreise, die nicht primär über die Herkunft oder das soziale Umfeld zusammenfinden, sondern die sich oft über ein spezielles Thema, Interesse, Geschehen oder eine exponierte Meinung bilden oder unter Aspekten des ‚Behavioral Targeting‘ von den Netzwerk-Betreibern miteinander verlinkt und so zusammengebracht werden. Auf diese Weise werden z.B. über den ‚Share-Button‘ bzw. ‚Like-Button‘ entsprechende Interessensgemeinschaften initiiert, die über Empfehlungen (‚I like /‚share‘) miteinander vernetzt werden. Es gibt Stimmen, die in diesen Vernetzungsmöglichkeiten der digitalen Kommunikationswelt gar eine „interkulturelle Revolution“ sehen wollen.762 Vor allem durch die sozialen Medien werden soziale Kontakte über die nationalen, politischen und sozialen Kategorien hinaus möglich und es findet eine „Trennung von physischem Ort und sozialen Erfahrungsraum“763 statt. Dies zeigt noch einmal besonders eindringlich die Entgrenzung des virtuellen Raumes als besonderes Kennzeichen globalisierter Kultur. Durch die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Geschichte(n) im Netz wird das Netzwerk symbolisch auch zu dem Raum, in dem das Individuum aus den verschiedenen Geschichten und Gedächtnissen unabhängig seiner nationalen, sozialen oder genderspezifischen Herkunft aussuchen kann.764 Durch diese Möglichkeiten bilden sich auch im ‚virtuellen Leben‘ hybride Bindestrich-Identitäten und Teilidentitäten, gleichwohl entstehen aber auch sehr spezifische, mit einer hohen Verbindlichkeit versehene Kollektive. Diese Kollektive können sich als Gegenentwurf zur Hybridität des Netzes stark zielgruppenspezifisch und deutungsgebunden verhalten und grenzen sich dadurch von anderen bewusst ab, womit ein Argument 761 W. Kansteiner: Alternative Welten, S. 48. 762 Dahingehend argumentierte die Romanistin Ursula Reutner auf der Tagung „Neueste Medien unter Kontrolle“, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 08.12-10.12.2011. Siehe: http://www.nmuk2011.de/programm/interkulturelle-kommunikation-im-medienwan del/ 763 Funken, Christiane: „Über die Wiederkehr des Körpers in der elektronischen Kommunikation“, in: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink 2004, S. 307-323, hier S. 319. 764 W. Dornik: Internet – Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher, S. 87.

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gegen eine „interkulturelle Revolution“ gebracht wäre. Anhand von ‚SpecialInterest-Gruppen‘ und ihren (kultur-)spezifischen Narrativen lässt sich also nicht nur eine Pluralisierung, sondern zugleich auch die Differenzierung von Zielgruppen und ihrer Deutungsangebote im Netz unter Gesichtspunkten des Zielgruppen- und „Ethnomarketing(s)“765 beobachten, – auch dieser Vorgang korrespondiert zwar mit der Wahrnehmung der westlichen Gesellschaft als Hybris von Identitäten, spielt aber sogleich auch auf Ab- und Ausgrenzungsmechanismen an, die ebenfalls als Resultat neuer Medienpartizipation gelten. Die „zunehmende Interaktivität, Konnektivität und Internationalität des weltweiten Datennetzes fördert die Bildung multipler, transkultureller Erinnerungskulturen unter den Usern.“766 Damit sind durch die Hybridität und Dynamik der sozialen Netzwerke auch die Identitäten der User immer im Fluss und auf der Suche – sei es nach neuen Freunden oder nach vorübergehenden Kollektividentitäten. Hierbei ist grundsätzlich zwischen zwei Formaten und damit auch zwei Formen digitaler Internetnutzung zu unterscheiden. In den meisten öffentlich zugänglichen Internetforen, Chats und Blogs ist es möglich, wenn nicht sogar üblich, sich unter falschem oder anonymisierten Namen bzw. einer gewählten ‚Zweit-Identität‘ anzumelden. Noch deutlicher ist die Nutzung von Teil- bzw. Fremdidentitäten im Bereich der Computerspiele, bei denen eine „selbstreferentielle Verdoppelung der Spielenden in ein Ich und ein Nicht-Ich“767 durch den Avatar die wohl deutlichste Form der parallelen Existenz im Netz darstellt.768 Die jedoch auch auf anderen Plattformen und in sozialen Netzwerken mögliche Wahrung von weitgehender Anonymität gereicht vor allem dann zum Vorteil, wenn kontroverse Diskussionen den Schutz der eigenen, physischen, Person erfordern. Wo es beispielweise darum geht, seinem Meinungsgegner Paroli zu bieten, fällt die Diskussion unter einem anonymen Nickname oft leichter als mit geöffnetem Visier von Angesicht zu Angesicht. Die sozialen Netzwerke, allen voran Facebook, werben stets mit der Sicherheit der Authentizität ihrer Nutzer. Doch obwohl es auf diesen Seiten in der Tat bedeutend schwieriger ist, ein Profil unter einem falschen Namen anzulegen, sich also mit einer Sub-Identität durch das soziale Netzwerk zu bewegen, ist es nicht ausgeschlossen und zudem kann ein jeder an unterschiedlichen Gruppenidentitäten teilhaben. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen und Freundeskreisen ist unbegrenzt und per Like-Button in ‚1-Klick-Geschwindigkeit‘ möglich. Zudem

765 S. Somuncu: Es geht mir nicht um Provokation, S. 53. 766 W. Dornik: Internet – Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher, S. 86. 767 W. Nöth/N. Bishara/B. Neitzel: Mediale Selbstreferenz, S. 168. 768 Eine besonders illustre Form dieser parallelen Existenz ermöglicht sich für den Nutzer auf der 3D-Plattform Second Life ab. Siehe: http://secondlife.com/.

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existiert selbstverständlich neben den Profilen öffentlicher Personen und Fanseiten auch eine Dunkelziffer an ‚Fake-Profilen‘ – um eines soll es nun explizit gehen.

3. E RINNERUNGSKULTUR

AUF

F ACEBOOK

3.1 Gegenwart und Vergangenheit auf Facebook „Irgendwann werden wir alle rübermachen ins Netz. Was sollen wir noch hier draußen, viele sind sowieso schon mehr auf Facebook zugange als in der Wirklichkeit 1.0, dieser Mangelversion des Lebens.“769 „Eigentlich wollte ich da demnächst mal raus, ich erlebe Facebook als eine Möglichkeit für Leute, die man ohnehin nicht für besonders hell hielt, durch unentwegtes Absondern sogenannter Postings unter Beweis zu stellen, dass es noch viel finsterer um sie steht.“770

Der Wandel in den Erinnerungskulturen ereignet sich nicht in erster Linie nur durch den Wegfall der Augenzeugengeneration und ihrer Erinnerungen sowie durch den Wechsel der Generationen, sondern er geht auch erheblich damit einher, dass sich neben gesellschaftlichen und globalen Veränderungen im Zuge der Globalisierung auch die Medien- und Kommunikationskultur in einem permanenten Entwicklungsund Modernisierungsprozess befindet. Gleichzeitig wiederum bedingen die raschen Veränderungen des Alltags und seiner individuellen Anforderungen auch die Diversifikationen der zur Verfügung stehenden Medienangebote. Das heute im Vordergrund des öffentlichen Interesses stehende Online-Medienrepertoire befriedigt nicht nur die Nachfrage nach schneller Informationsbeschaffung und -Verbreitung, sondern verlagert zudem auch das menschliche Grundbedürfnis nach sozialem Austausch, Freundschaft und Kontakt ins Internet. Mit den spezifischen Möglichkeiten interaktiver Plattformen wie Facebook, YouTube oder Twitter entstehen Kommunikationsräume, in denen soziales Verhalten nicht nur abgebildet, sondern aktiv entwickelt und vollzogen wird. Das einstige Modewort ‚Social Networking‘ ist heute nicht mehr nur als Formel multimedialen Business‘ bekannt, es übernimmt zunehmend den Stellenwert von Face-to-Face Kommunikation. Der Strukturwandel der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sowie die kulturellen Transformationen finden

769 Rühle, Alex: „Ein Leintuch, so groß wie das Meer“, in: Süddeutsche Zeitung vom 29./30.01.2011. 770 Richter, Peter: „Requiem. Kommentar“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10.04.2011.

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ihren Ausdruck nicht zuletzt im „Strukturwandel der Kommunikation“771, der sich vor allem in der Popularität der neuen sozialen Medien wie YouTube oder Facebook ablesen lässt und in den nun auch die mediale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Einzug erhält. Die digitalen- und Kommunikationsmedien bestimmen nicht nur die soziale Kommunikation, sondern werden auch zum Wegweiser gegenwärtiger medialer Aushandlungs- und Vermittlungsprozesse von Vergangenheit und Geschichte. Warum sich besonders die Neugestaltung sozialer Kommunikation und Interaktion in Verbindung mit Erinnerungshandlungen im Netz bringen lässt, soll das folgende Fallbeispiel von Facebook verdeutlichen. Unter dem Titel ‚Erinnerungskultur auf Facebook‘ soll außerdem der Beweis zweier zuvor aufgestellter Argumente geführt werden. Zum einen ist die Internetplattform Facebook explizit als neuer sozialer Kommunikations- und Handlungsraum auszuzeichnen und zum anderen kann deutlich gemacht werden, wie und unter welchen Voraussetzungen in dieser Umgebung, in diesem neuen virtuellen Raum, eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust gelingt, Erinnerungshandeln gemeinschaftsbildend konstituiert wird und ein Beitrag für zukünftige globale (Erinnerungs-)Kulturen generiert wird. Daran anschließend soll eine medienkritische Untersuchung die bereits angeklungene Problematik einer Verknüpfung von Holocaust-Narration und populären Web 2.0Medien vertiefen. Dass in diesem Zusammenhang besonders die Frage nach der Memorial Correctness dieser Onlineangebote eklatant ist, zeigt bereits das folgende Beispiel von Erinnerungskultur auf Facebook und soll im Fortgang dieses Kapitels weiter als Referenzboden dienen. Das soziale Onlinenetzwerk Facebook gehört sicherlich nicht zu denjenigen Medien, denen naturgemäß ein besonders offensichtlicher Bezug zu den Themen Holocaust und Nationalsozialismus anzurechnen ist. Primär geht es hier vielmehr um den Austausch persönlicher Informationen und die Pflege von Kontakten und Freundschaften. Trotzdem wurde jüngst über Thematisierungen des Holocaust in diesen und anderen neuen Medienformaten besonders lebhaft unter der Leitfrage, ob dies nun die allerorts gesuchte ‚Zukunft des Erinnerns‘ sei, debattiert.772 Dabei ist diese Fragestellung nach zukunftsfähigen Erinnerungsformaten natürlich keine neue. Wie angemessene und zeitgemäße Formen der Vergangenheitsreflexion heute und in einer Zukunft ohne Augenzeugen und ohne die moralische Instanz der älteren Generationen aussehen können, darüber streitet man sich seit Jahren in den interdisziplinären Wissenschaften ebenso wie auch in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Der nun unmittelbar bevorstehende völlige Wegfall der 771 A. Assmann: Hier bin ich, wo bist Du, S. 7. 772 Zum Beispiel jüngst auf der Tagung httpsts://digitalmemoryonthenet, Berlin, 14.04.16.04.2011. Siehe: http://pb21.de/2011/05/httpasts-tagung-zu-erinnerungskulturen-imnetz/ und http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=24476 vom 12.01.2012.

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Augen- und Zeitzeugen des Holocaust fordert dabei nicht nur einen historisch bedeutsamen Generationswechsel, sondern auch eine erhebliche Transformation der Erinnerungskultur, deren kulturelles Gedächtnis sich folglich nicht mehr aus dem kommunikativen Gedächtnis, den lebendigen Erinnerungen der Augenzeugen, speist, sondern deren Verantwortung gänzlich in die Zuständigkeit der kulturellen Medien übergeht. Mit den digitalen Internetmedien als eben solchen neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses gehen die kommunikativen Erinnerungen nun nicht nur in neue Medienformate, sondern durch die Eigenschaften und Möglichkeiten des weltweiten Netzwerkes auch in neue Kommunikationsprozesse ein. Diese ‚mediengestützte Tradierung‘ sorgt dafür, dass die Erinnerungen nicht weitgehend linear und analog durch traditionelle Medien und familiäre Tradierung weitergegeben, sondern durch die digitalen Medien und ihre Netzwerkeigenschaften um ein Vielfaches gestreut, dynamisiert und virtuell verknüpft werden. Anstatt diesem Vorgang allerdings einen unwiederbringlichen Verlust des kommunikativen Gedächtnisses zu attestieren, soll hier die These vertreten werden, dass gerade der kommunikative Part des Erinnerungshandelns, die individuellen Erinnerungen, wieder belebt, das kommunikative Gedächtnis in einem neuen Setting „rekonfiguriert“773 wird. 3.2 Soziales Handeln und Inszenierungen auf Facebook Facebook ist seit Jahren nicht mehr aus der virtuellen Welt wegzudenken. Besonders im Alltag der jüngeren Digital Natives erweist sich der Blick auf das eigene Facebook-Profil sowie die Stippvisite bei den virtuellen Freunden als geradezu ritualisierte Kommunikationshandlung. In einer ähnlich rasanten und geradezu explosionsartigen Entwicklung wie der Suchmaschinen-Anbieter Google löste das soziale Netzwerk Facebook einen weltweiten Hype durch schier alle sozialen Schichten und Altersklassen aus – mit immer noch steigender Tendenz.774 Interessant für die erste Feststellung, dass sich hier ein neuer Kommunikations- und Handlungsraum öffnet, in dem Gemeinschaften, Identitäten und gemeinsame (Erinnerungs)Handlungen stattfinden, ist die Tatsache, dass Facebook explizit als soziales Netz-

773 Leggewie, Claus/Meyer, Erik: „Collecting Today for Tomorrow. Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ‚11. Septembers‘“, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin: De Gruyter 2004, S. 277-295, hier S. 281. 774 Beim Börsengang des Unternehmens im Februar 2012 verzeichnete man laut Prospekt 483 Millionen „aktive Nutzer pro Tag“. Nach Alexa (http://www.alexa.com) ist Facebook nach Google und vor YouTube die populärste Website weltweit. Einen Überblick über die Eigenschaften und Features von Facebook geben: Ebersbach, Anja/Glaser, Markus/Heigl, Richard: Social Web, Konstanz: UVK 2008.

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werk angelegt ist und damit vor allem das Kommunikationsverhalten, den sozialen Austausch und den Umgang mit den Mitmenschen fokussiert. Einen regelrechten Geniestreich erzielten nämlich die Initiatoren von Facebook damit, dass sie ihr Netzwerk nicht nur als Plattform anlegten, auf der sich persönliche Profile abbilden lassen, sondern vor allem damit, in dieser virtuellen Welt soziales Handeln zu ermöglichen und dies in Abbildung nahezu aller Facetten des alltäglichen Lebens. Dabei liegt die Betonung tatsächlich auf der wörtlich intendierten sozialen Komponente, denn asoziales Handeln wird bei Facebook – zumindest nach der Anlage seiner Gründer – weitgehend unterbunden bzw. nicht ‚angeboten‘.775 Dennoch ist, wer ‚drin‘ ist, nicht unmittelbar Mitglied einer Sozialgemeinschaft. Die Max Webersche ‚Vereinsamung des Individuums‘ überträgt sich auch in die Gegenwart der Erlebnisgesellschaft. Soziale Netzwerke und die zumindest theoretisch gegebene Möglichkeit, mit quasi jedem Menschen dieser Welt – vorausgesetzt natürlich er verkehrt in der globalen Online-Community – Kontakt aufnehmen zu können, schützt realiter nicht vor sozialer Ausgrenzung und individueller Einsamkeit, mehr noch, die neuen Medien und Kommunikationswege können gerade umgekehrt zu genannten ‚Kontaktvernichtern‘ avancieren. ‚Drin zu sein‘ und sich ‚rüber zu machen‘ wie es die beiden Autoren in den vorangestellten Zitaten dieses Kapitels in typischer ‚Netzsprache‘ formulieren, sind aber offensichtlich in unserer Gegenwart besonders erstrebenswerte Ziele. In einer Repräsentativbefragung „Heranwachsen mit dem Social Web“ (2009) haben Wissenschaftler eruiert, dass das herausragende Feature der Social-Web-Nutzung seine Möglichkeit zum „Beziehungsmanagment“776 ist. Beziehungen, Freund- und Bekanntschaften, aber auch geschäftliches und berufliches Networking werden als wichtiger Zugewinn herausgestellt – vor allem auch für das Leben außerhalb des Webs. Dabei funktioniert das Networking nur dann gewinnbringend, wenn sich der Nutzer selbst nicht nur einloggt, sondern auch ein eigenes Profil anlegt und dieses kontinuierlich aktualisiert und pflegt. Das Erfolgsprinzip lautet hier: „Du musst dir ein Bildnis von dir selbst machen“777 , damit du Teil der Community werden kannst. Auch hier geht es letztlich um wenig mehr als um Performance und Inszenierung. Wer diese Regel nicht befolgt, wird zwar nicht sofort aus der virtuellen Gemeinschaft verstoßen, er wird aber z.B. von 775 Dies bedeutet nicht, dass es asoziales Verhalten auf und mit Hilfe von Facebook nicht gibt. Gerade unter dem Begriff „Cybermobbing“ sind derartige problematische Handlungen im Internet heute schier an der Tagesordnung. 776 Jan-Hinrik Schmidt weist drei zentrale Handlungskompetenzen für die Nutzung sozialer Netzwerke aus: Identitätsmanagment, Beziehungsmanagment und Informationsmanagment. Siehe: Schmidt, Jan-Hinrik: „Social Web als Ensemble von Kommunikationsdiensten“, in: Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe/Schmidt, Jan-Hinrik (Hg.): Heranwachsen mit dem Social Web, Berlin: Vistas 2009, S. 57-82. 777 A. Assmann: Hier bin ich, wo bist Du, S. 7.

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Facebook in regelmäßigen Abständen auf seine ‚Underperformance‘ und sein soziales Mangelverhalten hingewiesen. Die Basis des sozialen Handelns auf Facebook legen speziell für diese Aktivitäten angelegte Features und Interaktionsflächen wie ‚Profilbeschreibung‘, ‚Kontakte‘, ‚Freunde‘ und ‚Nachrichten‘ nahe: Hier soll soziale, kommunikative Interaktion nachgeahmt und zugleich öffentlich gemacht werden.778 Dabei verschmelzen mindestens zwei Ebenen miteinander. Nicht nur die alltägliche Handlung verlagert sich in die virtuelle Interaktivität, sondern auch die private Ebene, Freundschaftspflege und soziale Kontakte werden zumindest teilweise öffentlich einsichtig und zugänglich. Damit sei an dieser Stelle auf einen ersten Kritikpunkt dieses „Freundschaftspflegemediums“779 verwiesen: Warum werden Freundschaften, die doch durchaus sehr privat und intim sind, in aller Öffentlichkeit gepflegt und dabei zur Schau gestellt? Jeder, der auch nur entfernt mit einem Profilinhaber bekannt ist, kann dessen Leben (ver-)folgen und sich als Freund in dieses selbst mit einschreiben. Zwar gibt es bei Facebook auch die Möglichkeit, mit Hilfe von ‚Tarnkappen‘ Barrieren im Öffentlichkeitsgrad seines Profils einzustellen, aber es scheint auch genau diese Halb-Öffentlichkeit des eigenen privaten Lebens zu sein, die einen besonderen Reiz von Facebook ausmacht und mit zu seiner großen Popularität beiträgt. Die Arbeit am eigenen Profil wird auf Facebook damit beinahe schon selbstredend zum Akt der Selbstinszenierung – was auch die wörtlich abstrahierte Übersetzung als ‚Gesichtsbuch‘ intendiert. Die Ausgestaltung des Profils unterliegt klar dem Gesetz der Selbstgestaltung, Selbstthematisierung und -Inszenierung. Die Anzahl der Freunde, die Aktualität der Einträge, die Aussagekraft oder Ästhetik der eingestellten Fotos und Videos, die Zugehörigkeit zu bestimmten FacebookGruppen, – die Liste derer Faktoren, die das Profil eines Facebook-Nutzers ausund bewertbar machen, ist lang. Bemerkenswert ist dabei, dass nicht nur eine möglichst positive Beschreibung der eigenen Person vorgenommen, sondern ein umfassendes Profil erstellt wird und so mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eine Wirkung auf andere, eine „Zurschaustellung des Ich vor Anderen“ inszeniert wird.780 Die Facebook-Seite entwirft darüber hinaus nicht nur die Identität des Benutzers, sie validiert sie auch durch die Anwesenheit und die Interaktionen mit den Freunden. „Aus dieser Welt herauszufallen würde für viele den sozialen Tod bedeuten.“781 Dass mittlerweile nicht mehr nur natürliche Personen, sondern auch Firmen, 778 Vgl. Hasebrink, Uwe/Paus-Hasebrink, Ingrid/Schmidt, Jan-Hinrik: „Das Social Web in den Medienrepertoires von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“, in: Hepp, Andreas/Höhn, Marco/Wimmer, Jeffrey (Hg.): Medienkultur im Wandel, Konstanz: UVK 2010, S. 331-349, hier S. 334 f. 779 A. Assmann: Hier bin ich, wo bist Du, S. 11. 780 Vgl. B. Becker: Selbst-Inszenierung im Netz, S. 414 f. 781 A. Assmann: Hier bin ich, wo bist Du, S. 16.

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Markenprodukte, Institutionen, ganz zu schweigen von Kunst- und fiktiven Personen, ein Profil bei Facebook haben, erwirkt der Grundintention des virtuellen Profilabdrucks keinen Abbruch, auch wenn diese Seiten selbstverständlich andere primäre Ziele verfolgen. Eine durchaus problematische Tendenz zeichnet sich jedoch durch die Existenz unterschiedlicher Profile von Verstorbenen, darunter auch Opfern von Gewaltverbrechen, auf Facebook ab. Spätestens hier zeigt sich eindringlich, „dass die Gepflogenheiten der omnikommunikativen Gegenwart vor dem Tod nicht haltmachen“782. Nicht nur in Bezug auf das im Folgenden zu besprechende Profil eines Holocaust-Opfers, auch nach dem Tod anderer Profilinhaber wird es häufig schwierig, ihre virtuellen Spuren aus dem sozialen Netzwerk zu löschen. Auch hier ist auf eine moralisch-ethische Ambivalenz hinzuweisen. Einerseits kann die Verhinderung der Profillöschung als amoralischer Geschäftssinn der Macher Facebooks betrachtet werden. Andererseits wird durch die Konservierung des virtuellen Lebens auch die Erinnerung an den Verstorbenen wach und lebendig gehalten – solange das Profil von Freunden oder Angehörigen weiter gepflegt wird – oder es kann gar als digitales Denkmal angelegt und damit wie der Norasche Erinnerungsort Raum und Zeit überdauern. Beide Möglichkeiten werden im folgenden Fallbeispiel relevant. Dennoch sei hier schon einmal kritisch erwähnt, dass die Intention, Trauergemeinde und Freundeskreise, Denkmale und virtuelle Fotoalben ‚einfach‘ von der einen in die andere Welt zu übersetzen und eine daraus entstehende Verbindung von Tod und Social Network in Kauf zu nehmen, vor allem unter Parametern der Memorial Correctness diskutabel ist. 3.3 Das Facebook-Profil von Henio Zytomirski Eine der neuesten Formen der medialisierten und digitalisierten Repräsentation einer Opfer-Biographie fand kürzlich auf den Seiten von Facebook statt. Neben den bekannten Holocaust-Opfern wie z.B. Anne Frank wurde im August 2009 auch das Profil Henio Zytomirskis in das soziale Netzwerk Facebook eingestellt.783 Zytomirskis, 1933 im polnischen Lublin geboren, wurde 1942 im NS-Vernichtungslager Majdanek von den Nationalsozialisten ermordet. Auf seinem Facebook-Profil wird sein kurzes Leben auf das sechste Lebensjahr eingefroren und erhält dessen kindliche Perspektive, obschon es sich selbstredend um eine nachträgliche und fremdinitiierte Biographie handelt. Wer sich auf dem Profil des sechsjährigen Jungen den Freundschaftsstatus aneignet, kann teilhaben an dem bis dato unbeschwer-

782 Heyer, Julia Amalia: „Anne Frank postet noch. Soziale Netzwerke lassen HolocaustOpfer wiederauferstehen“, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.03.2010. 783 Siehe: http://www.facebook.com/zytomirski?sk=wall&filter=12 vom 12.12.2011.

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ten Leben und der Gedankenwelt des polnischen Jungen in den 1930er Jahren. Auf Henio Zytomirskis Facebook-Seite sind neben seinem eigenen Schwarzweißfoto auch Grußkarten z.B. zum ‚Happy Valentine’s Day‘ oder zur Einschulung sowie Fotos und allerlei Postings von seinen virtuellen Freunden zu sehen. Im persönlichen Fotoalbum Henios finden sich dann die Bilder seiner Kindheit und weitere Nachrichten von seinen Facebook-Freunden, die aus der ganzen Welt gepostet werden. Während der Durchschnittsuser von Facebook etwa 75 Freunde vorweisen kann,784 hatte Henio Zytomirski innerhalb weniger Monate die 5000-FreundeGrenze erreicht, durch deren Überschreitung sein Profil durch Facebook automatisch zur ‚Fanseite‘ erklärt wurde. Diesem Übertritt hat der Initiator des Profils, der damals 22-jährige polnische Historiker Piotr Brozek, entgegen gewirkt, indem er von vornherein festsetzte, das Profil beim Erreichen einer Freundeanzahl von mehr als 5000 zu löschen, was im Oktober 2010 geschah. Bis dahin war aber nicht nur die Anzahl von Henios Freunden, sondern auch ihre Internationalität für einen Sechsjährigen mehr als beachtlich und bezeichnet neben der globalen Aufmerksamkeit und Popularität seines Profils u.a. auch die stattfindende interkulturelle Kommunikation auf dessen Seite. Obwohl die Mehrheit der Beiträge in Polnisch verfasst ist – die Seite wurde zunächst im polnischen Facebook veröffentlicht –, kam es nach der Übersetzung in die englische Sprache im Dezember 2009 auch zu fremdsprachigen Beiträgen und Diskussionen zwischen den Angehörigen verschiedener Nationalitäten, wodurch das Profil letztlich eine neue Stufe und endgültig internationalen Status erreichte.785 Zu den geposteten Fotos, Karten und Nachrichten gesellten sich nach einiger Zeit auch rege Kommunikationsforen sowie externe Fanseiten, deren Inhalte von positiven Bekundungen bis hin zu rechtspopulistischen Beschimpfungen reichten. Diese Kommunikation zwischen den ‚Freunden‘ und ‚Gegnern‘ Henios sowie die Unterhaltungen der registrierten Freunde, die sich u.a. über völlig Alltägliches austauschen und damit das Schicksal Henios ausblenden, ist als der eigentliche kommunikative Zugewinn dieser Seite zu betrachten. Auch Henio selbst wurde in die Unterhaltungen als ‚natürliche Person‘ mit einbezogen und Fragen an ihn zwar nicht umgehend, sondern meistens verzögert über Piotr Brozek, den zugleich auch Supervisor der Seite, beantwortet, so dass die Kommunikation auf ein Sprechen über Henio und nicht mit Henio um- bzw. ausgelagert wurde. Der Entstehungshintergrund des Profils dieses bis dahin unbekannten Holocaust-Opfers offenbart sich dem Nutzer Facebooks erst durch – in diesem Fall geradezu naturgemäß – digitale Recherchen. Ein Link auf Henio Zytomirskis Profilseite führt auf die Homepage des Kulturvereins „Grodzka-Tor – Theatr NN“ der Stadt Lublin, die zugleich Heimatort zu Henios Lebzeiten war und heute Ausstellungsort 784 Der Wert stammt aus der Facebook-Statistik vom Dezember 2010. 785 Siehe zu den Entwicklungen der Seite auch: D. de Bruyn: World War 2.0, S. 58 f.

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seiner Geschichte ist. Zu dem Projekt „Das große Buch der Stadt“, welches 1998 ins Leben gerufen wurde und die jüdische Geschichte der polnischen Stadt dokumentiert, steuerte auch Henios Kusine Neta Avidar die Familiendokumente und Fotos der während des Nationalsozialismus‘ getöteten Familie Zytomirski bei. Neben einer Fotoausstellung im Jahr 2007 veranstaltet das Kulturzentrum seit 2005 auch die jährliche Aktion „Letters to Henio“. Seitdem schreiben Anwohner Lublins am 19. April, dem polnischen Gedenktag zum Aufstand im Warschauer Ghetto, Briefe an den Jungen Henio Zytomirski. Die Briefe werden an einen ausgewiesenen Briefkasten versendet, der sich an genau jenem authentischen Ort befindet, vor dem das Profilfoto und zugleich eines der letzten Fotos Henios aufgenommen wurde. Der Briefkasten bildet so eine Art ‚aktiven Stolperstein‘, der nicht betreten, dafür aber ‚befüllt‘ werden kann. Nachdem die Briefe mit dem Verweis „unbekannte Adresse/Empfänger unbekannt“ an ihre Absender zurückgeschickt wurden, konnten sie anschließend auf einer Pinnwand im Kulturhaus ausgestellt werden. Der im Kulturhaus beschäftigte Historiker Brozek dokumentierte diese Briefe zunächst auch online und übertrug dann schließlich die reale Pinnwand der Ausstellung auf die virtuelle des sozialen Netzwerkes Facebook und erstellte damit das Facebook-Profil von Henio. Folglich ermöglichte Brozek dem Holocaust-Opfer Henio Zytomirski nicht nur die digitale Veröffentlichung seiner Biographie, sondern im Sinne der Facebook-Eigenschaften eine virtuelle Identität, ‚Wiedergeburt‘ und Sprache. Auch wenn Henio Zytomirskis biographisches Andenken durch die mittlerweile vollzogene Profillöschung zwar dem Gruppenstatus entgangen ist, zu einer Person des ‚öffentlichen Lebens‘ wurde Henio dennoch. Mit seinem Gruppenstatus hätte er zudem posthum zur ‚Ikone‘ – und damit zur ‚Opferikone‘ des Holocaust? – erklärt werden können. 3.3.1 Henio Zytomirski als ‚Ikone‘ „Um zu wissen, muss man sich ein Bild machen.“ GEORGES DIDI-HUBERMANN/BILDER TROTZ ALLEM

Unsere mediatisierte Öffentlichkeit wird von Bildern bestimmt, die sich in einem permanenten Widerstreit und der Konkurrenz um Eindringlichkeit und Bedeutung zu befinden scheinen. Noch nie zuvor hat das Visuelle derart stark in schier jeden Bereich öffentlicher, privater und politischer Kontexte eingegriffen, noch nie war die ‚Macht der Bilder‘ und Ikonisierungen derart omnipräsent wie in unserer visuellen Gegenwartskultur.786 Ein in diesem Sinne bedeutsamer Iconic- oder Pictorial 786 Vgl. einführend u.a.: Schade, Sigrid/Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011.

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Turn ist zweifelsohne mit den Ereignissen des 11. September 2001 einhergegangen – eine Zäsur im politischen Weltgefüge und in der kulturellen Bedeutung von Visualität im öffentlichen Raum. Nicht nur die Ereignisse des Tages selbst, auch die nachfolgenden Kriege gegen den Terrorismus werden seither oft als „Bilderkriege“ tituliert, da sie jene Bildgewalt zum Ausgangspunkt haben, welche sich durch die Fernsehbilder und Fotos der brennenden und einstürzenden Türme des World Trade Centers in das Menschheitsgedächtnis eingebrannt haben.787 Von jener Bildintensität ausgehend scheint es heute immer wieder darum zu gehen, noch eindrucksvollere (Ab-)Bilder von Situationen und Ereignissen in den Umlauf zu bringen. Hinzu tritt dabei, dass die Bilder selbst in Konkurrenz zueinander geraten, „sie ihre Einzigartigkeit zu verlieren drohen und es immer stärkerer Bilder und Darstellungsformen bedarf“788 , um kurzfristig Aufmerksamkeit oder dauerhafte Authentizität und Wirkung zu erlangen. Dabei treten auch Bereiche diesem Wettbewerb bei, die lange Zeit einer gewissen Immunität oder Tabusierung unterlagen. Dies ließ sich jüngst besonders eindringlich in dem Widerhall politischer Nachrichten in den neuen Medien erkennen. Als der über viele Jahre hinweg meist gesuchteste Terrorist Osama Bin-Laden am 2. Mai 2011 von Sondereinheiten des US-Militärs getötet wurde, kamen in der Öffentlichkeit prompt Forderungen nach einem visuellen Beweis, sprich einem Foto des Toten auf. Für kurze Zeit schien es für die Weltöffentlichkeit unverzichtbar, ein ‚Beweisfoto‘ von dem toten Bin-Laden zu erhalten. Da dieser Forderung nicht entsprochen wurde, übernahm ein anderes Bild quasi die stellvertretende Beweisführung für den Tod Bin-Ladens. Das Foto, welches den amerikanischen Präsidenten Barack Obama während der Lifeschaltung zur Überwältigung und der anschließenden Tötung Bin Ladens samt seines obersten Regierungsstabs im ‚Situation Room‘ des Weißen Hauses inklusive – und dies ist für die Ikonographie des Fotos besonders relevant – der entsetzten Außenministerin Hilary Clinton zeigt, wurde als Zeitpunkt und unmittelbare Reaktion auf die Tötung Bin-Ladens bestimmt. Clintons Mimik des Entsetzens gab dem Foto und damit der medialen Öffentlichkeit den pathetischen Ausdruck, den es benötigte und das Foto ging nicht nur für das Jahr 2011 in die Geschichte der politischen Ikonographie ein.789 Im Fall des ebenfalls im Jahr 2011 getöteten Libyschen 787 Siehe dazu u.a. die Beiträge in: Poppe, Sandra/Schüller, Thorsten/Seiler, Sascha (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2011 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript 2009. Mitchell, William J.T.: „Den Terror klonen. Der Krieg der Bilder 2001-2004“, in: Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.): Iconic Worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume, Köln: DuMont 2006, S. 255-286. 788 G. Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung, S. 27. 789 Siehe zur ausführlichen Kontextualisierung des Bildes u.a.: Diers, Michael: „‚Public Viewing‘ oder das elliptische Bild aus dem ‚Situation Room‘ in Washington. Eine An-

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Machthabers Mohammed Al Gaddafis gab es sogar bewegte Bilder – vermutlich aufgenommen von Handykameras anwesender Rebellen – von der Verwundung, Tötung und Schändung des Diktators, deren Veröffentlichung in den neuen Medien jedoch scharf kritisiert wurde. Hier löste die in Echtzeit übertragene und einer globalen Weltöffentlichkeit zur Schau gestellte Veröffentlichung von Videos und Fotos eines sterbenden und toten Menschens eine Debatte über die moralische Anstößigkeit solcher Bilder und die Verletzungen ethischer Konventionen und Privatsphären-Grundrechte eine sogenannte ‚Post-Privacy-Debatte‘ aus. „Digitale Technologie mag dazu beigetragen haben, den Arabischen Frühling herbeizuführen, was die Region, wenn nichts schiefgeht, demokratischer und damit in unserem Sinne zivilisierter machen könnte. Digitale Technologie eignet sich aber auch, Akte fern jeglichen zivilisierten Handelns nahezu in Echtzeit zur Information – oder zur Unterhaltung? – einer globalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und auch diese, humanistischen Idealen so gar nicht entsprechende Form ihrer Anwendung wird offenbar weltweit dankbar aufgenommen.“790

Die beiden Beispiele zeigen zweierlei: Zum einen, dass wir es in der Gegenwart mit einem enormen Angebot, aber auch einer gleichwohl unersättlichen Nachfrage an Bildern zu tun haben, die zum anderen auch nicht vor Tod, Mord, Verbrechen und moralisch-ethisch sensiblen Themen zurückschrecken. Mehr noch als dies Beispiele für die Post-Privacy-Debatte sind, sind es vor allem auch Zeichen, an denen sich die Frage nach ‚Moral Correctness‘ und der Überschreitung jener Grenzen des guten Geschmacks entfachen und unter dem Begriff der „Moral Panic“791 die (Präsentations-)Macht der neuen Medien kritisch betrachten lässt. Dass speziell die Holocaust-Gedenkkultur von je her die Verbote, Grenzen und Möglichkeiten der visuellen Repräsentation der Vergangenheit fokussiert und dabei stets die Darstellungsmethoden immer wieder auch in moralischen und ästhetischen Zweifel gezogen hat, ist bekannt und selbstverständlich keinesfalls konsequent auf die Entwicklungen der neuen Medien zurückzuführen. Die Debatte über Sinn und Bedeutung von Bildern des Holocaust wurde erstmals unmittelbar nach dem näherung“, in: Hoffmann, Felix (Hg.): Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror, Berlin: Verlag der Buchhandlung Walther König 2011, S. 308-354. 790 Stöcker, Christian: „Weltöffentlicher Lynchmob“, in: Spiegel online, 21.10.2011. Siehe: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,793154,00.html vom 02.02.2012. 791 Der Begriff „Moral Panic“ stammt ursprünglich aus der anglistischen Soziologie, genauer von: Cohen, Stanley: Folk Devils and Moral Panics, London: MacGibbon and Kee 1972. Gegenwärtig beschäftigt sich vor allem die (Jugend-)Kriminologie mit dem Phänomen der Bedrohung gesellschaftlicher, moralischer Werte und des Jugendschutzes durch die neuen Medien.

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Kriegsende anhand der Fotos und Videoaufnahmen der Alliierten bei der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager geführt. Die visuellen Zeugnisse eines unvorstellbaren Schreckens gelten auch heute noch als die „Ikone[n] der Vernichtung“792, durch deren Intensität die Empathie mit den Opfern und das imaginierte Nacherleben zur Disposition gestellt wurden. Hieran schließen sich traditionsreiche Diskurse und Debatten über die visuelle Darstellbarkeit des Holocaust im Allgemeinen, die Möglichkeit und die Unmöglichkeit ihrer Ästhetik im Speziellen sowie die Sinnhaftigkeit einer Opferidentifikation an. In ihren Ausläufern und auf aktuelle Beispiele angewandt sind diese Themen auch heute wahrnehmbar als Fragen nach dem ‚richtigen Ton‘, dem ‚falschen Bild‘ und Political- bzw. Memorial Correctness. Auch an Henio Zytomirskis Facebook-Profil werden diese Fragestellungen und Debatten herangetragen, denn auch Henio wird – zumindest auf den ersten Blick – durch Maßgabe seines Profils zu einer ‚Ikone des Holocaust‘ stilisiert. „Ikonen mobilisieren individuelle Affekte, binden öffentliche Aufmerksamkeit und modellieren individuelle und kollektive Erinnerungen.“793 Vor allem in unserer visuell geprägten Gegenwart besitzen Ikonen die Eigenschaft zu „Schlüsselbildern für Epochen und Zäsuren“ sowie zur Gliederungseinheit für historische Narrative und Generationen zu avancieren.794 Dabei können Ikonen Geschichtsbilder stabilisieren sowie die Identifikation mit bestimmten kollektiven Erinnerungen befördern und dadurch die nachträgliche Teilhabe an historischen Geschehnissen ermöglichen. Die Bebilderung der Geschichte und das Porträtieren der anonymen Opfer ist gerade für die junge Generation, die den Holocaust über einen „unsortierten Fundus an Bildern […], die sie beiläufig in ihrer westlich massenmedialen Umwelt aufgenommen haben“795, unabdingbar. Dennoch sind hier die Kontexte entscheidend, um nicht der Gefahr wesentlicher unreflektierter semantischer Verkürzungen durch einen einseitig begrenzten und subjektiv sentimentalisierten Fokus aufzusitzen. Zum einen wird bei ikonisierenden Vorgängen wie im Fall des Holocaust-Opfers Henio Zytomirskis symbolisch eine epochale Geschichte auf die wenigen Seiten einer Lebensgeschichte, eines Internetprofils, übertragen. Zum anderen läuft die Konzentration auf das eine standardisierte ‚Superzeichen‘, das stellvertretende, 792 Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin: Akademie 1999. 793 Leggewie, Claus: „Von der Visualisierung zur Virtualisierung des Erinnerns“, in: Meyer, Erik (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a.M..: Campus 2009, S. 9-29, hier S. 9 f. 794 Vgl. C. Leggewie: Von der Visualisierung zur Virtualisierung des Erinnerns, S. 10. 795 Assmann, Aleida/Brauer, Juliane: „Bilder, Gefühle, Erwartungen. Über die emotionale Dimension von Gedenkstätten und den Umgang von Jugendlichen mit dem Holocaust“, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 72-103, hier S. 88.

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personalisierte Opfer mit Namen Henio Zytomirski, darauf hinaus, dass der Gesamtzusammenhang nur reduziert wahrgenommen werden kann, sich die Perspektive verengt und durch die visuelle Übermacht simplifiziert. Auf der anderen Seite bieten sich Ikonen aber auch gerade dazu an, über Generationen hinaus sinnbildend und Identitätsstiftend zu sein. Historische Ikonen besitzen die Eigenschaft, dem historischen Wandel eine gewisse Kontinuität und Stabilität zu verleihen und diesen so in einem größeren Kontext verortbar zu machen. Für die junge Mediengeneration sind visuelle Ikonen und Idole maßgeblich gemeinschafts- und identitätsstiftend. Durch die Verlagerung des Kommunikationsraumes der jungen Generation in das Internet werden dort vorhandene Ikonen- oder ‚Fanbilder‘ zur generationellen Verständigung herangezogen und machen damit auch adaptiv historische Zusammenhänge erfahrbar: „Da historische Ereignisse als Erfahrung nicht mehr wiederholbar sind, setzen sich solche medialen Repräsentationen an die Stelle historischer Erfahrung.“796 Die Symbolisierung personalisierter Opferbiographien zu ‚Ikonen der Vernichtung‘ besitzt in der medialen Repräsentation des Holocaust eine lange Tradition. Anne Frank ist hierfür sicherlich das populärste Beispiel als Ikone schlechthin, ähnlich auch die Geschwister Scholl, deren verfilmte Lebensgeschichte fast jährlich im TV ausgestrahlt wird. Auch Gedenkstätten und Museen arbeiten mit Fotomaterial und der Ausstellung personalisierter Opferbiographien. Mit den neuen medialen Möglichkeiten werden diese Geschichten nun auch in die neuen Medien übertragen und gehen dort z.T. neuartige Darstellungs- und Reflexionsformen ein. Die Ikonisierung der Opfer in den virtuellen Medienformaten korrespondiert dabei mit der massenwirksamen, aufmerksamkeitsökonomischen Medienkulturentwicklung in der Erlebnisgesellschaft, welche Aufmerksamkeit als neue Währung einsetzt und daraufhin ausrichtet. Die dabei häufig stattfindende Symbolisierung und Kommerzialisierung ist darüber hinaus ein ebenfalls bekanntes Phänomen, welches sich auch im Hinblick auf andere Personen(-Gruppen) und Ereignisse in Bezug bringen lässt und für das sich insbesondere in der Popkultur einige Beispiele finden lassen. Bilder und stellvertretende ikonische Zeichen sind in unserer Medienwelt zum signifikanten Beschreibungsmerkmal von unterschiedlichen – politischen, historischen, alltagsweltlichen – Kulturen geworden. Jede Generation hat ihre eigenen Generationsobjekte und unter bestimmten gruppendynamischen Bedingungen werden diese Personen oder Objekte zu Ikonen einer ganzen Generation auserkoren. In der PopGeneration sind derartige Vereinnahmungen längst Gang und Gebe, hier wimmelt es nur so von ‚Popstars‘ und entsprechenden Fankulturen – unter anderem auch auf Facebook und YouTube. Diese Tatsache macht einen markanten Faktor der Generationenidentität aus und ist substanziell für die Gemeinschaftsbildung und Identifikation mit Gruppen in Sozialisierungsprozessen. Auch Henio Zytomirskis Facebook796 G. Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung, S. 29.

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Profil stand wie erwähnt kurz davor, zur Fanseite erklärt zu werden. Aber ist damit seine Personalie sogleich einer ‚Ikone‘ oder gar einem ‚Idol‘ gleich zu setzten? Können und vor allem dürfen wir Henio als Generationsikone der Generation Pop vereinnahmen? Es ist anzunehmen, dass Piotr Brozek dieser möglichen Vereinnahmung entgegen wirken wollte, als er im Oktober 2010 das aktive Profil Henios löschte. Neta Avidar sah in der virtuellen Existenz Henios ohnehin das prinzipielle Gegenteil von ‚lauter‘ Pop- und Fankultur, nämlich ein Symbol der Ruhe: „Er bringt Ruhe in diese Welt, weil er nicht antworten kann. Er ist der Junge, der nicht antworten kann, weil er ermordet wurde. Die Leute sprechen zu ihm und schicken ihm Nachrichten, doch Henio steht für die Stille einer Welt, die der Holocaust zerstört hat.“797

Piotr Brozek verfolgte von Anfang an das Ziel, Henios Profil wieder zu löschen, um so u.a. auch den Verlust und die Leere zu symbolisieren, die der Holocaust in der Gesellschaft und im übertragenen Sinn in der Facebook-Community hinterlassen hat. Nach der Löschung der aktiven Profilsseite gibt es nun eine statische ‚Gedenkseite‘, auf der die wesentlichen Informationen zu Henio Zytomirski und dem Projekt des Kulturvereins verzeichnet sind.798 Es sind somit längst nicht alle Spuren Henios von Facebook, geschweige denn aus dem WWW verschwunden. Die Gedenkseite sowie die im Internet nach wie vor zu recherchierenden Kontexte bleiben auch dann im Umlauf, wenn diese Erinnerungsperformance eigentlich längst schon beendet ist. Wie bereits an aktuellen Beispielen kenntlich gemacht, geht die Entwicklung einer visuellen und digitalen Kultur auch mit einer sich stetig verändernden „ikonische[n] Öffentlichkeit“799 einher. Dies bedeutet für die Etablierung von Massenphänomen wie Ikonen einer Generation oder eines historischen Ereignisses, dass sie zunehmend als visuelle Medienereignisse einer Eventkultur wahrgenommen und von der Erlebnisgesellschaft reproduziert werden. Aus der Präsenz visueller, optischer Massenmedien in unserem Alltag heraus gerät selbst das, was lange Zeit als nicht darstellbar oder besonders schützenswert gegolten hat, zunehmend unter den „Zwang zur Visualisierung“800 , denn nur was bildlich und medial ‚ansprechend‘ aufgearbeitet und dargeboten wird, kann in der Dynamik der Gegenwart und unter 797 Neta Avidar, in: 3sat online, Kulturzeit, 08.03.2010. Siehe: http://www.3sat. de/ page/?source=/kulturzeit/themen/142553/index.html vom 04.05.2012. 798 Siehe: http://www.facebook.com/zytomirski?sk=wall&filter=12#!/pages/Henio-Zytomirski/179230132088307?rf=103491963037666 vom 14.06.2012. 799 Meyer, Marion: „Politische Vision“, in: Hofman, Wilhelm (Hg.): Die Sichtbarkeit der Macht. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Visuellen Politik, BadenBaden: Nomos 1999, S. 15-26, hier S. 19. 800 G. Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung, S. 26 f.

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der konkurrierenden „Aufmerksamkeitsökonomie“801 der Medien und ihrer Bilder Bedeutung erlangen. Ähnliches prophezeite ja auch Aleida Assmann, als sie der Gedächtniskultur eine Tendenz zur Kultur der Aufmerksamkeit attestierte. Für Henio Zytomirski kann diese Tendenz bedeuten, dass er selbst bzw. seine Biographie zu einem ‚aufmerksamkeitsökonomischen Produkt‘ in einem populären Ereignismedium transformiert wird. Ob wir in dieser Entwicklung nun einen Zugewinn durch die globalen medialen Veränderungen sehen oder sich hier ein Ausdruck der „Schattenseiten der Globalisierung des Holocaust im Netz“802 zeigt, soll noch diskutiert werden. 3.3.2 Mediale Transformationen Nüchtern auf die bloße mediale Beschaffenheit des Facebook-Profils Zytomirskis herunter gebrochen ließe sich das Projekt als eine Transformation von der analogen, musealen Ausstellung des Kulturhauses Lublins in die digitale Ausstellung in einem sozialen Netzwerkmedium betrachten. In seiner interaktiven Projektanlage werden die „Letters to Henio“ nicht mehr an eine unbekannte Postadresse verschickt und an den Absender unbeantwortet zurückgesandt, sondern als digitale Postkarten in Form von Postings an Henios bzw. stellvertretend an Brozeks Profiladresse gerichtet, der diese zunächst ebenso unbeantwortet lässt. Brozek stellt als nächsten Schritt dann nicht mehr die handgeschriebenen Briefe an der Leinwand im Kulturzentrum aus, sondern die digitalisierten Nachrichten auf der virtuellen Pinnwand von Facebook. Dieses Verfahren der Digitalisierung von historischen Dokumenten und Opferprofilen bzw. -Biographien durch die Transformation traditioneller in digitale Medien wird auch von Institutionen der konservativen Gedenkkultur seit einiger Zeit praktiziert. Einer der Wegbereiter der auf diese Art digitalisierten Erinnerungskultur ist z.B. die israelische Gedenkstätte Yad Vashem mit ihrer weltweit größten Sammlung biographischer Daten von Holocaust-Opfern, die als „Pages of Testimony“ auch in einer digitalen Version verfügbar sind und außerdem seit einiger Zeit das zusätzliche Feature besitzen, über eine Suchmaske online in der Datenbank der Gedenkstätte nach Angehörigen und Freunden forschen zu können.803 Wer nicht mehr über ein aussagekräftiges Familiengedächtnis verfügt, kann nun im OnlineGedächtnis der Datenbank nach Verwandten, deren Schicksal und schließlich auch nach der eigenen Familiengeschichte recherchieren. Die israelische Gedenkstätte hat sich als eine der ersten großen Institutionen auf die Fahnen geschrieben, „die

801 Vgl. Rötzer, Florian: „Aufmerksamkeit als Medium der Öffentlichkeit“, in: Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hg.): Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 35-58. 802 G. Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung, S. 24. 803 Siehe: www.yadvashem.org.

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Geschichte des Holocaust durch Einbeziehung modernster Technologien zu vermitteln“804. Individuelle Erinnerungsmedien wie z.B. das Fotoalbum, das Tagebuch oder die Autobiographie sind Teil des archivierten kulturellen Gedächtnisses, in dem es gegenwärtig zu Transformationsprozessen kommt, die u.a. eine Re-Kommunikation der individuellen Erinnerungen ermöglichen. Das kulturelle Holocaust-Archiv ist in dieser Art nicht mehr ausgestellte Reliktensammlung, ebenso wie auch die kommunikativen, individuellen Erinnerungen nicht mehr nur in der Face-to-FaceKommunikation oder der kommunikativen Tradierung zu suchen sind, sondern lässt sich auch in digitalen Formaten aufspüren. Ein anschauliches Beispiel dieser kommemorativen Re-Kommunikation ist die ‚Online History‘, welche die Verfahrensweisen der ‚Oral History‘ in die digitalen Medien überträgt und damit die verstummten Stimmen der Zeitzeugen wieder zum Sprechen bringt. Beispielhaft hervorzuheben ist hier das Projekt „Visual History Archive (VHA)“ der Shoah Foundation, welche von dem Regisseur Steven Spielberg initiiert wurde und die digitalisierten Interviews von 52.000 Holocaust-Überlebenden aus 56 Ländern und in 32 Sprachen umfasst.805 Ein weiteres internationales Mammutprojekt zur Bewahrung individueller Erinnerungen und der Stimmen ihrer Träger findet sich auf „Centropa“, „an interactive database of jewish memory“.806 In ihrer Intention und Durchführung nicht unähnlich dem Beispiel Facebooks werden also durchaus auch von anderen, institutionellen Stellen zwar keine Erinnerungsperformances, aber doch Transformationen der Erinnerungen in den virtuellen Raum vorgenommen und damit zugleich Inhalte aus dem kulturellen Gedächtnis wieder in den kommunikativen Umlauf gebracht. Anstelle eines ‚Verschwindens‘ von Geschichte können auf diese Art die Narrative wieder der Kommunikation und – durch die alltagsrelevanten Eigenschaften der neuen Medien – der Alltagskommunikation zugeführt werden. Das Internet transformiert als „Spiegel des kommunikativen Gedächtnisses einer Gesellschaft“807 die Strukturen und Inhalte des kulturellen Gedächtnisses und führt sie einem neuen, aktuellen Kontext zu. Für das Facebook-Beispiel bedeutet dies, dass sich die inszenierte Transformation Henio Zytomirskis Erinnerungen als Facebook-Profil ebenfalls in der Tradition konventionel804 J.-A. Heyer: Anne Frank postet noch. 805 Siehe: http://college.usc.edu/vhi/ vom 09.11.2011. Eine Kurzbeschreibung sowie die Einbettung in aktuelle kulturwissenschaftliche und medienpädagogische Forschungsfelder leisten u.a.: A. Assmann/J. Brauer: Bilder, Gefühle, Erwartungen, insbesondere S. 94-97. 806 Siehe: www.centropa.org. 807 Dornik, Wolfram: „Gedächtnisorte im Internet. Nichts Neues im virtuellen Raum!?“, in: eForum Zeitgeschichte Österreichs, 3. Jg. 2003/Nr. 1-2. Siehe: http://www.eforumzeitgeschichte.at/1_2_2003a10.pdf. vom 22.11.2011.

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ler Erinnerungsmedien und ihrer Selbstinszenierungsformate wie dem autobiographischen Roman, dem Tagebuch, Fotoalbum oder Video verortet und damit einen Beitrag zur Transformation des kulturellen Gedächtnisses leistet. Eine ‚Erinnerungskultur auf Facebook‘ bündelt somit eine große Anzahl traditioneller Erinnerungsmedien und -Verfahren, transformiert deren Eigenschaften und subsummiert sie sogleich unter den Möglichkeiten der neuen Medien. Die Bedingungen dazu erscheinen in den neuen Medien geradezu ideal. Die Geschichte und Person Henio Zytomirskis wird durch das Fotoalbum, welches fester und – im Sinne der „Selbstdarstellungs- und Selbstmanagement-Mentalität“ 808 Facebooks – zugleich auch wichtiger Bestandteil der Facebook-Identität ist, überhaupt erst sichtund identifizierbar. Mit der ‚visuellen Spur‘, welche sich durch die chronologischen sowie diachronen Fotoserien legt, werden Rückschlüsse auf Henios Lebensgeschichte und damit Bedeutungszusammenhänge ermöglicht, die den erforderlichen Kontext generieren.809 Das Foto bzw. das Fotoalbum als seine Steigerungsform im Zusammenschluss von Bild- und Textinformationen ist ein „besonders leistungsfähige[s] Medium des individuellen Gedächtnisses“810 und ein wichtiger „Stabilisator der Erinnerung“811. Mit dem Fotoalbum auf Henios Profilseite legt Brozek einen digitalen Foto- und Informationsspeicher sowie mit den fingierten, sich anschließenden Erzählungen eine Darstellung der Geschichte Henios an, welche die Lebenszeit Henios überdauert. Als traditionelles Mediengedächtnis vereint das Fotoalbum die beiden Faktoren Konservierung und Speicherung und kann damit als Erinnerungsort relevant gesetzt werden, jedoch nur dann, wenn die Fotos entsprechend mit Sinn aufgeladen, sprich kommentiert und in einen Kontext gestellt werden. „Ihre Bedeutung [Bedeutung von Fotos – K.F.] ergibt sich zum einen aus dem Wissen, mit dem wir sie betrachten und zum anderen aus den sie begleitenden Texten.“812 Durch den Wegfall der allwissenden oder autobiographischen Erzählinstanz, welche durch die Chronologie einer Erzählung führt oder die – um im Bild des Erinnerungsortes zu bleiben – ausgestellten Exponate erklärt, ist der Rezipient des digitalen Textes auf Facebook selbst aufgefordert, eigene Entscheidungen und Kon-

808 Zum „Selbstmanagement“ auf Facebook siehe u.a.: Reichert, Ramón: Amateure im Netz, Bielefeld: transcript 2008. 809 Zur Bedeutung der ‚Spur‘ in Vergegenwärtigungsprozessen von Vergangenheit siehe u.a.: Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Die erzählte Zeit. Band. 3, München: Wilhelm Fink 1991. 810 C. Leggewie/E. Meyer: Collecting Today for Tomorrow, S. 278. 811 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 249. 812 Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 270.

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texte zu akkumulieren.813 Als ursprüngliche Träger individueller Erinnerungen werden Henio Zytomirskis Fotos durch ihre Ausstellung auf Facebook in ein Mediengedächtnis transformiert, welches unter den genannten Bedingungen des WWW jedoch nicht als Speicher, sondern als veränderbare, vernetzte Spur fungiert. Inwiefern Henios Profil dennoch zum „generationenüberdauernden Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität“814, vor allem aber zum Anlass aktiven Erinnerungshandelns werden kann, entscheidet darüber hinaus nicht der Urheber, in diesem Fall der Historiker Brozek, sondern die User-Community. Als virtuelle Gemeinschaft wählt sie im Netz der unendlichen Geschichten ihre Geschichtsbilder und Gedächtnisikonen aus, „gruppiert“ sich um diese herum und geht damit eine „freiwillige Mitgliedschaft“ zu bestimmten Erinnerungsangeboten ein.815 Mit dem virtuellen Profil Henio Zytomirskis und der Aufforderung, selbst durch das Posten von Nachrichten, durch die Verlinkung mit anderen, das Einstellen von Fotos etc. aktiv zu werden, wird nicht nur im Sinne des sozialen Mediums eine (inter-)aktive und (inter-)kulturelle Kommunikation ermöglicht sowie Interessensgruppen gebildet, sondern auch in Form dynamischer Erinnerungskulturen ein lebendiges und aktives Erinnerungshandeln erprobt. Der virtuelle Raum Facebooks wird so in seiner Definition als Kontakt- und Kommunikationsraum zum Aktionsort für Erinnerungshandlungen. Dass das Facebook-Profil neben all seinen Innovationen und Features letztlich unter medialen Transformationsaspekten kaum mehr als eine digitale Weiterentwicklung des Tagebuchs bzw. eine digitale Autobiographie ist, lässt sich an Henios Profil zeigen. Überträgt man die periodischen und sporadischen Erzähleigenschaften des Facebook-Tagebuchs auf die nächst ‚höhere‘ literarische Stufe der Autobiographie, welche dann ein umfassenderes Panorama der Geschichte einer Person, eines Lebens, einer Familie und einer Zeit beinhaltet, wird der Facebook-Text fast selbstverständlich zum Medium individueller Erinnerungen und in seiner materiellen Form zum Bestandteil des kulturellen Erinnerungskanons. Wobei hier selbstredend Unterschiede nicht nur in der Materialität, sondern auch im Gehalt, der Literarizität und Sprache bestehen, die dem Medium geschuldet und entsprechend Internet und Hypertext spezifisch sind. Biographisches Erzählen ist im Internet eher als „Durchmischung von Sprach- und Schriftkultur“ und durch Dynamik und Kurzlebigkeit gekennzeichnete „reziproke Kommunikationssituation“816 zu bezeichnen denn als autobiographisches Erzählkontinuum. Dennoch enthält auch der Hypertext 813 Ein ähnliches Verfahren wendet auch Kevin Vennemann an, wenn er seine Leser ohne eine leitende Erzählinstanz und ohne erzählerische Struktur in das Dickicht seiner Geschichte entlässt. 814 E. Francois/H. Schulze: Deutsche Erinnerungsorte, S. 17 f. 815 Vgl. C. Leggewie/E. Meyer: Collecting Today for Tomorrow, S. 279. 816 B. Becker: Selbst-Inszenierung im Netz, S. 422.

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der Facebook-Biographie Strukturen, die als Identitätsstabilisatoren funktional sind und somit als Opfer-Autobiographie kanonisierbar werden. „Im Gegensatz zum Tagebucheintrag oder dem Familienfoto werden die meisten massenmedialen Inhalte nicht zum Zweck der Archivierung und späteren Rezeption angefertigt, sondern sie sind gerade durch ihre je aktuelle Bedeutung charakterisiert“817 und erheben damit keinen Anspruch auf Kontinuität und Dauer. Als wollten die Facebook-Verantwortlichen speziell diesem Problem nachkommen, gibt es seit Dezember 2011 die Facebook-Funktion „Timeline“/„Chronik“.818 Zunächst als freiwilliger Dienst eingeführt, wurde das Feature ab Februar 2012 zur verpflichteten Profileinstellung für alle Nutzer. Auf einer dünnen, blauen Linie am rechten Seitenrand des Facebook-Profils, einer Art virtuellem Zeitstrahl, werden zurückliegende Daten, Fotos, Wohn- und Arbeitsorte, neue Freunde, Likes usw. unter den entsprechenden Jahreszahlen versammelt und können per Mausklick wieder aufgerufen werden. Neue Einträge werden zugleich automatisch gespeichert und auf der Timeline verortet. Auf diese Weise kann der Nutzer seinen interaktiven Lebenslauf erstellen und seine „Lebensgeschichte mit einem neuartigen Profil erzählen“, wie es bei Facebook heißt. Mit Timeline kann nun jeder Profilinhaber quasi nebenbei und automatisch ein Tagebuch schreiben und zeitgleich publizieren. Timeline remedialisiert auf diese Art nicht nur die Idee vom digitalen Tagebuch, sondern ermöglicht auch die Transparenz alltäglicher Handlungen, die beinahe in Echtzeit auf das ‚virtuelle Zweitleben‘ übertragen und in einen aktuellen Kontext gestellt werden. Auch bedingt dadurch, dass auf diese internettypische Weisen die Flut der immer neuen, immer aktuelleren Daten ungehindert bzw. bewusst gesteuert zunimmt, bleibt die Frage nach dem (dauerhaften) Gehalt von erinnerungskulturellen Angeboten und Erinnerungsperformances im Internet bestehen. Als digitales Format können Inhalte wie individuelle Erinnerungen sowie ihre Kontexte zwar schnell und situationsspezifisch übertragen und angepasst werden, die hohe Fluktuation bedingt aber auch, dass die verifizierbaren Aussagen nur allzu schnell durch andere Inhalte überlagert, aus dem Blickfeld des Users geraten und damit keine oder nur temporäre Nachhaltigkeit erzeugt wird. Damit zusammenhängend ergibt sich auch für Henio Zytomirskis Profil und seine Relevanz als Erinnerungsanlass eine weitere Problemstellung, nämlich die der nicht autorisierten Zugriffe und Fehldeutungen von Erinnerungsangeboten, denn „so eindrucksvoll Kommunikation durch das Internet ausgedehnt und beschleunigt worden ist, so wenig zuverlässig und beständig ist es in seiner Gesamtstruktur“819 . Die Unbeständigkeit des Datenflusses, die ungeklärten Sprecherpositionen und ungeschützten Autorschaften sowie die Gefahr des 817 C. Leggewie/E. Meyer: Collecting Today for Tomorrow, S. 279. 818 Siehe: http://www.facebook.com/about/timeline. 819 A. Assmann: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, S. 56.

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Missbrauchs sind einige der Probleme, welche sich insbesondere bei der Frage nach der Memorial Correctness von Holocaust-Thematisierungen auf Facebook stellen.820 Dabei liegt gerade in der relativen Offenheit auch der große Vorteil des Mediums, wenn es nämlich darum geht, den Rezipienten möglichst aktiv in die Auseinandersetzung und in die Kommunikation mit einzubeziehen. Mit der „Ausfransung von Autorschaft“821 geht so nämlich gleichsam die Möglichkeit des kreativen und aktiven Einbezugs anderer, globaler User einher. Zugleich entspricht die aktive Involvierung des Lesers bzw. Nutzers am Sinngebungsprozess eines (hyper-) narrativen Mediums jenen „modernen Autorenkonzepten“ 822, die sich besonders im ‚virtuellen Schreiben‘ abbilden. Henio Zytomirskis Facebook-Profil ist nach dieser Herleitung eine virtuelle Lebensgeschichte, die, auf einer realen und historischen Person basierend, zum einen von Brozek verfasst und zum anderen von der UserCommunity als stellvertretende Autoren weiter fortgeschrieben wird. Henio Zytomirskis Facebook-Profil ist unter den dargestellten Gesichtspunkten als mediale Transformation traditioneller Erinnerungsmedien und konventioneller Gedenkkultur zu sehen, durch welche sich aber weder die traditionellen Medien entwerten und auflösen noch das Erinnerungshandeln seinem Anlass entzogen wird. Die stattfindende Digitalisierung ist dieser Argumentation folgend letztlich eine, die sich an den Bedürfnissen und den Möglichkeiten unserer Gegenwart orientiert und sowohl das neue Medienrepertoire als auch die neuen Kommunikationsformen mit aufnimmt.823 Mit dem entsprechenden Kontext versehen und als persönlicher Reflexionsort gedacht kann Facebook so zu einem neuen virtuellen Kontaktort für das Erinnerungshandeln werden und vor allem der jungen Generation Geschichte vermitteln.

820 Problematisch ist hier vor allem die nur schwer zu kontrollierende Nutzung des Internets für die Verbreitung von rechtsradikalem und antisemitischem Gedankengut. Im August 2010 veröffentlicht die gemeinsame Stelle der Bundesländer für den Jugendschutz jugenschutz.net seinen Jahresbericht für 2009, in dem sie 1872 deutschsprachige Internetseiten mit rechtsextremen Inhalten aufzählt – eine Steigerung von 10% zum Vorjahr. Siehe: Jugenschutz.net. Rechtsextremismus online – beobachten und effektiv bekämpfen. Bericht 2009 über Recherchen und Maßnahmen, Mainz 2010, S. 2 ff. http:// www.jugendschutz.net/pdf/Projektbericht_2008.pdf vom 04.02.2012. 821 C. Leggewie/E. Meyer: Collecting Today for Tomorrow, S. 289. 822 Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart: J.B. Metzler 2003, S. 118. 823 Hartmut Winkler geht davon aus, dass Wünsche und Bedürfnisse die Entwicklungen der Medien und Technik beschleunigen und dabei gleichzeitig immer neue Begehrlichkeiten geweckt werden. Siehe: Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997, S. 16 ff.

274 I N EUVERHANDLUNGEN DES H OLOCAUST „Der Historiker François Furet sagte 1989, jetzt, nach zweihundert Jahren, sei die Französische Revolution aus der lebendigen Erinnerung der Franzosen verschwunden. Wird es mit dem "Dritten Reich" genauso gehen wie mit der Französischen Revolution? Gut möglich. Manchmal fürchte ich, dass die Monumente dastehen werden, aber niemand mehr hingeht. Aber die Geschichte wird bleiben.“824

Diese Prognose fügt sich der Theorie Pierre Noras, nach welcher Gedächtnisorte zunächst einmal „Überreste“ und „Zeugenberge eines anderen Zeitalters, Ewigkeitsillusionen“ sind.825 Ob sich diese Tendenz des Bedeutungsverlustes monumentaler Denkmale nun aber möglicherweise oder insbesondere durch die Anwesenheit digitaler Monumente und virtueller Denkmale auf Facebook sowie durch Freundschaften mit Holocaust-Opfern abwenden lässt, muss sich erst noch zeigen und bleibt sicherlich ein diskutables Moment in zukünftigen Erinnerungskulturen. 3.3.3 ‚Gesichtsbuch‘ statt Geschichtsbuch? „Eine Vorstellung des Grauens, wenn man sie denn überhaupt erzeugen kann, hat wesentlich damit zu tun, dass wir uns letztlich keine Bilder machen können, von dem, was passiert ist. Das ist eine Form von Reflexion, die ich diesem Profil erst einmal abspreche.“826

Mirjam Wenzel vom Jüdischen Museum Berlin, also einer Institution traditioneller Gedenkkultur, referiert mit ihrer Kritik auf das Dogma der Bilderlosigkeit und Undarstellbarkeit des Holocaust, welches im diametralen Gegensatz zu den offenkundigen Bedürfnissen und Forderungen der Erlebnisgesellschaft nach immer neuen visuellen Sensationen steht. Wenzels Aussage, obgleich sie mit dieser kulturkritischen Haltung keinesfalls allein steht, ist aber auch aufgrund heutiger Lebensumstände zumindest in der Auslegung als Dogmatik nicht aufrecht zu erhalten. Da Wenzel in ihrer Eigenschaft als Leiterin der Medienabteilung des Jüdischen Museums Berlin wohl gerade auch nicht für ein Bilderverbot plädieren will, liegt die Vermutung nahe, dass es in ihrer Kritik an Facebook als Medium der Erinnerungskultur noch um etwas anderes gehen muss. Mirjam Wenzel steht einer Verknüpfung von alltäglicher Onlinekommunikation und Holocaust-Gedenken besonders deshalb skeptisch gegenüber, weil „sich das auf eine Art und Weise mit dem mischt, wie Facebook sonst genutzt wird, nämlich als Social Networking mit Informationen zwischen Freunden, denen man kleine 824 Friedländer, Saul: „‚Die Naivität der Opfer war ein Schock‘. Ein Interview mit Claudia Tieschky und Willi Winkler“, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.01.2011. 825 P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 17. 826 Mirjam Wenzel, in: 3sat online. Kulturzeit, 08.03.2010. Siehe: http://www.3sat.de /page/?source=/kulturzeit/themen/142553/index.html vom 04.05.2012.

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Dinge zupostet.“827 Was aber ist problematisch daran, Erinnerungshandlungen in die Gegenwart des alltäglichen Lebens quasi beiläufig zu implementieren und geht es heute durch den Verlust der Zeitzeugen und das Verblassen der historischen Unmittelbarkeit nicht gerade darum, die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu einem selbstverständlichen Teil der Alltagswelt zu machen? Das Facebook-Profil kann auch als ‚Stolperstein‘ auf der virtuellen Datenautobahn gelesen werden. Auf den realen Straßen gibt es diese Orte des Innehaltens bereits schon länger und seit 2010 wird etwa in Hamburg ein Pilotprojekt zu ‚virtuellen Stolpersteinen‘ durchgeführt, bei dem sich mit einer App per Scan Informationen zu den auf den Steinen eingravierten Personennamen abrufen lassen.828 Der Stolperstein als App auf dem portablen Smartphone fungiert so wie eine Art ‚Memory to go‘ und entspricht auf diese Weise ganz den Bedürfnissen und Lebensweisen unserer dynamischen, unsteten Gegenwart. Die neuen, aktuellen Zugänge zur Vergangenheit, die auch dieses Beispiel markieren sowie die damit erforderliche aktuelle Anpassung der Formen, Formate und Angebote der Erinnerungskultur an die immer neue Bedürfnisse scheint nicht nur durch immer neue Möglichkeiten gefordert zu sein, sondern ist darüber hinaus gemeinhin unstrittig und wird auch von den Vertretern der traditionellen Gedächtniskultur selbst immer wieder betont.829 Dennoch ist ein kritischer Blick auf das Internet als richtiges Milieu für ein aufrichtiges Gedenken an den Holocaust und die Plattform Facebook als der richtige Ort für die Konservierung oder Weitergabe authentischer Erinnerungen eines Holocaust-Opfers sicherlich angebracht. Am Beispiel des Facebook-Profils Henio Zytomirskis kommen nämlich auch Zweifel an der Memorial Correctness dieser Form der Holocaust-Thematisierung auf, denn trotz allem Fortschrittsgedanken schwingt in der fragwürdigen Wiedergeburt Henios als inszenierte ‚Facebook-Ikone‘ und in der Zurschaustellung eines Holocaust-Opfers im gleichen Format wie etwa der Fanseite eines Schauspielers oder Sängers auch der Verdacht der Trivialisierung, Verharmlosung und Marginalisierung mit. Macht die „visuelle Sprache Facebooks den

827 Wenzel, in 3sat online. 828 Es handelt sich dabei um ein Projekt der „Geschichtswerkstätten Hamburg e.V.“, welches von der „Landeszentrale für Politische Bildung“ gefördert wird. Die App ist kostenlos und zeigt neben den Lebensdaten und Kurzbiographien der Opfer auch die Standorte der Steine inklusive Routenplanung. 829 Neben der Gedenkstätte Yad Vashem setzt zum Beispiel auch das Jüdische Museum Berlin zunehmend auf die Implementierung neuer Medien und digitaler Museumskultur. Siehe: www.jmberlin.de. Siehe außerdem die Berichterstattungen zur „Jahrestagung des deutschen Museumsbund“, Stuttgart 2012, z.B. in: Braun, Arienne: „Es geht nur gemeinsam. Wie gönnen sich Museen der Globalisierung stellen?“, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.05.2012.

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Holocaust konsumierbar und masentauglich“830 oder gerät dieses Erinnerungsformat damit nur verstärkt unter den bereits erwähnten populärkulturellen Trivialisierungsverdacht? Welche Bedeutung gewinnt zudem die Variable ‚Öffentlichkeit‘, die der Rezipientenseite der Facebook-Nutzung immanent ist und die hier ‚ungefragt‘ mit den Erinnerungsfragmenten eines Holocaust-Opfers konfrontiert wird. Der enorme Zuspruch unter den Freunden des Profils und seine sich rasch potenzierende internationale Aufmerksamkeit erwirkten schnell jenen mit Popstars und Prominenten durchaus vergleichbaren Fanstatus der Seite, der Wasser auf die Mühlen der Kritiker brachte. „The Henio page, although certainly displaying some of the typical Facebook gestures, tends to ‚behave‘ as a fan page rather than as a profile page, and as such loses a lot of its credibility.“831 Verhindert also wirklich die Popularität, der (beinahe) offizielle Fan-Status der Seite die Relevanz Henios Profils als ‚glaubwürdiges‘, ‚memorial correctes‘ Erinnerungszeichen? An diesen Fragestellungen beweist sich erneut das, was vorher als besondere Innovation Facebooks herausgestellt wurde. Auf Facebook werden die Bereiche Öffentlichkeit und Privates auf das Empfindlichste miteinander verwebt, so dass die Biographie Henios als privates Zeugnis zum öffentlich zugänglichen historischen Dokument wird, jedoch bei fehlendem oder unzureichendem Kontext nicht als historische Quelle, sondern durch Subjektivierung und Ikonisierung sowie auch als intuitive, unreflektierte Freundschaft beansprucht werden kann. Diese Art der Partizipation an sozialen Netzwerken und der Umgang mit Wissen, Daten und Informationen darin lassen sich als ein weiterer Ausdruck eines Copy-and-Paste-Modus‘ der Erlebnisgesellschaft und der Geschichtsaneignung der Delete-Generation begreifen. Das Experiment bzw. Event einer vorübergehenden Freundschaft mit Henio lässt Geschichte, die Geschichte Henios, nicht als gründliche Reflexion einer historischen Quelle, seiner Autobiographie, sondern als eine temporäre Version von Geschichtserleben verfügbar werden. Ein weiterer Punkt ist hier noch einmal kritisch zu reflektieren. Die Fokussierung auf ein personalisiertes Opfer ist in der deutschen wie auch in anderen europäischen – wie hier der polnischen – nationalen Erinnerungsgeschichten seit je her eine probate, aber auch diskutable Praktik des Erinnerns.832 Der neue deutsche Opferdiskurs ist in aller Munde und das, obwohl er im Grunde nichts Neues hervorzubringen hat und zugleich auch von einem erstarkten deutschen „Täterdiskurs“ un830 Vgl. V.B. Georgi: Nationalsozialismus und Holocaust im Selbstverständnis von Jugendlichen, S. 208 f. 831 D. De Bruyn : World War 2.0, S. 59 f. 832 Siehe dazu u.a. die jüngste Publikation von: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart: Klett-Cotta 2010. Außerdem: Sabrow, Martin: „Den zweiten Weltkrieg erinnern“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36-37 (2009), S. 14-20, hier S. 19 f.

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terspült wird.833 Die ausschließliche Opfer-Fokussierung wäre nun auch im Fall von Henio Zytomirskis Facebook-Profil und als Möglichkeit aktiven Erinnerungshandelns wenig zielführend, da die junge Generation per se weder an einem Opfernoch an einem Tätergedächtnis partizipiert und weder das eine noch das andere auf den Seiten von Facebook zu suchen geneigt ist. „Facebook ermöglicht es Dir, mit den Menschen in Deinem Leben in Verbindung zu treten und Inhalte mit diesen zu teilen“ – so lautet der Begrüßungsslogan auf der Startseite von Facebook. Die Kernkompetenz Facebooks könnte damit nicht klarer formuliert sein: Auf Facebook sollen Kontakte und Freundschaften geschlossen und verwaltet werden. Durch die Bezeichnung ‚Leben‘, die sich auf eine unendlich große Bezugsmasse bezieht, – denn wer und was tangiert nicht alles den eigenen, zumal virtuellen Lebensraum? – sind die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Freundschaftsbildung theoretisch unbegrenzt. Dass es somit nicht nur rein technisch möglich ist, über die Leerstelle des Todes hinweg mit einem Holocaust-Opfer befreundet zu sein, schützt dennoch nicht vor der Frage, ob dies denn unbedingt ‚nötig‘ und vor allem angemessen ist und ob durch diese Freundschaft die Vergangenheit wirklich näher in die Gegenwart rückt oder dieses Format nicht doch dazu auserkoren ist, die Bedeutung von Holocaust und Nationalsozialismus zu trivialisieren und wie bei der Ikonisierung den Sinn zu vereinheitlichen und damit zu verkürzen. Die moralische Implikation ist hier immanent wichtig: ‚Darf‘ jeder mit einem fremden Holocaust-Opfer ‚befreundet‘ sein oder wirft ein solcher Einwand nur die unlösbare Frage wieder auf, wem der Holocaust ‚gehört‘?834 Während sich bereits über die moralisch-ethische Korrektheit einer Freundschaftsbekundung mit einem Holocaust-Opfer streiten lässt, wirft die Diskussion des Like-Buttons in diesem Zusammenhang noch einmal ganz neue Fragen auf. Der Like-Button, entstanden aus dem Share-Button vieler Homepages, ist eine ‚Social Plugins‘-Erfindung von Facebook aus dem April 2010 und macht es durch einen einzigen Klick möglich, Zustimmung (‚I like‘) zu einer bestimmten Seite oder einem Inhalt, Artikel oder Foto zu bekunden.835 Auch auf der Profilseite Henio Zytomirskis, die zunächst ohne dieses Feature ins Netz ging, wur833 Zur Problematik des ‚Täterdiskurses‘ siehe exemplarisch die Beiträge in: Paul, Gerhard (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein 2002. 834 Vgl. dazu u.a.: Novick, Peter: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 2001. Die Aktualität dieser Frage beweist zum Beispiel auch eine im Jahr 2011 abgehaltene Vortragsreihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung zum Thema „Wem gehört der Holocaust? Deutungskonflikte im globalen Zeitalter“. Siehe: http://www.hisonline.de/presse/presseinformationen0/ presseinformationen/news/institutsmontag-24-reihe-wem-gehoert-der-holocaustdeutungskonflikte-im-globalen-zeitalter/ vom 05.04.2012. 835 Siehe: http://developers.facebook.com/docs/reference/plugins/like/.

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de im April 2010 ein Like-Button nachträglich eingepflegt, durch dessen Betätigung die Seite also für ‚gut‘ befunden werden konnte. Nun wirft eine solche Beurteilung in diesem speziellen Fall einige Fragen auf, mit denen sich das Gros der ‚Liker‘ vermutlich gar nicht konfrontiert sah. Doch wofür genau bekunden die Nutzer auf dieser Seite ihr Gefallen? Geht es um den Inhalt, also die Diskussionsbeiträge oder um die Gesamtgestaltung der Seite? Gefällt ihnen das Projekt an sich oder seine Intention als Erinnerungsperformance oder erkennen sie es gar nicht als ein solches Projekt und sind getrieben vom Selbstdarstellungszwang und Selbstmanagement nur auf der Suche nach möglichst vielen neuen Freunden und Kontakten? Diese Fragen sind nicht aufzulösen, da die Likes derart inflationär und z.T. auch als Ausdruck der Ironie verwendet werden, dass im Grunde keine Evaluation solcher ‚Spontanquellen‘ für Reflexionsleistungen, Empathie oder weitere Intentionen getroffen werden kann.836 Zudem ist die Like-Funktion auf der Profilseite eines Opfer per se und eines Holocaust-Opfers im Speziellen ein moralisch fragliches Unterfangen. Sein spontanes, persönliches – und durch diese Funktion jedoch sogleich öffentliches – Gefallen an einer Holocaust-Opfergeschichte zu bekunden, erhält auch eine negative Konnotation aufrecht. Darf uns dieses furchtbare Schicksal, welches letztlich Ausgangspunkt und Bedingung dieses Profils ist, überhaupt ‚gefallen‘? Nehmen wir damit nicht in Kauf, auch dieses Geschichtskapitel ‚zu liken‘ und kollidiert diese Geschmacksbekundung dann nicht wirklich mit weit mehr als nur mit dem guten historischen Geschmack? Es kommt also noch eine weitere Ebene hinzu, die hier vermischt wird und die Frage nach der Angemessenheit und moralischen Implikation von Facebook als Erinnerungsmedium bedient. Die Vermischung unterschiedlicher Bereiche von Alltagskommunikation, Social Networking, Fankultur und Holocaust-Gedenken ist ein gewagtes Unterfangen, aber es ist zugleich auch eines, welches in unserer veränderten Medien- und Kommunikationsgegenwart nicht von vornherein abzulehnen ist, da es sich sozusagen ‚natürlich‘ aus ihr heraus entwickelt. Zu Beginn dieses Kapitels über die neuen Medien wurden in Anlehnung an Aleida Assmann drei Faktoren gegenwärtiger sozial-gesellschaftlicher Veränderungen aufgeführt: die mediale Programmierung der Kommunikation, die Universalisierung des Freundschaftsprozesses und die Grenzverschiebungen zwischen Geselligkeit und Einsamkeit. Facebook ist in gewisser Weise also eine völlig logische Konsequenz bzw. das Abbild dieser sozial-gesellschaftlichen und medialen Prozesse und erhebt sogleich in seiner globalen Funktion als soziales Netzwerk den Anspruch, die divergierenden Prozesse wieder zu einer Einheit zusammen zu führen, nach dem Motto: Facebook 836 Beim Börsengang des Unternehmens Facebook im Februar 2012 wurde die Zahl der täglichen ‚Like-Klicks‘ und Kommentare auf 2,7 Milliarden beziffert. Die allmähliche Ablösung des Share-Buttons durch den Like-Button ist darauf zurückzuführen, dass der Nutzer schneller dazu geneigt ist, einen Inhalt zu ‚liken‘, denn zu ‚sharen‘.

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ermöglicht es Dir trotz aller Wandlungen mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Generationen in Kontakt zu treten und Themen transkulturell und transgenerationell zu kommunizieren. In diesem Sinne haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt, dass der neue Kommunikations-, Gemeinschafts- und auch Lebensraum der jungen Generation, an die sich die kommemorativen Angebote heute und in Zukunft zu richten haben, zunehmend jene virtuelle Welt ist, deren Reiz gerade auch in den Möglichkeiten der Vermischung, Gleichzeitigkeit und des ‚Multitaskings‘ liegt. Damit wird eine Verbindung von Social Network und Holocaust-Gedenken zumindest praktikabel. Wenn es das Bestreben von Erinnerungskultur ist, den Holocaust, seine Opfer und die Taten des Naziregimes in das Bewusstsein der Menschen, in den Alltag und über die Möglichkeiten neuer Kommunikationswege wieder in das Gespräch zu bringen, dann müssen die neuen Kommunikationsmedien und damit auch bzw. gerade die sozialen Medien wie Facebook als ausgewiesenes Netzwerk für soziales Handeln mit auf die Agenda zukünftiger Verhandlungen. Denn wenn wir auf Basis von Halbwachs‘ und Assmanns Theorien der sozialen Beschaffenheit von Gedächtnis und Erinnern zukünftiges Erinnerungshandeln als primär sozial geprägte (Re-) Konstruktion und zugleich als fortwährenden Prozess verstehen, dann bietet gerade Facebook als genuin soziales Netzwerk die entsprechenden Rahmenbedingungen für ein andauerndes Work in Progress. „Wir wollten durch diese Ich-Form Geschichte lebendig erfahrbar machen und Menschen dazu bringen, über diese Zeit nachzudenken“.837 In diesem Format einer Erinnerungskultur auf Facebook wird es möglich, die Geschichte und die Erinnerungen Henios durch ihre Transformation in ein hypertextuelles, interaktives Medium lebendig und sein Leben, aber auch die geschichtlichen Hintergründe und Kontexte erfahrbar zu machen, was jedoch unzweifelhaft Anstrengungen verursacht. Die Freunde können derart nicht nur teilhaben an diesem Ausschnitt, dieser Version der Geschichte, sondern sie zugleich teilen und liken und als „hybride Mastererzählungen“ weiterschreiben und weitererzählen.838 Auch dadurch lassen sich neue Gemeinschaften bilden, die sich hier auf der Basis von Fanseiten formieren und erst durch die Einzigartigkeit der Nutzungsbedingungen von Facebook, wie z.B. den Like-Button, gelingen können. Neben dieser praxisorientierten Konnotation als Erinnerungsanlass ist Erinnerungskultur auf Facebook ohne Zweifel auch als Kunstwerk, genauer als Erinnerungsperformance zu betrachten. Als reines Kunstwerk würde das Facebook-Profil dabei selbstverständlich anderen Bewertungskriterien unterliegen und vor allem die Frage nach der Memorial Correctness nur schwerlich auf sich beziehen lassen, denn „bei Kunstwerken steigert sich das Respektieren des

837 Avidar, in 3Sat Kulturzeit. 838 Vgl. W. Internet: Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher, S. 88.

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Werks zur Demut, zur Verehrung, zur Apotheose“ 839. Daher ist es in diesem Umfeld wichtig, den Kunstbegriff spezifischer zu fassen. Durch den medialen Darstellungs- und Aufführungscharakter der Profilseite, besonders aber auch durch seine von vornherein zeitliche Begrenzung gewinnt Henio Zytomirskis Profil den Status einer Erinnerungsperformance, deren Begrifflichkeit für dieses Beispiel wie auch für das folgende YouTube-Video Dancing Auschwitz als Genrebegriff weitergeführt werden soll. Facebook ist dabei gleich eine Erinnerungsperformance auf zweifache Weise: Zum einen werden die Nutzer durch ihre aktive Teilhabe zur Performance angestiftet, zum anderen ist Henios Facebook-Profil selbst eine mediale KunstPerformance in der Art eines digitalen Denkmals. Erinnerungskultur auf Facebook kann also zweierlei gleichzeitig sein: Prozess und Produkt von Erinnerungshandlungen.

4. E RINNERUNGSKULTUR

AUF

Y OU T UBE

4.1 YouTube als ‚Ich-Performance‘ „YouTube […] eine schier unübersehbare Anzahl von in der Regel entkontextualisierten, oftmals sogar nur in Ausschnitten wiedergegebenen Fotos und Filmen, die im Wesentlichen nur die Schaulust der User, aber kein Aufklärungsbedürfnis bedienen und deren Herkunft, Kontext und Authentizität oft völlig unsicher sind.“840

Dass YouTube ebenso wie Facebook per se nicht als klassisches Erinnerungsmedium für das Gedenken an den Holocaust gilt, ist naheliegend und wird mit Gerhard Pauls obigem Zitat unmissverständlich ausgesprochen. So erstaunt es auch ebenso wenig, dass sich die Kulturwissenschaften und ihre angrenzenden Disziplinen zwar sporadisch mit dem Medium YouTube in einigen Überblicksdarstellungen, aber bisher nicht mit seinen Möglichkeiten der Darstellung und Repräsentation von erinnerungskulturellen Inhalten beschäftigt haben.841 Zunächst ist es des Weiteren augenscheinlich, dass YouTube zwar unter Marketingaspekten anerkannt, als Medium historischer Bildung aber unter ferner liefen verhandelt wird bzw. nicht in den Aufmerksamkeitsbereich traditioneller Gedenkkultur fällt. Dies stellt vor allem

839 Schulze, Gerhard: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 240. 840 G. Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung, S. 24. 841 Siehe exemplarisch jüngst die Beiträge in: Schumacher, Julia/Stuhlmann, Andreas (Hg.): Videoportale – Broadcast Yourself? Versprechen und Enttäuschung, Hamburg: Hamburger Hefte zur Medienkultur 2011.

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deshalb ein Desiderat dar, da YouTube als Repräsentativ-Medium und Kommunikationskanal heute in vielen Bereichen von Öffentlichkeit und Kultur relevant ist und so etwa auch für Museen und Gedenkstätten des Holocaust zum Einsatz kommt, wie das folgende kurze Beispiel illustrieren will. Das Süddeutsche-Zeitung-Magazin widmete im November 2011 seinen Titelbericht der YouTube-Version des 200-stündigen Filmmaterials über den EichmannProzess von 1961, welcher zu seinem 50. Jahrestag auf dem YouTube-Kanal der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem veröffentlicht wurde.842 Der Bericht „200 Stunden mit einem Massenmörder“ beschreibt den Selbstversuch des Autors Peter Praschls und verweist bereits im ersten Absatz auf jene grundlegende Unterscheidung zwischen diesem neuen und den traditionellen (Erinnerungs-)Medien, auf die auch Gerhard Paul oben in seiner Unterscheidung von „Schaulust“ und „Aufklärungsbedürfnis“ referiert. „Dass Eichmann so etwas wie der prototypische Massenmörder des 20. Jahrhunderts war […] ist mir auch ohne YouTube klar, ich muss nichts Genaueres über ihn erfahren. Was mich eher interessiert: einem epochalen Ereignis, das sich zutrug, als ich zwei Jahre alt war, als Zeuge beiwohnen zu können.“843

Für das, was ein Produkt historischer Bildung liefern soll – historische Aufklärung, Fakten oder Wissenstradierung – steht der YouTube-Film des Eichmann-Prozesses erwartungsgemäß nur begrenzt ein. Abseits dieser Ansprüche geht es nämlich zuvorderst um das Nah- und Nach-Erlebnis, die Möglichkeit an einem vergangenen historisch bedeutsamen Geschehen nachträglich „als Zeuge beiwohnen zu können“. Diese Zeugenschaft ist eine sekundäre und zugleich freiwillig einzugehende, was auch den Charakter ihrer Erfahrung beeinflusst, die ‚gewollt‘ und damit unter das Prinzip des Work in Progress zu fassen ist. Dies ist insofern ein bedeutsames Merkmal dieses neuen Mediums, da das tatsächliche historische Ereignis des Eichmann-Prozesses mit seinen erstmalig prägnanten Zeugenaussagen 1961 nur akustisch über den Hörfunk als temporäre, zeitlich bestimmte Radioaufnahme zugänglich war. Mit seiner digitalen Übersetzung in den YouTube-Kanal wird nicht nur die Re-Mediation des Prozesses als eine individuelle, zeitlich und örtlich selbstbestimmte Erfahrung möglich, die den Gerichtsprozess mit Bild und Ton auf eindringliche Weise in die Gegenwart implementiert, auch die Zeugenaussagen werden rekommuniziert. Dem Zuschauer wird auf diese Weise suggeriert, „er sei, während er

842 Praschl, Peter: „Der Prozess“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin 44 (2011), S. 10-20. 843 P. Praschl: Der Prozess, S. 12.

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vor dem Bildschirm sitzt, mitten im Geschehen, also tatsächlich ‚dabei‘“844 . Im Hinblick auf das Geschichtserleben der Delete-Generation ist diese temporäre Form der Aneignung charakteristisch und referiert auf die Ambitionen der Erlebnisgesellschaft nach Selbstbestimmtheit und Wahlmöglichkeit, letztlich auch auf den Impuls von Erlebnis und Eventisierung, nach dem Inhalte schnell angeeignet und ebenso schnell wieder durch neue, spektakulärere Inhalte überdeckt werden. Die historischen Hintergründe zu Adolf Eichmann und seinem Prozess werden, wie der Autor Praschl erkennt, in der YouTube-Version nicht durchleuchtet oder erklärt. Praschl hatte die Kontexte des Prozesses bereits zuvor recherchiert bzw. verfügt er über einen entsprechenden Wissenshintergrund, welcher schließlich auch für die Anfangsaufmerksamkeit notwendig ist.845 Während Gerhard Paul durch die Betonung der Sensations- und Schaulust sofort eine negative Konnotation für das Medium YouTube wählt, wird im Selbstversuch des SZ-Autoren ein positiver Effekt der unmittelbaren Teilhabe-Erfahrung in Aussicht gestellt, durch welchen sich das historische Ereignis temporär als ‚wahre Geschichte‘ nachempfinden lässt. In diesen beiden diametralen Positionen wird die Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung unterschiedlicher Erwartungshaltungen erkennbar, die hier – möchte man zwei Fronten eröffnen – zwischen traditioneller, historisch-didaktischer Vermittlung und innovativerer dynamisch-aktiver Erfahrung changieren und ein Spannungsfeld markieren, welches in der Untersuchung der neuen Medien und Ihrer Eignung als kulturelle Erinnerungsmedien des Holocaust substanziell ist. Während das Beispiel des Eichmann-Prozesses auf YouTube sich noch relativ ‚ungefährdet‘, im Sinne von moralisch unbedenklich, als „Repräsentativ-Site“846 einer anerkannten Gedenkinstitution zurechnen lässt und damit einen Ausgleich der ambivalenten Erwartungen anbietet, ist die Lesart des folgenden Fallbeispiels ungleich schwieriger. Das YouTube-Video Dancing Auschwitz ist eine als Videoclip ‚getarnte‘ Erinnerungsperformance, an der sich auf vielfache Weise die Frage nach 844 Soeffner, Hans-Georg: „Die eilige Allianz: Terrorismus und Medien“, in: Gunsenheimer, Antje (Hg.): Grenzen, Differenzen, Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation, Bielefeld: transcript 2007, S. 77-92, hier S. 89. 845 Über die Nutzungswege einzelner YouTube-Angebote gibt es bislang keine wissenschaftlich fundierten Erhebungen, weshalb Nachweise über Rezipientengewohnheiten für alle Online-Angebote überaus schwierig sind. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der YouTube-Nutzer nicht per Zufall auf den Eichmann-Prozess stößt, sondern ihn explizit sucht. Für eine ‚gewinnbringende Erinnerungskultur‘ im Web gilt es allerdings als entscheidend, dass gerade diejenigen erreicht werden, die sich nicht von sich aus auf die Suche nach ‚Erinnerungsangeboten‘ machen. Hier klafft ein methodisches Problem und Forschungsdesiderat sowie eine große Herausforderung für zukünftige Erinnerungskulturen. 846 W. Dornik: Internet: Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher, S. 84.

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Memorial Correctness, nach der Angemessenheit ihrer Holocaust-Thematisierung, entzünden lässt. „Broadcast Yourself“ – gleich ob man diesen schmissigen Slogan sinngemäß als „Bringe dich groß raus“ oder wortwörtlich mit „Sende dich selbst“ übersetzen möchte, – die imperative, auf öffentliche Aufmerksamkeit zielende Aussage, die hinter der Intention YouTubes steckt, ist offensichtlich. Während sich die Selbstinszenierung bei Facebook noch unter dem Deckmantel der Freundschafts- und Kontaktpflege verbirgt, wird sie bei YouTube zum absoluten Motto erklärt. Auch wenn es sich hier selbstredend um zwei unterschiedliche Formate der neuen Medien handelt, auf der einen Seite ein Kommunikationsnetzwerk, auf der anderen Seite ein Internet-Videokanal, sind beide der Kategorie der Social Media zuzuordnen und implementieren – bei Facebook zuvorderst, bei YouTube peripher – den kommunikativen Austausch zwischen den Nutzern und die Selbstdarstellung und Inszenierung von Identität als Performance. Aufmerksamkeit und Relevanz werden dabei auch bei YouTube an der Quantität und nicht unbedingt an der Qualität der Kommunikation gemessen; im Vordergrund steht, sich überhaupt zu artikulieren und zu präsentieren, anstatt einen qualifizierten Austausch zu erwirken.847 YouTube ist wie Facebook ein personalisiertes Präsentationsmedium, welches ursprünglich darauf abzielt, ein persönliches Profil von den eigenen, besonderen Fertigkeiten anzulegen und diese als Film, Clip oder Video der Öffentlichkeit zu präsentieren.848 Demzufolge vollzieht sich die Selbstdarstellung nicht mehr primär über Bilder, Fotos und Freundschaftsbeziehungen wie bei Facebook, sondern über bewegte Bilder, die als eigen produziertes ‚Kunstwerk‘ auf der Website ausgestellt und den Kommentaren des ‚Publikums‘ freigegeben werden. Zugleich kann der Nutzer so neben Musik und Kunst, als deren Plattform sich YouTube ursprünglich verstand, auch einen persönlichen ‚Imagefilm‘ drehen und im Internet veröffentlichen. „Hier bin ich, wo bist du?“849 – YouTube oder auch seine kleine Schwester Myspace sind Plattformen für Selbstdarsteller, für jene, die sich in der InternetÖffentlichkeit präsentieren wollen und sich dieser, bei YouTube ohne Privatsphären-Barrieren o.ä., preisgeben. Ähnlich wie Facebook, dessen Benutzung für die Freundschaftspflege und den persönlichen Nachrichtenaustausch zunehmend unersetzlich ist, kommt auch YouTube neben dem Unterhaltungswert vermehrt eine gewisse Alltagsrelevanz zu, indem hier parallel zur Eigendarstellung auch schier alle alltäglichen Interessen, Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse gestillt 847 A. Assmann: Hier bin ich, wo bist du, S. 14. 848 Dass es sich hier um ‚Fertigkeiten im weitesten Sinne‘, also auch teilweise um ‚Sinnloses‘ handelt, ist angesichts der Masse – laut GoogleWatchBlog, Stand November 2011, werden pro Minute etwa 48 Stunden Videomaterial weltweit hochgeladen – mit zu berücksichtigen. 849 A. Assmann: Hier bin ich, wo bist Du, S. 6.

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werden können, die sich sonst über die analogen Medien wie z.B. das TV nur zeitund ortsgebunden generieren lassen. An dem Interface-Design YouTubes zeigen sich popkulturelle Merkmale, deren Ästhetik eindeutig an den schnellen, bunten Musikvideos der TV-Sender MTV oder Viva orientiert ist. Dass heute schier alles medial Darstellbare auch als Video auf YouTube abrufbar ist, mag zwar eine faktische Erweiterung der Medienrelevanz sein, verträgt sich aber spontan nicht mit allen darin verhandelten Inhalten und schon gar nicht mit dem Darstellungsgebot des Holocaust. „The medium is the message“ – Marshall McLuhans berühmtes Credo findet mit YouTube eine mediale Entsprechung. YouTube absorbiert nicht nur die medialen Eigenschaften traditioneller Medien wie die des Films oder Comics, sondern ist als eigene Botschaft funktional: Das Medium YouTube ist Ausdruck der Medienwirklichkeit seiner Nutzer. YouTube-Videos zitieren die Erlebnisgesellschaft als Selfperformances seiner erlebnisorientierten Nutzerschaft. Diese nutzt die neuen Medien längst nicht nur zur Informationsbeschaffung, sondern auch dazu, ein Statement abzugeben, sich durch dieses auszudrücken und zu charakterisieren. Immer wichtiger wird nicht das, was man sagt, sondern wie man es sagt, durch welche Medien man sich ausdrückt. Mediale Inszenierungen und mediale Selbstreferenz sind in unserer Gegenwart nicht nur zum Überbegriff für die Umschreibung gesellschaftlicher Prozesse, sozialen Zusammenlebens und der Kommunikation avanciert, wie bereits am Beispiel Facebooks herausgearbeitet wurde,850 „die Selbstreferenz und Selbstreflexivität der Medien und der Künste [beherrscht] das kulturelle Szenario.“851 Auch die Nutzer von YouTube verwenden große Mühen auf die Inszenierung ihres Selbst, um so größtmögliche Aufmerksamkeit auf dem Erlebnismarkt der Medienkultur zu versammeln. Damit sind die Videos auf YouTube zu einem nicht unwesentlichen Teil Medium und Faktor der Selbstinszenierung der Erlebnisgesellschaft und bedienen zweifelsohne jene Kultur der Aufmerksamkeit. Neben der medialen und öffentlichen Identitätskonstruktion als Inszenierung vor virtuellem Publikum erzeugt YouTube eine mediale Selbstreferenz, welche im Fall des Videos Dancing Auschwitz als Selbstvergewisserung eines Holocaust-Überlebenden eine besondere Bedeutungsebene erhält.852 Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln das Internet und seine Medien unter dem primären Fokus als Kontaktraum untersucht wurden, wird für das folgende Fallbeispiel der theatrale, inszenatorische Aspekt der Internetmedien stärker in den Mittelpunkt gerückt.

850 Vgl. auch B. Becker: Selbst-Inszenierung im Netz, S. 413. 851 W. Nöth/N. Bishara/B. Neitzel: Mediale Selbstreferenz, S. 27. 852 Vgl. Tophinke, Doris: „Wirklichkeitserzählungen im Internet“, In: Klein, Christian/ Martinez, Matias (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart: J.B. Metzler 2009, S. 245-275, hier S. 257 f.

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4.2 Dancing Auschwitz 4.2.1 Entstehung/Intention/Plot Einleitend in dieses Kapitel über ‚Erinnerungskultur auf YouTube‘ wurde auf die unterschiedlichen Erwartungshaltungen gegenüber den Darstellungs- und Vermittlungsqualitäten von historischen bzw. erinnerungskulturellen Medien verwiesen, die hier nun weiter am konkreten Beispiel YouTube in zwei unterschiedliche Erinnerungsformate eingestuft werden sollen. Das bereits angeführte Beispiel des Eichmann-Prozesses steht in einer Reihe weiterer YouTube-Produkte, die insbesondere über die Kanäle traditioneller kultureller Institutionen wie Bildungseinrichtungen, Gedenkstätten und Museen verbreitet werden und entweder als Werbemittel für die jeweilige Institution oder zur erweiterten Vermittlung historisch didaktischen Materials und Ausstellungskonzepten zur Verfügung stehen. Das Video Dancing Auschwitz, welches am 18. April 2010 von Jane Korman auf YouTube hochgeladen wurde, fällt aus dieser Reihe heraus und gehört wie auch Henio Zytomirskis Facebook-Profil in die Kategorie der Erinnerungsperformances bzw. der virtuellen Denkmale.853 In dem 4 Minuten und 19 Sekunden langen Video Dancing Auschwitz wird der Zuschauer an unterschiedliche authentische Erinnerungsorte der nationalsozialistischen Verbrechen und des Holocaust geführt, vor denen sich zunächst bizarr wirkende Szenen abspielen. Zu der musikalischen Untermalung des 1970er Jahre Disco-Songs „I will survive“ von Gloria Gaynor ist die Kamera auf eine Gruppe tanzender Menschen unterschiedlichen Alters gerichtet. Während die Personen unbekannt sind, wird das Setting des Videos sofort augenscheinlich und stellt den unmittelbaren Bedeutungszusammenhang zu dem Titel Dancing Auschwitz her: In schnellen Schnitten folgt die Kamera der tanzenden Gruppe an die Schauplätze des Holocaust, unter anderem auch in das ehemalige NS-Konzentrationslager Auschwitz. Spätestens mit den Schlüsselbildern aus Auschwitz wird dem Zuschauer klar, dass dies keine Site-Seeing-Tour ist, sondern eine Reise in die Vergangenheit, an die Orte der ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, zu den Ghettos und Wahrzeichen bzw. Symbolen jüdischen Lebens und den Topographien ihrer Zerstörung durch das nationalsozialistische Regime. Auch die Imagination, dass diese Reisegruppe alles andere als eine gewöhnliche Touristenformation ist, sondern einen eng mit dem Holocaust verbundenen schicksalhaften Hintergrund hat, wird spätestens mit den Nahaufnahmen auf ihre bedruckten TShirts augenscheinlich. Es handelt sich bei der fünfköpfigen Gruppe um den Australier Adolek Kohn, 89-jähriger Auschwitz-Überlebender und vier seiner Enkelkinder. Initiiert, gefilmt und auf die Plattform YouTube gestellt hat den Clip Kohns

853 Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=cFzNBzKTS4I vom 26.08.2010.

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Tochter, Jane Korman, eine in Israel und Australien bekannte PerformanceKünstlerin. Das YouTube-Video ist auf Kormans Homepage verlinkt, auf der weitere Performances dokumentiert sind, die sich u.a. ebenfalls mit dem Holocaust und der jüdischen Identität auseinandersetzen. In der Projektmappe „JEW“ setzt Korman z.B. auf die übertriebene Körperausstellung jüdischer ‚Klischee-Attribute‘, indem sie sich etwa die Nase künstlich vergrößern lässt oder sich durch das Tragen von ‚Sündenbock-Hörnern‘ selbst stigmatisiert. In einem weiteren Projekt mit dem Titel „This way to the gas“ simuliert Korman das Sterben unter den ‚Gasduschen‘ der nationalsozialistischen Konzentrationslager: Sie entkleidet sich zusammen mit anderen Darstellern, imitiert den Gang unter die Gas verströmenden Duschen und hält die Phasen des Sterbens in Fotografien und Collagen fest. 854 Auch das Projekt Dancing Auschwitz hat seinen Ursprung in einer Kunstperformance Kormans. Während der Facebook-Veröffentlichung von Henio Zytomirskis Biographie eine dokumentarische Ausstellung der Erinnerungsstücke aus Henios Familie vorausging, ist es im Fall von Dancing Auschwitz eine Videoinstallation im Rahmen Kormans kunstwissenschaftlicher Abschlussarbeit, mit der das Projekt beginnt. Da sich u.a. das Holocaust-Museum in Melbourne geweigert hatte, das Projekt der Künstlerin auszustellen, nutze Korman die Möglichkeiten des WWW, transformierte die Performance in ein YouTube-Video und stellte es im Internet aus. Es ist dabei anzunehmen, dass das Projekt mit seiner Online-Präsenz ein wesentlich größeres Publikum und eine erhöhte Aufmerksamkeit erzielte, als dies je in der ursprünglich geplanten musealen Ausstellung möglich gewesen wäre. Vor allem aber erreicht Korman auf diesem Kommunikationsweg die junge Zielgruppe, um die es ihr vorrangig geht: „Ich wollte eine Form des HolocaustGedenkens anbieten, die vor allem junge Menschen anspricht.“855 Das Filmmaterial, die einzelnen Tanzszenen an den historischen Orten, stammt von einer Familienreise durch Europa im Juni 2009, die Jane Korman mit ihrem Vater und dessen Enkelkindern unternahm. Dabei besuchten sie die Orte, an denen Adolek Kohn und seine Frau Marysia während des Dritten Reichs gelebt haben, wohin sie deportiert und wo sie gefangen gehalten wurden. Die Gruppe begab sich also auf eine Reise in die Vergangenheit und in die Geschichte der Familie Kohn. Aus den gefilmten Aufnahmen entstanden drei Videos, Dancing Auschwitz Part 1, 2 und 3, welche Korman im Januar 2010 erstmalig bei YouTube hochlud. Die Ursprungsversion Dancing Auschwitz enthielt den genannten Glora Gaynor Song „I will survive“, Part 2 ist eine Dokumentation über die Eltern Kormans sowie deren Freunde, die ebenfalls Holocaust-Überlebende sind, Dancing Auschwitz Part 3 ist das Making-of des Ursprungsvideos bzw. die Dokumentation der vorausgegange854 Siehe: http://web.me.com/janekorman/JaneKormanArt/Home.html vom 26.01.2012. 855 Jane Korman in: Kessler, Judith: „Ein gewagter Tanz“, in: Frankfurter Rundschau vom 20.10.2010.

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nen Europa-Reise. Zu Anfang setzte Korman den Videotitel Dancing Auschwitz in Anführungszeichen. Nachdem sie kurze Zeit später die Anführungszeichen aus dem Titel entfernt hatte, erhielt das Ursprungsvideo innerhalb weniger Wochen eine Frequentierung von fast 700.000 Klicks; insgesamt sahen das Video am Ende mehrere Millionen Menschen. Durch ein Unterlassungsurteil der Plattenfirma Universal Music, welches die Verwendung des Gaynor Songs untersagte, existiert heute auffindbar im Internet nur noch eine Silent Version des ursprünglichen Dancing Auschwitz-Clips. Bereits der Titel des Videos, Dancing Auschwitz, sowie der darin enthaltene namensgebende geographische Ort Auschwitz referieren auf einen der Drehorte und sogleich auf den eigentlichen Erzähl- und Handlungsstrang: tanzen in Auschwitz. Im Verlauf des Clips werden die Tanz-Performances auf andere Orte ausgeweitet, wobei alle gezeigten Settings im semantischen Zusammenhang zum traumatischen „Ursprungsort“856 Auschwitz stehen. Getanzt wird des Weiteren auf den Geländen der ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt und Dachau sowie am Ort des ehemaligen Ghettos Litzmannstadt der Stadt Lodz und vor der Maisel-Synaoge in Prag. Diese Orte sind nur für eine der im Video anwesenden Personen von unmittelbarer Bedeutung: für Adolek Kohn; den anderen Protagonisten sind die Orte nur aus Erzählungen und durch tradiertes Wissen bekannt. Kohn reist mit seiner Familie an die Stätten und Orte, die für ihn mit Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, aber auch an das jüdische Leben und die jüdische Kultur verbunden sind. Auf dieser Reise in eine für ihn traumatisch besetzte Vergangenheit begleiten ihn seine Tochter und die Enkelkinder als stellvertretende Zeugen des Zeugen: Sie „zeugen für den Zeugen“857, indem sie als Adressaten und sogleich selbst als sekundäre Zeugen auftreten. Das Bezeugen ist ein performativer Akt, dem bestimmte festgelegte ‚Skripts‘ für die Interaktion am Setting zugrunde liegen. Auf der Bedeutungsebene macht das Beisein der Angehörigen zudem nicht nur in deren Bedeutung als sekundäre Zeugen eine wesentliche Intention des Plots aus, sondern 856 Die Bedeutung des Ortes Auschwitz für die Holocaust-Überlebenden hat unwiderruflichen Bestand. In ihren autobiographischen Rückschauen, ebenso wie in der Rezeption wird dieser Ort häufig als ‚Ursprungsort‘ erwähnt, so etwa bei Ruth Klüger. Siehe: Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. 13. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2005, S. 13. 857 „Niemand zeugt für den Zeugen“, konstatiert Paul Celan in seinem Gedicht Aschenglorie. Siehe: Celan, Paul: Atemwende, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 68. Zum Diskurs der primären und sekundären Zeugenschaft sowie zu den unterschiedlichen Zeugentypen vgl. insbesondere die Beiträge in: Baer, Ulrich (Hg.): „Niemand zeugt für den Zeugen.“ Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000.

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ist auch Ausdruck eines genealogischen Triumphs: „Wir tanzen, weil wir eine neue Generation hervorgebracht haben“.858 Doch nicht nur die Weitergabe von physischem Leben, auch die Tradierung der Erinnerung steht im Mittelpunkt dieses nachträglichen Besuchs. Die Reise nach Auschwitz und an die anderen kommemorativ aufgeladenen Orte ist auch ein Zeichen für die aktive Weitergabe der Erinnerungen an die junge Generation. Dancing Auschwitz ist so gesehen primär nicht das autarke Zeugnis eines Augenzeugens, sondern wurde als Generationenprojekt angelegt, indem alle drei ‚Holocaust-Generationen‘ mit an die Erinnerungsorte Kohns Vergangenheit reisen. Der Eigenschaft als ‚transgenerationeller Erinnerungsfilm‘ wird auch dadurch stattgegeben, dass der Besuch der ehemaligen Schreckensorte aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und mit unterschiedlich schwerem ‚Gepäck‘ betreten wird. Adolek Kohn ist Holocaust-Überlebender und vereint in dieser Eigenschaft als Augen- und Zeitzeuge die ‚Kompetenz‘ der wahrhaftigen, physischen Erfahrung und die traditionelle, wenn auch abstrakte Vorstellung eines organisch vorhandenen, authentischen Holocaust-Gedächtnisses.859 Während Kohn als Überlebender dieser Orte also seine individuellen, traumatischen Erinnerungen im sprichwörtlichen Gepäck hat, sind seine Enkel persönlich frei von Erinnerungen. Da sie jedoch aus einer Überlebenden-Familie stammen, haben sie gleichwohl eine gewisse, durch die eigene Familiengeschichte geprägte Sensibilisierung erfahren, die sie an dem bestehenden Familiengedächtnis partizipieren lässt. Insofern und nicht zuletzt durch die universale Metapher Auschwitz tragen auch die Nachkommen Kohns als Angehörige der dritten Generation etwas in ihrem Gepäck, wenn sie an jenen Ort Auschwitz reisen, dessen Topographie für ihre Familie mit dem Trauma des Holocaust schicksalhaft verbunden ist: „Alle, die nach Auschwitz in westlichen Ländern leben, haben Auschwitz in ihrer Geschichte.“860 Durch die Kameraperspektive Jane Kormans, ihrer Biographie nach Angehörige der zweiten Generation, erhält das Video noch eine dritte Perspektive. Das Konglomerat dieser Perspektiven gilt es für die Rezipienten des Videos zu entschlüsseln. Sofern Dancing Auschwitz nicht der reinen Unterhaltung dienen soll – und dies sei hier festgehalten – ist es die Aufgabe der YouTube-Nutzer, den Kontext des Videos zu generieren und es als Erinnerungsfilm und Erinnerungsperformance zu verifizieren. Der Kontext ist wie auch schon bei Henio Zytomirskis Facebook-Profil der entscheidende Garant für die Reflexion und das Auslösen von Erinnerungshandlungen.

858 Adolek Kohn, in: 3Sat Kulturzeit, 24.08.2010. Siehe: http://www.3sat.de/page/?source= /kulturzeit/themen/146987/index.html vom 02.06.2012. 859 Vgl. A. Erll/S. Wodianka: Phänomenologie und Methodologie des Erinnerungsfilms, S. 10. 860 Klüger, Ruth: „Kitsch, Kunst und Grauen. Die Hintertüren des Erinnerns: Darf man den Holocaust deuten?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.12.1995.

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Die Erkenntnis, dass es sich bei diesem Projekt um eine künstlerische Performance und nicht um ein professionell produziertes Video handelt, wird von der ersten Szene an ersichtlich und durch Wackelbilder, unpräzise Schnitte und ‚unsaubere‘ Kameraperspektiven unterstützt. Die amateurhaften Aufnahmen korrespondieren mit der intendierten ‚Leichtigkeit‘ und Spontanität des Erinnerns, die hier als künstlerisches Mittel der Performance eingesetzt wird. Über diese Intension gibt die Produzentin Jane Korman selbst Auskunft, indem sie angibt, mit dem Clip eine „fresh perspective“ erzeugen zu wollen: „My intention is to present a fresh perspective to younger generations who have often become numbed and desensitized to the horrors of the Holocaust. I hope this will allow historical memory to live on, so that the lessons of the past will be forever remembered.“861

Erst einmal muss sich der Zuschauer jedoch selbst aus den visuellen und auditiven Elementen, die hier auf den ersten Blick in einer obskuren Ambivalenz auftreten, einen Sinn verschaffen und aus dem Zusammenwirken der Szenen einen narrativen Zusammenhang, eine ‚Story‘ entwickeln.862 Diese Rezipientenarbeit wird auch hier zunächst auf die traditionelle Weise des Erkenntnisgewinns durch verschiedene Vorbedingungen und Faktoren generiert, wie die soziale Herkunft des Rezipienten, Bildung, Alter und schließlich angeeignetes Wissen. Zusätzlich fließen im Fall von Dancing Auschwitz aber auch bewusste oder unbewusste Erwartungshaltungen mit ein, die im Vorfeld durch den sprechenden Titel und seine Symbolleistung geweckt wurden. Im Fall der Kontextgenerierung wird dabei das Symbolsystem ebenso in Anspruch genommen wie das Sozialsystem der Rezipienten.863 Die Tatsache, dass der YouTube-Clip erst nach dem Entfallen der relativierenden Anführungszeichen seine volle Aufmerksamkeit erhielt, spricht für die Aufmerksamkeitsbegehrlichkeit, welche der bloße Titel provoziert. Auschwitz gilt auch Jahrzehnte nach dem Holocaust als Metapher für die Verbrechen an den Juden und – wie zur Bestätigung Gerhard Pauls These von der „Schaulust“ – womöglich auch als Garant für Einschalt- bzw. Klickquoten. Auf die Bedeutung von Markennamen im Zusammen-

861 Korman, in: http://www.janekormanart.com/JaneKormanArt/16.Dancing_Auschwitz/Pages/I_Will_Survive_Video.html vom 26.03.2012. 862 Zur Definition von ‚Story‘ und ‚Plot‘ kursieren unterschiedliche Auffassungen, die hier nicht im Detail zu besprechen sind. Beide Begriffe werden unter den Oberbegriff des ‚Filmischen Erzählens gefasst, wobei dem Plot eher ein beschreibender, der Story eher ein interpretierenden Charakter zuzuordnen ist. 863 Zur Unterscheidung von Symbol- und Sozialsystem in der Mediengesellschaft vgl.: Schmidt, Siegfried J.: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Göttingen: Wallstein 2008.

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hang mit Aufmerksamkeitsgenerierungen wurde bereits hingewiesen – am Beispiel Dancing Auschwitz‘ scheint sich diese These zu bestätigen. Die dem Video zugrunde liegende Reise – hier ist also erneut das Motiv der Reise implementiert – an die Orte der ehemaligen Konzentrationslager und heutigen Gedenkstätten ist besonders in der Zeitzeugenliteratur ein weit verbreitetes Motiv. Bekannte ‚Reisende in die Vergangenheit‘ sind z.B. Peter Weiss oder Ruth Klüger, die – beide mit je unterschiedlichen Voraussetzungen und Biographien – Jahrzehnte nach dem Holocaust Ausschwitz aufsuchen und ihre Erfahrungen anschließend literarisch verarbeiten.864 Beide vermögen an diesem Ort jedoch nur das vorzufinden, was sie selbst im Gepäck dorthin mitgebracht haben und sich zuvor entweder wie bei Peter Weiss durch Wissen angeeignet oder sich durch selbst erlittene Erfahrungen wie bei Ruth Klüger manifestiert haben. Der traumatische Ort an sich versperrt sich der nachträglichen affirmativen Sinnstiftung.865 Die Vergegenwärtigung von Vergangenheit bzw. überhaupt der Zugang zu ihr stellt sich im Motiv der Reise an authentische Tatorte und im wörtlich intendierten, buchstäblichen Abschreiten der Erinnerungsorte als probates Mittel heraus. 4.2.2 Symbolik Die Metaphorik der Drehorte ist von der ersten Szene an markanter Bestandteil und sinnstiftende Bedeutungsebene des Plots, den die Regisseurin Korman inszeniert. Unverkennbar werden hier neben den realen Orten auch einschlägige Symbole des Holocaust sowie eine Bildersprache bedient, die auch in Fernseh- und Kinofilmen oder Dokumentationen als verstärkende visuelle Mittel zur narrativen „Intensivverstärkung“866 eingesetzt werden: „Filmbilder sind […] imagines agentes, handelnde Bilder mit hohem Affektpotential, die sich tief in die Imagination und Erinnerung einschreiben.“867 Neben den historisch einschlägigen, emblematischen (Tat-)Orten werden also zusätzlich auch Reliquien und Symbole der Vernichtung im Hintergrund der tanzenden Gruppe arrangiert: die Viehwaggons, die Gleise, der Stacheldraht, die Verbrennungsöfen, das Eingangstor in Auschwitz-Birkenau mit dem signifikanten Schriftzug „Arbeit macht frei“. Diese Bildersprache lässt keinen Raum für Spekulationen, zumal im Video Dancing Auschwitz auch jeweils der Ort des Geschehens am Bildrand eingeblendet wird. Diese zusätzliche Kontextualisierung ist als Orientierungshilfe für die junge Generation möglicherweise vonnöten, da ihnen die unmittelbare Schlüssel-Symbolik nicht mehr geläufig ist, wie die erwähnte jüngste Forsa-Studie Anfang 2012 bestätigte. Inwiefern aber statt des Begriffs 864 Siehe R. Klüger: weiter leben; Weiss, Peter: „Meine Ortschaft“, in: Weiss, Peter: Rapporte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 113-125. 865 Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume (1999), S. 328. 866 Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 330 f. 867 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 164.

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‚Auschwitz‘ eine eindeutige Bildersprache, wie sie in Dancing Auschwitz gezeigt wird, ‚korrekte‘ Zuordnungen hervorruft, ist nicht entsprechend erforscht, könnte aber zu einem weitaus positiveren Ergebnis führen, insbesondere in Anbetracht dessen, was in dieser Arbeit schon über die Bedeutung der Visualisierung gesagt wurde. Im internationalen Diskurs hat Auschwitz – die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 erklärten z.B. die Vereinten Nationen zum internationalen Holocaust-Gedenktag – als Symbol für den Holocaust und als Metapher für den millionenfachen Mord an den Juden traurige Berühmtheit und fortdauernden symbolischen Wert erlangt. „Der Mythos Auschwitz entstand aus dem Bedürfnis, dem Judenmord, der so viele Schauplätze in Europa hatte, einen Platz zuzuordnen. […] Das Grauenvolle des Lagers war real und wurde zugleich legendär. Mythos ist natürlich im Wortsinn zu verstehen, nicht als Marginalisierung historischer Realität oder als Mystifizierung.“868

Diese Trennung zwischen dem wörtlich intendierten Mythos einerseits und der Mystifizierung und daran anlehnend der marginalisierenden Vereinnahmung, wenn nicht gar ‚Glorifizierung‘ Auschwitz‘ als ‚omnipotentes Superzeichen‘ andererseits, ist jedoch nicht leicht zu vollziehen. Sie bewegt sich nahe dem schmalen Grat der Verallgemeinerung und Egalisierung, was gerade mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen dazu führen kann, dass „alle Opfer, alle Lager […] nivelliert werden“869. Gleiches gilt auch für die Reminiszenzen und Relikte aus dieser Zeit, die in Dancing Auschwitz z.T. plakativ ins Bild gerückt und als überlebensgroße Symbole ausgestellt werden. Im Fall des Videos Dancing Auschwitz erhalten die Symbole jedoch trotz der eindeutigen Platzierung und Inszenierung ihrer ikonischen Bedeutung kaum einen trivialen oder kitschigen Ausdruck. Selbst der zuvorderst stets kritische Publizist Henryk M. Broder erkennt eher das Gegenteil zu den „sinnfreien Ritualen“, wie er sie sonst der Erinnerungskultur gerne lautstark attestiert.870 Warum der Großteil der Rezipienten trotz dieser teilweise deutlich symbolträchtigen Effektmethodik in Dancing Auschwitz weniger starke Sentimentalisierungs- und Trivialisierungstendenzen sieht, wird noch an anderer Stelle zu diskutieren sein. Ohne Zweifel ist, dass die jüdische Abstammung der Produzentin und die wesentliche Mitgestaltung des Holocaust-Überlebenden Adolek Kohn dem Projekt in gewisser Weise qua persona eine ‚positive Absicht‘ attestiert. Klar ist aber auch, dass sich die Performance nicht derart spontan ereignet hat, wie sie den Anschein erwecken möchte und das Skript 868 W. Benz: Auschwitz, S. 466. 869 R. Klüger: weiter leben, S. 83. 870 Broder, Henryk M.: „Schaut her, ich lebe“, in: Spiegel online, 09.08.2010. Siehe: http: //www.spiegel.de/spiegel/a-710881.html vom 24.06.2012.

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des Videos vielmehr genau durchdacht und auf jene symbolische Wirkung hin konzipiert wurde, in der Bilder und Symbole für sich sprechen. Der ironisierende Unterton, der besonders durch den tatsächlichen Ton, die Musik, erzeugt wird, ist gleichfalls bewusst an die Grenze zum Sarkasmus gerückt. Neben der starken Bildersprache durch die Topographie, die Symbole und das zusätzlich verstärkende Störmoment des Tanzens ist es insbesondere die Musik, welche dem Video seinen künstlerischen Ausdruck verleiht und durch das Fehlen des gesprochenen Wortes die eigentliche Stimme ist. Auch in diesem Fall ist es bereits der Titel des Songs selbst, der Sinn stiftet und die eigentliche Kernaussage vom ersten Ton an deutlich werden lässt: Dies ist eine Hymne auf das Überleben, „a tribute to the tenacity of the human spirit and a celebration of life. It is an affirmation that man can triumph over the darkest of circumstance“, wie es auch als Kommentar Kormans auf der YouTube-Seite von Dancing Auschwitz heißt. Dass der gewählte Musiktitel ausgerechnet zugleich ein Popsong, Hymne homosexueller Subkultur und Disco-Klassiker ist, verschafft der Auswahl jedoch eine Mehrdeutigkeit, die sich durchaus auch negativ und im Sinne einer Trivialisierung ‚memorial incorrect‘ konnotieren lässt. In der Verbindung mit dem Tanzen vermittelt der Song eine Leichtigkeit, die in diametralen Gegensatz zu den Orten der Vernichtung steht und nicht mit üblichen Gedenkritualen und konventionellen Gesten an Gedenkorten zu vereinbaren ist. Auf der anderen Seite ließe sich die stellvertretende ‚Wortführerschaft‘ des Songs jedoch auch auf die Intention der Leichtigkeit und Spontanität des Erinnerns sowie als Replik auf das Verdikt der Darstellung und insbesondere der Sprachlosigkeit beziehen. Diese Konstante im wesentlich emphatisch besetzten Holocaust-Diskurs bezieht seine bis heute nur wenig eingeschränkte Wirkmacht aus der Unvorstellbarkeit des Grauens und der daraus resultierenden Unzulänglichkeit jeglicher Darstellung und Artikulation traumatischer Erfahrungen. „Worte nehmen das Trauma nicht in sich auf. Weil sie allen gehören, geht nichts Unvergleichliches, Spezifisches, Einmaliges in sie ein, und schon gar nicht die Einmaligkeit eines anhaltenden Schreckens. Und doch bedarf gerade das Trauma der Worte.“871

Die unbekannte große Menge der Adressaten des Videos erfährt keinerlei Einzelheiten über die erlittenen Traumata Kohns. Da dieser für sein Trauma keine zulänglichen Narrative hat, werden sie weder klassisch erzählt, noch bieten die gezeigten Bilder ihre Nachbildung an. Die Worte, der Song „I will survive“, spiegeln stattdessen das gewissermaßene Gegenteil, Kohns personalisierte Überlebensgeschichte, wider und machen damit nicht das Trauma und die traumatischen Erinnerungen einem sprachlichen Ausdruck zugänglich, sondern deren Wendung in die Gegenwart seines Überlebens. Die Sprache weicht einer (‚wortwörtlichen‘) ‚Nicht-Spra– 871 A. Assmann: Erinnerungsräume (1999), S. 259.

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che‘, in die sich die Unmöglichkeit zum Zeugnisablegen in der Sprache verwandelt.872 An die Stelle des Traumas stellt sich das Überleben und an die Stelle des sprachlichen Zeugnisablegens die Demonstration des Überlebens durch Musik. Mit diesen Projektionen umschiffen Kohn/Korman das Darstellungs- und Sprachdiktum. Schließlich ist es nicht die Sprache der Erinnerung, sondern der Ausdruck der Freude im Hier und Jetzt, die Kohn in Dancing Auschwitz aufführt und als Video vor aller Augen präsentiert. Die Signifikanz des Musiktitels für die Aussage des Videos wird durch das Nutzungsverbot der Plattenfirma jäh offensichtlich. Ohne die musikalische Untermalung der Szenerie bleibt die gesamte Performance Kohns stumm und die Wirkmacht des Clips als Silent Version stark eingeschränkt. Dieser Tatsache bewusst ist wohl auch der Aufruf Kormans auf ihrer YouTube-Seite zu verstehen: „I would be very grateful if anyone can think of a song that is copyright safe, and has the right feeling and beat, that I could use for this clip“ – Es geht also genau um dieses: „feeling and beat“. Besonders die Schlusssequenz des Videos ist szenisch und vor allem atmosphärisch dicht und setzt erneut auf eine starke musikalische Symbolik. Nach dem Hauptteil, den Tanzszenen an unterschiedlichen Schauplätzen des Holocaust, setzt für einige Sekunden Schwarzbild und Stille ein. Dann wird die Melodie des Songs „Dance me to the end of love“ von Leonard Cohen eingespielt, bevor die Stimme Adam Kohns zum ersten und einzigen Mal für wenige Augenblicke aus dem Off erklingt: „If somebody told me some 60 years before, that I will come back to Auschwitz and dance with my grandchildren, I would have said: what are you talking about. But now, it’s real. We were in Auschwitz and danced. This is a really historical moment.“

Das Musikstück Cohens ist zweifelsohne ebenso wie Gaynors Song nicht zufällig gewählt, sondern referiert auf die in den Konzentrationslagern häufig gespielte klassische Streicher-Musik und darf als eine ‚Hymne des Holocaust‘ bezeichnet werden.873 Mit der Titelauswahl verweist die Regisseurin Korman somit noch einmal direkt auf den Holocaust und auf die Realität in den Konzentrationslagern, fast so, als ob sie dadurch auch noch einmal die Authentizität und ‚gute Absicht‘ des Videos bekunden will. Zugleich wird mit dieser Episode eine weitere semantische Brücke zwischen den traumatischen Ereignissen von einst und dem fröhlichen Tanz 872 G. Agamben: was von Auschwitz bleibt, S. 34. 873 Forschungen gehen davon aus, dass in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern die musikalisch befähigten Häftlinge häufig zum Musizieren gezwungen wurden und sich dadurch z.T. vor ihrer Ermordung retten konnten. Leonard Cohen hat nach eigenen Angaben an diese Situationen gedacht, als er den Song „Dance me to the end of love“ schrieb.

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am gleichen Ort Jahrzehnte später geschlagen. Der Schlusskommentar Kohns am Ende des Videos, auf dessen Bedeutung auch Korman indirekt in ihrem erläuternden Kommentar auf ihrer YouTube-Seite verweist – „Please view the clip to the end“ – ist eine zusätzliche Erklärung und vorwegnehmende Legitimierung der Video-Produktion. Dadurch dass die Protagonisten des Videos mit Ausnahme der Schlusssequenz stumm bleiben, werden neben Musik und Setting des Weiteren auch hier die köpernahen Zeichen mit besonderer Bedeutung aufgeladen. Neben den Judensternen, welche die Gruppe in einigen Sequenzen trägt und die sie unmissverständlich und sogleich plakativ als ‚Juden‘ ausweist, gilt dies auch für die Kleidung, deren sichtbares Statement die einheitlichen weißen T-Shirts mit ihren unterschiedlichen Schriftzügen sind. Die Schriftzüge – „survivor“, „2nd gen.“, „3rd gen.“ – bezeich– nen die Generationszugehörigkeit der einzelnen Personen und charakterisieren diese anstelle ihrer Namen: Überlebenden-Generation: „survivor“, Kinder und Enkelkinder: „2nd gen“ und „3rd gen“. Als eine Art ‚Bühnenkostüm‘ intendiert wird mit den T-Shirts in Dancing Auschwitz eine inszenatorische Nähe zum Theaterstück Dritte Generation von Yael Ronen offenbar. Auch dort ist die Generationszugehörigkeit, dritte Generation, auf den uniformierten T-Shirts der Schauspieler abgebildet (‚3G‘) und wird so plakativ in Szene gesetzt. Indem in beiden Fällen mit einer derartigen Deutlichkeit auf die entsprechenden ‚Generationen nach‘ verwiesen wird, werden die handelnden Figuren sogleich in den Dienst der ‚Holocaust-Gedächtnis-Trilogie‘ gestellt und geben performativ Auskunft über ihr genealogisches Verhältnis zur Geschichte des Holocaust und ihre vermeintliche Gedächtniskonfiguration. Diese auf dem Gedächtnisparadigma basierenden und über die Generationszugehörigkeit bestimmenden Zuordnungen, erhalten eine prägnante Signalwirkung und setzten eine generationsspezifische Interpretationsanleitung voraus, die aber sowohl bei Ronen als auch bei Kohn/Korman durch das unvorhergesehene, ambivalente bzw. verstörende Verhalten der Akteure sogleich demontiert wird. Damit zeigen beide Beispiele, dass Generation und Gedächtnis nicht zwangsläufig aufeinander bezogen sein müssen und beide Kategorien inszenierter Natur sein können. Sowohl bei Ronens Dritte Generation als auch im Video Dancing Auschwitz werden die Zusammenhänge von Generation und Gedächtnis zwar aufgerufen, jedoch überzeichnet und plakativ markiert und damit als nichts anderes als eine Konstruktion und Inszenierung ‚entlarvt‘. Über dieses Merkmal der T-Shirts hinaus bleibt die Kleidung, abgesehen von der jugendlichen Schirmmütze Kohns, unauffällig. Neben den Aufdrucken auf den T-Shirts erfüllt aber eine andere körpernah ausgestellte Schrift eine semantische Bedeutung: In einigen Szenen des Videos halten die Protagonisten Schilder mit je einem Wort bedruckt in die Höhe. In der richtigen Reihung ergeben die einzelnen Worte den Satz „Art must go on even after Auschwitz.“ Dass dieser Satz ein per-

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formatives Statement ist und eine Revokation von Adornos Diktum darstellt, soll im Folgenden thematisiert werden. 4.2.3 Dancing Auschwitz als Kunstwerk und Erinnerungsperformance „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz sich noch leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“874

„Art must go on even after Auschwitz“. Der Satz, der auf Adornos Diktum und die Debatte seiner Widerlegung verweist, ist nicht nur die gedruckte Aussage auf den Schildern der Akteure, sondern auch die performativ in Szene gesetzte Legitimierung von Dancing Auschwitz als Kunst. Auch in der Bewertung dieses Formates als Beitrag zu digitalen Erinnerungskulturen ist sein Kunstcharakter immanent wichtig, der hier jedoch nicht als Objekt einer Ausstellung oder im Rahmen einer Kunstdebatte kontextualisiert, sondern zunächst zur individuellen Disposition in das kontextlose WWW gestellt wird. Doch welche Art von Kunst ist es eigentlich, die hier gezeigt wird, bei der sich eine Gruppe junger Menschen und ein älterer Herr zu Discomusik in ehemaligen Konzentrationslagern rhythmisch bewegen? Neben der persönlichen und familiären Konfrontation mit dem Holocaust suchte die Regisseurin Korman explizit nach einem Weg, „ein Kunstwerk mit einer starken Botschaft zu schaffen“875. „Art must go on even after Auschwitz“ – gibt eine stärkere Botschaft als diese? Wie bereits das Facebook-Beispiel zuvor deutlich gemacht hat, soll auch bei dieser Erinnerungsperformance der Blick auf den Urheber bzw. die Künstlerauthentizität gerichtet werden, um den Kontext aufzudecken und die Botschaft zu erfassen. Ganz ähnlich sind auch die Irritationen bezüglich des Facebook-Profils Henio Zytomirskis erst zu mindern, wenn der Urheber des Projektes und der Entstehungshintergrund der Seite eruiert werden. Ohne diese Komponenten und mit dem Verdacht, dass es sich hier im besten Fall um die Initiative eines übereifrigen „Gedenkprofessionellen“876 und im schlimmsten Fall um die Verhöhnung eines HolocaustOpfers handeln könnte, kann der Eindruck der Sentimentalisierung, Trivialisierung und der ‚Memory Incorrectness‘ entstehen. Der Fall Dancing Auschwitz liegt nun etwas anders, da hier das Opfer selbst, der Auschwitz-Überlebende Adolek Kohn, zugleich zum Objekt und Subjekt der künstlerischen Arbeit wird, seine mediale Selbstreferenz zugleich auch mediale Inszenierung bedeutet. 874 T.-W. Adorno: Negative Dialektik, S. 335. 875 Korman, in J. Kessler: Ein gewagter Tanz. 876 W. Benz: Auschwitz, S. 474.

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Ein herausragendes Stilmittel ist in Dancing Auschwitz der ironisierende Unterton, welcher den Clip durchzieht, in Teilen komische bis groteske Züge annimmt und in seinen Spitzen nah am Sarkasmus orientiert ist. Dabei dient dieses Verfremdungsmittel zuvorderst auch dem Schutz der Person Adolek Kohn und der Authentizität seines Erinnerungszeugnisses und zwar auch dann, wenn es wie auch schon bei Oliver Polak gezeigt stark plakativ eingesetzt wird. Humor, insbesondere jener jüdische, der häufig in den künstlerischen Werken Holocaust-Überlebender auszumachen ist, beweist sich nicht selten als stilistisches Mittel, um die Erfahrungen des Holocaust in künstlerische Erzeugnisse umzuwandeln und sie zugleich vor einer unsensiblen Umwelt zu schützen. Der Humor ist zu diesem Zweck nicht immer ein subtiler, sondern manchmal auch durchaus grob oder makaber. „Ich möchte den Hörer und Leser zu einem Gelächter kriegen und möchte dann durch den Fakt, den ich dahinter setze, bewirken, daß ihm das Lachen im Halse steckenbleibt“.877 Das Lachen, das sprichwörtlich im Halse steckenbleibt, ist in dieser Arbeit schon des Öfteren als maßgebliche Reflexionsfolie einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und als spontaner Reflex auf Erinnerungsanlässe und Provokationen untersucht worden. In Ronens Theaterstück klang darüber hinaus außerdem an, dass das Stilmittel des sarkastischen Witzes als Mittel der Interkulturalität und Verfremdung dient und bezeichnend ist für die Überpointierung vom traumatisch Unaussprechlichem. Witz und Ironie dienen dabei nicht nur in interkulturellen Zusammenhängen, sondern explizit auch in der transgenerationellen Übermittlung traumatischer Erinnerungen als eine Art Brücke, welche so beschaffen auch für die nachgeborenen Generationen vermeintlich leichter zu betreten ist. Für die junge Generation, der per se die Wahl des oberflächlichen ‚Fun‘ auf Kosten der Hochkultur unterstellt wird, fällt die Partizipation und Anschlusskommunikation an einer ironisierenden Erinnerungsperformance somit möglicherweise schlichtweg leichter, wofür auch hier erneut Oliver Polak als weiteres Beispiel gelten darf. Fun oder Witz sind aber nicht nur Mittel, um den viel zitierten guten Geschmack in Frage zu stellen oder interkulturelle und intergenerationelle Verfremdungen zu initiieren. Wie oben bereits angeführt, ist die Sprecherposition im Kunstund Kultur-Diskurs und in der Frage nach der Kunst als „Distinktionsmedium“878 ein wichtiges Kriterium und auch für die Problematisierung von Darstellungstabus und dem sich daran anschließenden Diskurs um Memorial Correctness nicht unwesentlich. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit tabubelasteten Themen, die im Wesentlichen gruppen- kontext-, zeit- und ortsabhängig sind.879 Mit anderen Worten: Es hängt sehr stark davon ab, wer an welchem Ort, zu welcher Zeit und vor 877 Rostin, Gerhard (Hg.): Bobrowski, Johannes: Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1976, S. 19. 878 Vgl. G. Schulze: Die beste aller Welten, S. 240. 879 Vgl. H. Kraft: Nigger und Judensau, S 264.

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allem in welchem Kontext bestimmte Erinnerungshandlungen vornimmt bzw. diese demontiert und als Kunst veräußert. Die ästhetische Autonomie der Kunst zeigt sich an diesen Grenzen, von denen im Beispiel Dancing Auschwitz einige tangiert werden, aufgelöst. Wenn wesentliche Kontexte und Themen für gewisse Gruppen zum Tabu werden, muss dies im Umkehrschluss auch bedeuten, dass Tabus, die für eine große Mehrheit gelten, für eine bestimmte andere Gruppe nicht gelten. Dies verweist letztlich auf nichts anderes als auf die Grenzen von Political- und Memorial Correctness, an denen sich auch Dancing Auschwitz messen lässt. Für Adolek Kohn als Holocaust-Überlebenden und Repräsentanten der Augenzeugengeneration ist das Tanzen an den Schauplätzen der ehemaligen NS-Verbrechen keinesfalls ein Tabubruch, sondern vielmehr performativer Ausdruck von Freude und Zuversicht – nicht in Bezug auf die ehemaligen Verbrechen, sondern im Angesicht des eigenen Überlebens und der Möglichkeit, an diesem Ort das Gegenteil von dem zu tun, wofür er einmal bestimmt war: leben und tanzen. Für andere Gruppen, die aufgrund ihrer Generations- und Gedächtniszugehörigkeit anderen ‚Auflagen‘ der Politicalund Memorial Correctness unterliegen, wäre ein solches Verhalten nicht nur (gedenk-)politisch höchst inkorrekt, sondern würde auch das unmittelbare Verletzen eines Darstellungstabus und Verhaltenskodizes bedeuten. Für Kohn, der hier die Deutungsmacht für das Kunstwerk mitträgt, gibt das Tanzen diesem „Nicht-Ort“880 hingegen einen nachträglichen ‚Sinn‘: sein Überleben. Dancing Auschwitz konnte nur von einer Gruppe dieser Zusammensetzung auf diese Weise realisiert werden. Ohne Kohn als Augenzeugen, als „missing link zwischen dem Ort einer Katastrophe und den in Ort und Zeit entfernten Ahnungslosen“881 , welcher durch die Szenerie der authentischen Tatorte führt und das Tanzen legitimiert, wäre nicht nur der gute Geschmack verletzt, sondern auch die eigentliche Story hinfällig. Es sind nicht nur die ästhetischen Mittel wie Witz, Humor, Ironie und Verfremdung, welche das Videoprojekt Dancing Auschwitz streitbar machen. Das populäre Medium YouTube, welches dieses Kunstwerk einerseits erst sichtbar macht, ist es andererseits zugleich auch, das die Kritik an ihm verstärkt. Ist es am Ende also gar nicht der Inhalt selbst, sondern der mediale Rahmen, der als unpassend empfunden wird? Während die Darstellung des Holocaust in den traditionellen Erinnerungsmedien wie der Literatur, der Fotografie oder dem Film weitgehend akzeptiert ist, werden andere mediale Darstellungsformen, wie sie etwa in den neuen Medien produziert werden, immer wieder ethisch und moralisch streitbar behandelt und u.a. unter dem Begriff des ‚Histotainment‘ negativ konnotiert. Der Weg über den ‚kulturellen Prüfstand‘ scheinen nach wie vor besonders diejenigen Darstellungen zum 880 Hartman, Geoffrey: „Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust“, in: Assmann, Aleida/Hartman, Geoffrey: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz: University Press 2012, S. 41-143, hier S. 119. 881 A. Assmann: Pathos und Passion, S. 27.

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Thema Nationalsozialismus und Holocaust nehmen zu müssen, die mit innovativen Herangehensweisen und/oder massenmedialen Repräsentationstechniken experimentieren und sich damit nah an jenem genannten schmalen Grat des guten Geschmacks und der Angemessenheit bewegen. Erinnert man sich an den kleinen Skandal, den Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten 2006 auslöste, so wird jedoch auch klar, dass diese Regel nicht ohne Ausnahme ist und sich selbstverständlich nicht ausschließlich innovative und vermeintlich unpassende Medien mit einem Darstellungsproblem konfrontiert sehen, so dass grundsätzlich „ein Skandal immer dann entstehen [kann], wenn am Knotenpunkt zwischen Literatur und Gesellschaft ein Tabu verletzt wird“.882 Gesellschaftliche Tabus werden besonders dort nachhaltig verletzt, wo sie eine große Masse betreffen und durch visuelle Effekte entsprechende Affekte der Tabuisierung auslösen. Visuelle Medien geraten in der Regel nicht nur eher unter den Verdacht einer unangemessenen Auseinandersetzung und tendenziell eher „geringere[n] diskursive[n] Qualität und Seriosität“883 als etwa der literarische Text, sondern besitzen auch vermehrt die Möglichkeiten für einen medialen Tabubruch. Daraufhin lassen sich auch Adornos Argumente in seinem Essay Kulturkritik und Gesellschaft anführen. Darin warnt er vor dem Verfall der Kultur durch einen „Fetischismus, der zur Mythologie gravitiert“884 und der Holocaust als „Sozialkitsch oder tragisch zurechtgestutzte Opferbiographie“885 affirmativ zum Kulturbesitz wird. Auch für Henio Zytomirskis Facebook-Profil konnten derartig fehlgeleitete Vereinnahmungen fruchtbar gemacht werden. Die Postings und Grußkarten auf dessen Pinnwand stehen nicht nur in einem harten Kontrast zu der authentischen Opfergeschichte des Jungen, sie lassen sich ohne den entsprechenden Kontext gar schlicht als kitschige, geschmacklose Trivialisierung bezeichnen. Gleiches gilt für die Ernennung des toten Jungen als ‚Person des öffentlichen Lebens‘ – ein regelrecht perfides Wortspiel, welches keinerlei künstlerischen Ausdruck unterstützt, sondern eher das moralische Scheitern der Facebook-Kultur bezeichnet. Wenn Dancing Auschwitz aber Kunst ist, darf sie dann alles? Wenn dies zumal die Kunst eines Holocaust-Überlebenden ist, darf sie dann noch mehr? Hat sie dann nicht jedes Recht, das „perennierende Leiden“ auszudrücken, auch wenn es mög882 Kyora, Sabine: „Der Skandal um die richtige Identität. Binjamin Wilkomirski und das Authentizitätsgebot in der Holocaust-Literatur“, in: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 624-632, hier S. 624. 883 E. Meyer: Problematische Popularität, S. 272 f. 884 T.-W. Adorno: Prismen, S. 17. 885 Lühe, Irmela von der: „Gefängnis der Erinnerung“, in: Köppen, Manuel/Scherpe, Klaus (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst, Köln: Böhlau 1997, S. 29-47, hier S. 34.

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licherweise ein verstörender Ausdruck ist? Die Antwort auf die Fragen des Dürfens tragen die Akteure in Dancing Auschwitz in ihren Händen und auf weißem Papier mit schwarzen Lettern gedruckt: „Art must go on even after Auschwitz“ [Hervorhebungen K.F.]. „Nein, es braucht überhaupt keine Legitimation für das, was Adolek Kohn und seine Familie gemacht haben. Holocaust-Überlebende dürfen an den Orten, an denen ihre Familien, ihre Nachbarn, ihre Freunde und Bekannte ermordet wurden und sie selbst überlebten, machen was sie wollen. Ja, wenn sie – die Überlebenden – es wollen würden, dürfte man die KZGedenkstätten sogar schließen.“886

4.2.4 Ein Ort, an dem man gerne tanzt? Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte sich das 2005 errichtete Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als einen „Ort, an den man gerne geht“ gewünscht.887 Schröder gab dem Berliner Mahnmal damit eine Intention, welche über die rein kommemorative und künstlerische hinausging und die sich auch in der andauernden und kontrovers geführten Debatte im Vorfeld der Errichtung widerspiegelte. Das Mahnmal sollte für alle, besonders aber für die jungen Generationen und vor allem auch international, zu einem erinnerungskulturellen Wahrzeichen und Anziehungspunkt in Deutschlands Hauptstadt werden. Mit anderen Worten: Mit der Vorgabe, ein Ort zu sein, an den man gerne geht, wurde zugleich auf die Maßgabe seiner Popularität verwiesen. An diese Maßgabe sind nicht zuletzt auch wirtschaftliche Anforderungen geknüpft, wie u.a. die Thematisierung frühzeitig entstandener finanzieller Engpässe Mahnmals deutlich machten. Dies beweist u.a. erneut, dass Geschichte, wie auch die Kultur im Allgemeinen, zum wichtigen Wirtschaftsfaktor und zum „Wettbewerbsbeitrag“ um „touristische Attraktionen“ und Öffentlichkeit geworden ist.888 In Zeiten einer den Markt bestimmenden Aufmerksamkeitsökonomie unterliegen auch die Gedenkstätten und Museen des Holocaust wirtschaftlichen Zwängen, so dass es mittlerweile keine Ausnahme ist, dass auch KZ-Gedenkstätten die „touristische Rechnung“889 aufmachen müssen und an ihrer Popularität, ihren Besucherzahlen und Presseerwähnungen gemessen werden. Auch der entgeltliche Besuch dieser Stätten wird heute als Mög886 Akrap, Doris: „Disco-Dancing in Auschwitz“, in: Die Tageszeitung vom 21.07.2010. 887 Gerhard Schröder im November 1998. Siehe: Leggewie, Claus/Meyer, Erik: „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München: Carl Hanser 2005, S. 179. 888 Vgl. A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 178. 889 Young, James E.: „Die Zeitgeschichte der Gedenkstätten und Denkmäler des Holocaust“, in: Young, James E. (Hg.): Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München: Prestel 1994, S. 19-43, hier S. 40.

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lichkeit in Betracht gezogen, um die laufenden und immer höheren Instandhaltungskosten zu decken und die Holocaust-Gedenkstätten auch wirtschaftlich attraktiv zu machen.890 Im Zeitalter der Quoten- und Marktökonomie verfestigt sich die Tendenz zur Vermarktung von Kulturgut zunehmend und hängt damit nicht zuletzt mit den Anforderungen der Weltkonsumgesellschaft zusammen. Müsste ein Ort, an den man gerne geht, nach dieser Definition also auch ein Ort sein, an dem man gerne Geld ausgibt und im Gegenzug etwas für sein Geld ‚bekommt‘ und ‚erleben‘ kann? Hier ist keineswegs Zynismus vonnöten, sondern der Seitenblick auf das Berliner Mahnmal ermöglicht es, auf die memorialen und ästhetischen Eigenschaften und Reglementierungen von populären Erinnerungsorten einzugehen und die zuvor gestellte Frage zu erweitern: Kann und darf ein Ort, an dem man ‚gerne‘ Erinnerungshandlungen vollzieht, zugleich auch einer sein, an dem man gerne tanzt? Wie oben bereits erwähnt, ist die metaphorische Bedeutung der Orte der ehemaligen Verbrechen besonders durch eine Vielzahl von kanonisierten Bildern und Symbolen in das kulturelle Gedächtnis eingegangen. Deren Tradierung ist nicht nur ein fester Bestandteil der bundesdeutschen Geschichtsdidaktik und -Kultur, sondern auch Kern europäischer Geschichtspolitik und Fundament der europäischen Erinnerungskulturen. Mit dem ebenfalls bereits skizzierten drohenden Rückgang der ‚Attraktivität‘ von Geschichte müssen auch die Museen und Gedenkstätten des Holocaust ‚attraktiver‘ gestaltet werden, um mit den agitativen Bilderfluten im „Spektakel der Medien“891 konkurrieren zu können. Dies bedeutet mit Blick auf die junge Generation und die Bedürfnisse der Erlebnisgesellschaft eine tatsächliche Steigerung der Attraktivität, Popularität und Erlebniskraft nach aufmerksamkeitsökonomischen Gesichtspunkten. Inwiefern sich hierbei jedoch der Anspruch auf eine angemessene Ästhetik im Zeitalter und unter den Bedürfnissen der Aufmerksamkeitsökonomie und Erlebnisgesellschaft aufrechterhalten lässt, ist eine spannende Frage, die es noch zu erörtern gilt. Das Setting Dancing Auschwitz‘ und die Drehorte sind entscheidend für dessen Analyse als Erinnerungsperformance und die Frage nach seiner Relevanz als angemessenes, ‚memorial correctes‘ Format der Erinnerungskultur im Web 2.0. Alle Orte sind authentische, die zur bzw. durch die NS-Zeit eine besondere Relevanz im kulturellen Gedächtnis erhalten haben und bis heute als Symbole des Holocaust fungieren. Besonders die KZ-Gedenkstätten sind von einer besonders eindringli-

890 Im Juni 2011 forderte die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen erstmals einen Eintrittspreis von einem Euro von ihren Besuchern und ein kostenpflichtiges Zertifikat von Reiseführern. 891 A. Assmann: Pathos und Passion, S. 40.

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chen Benjaminschen Aura und „Gegenwärtigkeit des nicht Gegenwärtigen“892 umgeben, die nicht zuletzt durch das nachträgliche Hervorrufen von Grauen und Schrecken Emotionen der Empathie und Trauer auslösen. Auch wenn dieser unmittelbare Affekt als „instrumentelle[r] Erinnerungsverstärker“893 heute möglicherweise schwächer wird, haben die ‚berühmten‘ Gedenkstätten wie Auschwitz ihre unmittelbare Wirkmacht nicht eingebüßt. Und dennoch müssen auch die authentischen Gedenkorte immer mehr mit zusätzlicher Symbolik, „sinnliche[r] Konkretion und affektierte[r] Kolorierung“894 aufgeladen werden, um die Besucher zu erreichen und Reflexionen an diesen Orten zu ermöglichen. Dabei lässt sich ausmachen, dass die ‚Authentizität des Grauens‘ zunehmend auch an den realen Orten der Vergangenheit mit dem Eventanspruch vieler anderer, insbesondere digitaler Erinnerungsangebote konkurriert, welche anstelle der narrativen Tradierung Vergangenheit auch als erlebbares Ereignis vermitteln und zudem aus dem einschränkenden RaumZeit-Gefüge herausfallen. Eine Modifizierung und entsprechende Modernisierung changiert dabei aber immer an der Grenze zwischen Erinnerungsauftrag einerseits und Kommerzialisierung des Gedenkens andererseits – eine Dialektik, die angesichts (aufmerksamkeits-)ökonomischer Bedingungen unserer Gegenwart kaum zugunsten einer Seite aufzulösen ist. Betrachten wir Kohns Erinnerungsperformance nach dieser Einschätzung auch als Erinnerungsevent, dann lässt sich daraus eine weitere interessante Verknüpfung ableiten, nämlich die von Event und Erinnerungsritual. „Events sind als aus dem Alltag herausgehobene, performativ-interaktive Veranstaltungen zu begreifen, die raumzeitlich verdichtet sind und eine hohe Anziehungskraft für relativ viele Menschen haben.“895

Diese Definition ist auch auf rituelle Erinnerungshandlungen anzuwenden, welche für die traditionelle Gedenkkultur konstitutiv sind. Vor allem aber ist diese Definition auch auf die Erinnerungsperformance Dancing Auschwitz übertragbar. Auch Adolek Kohn vollzieht ursprünglich ein Erinnerungsritual, indem er die ehemaligen Tatorte des nationalsozialistischen Terrors besucht und dort ein ‚umgewandeltes Erinnern‘ abruft. Dabei ist Kohn gerade nicht aus dem Grund rituellen Totengedenkens an diese Orte zurückgekehrt. Er behält zwar die Projektionsfläche des trauma892 Adorno, Theodor W.: „Resümee über Kulturindustrie“, in: Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften, Band 10.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 337-464, hier S. 340. 893 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 253. 894 Ebd., S. 331. 895 A. Hepp/M. Höhn/W. Vogelgesang: Perspektiven einer Theorie populärer Events, S. 12.

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tischen Ortes Auschwitz bei, verwandelt sie aber zu einem Ort, ‚an dem man gerne tanzt‘. Damit werden auch hier – um Mirjam Wenzels Facebook-Kritik aufzunehmen – zwei Handlungsweisen miteinander verwebt, die sich auf den ersten Blick eher abstoßen: Erinnerungen an traumatische Ereignisse und die performative Ausstellung dieser als Tanz zu Discomusik in einem über eine ‚hohe Anziehungskraft‘ verfügenden populären Medium. Nach derartiger Fasson wird die Erinnerung hier in der Tat als „multimediales Event zelebriert“896. Problematisch bleibt nun aber insbesondere die Bühne, auf welcher der ‚Freudentanz‘ zelebriert wird. Die ehemaligen Konzentrationslager werden immer wieder als „geheiligte Stätte[n]“897 konnotiert, wodurch ihnen neben der falschen Begriffssemantik eine gewisse überhöhte Ehrfurcht und Unantastbarkeit auferlegt ist. Durch die nach dieser Argumentation in Dancing Auschwitz öffentlich vollzogene ‚Entweihung‘ der Orte durch zwei größtmögliche popkulturelle Praktiken, Tanz und Musik, wird aber nicht nur das Erinnerungshandeln verfremdet und einem anderen Kontext zugeführt, sondern erneut ein Gebot verletzt, welches als substanziell betrachtet und geachtet wird: der bedächtige, pietätvolle Umgang mit den und ein entsprechendes Verhalten an den Orten der ehemaligen Verbrechen. Dieses Paradigma gilt auch für die stellvertretenden Gedenkorte wie das Berliner HolocaustMahnmal. Einleitend wurde an dem doppeldeutigen Satz Gerhard Schröders, „ein Ort an den man gerne geht“, die öffentlichkeitswirksame Ausrichtung des Mahnmals beschrieben. Nachdem das Mahnmal diesen Vorgaben angemessen und nach einer Jahrzehnte andauernden Debatte 2005 schließlich errichtet war, ergaben sich prompt neue Diskussionen, dieses Mal darüber, welches Verhalten an jenem Erinnerungsort angemessen ist. Selbstverständlich konnte darüber keine Konsensmeinung gebildet werden. Dass es in der öffentlichen Wahrnehmung aber ganz offensichtlich eine (unausgesprochene) Diktion des richtigen Verhaltens an diesem und anderen Gedenkorten zu geben scheint, belegt unter anderem die bereits in der Einleitung dieser Arbeit zitierte Ausgabe des Zeit-Magazins aus dem Jahr 2010. „Was redet ihr da? Worüber sich Jugendliche unterhalten, wenn sie Gedenkstätten besuchen“, lautet dort die Überschrift einer Zusammenstellung unterschiedlicher Zitate – zum einen gesammelt in der KZ-Gedenkstätte Dachau, zum anderen in der Ausstellung Topographie des Terrors in Berlin –, welche die Autorin Laura de Weck

896 J.-A. Heyer: Anne Frank postet noch. 897 Garbe, Detlef: „Gedenkstätten: Orte der Erinnerung und die zunehmende Distanz zum Nationalsozialismus“, in: Loewy, Hanno (Hg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Hamburg: Rowohlt 1992, S. 260-285, hier S. 260.

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auf zwei Seiten unkommentiert zusammenstellt.898 Auch wenn die Autorin die Aussagen der Jugendlichen nicht deutet, zeugt das Arrangement doch davon, dass hier einzelne Monologe und Dialoge zur Disposition über vermeintlich richtiges oder falsches Verhalten beim Besuch einer Gedenkstätte gestellt werden. Illustrierend ist das im Folgenden aufgeführte Zitat einer Lehrerin beim Besuch der Berliner Ausstellung Topographie des Terrors mit ihrer Schulklasse: „So Leute, wir gehen jetzt in eine Gedenkstätte mit tragischem Hintergrund. Es wird nichts gegessen oder getrunken. Und wenn ihr aufs Klo müsst, dann geht jetzt. Ich will bei der Führung niemanden haben, der Krach macht oder quatscht oder mit seinem Handy rumspielt. Und wenn ihr das nicht hinkriegt, schmeiß ich euch da sofort raus.“899

Eigentlich ist diese Anekdote ein klarer Fall zum Schmunzeln. Als Beitrag zur allanwesenden Debatte um das ‚richtige Verhalten‘ und den ‚angemessenen Umgang‘ mit der deutschen Vergangenheit erhält aber auch diese banale Situationsbeschreibung einen Beigeschmack, indem die ursprüngliche Banalität der Aussage das Gebot eines ausgewiesenen, unnatürlichen Verhaltens an diesem Ort mit intendiert. Die regelrechte Hysterie der Lehrerin lässt die pädagogisch- und politisch korrekte Anstrengung dahinter erahnen, ein unbedingt angemessenes ‚Gedenkverhalten‘ an einem Ort ehemaliger Verbrechen einzufordern. Dabei passiert genau das, was zuvor als problematische, sakrale Vereinnahmung benannt wurde: Die Lehrerin stilisiert diesen Ort anhand ihres moralischen Regelwerkes auf geradezu abstruse Weise zu einer heiligen Stätte, einem Friedhof oder gar einem ‚Gotteshaus‘, an dem ein bestimmtes pietätvolles Verhalten moralisch vorgeschrieben ist. Die Gruppe um Adolek Kohn isst nicht, sie trinkt nicht, sie macht keinen Krach und spielt nicht mit ihren Handys; sie tanzt. „Tänze sind kulturelle Veranstaltungen, deren Performanz ihre sozialen und ästhetischen Wirkungen in Raum, Zeit und Wahrnehmung hervorbringt.“900 Der Tanz ist anthropologisch betrachtet ein ritueller, selbstverständlicher und natürlicher Akt der Verständigung und kulturellen Praxis. Adolek Kohns Tanz mit seiner Familie an den ehemaligen Orten der Judenvernichtung war jedoch keine gänzlich spontane Aktion und ebenso wenig von einer natürlichen Leichtigkeit geprägt – was der Betrachter an den zunächst unbeholfenen Bewegungen der Gruppe und ihrer zur Disco-Musik entgegengesetzten steinernen Mimik erkennt –, sondern folgt einer Inszenierung. 898 De Weck, Laura: „Was redet ihr da? Worüber sich Jugendliche unterhalten, wenn sie Gedenkstätten besuchen“, in: Zeit-Magazin 45 (2010), S. 30-34. 899 L. de Weck: Was redet ihr da, S. 32. 900 Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph: „Einleitung: Tanz als Anthropologie“, in: Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.): Tanz als Anthropologie, München: Wilhelm Fink 2007, S. 9-14, hier S. 11.

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Der Tanz ist eine der ausdrucksstärksten Praktiken der Selbstdarstellung und Selbstinterpretation und eine kulturelle Praktik in dem Sinn, dass „Tänze kulturelle Aufführungen sind, in denen sich Gesellschaften darstellen und ausdrücken und mit deren Hilfe sie dazu beitragen, Gemeinschaften zu erzeugen.“901 Tanzen kann aber nicht nur zur Gemeinschaftbildung beitragen, sondern, wie im vorliegenden Fall, auch Differenz und Alterität erzeugen. Die Aktion der Gruppe wirkt an diesen Orten obskur, deplatziert und fremdartig und baut zum Zuschauer vor dem Bildschirm eine gewisse Distanz und Fremde auf. Als Replik auf das ‚Dazwischen‘ und das zusätzlich darin mitschwingende ironisierende Moment verstärkt der Tanz diesen nunmehr „doppelten Blick“.902 Erst in der Kontextualisierung als Überlebenstanz eines Holocaust-Überlebenden kann das Tanzen in Auschwitz als geplante Aufführung einer Erinnerungshandlung konnotiert werden, deren Aufmerksamkeit zumindest von Jane Korman wohl einkalkuliert war. Kohn selbst rechtfertigt das eigene Tanzen als kulturelles Totengedenken und als Triumph des Überlebens. „Es gibt Kulturen, in denen man für die Toten tanzt“903, sagt Adolek Kohn, wobei die Interpretation als ritueller Totentanz oder Opferritual schwierig bleibt. Für Kohn, dessen Überleben auf Glück und Zufall beruht und für den Auschwitz kein Friedhof ist, gibt es auch kein oktroyiertes ‚richtiges‘ Verhalten. Für ihn ist gerade dieses paradoxe Verhalten, das Tanzen, das, was ihm als Überlebenden des Holocaust an diesem Ort angemessen erscheint. Mehr noch: Das Tanzen drückt durch seinen inhärent experimentellen Charakter etwas aus, was sonst für Dritte gar nicht erfahrbar wäre.904 Der ehemalige Schreckensort Auschwitz erfährt durch die Anwesenheit eines Überlebenden und seiner Nachkommen eine gewisse nachträgliche Umdeutung, indem ihm ein Stück Lebendigkeit zurückgegeben und er entgegen seiner Todesaura mit dem Leben und Erleben zusammengebracht wird. Für die oben erwähnte Schulklasse, welche die Erlebnishaftigkeit gleichsam opportuniert, gilt ein anderer Verhaltenskodex, der jedoch möglicherweise nicht nur zu ihrer individuellen Sozialisation und Lebenssituation, sondern vor allem auch zu den kulturellen Transformationsprozessen, die sie erleben, konträr verläuft. Danach stünde eine auf Entertainment, Erlebnis- und Ereignishaftigkeit fokussierte Gesellschaft einer Kultur öffentlich dargebotener ‚Betroffenheitsregeln‘ und Sprachtabus gegenüber. Hier stimmen erneut besonders die ‚doktrinären‘ Sprachanforderungen und Verhaltensweisen nicht mit der Lebenswirklichkeit der jungen Generation 901 Wulf, Christoph: „Anthropologische Dimensionen des Tanzes“, in: Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.): Tanz als Anthropologie, München: Wilhelm Fink 2007, S. 121-132, hier S. 123. 902 G. Brandstetter/C. Wulf: Tanz als Anthropologie, S. 12. 903 Adolek Kohn in: Steinberger, Karin: „Dancing,Auschwitz@YouTube“, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.09.2010. 904 C. Wulf: Anthropologische Dimensionen des Tanzes, S. 129.

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überein, denn auf den Punkt gebracht: „Das trifft den Nerv der Nachgeborenen nicht mehr, nicht weil sie geschichtsblinde Nationalisten sind oder machtvergessene Unterhaltungsidioten, sondern weil damit die Geschichtserfahrungen der Älteren zum Dogma erhoben wird.“905 4.2.5 Vergangenheit als Event Nicht das Tanzen, aber ein anderer Ausdruck spielerischer Leichtigkeit, nämlich das Springen über die Stelen des Berliner Holocaust-Mahnmals, erregt gegenwärtig immer wieder öffentliches Ärgernis. „Die Leute nehmen das Stelenfeld nur als Event wahr“906 , kritisierte Paul Spiegel das sogenannte ‚Stelenspringen‘. Der ehemalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland implementiert mit dieser Aussage eine strikte und bedeutungsschwere Trennung von Event und Gedenken. Er negiert damit die Möglichkeit, dass sich beides sinnstiftend vereinen lässt bzw. dass beide Verhaltensweisen gar das gleiche Ziel verfolgen könnten, nämlich die aktive Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Im Sinne einer kulturellen Praktik, als die der Museums- oder Gedenkstättenbesuch gilt, haftet dem Besuch per se eine grundsätzlich spontane und weitgehend unvorhersehbare Ereignishaftigkeit an.907 Im Fall von Spiegels Aussage vollzieht sich mit der Trennung von Event- und Gedenkkultur eine unbegründete Gleichsetzung von Ereignishaftigkeit als Bedeutungslosigkeit und dem jungen Publikum wird tatsächlich vermeintliche ‚Unterhaltungsidiotie‘ unterstellt. Das Springen von Stele zu Stele als Ausdruck der ‚performativen Aneignung‘ dieses Erinnerungsortes und als im wahrsten Sinne alltäglicher, natürlicher Akt gewinnt gerade dann an Bedeutung, wenn es um die Alltagspräsenz von Erinnerungshandlungen geht, die es für die Zukunft anzuleiten gilt. Bemerkenswert ist diese monoperspektivische Verknappung Spiegels und anderer vor allem auch deshalb, weil hier gegen die eigentliche Konzeptionierung des Mahnmals als aktives, lebendiges Denkmal argumentiert wird. Dazu heißt es nämlich bei den Künstlern Eisenman und Serra: „In diesem Zusammenhang gibt es keine Nostalgie, keine Erinnerung, kein Gedenken der Vergangenheit, es gibt lediglich eine lebendige Erinnerung, nämlich der individuellen Erfahrung – das Erleben des Denkmals/Monuments.“908 905 C. Leggewie: Die 89er, S. 306. 906 Paul Spiegel in E. Meyer: Problematische Popularität, S. 269. 907 Vgl. McIsaac, Peter M.: „Die medizinische Venus. Zur performativen Basis von anatomischen Zurschaustellungen vor und um 1900“, in: Pailer, Gaby/Schößler, Franziska (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam: Rodopi 2011, S. 313-329, hier S. 315. 908 Eisenman, Peter/Serra, Richard: „Wie Wellen im Meer. Interview“, in: Die Tageszeitung vom 20.01.1998.

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Was anderes als ein „Erleben des Denkmals“ ist dessen (körperliche) Annäherung durch den Aktionismus des Springens, ließe sich so also Spiegels Äußerung entgegnen. Dancing Auschwitz setzt nicht nur ein anderes Erinnerungszeichen als das steinerne eines Mahnmals in den Gedenkraum der jungen Generation, es setzt auch einen anderen Umgang voraus. Kohns/Kormans Erinnerungsperspektive wird gerade nicht als Mahnmal betoniert, seine Rezeptionsregeln in Stein gemeißelt und eine „generationsspezifische Erinnerungsperspektive buchstäblich in Beton gegossen“909 , die hier von der ersten und zweiten Generation initiiert wäre, sondern dem überaus fluiden Internet und seinen vielfältigen Nutzungsweisen zugeführt. Kohn verarbeitet und tradiert auf diese Weise zwar seine Geschichte, gewährt aber durch das gewählte Erinnerungsformat eine Verbindung zu den jüngeren Generationen, indem er nicht nur ihre Kommunikationskanäle nutzt, sondern sogleich auch ihrem gegenwärtigen Erlebnisanspruch nachkommt. Kritiker beanstanden jedoch genau diese Umwandlung und Umplatzierung. Was wiederum für das Berliner HolocaustMahnmal als ursprüngliche Intention galt, das lebendige Erinnern, das Nachempfinden und Nacherleben, wird Kohns/Kormans Projekt in Abrede gestellt. Dem Erleben, welches gerade durch die Interaktivität der neuen Medien möglich ist, wird zugleich die Fähigkeit zur Abstraktion, Interpretation und Reflexion abgesprochen.910 Dabei gelingt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den nachfolgenden, erinnerungslosen Generationen vermehrt über das Nach-Erleben und NachErfahren, über die interaktive Aneignung, durch die Vergangenheit zum gegenwärtigen „Teil unserer Freizeit- und Erlebnisgesellschaft“911 werden kann, vielleicht sogar werden muss. Während die unmittelbare Erfahrung des Holocaust mit den letzten Zeitzeugen verebbt, treten an ihre Stelle Erinnerungsangebote, die ein Erfahren ermöglichen, welches durch Gemeinsamkeit im (re-)konstruierten Event nacherlebt wird. Das in einer User-Community nacherlebte ‚YouTube-Ereignis‘ Dancing Auschwitz kann dergestalt einen generationsspezifischen Erinnerungsprozess veranlassen und das ‚multimediale Erinnerungsobjekt‘ an die Stelle eines monumentalen, in Stein gegossenen Denkmals setzen ohne damit für sein Verschwinden zu sorgen. In der negativen Konnotation dieser möglichen Entwicklungstendenzen von Erinnerungen zu Events, von der Gedenk- in die Unterhaltungskultur kursieren unterschiedliche Begriffe, die eine Zuspitzung der Erlebnis-Phänomene z.B. unter den

909 U. Jureit: Opferidentifikation und Erlösungshoffnung, S. 29. 910 Zur Unterscheidung von ‚Erfahren‘ und ‚Erleben‘ siehe u.a.: U. Jureit: Generationenforschung, S. 79 ff. 911 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 19.

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Begriff der „Disneylandisierung“ fassen.912 Mit diesem Begriff wird zugleich an dem Motiv des Kitsches Anstoß genommen, das besonders in der Verbindung mit dem Holocaust traditionell als „besonders unangenehm“ gilt.913 In eine ähnliche Richtung tendiert auch der von dem Soziologen George Ritzer entworfene Begriff der „McDonaldisierung“914 . Auf die ‚Fastfood-Mentalität‘ der amerikanischen Gesellschaft und westlichen Kultur bezogen entwickelt Ritzer sein Modell anlehnend an Zygmunt Bauman auch aus dem ‚Vorläufer‘ Holocaust heraus: „Erstens war er [der Holocaust] nach den Prinzipien der formalen Rationalität organisiert […]. Zweitens stand der Holocaust im Zusammenhang mit dem Fabriksystem […]. Und drittens schließlich spricht die heutige Verbreitung der formalen Rationalität in Form der McDonaldisierung für Baumans Ansicht, dass etwas Ähnliches wie der Holocaust sich noch einmal ereignen könnte.“915

Auch wenn der Begriff der ‚McDonaldisierung‘ für die Beschreibung der Erlebnisgesellschaft, der Amerikanisierung und Globalisierung durchaus nachvollziehbar erscheint, ist er für die Anwendung auf Beschreibungen des Holocaust und seiner Gedenkkultur abzulehnen, auch da seine Herleitung stark konstruiert ist. Hier scheint das Modell der ‚Disneylandisierung‘, auch wenn dieses in seiner Bezugnahme auf den Holocaust selbstverständlich ebenfalls nicht unproblematisch ist, geeigneter zu sein, um die wahrnehmbaren Veränderungen von Erinnerungskulturen begrifflich zuzuspitzen. Dabei ist unter diesen Begriff aber nicht zuvorderst der Kitsch und die Trivialisierung zu fassen, die ihm selbstredend inhärent sind, sondern primär der Erfahrungs- und Erlebnischarakter, der in dem Namen des Vergnügungsparks Disneyland enthalten ist. In der Adaption dieses Modells sind nationale Unterschiede markant. Während Deutschland und andere europäische Länder sich in der Offensive ‚disneylandisierender Erinnerungsprojekte‘ auf offizieller Seite zurückhalten, gibt es z.B. in Israel ein Museum, welches ganz offen mit der Erlebniskonzeption Disneylands spielt und hier kurz erwähnt werden soll. 912 Vgl. u.a.: Schäfer, Hermann: „Zwischen Wissenschaft und Disneyland: Das Museum als Medium der Geschichtsvermittlung“, in: Borsò, Vittoria/Kann, Christoph (Hg.): Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien, Köln: Böhlau 2004, S. 227-245. Korff, Gottfried: „Euro-Disney und Disney-Diskurse. Bemerkungen zum Problem transkultureller Kontakt- und Kontrasterfahrungen“, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 90 (1994), S. 207-232. 913 Ruth Klüger: „Kitsch und Holocaust. Das ist besonders unangenehm.“ Siehe dazu außerdem: R. Klüger: Kitsch, Kunst und Grauen. 914 Ritzer, George: Die McDonaldisierung der Gesellschaft. 4. völlig neue Auflage, Konstanz: UVK 2006. 915 G. Ritzer: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, S. 56.

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Anfang 2011eröffnete im Süden Israels das Holocaust-Museum Yad Mordechai mit einem bis dato völlig neuen Museumskonzept. Auf der Ausstellungsfläche des Museums wurde neben einem 1:100-Modell des ehemaligen Warschauer Ghettos auch ein Setting aufgebaut, welches mit akustischen, visuellen und animierten Filmelementen ein virtuelles sowie physisches Nachempfinden der Lebens- und Leidensumstände im Ghetto ermöglichte. Auch die Nachbildung eines Eisenbahnwaggons hatte der Museumsdesigner David Gafni entworfen, mit dem die Fahrt in die Konzentrationslager simuliert werden sollte. Als besonders ‚Special‘ konnten sich die Besucher außerdem einen Judenstern auf die Kleidung projizieren lassen, um somit das ‚Warschauer-Ghetto-Feeling‘ zu komplettieren.916 Es ist fast unnötig zu erwähnen, dass dieses Museumsprojekt große Kontroversen hervorrief und Teile der Ausstellung alsbald wieder entfernt wurden. Interessant ist aber neben dem hier erprobten Versuch der musealen Realisierung unmittelbaren Nachempfindens von traumatischen Zuständen an einem virtuell nachgestellten Ort, dass sich der Designer dieses kühnen Projektes nach eigenen Angaben tatsächlich vom Epcot Center Disneylands inspirieren ließ und zwar nicht nur, um innovative memoriale Effekte, sondern auch ausdrücklich, um Aufmerksamkeit und ein Alleinstellungsmerkmal zu generieren: „I wanted to cause people who come from far away to say that there’s something very special here that doesn’t exist anywhere else, something that’s impossible to send in a picture or by email.“917

Gilt es in der Gedenkkultur also zunehmend darum, Aufmerksamkeit um jeden Preis zu forcieren? „Seit mit diesen Stilmitteln [Pathos, emotionale Überwältigung, Kitsch – K.F.] Quoten zu machen sind, selbst beim Thema Auschwitz, hat sich die Szene verändert.“918 Wo führt die Eventisierung der Gedenkkultur hin, wenn nach immer neuen ‚reißerischen‘ Modellen und Ereignissen gestrebt wird und zugleich nicht nur die Ästhetik, sondern auch die Popularität der Erinnerungsangebote zum Gradmesser von Erfolg und Misserfolg werden? Wo ist die Grenze zwischen Kitsch und Kommerz auf der einen und Kunst und Zeitgeist auf der anderen Seite? Interessant ist am Beispiel des Museums Yad Mordechai, dass dessen provokante Ausstellung in Deutschland und anderen europäischen Ländern nur eine sehr limitierte Aufmerksamkeit erhielt. Außer einem Filmbeitrag in 3sat-Kulturzeit und einer Randerwähnung in der Online-Ausgabe des Rolling Stone Magazins ging dieser 916 David Gafni, in: Saar, Yuval: „Experience the Warsaw Ghetto“, in: Haaretz.com, 17.01.2011. Siehe: http://www.haaretz.com/culture/arts-leisure/experience-the-warsawghetto-1.337429 vom 02.02.2012. 917 Gafni, in Y. Saar: Experience the Warsaw Ghetto. 918 W. Benz: Auschwitz, S. 474.

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Vorstoß erinnerungskultureller Avantgarde an den deutschen Feuilletons und Kritikern weitgehend vorbei. Dabei ist die Frage, wie Geschichte lebendig und aktiv an die junge Generation vermittelt werden, bzw. überhaupt in die digitale Lebenswelt der Facebook- und YouTube-Generation hinüber gerettet werden kann, doch gerade in der deutschen Kulturlandschaft eine herausfordernde und lebhaft diskutierte Fragestellung. „Viele Menschen wollen in ihrer Freizeit nicht permanent belehrt oder gar mit erhobenem Zeigefinger auf pädagogisch wertvolle Botschaften hingewiesen werden. Disney-Didaktik ermöglicht durch ihre scheinbare Beiläufigkeit und dezente Vermittlungsform […]‚Lernen en passant‘.“919

Dabei bezieht sich die Bezeichnung ‚dezent‘ nicht unbedingt auf die Darstellungsart, die in vielen Fällen und wie im Beispiel oben als alles andere denn als diskret und unscheinbar zu bezeichnen ist. Vielmehr ist es die Vermittlung von HolocaustNarrativen, die dezent hinter die Eindringlichkeit des Visuellen und den Erlebnischarakter zurücktritt und einen spielerischen Zu- und Umgang mit der Geschichte ermöglicht: ein Lernen und Erinnerungshandeln en passant. Die Internetmedien Facebook und YouTube verfolgen dieses spielerische Alltagsmoment besonders, indem dort nicht die primäre Vermittlung von Wissen oder das Ausstellen exponierter historischer Meinungsbilder, sondern Social Networking und Selfperformance fokussiert werden. Mit Dancing Auschwitz werden in diesem Sinne durch die ‚digitale Hintertür‘ Erinnerungen und Erfahrungen erschlossen und traumatische Orte ehemaliger Verbrechen ‚spielerisch‘ durch einen anderen Zugang aufgeschlossen. 4.2.6

Eventisierung des Holocaust als Erinnerungsperformance

„Auf den ersten Blick ist ‚Dancing Auschwitz‘ […] ein Tabubruch, auf den zweiten eine Provokation, auf den dritten aber eine kluge Antwort auf die Frage, wie man etwas erinnern kann, das im Steinbruch der ‚Erinnerungskultur‘ längst zu historischem Schotter verarbeitet wurde“920

Nicht alle Kommentare der Kritik an Dancing Auschwitz fallen derart positiv aus wie dieses des Publizisten Broder, der außerdem selbst für seinen eigenen eher unorthodoxen Umgang mit dem Holocaust bekannt ist. Für die Erinnerungsperformance der Familie Kohn/Korman gab es erwartungsgemäß auch aus den eigenen, jüdischen Reihen, besonders von konservativ orientierten „professionelle[n] Erinne-

919 H. Schäfer: Zwischen Wissenschaft und Disneyland, S. 229 f. 920 H.M. Broder: Schaut her, ich lebe.

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rungsarbeiter[n]“921 jüdischer Organisationen und anderer Holocaust-Überlebender Kritik: „Ich finde das Video geschmacklos. Die sogenannte Künstlerin kann den Verdacht nicht ausräumen, dass sie mit dem Video in Wahrheit nur Eigenwerbung betreiben will. So etwas tut man nicht auf Kosten von Ermordeten.“922

Hier lassen sich nun zwei wesentlich moralisch motivierte Fragestellungen konkretisieren, die in der zuvor geleisteten Analyse bereits angeschnitten wurden. Zum einen jene, die zur Disposition stellt, ob sich die Inszenierung, die Selfperformance als geeignete Darstellungsform von Holocaust-Erinnerungen anbietet. Geoffrey Hartman spricht in Anbetracht einer zu beobachtenden „fortwährende[n] Selbstentblößung, die insbesondere den erfolgreichen (man lese: vermarktbaren) Kuppler würdigt“ von einer Situation, in der die „Kunst ihre eigne Vergangenheit durch Pastiche und Parodie [kannibalisiert].“923 Zum anderen rückt eine im Zusammenhang mit Facebook bereits diskutierte Frage in den Vordergrund: Haben wir es hier mit einem inszenatorischen Problem der Stilmittel (Drehorte, Musik, Tanz, Ironie) zu tun oder geht es erneut um den Vorwurf eines möglicherweise unpassenden, ‚memorial incorrecten‘ Mediums, welches den Holocaust zum Massenevent trivialisiert? Problematisch scheint in beiden Fällen, in der Frage des ‚Wie‘ der Inszenierung ebenso wie des ‚Womit‘ des Mediums, die Orientierung am Populären zu sein, die in Dancing Auschwitz nachweisbar ist. Zum einen wird dabei zielgruppenbewusst das populäre Medium YouTube zur Vermittlung genutzt, zum anderen ist das Gezeigte – der Tanz eines Holocaust-Überlebenden und seiner Familie zu Popmusik – nicht eindeutig als ritueller Überlebens- oder Totentanz zu klassifizieren, sondern die Szenerie gewinnt im Fortgang des Videos immer mehr Züge eines grotesk inszenierten ‚Happenings‘. In verstärktem Maße gilt dies für die mittanzende Nachkommenengeneration. Der Besuch der Angehörigen der dritten Generation an den Orten der ehemaligen Nazi-Verbrechen wird in dieser Argumentation dann doch zu einer Art nachempfundenen ‚Site-Seeing‘, nach dem Motto: „Generation Golf in Auschwitz“924. Die auf eine bestimmte Wirkung hin konzipierte progressive Szenenästhetik ist im thematischen Zusammenhang mit der Repräsentation des Holocaust ein durchaus „prekäres Unterfangen“, da Massenmord und Unterhaltung oder

921 H.M. Broder: Schaut her, ich lebe. 922 Michael Wolfssohn, in: Der Freitag Onlineblog, 15.07.2010. Siehe: http://www. freitag.de/community/blogs/ed2murrow/dancing-auschwitz vom 10.02.2012. 923 G. Hartman: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, S. 90. 924 M. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 176.

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gar Vergnügen – welches durch das Tanzen und die Musik symbolisiert wird – „grundsätzlich als unangemessen gelten“925. Als theatrales Medium, als welches YouTube gelten kann, operiert es mit verschiedenen Zeichensystemen wie Musik, Sprache, Text, Bild und Aktionsbild, welche im Zusammenschluss die digitale Video-Erzählung ermöglichen. Als inszenierte Erzählung handelt es sich hierbei jedoch wie auch in Performances an sich primär um die Präsentation der Erzählung denn um deren literates Modell.926 Das zu Erzählende bzw. zu Zeigende, hier das Überlebenszeugnis eines HolocaustÜberlebenden, wird in Szene gesetzt und durch die Dramaturgie Aufmerksamkeit erzeugt. Damit geschieht, was Hayden White als „Story Event“ und Geoffrey Hartman die „radikale Transformation des ‚Ereignisses der Erzählung‘“927 bezeichnet: Die Geschichte wird als transformierte Erzählung zum Event. Abgesehen von der inhärenten Theatralität ist es vor allem dieses ‚Sich-inSzene-setzen‘ als Strategie der Selbst-Erzeugung und -Sicherung, das in Bezugnahme auf den verhandelten Gegenstand kein ganz leichtes Unterfangen darstellt, auch wenn es zweifelsohne mit den Entwicklungen der Erlebnisgesellschaft korrespondiert: als „absichtsvolles, auf Wirkung angelegtes Handeln, welches die Ausrichtung auf Adressaten beinhaltet“928. An jene Tendenzen der Eventisierung unserer Gegenwart, dem Drang nach Selbstinszenierung und Selfperformance, knüpft sich mit dem Beispiel YouTubes eine ‚Medientheatralität‘, die anlehnend an die kulturelle Macht des Visuellen ebenfalls als markantes Zeichen medialisierter Gegenwart auszumachen ist und de facto auch die Darstellungen individueller und kultureller Holocaust-Erinnerungen verändert. Bedeuten diese Tendenzen aber sogleich einen Werteverlust und die Abgabe kommemorativen Inhalts unter das Diktat provokanter, massentauglicher Darstellung? „Extremes Leid ist im Lauf der Geschichte vielfach dargestellt worden. Warum sollten wir also fortfahren, die Qualen der Leidenden zu gestalten und ihren Geist in den wohlgeformten Urnen eines Essays, Gedichts, Romans oder Films zur Ruhe legen? Sind ein karnevaleskes Satyrspiel oder der Galgenhumor nicht vorzuziehen […]? Zumindest erlaubt die Art der Darstellung eine kathartische Entlastung.“929

Als „kathartische Entlastung“ für Adolek Kohn lässt sich Dancing Auschwitz sicherlich legitimieren und dennoch ist auch die Provokation offensichtlich und weder durch gute Absichten noch durch das dem Zeitzeugen immanente Deutungs925 E. Meyer: Problematische Popularität, S. 267. 926 Vgl. D. Tophinke: Wirklichkeitserzählungen im Internet, S. 245. 927 G. Hartman: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, S. 45. 928 B. Becker: Selbst-Inszenierung im Netz, S. 415. 929 G. Hartman: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, S. 66.

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recht gänzlich abzuwenden. Dancing Auschwitz ist die medial transformierte Präsentation von Adolek Kohns traumatischen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus im Format eines digitalisierten Erinnerungszeugnisses als Performance. Damit fügt Kohn der elaborieren Historie sowie dem Erinnerungspool des kulturellen Gedächtnisses, welches gefüllt ist mit den Augenzeugenberichten Überlebender, kein weiteres traumatisches Zeugnis, keine Ausführungen, keine grausamen Einzelheiten aus den Konzentrationslagern hinzu. Die Mehrzahl der Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager beschreibt in ihren (literarischen) Erinnerungen den Schrecken der Lager; sie berichten von Tod, Folter, Krankheit und Todesangst. In den autobiographischen Texten der schon genannten Schriftsteller Primo Levi, Paul Celan oder Jean Améry fehlen jede Form von Pathos, Triumph und Lebensbejahung im Angesicht ihres Überlebens, die Kohn in seinem Zeugnis als Event zelebriert. Für autobiographische Zeugnisse gilt außerdem ein Gebot der Authentizität und Wahrheit, welches vor allem für Kohns Zeitzeugengeneration Bedeutung behält. Kohn hingegen bewegt sich hier in einem Übergangsbereich zwischen Authentizität und Inszenierung. Um keinen „Vertrauensverlust“ oder eine „Störung“ der Geschichte zu provozieren, bedarf es angesichts des in Szene gesetzten Themas einer direkten Referenz auf die Authentizität der Orte sowie der Person des Augenzeugens.930 Die Orte sind authentisch, ebenso Adolek Kohn, auch wenn er hier in seiner Selbstdarstellung als tanzender Holocaust-Überlebender nur eine Teil-Identität seiner selbst zum Ausdruck bringt und diese zudem ein hohes Inszenierungspotential hat. Kohn ist einer der letzten Augenzeugen und Überlebenden des Holocaust und validiert bereits qua dieser Eigenschaft die Authentizität seiner Person und den Wahrheitsgehalt seines wie auch immer gearteten Zeugnisses. Auch wenn die Form seines Erinnerungsdokuments als Selbstinszenierung auf YouTube zweifelsohne von dem ‚klassischen Erinnerungszeugnis‘ abweicht, stellt sich durch den inszenatorischen Charakter keinesfalls von vornherein eine Ambivalenz zur Authentizität und Wesenhaftigkeit der Person und Aussage her.931 Ebenso wie die Authentizität der Orte nicht angetastet, ihre Bedeutung nicht ‚entweiht‘ wird, entsteht durch den Inszenierungscharakter des Videos auch kein Zweifel an dem Zeugnis Adolek Kohns, obwohl das ‚ungewöhnliche‘ Verhalten seiner Familie eine zumindest ‚eigenartige‘ Herangehensweise an die Traumata der Vergangenheit offenbart. Kohn deutet seine Erinnerungen an die traumatischen Orte nicht nur entsprechend seiner Lebensgeschichte als eine Geschichte des Überlebens um, sondern macht das Tanzen in Auschwitz zu einem „wirklich historischen Moment“: „We were in Auschwitz and danced. This is a really historical moment.“ Dass die große Empörungswelle im Fall von Dancing Auschwitz ausgeblieben ist, belegt besonders eindringlich, dass das Video als eine schützenswerte, histori930 Vgl. W. Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, S. 182. 931 Vgl. B. Becker: Selbst-Inszenierung im Netz, S. 416.

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sche Opferperspektive rezipiert wurde, bei der auf der Grundlage einer Opfer/TäterZuordnung ethnische, nationale, generations- und genderspezifische Unterscheidungen vorgenommen wurden932, die der Beurteilung trotz aller implizierten Grenzgänge als angemessenes Erinnerungsformat zufließen. Auch hier spielt der Opferdiskurs eine entscheidende Rolle. Wie bereits an anderer Stelle angeführt, sind der Sprecher, der seine Erinnerungen aufschreibt, wie auch der ‚Performer‘, der eine Erinnerungsperformance inszeniert, für die Kontextualisierung und Bewertung des Kunstwerkes unabdingbar. Mit anderen Worten: Die jüdische Identität und die Biographien der Protagonisten schützen nicht nur die Erinnerungen des Zeitzeugen Adolek Kohn, sondern auch das gesamte Projekt vor Trivialisierung und einer entsprechender Kritik. Zu kennzeichnen ist dieser ‚Schutz‘ z.B. an den Reaktionen auf die Unterlassungsklage, welche der Musikkonzern Universal Music Publishing 2010 gegen Jane Korman erließ, weil diese sich ohne Genehmigung und ohne die Zahlung eines entsprechenden Honorars an dem Musiktitel „I will survive“ von Gloria Gaynor für ihre Dancing Auschwitz-Inszenierung bedient hatte. Dass dieses völlig normale und rechtmäßige Insistieren der Plattenfirma allerdings auf Unverständnis und Naserümpfen stieß – „unfassbar, dass Universal Music Publishing, Australien […] eine Unterlassungserklärung geschickt hat“933 – zeigt den explizit zugedachten ‚Opferstatus‘, der diesem Projekt offenbar obliegt und der einen ‚normalen‘ Umgang hemmt. Wenn dieses Vorgehen der Plattenfirma doch für alle Verstöße gegen das Urheberrecht gilt, warum sollte es dann nicht auch für dieses Projekt gelten? Warum wird dieser Vorfall in jenem speziellen Fall als „unfassbar“ deklariert? Vermutlich weil es sich hier um die Klage gegen ein jüdisches Erinnerungszeichen handelt, dessen Leiden jedes Recht auf Ausdruck hat. Wesentlich eklatanter als die Tatsache, dass mit der Unterlassungsklage diese PerformanceKunst von dem Musikkonzern als ‚normale‘ Kunst behandelt wurde, könnte sein, dass sie damit auch in Bereiche der Musik-, Werbe- und Reklameindustrie gerückt wurde, in der Video-Clips und Diskussionen um ihr Urheberrecht etc. gemeinhin zu verorten sind.934 Es wäre vielmehr dieser Vorgang, in dem letztlich Adolek Kohn seine Authentizität als Zeitzeuge abgesprochen und er als ‚Werbefigur‘, als ‚Material‘ der Vermarktung vereinnahmt wird, der im Sinne einer eingeforderten Memorial Correctness in der Tat als ‚unfassbar‘ zu bezeichnen wäre. In diesem Kapitel IV ist auf die Möglichkeiten der Kommunikation und sozialen Interaktion durch die neuen Medien verwiesen worden und es konnte gezeigt werden, dass sich im Internet ein neuer Verhandlungs- und Aktionsraum für Erinnerungshandlungen ausweisen lässt, der sich in seinen flüchtigen, prozessualen Eigenschaften an den Lebensgewohnheiten und kulturellen Transformationsprozessen der 932 Vgl. S. Kramer: Tabuschwellen im literarischen Diskurs, S. 178. 933 K. Steinberger: Dancing,Auschwitz@YouTube. 934 T. Düllo: Geile Geräusche, S. 17.

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Erlebnisgesellschaft orientiert. Derart verändern sich auch die Nutzungsweisen kultureller Medien, denn deren neuen technischen Möglichkeiten sind „ein untrennbarer Bestandteil des kreativen Prozesses. Sie sind nicht mehr nur als Apparat und Mittel zum Zweck, sie prägen vielmehr Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkformen.“935 Durch die generell vorausgesetzte Aktivität ihrer Handhabung und der bewusst gesteuerten Partizipation als Work in Progress wird de facto auch die Vermittlung von Vergangenheitsnarrativen an den Erlebnischarakter der Medien gekoppelt. Gegenwärtige Geschichtsaneignungen erhalten somit quasi zwangsläufig „Erlebnisqualitäten“936 und der Holocaust kann als Geschichte zum Event werden, ohne dass der Ruf nach ‚Memory Incorrectness‘ laut werden muss. Dancing Auschwitz kann hierfür als Beispiel gelten, indem der Clip zu einem spielerischen bzw. ‚leichteren‘ Umgang mit der Vergangenheit anhält, ohne aber auf Authentizität zu verzichten und sich damit an den gegenwärtigen kommemorativen Voraussetzungen der (jungen) Erlebnisgesellschaft orientiert, deren historische Identität weder auf die Bewältigung noch auf die Bewahrung der Vergangenheit, sondern im primären Sinn auf die Bewältigung der Gegenwart fokussiert ist. Für die junge Generation, die einen alltagsnahen Zugang zur Vergangenheit innerhalb ihres zunehmend interaktiven Lebensraumes sucht, kann das YouTube-Erinnerungsformat Dancing Auschwitz jenseits der Dokumentation, dem Zeitzeugengespräch oder anderer Wissensvermittlungen und insbesondere fern ab von der Zurschaustellung eines öffentlichen „Betroffenheitskultes“937 auf künstlerische Weise traditionelles Gedenken und zukünftiges Erinnerungshandeln miteinander verbinden. Der Erinnerungsanlass wird hierbei nicht über eine Frontaldidaktik oder Handlungsanweisung hervorgerufen, sondern durch die Möglichkeit des Nacherlebens, durch Partizipation an einem digitalen, transgenerationellen und transkulturellen Kunstwerk. Dieses Kunstwerk ist dabei erneut, wie auch schon in Bezug auf die medialen Transformationen des Facebook-Auftritts Henio Zytomirskis deutlich wurde, eine Art Hybris und Übergangsraum, in dem historische (Arte-)Fakte(n) in die gegenwärtige digitale Medienkultur transformiert werden. Die traumatischen Orte der nationalsozialistischen Vergangenheit werden durch popkulturelle Mittel transformiert und in einem neuen Setting als Erinnerungsperformance präsentiert. Das ritualisierte Holocaust-Gedenken an den u.a. als heilige Stätten umgedeuteten Orten ehemaliger Verbrechen wird so eingebunden in die „fresh perspective“ aktueller Ausdrucksformen der jungen Generationen. „Traumata versperren sich der literarischen Präsentation, weil für sie keine Narrative und andere kulturelle Schemata bereit stehen“938 – die neuen Medien bieten 935 P. Missomelius: Digitale Medienkultur, S. 41. 936 E. Meyer: Problematische Popularität, S. 273. 937 P. Rigney: Der Gedächtnisort des Mahnmals, S. 224. 938 A. Assmann: Wem gehört die Geschichte, S. 219.

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hier ein entsprechendes neues kulturelles Schema. Nun schließt sich der Bogen zu der Frage, ob sich Dancing Auschwitz in seiner Inszenierung und als Bestandteil der Selfperformance-Kultur YouTubes als angemessene Darstellungsform für die in eine Überlebenshymne umgewandelten traumatischen Erinnerungen eines Holocaust-Opfers anbietet oder ob hier die Art der Inszenierung wichtiger wird als ihr Inhalt.939 YouTube verfolgt unverkennbar in erster Linie den Trend gegenwärtiger (Jugend-)Kultur, sich permanent selbst zu inszenieren, darzustellen und zu ‚performen‘. „Seht her, was ich tue und als Nächstes tun werde“940 – wird dabei zum Leitspruch des Agierens. Auch Aleida Assmann hat die Frageformel „Hier bin ich, wo bist du?“ als typisch für Inszenierungen auf YouTube bewertet. Adolek Kohn hat sich durch seinen Tanz auf YouTube ebenfalls vielleicht bewusst, vielleicht aber auch unbewusst, unter das Performance-Gebot begeben. Dem 89-jährigen Adolek Kohn werden durch seine Internetpräsenz und seiner durch die Klicks und Kommentare zugesprochenen Popularität auf YouTube ein regelrechtes ‚Starappeal‘ zuteil. Er wird – auch hier eine Ähnlichkeit zu Henio Zytomirski – zu einer Person des öffentlichen Interesses, vielleicht gar zu einer ‚Ikone‘, zumindest jedoch zum „coolsten Performer der Combo“941, wie Doris Akrap euphorisch konstatiert. Auf die imaginierte Frage „Hier bin ich, wo bist du?“ antwortet Kohn am Ende des Videos und setzt damit alle einschränkenden Fragen schier außer Gefecht: „We were in Auschwitz and danced. This is a really historical moment“ – und eine zulässige Eventisierung des Holocaust ist es ebenfalls.

939 Vgl. G. Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung, S. 26. 940 C. Bartmann: Die Performance-Falle. 941 D. Akrap: Disco-Dancing in Auschwitz.

V Fazit

1. T RANSFORMATIONEN , R ÄUME DES H OLOCAUST

UND

V ERORTUNGEN

„Obwohl die Plateauphasen immer kürzer werden, spielt sich unser Leben dennoch vor allem in ihnen ab; Paradigmenwechsel und gesteigerte Möglichkeiten erfahren wir als kurzfristige Schübe. Danach haben wir uns auf dem Plateau einzurichten. Während wir uns noch einrichten, bereitet sich bereits der nächste Steigerungssprung vor.“942

In den vorangegangenen Kapiteln haben verschiedene Raummodelle, Übergangs-, und Bewegungsmetaphern eine Rolle bei der Erarbeitung der (medialen) Transformationen des Gedächtnisparadigmas gespielt. Eines der Ziele war es, das Gedächtnismodell im Hinblick auf die vor allem in Kapitel I beschriebenen gegenwärtigen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel und kulturellen Transformationsprozesse zu modifizieren und ihm möglicherweise ein anderes, dynamischeres Modell beiseite zu stellen. Auch standen zwei Untersuchungsräume im Zentrum des Interesses, zum einen der gesellschaftliche und zum anderen der mediale Raum – in beiden konnten vielfältige Dynamiken und Veränderungen kenntlich gemacht werden. An ihren Schnittstellen und Übergängen sollte eine neue Verhandlungsbasis für die Themen Holocaust und Nationalsozialismus aufgedeckt werden. Dass sich die Gesellschaft, insbesondere die im Fokus stehende junge Generation, in einem Übergangsstadium befindet, in einer liminalen Erinnerungssituation, in der Erinnerung nicht mehr verfügbar und auch das Partizipieren an einem gesättigten kulturellen Gedächtnis zum Problem geworden ist, galt hierbei als Ausgangspunkt und wurde durch die kulturwissenschaftlichen und sozial-gesellschaftlichen Kontexte grundgelegt. Dass dieser transitäre Status als mediale Transformation zudem auch in der Kunst und Kultur, de facto in der Literatur, den Performances und den neuen Medien, nachweisbar ist und dort in z.T. innovativen Formen, Formaten und Motiven zum Ausdruck kommt, haben dann die exemplarischen Analysen gezeigt.

942 G. Schulze: Die beste aller Welten, S. 103.

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„Wir erleben einen Augenblick des Übergangs.“943 Neben dem Raummodell galt in dieser Arbeit auch besonders das Motiv des Übergangs als Auftakt einer Neuformierung des Gedächtnisparadigmas und Impuls neuer Erinnerungskulturen. Mit den Begriffen ‚Übergang‘ und ‚Neuverhandlung‘ wurde jedoch nicht nur metaphorisch der Paradigmenwechsel beschrieben, sondern gleichsam ein konkreter Wissenschaftsbereich tangiert, nämlich der der neueren Ritualtheorien, welcher besonders durch die Arbeiten der Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner geprägt ist und als Einführung in dieses Schlusskapitel der Arbeit eine weitere Rahmung geben soll.944 Les rites de passage, die sogenannten Übergangsriten, sind durch Prozesse der Trennung und Angliederung gekennzeichnet, welche verschiedene Phasen der Ablösung, der Zwischenphase und der Integration in einen neuen Zustand durchlaufen. Victor Turner hat diese Riten vor allem in ihrer Bedeutung für gesellschaftliche Schwellenzustände untersucht und knüpft damit etwa an das Bild Jan Assmanns Schwellenposition sowie als ‚Anti-Struktur‘ gedacht an den Augéschen ‚Nicht-Ort‘ oder aber – nach der in dieser Arbeit wichtigen Theorie Pierre Noras Erinnerungsorte – an die Vorstellung des ‚Platzhalters‘ an. All diese Metaphern umschreiben in dieser Arbeit das Initial der angestellten Überlegungen. Von den offenen Räumen und der akuten Schwellenposition im Umgang mit der deutschen Vergangenheit ausgehend, war es das Anliegen, Beständigkeit, Transformation und Ablösung vom Gedächtnisparadigma, Zwischenphasen der Aushandlung und neue Integrations- und Anknüpfungspunkte für die Zukunft der Erinnerungskultur ausfindig zu machen. 1.1 Literarische Verhandlungen der Vergangenheit: Was folgt auf den Familienroman? Wohin führen die literarischen Transformationen und wie verhält es sich mit der literarischen Bearbeitung des Holocaust in Zeiten, die durch einen signifikanten Generations- und Gedächtniswandel geprägt sind? Bildet das literarische Medium in einer (Erinnerungs-)Kultur der Aufmerksamkeit veritable Möglichkeiten ab, die Vergangenheit erfahrbar zu machen oder wird ihm durch andere Medien und Zugänge tatsächlich der Rang abgelaufen, wie skeptische Stimmen einstweilen propagieren? Diese letzte Frage, die in Varianten immer einmal wieder im Verlauf dieser Arbeit thematisiert wurde, ist natürlich eine rhetorische, denn diese Arbeit hat selbst

943 P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 11. 944 Siehe exemplarisch: Gennep, Arnold van: Übergangsriten. Les Rites de Passage, Frankfurt a.M. Campus 1986. Turner, Victor: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M.: Campus 1989. Außerdem Beiträge in: Belliger, Andrea (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. 2. Auflage, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003.

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gegenwärtige neue Formen des literarischen Erzählens über den Holocaust eruiert und zugleich gezeigt, dass literarische Motive, Themen und Verfahrensweisen vor allem auch als Transformationen und Impulse für Vergangenheitsreflexionen in anderen Medien fungieren. Auch ohne ein fixierendes, verbindliches Master Narrative ist die nationalsozialistische Vergangenheit präsent und fest im literarischen Gegenwartsdiskurs verortet, wenn auch die neuen Aushandlungsprozesse, sofern sie etwas Neues erzählen wollen, der Arbeit, des Durcharbeitens, dem Work in Progress bedürfen In den literarischen Einzelanalysen konnte neben diesen ‚Anstrengungen‘ als Konstante das Changieren zwischen alten Diskurselementen und neuen Gegenwartsdiskursen besonders anhand der Sprache und darüber hinaus insbesondere am Einfluss der Popkultur und dem auch den literarischen Markt bestimmenden Gebot der Aufmerksamkeit herausgearbeitet werden. Deutlich wurde insgesamt – und demnach nicht nur in dem vermeintlich dafür prädestinierten Bereich der Popliteratur – eine Verstärkung von ‚Pop-Effekten‘ unterschiedlicher Fasson, die bei Kevin Vennemann gar zu der Wortschöpfung des ‚Holocaust-Diskurs-Pop‘ angestiftet haben. Neben den popkulturellen Einflüssen auf die Erzählästhetik wie auch auf die Themenvielfalt und ihre Durchdringungen von leicht Konsumierbarem und schwerer Kost, ist auch das offensive Abstreiten eines an traditionelle Muster anknüpfenden Erzählverfahrens durch Referenz- und Wahrheitsverzicht markant. Wo zudem im Sinne des „bequemen Pullovers“ alles schon bekannt und in der Erinnerungsliteratur erzählt worden ist, braucht es keine neuen Fakten und es setzt die künstlerische Distanz zu den Ereignissen ein. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Autoren die historischen Fakten und den etablierten Vergangenheitsdiskurs missachten oder mutmaßlich einreißen wollen. Gerade bei Christian Schüle, Kevin Vennemann oder Maxim Biller wurde gezeigt, dass sie die Diskurse, in denen sie sich bewegen, die sie umschreiben oder demontieren sehr gut kennen. Bei ihnen geht es vielmehr um das Anschreiben gegen eine Überdeterminiertheit und um die „Befreiung von Bedeutungssimulation, von Kulturzwang, Kanondruck und steilen Sinnkarrieren“945. Anstelle des autarken, repräsentativen (Erinnerungs-)Werkes setzen die hier untersuchten Beispiele einen andauernden Prozess des Work in Progress literarisch um. Wobei hiermit noch nicht die Frage geklärt ist, ob es nicht auch dabei zu neuen Formen von Kanonisierungen und gar ‚Ritualisierungen‘ kommt. Ebenfalls charakteristisch für die untersuchten literarischen Texte ist eine Ästhetik des Performativen und der vielfache Inszenierungscharakter der Themen Holocaust und Nationalsozialismus sowie ihrer Metadiskurse um die Begriffe ‚Generation‘, ‚Gedächtnis‘ und ‚Identität‘. Ähnlich wie im Theaterstück Dritte Generation von Yael Ronen bringt z.B. Kevin Vennemann in seinem Roman Mara Kogoj eine Inszenierung der scheiternden Holocaust-(Sprach)-Diskurse auf die literarische 945 H. Winkels: Gute Zeichen, S. 371.

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Bühne, indem er ihre Bestandteile performativ demontiert und ihr Scheitern als ‚Nicht-Passen‘ vorführt. Wenn Vennemann sich so an den manifesten HolocaustDebatten und ihren ‚doktrinären‘, durch Political- und Memorial Correctness eingeschränkten Sprachformeln abarbeitet, dann prägt er ein neues Bild performativen Geschichte(n)-Erzählens. Als Vennemann-Prinzip wurde so die Ästhetik des literarischen ‚Zerschreibens‘ ausgemacht und auch in den Texten zum DeutschlandDiskurs von Christian Schüle oder Maxim Biller zeigt sich, dass die insistierende Verwendung ‚potentiell belasteten‘ Vokabulars des ohnehin konfliktären Holocaust-Diskurses nur bedeuten kann, dass ‚etwas nicht stimmt‘, etwas ‚faul‘ ist. Als Negativfolie und in diesem Anliegen der Terminologie von Memorial Correctness entsprechend greifen Schüle und Biller auf die Motive des ‚moralischen Kompasses‘ und des Unwohlseins zurück. Besonders Maxim Biller setzt überdies die Inszenierung seines ‚Jüdischseins‘ immer wieder dazu ein, den ‚Anderen‘ ihr reflexives Ungenügen und Verweilen in ‚hinterwäldlichen‘ historischen Debatten vor Augen zu führen. „Raus aus dem Wort-Knast“ – Ausgangspunkt aller exemplarischer Analysen und Anknüpfungspunkt an dem etablierten Holocaust-Diskurs war die Suche nach einer neuen, ‚passenderen‘ Sprache, wofür zunächst auch die vorhandenen Sprachdiskurse in den neuen Verhandlungsräumen untersucht werden mussten. Unter diesem Fokus konnten die literarischen Beispiele zeigen, wie stark hier letztlich beide Seiten, die manifeste ‚Diskurslast‘ einerseits und das Aufbegehren nach sprachlicher Freiheit andererseits, vertreten sind und in einen dynamischen Transformationsprozess geraten. Das Sprachproblem, wie es in den einleitenden Kapiteln definiert wurde, nimmt seinen Ursprung in den politischen und medialen Debatten der 68er-Generation und ihrer durch Political- und Memorial Correctness bestimmten Diskurs-Rhetorik. Die Forderung nach einer neuen Sprache ließ sich in dieser Arbeit besonders in der Aushandlung der Wortwahl selbst – ‚was darf gesagt werden‘ – als auch an den Sprecherpositionen – ‚wer darf das sagen‘ – kenntlich machen. Darf ‚man‘ z.B. ‚Jude‘ sagen, darf man es als ‚Deutscher‘ oder als ‚Jude‘? Diese Diskussion wurde in den Beispielen in unterschiedlicher Intensität, z.T. auch auf überpointierte, inszenierte Weise, jedoch zumeist als beständiges Motiv geführt und lässt sich so als wesentliches Verbindungsglied in allen literarischen wie auch performativen und digitalen Texten nachweisen. Von politisch-gesellschaftskritischen Debattenbeiträgen in Christian Schüles Text, über Maxim Billers Sarkasmus und Oliver Polaks zynisches ‚Judenspiel‘, bis hin zur performativen Inszenierung eines Sprach-Clashs bei Yael Ronen oder der stummen Provokation in Kohns/Kormans Dancing Auschwitz – immer wieder lassen sich diese Beispiele auch auf der Folie der Political- und Memorial Correctness diskutieren. Ein ‚Dialekt‘ dieser möglichen neuen Sprache oder speech ist stark am (Pop-) Musikalischen orientiert. Auch dies lässt sich besonders an Kevin Vennemanns Erzählsprache kenntlich machen, welche mit ihren melodiösen Schleifen und stak-

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katohaften Tempi-Beschleunigungen an die Komposition eines Musikstücks erinnert. Das popmusikalische Mixen, Sampling, Streaming etc. konnte hingegen nicht nur im Motiv des Tonbandes und Synthesizers, sondern ebenso als wiederkehrendes Erzählmuster produktiv gemacht werden und führte gleichzeitig auf die sozialen Prozesse des Erinnerungshandelns der jungen Generation zurück. In der Überlagerung und Vermischung von Versatzstücken der Vergangenheit mit beweglichen, dynamischen Gegenwartsfragmenten lassen sich nicht nur Vergegenwärtigungsprozesse im Möglichkeitsbereich der Delete-Generation bezeichnen, sondern auch die Copy-and-Paste-Methodik wurde dadurch zum narrativen Element erklärt. Indem etablierte Gedächtnisinhalte wie z.B. der in allen Texten vorhandene Täter-/ Opferdiskurs zudem in neue Diskurse überführt werden, hat sich das proklamierte Diskurs-Archiv behauptet, für welches Funktionalität, Dynamik und Crossover geltend gemacht wurde. Während das kulturwissenschaftliche Gedächtnisparadigma darauf ausgelegt ist, ‚chaotische Zustände‘, die hier vor allem ein Chaos durch den Verlust von Erinnerungen bezeichnen, zu stabilisieren und in Formen, Formate und ‚Stufen‘ festzuschreiben, entwickelt das Diskurs-Archiv ein neues Ordnungssystem für gegenwärtige neue chaotische Zustände, die sich nicht aus der unverarbeiteten Vergangenheit, sondern aus der ungeklärten Gegenwart und dem transitären Status heraus entwickeln und als Work in Progress frei flottierend sind. Mit der thematischen und methodischen Hinwendung zum Pop, der Inszenierung anstelle der Erinnerung, der Generation anstelle der Familie und deren Tradition und Tradierungen wurde implizit die Genre-Frage nach einer sukzessiven Weiterentwicklung des Familienromans als Erinnerungsliteratur gestellt. Da in den literarischen Verhandlungen kein verbindliches Master Narrative mit einem normativen Ursprung im Holocaust auszumachen ist, floriert die Vielheit von Geschichten. Geschichte wird weiter erzählt, wenn auch das narratologische Prinzip ein anderes ist, eher hyptertextueller, denn linearer Struktur und eher auf Inszenierung statt auf Authentizität basierend. Dabei ist noch einmal wichtig zu erwähnen, dass Diversifikationen der Geschichte(n) auch bedeutet, dass es nicht nur zwei Wege, Fiktion oder Spurensuche, gibt, die in die Vergangenheit zurückführen. Möglicherweise sind es gar Formate wie der Hypertext, welche Touching Tales anstelle des Master Narratives aufnehmen. „[…] Hypertexte, in denen mehrere Erzählungen Platz finden und ‚kursieren‘ – aber nicht mehr die eine Meistererzählung im Singular. Hypertexte ermöglichen ständig neue und sinnvolle Kohärenzen, die durchaus geschichtliches Herkommen haben, aber nicht ein einziges […] sondern sehr unterschiedliche geschichtliche Herkommen, die sich zu einem historischen Hypertext verflechten lassen […]. Nur so lässt sich in der Vielfalt der Erinnerung und Gedächtnisse Kohärenz bilden, ohne zu verdrängen, ohne auszuschließen.“946 946 Schmale, Wolfgang: E-Learning Geschichte, Wien: Böhlau 2007, S. 27.

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Ist der „historische Hypertext“ das Genre, welches sich in die Chronologie der Erinnerungsliteratur fügt und auf den Familienroman folgt? Es ist jedoch fraglich, ob der Hypertext noch als literarisch anzusehen ist oder sich an seiner Popularität nicht am Ende die drängende Macht der digitalen, neuen Medien, ihrer Erzählweisen und Strukturen bestätigt. Es ist außerdem mitunter und wie an der Kennzeichnung der Kategorie ‚Generation‘ gezeigt, nicht nur auf diesen Gegenstand bezogen schwierig, in einem dynamischen Prozess, der das literarische Schreiben charakterisiert, im Moment seiner Entstehung sogleich auch eine neue Stilrichtung bzw. ein neues Genre oder eine gültige Tendenz auszumachen. Das Anliegen der exemplarischen literarischen Analysen war es daher vielmehr, Möglichkeiten und Versuchsanordnungen eines gegenwärtigen Schreibens über den Holocaust und den Nationalsozialismus abseits des traditionellen Diskurses und abgelaufener literaturwissenschaftlicher Trampelpfade zu zeigen. Dies hat vor allem eines offenbart: die Pluralität der literarischen Pfade und eines „Blicks zurück“. Ein neues Genre dabei zu begründen, welches einen ‚definitorischen Anspruch‘ besetzen kann und auf die Frage ‚Was folgt dem Familienroman?‘ eine klare Antwort findet, bleibt auch aufgrund anhaltender Transformationsprozesse notwendig und folgerichtig offen und soll als fortwährender Work in Progress in den (Aus-)Blick genommen werden. 1.2 In einer Kultur der Aufmerksamkeit: Performances Die Performances des Unwohlseins, welche die performative Übersetzung der liminalen Situation der jungen Generation kennzeichnet, konnte ansatzweise bereits als literarisches Motiv vor allem bei Christian Schüle herausgearbeitet werden. Als Möglichkeit Erinnerungshandlungen zu vollziehen und die tragenden Versatzstücke des Holocaust-Diskurses zu präsentieren, eröffnen Performances ohne Frage noch einmal weitere Möglichkeiten des medialen Ausdrucks. Das Durcharbeiten und die intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust markiert dort vor allem ein Experimentieren in und mit Sprache. In Yael Ronens Stück Dritte Generation. Work in Progress wird dieses besonders plakativ in Szene gesetzt, indem sich dort die Schauspieler lautstark die Inhalte der etablierten Holocaust-Debatten und ihrer angrenzenden Diskurse an den Kopf werfen und die Sprache selbst die Hauptrolle der Inszenierung übernimmt. Bei Oliver Polak sind es die an das Publikum gerichteten schrägen und verstörenden Töne, die den Prozess der Aushandlung von Sprache und vor allem ihrer Grenzen des guten Geschmacks in Gang setzen. Die Performance als Kunstform korrespondiert zudem eng mit den Entwicklungen der sozialen Gegenwart und ist Ausdruck und Abbild der Erlebnisgesellschaft. Als Selfperformance spinnt sie sozusagen den Inszenierungsdrang einer auf Erleben und Event ausgerichteten Gesellschaft weiter. Für die Auseinandersetzungen mit dem Holocaust gewinnen in den beiden Beispielen Ronens und Polaks die impliziten Mög-

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lichkeiten der (Inter-)Aktivität und Unmittelbarkeit eine besondere Relevanz. Der aktive Einbezug des Adressaten von Performances ist der Anlage dieser Kunstform bereits inhärent, ebenso wie die Veränderlichkeit und der anti-materielle Zustand der Aufführung, die sich je und permanent verändert und gerade daraus ihr Gelingen ableitet. Die Thematisierung des Holocaust in Performances bedeutet eine ständige Neu-Kontextualisierung, Versprachlichung und aktive Auseinandersetzung mit seiner Bedeutung im Gegenwartsraum, indem die Narrative prozessual neu generiert, angeeignet und als Erinnerungshandlung ausgestellt werden. In Dritte Generation geraten mit dem parallel aufgeführten zweiten Vergangenheitsdiskurs, der Nakba-Katastrophe, und dem sich in die Gegenwart fortpflanzenden Gazakonflikt sowie durch den mitunter popkulturell geprägten Gegenwartsdiskurs der dritten Generation die unterschiedlichen Diskursfragmente permanent in Bewegung und in eine produktive Konkurrenzsituation, in der sie je neu positioniert werden müssen. Auch bei Ronen und Polak findet die Dekonstruktion des ‚doktrinären‘ Holocaust-Diskurses und seiner vermeintlich leeren Sprachformeln statt. Besonders in Dritte Generation lassen sich geradezu lehrbuchartig die verschiedenen, den Holocaust-Diskurs prägenden Themenfelder wie die ‚Schlussstrich-Debatte‘, die ‚Singularitätsthese‘, der ‚Täter-/Opferdiskurs‘ etc. markieren und nach einer Art ‚DreiStufen-Plan‘ aus Vorführung, Überzeichnung und Dekonstruktion interpretieren. Dem Zuschauer, der durch das offene Bühnenarrangement und seine konkrete Einbeziehung selbst zum Bestandteil der Inszenierung wird, also auch selbst unwillkürlich eine Performance vollzieht, wird durch sprachliche Überzeichnungen und Verfremdungen sowie deren effektreiche Demontage die faktische ‚Sinnentleertheit‘ alter, bestehender ‚Diskursvorschriften‘ offenbar, die er seinerseits mit einer Performance des Unwohlseins oder dem im Halse stecken bleibenden Lachen quittiert. Ein ähnliches, aber radikaleres Muster obliegt Oliver Polaks Stand-Up-ComedyErinnerungsperformances. Indem dieser seinem Publikum die sprachliche Überdeterminiertheit der traditionellen, ‚political correcten‘ Sprachformeln und die Sinnlosigkeit ihrer beharrlichen Verwendung bzw. ihres ‚verkrampften‘ Umgehens vor Augen führt und sie sogleich dazu anstiftet, ihre eigenen Tabus zu verletzen, gelingt ihm ein höchst reflektierender Akt der Konfrontation. Dadurch dass Polak sich außerdem als Projektionsfläche des ‚jüdischen Witzbolds‘ einerseits und als zynischer Geist andererseits darbietet, spiegelt er überdies die Klischees und Vorurteile seines Publikums auf diese zurück und konfrontiert sie mit ihrer eigenen problematischen deutschen Identität. Durchgehendes Moment in beiden Performances ist die Frage nach einer neuen, ‚befreiten‘ Sprache, welche vor allem im ‚Nicht-Passen‘ der ‚belasteten‘ DiskursSprache und ihren Auswirkungen auf ein gegenwärtiges Sprechen über die Vergangenheit deklariert wurde. Die Zitation der ‚alten‘ Diskurssprache dient Ronen und Polak auch als Mittel der Verfremdung und Aufmerksamkeitsgenerierung, vor allem dann, wenn sie als Überzeichnung in die aktuellen Kontexte und Konfliktsitua-

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tionen einwirkt und ihre Formeln und Begriffe als Fremdkörper, wenn nicht gar als rhetorische Waffe wie etwa bei Polak, Funktion erhalten. Auch die Phrase ‚Entschuldigung/Verzeihung, ich bin Deutscher‘ stellt in Dritte Generation als bereits erwähnte Performance des Unwohlseins deutlich die Problematik sprachlicher Äußerungen im Übergangsraum der jungen Generation heraus. Bei Polak sind es indes ‚beide Seiten‘, die jüdische und die deutsche, die mit der Sprache und den Diskursen nicht so richtig etwas anzufangen wissen und stattdessen – implizit oder explizit – ihr Unbehagen darüber ausdrücken, wie die Performance des ‚Judenspiels‘ besonders eindringlich deutlich macht. Die Diskurssprache und ihre als deplatziert inszenierte Aufführung sind dabei Garanten der Interaktion und des Gelingens der Performance. Sie garantieren, dass „immer etwas geschieht, das einen Klang“ oder eine Reaktion, im besten Fall eine Reflexion, erzeugt. Manchmal erzeugt es gar Misstöne, einen Knall und Widerhall in brisanten Debatten, die ihre Emotionalität auch in der Gegenwart nicht einbüßen. Als im weitesten Sinne spontane Performances – Ronens Stück wie auch Polaks Auftritte sind zu einem guten Teil von Improvisationen bestimmt –, vor allem aber durch die spontane, impulsive Einbeziehung der Zuschauer und angelegter Rollenwechsel kommt dem Genre der Performance ein hoher Agitationsgrad zu, der besonders dem Verfahren des Work in Progress als Aktivitätsmaßgabe entspricht und nicht zuletzt auf eine Affekt- und Effektkultur verweist. Die unmittelbare Wirkung der Inszenierungen beläuft sich daran anlehnend zu einem wesentlichen Teil auf die einzigartige und originäre Erfahrung des Moments. In jeder weiteren Inszenierung ist weder die Aufführung selbst noch die Reaktion des Publikums gleich der ersten. Vor allem in Ronens Stück Dritte Generation, welches die Wandelbarkeit mit dem Zusatz Work in Progress bereits im programmatischen Titel trägt und durch Spontanität, Improvisation und Gegenwärtigkeit konstituiert ist, wird das Charakteristikum der Ereignishaftigkeit erfüllt. In beiden vorgestellten Performances geht es zudem nicht um die eine Version oder das eine Master Narrative, sondern um prozessuale Aushandlungen: „Stets geht es hier nicht um Werke, sondern um Ereignisse, und zwar mit Handlungsvollzug und verändernder Kraft.“947 Die Interaktion, Aktivität, das Work in Progress, welche die Performances auf diese Weise freisetzen, sind als Möglichkeit aktiven Vollzugs von Erinnerungshandlungen zu betrachten, zumal sich hier per se durch den Aufführungscharakter soziale (Kommunikations-)Prozesse abspielen, zu denen die Vergegenwärtigung von Vergangenheit ebenfalls primär gehört und die sich in der Gegenwart neue Kanäle sucht.

947 T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 545.

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1.3 Internet und Neue Medien: Die Unterwanderung des Paradigmas und ein neuer Raum für die Vergangenheit „Dann aber stellen wir auch fest, dass das Internet unsere Kultur nicht als Ganzes verändert. ‚Das Neue verdrängt das Alte‘ – diese Denkfigur greift zu kurz. […] Eine Demokratisierung findet statt, die vorhandenen Archive werden durch die Digitalisierung geöffnet.“948

Einleitend in das Analysekapitel IV wurde dargelegt, wie sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch die Popularität der neuen Medien, vor allem der sozialen Netzwerke und Kommunikationsplattformen verändert hat und wie sich diese Medien als neue Verhandlungsräume kennzeichnen lassen. Die These, dass sich sowohl in der Ästhetik der literarischen ‚Diskurs-Zerschreibung‘ als auch in der performativen Kultur der Aufmerksamkeit und der interaktiven Medienkultur neue Formen und Formate der Erinnerungskultur herausbilden, die traditionelle Gedenkformen zwar aufnehmen, aber in Anpassung an gegenwärtige Bedürfnisse transformieren, soll an dieser Stelle abschließend noch einmal gefestigt werden. Mit der spezifischen Öffentlichkeitsform des Internets als alternativer, paralleler bzw. demokratisierter Lebensraum haben sich in der Gegenwart neue Möglichkeiten der Partizipation, der Kommunikation und des sozialen Austausches gebildet. Um das Internet auch als Raum für Erinnerungsverhandlungen nutzbar zu machen, wurden seine symbolische Funktion als alternativer Gedächtnis- bzw. Erinnerungsort sowie seine Eigenschaften als Erinnerungsmedium untersucht und festgestellt, dass sich der virtuelle Raum zwar als Möglichkeitsraum für Erinnerungshandlungen, nicht aber als Erinnerungsarchiv vereinnahmen lässt. Als sozusagen entgrenzter Raum par excellence, der sich insbesondere durch Virulenz und Veränderbarkeit und als Gegenteil von Abgeschlossenheit und festgeschriebener Handlungs- und Sprachweisung auszeichnet, bieten die im Internet aktiven neuen Medien eine Vielzahl von Referenzen, die für die Fragestellung nach medialen Transformationen des Gedächtnisparadigmas relevant sind. Was sich für die fortwährende Diskurspräsenz des Gedächtnisparadigmas mit dem Generations- und Gedächtniswechsel, dem sozial-gesellschaftlichen und kulturell-medialen Wandel als problematisch, gar als ‚Dilemma‘ kennzeichnen lässt, wird in der virtuellen Welt geradezu spielerisch – im Medium des Computerspiels und der virtuellen Lernangeboten sogar dem Wortsinn nach – unterlaufen. Besonders das Sprachproblem, dessen Überwindung wesentlich für die Neu- und Weiterverhandlung der Vergangenheit ist, wird in den neuen Medien und ihren Kommunikationsformen relativiert. Wenn es zuvor darum ging, ob sich das literarische Schreiben vor allem als ‚Zerschreiben‘ von Chronologie bisweilen in hypertextuellen Strukturen vollzieht, dann erreicht dieses Verfah-

948 A. Assmann: Tontafeln halten länger, S. 82.

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ren im Raum des Internets eine neue Ebene bzw. seine Entsprechung, denn das Internet produziert permanent Hypertexte. Mit der Aufweichung einer monolithischen Erinnerungskultur und ihrer großen Mastererzählungen entstehen „einander gleichwertige Geschichten im Plural“949 , Touching Tales also, die ihr Pendant insbesondere im Crossover der Geschichten und Medienformate im Internet finden. Mit der verlinkten, offenen und stets veränderbaren Struktur der Texte und Geschichten im WWW wird zudem einer rhizomatischen Struktur entsprochen, welche wie u.a. von Christian Schüle angemerkt, für die junge Generation als strukturbildend gelten darf. Die lesenden, schreibenden und verknüpfenden Aktivitäten im Internet entwickeln nicht nur im übertragenen Sinn eine rhizomatische Struktur, sondern der Nutzer selbst ‚macht‘ durch seine ‚prosumen‘ Bewegungen im Netz ‚Rhizom‘, denn: „das Viele (multiple) muß man machen“.950 Nicht nur dass die Struktur von Kommunikation und Text im Netz nach anderen, ergo netzwerkartigen Konzepten hergestellt und verbreitet wird; das Internet selbst ist schon seiner Anlage nach ein im höchstem Maße kommunikativ-vernetzter Raum, was bedeutet, dass hier permanent Erinnerungen und Erfahrungen ausgetauscht werden und sich narrative Zusammenhänge und Erzählkontinuitäten in kleinsten Kollektiv- und Subgedächtnissen neu formieren. „Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaft in der flüchtigen Moderne. Vernetzung, Entgrenzung und Flexibilität – das sind nicht bloß zentrale Merkmale digitaler Medien, die allesamt in der Hypertextmetapher kulminieren; sie stellen […] die gegenwärtigen Imperative an Gesellschaft und Individuen dar.“951

Die Partizipation an Erinnerungsinhalten im Internet lässt demnach schneller, gleichwohl auch kurzfristiger, Zusammengehörigkeiten, Gemeinschaften und Identität entstehen, die sich auf diese Weise transkulturell und transgenrationell bilden und zur Aufweichung von starren Kategorien und Grenzen beitragen. Entgegen des traditionellen Gedächtnisparadigmas, nach dem sich Erinnerungsgemeinschaften in Schemata der nationalen, ethnischen Herkunft, ihrer daraus resultierenden Opferoder Täterzugehörigkeit und nach generationeller Zuordnung bilden, gelingt hier ein alternatives, dynamisches Modell, welches sich an den tatsächlichen postmodernen Lebensbedingungen orientiert. Ging es insbesondere unter den Vorzeichen der Vergangenheitsbewältigung noch vorrangig darum, kollektive Erinnerungen und Kollektivgedächtnisse (institutionell) zu formen und zu stabilisieren, entstehen im „Paradigma des Netzwerkes“952 viele Kleinstkollektive mit ihren je eigenen viel949 J. Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens, S. 268. 950 G. Deleuze/F. Guattari : Rhizom, S. 10 f. 951 J. Krameritsch: Die fünf Typen historischen Erzählens, S. 273. 952 J. Krameritsch: Die fünf Typen historischen Erzählens, S. 272.

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fältigen Erinnerungen und Geschichten. Die Hybridität dieser Kollektive, die vor allem nicht mehr einer ausschließlichen ethnischen oder Opfer/TäterKlassifizierung unterliegen, wird zunehmend begünstigt durch die Dynamik und Hybridität des Hybridmediums Internet. Derart fungiert das Internet nicht nur als besondere Öffentlichkeitsform, sondern auch als Forum für unterschiedliche Gruppen- und Interessensgemeinschaften953 und als Kontaktzone des Social life of texts. Mit der Übertragung von Kommunikation und virtueller Handlung in das Web wird möglich, was in der Realität zunehmend schwierig geworden ist: Erinnerungshandeln und Erinnerungskommunikation losgelöst von der Anwesenheit externer Deutungsmächte.954 Durch die Bedingungen eines Diskurs-Archivs und einer gleichzeitigen Aufweichung autoritärer Autorschaften im Digitalen verschiebt sich die Deutungsmacht von Erzählungen im Web-Modus. Durch gruppen- und kulturspezifische Inhalte, die mit einer Vielzahl von Nutzern geteilt, ausgetauscht und weiter geschrieben werden, bleibt auch die Deutungsmacht der Vergangenheit nicht in der Hand einer Instanz oder Gruppe, sondern wird um ein Vielfaches geteilt, gestreamt und damit der Neukonnotation zur Verfügung gestellt. „In der Folge eines Umgangs mit dem kulturellen Gedächtnis des Internetarchivs verschieben sich gegenwärtig und zukünftig verstärkt Fragen der Korrektheit, des Originals, des Kontextes, der historiographisch-philologischen Redlichkeit und die Grenzen von Experten und Laien.“955

Das Internet als Handlungsraum für kulturelle Inhalte kann in diesem Sinne also tatsächlich jenes ‚Dilemma‘ überwinden, welches seiner ‚klassischen‘ kulturellen Gedächtnisvariante zu attestieren ist. An der Stelle eines manifesten Wissenspool des kulturellen Gedächtnisses bietet das Internet als prinzipiell unabgeschlossener Ideen- und Informationspool und mit der Möglichkeit interaktiver Mitgestaltung und Aktionismus genau das ab, was in dieser Arbeit als Diskurs-Archiv beansprucht wurde. Im Austausch und durch die Fluktuation der Inhalte und Diskurse bestehen im Pool des Internets keinerlei Ansprüche auf Fixierung und dauerhafte Speicherung. Der oxymorische ‚hybride Zustand‘ des entgrenzten Raumes des WWW fun-

953 Bleichner, Joan Kristin: Poetik des Internets. Geschichte, Angebote und Ästhetik, Berlin: LIT 2009, S. 10. 954 Hier darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Vielzahl digitaler Erinnerungsformate von Institutionen gepflegt wird und damit selbstredend eine entsprechende Deutungssicht propagieren. 955 T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 189.

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giert derart weder als „globaler Gedächtnisspeicher“ noch als „Maschine des Vergessens“, sondern als „Trägermedium von hybriden Erinnerungskulturen“956. Mit den Erzählungen im Internet lässt sich auch der Übergang von der familienbezogenen (mündlichen) Tradierung zu einer neuen Form des digitalen Geschichtserzählens in einem historischen Hypertext markieren. Statt einer chronologischen, die familiären Erinnerungen repräsentierenden Geschichtsdeutung entlang der Gedächtnislinie wechseln im hypertextuellen Medium die Sprecherpositionen und Deutungsweisen, wechseln die Adressaten, Produzenten und Speicherkriterien. Wulf Kantsteiner spitzt zu: „Um Geschichtsbewusstsein und Identität zu entwickeln, waren wir bisher auf andere Menschen angewiesen. […] Wenn in der Vergangenheit die kleinste Einheit des historischen Bewusstseins zwei Individuen waren, kann das in Zukunft eine Person und ein Computer sein.“957

Um historisches Bewusstsein auch ohne die unmittelbare Tradierung durch die älteren Generationen herzustellen, können in der Zukunft neue Wege der ReKommunikationen gewählt werden, wie sich insbesondere am Medium Facebook und seiner Adaption als Tagebuch resp. Biographie kennzeichnen ließ. Individuelle und kollektive Erinnerungen werden per webbasierter Kommunikation in neuartige, individualisierte Massenmedien überführt und so quasi ‚reanimiert‘. Auf diese Weise bleiben sie nicht nur dem Vergangenheitsdiskurs erhalten, sondern werden im jeweiligen Gegenwartsraum neu konnotiert und damit vor einem möglichen Verblassen bewahrt. An die Stelle der Zeitzeugenerinnerung und der Familiengedächtnisse, also an die Stelle leiblicher Präsenz, Erfahrung und kommunikativer Erinnerungen treten in der medialen Transformation „Präsenz-Effekte“958 mit spezifischen Inszenierungs- und Erzählformen, welche sich sowohl am Facebook-Profil Henio Zytomirskis als auch im YouTube Video Dancing Auschwitz gezeigt haben. Diese Re-Kommunikation und stellvertretende, auch inszenierte Präsenz halte ich für eine besonders wichtige, zukunftsweisende Prämisse zukünftiger Erinnerungskulturen. Auch wenn es sich hier deutlich von Auflösungsprophezeiungen der traditionellen Medien zu distanzieren gilt, ist gleichfalls deutlich, dass die verhandelten Beispiele einer Erinnerungskultur im Web 2.0 Vergangenheitsreflexionen und Darstellungen durch Performativität und Interaktion näher an die Kategorie der Erinnerungsperformance heran rücken, als an die Narratologie von Literatur oder Film. Sie tendieren eher zu einem anderen traditionellen Gedächtnismedium, zu der 956 W. Dornik: Internet: Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher, S. 91 f. 957 W. Kansteiner: Alternative Welten und erfundene Gemeinschaften, S. 30 ff. 958 E. Fischer-Lichte: Theatralität als kulturelles Medium, S. 24.

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Denkmal- und Ausstellungskunst, wenn auch nicht ohne Widersprüche, die sich insbesondere durch die Ambivalenz von Dauer und Dynamik ergeben. Diesem Eindruck folgend konnten beide Beispiele des Analysekapitels IV neben ihrer Eigenschaft als Erinnerungsperformances auch als digitale Kunstwerke charakterisiert werden. In beiden Fällen spielt dabei die Narrativität und Beständigkeit eine untergeordnete Rolle gegenüber ihrem künstlerischen Ausdruck, ihrer Partizipationsmöglichkeiten und der Interaktivität und der performative Effekt sowie die Aufmerksamkeitsgenerierung der Inszenierung sind als wesentliche Bestandteile der Präsentation in der Anlage der Kunstwerke stets mit impliziert. Es geht um das Zeigen und Präsentieren – ‚Performing the past‘ – dabei aber nicht primär um die Darstellung des Holocaust, zu dem vermeintlich schon alles gezeigt und präsentiert worden ist, sondern um seine Diskurse und künstlerischen, mitunter bewusst verstörenden, Reflexionen und Provokationen. Das Bestreben an immer neuen, immer schneller aufeinanderfolgenden Ereignissen teilzunehmen, diese kurz zu kommentieren, zu bewerten, zu teilen und durch andere wieder zu überdecken, findet seinen exemplarischen Ausdruck in der Sprache und den Handlungsweisen des Internets: ‚to comment‘, ‚liken‘, ‚sharen‘. Durch die für das WWW typischen dynamischen Beschleunigungsprozesse, die permanenten Neukonnotationen und inflationären Bedeutungen bildet das Internet ferner die Rastlosigkeit, das „substanzlose Angeregtsein“ und die Übergangserlebnisse des postmodernen Menschen ab.959 Diese sich auch aus einer Neupositionierung der eigenen Identität als ‚Wesen der Inszenierung‘ ableitende Art des Schreibens, Dokumentierens und Präsentierens des eigenen Lebens ist für die Erlebnisgesellschaft geradezu typisch und wird durch die Entwicklungen in den neuen Medien, vor allem in denjenigen der sozialen Netzwerke unterstützt und voran getrieben, wofür die Facebook-Chronik Timeline als derzeit jüngstes Beispiel gelten darf. Offensichtlich ist, dass durch die neuen Partizipations- und Kommunikationsmöglichkeiten sich nicht nur unsere Wahrnehmung von Vergangenheit verändert hat, sondern auch die Art und Weise, wie Geschichte erzählt werden kann. So gehen auch die Holocaust-Narrationen als Produkt in den virtuellen Erlebnismarkt ein, wird das Internet zum „zeitgeschichtlichen Medium“960.

959 Vgl. P. Matussek: Computer als Gedächtnistheater, S. 98. 960 Alavi, Bettina: „Einführung – Zeitgeschichte im Internet“, in: Popp, Susanne/Sauer, Michael/Alavi, Bettina/Demantowsky, Marko/Paul, Gerhard (Hg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 257-259, hier S. 257.

VI Ausblick

„Denn das Verlangen ist nicht Form, sondern unbegrenzter Fortgang, Prozeß.“ DELEUZE/GUATTARI/KAFKA

Häufig war in dieser Arbeit die Rede davon, dass die junge Generation ihren Weg, ihre eigenen Pfade in die Vergangenheit legen muss. In der Einleitung habe ich dazu außerdem in Aussicht gestellt, neue Wege abseits derjenigen des Gedächtnisparadigmas und etablierter Erinnerungsliteratur und -Kultur zu suchen. Dort tauchte auch erstmals der Begriff der ‚Trampelpfade‘ auf. Zu Beginn des Arbeitsprozesses an dieser Arbeit kam ich mit einem Landschaftsarchitekten ins Gespräch, der das Phänomen der ‚realen Trampelpfade‘ wissenschaftlich untersucht und davon berichtete, dass, wenn z.B. ein neues öffentliches Gebäude gebaut wird, zu dem Fußgängerwege angelegt werden müssen, es häufig sinnvoller sei, abzuwarten, bis sich von selbst Trampelpfade gebildet haben und dann erst diese Pfade zu befestigten Wegen auszubauen. Legt man die Wege hingegen von Anfang an fest, sei es eher wahrscheinlich, dass sie missachtet und von abseitigen Pfaden unterwandert werden. Dieses Bild habe ich fortan als Sinnbild für meine Arbeit verinnerlicht. Wie sehen sie also aus, die Pfade in die Vergangenheit und vor allem diejenigen in die Zukunft? Wo ist der Weg in die Zukunft der Erinnerungshandlungen angelegt, wo wird er unterwandert und lohnt es überhaupt, ihn heute schon zu befestigen? ‚Reale‘ Trampelpfade lassen sich mittlerweile z.B. immer mehr in den KZGedenkstätten finden, wo sie allerdings z.T. ähnlich negativ wahrgenommen werden wie das Stelenspringen am Berliner Holocaust-Mahnmal. Besonders die jungen Besucher weichen bei Gedenkstättenbesuchen von den „Lehrpfaden der Führungen ab und wandern auf eigenen Wegen. Statt sich auf die pädagogischen Richtlinien oder die Spezifik des jeweiligen Ortes einzulassen, tasten diese Besucher die Gedenkstätten auf allgemeine ikonische Merkmale ab, die sie als feste Bezugspunkte

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wieder erkennen.“961 Vielleicht ist dies auch ein kaum verwunderlicher Vorgang, erinnert man an die zitierte Episode von der Lehrerin und ihrer Schülergruppe in der Gedenkstätte Topographie des Terrors. Ich stimme der Aufregung um die zweckentfremdeten Grünflächen in KZ-Gedenkstätten ebenso wenig zu wie der über das Stelenspringen, da sich in beiden Verhaltensweisen, im Verlassen ausgetretener Pfade und im Überspringen vorgegebener Wege, auch eine positive Aneignung dieser Erinnerungszeichen und -Orte erkennen lässt. „Die Leute nehmen das Stelenfeld nur als Event wahr“ – so äußerte sich Bezug nehmend auf die eigensinnigen Begehungen des Berliner Holocaust-Mahnmals der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden Paul Spiegel und leitete damit eine Diskussion ein, ob in unserer erlebnisorientierten Gegenwart nun auch der Holocaust zum Eventthema werden, seine Vermittlung sich nur noch an Aufmerksamkeiten, Gewinnoptimierung und Lifestyle orientieren muss. Ich möchte an dieser Stelle den Bogen zu den oben eingeführten Ritualtheorien zurück spannen und hier noch einmal auf die Frage ‚Wohin bewegt sich die Gesellschaft?‘ konkretisieren: Wird aus der Erinnerungskultur eine Eventkultur und aus dem Erinnerungsritual ein Erlebnis und Event? Die Folie der Ritualtheorien bietet sich für diese abschließenden Gedanken besonders auch deshalb an, weil Rituale in den Erinnerungskulturen sowie in kulturellen Prozessen an sich von großer Bedeutung sind und auch im traditionellen Gedächtnisparadigma und seinem Modell des kulturellen Gedächtnisses einen hohen Stellenwert einnehmen. Kollektives Erinnern wird demnach gerade über kulturelle Praktiken ermöglicht, zu denen rituelle Handlungen und Wiederholungen im besonderen Maße zählen. Dabei ist in der Rückschau auf die letzten Jahrzehnte offizieller Gedenkkultur jedoch der Akt des Gedenkens stetig mehr und mehr selbst zum Ritual geworden – dabei auch allzu häufig zu einem leeren, wie standardisierte Prozeduren zur ‚politischen Zweckerfüllung‘ immer wieder zeigen und das schon als geflügelt geltende Wort der „Kranzabwurfstellen“962 illustriert. Man könnte sich angesichts solcher im zunehmenden Maße unreflektierter Gedenkrituale durchaus die Frage stellen, ob ein derartig konstruiertes Gedenken nicht möglicherweise das genaue Gegenteil zu den dynamischen Erinnerungshandlungen darstellt, welche in dieser Arbeit fokussiert und in den Dienst gewinnbringender, zukünftiger Auseinandersetzungen gestellt wurden. Stark standardisierte Formen laufen außerdem – zumindest auf den ersten Blick – den in dieser Arbeit ebenfalls herausgearbeiteten gesellschaftlichen Entwicklungen zuwider, die sich einerseits in der Erlebnisgesellschaft und andererseits in den Phänomenen von Globalisierung und Migration ausweisen ließen. Besonders nämlich für die Menschen mit einem anderen geschichtlichen und kulturellen Hintergrund als den deutschen sind monolithisch geprägte 961 A. Assmann/J. Brauer: Bilder, Gefühle, Erwartungen, S. 92. 962 U.a. bei C. Leggewie/E. Meyer: Ein Ort, an den man gerne geht, S. 10.

A USBLICK

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Gedenkzeremonien, die auf Schuldadaption und Betroffenheit verweisen, identitär besonders schwierig und können sich mitunter auch in einem negativen ForsaErgebnis niederschlagen. Mit dem Blick auf den in diesem Zusammenhang problematischen Begriff der ‚Betroffenheit‘, welcher bei offiziellen Gedenkzeremonien oft empathisch involviert ist, konstatiert Zafer Senocak: „Wenn die Trauer nicht von Einzelnen ausgedrückt, sondern von einer Gruppe nachgestellt wird, hat sich die Betroffenheit gegenüber der Trauer durchgesetzt. Es ist die Geburt der Farce aus dem Geist der Tragödie.“963 Diese Farce bezeichnet hier dann vor allem die Exklusion anstelle der Inklusion der jungen, multikulturellen BindestrichGeneration und die Verhinderung eines Dialogs bzw. ‚Trialogs‘ oder der neuen Sprache. Den Charakteristika der Erlebnisgesellschaft stehen derartige Betroffenheitsund Trauerrituale jedoch nicht in erster Linie deshalb entgegen, weil unsere Gesellschaft primär auf Spaß, kursorisches Vergnügen oder hedonistische Lebensleichtigkeit ausgerichtet ist. Es sind stattdessen vielmehr die sich permanent verändernden Möglichkeiten, die nicht nur ein ständiges Wählen, sondern auch das Überdecken und Ablösen von kürzlich aufgenommenen und schnell wieder verworfenen Inhalten provozieren. Auch wenn es dabei um keine Entscheidung zwischen Erinnern und Vergessen geht, setzt die postmoderne Erlebnisgesellschaft auf Erneuerung und Innovation und damit schließlich auch auf eine implizierte ‚naturgemäße‘ Vergesslichkeit, die in einem deutlichen Gegensatz zu einer offiziellen, auf Dauer und Beständigkeit ausgerichteten Gedenkkultur steht: „Die strukturell pathetische Kultur offiziellen Gedenkens an die Shoah (‚Erinnert Euch‘) kontrastiert auffällig mit der ‚unerträglichen Leichtigkeit des Seins‘ (Kundera)“.964 Die Bedeutung einer Kultur der Aufmerksamkeit und einer Eventkultur als Nährboden für erinnerungskulturelle Formen und Formate konnte ich in meinen Analysen an vielen Beispielen herausarbeiten. Als erweiterte Perspektive geht es nun um die Frage, ob sich ritualisiertes Gedenken in eine Eventkultur wandelt, in der auch die Darstellung und Reflexion des Holocaust als Aufmerksamkeitsprodukt und begehrte Marke gehandelt wird und ob darin nun tatsächlich die viel beschworene Zukunft der Erinnerung – ohne eigentliche Erinnerung, wie hinzuzufügen ist – Konturen annimmt. Die Gegenwartskultur ist insbesondere durch affektive und visuelle Phänomene heute im Wesentlichen als eine Affekt- und Eventkultur kennzeichenbar. Eine derartige Entwicklung lässt sich beinahe linear anhand der Transformationen kultureller Praktiken und Prozesse nachverfolgen, die auf Inszenierung, Aktivität und Performance ausgerichtet sind und von denen einige in dieser Arbeit dargestellt wurden. Diese Prozesse haben jüngst ebenfalls Eingang in die didaktischen wie auch künstlerischen Konzepte von Gedenkinstitutionen, bei963 Z. Senocak: Gefährliche Verwandtschaft, S. 61 f. 964 W. Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, S. 258.

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spielsweise in die Ausstellungsästhetik von Museen wie dem israelischen Yad Mordechai Einzug erhalten. Die Frage, die sich hier anschließen lässt, ist die, ob nicht möglicherweise in dem Drang zum Erleben und Event erst recht auch eine Wiederholung forcierende, sozusagen neue Form der Ritualisierung auszumachen ist. Dafür stehen auch die erwähnte Copy-and-Paste-Methodik sowie Partizipationen im Modus von Delete und Add. In diesem Sinne wird Ritualisierung dann nicht als Wiederholung des immer Gleichen (‚alte‘ Diskursparameter, ‚sinnentleertes‘, rituelles Gedenkverhalten) verstanden, sondern als dynamischer Prozess (Inszenierung, Auseinandersetzung, kreativer Akt des Schreibens/der Performance), in dem die ‚alten‘ Inhalte (Vergangenheit als Bestandteil des konservativen Diskurses) zwar mit abgerufen werden, jedoch in einen neuen Kontext (Gegenwart der Erlebnisgesellschaft) gestellt und unter neuen Bedingungen (Eventkultur) verhandelt werden. Im Wiederholen und Neuverhandeln auf der textuellen, virtuellen oder der Theaterbühne lässt sich die permanent wiederholende Neukonstitution von Erinnerungshandlungen abbilden. Es kann also nicht nur eine Re-Kommunikation und ReMedialisierung, sondern auch eine Re-Ritualisierung des Holocaust unter neuen Vorzeichen behauptet werden. Die Forschung hat der Gegenwart und besonders der Gegenwart moderner Gesellschaften jüngst einen Hang zur Etablierung stabiler Traditionen nachgewiesen.965 In unsicheren Zeiten und Gesellschaften, in welchen wir uns derzeit zweifelsohne befinden, werden Traditionen wieder besonders gepflegt bzw. es entstehen sogar gerade neue Traditionen und verbindende, verbindliche Rituale. „Beim Ritual wird (a) eine Handlung wiederholt. Diese wird (b) explizit gemacht und inszeniert […]. Die rituelle Handlung ist selbstbezüglich (c) und zugleich (d) sozial funktional und in dieser Hinsicht kommunikativ. Ihre Teilnehmer sind Akteure und Zuschauer (e), die sich der Bedeutsamkeit des Rituals bewusst sind. Die rituelle Handlung wird schließlich (f) als ästhetisch ausgestalteter, expressiver, symbolischer Akt vollzogen.“966

Diese Beschreibungen kennzeichnen die Erinnerungshandlungen im Modus des Work in Progress. Wenn sich Traditionen und Rituale durch regelmäßig wiederholbare und gemeinschaftsbildende Ereignisse oder durch ein Partizipieren an bestimmten Inhalten konstituieren, dann dürfen wir vor allem die beschriebenen Beispiele aus der Pop- und der neuen Medienkultur unter diesen Aspekt fassen.

965 Siehe u.a.: Hobsbawm, Eric J.: „Mass-Producing Traditions: Europe, 1870-1914“ in: Hobsbawn, Eric J./Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge: University Press 1983, S. 263-307. 966 Braungart, Wolfgang: Ritual und Literatur, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 74.

A USBLICK

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„Event – vielleicht ist dieses Modewort deshalb in den neunziger Jahren in Deutschland aufgetaucht, weil man eine neues Wort brauchte.“967 Vielleicht brauchte man dieses neue Wort nicht nur, wie Gerhard Schulze hier intendiert, als Sammelbegriff zu dem von ihm aufgestellten „Drei-Sphären-Paradigma“ inszenierter Ereignisse,968 sondern als Begriff für neue Erinnerungshandlungen unter den Bedürfnissen der Erlebnisgesellschaft. Die Mehrheit der thematisierten Beispiele für diese neuen Erinnerungshandlungen lassen sich als Erinnerungsperformances kennzeichnen und diese erfüllen sich wie gezeigt erst durch die Interaktionen zwischen Produzenten/Akteuren und Konsumenten/Publikum. Dabei wird durch die SenderEmpfänger-Aktivität nicht wie in der traditionellen Tradierung eine Deutungsmacht und gleichzeitige Bezeugung dieser gefordert, sondern das Zusammenspiel beider Parts wird zum Ereignis, es wird nicht nur sprichwörtlich ‚eine Show gemacht‘. Grundsätzlich besteht zwar somit auch die Möglichkeit, dass es mehr um „eine gute Show, nicht um Wirklichkeit“969 , mehr um Schaulust und Showeffekt als um Wahrheit und Aufklärung geht, wie ich auch an meinen Beispielen kritisch diskutiert habe. Als problematisch muss dieses dennoch nicht zwangsläufig gelten, da es in einer neuen Erinnerungskultur auch gar nicht primär um Wahrhaftigkeit, Beständigkeit und Dauer geht, die zudem auch weder in der Eventkultur noch in der Erlebnisgesellschaft überhaupt einfordert werden. Auch wenn in den 1990er Jahren die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie auf ihrem Höhepunkt war, kursierte in ihrem Dunstkreis – sicherlich nicht unbeeinflusst durch die empor drängenden neuen Medien – zudem der Begriff des ‚Erlebnismarktes‘, den Aleida Assmann als kultursoziologische Diagnose der Gegenwart von Gerhard Schulzes Theorie ableitet. Heute ist durch ‚erinnerungskulturelles Erlebnismarketing‘ auch der Erinnerungsmarkt zu einem Erlebnismarkt geworden. Wenn die Erlebnisgesellschaft permanent nach neuen Bildern, Ereignissen und Events trachtet, wird zwar längst noch nicht der Holocaust als historisches Ereignis selbst zum Event, wohl aber vollziehen sich die individuellen Auseinandersetzungen wie auch seine künstlerischen Repräsentationen erlebnis- und erfolgsorientiert: als Verfolgen von inneren Zielen mit explizit äußeren, veräußerten Mitteln. Diese Mittel können nicht zuletzt auch Selfperformances und Inszenierungen sein. Eine Frage, die schwierigste von allen hier zahlreich gestellten, bleibt nun abschließend offen: die Frage des ‚Dürfens‘. Dass die Erinnerungskultur in einer zunehmenden Eventkultur aufgeht, mag nicht überraschend sein. Inwiefern dies aber einen Einfluss auf zukünftige Erinnerungshandlungen nimmt, bleibt zunächst einmal 967 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 87. 968 Schulze gibt als Deutungsschema inszenierter Ereignisse den Dreiklang vom Subjektiven, Intersubjektiven und Objektiven an: „Man erlebt, man erlebt gemeinsam, man erlebt etwas Wirkliches“. Siehe: G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 82. 969 G. Schulze: Kulissen des Glücks, S. 8.

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diskutabel und nachhaltig streitbar. Die exemplarischen Analysen quer durch die Medien haben trotz aller Vielfalt, Bindestriche und den neuen Wegen und Möglichkeiten des ‚trampelpfadigen Unterlaufens‘ befestigter Wege auch gezeigt, dass Kunst und Kultur, die sich mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus befassen, nicht frei von Tabuisierungen und den Maßgaben einer mehr oder weniger präsenten Political- und Memorial Correctness sind. Auch die von mir hoffnungsvoll in Aussicht gestellte Aufhebung der Dichotomie von ‚Juden‘ und ‚Deutschen‘ bzw. der Rezension ‚jüdischer‘ und ‚nicht-jüdischer‘ Erinnerungsformate ließ sich nicht gänzlich auflösen, mehr noch: Oft zeigte sich, dass es sehr wohl einen Unterschied macht, wer spricht. Beweis dafür war die sich immer wieder als gerade nicht gänzlich unpassend herausstellende Rezeptionsfolie der Memorial Correctness. Dass die Frage nach Memorial Correctness dabei immer auch emotional aufgeladen und zum einen subjektiv, sogleich aber auch höchst politisch intendiert sein kann, haben besonders die Verweise auf die einschlägigen Debatten der Erinnerungskultur offenbart. Klar zu sein scheint, dass zwar die sprachlichen Tabus mehr und mehr kreativ verwandelt, unterwandert und derangiert werden, jedoch keinesfalls gänzlich aufgehoben, ignoriert oder ihrem konstitutiven Grundsatz entzogen werden können. Auch in ihrer Inszenierung als Störfaktor und Misston besitzen sie noch genügend Ausdruck, um die Gemüter zu erhitzen oder gar einen Crash zu provozieren. Die Emotionalität, die verletzenden Worte und die ‚rhetorischen Fettnäpfchen‘, die auf dem Weg in die deutsche Vergangenheit liegen, sind auch mit dem jüngsten Generations- und Paradigmenwechsel nicht gleich der Stelen in Berlin zu überspringen – vielleicht noch nicht? Befinden wir uns gegenwärtig noch im Schwebezustand, am Übergang, der noch keine feste Struktur angenommen hat und dessen Wege noch nicht befestigt sind? Vielleicht ist die Zeit der vorgegebenen Wege, der Paradigmen und Dogmen aber auch vorbei. Was aber kann der Gegenentwurf sein, was ist das alternative Modell zum Gedächtnisparadigma? Als vorläufiges Resümee und sozusagen ‚aktueller Stand‘ kommen hier gleich drei Alternativentwürfe in Frage: das Paradigma des Netzwerkes, der Inszenierung und schließlich des Erlebnisses/des Events. Diese Formate und Formen der Auseinandersetzung mit den Themen der Vergangenheit werden zunehmen, auch wenn hier ausdrücklich keiner Ideologie des ‚Anything goes‘ die Schranken geöffnet werden soll. Jedoch ist wohl das deutlichste und zukunftsweisendste aller Zeichen jenes zugleich paradoxe, dass es keine eindeutigen, festen Wege gibt, welche eine spezielle Richtung vorgeben und sich daher schlussendlich das Modell des Work in Progress behauptet. Der gemeinsame Nenner in diesem Prozess von Memory Work ist die Sprache und das Sprechen über den Holocaust – weniger durch die notwendigen Anführungszeichen, wohl aber durch viele Bindestriche und speeches gekennzeichnet. Die Sprache bleibt der Garant für fortwähren-

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de Erinnerungshandlungen, ein prophezeites ‚Nie Wieder‘ und damit der „Kern dessen, was wir zu sagen haben“970 und was gesagt werden muss. „Präpariert werden muß bei jeder Gelegenheit gegen Harmonie und Stille“ heißt es an signifikanter Stelle in Kevin Vennemanns Mara Kogoj. Auch wenn dieser Satz als Leitmotiv in die Zukunft weist, möchte ich hier zuletzt nun aber nicht mit den Worten eines ‚jungen Rebellen‘ schließen, sondern mit einem Satz Ruth Klügers, einer der letzten noch lebenden Auschwitz-Überlebenden, die schon in ihrer Autobiographie weiter leben 1992 die unbedingte Notwendigkeit der aktiven, lebendigen und auch streitbaren Auseinandersetzung mit dem Holocaust eingefordert und meine Arbeit nachhaltig geprägt hat: „Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung“971 lautet ihr Appell, dem ich mit dieser Arbeit einen kühnen und bescheidenen Beitrag leisten wollte.

970 „Es ist geschehen und folglich kann es wieder passieren. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben“, in: Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, München: Hanser 1990, S. 205. Außerdem ist dies der Schriftzug am Portal des „Ortes der Erinnerung“, Holocaust-Mahnmal Berlin. 971 R. Klüger: weiter leben, S. 147.

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Erinnerungskulturen/Memory Cultures Aleida Assmann, Karolina Jeftic, Friederike Wappler (Hg.) Rendezvous mit dem Realen Die Spur des Traumas in den Künsten Mai 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2658-2

Elisabeth Kübler Europäische Erinnerungspolitik Der Europarat und die Erinnerung an den Holocaust 2012, 280 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1787-0

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