Contingentia: Transformationen des Zufalls 9783110422337, 9783110419719

The role of chance in historiography is a major question for the analysis of cultural transformations. Its main subject

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German Pages 447 [448] Year 2015

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Contingentia: Transformationen des Zufalls
 9783110422337, 9783110419719

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Contingentia

Transformationen der Antike Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt

Band 38

De Gruyter

Contingentia Transformationen des Zufalls

Herausgegeben von

Hartmut Böhme, Werner Röcke, Ulrike C. A. Stephan

De Gruyter

ISBN 978-3-11-041971-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042233-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042239-9 ISSN 1864-5208 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer – SEQUENZ Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Hartmut Böhme Contingentia. Transformationen des Zufalls..................................................... 1 I Dea Dubia. Antike Grundlagen, christliche Transformationen und wissenschaftliche Antworten Christoph Markschies »Providence leaves no real room to fortuna«: Vom Zufall bei Augustinus..... 39 Thomas Micklich Kontingenz und Subjektivierung: Dynamiken der Veränderung im Zeit-Raum der Ontologie von Platon bis Duns Scotus................................51 Peter Vogt Virtù vince fortuna. Aufstieg, Wandel und späte Blüte eines frühneuzeitlichen Topos...................................................................................75 Pietro Omodeo und Jürgen R enn Das Prinzip Kontingenz in der Naturwissenschaft der Renaissance.............115 Georg Toepfer ›Kontingenz‹ in der Historiografie. Der Kontingenzbegriff in der Natur-, Wissenschafts- und Kulturgeschichtsschreibung...............................149 Rudolf Stichweh Die Rolle des Zufalls in den Funktionssystemen der Weltgesellschaft. Eine vergleichende Perspektive......................................................................173

II Aeque possibile. Die Entdeckung des Zufalls in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Lea Braun Die Kontingenz aus der Maschine. Zur Transformation und Refunktionalisierung antiker Götter in Heinrichs von Veldeke Eneasroman und Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland................189

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Inhaltsverzeichnis

Julia Weitbrecht »das Glück ist kuglet vnd flück« – Fortuna und Kontingenzerfahrung in den Römerdramen Jacob Ayrers.................................................................211 Michael Weichenhan Die Macht der Sterne und die Kontingenz.................................................... 225 Susanne R eichlin Das Neben- und Miteinander providentieller Deutungsmuster im Rolandslied des Pfaffen Konrad............................................................... 267

III Au hasard. Kontingenz und Risiko in Modernisierungsprozessen Achatz von Müller Die Kontingenz des Geldes im Kontext der Genesis seiner modernen Entwicklung (13.–16. Jahrhundert)................................................................ 297 Herfried Münkler Gewalthandeln, Rückzug ins Private oder Kalkülrationalität? Über den Umgang mit Kontingenz im Denken der Frühen Neuzeit............................. 305 Ronny K aiser Kontingenz, Stabilisierung und Aneignung historischen Wissens. Humanistische Editionen von Geschichtsdarstellungen als Bewältigungsstrategien gegen das Vergessen................................................327 Bernd Roling Zufall, Selektion und die Lektüre der Antike: Johann Friedrich von Brandt, Carl Eduard von Eichwald und die Debatte um die ausgerotteten Tiere an der Akademie von Sankt Petersburg......................... 349 Francesca Michelini Zufall und Teleologie. Von Darwin zu Spinoza und zurück......................... 387 Andreas Lotz The (Re)turn to What? Anmerkungen zur Kontingenz der Platon-Referenz in der Philosophie Alain Badious................................. 409 Personenregister............................................................................................. 425 Sachregister.....................................................................................................433

Contingentia. Transformationen des Zufalls Einleitung Hartmut Böhme

1. Schwierigkeiten mit dem Zufall Friedrich der Große schreibt nach der Schlacht von Kunersdorf, die am 12. August 1759 wenige Kilometer östlich von Frankfurt (Oder) geschlagen wurde, am 22. September 1759, – ein wenig erholt von der tiefen Depression nach der Niederlage, weil die österreichisch-russischen Armeen sich nicht zum Durchmarsch auf Berlin entschließen konnten – an Voltaire: »Ich bin in den Convulsionen der Kriegsbewegungen, und mache es wie unglückliche Spieler, welche gegen Fortuna trotzen. Ich habe dieselbe mehr als einmal gezwungen zu mir zurückzukommen, gleich einer flatterhaften Geliebten.« Und er fügt hinzu: »Was immer auch Seiner heiligen Majestät dem Zufall beliebt, ich werde mich nicht beirren lassen.«1 Am 9. Oktober desselben Jahres schreibt er einigermaßen pessimistisch: »Je älter man wird, desto mehr überzeugt man sich davon, dass drei Viertel der Geschäfte in dieser miserablen Welt durch seine geheiligte Majestät dem Zufall besorgt werden.«2 Nicht nur für Feldherren (wie Clausewitz scharf erkannte), sondern auch für Historiker ist der Zufall eine Herausforderung, welche die Souveränität und Unabhängigkeit einerseits des strategischen Handelns, andererseits des geschichtlichen Wissens in Frage stellt und gelegentlich niederschlägt. So zitiert Reinhart Koselleck eingangs seiner Studie über den Zufall in der Geschichtsschreibung den Philosophen Raymond Aron, der über Clausewitz das große Werk »Penser la guerre, Clausewitz« (1976) geschrieben hatte: »Le fait historique est, par essence, irréducible à l’ordre: le hasard est le fondament de l’histoire.«3 Für Koselleck jedoch ist der Zufall eine reine Gegenwartskategorie, 1 2

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Pleschinski (1992), 414. »Plus on vieillit, et plus on se persuade que Sa sacrée Majesté le Hasard fait trois quarts de la besogne de ce misérable univers, et que ceux qui pensent être les plus sages sont le plus fols de l’espèce à deux jambes et sans plumes dont nous avons l’honneur d’être.«, so lautet es aus Breslau am 12. März 1759 an Voltaire. – Vgl. Demandt (2001), 38–39. Pessimistisch klingt es auch im Brief an Voltaire vom 2. Juli 1759 aus Reich-Hennersdorf (Voltaire [1832] 133–134). Koselleck (1979), 158.

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darum für den Historiker ein Grenzbegriff. Ist der Zufall gewesen, so wird er post festum vom Historiker beobachtet und ist insofern kein Zufall mehr, weil er kontextuell eingebunden wird. Tritt der Zufall hingegen gerade jetzt ein oder kommt er aus der Zukunft auf uns zu, so ist er per se nicht Gegenstand des Historikers. So ist der Zufall für Koselleck eine »unhistorische Kategorie«. »Das Bestürzende, das Neue, das Unvorhersehbare«, das bloß Ereignishafte und Zufällige gehört nicht zur Geschichte.4 Gerade am Beispiel des Historikers des siebenjährigen Krieges, Johann Wilhelm von Archenholz (1791)5, zeigt Koselleck, dass immer, wenn Archenholz von Zufall redet, es sich um etwas anderes handelt: (1) um Wahrnehmungen aus dritter Perspektive, z. B. des Gegners, der damit das überlegene Kalkül Friedrichs verkleinert; (2) um rhetorische Figuren (kein Sieger glaubt, nach Nietzsche6, an den Zufall); (3) um einen Platzhalter für noch unbekannte Ursachen oder bessere Deutungen. Koselleck hält es mit Montesquieu, für den der Zufall (hasard) ein Ereignis von partikularer Kausalität ist (cause particulière, die causa accidens des Aristoteles)7, wohingegen der Zufall sich auflöst, wenn man prinzipielle Ursachen zum Kontext für ein zufällig scheinendes Ereignis wählt. So sei, nach Koselleck, auch den Worten Friedrichs II. nicht zu viel Gewicht beizulegen, wenn er nach der verlorenen Schlacht bei Kolin (18. Juni 1757) an Marschall von Keith schreibt: »Das Glück hat mir an diesem Tage den Rücken gekehrt. Ich hätte es vermuten sollen, es ist ein Frauenzimmer, und ich bin nicht galant. Es erklärt sich für die Frauen, die mit mir Krieg führen.« Die Frauen, das sind Zarin Elisabeth und Kaiserin Maria Theresia. Hier schreibt der Verlierer: Und Verlierer haben allen Grund, ihre Niederlage nicht etwa eigenen Fehlern, sondern dem Glück der Sieger oder dem Zufall zuzuschreiben. – Im Großen und Ganzen wird der Zufall aus dem Feld der Historiographie vertrieben. Man will, bei Strafe des Verlusts der eigenen Professionalität, die Geschichte nicht dem Zufall überlassen. Und so nimmt es nicht Wunder, wenn erst Arnd Hoffmann eine systematische Studie zur Rolle des Zufalls in der Geschichtsschreibung vorlegte.8 Ganz anders Georg Heinrich von Berenhorst (1733–1814), 1759 bis 1762 Adjutant Friedrichs II. und Autor der »Betrachtungen über die Kriegskunst« (1795/6). In einem Aphorismus schreibt er nicht ohne einige Ironie, dass die »Geschichtsschreiber« und die »Autoren vom Kriegshandwerke, fast nie ei4 Ebd. 159. 5 Archenholz (1866). 6 »Die Leugner des Zufalls. – Kein Sieger glaubt an den Zufall.« (Nietzsche [1988], Bd. III, 517) 7 »Et si le hasard d’un bataille, c’est-à-dire une cause particulière, a ruiné un État, il y avait une cause générale qui faisait que cet État devait périr par une seule bataille. En une mot, l’allure principale entraîne avec elle tous les accidents particuliers.« (Montesquieu, Charles de: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence [1734], zit. bei Hoffmann [2005], 26. 8 Hoffmann (2005).

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nen auch nur schwachen Begriff« von der quälenden Unübersichtlichkeit und Zufälligkeit des Krieges, vom »unaufhörlichen Tappen im Finstern« geben. Es gäbe keine »Lehrbücher« über die »Truggestalten« und Irrtümer oder die »Ausnahmen von den Regeln«. Darüber würden die Verlierer so wenig schreiben wie die Sieger über die Zufälligkeit ihres Obsiegens.9 Die Idee von Zufall und Glück im Krieg ist antik und findet sich beiläufig schon bei Herodot, Thukydides10 oder in Vegetius’ Epitoma rei militaris, wenn er z. B. davon spricht, dass eine Feldschlacht oft mehr durch Fortuna als durch Virtus bestimmt sei.11 Dass Virtus und Fortuna gegenübergestellt sind, ist römische Rhetorik-Tradition, die noch stark bei Machiavelli, aber auch bei Friedrich II. und Militärschriftstellern des 18. Jahrhunderts nachwirkt. Wenn Machiavelli auf die Fortuna des Krieges zu sprechen kommt, so weiß er, dass die Gelegenheit (occasione) unverhofft und unberechenbar erscheint und dass Virtù und Fortuna sich den Erfolg hälftig teilen. Doch zuletzt ist ihm Fortuna ein Weib, das, »um es sich unterwürfig zu halten, geschlagen und bestürmt sein will, und man bemerkt, dass es sich eher von Solchen bezwingen lässt, als von Denen, die kalt verfahren.«12 Fortuna muss, sie will bezwungen werden.

※ Nicht nur für sog. Schlachtenlenker, die sich als Getriebene der Fortuna herausstellen, nicht nur für heroische Historiker, welche die Geschichte gern am Leitfaden lückenloser Erklärungen durch die Zeit führen wollen, sondern auch für den Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« ist der Zufall ein ständiges Problem – und zwar für den gesamten Bogen von den mythischen Figurationen der Tyche und Fortuna über die philosophische Begrifflichkeit des ἐνδεχόμενον (endechómemon) bzw. der contingentia bis zu den modernen Fassungen des Zufalls und der Kontingenz in Philosophie, Sozial- und Naturwissenschaften, Versicherungsmathematik etc., aber auch in den Künsten und Medien. Tyche, Endechómenon, Fortuna, Contingentia, Zufall, hasard, coup de chance, vicissitudes d’une existence, stroke of luck, coincidence, chance oder 9 Berenhorst (1827/1978), 541. 10 Saïd (1980/1). – Saïd u. Trédé (1985), 65–85. – Cioffari (1935). 11 Vegetius, Epitoma rei militaris, lib. III, 26,4 (Regulae bellorum generales): Aut inopia aut superventibus aut terrore melius est hostem domare quam proelio, in quo amplius solet fortuna potestatis habere quam virtus. (Es ist besser, die Feinde durch Mangel, Attacken oder Angst zu bekämpfen als in einer Schlacht, in der die Fortuna eine größere Macht als die Virtus zu haben pflegt.) – Vgl. ebd. III, 26,6: Occasio in bello amplius solet iuvare quam virtus. (Im Krieg hilft Gelegenheit mehr denn Tapferkeit.) – Entgegensetzung von virtus und felicitas: Lib. III, Prologus 1–2. Vgl. ebd. III, 22,13; III, 25,5; III, 26,31; dagegen III, Prologus 8: qui secundos optat eventus, dimice artu, non casu. (Wer erfolgreiche Ausgänge wünscht, der kämpfe mit Kunst, nicht nach dem Zufall.) 12 Machiavelli (1990), 120. – Zur zitierten Stelle vgl. Münkler (1984), 309. – Leeker (1989), 407– 432.

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fate sind für das Transformations-Konzept des SFB eine starke Herausforderung.13 Denn die Wissenschaften mögen den Zufall, das bloß Beiherspielende und womöglich Unberechenbare, nicht. Die Frage, welche Rolle dem Zufall in Transformationen des Wissens, der literarischen und künstlerischen Entwürfe oder politischen Konzepte zukommt, ist eine für die Funktionsweise von Transformationsprozessen weiterführende Fragestellung, die deshalb in den Mittelpunkt der Jahrestagung 2012 des SFB gestellt wurde. Es sollte überprüft werden, ob Transformationen ausschließlich bewusste, subjektorientierte Entscheidungen und Aktionen darstellen oder aber auch – und in welchem Maße – vom Zufall gesteuert sind. Was also bedeutet es, wenn Transformationen als nicht unmöglich, aber auch nicht als notwendig anzusehen sind (»nec impossibile, nec necessarium«, wie die lateinische Formel für den aristotelischen Begriff des endechómemon lautet)? Das Transformations-Konzept wurde bisher überwiegend von den Akteuren und ihren Intentionen her gedacht, die als Ausgangspunkt historischen Sinns und möglicher Ordnungen des Wandels angesehen wurden. Demgegenüber wurden Zufälle lediglich als Symptome eines mangelnden Wissens verstanden, denen ein eigenständiges Wirkpotential (agency) aber nicht zukommt. Im Gegensatz dazu sollte die Tagung erkunden, ob und in welcher Weise Transformationen von Zufalls-Funden oder unableitbaren Ereignissen, unbeabsichtigten Nebenfolgen oder überraschenden Wendungen, unvorhersehbaren Widerständen oder Störungen, Indifferenzen oder Missverständnissen begleitet oder bestimmt sind. Eine zweite Fragestellung betrifft die Transformationen der contingentia selbst, die in ihrer Verbildlichung (z. B. als Tyche, Fortuna etc.), aber auch ihrer historischen Semantik in Theologie und Philosophie seit der Antike bis in die jüngste Gegenwart bemerkenswerten Veränderungen unterlag. Schließlich sollte drittens der je spezifische Umgang mit Kontingenz in sozialen und politischen Prozessen, Literatur und Kunst sowie anderen Medien untersucht werden. Von besonderem Interesse waren dabei einerseits die Unterscheidung von Risiko und Gefahr (N. Luhmann), andererseits die Frage, ob und inwieweit Kontingenz lediglich als Problem der dargestellten »histoire« oder nicht auch des »discours«, d. h. der sprachlichen und künstlerischen Form, in Erscheinung tritt. Neben den Zufällen der Transformation und den Transformationen des Zufalls sollte also auch die Frage berücksichtigt werden, welche Möglichkeiten der Kontingenzbewältigung in Antike, Mittelalter und Neuzeit entwickelt worden sind. Über Zufall kann man nicht nur theoretisch, sondern man muss stets auch in Beispielen reden. Darum wird im Folgenden in einem großen Bogen teils theoretisch, teils exemplarisch in den Wandel, aber auch in die Konstanten im 13 Böhme u. a. (2011).

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Denken des Zufalls eingeführt. Der Zufall gehört nicht einer einzigen Disziplin, er gehört überhaupt niemandem, und das war es vielleicht, was Friedrich II. von der Majestät des Zufalls sprechen ließ. Doch unterdessen sind alle wissenschaftlichen Disziplinen und auch unser Alltagswissen mit der Erfassung und Bewältigung des Zufalls beschäftigt. Von den Bewegungen und Reaktionen der Elementarteilchen bis zu Prozessen der Gesellschaft gibt es nichts, was, im klassischen Verständnis von Gesetzlichkeit, nur in strikter Determination abläuft. Der Zufall ist überall und er war schon immer; davon ist man heute überzeugt. Immer aber auch waren seine Gegenspieler, die Ordnungen – von Ordnungen der Materie bis zu denen der symbolischen Welten. Erst beides zusammen konstituiert, was wir nicht nur die geschichtliche Welt, sondern auch die Natur oder gar die Welt nennen.

2. Exempla docent: Goethes »Agathé Tyche« Nehmen wir die erste abstrakte Skulptur der Kunstgeschichte, nämlich Goe­ thes »Agathé Tyche«, Ἀγαθή Τύχη (Abb. 1). Diesen ›Stein des Guten Glücks‹ ließ der 28jährige Goethe 1777 auf einem eigens geschaffenen Platz am Ende der Malvenallee auf dem Grundstück seines Gartenhauses im Ilm-Park errich-

Abb. 1. Goethe (inv.): Der »Stein des Guten Glücks« oder »Altar der Agathe Tyche«.

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ten. Heute ist das Werk, zunächst ein Geschenk an Frau von Stein, näher dem Hause aufgestellt. Es wurde 1948 (Abb. 2) als Ideengeber für das Denkmal der Verfolgten des Naziregimes auf dem Weimarer Hauptfriedhof benutzt: Kubus und Sphaera Goethes und auf der Spitze das rote Dreieck der politischen KZ-Häftlinge. Schon dies ist eine Transformationskette, die hinsichtlich intentionaler Absichten und kontingenter historischer Umstände allzu offensichtlich ist. Was hatte Goethe zu seiner Skulptur angeregt? Dies ist nicht genau zu eruieren, weil Goethe keinen Selbstkommentar abgegeben hat und auch das sog. geheime Tagebuch, in welchem die Agathé Tyche mehrfach erwähnt wird, keine Auskunft gibt Abb. 2: Ehrenhain der Verfolgten des Nazire(25.12.76; 15.1.77; 5.4.77). Im Allgegimes (VdN). 1948. Weimarer Hauptfriedhof meinen glaubt man darin eine symbolische Darstellung der Beziehung von Goethe zu Frau von Stein zu erkennen: Letztere repräsentiert jenes mäßigende und sedierende Moment, das der von Unruhe und widersprüchlichen Impulsen getriebene Dichter sich wünschte und nötig hatte. Gelegentlich wird Bezug genommen auf die vier Jahrzehnte spätere Stanze »ΤΥΧΗ« im Rahmen der »Urworte. Orphisch« (1817). Näher kommt man der Skulptur, wenn man den Brief Goethes aus Schaffhausen vom 3. und 5. Dezember 1779 an Lavater heranzieht, während der Schweiz-Reise mit Herzog Carl August. Goethe wollte dem Herzog »ein Monument dieser glüklich vollbrachten Reise sezen«.14 Lavater soll den Maler Johann Heinrich Füssli bitten, dafür eine Entwurfszeichnung zu liefern. Doch Goethe entwickelt schon im Brief selbst genaue Vorstellungen dieses Erinnerungs-Denkmals, um dem »guten Glück einen Stein der Dankbarkeit zu widmen«. Diese Formel nimmt wörtlich auf die »Agathé Tyche« Bezug. Indes, der Goethesche Entwurf weicht markant von seiner zwei Jahre früheren Skulptur ab: Auf einem Quader soll die Fortuna als allegorische Figur postiert werden, mit ihren topischen Attributen »Steuerruder und Kranz« (Goethe meint den Mauerkranz auf dem Haupt), flankiert von zwei Attributfiguren, nämlich Genius und Terminus, der eine antreibend, vordringend, wegweisend, 14 Goethe (1982), Bd. 1, 287–290.

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ausschreitend, der andere stillstehend, mäßigend, ratend, grenzsetzend: »zwey Söhne einer mutter«, die komplementär sind und erst zusammen das »gute heilsame Glük« ausmachen. Auf den Sockelseiten sollten drei bedeutende Figuren sowie eine »Innschrifft« stehen: »Fortunae / Duci reduci / natisque / Genio  / et / Termino / Ex Voto.«15 Eine Fortuna, flankiert von Genius und dem Gott Terminus, hat es vor Goethe niemals gegeben. Deutlich ist, dass, anders als es Heckscher16 nahelegt, Terminus hier nicht im Sinne des von Erasmus zu seinem Motto gemachten Cicero-Wortes »Cedo (oder: concedo) nulli« (Abb. 3) gemeint ist: Abb. 3: Crispijn van de Passe (Stecher), Der römische Terminus, der für die UnConcedo Nulli verrückbarkeit von Grenzsteinen einstand, wurde emblematisch für die unbeugsame Virtus des vir quadratus eingesetzt. Doch erkennt man, dass Goethe sich in der sinnbildlichen Kunst gut auskannte und mit der Doppel-Funktion der römischen dea bifrons und ihrer Attribute vertraut war. Mit den die Fortuna flankierenden Figuren des Genius und des Terminus erfasste er jene gegenläufige Dynamik, welche in der Mythologie der Göttin und noch in der Dichtung »Urworte. Orphisch« von 1817 zentral ist. Dies einräumend, fällt um so mehr die wahrlich nackte Abstraktion der Skulptur von 1777 auf, die keine Inschrift trägt und radikal von jeder allegorischen Lesbarkeit gereinigt ist. Ist das geplante, aber nie realisierte Monument für Carl August konventionell, voller antiker und emblematischer Allusionen, so ist die »Agathé Tyche« geradezu revolutionär, indem sie auf eine Weise, die für einen Sprachkünstler umstürzend ist, jede Lesbarkeit und damit auch die Nähe der Sinnbilder zur Schrifthermeneutik negiert, um allein zwei Elementar-Körper, Kugel und Kubus, zu konfigurieren. Dennoch aber stellt die Skulptur eine Transformation der Antike dar und sie ist sprechend für Goethes Lebensauffassung für die Jahre um 1777. Auf keinen Fall aber ist die Kugel der Agathé Tyche ein Erd-Globus (wie bei Otto Vaenius) und sie referiert auch nicht auf die Kugelgestalt des Seins bei Parmenides (wieso dann der Quader?) oder auf Platons Urkörper. Wir wissen auch nicht, ob Goethe das Emblem »Mobile fit fixum« aus Otto Vaenius’ »Em-

15 »Der Fortuna / bei Ausreise und Heimkehr / und ihren Kindern / dem Genius / und / dem Terminus / dem Gelübde gemäß.« (Übers.: K. R. Mandelkow) 16 Heckscher (1962), 35–54. – Vgl. Schoell-Glass u. Sears (2008), 82–86.

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blemata sive Symbola« (1624) kannte (Abb.  4).17 Diesen Holzschnitt, dessen Formensprache Goethes Skulptur sehr nahe kommt, hat Heckscher entdeckt und zum Ausgang seiner Rekonstruktion des emblematischen Sinns der Agathé Tyche gemacht, um zu zeigen, wie sehr Goethe »im Banne der Sinnbilder« stand. Wir wollen zeigen, dass Goethe diesen Bann in seiner Skulptur gerade durchkreuzt hat. Wir nehmen bei unserer Spurensuche einen früheren Ausgang als Heckscher und werden zu einem anderen Ergebnis kommen. In der Tafel 48 des Bilderatlas »Mnemosyne« versammelt Aby Warburg 32 Figurationen der anAbb. 4: Otto Vaenius, Mobile fit fixum tiken und frühneuzeitlichen Fortuna. Nehmen wir eine der sprechendsten und sehr frühen ikonographischen Darstellungen des Formgegensatzes von Quader und Kugel hinzu, nämlich das Frontispiz (Abb.  5) des Liber de Sapiente (1510) von Charles de Bovelles (Carolus Bovillus, 1479–1567). Dieses Werk nannte Ernst Cassirer die »vielleicht merkwürdigste und in mancher Hinsicht charakteristischste Schöpfung der Renaissance-Philosophie«18. Fortuna sitzt instabil auf einer Kugel (sedes fortunae rotunda), die auf einem schiefen Brett liegt, mit verbundenen Augen, in der Linken die rota fortunae vel mundi, welche den ewigen Wechsel von Aufstieg und Absturz der Menschen in der irdischen Welt symbolisiert. Ihr zu vertrauen ist insapiens, auch wenn die Augenbinde sie der iustitia ähnlich zu machen scheint: Vor ihr sind alle gleich. Bei Fortuna aber heißt dies: Aufstieg und Fall der Menschen ist ihr gleichgültig, sie kennt keine Misericordia. Ihr gegenüber sitzt auf einem unverrückbaren Kubus (sedes virtutis quadrata) die Sapientia. Im Speculum sapientie, das nicht etwa der eitlen Selbstbespiegelung (der Venus) dient, erkennt sie sich selbst. Dieser Selbsterkenntnis entspricht die Welt-Erkenntnis: Auf dem Rahmen des 17 Es ist das allererste der 207 kleinformatigen Embleme des schmalen Büchleins von Vaenius. Der Cubus unter dem Erd-Globus wird im Text als jene Ruhe (Quies) charakterisiert, die von der guten Herrschaft in die dissoluten, vagen und instabilen Zustände hineinkommt (so die Erklärung von Vaenius). Meines Wissens erscheint dieses Emblem nur hier. Die politische Bedeutung könnte von Goethe allenfalls auf Carl August gemünzt sein. Für die Agathé Tyche gilt sie sicher nicht. 18 Cassirer (1977), 93. Die Herausgabe des Liber de Sapiente (ebd. 299–412) durch Raymond Klibansky innerhalb von Cassirers Werk trug dazu bei, dass die Schrift nicht vergessen wurde. Vgl. Gilbhard (2012), 54–64.

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Abb. 5: Carolus Bovillus (= Charles de Bovelles), Liber de Sapiente. Paris 1509. Titelholzschnitt: Fortuna et Sapientia

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Spiegels erscheinen Sonne, Mond und die Planeten. Mikro- und Makrokosmos bilden eine ausgewogene Ordnung und strukturelle Korrespondenz (dies ist die Grundform der Renaissance-Episteme). Stabilität und Instablität der moralischen und kognitiven Orientierung in der Welt verteilen sich auf die Festigkeit des Wissens und die Blindheit des Zufalls. Dies kommt Goethes Auffassung des Lebens schon sehr nahe. Im linken oberen Zwickel erkennt man ein Medaillon mit dem Törichten; ihm gegenüber der Weise. Dem Törichten ist ein Spruchband zugeordnet, das aus den »Satiren« von Iuvenal zitiert, und zwar aus der 10. Satire, die von der Vanitas der Wünsche handelt: »Wir sind es, die dich, o Fortuna, zur Göttin machen und dich in den Himmel erheben«, während du, wenn wir klug sind, keinerlei Macht hast.19 Dem Weisen ist wiederum ein Vers gewidmet aus der Nr. 76 der Epigrammata ad Falconem (zuerst 1477) des Karmeliter-Humanisten Battista Mantovano (1447–1516). Er dichtete auch ein kurzes Lehrgedicht »Carmen de Fortuna« (ca. 1510). Der hier zitierte Vers aus der Elegie »De pugna Virtutis et Fortunae« lautet: »Vertrau der Tugend: (denn) Fortuna ist flüchtiger als die Wellen.«20 Wie sehr Fortuna mit dem Fluiden, dem Gestaltwandel des Wassers und der gefahrvollen Unruhe des Meeres verbunden ist, werden wir noch sehen. In jedem Fall hat Goethe seine Agathé Tyche nicht mit der seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert vor allem in Kleinasien verehrten Schutzgöttin der Stadt mit dem Mauerkranz auf dem Haupt verbunden, sondern eher mit der römischen Fortuna. Auch die zu den »Urworte. Orphisch« gehörigen Verse »ΤΥΧΗ. Das Zufällige« (1817) nehmen keinen Bezug auf die griechische Agathé Tyche, wohl aber auf das positiv gesehene Fluide, Wechselhafte, Wandelnde – gegenüber dem Determinierten und Schicksalhaften des Daimon (ΔΑΙΜΩΝ). Aber auch jede figurative Allusion auf die römische Fortuna wird gelöscht. Es handelt sich bei der Skulptur Goethes vielmehr um eine Transformation, ja Neuschöpfung eines Mythos, der seine emblemgeschichtlichen Voraussetzungen tilgt. Der Clou der Skulptur ist, dass Agathé Tyche keinerlei eindeutigen emblematischen Sinn trägt: Das ist, im Gegensatz zum Entwurf des Steins des guten Glücks für Carl August, die Funktion dieser einzigartigen Abstraktion. Zwar ist die Skulptur auch eine versteckte Anspielung auf die charakterologisch verteilten Temperamente von Frau von Stein und ihm selbst, von Frau und Mann. Diese private Codierung wird jedoch durch die radikale Abstraktion des Werks überstiegen, um eine Allgemeinheit beanspruchende polare Grundhaltung zum Leben und zur Lebensführung vor Augen zu stellen,

19 Iuvenal: Satura X, 365/6: nullum numen habes, si sit prudentia: nos te, / nos facimus, Fortuna, deam caeloque locamus. 20 Mantovano (1496), Nr. 76, 107–8: Fidite Virtuti, Fortuna fugacior undis / Non manet, et certam nescit habere domum. (Hinweis von Matthias Riedl, CEU Budapest).

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eine Haltung, die nicht als Gegensatz, sondern als Einheit der polaren Gegensätze angesehen wird. Goethe notiert am 5. April 1777 ins Tagebuch: Αγαθή Τύχη gegründet! = da μῦθος erfunden wird, werden die bilder durch die Sachen gros, wenns Mythologie wird werden die Sachen durch die Bilder gros.21

Hierin drückt sich das Bewusstsein Goethes für den Bruch mit der emblematischen Tradition aus. Seine Skulptur ist nicht »Mythologie«: D. h., es gehen ihr nicht die Bilder voraus, wodurch die »Sachen« (res in Bedeutung von ›Sinn‹, ›Idee‹) erst groß werden. Sondern bei seiner Mythos-Schöpfung werden die minimalistischen »Bilder« durch die gedachte Bedeutung groß: Doch was er gedacht hat, teilt Goethe nicht mit. Zeit seines Lebens war er ein Virtuose im Spiel von exoterischer und esoterischer Adressierung seiner Werke. Die sichtbare (exoterische) Seite der Skulptur hat ihre eigene formale Evidenz, die indes hinsichtlich der gedachten Bedeutung, also im ikonologischen Sinn, esoterisch oder enigmatisch bleibt. So hatte Goethe seinen Zeichenlehrer Adam Friedrich Oeser, Akademiedirektor in Leipzig, um einen Entwurf gebeten, doch war er mit dessen emblematischer Ausstattung der beiden Grundformen unzufrieden! Die Goethesche Abstraktion wiederum tut Oeser im Brief vom 16. Januar 1777 als die bloß »strengen mathematischen Wahrheiten« ab.22 Diese nicht-figurative und ornamentlose Abstraktion macht die ›Gründung‹ und ›Erfindung‹ eines neuen Mythos in der Geschichte der Transformation der Tyche / Fortuna zu einer Diskontinuität; Selbmann spricht sogar von »epochengeschichtlicher Wende«23. Gleichwohl stellt das Werk, als eine Art dialektischer Negation, die Synthese der emblematischen Tradition dar, die bis in die Antike zurückreicht. Doch sicher ist: An der ›Erfindung‹ dieser Agathé Tyche ist selbst nichts Zufälliges, sondern alles ist planerisches Kalkül, bewusste Intention und hochreflektierte, wenn auch enigmatische Semiotisierung des Steins. Zugleich vollzieht Goethe mit der bildlosen Fortuna den Übergang zum modernen Zufall. Mit klarem Bewusstsein tritt Goethe als Subjekt aus einer prätendierten Position der Souveränität zurück und fügt sich darein, dass das eigene Leben immer auch widerfährt, gelenkt von einem Zufall, über den unser »Witz und Wollen« nicht herrschen. Dies formuliert Goethe auf der Schweizer Reise, anlässlich des Entwurfs des Fortuna-Monuments für Carl August: Den ganzen Weg den wir machen begleitet von einem guten Geiste der überall die Fackel vorträgt hierin lockt dorthin treibt dass wenn ich zurücksehe wir, zu so

21 Goethe WA, III. Abt. Bd. 1, 37 (gr. Schrift im Original); vgl. ebd. 29, 30. Goethe diskutiert die Skulptur nicht nur mit Oeser, sondern auch mit Knebel und dem Herzog. 22 Der vollständige Brief Oesers an Goethe ist abgedruckt in: Selbmann (2008), 149. 23 Ebd. 151.

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manchem das unsre reise ganz macht nicht durch unsern Witz und Wollen geleitet worden sind.24

Bis auf die Ebene des praktischen Lebens hinunter, das wir gern mit ›Lebensführung‹ verwechseln, die freilich längst mit dem Zufall geteilt wird, hat Goe­the in der Agathé Tyche die Transformation der antiken Fortuna zur Kontingenz vollzogen, und zwar gerade durch die radikale Abstraktion der Form und die ebenso radikale Bezogenheit auf die eigene Lebenspraxis. Goethes Agathé Tyche Abb. 6: Crispijn van de Passe (Stecher), ist trotz der Referenz auf den FormgegenIn Virtute et Fortuna satz von Cubus und Sphaera weder auf die Imprese »In Virtute et Fortuna« im Emblem 89 (Abb. 6) noch auf die Formel »Sapientia Constans« des Emblem 2 (Abb. 7) in Gabriel Rollenhagens »Nucleus emblematum selectissimorum« (1611), gestochen von Crispijn van de Passe, zurückzuführen.25 Der abstrakte Konstruktivismus der beiden Grundformen, die nur noch von fern an die Allegorien von Sapientia und Fortuna erinnern, beendet die Wirkmacht der antiken Göttin und überstellt das Unverfügbare des Zufalls an die Abb. 7: Crispijn van de Passe (Stecher), wie immer auch irrtumsanfällige Navigation Sapientia Constans des Subjekts. Es nimmt nicht Wunder, dass nach dem Candide-Roman von Voltaire und nach Laurence Sternes »Tristram Shandy« Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« zum ersten großen modernen Roman der Kontingenz wird. Man muss sich also hüten, wie Heckscher mit noch so gelehrtem Aufwand an emblematischer Tradition einen eindeutigen Sinn für eine Skulptur zu erweisen, für welche Goethe mit Entschiedenheit eine nicht-figurative Formlösung gewählt hat. Zwar sind die emblematischen Vorgaben der Jahrhunderte vorauszusetzen. Doch werden sie zugleich durch die ästhetische Gewalt der Abstraktion gleichsam zurückgestaut: Dadurch wird das Problem der Bedeutungszuschreibung als solches erst hervortrieben. In einem viel weiteren als dem bloß biographischen Sinn ist die Skulptur selbstreflexiv. Goethe hat die Ikonologie, noch bevor sie erfunden wurde, an ihre Grenze geführt. In dieser Durchkreuzung der Ikonologie liegt die Modernität der Skulptur, die auch die 24 Goethe: Brief an Lavater vom 2. u. 5. Dezember 1779 (In: Goethe [1982], Bd. 1, 289). 25 Vgl. zu dieser Imprese: Cascione (2007), 93–114. – Gilbhard (1012), 58 f.

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Abb. 8: Andreas Alciatus, Ars Naturam Adiuvat

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Wende zu einem Zufalls-Konzept ist, das nicht mehr in der Regie der Göttin und ihrer Ausleger in den Emblem-Büchern liegt.

3. Navigare necesse est: die neuzeitliche Wendung aufs Meer des Zufalls Der Formgegensatz von sedes quadrata und sedes rotunda geht wenig nach Charles de Bovelles in eines der ersten Emblembücher ein, ins »Emblematum libellus« (1531) des Andreas Alciatus (Abb. 8): Auf dem Kubus sitzt – unter dem Titel ARS NATURAM ADIUVAT – Hermes, der die Künste repräsentiert, während Fortuna mit einem Fuß im Wasser, mit dem anderen auf der Kugel steht. Der Wind umbraust sie, Tuch und Haare bauschend. Sie ist den instabilen Elementen Wasser und Luft zugeordnet; im Hintergrund erleidet ein besegeltes Schiff gerade Schiffbruch. In der Subscriptio heißt es: Ut sphaerae fortuna, cubo sic insidet Hermes: Artibus hic variis, casibus illa praeest. Adversum [=Adversus] vim Fortunae est ars facta: sed artis Cum Fortuna mala est, saepe requirit opem. Disce bonas artes igitur studiosa iuventus, Quae certae secum commoda sortis habent.

Aby Warburg erinnert daran, dass Fortuna im Italienischen »nicht nur ›Zufall‹ und ›Vermögen‹, sondern auch ›Sturmwind‹ « bedeutet, »ein unheimlicher Winddämon«, wie Francesco Sassetti formuliert.26 Das Meer ist das Risiko-Element überhaupt, aber auch das Medium der Raumexpansion, des Handels und der Nachrichten. Darum ist Fortuna mit der Nautik so verbunden, mal als Mast die Segel für erfolgreiche Fahrt haltend, mal das Steuerruder haltend, mal den Schiffbruch auslösend, mal das Füllhorn mit sich führend. Sie ist grausam und spendend zugleich. Gerade ihr antik-dämonischer Charakter – Warburg spricht sie an »als antikisierendes Energiesymbol der persönlichen Gedankenwelt« von Zeitgenossen wie Sassetti oder Rucellai27 – wird in der Renaissance wiedergeboren und passt gut zu der ozeanischen Dimension, in die Europa im Geburtsjahr von Alciatus 1492 eingetreten war. Risikofreude ist die neue Tugend. Verlust und Gewinn auf dem Meer werden zu Gegenständen kalkulierender Abwägung, der erstmalig gegründeten Versicherungen sowie der Risikodiversifikation (man denke an Antonio im Merchant of Venice von Shakespeare).28 Nicht umsonst entsprechen sich die Flüchtigkeit der Fortuna,

26 Warburg (1907/1992), 148. 27 Ebd. 147. 28 Vgl. dazu: Wolf (2013). – Ferner: Reichert (1985). – Sloterdijk (2005). – Siegert (2006).

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das liquide Element des Meeres und die Mobilität des Kapitals.29 Dem erhöhten Risiko von Schiffsuntergängen wird gekontert mit exponentiell wachsender Rendite bei glücklicher Heimkehr. Fortuna, die als Occasio (oder als Καιρός) beim Schopfe gepackt werden muss30, ist die Göttin des modern auf dem Weltplan agierenden Entrepreneurs. (Abb. 9)31 Das Vertrauen auf das Steinern-Stabile der sedes quadrata, die von den Künsten des Hermes kompakt gemacht wird, ist nicht nur ein Palliativ gegen Zufall und instabilitas, ein Faktor also der securitas.32 Sedes quadrata ist im Baconschen Zeitalter auch die Formel des Konservativen, ja Pfahlbürgerlichen. Wenn Hermes eine Unterstützung der Natur sein soll, wie schon Nikolaus von Kues diese rhetorische Lehrformel benutzte (Comp. III 7, 14 [H. 7])33, so entspricht es der Fortuna-Seite, dass Künste und Wissen die Säulen des Herkules hinter sich lassen, also selbst risikoreich werden. Diese Säulen waren seit Pindar34 Symbole einer verbotenen Welt. Mit der Errichtung der Herakleioi stelai an der Enge von Gibraltar hatte Herkules, indem er den Atlantik mental verschloss, den antiken Kulturkreis bestimmt. Lange hatten die Herakleioi stelai als Schranke einer infelix transmigratio (Hilde­bert von Lavardin35), als »Tabu der Abschreckung«36 vor fremden Räumen gegolten. Dann aber hatte Dante im »Inferno« (Canto XXVI, 88–142) im achten Höllenkreis einen Odysseus platziert, der den Schlund des Herkuleischen Säulenpaars (dov’Ercule segnò li suoi riguardi) überschritten hatte und nach fünfmonatiger Schiffsfahrt an einem mysteriösen Berg scheitert. Gattenliebe und Vaterzärtlichkeit »tilgten in mir nicht die Ungeduld / Die Welt zu sehen und alles zu erkunden«. Es braucht über Dante hinaus noch mehr als 170 Jahre, bis man die Meere jenseits der Herkuleischen Säulen zu navigieren gelernt hatte.37 Dann aber wurde das unruhige, unstete, Angst und Neugier erweckende Meer, welches das Meer der Sünde und des metaphysischen Schiff29 Siehe den Beitrag von Achatz v. Mueller in diesem Band. 30 Cordie (2001), bes. der Abschnitt: Schiffe verschwinden und ein Buch erscheint: Ökonomische Lebenspraxis und allegorische Zeichenpraxis, 177–207. 31 Aby Warburg zeigt die Abbildung auch auf der Tafel 48 seines Bilderaltlas. 32 Vgl. Agnoletto (2012). 33 Nikolaus von Cues: »Compendium«, (1989), Bd. II, 690/1: »Ita (= ars) adiuvat naturam.« Vgl. auch Flasch (1965), 265–306. 34 Pindar: 3. Nemeische Ode: »Auch hat ja der Held und Gott / den Schiffen zum Grenzziel gesetzt / die erhabenen Zeichen. / Schrecklich Gezücht der See / traf er mit Tod, / Und die Gewässer durchforscht er selbst, wo’s am seichtesten fließt. / Zum Letzten kam er; es drängt ihn zur Heimkehr. Der Erdkreis ward / von ihm durchmessen. / … Nach draußen sich wenden, dient / dem Menschen nur wenig. Daheim suche / und du findest köstliche Schätze für lieblichen Sang.« 35 Nach Ohly, Friedrich (1976), 512. 36 Bloch (1982), 887. 37 Vgl. Blumenberg (1973). – Zur Vorgeschichte der curiositas als Laster und Sünde ebd. 103 ff. Ferner Müller (1984), 252–271.

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Abb. 9: Bottega di Mantegna oder Schule, Occasio e Paenitentia

bruchs symbolisiert hatte, zum Raum menschlicher Fertigkeiten, die halfen, die unberechenbare Fortuna durch kalkuliertes Risikohandeln zu besiegen und die Welt, gerade indem sie als zufällig angesehen wurde, in die Verfügung des Menschen zu bringen: Das war ein Motor des Fortschritts. Die Formel »Multi pertransibunt & augebitur scientia« aus Daniel 12,4 ist die Subscriptio auf dem Frontispiz des »Novum organum scientiarum« (1620) von Francis Bacon.38 (Abb. 10) Eine Kogge kehrt von ozeanischer Fahrt zurück und läuft durch die Säulen des Herkules ein wie in einen Hafen. Dies war der Beginn einer neuen Ära: transgressio mit Rückkehrgarantie und Wohlstandswie Wissenssteigerung. Das Plus Ultra wird zum Emblem der Geopolitik von Karl V. von Spanien, z. B. im Relief am Reales Alcázares de Sevilla, und wird schließlich zum Motto auf dem Wappen Spaniens, bis heute.39 Den Wahlspruch Plus Ultra nutzte aber auch Vincenzo Maria (Marco) Coronelli (1650–1718) 38 »Viele werden sie [= die Grenze] überschreiten und das Wissen wird dabei wachsen [befruchtet / verherrlicht werden].« Wörtlich heißt es in der Vulgata, Daniel 12,4: »Plurimi pertransibunt, et multiplex errit scientia.« 39 Rosenthal (1971), 204–228.

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Abb. 10: Titelkupfer zu: Francis Bacon, Novum organum scientiarum Instauratio Magna

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für das Emblem der von ihm 1684 gegründeten Accademia cosmografica degli argonauti. Plus Ultra ist die moderne Losung der Fortuna, die Dynamik der Raumexpansion, des Wissens, der Macht, und natürlich: des Kapitals. Mit dem Plus ultra beginnt die Moderne in der ozeanischen Dimension, beruhend nicht auf dem traditionellen Herrscher, sondern dem Seehandel betreibenden Entrepreneur, dem Abenteurer und Risikospieler.40 Im Zuge dieser neuen technischen, kolonialen und ökonomischen Dynamik ändert sich der Charakter der Fortuna wie der des Zufalls, wie Warburg schon klar erkannte: Aus der Fortuna, die sich nur im glücklichen Augenblick ergreifen lässt, wird im Zeitalter der wachsenden Seebeherrschung die durch Gesetz berechenbare Windfortuna, mit der ein Ausgleich möglich ist. An der Bedeutung des Wortes Fortuna als Sturmwind lässt sich diese Wandlung beobachten: Rucellais Fortunabeobachtung (seiner Beschreibung des Wirbelsturms […]) steht der Entdeckung des Winddrehungsgesetzes durch Filippo Sassetti gegenüber […]. Als die Eröffnung einer Möglichkeit, dem Sturmwind auszuweichen und auf diese Weise einen Ausgleich mit der ›Fortuna‹ zu finden, mögen auch seine Beobachtungen über die Eigenschaften der Magnetnadel […] in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Der Kaufmann-aventurier wird zum kaufmännischen Entdecker.41

Darum findet seit der Neuzeit die lateinische Pathosformel »Navigare necesse est, vivere non est necesse« (Schifffahrt ist notwendig, Leben aber nicht) wieder so weite Verbreitung. Sie geht auf die gleichlautende griechische Formel »Πλεῖν ἀνάγκη, ζῆν οὐκ ἀνάγκη« zurück. Nach Plutarch (Vitae parallelae, Pompeius 50,1) nahm 56 v. Chr. Pompeius, in Sorge um die Getreideversorgung Roms, mit diesen Worten den Schiffern ihre lähmende Angst vor einem aufziehenden Sturm und ging selbst als erster an Bord. Darin drückt sich ein heroisches Bewusstsein aus, das jene archaische Angst überwindet, die das eigene Leben höher schätzt als den – wie immer auch ideologischen – zivilisatorischen Imperativ, der gleichgültig ist gegenüber dem Zoll, der mit dem eigenen Leben bezahlt wird. Schifffahrt ist eo ipso heroisch, weil sie stets mit Lebensgefahr assoziiert ist. Schifffahrt und Schiffbruch sind deswegen aufs engste verbunden: Darum ist das Meer die charakteristische Region der neuzeitlichen Fortuna. Keine der alten Techniken ist so unmittelbar mit dem Tode konfrontiert wie die Fahrt über das unberechenbare, abgründige, fürchterliche Meer. Und darum ist das Schiff, das den Menschen zum stolzen Herren der Meere zu befördern verspricht, mit dem Untergang verbunden. Die Not auf dem offenen Wasser ist schon ein antikes und biblisches Motiv. So gibt es, seit Holland in seinem Goldenen Jahrhundert eine große marine Malerei hervorgebracht hatte, immer diese beiden Haupttypen von Schiffen zur See: das stolze, 40 Schmitt (1981). – Mollat du Jourdin (1993). – Für die Nähe, die Fortuna zu Geld, Handel und Kapital erhält vgl.: Bachorski (1983). – Müller (1994), 216–239. 41 Warburg (2011), 364–65. (Anhang zum Sassetti-Aufsatz).

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Abb. 11: Albrecht Dürer, Nemesis oder Das Große Glück

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integre Schiff, ein Wunderwerk menschlicher Erfindung (es symbolisiert Hermes auf der sedes quadrata) – und das in Sturm und Wellengewalt zerschlagene Schiff, das seine Besatzung in einen nassen Tod reißt: fortuna mala. Bei Andreas Alciatus dagegen heißt es in den letzten beiden Versen der Subscriptio: »Lerne daher, du junger Studierender, die guten Künste, die ein Auskommen mit sich führen, ohne dem Zufall unterworfen zu sein.« Man bemerkt das moralische Bestreben, sich von der schicksalhaften Unterworfenheit unter Fortuna durch Künste und Wissen unabhängig zu machen (Abb. 8). Noch Goethes Agathé Tyche sucht in diesem Sinn geradezu therapeutisch den Ausgleich: unten die Sicherheit spendende sedes quadrata, oben die labile Fortuna-Dynamik, die moderne Unruhe, die Getriebenheit und das Gefühl der Entwurzelung. Doch es zeichnet sich bereits ab, dass die alten Wissensformen, erst recht nicht die Religion und die Standhaftigkeit des vir quadratus ( foursquare man), die moderne Unruhe und Kontingenzerfahrung nicht mehr zu sedieren vermögen. Goethe wusste bereits, dass das Wissen selbst kontingent wurde.

4. Nec verbo, nec facto Durchaus konventioneller, wenn aber auch ambivalent schildert Dürer seine Fortuna, die hier mit Nemesis identifiziert wird (Abb. 11). Dies könnte er aus dem Lehrgedicht Nutricia (1491) des Florentiner Humanisten Angelo Poliziano übernommen haben.42 Die vitruvianisch konstruierte Fortuna steht unsicher balancierend auf der Kugel, aber sie wird gleichzeitig von ihren Flügeln getragen: Instabilitas und Securitas. Der Pokal in der Rechten entspricht dem antiken cornu copiae als habituelles Attribut der Fortuna. Es enthält das Versprechen für die guten Taten, während das Zaumzeug das Symbol für die moralische Selbstzügelung darstellt.43 Dass Fortuna nicht nur die vielversprechende Göttin der risikoreichen Chance, nicht nur ambivalent in ihren Gaben, sondern auch trügerisch sein kann, sehen wir (Abb. 12) bei Georges de La Tour auf seinem Gemälde »Die Wahrsagerin« (1632–35): Der junge, naive Elegant, der sich von der Zigeunerin, einer vetula, seine bonne chance aus der Hand lesen lassen soll, ist zweifach ein Opfer des Betrugs: Nicht nur, dass er über die Unvorhersehbarkeit der Fortuna getäuscht wird, sondern dass er gleichzeitig von den drei jungen Frauen beraubt wird, während die Alte ihn ablenkt, zeigt, wie so viele Genre-Bilder, dass der Augenblick, indem man sich des Glücks versichern möchte, just der Moment ist, wo das Glück trügt, also ein (Selbst-)Betrug eintritt. 42 Polizano (2004). 43 Im »Emblematum liber« von Andreas Alciatus, Augsburg 1531, Nr. 14, balanciert, unter dem Motto »Nec verbo, nec facto quenquam lædendum«, eine geflügelte Nemesis auf der rota fortunae, mit Zaumzeug in der Hand. Durch Selbstbeherrschung beherrscht man auch Fortuna.

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Abb. 12: George de La Tour, Fortune Teller (Die Wahrsagerin)

Wie ein Motto ist über all diese indirekten Fortuna-Darstellungen der Satz zu schreiben, den Sebastian Brant im »Narrenschiff« 1494 und Sebastian Franck in den »Paradoxa Ducenta Octoginta« (CCXXXVIII, 1542) für lange Zeit populär gemacht hatten: Mundus vult decipi, ergo decipiatur. So benutzt Robert Burton in »The Anatomy of Melancholy« diese Formel schon wie eine stehende Redewendung hinsichtlich des von Augustin angeprangerten Betrugs in den paganen Religionen (De civ. dei IV, 27).44

5. Transformationen der Tyche und der Fortuna Tyché meint bei den Philosophen45 keineswegs Glück; sondern dieses heißt εὐδαιμονία: ›einen guten Daimon haben‹ führt zur Windstille der Seele. Schon 44 Burton (1628/1977), 328. 45 Zum folgenden die gründliche begriffsgeschichtliche Studie von Vogt (2011). Ferner: Joos (1955) – Täubler (1926/1979). – Zimmermann (1966). – Koster (1996), 13–36. – Doren (1924), 71–144. – Haug/Wachinger (1995). – Meyer-Landrut (1997).

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Demokrit polemisiert gegen die Tyché: sie sei ein eidolon (DK B 119); und so werden noch die Kirchenväter die Fortuna als Paradigma der Idolatrie bezeichnen. Aristoteles sagt, dass die εὐδαιμονία sich darstellt »als ein Vollendetes und in sich selbst Genügendes, da sie das Endziel allen Handelns ist« (Nik. Eth. 1097b20). Dieses »Größte und Schönste aber dem Zufall zu überlassen, wäre Irrtum und Lästerung.« (ebd. 1099b 20) Das Glück soll ein Verdienst der Tugend sein, kein willkürliches Geschenk der Götter oder der »Wechselfälle des Schicksals«, der Tyché also. Das höchste Gut – das Agathon, das identisch mit Glück ist – soll für Menschen aus eigener Kraft erreichbar, also gerade nicht unverfügbar sein. Man kann sagen, dass dies, bei allen Differenzen in der Begründung der Ethik, die durchgehende Überzeugung der Philosophen ist. Gleichwohl treten im praktischen Leben Zufälle und Wechselfälle ein, die nicht vom Handelnden verantwortet werden, und das ist Tyche: als bloße Fügung (luck); als blinder Zufall (chance), als verhängtes Schicksal ( fate; Nemesis, Moiren, Heimarmene). Tyche changiert also zwischen schicksalhafter Determination und beiherspielender Zufälligkeit. Es versteht sich, dass auf diesem ungewissen Feld kein Raum für eine Verdienst-Ethik ist. Von der Fortuna heißt es bei Ovid: »Ziellos schweift sie umher, die wandelbare Fortuna; nirgends verharrt sie; kein Ort hält sie auf Dauer fest. Heiter schreitet sie jetzt und jetzt mit bedrohlicher Miene, bleibt sich in einem nur gleich: in der Veränderlichkeit.« (Ovid: Tristia 5,8,15–20)46 Das Ambige der Fortuna erfasst alles so stark, dass die einzige Konstanz des Lebens just seine Inkonstanz ist: Hierauf anders als stoisch zu reagieren, ist fast aussichtslos. Doch ist es gerade diese Auffassung Ovids, an die der Zufalls-Begriff der Moderne anknüpfen kann. Aristoteles vermeidet also mit gutem Grund, nämlich um den Spielraum selbstbestimmten Lebens zu sichern, den Ausdruck Tyché und verwendet statt dessen: ἐνδεχόμενον, was die Lateiner mit contingentia übersetzen.47 Dieser Begriff hat sich von der mythischen Figuration emanzipiert: Er bezeichnet dasjenige, das sich so oder auch anders verhalten kann, d. h. möglich, aber nicht notwendig ist. Das ἐνδεχόμενον hat δύναμις, das Vermögen, wirklich werden zu können. Hierbei führt Aristoteles eine symmetrische Möglichkeit ein: symmetrisch nach zwei Seiten hin, zum Sein wie zum Nicht-Sein: »Es kann der Fall sein, dass etwas möglich ist zu sein, aber nicht ist, und dass etwas möglich ist, nicht zu sein, und doch ist.« (Met. IX, 3, 1047a, 20) Dies ist bereits die kategoriale Fassung der Tyché. Doch liegt hier auch schon die poetische Möglichkeit beschlossen, dass in der Tragödie und Komödie, im spätantiken Roman und später in der Alexander- und Artus-Epik, doch erst recht im neuzeitlichen 46 »Passibus ambiguis Fortuna volubilis errat / et manet in nullo certa tenaxque loco, / sed modo laeta venit, vultus modo sumit acerbos, / et tantum constans in levitate sua est.« 47 Zum folgenden vgl. Brugger (1976), Sp. 1027–1034.

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und modernen Roman der Zufall freigegeben wird als Agent der poetischen Wahrscheinlichkeit. Biographien werden bei Rabelais, Cervantes, Sterne und Goethe aus Zufällen gewebt. Das Poetische ist das Mögliche, aber nicht Notwendige, das Wahrscheinliche, aber nicht Wirkliche. In der Philosophie zugelassen ist Fortuna jedoch nur als ἐνδεχόμενον, als das Nicht-Notwendige, das Nicht-Substantielle – eine Seinsform ohne οὐσία (Wesen, substantia) und ohne eigentliches Sein (τὸ ὄν). Dieses bloß Mitspielende und Akzidentielle nennt Aristoteles auch συμβεβηκόϛ, accidens; und was es bedingt, ist die causa per accidens. Dabei ist für die Tyché auffällig, dass sie kaum eine eigene Mythologie aufweist.48 Homer kennt Tyche nicht. Bei Hesiod ist sie die Tochter von Okeanos und Thetys / Themis (das Meer ist schon hier ihr Element). Dass Tyché eine archaische, vorolympische Gottheit aus dem Stamm der Titanen ist, begünstigt nicht ihre Karriere. Unter Zeus hat sie kein eigenes Kompartiment, aber sie wird, etwa von Pindar, als dessen Tochter angerufen – und das erlaubt ihre Verbreitung. Ihr Aufstieg beginnt erst eigentlich im Hellenismus. In der Folge der gewachsenen Interkulturalität durch die Alexander-Züge verschmilzt Tyché mit der vorderorientalischen Isis / Ischthar, der Großen Mutter. Kultische Verehrung findet sie in Kleinasien, wo sie doppelt codiert wird, für die griechischen wie für die kleinasiatischen Stadtbewohner. Oft ist sie eine stadtbehütende Göttin (tyche pherépolis; z. B. in Antiochia, Alexandria, Smyrna), eine Göttin auch des Reichtums, der Fülle und Fruchtbarkeit, also Agathé Tyché, wie sie noch Goethe nennen wird. Im Zuge dieser Transformationen verschmilzt Tyché auch mit älteren griechischen Überlieferungen, so mit der Nemesis, den Moiren, der Heimarmene, so dass sie auch Momente eines düsteren und dunklen Schicksalsdämons aufweist. Ihre Verbreitung über das römische Reich erfährt Tyché durch die Verschmelzung mit der Fortuna, die im italischen Mutterland seit dem 6. Jh. verehrt wird, angeblich eingeführt durch Servius Tullius. Tyché und Fortuna sind kaum mehr unterscheidbar, weder in der Figuration noch in Kult und Semantik. Tempus und Occasio sind spätrömisch ihre Attributfiguren. Sie dirigiert auch die fata scribenda, um die Lebensläufe der Menschen ins eherne Archiv zu übernehmen. Im 4. Jahrhundert wird Fortuna zum Staatskult (Fortuna Publica Populi Romani), die aber auch das private Leben administriert. Ihre Attribute bleiben bis ins 17. Jahrhundert konstant: Rota Fortunae (rota mundi), Kugel, Steuerruder, Schiff, Sturm und Meer, Füllhorn, Blindheit / Augenbinde. Als Fortuna bona et mala gehört sie in die Entdeckungsgeschichte der Ambivalenz. Sogar der christliche Philosoph Boethius kennt noch und prolongiert 48 Zum folgenden: Roscher (1897–1909) Sp. 1503–1558. – Reallexikon (1991) Bd. VIII, Sp. 185– 193. – Der Neue Pauly Bd. 4 (1998), Sp. 598–602. – Herzog-Hauser (1948), 156–163. – Kirchner (1970). – Meyer-Landrut (1997). – Haug (1994), 1–22. – Reichlin (2010), 11–49.

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die Fortuna bifrons ins Mittelalter. Es ist eine alte Erfahrung, die schon früh formuliert wird, dass das Hin und Her, das Auf und Ab des Lebens und vor allem die Zukunft weder gewusst noch beherrscht werden kann. Darum wird bei Pindar in der 12. Olympischen Ode das Glück als Tyche Soteira angefleht, auf dass sie, als die selbst unlenkbare Tochter des Weltenordners Zeus, das Dunkel und die Unberechenbarkeit des Zukünftigen zum guten Ende lenken möge, auf dem Meer, im Krieg, in der Ratsversammlung, im Wettkampf… In diesem Sinn findet Plinius d. Ä. zu klassischen Formulierungen, in welchen er dem Zufall ebenso Rechnung trägt wie den selbst ambivalenten Einstellungen der Menschen zu diesem: »In der ganzen Welt nämlich und an allen Orten und zu allen Zeiten und von den Stimmen aller wird allein das Glück (Fortuna) angerufen und genannt, allein angeklagt und allein beschuldigt, allein gelobt, allein bezichtigt und unter Vorwürfen verehrt, als unveränderlich, von vielen als flüchtig, aber auch als blind betrachtet, unbeständig, unsicher, wechselreich und eine Gönnerin Unwürdiger. Ihr wird aller Verlust, aller Gewinn zugeschrieben und in der Gesamtabrechnung der Sterblichen füllt es [sie = Fortuna] allein die beiden Seiten; so sehr sind wir dem Schicksal unterworfen, dass dieses selbst als eine Gottheit gilt, wodurch doch diese Gottheit als ungewiss erwiesen wird.« (Nat. hist. II, 5) Und Cicero pflichtet bei: »Nichts ist nämlich der Vernunft und der Beständigkeit so entgegengesetzt wie Fortuna.« (De Divinatione, II.18: nihil est tam contrarium rationi et constantiae quam fortuna). Für ihn, den stoisch Denkenden, ist es klar, dass gegenüber der selbstbestimmten Virtus die Macht des Fatums wie der Fortuna begrenzt werden muss. Man versteht jetzt die Gegnerschaft der Philosophen (Platoniker, Aristoteliker, Stoiker) gegen Fortuna besser.49 Als Göttin des nicht-teleologischen Wandels, der Unordnung und Inversionen, des Occasionellen und Inkommensurablen widerspricht sie diametral dem Ordo-Denken der Philosophie, für die der Kosmos die Epiphanie der ewigen Gegenwart und darin das Vorbild allen Handelns und aller Erkenntnis ist. Gegenüber der unvollständigen Ordnung der sublunaren Welt muss man die Ataraxie (das Ausbleiben der Unruhe), die Apathie (die Nichtinvolviertheit der Affekte bei Lebensführung, Entscheidung und Reflexion), also die Ratio, die Ethik und die Klugheit (prudentia) aufbieten, um sich gegen die Wechselfälle des Lebens zu wappnen. Virtus, fortitudo, ratio, sapientia, prudentia, diligentia sind bei Seneca und Cicero die Pharmaka / Remedia gegen Fortuna und Fatum – und das bleibt so bis in den Stoizismus des 17. Jahrhunderts. Dies wird maßgeblich auch für die interpretatio christiana des Zufalls seit Augustin und Boethius (480–524 n. Chr.). Letzterer integriert die Anschauungen der alten Fortuna so, dass sie dem Vorherwissen und der Vorherbestim49 Zum folgenden vgl. Kranz (2004), Sp. 1408–1424.

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mung Gottes sowie der menschlichen Willensfreiheit unterstellt wird (Consolationes Philosophiae, lib. II). Die göttliche Providenz heilt die Unterworfenheit unter Fortuna; und in den christlichen Tugenden fand man die Heilmittel gegen Verlockungen und Bedrohungen des zwiegesichtigen Glücks. Boethius stellt auch eine aufschlussreiche Verbindung zwischen rota fortunae und rota mundi her: Letztere dominiert das Rad der Fortuna, das in paganer Deutung auch Weltherrschaft symbolisieren konnte. Die Unvereinbarkeit des Monotheismus mit der Allgöttin Fortuna konnte im Begriff der Providentia aufgelöst werden. Von dieser Deutung ließen sich noch Petrarca, Dante oder Boccaccio inspirieren. In der Scholastik gewinnt der Zufall, auf aristotelischer Grundlage, auch eine epistemologische Funktion, auf die man in der Frühneuzeit aufbauen konnte. Der Zufall (also dasjenige, das sein Dasein der causa per accidens verdankt) ist eine Form des Nicht-Wissens, der Unberechenbarkeit, des Anscheins der blinden Erzeugung sowie der aleatorischen Wahrscheinlichkeit. Ferner bezeichnet der Zufall die Klasse der seltenen Ereignisse (Singularitäten, Mirabilia) oder die Klasse der Ereignisse, an deren Stelle auch das Gegenteil treten könnte; schließlich solche Ereignisse, die von außen her gesehen als Zufälle erscheinen, aber aus freier Willensentscheidung hervorgehen, sowie solche Situationen, in denen eine passive Indifferenz zwischen äquivalenten Möglichkeiten eine bloß zufällige Selektion erlaubt. Diese verbreitete kognitive wie affektive Feindschaft der philosophischen und theologischen Eliten gegen den Zufall dauert an, bis im 16. Jahrhundert mit dem machiavellistische Politiker und dem merchant adventurer, der wagemutig und risikoaffin sein Kapital einsetzt, neue Sozialtypen, Akteure und Professionen auf dem Weltplan auftreten, die zum Zufall eine andere Haltung gewinnen. Dies gelingt im 17. Jahrhundert dann auch denjenigen Philosophen, welche mit dem Wahrscheinlichkeitskalkül beginnen, sich auf das Potentielle, Serielle und Zufällige einzulassen: Erst dann kann der moderne Begriff von Kontingenz, von Risiko und »Möglichkeitssinn« (Robert Musil) langsam entstehen.

6. Kontingenz und Risiko in Modernisierungsprozessen Die Verschiebung von der metaphysischen Kontingenz hin zu einer weltimmanenten Zufälligkeit spielt in der Wissenschaftsgeschichte, in den Künsten, aber auch in der Politik und Ökonomie eine bedeutende Rolle. In der Wissenschaftsgeschichte ist der Zufall ein wichtiger Motor der Innovation. Kontingenz tritt dabei in mehrfacher Form auf. Zum einen lenkt die Zufälligkeit, mit der bestimmte Gegenstände der materiellen Kultur wie die Waage oder das Pendel in das Blickfeld der Wissenschaft geraten, deren Ent-

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wicklung in einer nicht hintergehbaren Weise. Ferner bestimmt die Zufälligkeit, mit der Wissen unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen aufgezeichnet, überliefert und angeeignet wird, einschließlich der dabei auftretenden Verluste und Transformationsprozesse, auch die kognitiven Strukturen von Wissen. Darüber hinaus spielen die Zufälligkeiten, mit der bestimmte Einsichten aus komplexen Wissenskonstellationen hervorgehen oder ins Zentrum kollektiver Aufmerksamkeit geraten, ebenfalls eine Schlüsselrolle für die langfristige und daher von Kontingenz geprägte Entwicklung der Wissenschaft. Ferner gab es übergreifende Wissensbilder, die dazu führten, heterogene Wissensbestände wie z. B. die aristotelische und die archimedische Theorie der Mechanik entweder miteinander zu versöhnen oder gegeneinander auszuspielen und sie als überwindbar anzusehen. Die Kontingenz des Zusammentreffens verschiedener Wissensbestände trug so zu ihrer Entkanonisierung bei. – Schließlich wird Kontingenz unvermeidlich selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, sei es als ein unvermeidlicher Störfaktor, sei es als herausfordernder Gegenstand, der dazu einlädt, ihn in die Betrachtung einzubeziehen oder auch deren Perspektive zu verändern. Auch in der Geschichte der Künste spielen Zufälle eine zunehmend wichtige Rolle. Welche antiken Werke konnte ein Künstler überhaupt kennen – und welche ein anderer, so dass in Abhängigkeit von Zufällen unterschiedliche ästhetische Optionen realisiert wurden? Durch welche Medien, Reisen, Sammlungspraktiken, Lektüren wurden antike Werke zum Anlass eigener Produktion, in Aneignung oder Überwindung antiker Vorgaben? Welche Überlieferungs-Zufälle disponierten die Karriere bestimmter Kunst- oder Textgattungen, Sujets oder Darstellungstechniken? – Über solche produktionsästhetischen Fragen hinaus wurde der Zufall selbst zum Thema von literarischen Werken. Neue Formen der Selbstreflexion trieben die Prozesse der Kanonisierung und Entkanonisierung der Antike voran und führten schließlich dazu, dass nicht nur das Gefüge der Künste, sondern auch die Ordnungen der Gesellschaft als kontingent erfahren werden. Ferner werden in Gesellschaft, Politik und Ökonomie Konzepte der Wahrscheinlichkeit und der Possibilität sowie das Verhältnis von Sicherheit und Risiko immer wichtiger. Wie reagieren politische Akteure und Politiktheoretiker, Kriegsherren und Kriegsautoren, Merchant Adventurers und Ökonomietheoretiker auf das instabile Verhältnis von Sicherheit und Zufälligkeit? Spielen antike Vorbilder noch eine Rolle für Kontingenzbewältigung? Wird dem Verfall metaphysischer Gewissheiten durch politische Sicherheitsstrategien begegnet? Welche Folgen hat der Verlust biographischer und intergenerationeller Gefüge auf die Planbarkeit von individuierten Lebensläufen? Gibt es heterodoxe Antikeüberlieferungen (z. B. Nietzsche), die, in Abwehr moderner Anomien, gegen Kontingenz aufgeboten werden? Formieren tempus und occasio das Handeln der Akteure? Werden kognitive und politische Ordnungskräfte mobilisiert als

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Palliative gegen die wachsende Ungewissheit von Biographien, von gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen? Alle diese Fragen verschärfen sich auf dem Weg in die Moderne. Im Christentum muss die Schöpfung nicht sein, weil sie von Gott gewollt wurde, doch nicht gewollt sein musste. D. h. gerade die absolute Kontingenz der Welt führt innerweltlich zu absoluter oder wenigstens relativer Providenz bzw. Determiniertheit. Dieses Denken macht die Faktizität der Welt indes rätselhaft und unergründlich. Die Zufälligkeit der Welt weckt erst die Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Dies radikalisiert sich in der Moderne, die nach dem Tod Gottes mit dem metaphysischen Rest zu kämpfen hat: Und dies ist die Grundlosigkeit der Welt, von der z. B. d’Holbach spricht. La Mettrie denkt die menschliche Existenz »au hasard« auf die Erde geworfen (»Peut-être a-t-il été jeté au hasard sur un point de la surface de la Terre«).50 Hier liegen auch die Quellen des europäischen Nihilismus, der aus der Enttäuschung über den Zusammenbruch der metaphysischen Architektur des Christentums hervorgeht. Der leer gefegte Himmel hinterlässt einen radikalen Kontingenzverdacht. Die Absage an metaphysische oder religiöse Erklärungen einigt seit dem 19. Jahrhundert die vielen Versuche, historische Evolution als konsistent und sinnbezogen zu denken und gesellschaftliche Prozesse gegen den Zufall abzudichten. Doch gibt es auch Ansätze zu einer positiven Deutung des Zufalls, etwa bei Pierre Louis Moreau de Maupertuis, der den Zufall für die Mannigfaltigkeit der biologischen Individualitäten zuständig sein lässt (»Vom universellen System der Natur oder Essay über die organischen Körper«, 1751). So wird der Zufall als Produktionsmechanismus der Natur entdeckt und dann bei Charles Darwin und Jacques Monod geradezu zur Basis der Evolution: Der Zufall ist Grundlage des Differenzierungswunders der organischen Entwicklung. Das freilich gilt für die Natur, nicht automatisch auch für die Gesellschaft, die auf Anschluss-Kommunikationen beruht (Traditionsbildung, soziales Gedächtnis, Entscheidungsverfahren) sowie auf autopoietischer Ausdifferenzierung von Systemen, die sich gegen Umwelten durchsetzen müssen. Bei Niklas Luhmann entwickeln Systeme eine immanente Semantik für Kontingenz, also für Ereignisse, die eigentlich die Sinnsysteme überfordern: »Zufall ist die Fähigkeit eines Systems, Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk der eigenen Autopoiesis) produziert und koordiniert werden können. So gesehen sind Zufälle Gefahren, Chancen, Gelegenheiten.«51 Kein System kann, was es selbst als Zufall wahrnimmt, vermeiden. Aber Gesellschaften können lernen, den Zufall zu benutzen, das heißt, 50 La Mettrie (1921), 105. 51 Luhmann (1997), 450. – Zur Kontingenz s. ferner: Rorty (1989). – Graevenitz/Marquard (1998). – Makropoulos (1998), 55–79. – Makropoulos (1997). – Greiner/Moog-Grünwald (2000). – Baecker/Kettner/Rustemeyer (2008).

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»ihm mit Mitteln systemeigener Operationen strukturierende Effekte abzugewinnen«, wobei diese Effekte sowohl konstruktiv wie destruktiv sein können. Dadurch kann der Zufall zum Initial für Ausdifferenzierungen und Erweiterungen der Informationsverarbeitungskapazität werden.52 Der Zufall wird dabei weder darauf reduziert, dass Unkenntnis irgendein Ereignis oder Phänomen als zufällig erscheinen lässt, noch wird er überhaupt auf einen Zustand der Welt bezogen, wo in einem objektiven Sinn etwas indeterminiert, mithin zufällig sein mag. Sondern Zufall ist ein »differenztheoretischer Grenzbegriff«, der jenen besonderen Zusammenhang von System und Umwelt (also etwa eines technischen Systems mit Wetter) meint, bei dem deren Synchronisation durch Kontrolle oder Semantisierung entzogen ist. Die Gesellschaft ist dann »unkontrolliert umweltempfindlich«53 – und gerade das, Unfälle oder Akzidentielles, kann dazu führen, Strukturänderungen kommunikativ plausibel zu machen. Nichtnegierbare Perturbationen sind Chancen auf Innovation. Das geschieht ständig (von außen), und zum Teil sogar absichtlich (von innen). So wenn etwa der Maler Alexander Cozens aus zufälligen blots ganze Landschaften entstehen lässt (Abb. 13) oder der Erzähler in E. A. Poes »Ms. found in a Bottle« (1833) mit einem Teerquast unbewusst auf einem zusammengefalteten Segeltuch herumtupft: Als das Segel gesetzt wird, will es der »gesetzlose Zufall«, dass aus den »gedankenlosen Pinselstrichen« das Wort »Discovery« auf dem Segel steht. Unwillkürlich hingetupfte blots ergeben by pure chance das Wort, das für Wissenschaft und Künste strukturbildend sein wird: Entdeckung. In dieser Weise nutzt und reflektiert die moderne Kunst, experimentierend, den Zufall und erweitert dadurch ihre Verfahren, Mittel, Darstellungsformen, Medien, Sujets: Und das kennzeichnet sie als autopoietisches System, das Ereignissen und Zufällen strukturierende Effekte abgewinnt. Ähnlich geht es in Gesellschaften zu. Die kognitiven Ordnungen und governmentalen Regimes, welche die Transformation traditionaler in funktional ausdifferenzierte Gesellschaften antrieben, erhöhten nicht nur den Standard inner- und zwischenstaatlicher Sicherungssysteme, sondern gleichzeitig die Kontingenz. Diese Kontingenz wurde erst langsam als unhintergehbare Bedingung der Modernisierung erkannt. Kontingenz meint, dass Angst und Gefahr, Zufall und Unordnung, Katastrophe und Unglück, Biographie und Lebensformen, Erfolg und Zufriedenheit nicht mehr durch unverfügbare Ordnungen, wie die Religion, gerahmt sind. Diese Rahmenlosigkeit und Enttraditionalisierung, bei gleichzeitigem Innovationsdruck, nannte Georg Lukács »transzendentale Obdachlosigkeit« oder Karl Polanyi und Anthony Giddens »Entbettung / disembedding«.54

52 Luhmann (1997), 450. 53 Ebd. 502. 54 Lukács (1916/1984), 35. – Giddens (1990), 17–27.

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Abb. 13: Alexander Cozens, A New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions of Landscape, Plates 40 & 41

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Im Ergebnis führte dies für Staat und Gesellschaft, aber auch für die Individuen zu Überlastungen. Trotz gewachsener regierungstechnologischer Potentiale waren strukturelle Paradoxien und unsteuerbare Zyklen von Aufschwung und Depression die Folge. Doch zugleich damit wurde den Instanzen, die diesen Prozess vorantrieben, die Erwartung aufgebürdet, die drohende Sinnleere, die Unsicherheit und Zukunftsungewissheit, den Stress in einer Wettbewerbs-Gesellschaft nicht nur zu beruhigen, sondern in planbare Lebensläufe und in wohlfahrtsstaatliche Garantien zu transformieren. Heute aber sind weder Lebensläufe planbar noch ist auf staatliche Fürsorgemaßnahmen Verlass. Erwartungsüberlastung auf der einen, Erwartungsenttäuschung auf der anderen Seite erzeugen eine Art Lähmung des für die Moderne unerlässlichen Möglichkeitssinns. Der Effekt ist: Die risikoaffine Dynamik der Moderne ist eigentümlich mit risikoaversen Mentalitäten verkoppelt. Darum kann das Risikomaß, das einen Vorsprung im Wettbewerb verspricht, nicht beliebig erhöht werden, wenn es keinen Gegenhalt in Stabilitätsmechanismen auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene gibt. Das bedeutet: Risiko und Sicherheit sind nicht nur komplementär, sondern auch proportional. Wächst das Risiko, muss Sicherheit mitwachsen; werden bestimmte Niveaus von Sicherheit unterschritten, lässt die Risikobereitschaft nach.55 Kontingenz und Kontingenzbewältigung sind zu erstrangigen Herausforderungen der modernen Gesellschaft geworden. Kontingenz heißt bei Luhmann das Zur-Verfügung-Stellen einer Vielzahl von Möglichkeiten, aus denen durch die jeweiligen Systeme spezifisch nach ihren Codes selegiert wird. Dadurch entsteht einerseits Reduktion von Komplexität, andererseits die Dynamik und Kreativität von Systemen, die ohne Kontingenzherausforderungen sklerotisieren würden. Kontingent ist das, was auch anders möglich ist. Kontingenz-Formeln kontrollieren den Zugang zu den noch unbestimmten Möglichkeiten durch Setzungen, von denen diese Möglichkeiten abhängig sind: In der Politik ist diese Kontingenzformel die Legitimität, in der Wirtschaft die Knappheit der Güter, in der Pädagogik die Bildung, im Recht die Strafbarkeit, in der Kunst die Schönheit etc. Systeme sind auf Kontingenzbewältigung angewiesen. Darin steckt ein postmetaphysischer Realismus, demzufolge alle Sozialformen ohne Substanz, also geschichtlich und möglich, aber nicht notwendig, mithin kontingent sind. Alles was in Gesellschaften beobachtet werden kann, verdankt sich, weil es weder notwendig noch unmöglich ist, systemspezifischen Selektionen. Erst nach der Transformation stratifikatorischer in funktional differenzierte Gesellschaften besteht wirklich Kontingenz, die nichts mehr mit Tyché und Fortuna zu tun hat. Kontingenz und systemspezifische Selektion treten an die Stelle des mythischen, metaphysischen und schöp55 Vgl. dazu Münkler/Bohlender/Meurer (2009a). – Dies. (2009b).

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fungstheologischen Zufalls. Kontingenzbewusstsein transformiert Gefahr in Risiko und metaphysische Unverfügbarkeit in Selektionsprogramme. Daraus erwächst, jenseits jeder ontologischen Sicherheit, doch mit Wahrscheinlichkeit die Selbstproduktion sozialer Systeme. Darum sind Risiko- und Sicherheitsmanagements zu Standardanforderungen an moderne Gesellschaften geworden. Die Epoche Fortunas ist vorbei.

7. Selbstreflexion: Zufälle in Transformationsprozessen Fortuna ist tot – doch um so stärker ziehen Zufälle und Kontingenzen in die Wissenschaften ein. Das gilt auch für das Forschungsprogramm des SFB 644. Denn bei Transformationsprozessen ist das Diktum Gaston Bachelards zu berücksichtigen, dass »keine Präzisierung deutlich definiert ist ohne die Geschichte der ursprünglichen Unpräzision … Keine Behauptung einer Reinheit [kann] von der Geschichte der Reinigungstechnik losgelöst werden.«56 Gerade wenn man die bedingenden und motivierenden Faktoren einer Transformation möglichst umfassend ausdifferenziert, stellt sich regelmäßig die Beobachtung ein, dass lokale, soziale, institutionelle, technische, instrumentelle, mediale, ästhetische und epistemische Momente innerhalb eines Transformationsprozesses nicht linear, nicht in geordneten Schrittfolgen, nicht in geplanten Stufen auf ein von vornherein bekanntes Ziel zulaufen. Vielmehr hat die neuere Wissenschaftsforschung festgestellt, dass selbst hochelaborierte Experimentalsysteme, wie Hans-Jörg Rheinberger sagt, ein »kontaminiertes ›Machen‹ « darstellen. Wenn Rheinberger schon für naturwissenschaftliche Erkenntnisbildung eine »Flickwerk-Produktion des Wissenserwerbs im Forschungsprozess«, einen »Modus des Bastelns«, einen »mäandernden Verlauf« ausmacht57, dann gilt dies erst recht für die kulturhistorische des SFB. Transformationsprozesse sind noch weniger als naturwissenschaftliche Experimentalpraktiken methodisch organisiert. Sie stellen komplexe Vorgänge dar, in denen (auch) das Zufällige und produktiv Missverstandene, die Störungen und Kontaminationen, das Falsche und das Gefälschte, »das Unbestimmte und Unbekannte, das die Welt bewegt«58, wirksam werden. Gerade darin kann das Kreative von Transformationen liegen, in denen sich Neues und historisch Unerwartetes bildet. Wie in anderen wissenschaftlichen Zusammenhängen so wird auch in den im SFB untersuchten Transformationen ›unreines‹ Material bewegt, von dem nicht anzunehmen ist, dass es sich einer wissenschaftstheoretisch strikten Begrifflichkeit fügt. 56 Bachelard (1940/1978), 88. 57 Rheinberger (2001). 58 Bernard (1954), 26. – Rheinberger (2003), 42.

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Viele Transformationen sind schwer oder gar nicht abzuleiten, sondern sie scheinen zufällig einzutreten. In der Regel wird bei der Analyse von Transformationsprozessen davon ausgegangen, dass diese eine ›innere Ordnung‹ aufweisen, die durch Intentionalität, Kontinuität (wenn nicht sogar Teleologie), Konsistenz, Konsekutivität oder Ausdifferenzierung gekennzeichnet ist. In der historischen Arbeit stellen sich indes dazu gegenläufige Beobachtungen ein: Viele Transformationen, besonders solche, die sich über eine Vielzahl von beteiligten Akteuren und Institutionen vollziehen, lassen sich nicht durch Rekurs auf Intentionen ableiten. Das Ergebnis von Transformationen ist häufig nicht aus deren Ausgangsbedingungen zu erklären, so dass hilfsweise, aber selten hinreichende Erklärungen einspringen. Es gilt mithin die Semantik von Bezeichnungen und Erklärungen zu berücksichtigen, die auf Situationen zugeschnitten sind, in denen sich etwas ereignet, das weder notwendig noch unmöglich ist, in denen ›etwas auftaucht‹ und ›zum Vorschein‹ kommt, das nicht (vorher)gesehen werden konnte, oder in denen miteinander in Streit liegende Alternativen zu einer ›Entscheidung‹ oder ›Wende‹ drängen, einer Krisis, so dass ein ›Umbruch‹, mithin eine diskontinuierliche Transformation eintritt. Die Stabilität von Transformationen erscheint nur im historischen Rückblick als selbstverständlich. Es war stets prekär, gegen den Verfall, das Vergessen oder die Zerstörung sichere Bollwerke der Traditionsbildung zu errichten. Dies wird wesentlich durch Transformationen geleistet, die darin ihre konservierende Seite zeigen. Kanonisierung, Autorisierung und Idealisierung sind dabei zentrale Effekte. Sie werden durch solche Transformationen konterkariert, die gerade das Gegenteil darstellen, also Fälle episodischer oder obliquer Transformation, des Vergessens und Vergehens, der Zerstörung oder der Zensur, verfrühter oder verspäteter Leistungen, zufälliger Funde und umstürzender Entdeckungen. Es gilt mithin das »krumme Holz« (Kant) von Transformationen zu berücksichtigen, wo etwas auftaucht, das nicht vorhergesehen werden konnte, oder wo es zu einer Entscheidung oder Wende drängt, so dass historische Diskontinuitäten entstehen. Ein Ziel des SFB ist es, für solche Fälle nicht-geplanter Transformationen eine höhere Aufmerksamkeit zu entwickeln. Dabei können Zufälle der Transformation sich auch als auflösbar erweisen: Kontexterweiterung oder Quellenpluralisierung, die mehr Faktoren oder Ebenen berücksichtigen, können Transformationen, die bislang unreduzierbar scheinen, rekonstruierbar machen. Durchaus können Zufälle auch Effekte begrenzter Beobachtungshorizonte und nicht Eigenschaften der Transformationen selbst sein. – In diesem Sinn sind, jenseits der Fortuna, die Zufälle und ihre Bewältigung nicht nur zu einem drängenden Problem der Gesellschaft und Kultur, sondern auch der Wissenschaften geworden.

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I Dea Dubia. Antike Grundlagen, christliche Transformationen und wissenschaftliche Antworten

»Providence leaves no real room to fortuna«: Vom Zufall bei Augustinus Christoph Markschies

Mein Titel dürfte nicht überraschen, um es vorsichtig zu formulieren. Obwohl er aus einem einschlägigen Lexikonartikel zitiert ist,1 bedient er Vorurteile. Schließlich gilt der nordafrikanische Bischof Augustinus von Hippo allgemein – da muss man ihn gar nicht so sehen wie Kurt Flasch – mindestens in seinen späteren Jahren als ein klassischer Vertreter einer strengen Prädestinationslehre, die per definitionem keinen wirklichen Raum für den Zufall lässt, jedenfalls dann, wenn man diesen verwirrend unpräzisen Terminus als Konkurrenzbegriff zu »Schicksal« und »Vorsehung« verwendet, wie der entsprechende Artikel im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« als eine mögliche Bedeutungsdimension anbietet.2 »Providence leaves no real room to f[ortuna]«, lautet entsprechend auch eine Überschrift in dem knappen Artikel, den Jan den Boeft zum Lemma fortuna im renomierten »Augustinus-Lexikon« geschrieben hat (und man muss sich klarmachen, dass gut ein Drittel der knapp zweieinhalb Spalten des Artikels für die Geschichte der Begriffe τυχή und fortuna vor Augustinus verwendet wird und der Autor dann konstatiert: »In Augustin’s œuvre f[ortuna] is not an important theme«).3 Allerdings steht im erwähnten Artikel im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« eben auch zu lesen, dass Termini wie eben τυχή und fortuna, »die vielfach als Vorläuferausdrücke« unseres Begriffs Zufall gelten, »bei präziser Übersetzung eher nicht mit ›Z[ufall]‹ wiederzugeben« sind, als vielmehr »die notwendige oder glückliche ›Fügung‹ «, mit einer »Bedeutungskomponente von ›Schicksal‹ «.4 Übrigens hält der Artikel auch fest, dass die Übersetzung von contingentia mit dem Begriff »Zufälligkeit« etabliert, aber irreführend sei,5 so dass man sich als schlichter Leser fragt, ob Zufall in dem schlichten Sinn, »dass es für ein Ereignis keine Ursachen gibt oder dass solche jetzt nicht oder prinzipiell nicht erkennbar sind«, dann in der Antike überhaupt auf den Begriff gebracht 1 2 3 4 5

Den Boeft (2004), 57. Kranz (2004), 1408. Den Boeft, 56 f. Kranz (2004), 1409. Kranz (2004), 1409.

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werden konnte.6 Für Augustinus stellt sich die Frage noch einmal radikaler: Weder die schöne barocke Concordantia Augustiana aus dem Jahre 16567 noch das erwähnte Augustinus-Lexikon vom Jahr 1994 bieten überhaupt ein Lemma contingentia. Und auch die Ausbeute des im »Corpus Augustinianum Gissense« voll digitalisierten Œuvres ist mehr als mager, ein einziger und für unsere Zusammenhänge nicht einschlägiger Beleg.8 Mit anderen Worten: contingentia verwendet Augustinus als Terminus offenbar nicht und auch der Begriff fortuna spielt keine große Rolle bei ihm. Nun soll es auf dieser Jahrestagung freilich um »Transformationen der contingentia selbst, … in ihrer Verbildlichung (z. B. als Tyche, Fortuna etc.), aber auch ihrer historischen Semantik …« und insbesondere um die Transformation antiker Modelle der Kontingenzbewältigung gehen. Damit wird der nordafrikanische Bischof Augustinus aber wieder höchst einschlägig für einen Beitrag. Man muss nicht wie Hermann Lübbe alle Religion als »Kontingenzbewältigungspraxis« deuten (und Theologie dann also als die rationale Reflexion solcher Kontingenzbewältigungspraxis), um sofort an Augustinus und seine erwähnten Ansichten über die Prädestination als ein besonders einflussreiches antikes Modell der Kontingenzbewältigung zu denken. Schließlich gilt, wie Hans Freiherr von Campenhausen einmal bemerkt hat: »Augustin ist der einzige Kirchenvater, der bis auf diesen Tag eine geistige Macht geblieben ist«.9 Genug der Vorrede. Beginnen wir also Augustinus unter der Frage darzustellen, welche Modelle der Kontingenzbewältigung sich bei ihm finden. Was ist »Kontingenzbewältigung«? Niklas Luhmann versteht »kontingent« als etwas, »was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen«.10 Kontingenzbewältigung wäre also jeder bewältigende Umgang mit der irritierenden Erfahrung, dass etwas im Leben und sogar das ganze Leben als weder notwendig noch unmöglich empfunden wird, als etwas, das »also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist«. Genau aber dieses Problem beschäftigt Augustinus bereits in seiner frühesten erhaltenen Schrift, dem Dialog Contra Academicos. Der Autor hat seine Schrift selbst datiert auf die Tage zwischen den Semesterferien im Mailänder Residenzstadt-Rhetoren-Amt im August 386 n. Chr. und seiner 6 Kranz (2004), 1408. 7 Lenfant (1656), s. v. 8 Augustinus, div. quaest. 69,2 (CChr.SL 44 A, 186,49–51 Mutzenbecher): solet circumstantia scripturae inluminare sententiam, cum ea quae circa scripta sunt praesentem quaestionem contingentia diligenti discussione tractantur. 9 Freiherr von Campenhausen (1995), 151. 10 Luhmann (2010), 152; vgl. Lübbe (1998), 35–47.

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Taufe durch den Ortsbischof Ambrosius in der Osternacht im April 387 n. Chr.; der sich in einem innerlichen Transformationsprozess befindliche Rhetor hielt sich damals bekanntlich auf dem rund vierzig Kilometer nordwestlich von Mailand gelegenen Landgut Cassiciacum mit einer Reihe von Freunden wie Weggefährten auf.11 Der ganze Text ist, ausweislich seines an einen nordafrikanischen Freund namens Romanianus12 gerichteten Beginnes, ein Versuch der Kontingenzbewältigung: Könnte doch die Tugend, Romanianus, einen Menschen, der für sie angelegt ist, dem widerstrebenden Schicksal ebenso entreißen, wie sie sich umgekehrt von niemandem entreißen läßt! Dann hätte sie bestimmt schon ihre Hand auf dich gelegt und dich für ihr rechtmäßiges Eigentum erklärt, hätte dich in den Besitz wirklich sicherer Güter hinüber geleitet und dich nicht einmal günstigen Zufällen unterworfen sein lassen.13

Virtus, unvollkommen als »Tugend« übersetzt, ist, wie Karin Schlapbach in ihrem gründlichen Kommentar gezeigt hat, »sowohl machtlos wie allmächtig gegen fortuna«, die hier als »Schicksal« wiedergegeben ist.14 Machtlos ist die virtus beim Toren (stultus), der ohne Tugend lebt, allmächtig ist sie beim sapiens, von dem die klassische, bei Diogenes Laertius, Cicero, Philo und Clemens von Alexandrien überlieferte Formel von Zenon gilt: κατ’ ἀρετὴν ζῆν.15 Glück bedeutet in diesem Zusammenhang Besitz der Tugend und Unabhängigkeit von äußeren Gütern.16 Fortuna ist einerseits ein Widerpart von virtus, andererseits führt sie zur Weisheit und kann – wie wir gleich sehen werden – von Augustinus sogar mit providentia gleichgesetzt werden und erweist sich daher als notwendige Voraussetzung zur Erlangung des Glücks. Wer in einem quasi juristischen Sinne »rechtmäßiges Eigentum« der virtus geworden ist, also in einem unauflöslichen Prägungsverhältnis zu ihr steht, im Besitz »wirklich sicherer«, d. h. unverlierbarer »Güter« (vor allem der vier Kardinaltugenden)17, der wird kein Sklave selbst günstiger (und erst recht ungünstiger) Zufälle: ne prosperis quidem casibus servire. »Zufall« übersetzt hier also casus, man könnte vielleicht »Umstand« oder »Vorkommnis« sagen, etwas, was im Sinne der zitierten Definition Luhmanns »so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch an11 Augustinus, Conf., IX 4,7 (CChr.SL 27, 136,1–19 Verheijen) sowie Augustinus, Retract., I 1,1 (CChr.SL 57, 7,1–11 Mutzenbecher) mit Fuhrer (1997), 3. 12 Fuhrer (1997), 4 f. 13 Augustinus, Acad., I 1 (CChr.SL 29, 3,1–6 Green): O utinam, Romaniane, hominem sibi aptum ita uicissim uirtus fortunae repugnanti posset auferre, ut ab ea sibi auferri neminem patitur, iam tibi profecto iniecisset manus, suique iuris te esse proclamans, et in bonorum certissimorum possessionem traducens ne prosperis quidem casibus seruire permitteret. – Die Übersetzung entnehme ich: Augustinus (1987), 44. 14 K. Schlapbach (2003), 28. 15 SVF 1, nr. 179 f., 45 f. 16 SVF 3, nr. 49–67, 13–16. 17 Schlapbach (2003), 30.

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ders möglich ist«. Augustinus interessiert in diesen Jahren offenkundig nicht die bei Luhmann im Hintergrund stehende Frage kausaler Determination, sondern die Frage, ob man »ein Sklave« der so oder so möglichen Vorkommnisse ist oder eben nicht, mithin eine Frage der inneren Haltung oder Einstellung gegenüber den Vorkommnissen. Bemerkenswerterweise identifiziert Augustinus schon in diesem frühen Text, wie wir bereits sagten, fortuna mit providentia: Doch ist es nun einmal so eingerichtet – ob entsprechend unseren Verdiensten oder mit Naturnotwendigkeit –, dass den göttlichen Geist im sterblichen Wesen, wenn er Vergänglichem anhängt, die Weisheit durchaus nicht in ihren Hafen aufnimmt, wo er weder vom widrigen noch vom günstigen Wind des Schicksals bewegt würde – es sei denn, das Schicksal selber, freundlich oder scheinbar feindlich, führe ihn dorthin. Infolgedessen bleiben uns für dich nur Gebete zu jenem Gott, der diesen Dingen seine Sorge zuwendet, Gebete, in denen wir, wenn möglich, erwirken möchten, dass er dich dir zurückgibt (…) und deinen Geist, der sich seit langem schon wieder frei zu atmen sehnt, am Ende in die Luft wahrer Freiheit aufsteigen lässt.18

Auch wenn diese Passage schon sehr klassisch christlich klingt, von merita und necessitas naturae die Rede ist, geht es nicht um die Geschichte vom Sündenfall, der dadurch entstandenen Natur und den mit solcher Natur erworbenen oder eben nicht erworbenen Verdiensten – erst in seinen späten Retractationes von 426/427 n. Chr. möchte Augustinus diese Stelle so gelesen wissen.19 Hier geht es um das neuplatonische Motiv der Wahl, die die präexistente Seele im Blick auf ihre Verbindung mit der Materie trifft, und ein gegenteiliges eher deterministisches Modell, das man beispielsweise bei Cicero findet20 – in jenem Dialog Hortensius, der den neunzehnjährigen Augustinus begeisterte (also rund dreizehn Jahre vor Abfassung der Dialoge Contra Academicos) und in einem freilich schwer zu bestimmenden Verhältnis zu unserem Frühdialog steht.21 Aus der selbstgewählten Fremde ist Rückkehr in den Hafen der Philosophie, in die eigentliche Heimat (wie in ganz traditioneller, im Neuplatonismus gern aufgegriffener Metaphorik formuliert wird) nur möglich, wenn fortuna ganz providentiell die Menschen zur virtus hin geleitet, als ein Gnadengeschenk, für das man freilich beten kann. Augustinus kann daher sagen:

18 Augustinus, Acad., I 1 (CChr.SL 29, 3,6–15 Green): Sed quoniam ita comparatum est siue pro meritis nostris siue pro necessitate naturae, ut diuinum animum mortalibus inhaerentem nequaquam sapientiae portus accipiat, ubi neque aduersante fortunae flatu neque secundante moueatur, nisi eo illum ipsa uel secunda uel quasi aduersa perducat, nihil pro te nobis aliud quam uota restant, quibus ab illo cui haec curae sunt deo, si possumus, impetremus, ut te tibi reddat – ita enim facile reddet et nobis – sinatque mentem illam tuam, quae respirationem iam diu parturit, aliquando in auras uerae libertatis emergere. 19 Augustinus, Retract., I 1,2 (CChr.SL 57, 7,12–23 Mutzenbecher). 20 Schlapbach (2003), 32: Cicero, Hort., fr. 110 Grilli = 101 Straume-Zimmermann. 21 Schlapbach (2003), 13–25.

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Vielleicht unterliegt nämlich, was man allgemein Schicksal nennt, auch einer verborgenen Ordnung, nennen wir doch in den Ereignissen nichts anderes Zufall als das, dessen Grund und Ursache uns verschlossen ist; und nichts Günstiges oder Ungünstiges dürfte dem Einzelnen widerfahren, das nicht zum Ganzen passte und zu ihm stimmte. Diesen Gedanken, durch Offenbarungssprüche voll fruchtbarster Lehren verkündet, weit entfernt von der Denkweise der Uneingeweihten, verspricht die Philosophie, für die ich dich gewinnen möchte, ihren wahren Liebhabern zu zeigen.22

Auch wenn diese Erklärung von fortuna, Schicksal, tentativ gegeben wird (etenim fortasse), bezieht sich Augustinus auf längst etablierte philosophische Konsense stoischer und neuplatonischer Provenienz. Schicksal, fortuna, und casus, Zufall, sind Ausdruck verborgener Ordnung und nur noch nicht erkannter Ursachen. Dieses spezifische, alltagsdistante philosophische Verständnis von Schicksal, fortuna, und casus, Zufall, ist entweder autoritativ durch oracula zu gewinnen oder durch rationalen Aufweis – es spricht viel dafür, mit Karin Schlapbach anzunehmen, dass hier autoritative philosophische Wissensquellen, beispielsweise auch die von Porphyrius kommentierten oracula gemeint sind, die offenbar längst vorliegen und interpretiert werden können, und jedenfalls noch nicht die christlichen autoritativen Offenbarungstexte.23 Im weiteren Verlauf des Dialoges, der nach einer durchaus nicht unwahrscheinlichen historischen Stilisierung sieben Tage später als der eben behandelte Beginn gehalten wurde, äußert sich Alyphius, ein familiarissimus amicus des Augustinus, Finanzbeamter und späterer Bischof von Thagaste24 wie folgt: Welchen Einflussbereich du dem Schicksal zuweist, sehe ich noch nicht recht ein. Wenn du nämlich meinst, um das Schicksal verachten zu können, sei man auf es selbst angewiesen, dann schließe auch ich mich dir als Begleiter in dieser Auffassung an. Wenn du dem Schicksal aber keinen anderen Einfluss zubilligst als den, dass nur mit seinem Willen die Bedürfnisse des Lebens befriedigt werden, können, dann bin ich anderer Ansicht. Denn entweder ist es möglich, dass der noch nicht Weise, aber nach der Weisheit Verlangende gegen den Willen und Widerstand des Schicksals sich das nimmt, was wir als für das Leben erforderlich ansehen, oder man muss zugeben, dass es auch im ganzen Leben des Weisen eine beherrschende Stellung einnimmt, da auch der Weise selbst auf das, was für den Leib vonnöten ist, nicht verzichten kann.25 22 Augustinus, Acad., I 1 (CChr.SL 29, 3,15–22 Green): Etenim fortasse quae uulgo fortuna nominator occulto quodam ordine regitur nihilque aliud in rebus casum uocamus, nisi cuius ratio et causa secreta est, nihilque seu commodi seu incommodi contingit in parte, quod non conueniat et congruat uniuerso. Quam sententiam uberrimarum doctrinarum oraculis editam remotamque longissime ab intellectu profanorum se demonstraturam ueris amatoribus suis ad quam te inuito philosophia pollicetur. 23 Schlapbach (2003), 39. 24 Augustinus, Acad., III 6,13 (CChr.SL 29, 42,1–24 Green). 25 Augustinus, Acad., III 2,2 (CChr.SL 29, 35,8–18 Green): Quantum iuris, inquit, fortunae tribuas, nondum bene noui. Nam si ad contemnendam fortunam fortuna ipsa opus esse arbitraris, me quoque comitem in hanc sententiam do tibi. Sin fortunae nihil aliud concedis quam ea, quae

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Therese Fuhrer hat diese Passage in ihrem feinen Kommentar einem »Binnenproömium« zugewiesen, in dem es um die Bedeutung der fortuna für das sapientiae studium geht.26 Es geht also nochmals um die schon zu Beginn des ersten Buches angeschnittene Frage, ob der, der die Weisheit studiert, beim Weg zur Weisheit (oder metaphorisch gesprochen: in den Hafen und die Heimat zurück) von der Gunst der fortuna abhängig ist. Alyphius und sein Freund Augustinus differieren in ihren Positionen. Für Augustinus gilt – wie schon am Beginn des ersten Buches – fortuna als, wie Augustinus hier sagt, divinum auxilium, als unentbehrliches göttliches Hilfsmittel.27 Das Proömium zeigt (natürlich auch aus rein topischen Gründen), dass der Autor zu solchem günstigen Schicksal übrigens auch die günstigen materiellen Umstände in Cassiciacum zählt, also die Tatsache, dass man von Geldsorgen frei über fortuna und casus nachdenken kann. Allerdings erfährt man hier im Fortgang, dass dieses göttliche Hilfsmittel fortuna für Augustinus nur den Weg zur Philosophie bahnt und danach entbehrlich wird, ja sogar verachtet werden kann. Alyphius dagegen orientiert sich an der konventionellen Vorstellung der fortuna als einer unberechenbaren τύχη, die es zu bezwingen gilt.28 Das Bild des Augustinus ist ungleich positiver; wenn der, der die Weisheit sucht, einmal zum Weisen und Philosophen geworden ist (von ihm gilt: sapientiam scire und scientia sapientiae),29 braucht er fortuna nicht mehr – auch das ist in einem ganz präzisen Sinne gemeint: Natürlich braucht er fortuna als Mensch, den bestimmte leibliche Bedürfnisse prägen; aber als Philosoph, der die Weisheit besitzt, braucht er keine Gunst des Schicksals mehr zu ihrer Erlangung. Man muss sich, wie Therese Fuhrer richtig bemerkt hat, den antiskeptischen Duktus der Argumentation klarmachen, wenn man sich wundert, wie in einer so stark neuplatonisch gefärbten Diskussionsrunde so schlicht vom Besitz der Weisheit als einem Wissen der Weisheit gesprochen werden kann: sapiens scit scientiam ist zwar eine tautologische Formulierung, aber zugleich die wohl stärkste antiskeptische Aussage, die man sich in unserem Zusammenhang denken kann. Ich verfolge nun die Thematik von fortuna und casus nicht in den übrigen Frühdialogen des Augustinus, zu ähnlich ist der Befund in De ordine und De beata vita zu dem, was wir in Contra Academicos beobachtet haben. Mich interessiert vielmehr der spätere und späte Augustinus, um nach Transformationen der Kontingenzbewältigungspraktiken beim Bischof von Hippo Regius

corporis necessitati non possunt nisi ipsa uolente suppetere, non ita sentio. aut enim licet eadem repugnante atque inuita nondum sapienti, cupido tamen sapientiae ea sumere, quae uitae necessaria confitemur, aut concedendum est etiam in omni sapientis uita eam dominari, cum et ipse sapiens his, quae corpori necessaria sunt, non indigere non possit. 26 Fuhrer (1997), 233. 27 Augustinus, Acad., II 1,1 (CChr.SL 29, 18,19 Green). 28 Fuhrer (1997), 238. 29 Fuhrer (1997), 246.

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gegenüber dem Mailänder Stadtrhetor in beruflicher wie persönlicher Midlife-Crisis zu fragen. Dazu muss man sich klarmachen, dass es gerade einmal zehn Jahre nach den Frühdialogen in Cassiciacum zu einer, wie mir jedenfalls scheint, doch radikalen Wende im Denken des Augustinus kommt, nämlich zur Zuspitzung der einschlägigen Gedanken des Augustinus in den Quaestiones ad Simplicianum von 396/397 n. Chr. aufgrund einer gründlichen Beschäftigung mit dem paulinischen Römerbrief. Diesen Text hat Kurt Flasch bekanntlich unter der Überschrift »Logik des Schreckens« ediert und die zugrundeliegende Anthropologie ebenso wie den radikalen Determinismus als »Nierenstein in den Nieren Alteuropas« und unerträgliche Verfinsterung einer angeblich lichten Antike gegeißelt.30 In einem vor einiger Zeit erschienenen Beitrag ging Flasch noch weiter und baut neben Augustinus als dem Verfinsterten und Dunkelmann Origenes als die helle Lichtgestalt der antiken christlichen Theologiegeschichte auf – ein doppelter Ausgang der christlichen Antike, dem nach Flasch ein doppelter Ausgang des Mittelalters im irenisch-freundlichen alter Origenes, Erasmus von Rotterdam, und im alter Augustinus, dem Augustinereremiten Martin Luther entspricht.31 Reine Dualismen, noch dazu kombiniert mit der Aufforderung, sich gefälligst für eine der beiden Optionen zu entscheiden, befriedigen natürlich wenig, selbst wenn sie äußerst unterhaltsam vorgetragen werden. Sie verlocken eher dazu, Augustinus noch einmal hervorzunehmen und nach den Gründen für die Transformationen seines Begriffs von fortuna und casus in späteren Lebensjahren zu fragen. Die neue Gnadentheologie, die Augustinus als Frucht einer neuen Pauluslektüre ab 394/395 n. Chr. entwickelte und erstmals abschließend 396/397 n. Chr. in den Quaestiones ad Simplicianum formulierte, gipfelt in der Vorstellung von einer massa damnata, die – wie ich anderswo gezeigt habe32 – ganz deutlich gegen die Konzeption des Origenes von einer eschatologischen Zurechtbringung aller gerichtet ist, die wir mit einem Stichwort aus der Apostelgeschichte ἀποκατάστασις πάντων, »Wiederbringung aller« oder »Allversöhnung« nennen (obwohl Augustinus Origenes im Original gar nicht lesen konnte und Origenes die Allversöhnung auch nicht lehrt, sondern lediglich zu lehren erwägt). Wenn ich recht sehe, beginnt Augustinus in seiner Expositio quarundam propositionum ex epistula apostoli ad Romanos von 394 n. Chr., der ersten Schrift aus einer Reihe kleinerer Kommentare und Abhandlungen, die sich der neuen Pauluslektüre verdanken, ganz zaghaft im Blick auf die Menschheit von einer massa zu reden – alle Menschen, so sagt er, beginnen ihren Lebensweg gleich sündig, als ob sie aus demselben Lehmklumpen geformt wären, und sind insofern eine massa der Menschheit, Juden, Christen, Heiden, ohne 30 Flasch (1995). 31 Flasch (2009), 472–502. 32 Markschies (2012), 310–314.

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Unterschied, ohne Entschuldigung.33 Damit ist der Impetus der Kontingenzbewältigung natürlich radikal different von den hellen, optimistischen Tönen der Frühdialoge von Cassiciacum und es ist kein Zufall, dass in dieser und der folgenden Schrift an Simplicianus das Stichwort fortuna überhaupt nicht fällt. In den zwei Jahren zwischen der Expositio quarundam propositionum ex epistula apostoli ad Romanos und den Quaestiones ad Simplicianum, also zwischen 394/395 und 396/397 n. Chr., hat Augustinus seine Interpretation des paulinischen Römerbriefs nochmals radikalisiert und wollte nun keinerlei Eigeninitiative des Menschen im Zusammenhang seiner Berufung, keine Verdienste, keine Willensregung mehr akzeptieren. Daher verschärfte sich auch der Wortgebrauch im Blick auf das Wort massa. In den Antworten auf die Fragen des Mailänder Presbyters Simplicianus liegt nunmehr eine konsequente Terminologie der massa damnata vor, nicht mehr vereinzelte und von biblischen Töpfergleichnissen motivierte Bezugnahmen wie noch zwei Jahre zuvor. Augustinus spricht von massa peccati, massa peccatorum et impiorum und entwirft das Bild einer umfassend geschädigten moralischen Autonomie des Menschen.34 In den Bekenntnissen hat Augustinus diese exegetischen Einsichten zum Römerbrief des Apostels Paulus dann an seiner eigenen Biographie expliziert, besser vielleicht: seine Biographie entsprechend seinen Einsichten konstruiert. Entsprechend heftig polemisiert der gealterte Bischof in seinem großen Werk De civitate Dei um 415 n. Chr. gegen fortuna, wobei er unter diesem Begriff nun die pagane Göttin und keinen primär unschuldigen philosophischen Terminus mehr begreift.35 Wie kann denn die Göttin Fortuna bald gut, bald böse sein? Oder ist sie, wenn sie böse ist, keine Göttin mehr, sondern hat sich plötzlich in einen boshaften Dämon verwandelt? Aber wie viele solche Göttinnen gibt es eigentlich? Doch wohl, sollte man meinen, ebenso viel gute Geschicke wie vom guten Geschick erfreute Menschen. Und da es zugleich zur selben Zeit auch eine Menge Menschen gibt, die vom bösen Geschick betroffen sind, wäre dann nicht Fortuna, wenn es immer nur eine wäre, zugleich gut und böse, gut für die einen und böse für die anderen? Oder ist die Fortuna, die Göttin ist, immer gut? … Wo aber bleibt dann die Begriffsbestimmung der Fortuna? Und was soll’s, dass sie vom zufälligen Geschick sogar ihren Namen bekommen hat? Ist sie zufälliges Geschick, kann ihre Verehrung ja

33 Augustinus, Exp. prop. Rom. 54,18f (CSEL 84, 38,22–39,6 Divjak): O homo, tu quis es, qui respondeas deo? Numquid dicit figmentum ei, qui se finxit: quare sic me fecisti? Annon habet potestatem figulus luti ex eadem conspersione vas facere, aliud quidem in honorem, aliud in contumeliam? (19) Quamdiu figmentum es, inquit, et ad massam luti pertines nondum perductus ad spiritualia, ut sis spiritualis omnia iudicans et a nemine iudiceris, cohibeas te oportet ab huiusmodi inquisitione et non respondeas deo. 34 Frederiksen (2007), 292. 35 Vgl. Bardy (1959), 810 f. zu den religionsgeschichtlichen Kenntnissen und Hintergründen des Augustinus und ebenso auch Wissowa (1902), 206–216.

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nichts nützen. Sucht sie sich aber ihre Verehrer aus, um ihnen Vorteil zu gewähren, so ist sie nicht zufälliges Geschick.36

Ohne viele Worte ist deutlich, dass hier nicht mehr der von Augustinus in den Frühdialogen vertretene positive Begriff von fortuna als einem divinum auxilium zur Erlangung des Besitzes der Weisheit für den Weisen der Polemik zugrunde liegt, sondern im Gegenteil die konventionelle negative Vorstellung von der fortuna als einer unberechenbaren τύχη, die im Frühdialog Contra Academicos gerade nicht Augustinus, sondern sein Freund Alyphius vertritt. Leider hat Jan den Boeft in seinem eingangs zitierten Artikel über fortuna im Augustinus-Lexikon diese deutliche Akzentverschiebung nicht explizit gemacht, sondern in einer schlichten Aufzählung der Passagen versteckt. Natürlich ist es nicht vollkommen überraschend, dass eine radikale Neuformulierung seiner Theorie über die Kontingenzbewältigung durch Augustinus auch Auswirkungen auf die Konzepte von Schicksal wie Zufall hatte, aber die Deutlichkeit, in der man diese Reformulierung im Blick auf den Begriff fortuna beobachten kann, überrascht dann doch. Sie zeigt sich übrigens auch in der Kritik, die Augustinus in den erwähnten Passagen seiner Retractationes 426/427 n. Chr. an den vierzig Jahre zuvor abgefassten Texten in Contra Academicos übt. Dort kritisiert er sich dafür, die religiöse pagane Dimension des Begriffs fortuna nicht beachtet zu haben und kritisiert es, wenn Menschen der schlechten Gewohnheit folgen, zu sagen: hoc uoluit fortuna, »so will es das Schicksal«, anstatt doch zu formulieren: hoc deus uoluit, »so will es Gott«.37 Und nun interpretiert er natürlich auch, wie wir bereits andeuteten, den Hafen der Weisheit, den der Weise nach einstiger Ansicht auf Grund des providentiellen Schicksals, der fortuna als divinum auxilium, erreicht, als die visio beatifica der Seligen. »Unsere Verdienste« und »unsere Natur« sind nun nicht mehr zwei alternati36 Augustinus, Civ., IV 18 (CChr.SL 47, 112,9–113,36 Dombart/Kalb): Quo modo ergo dea Fortuna aliquando bona est, aliquando mala? An forte quando mala est, dea non est, sed in malignum daemonem repente conuertitur? Quot sunt ergo deae istae? Profecto quotquot homines fortunati, hoc est bonae fortunae. Nam cum sint et alii plurimi simul, hoc est uno tempore, malae fortunae, numquid, si ipsa esset, simul et bona esset et mala; his aliud, illis aliud? An illa, quae dea est, semper est bona? Ipsa est ergo Felicitas: cur adhibentur diuersa nomina? Sed hoc ferendum est; solet enim et una res duobus nominibus appellari. Quid diuersae aedes, diuersae arae, diuersa sacra? Est causa, inquiunt, quia felicitas illa est, quam boni habent praecedentibus meritis; fortuna uero, quae dicitur bona, sine ullo examine meritorum fortuito accidit hominibus et bonis et malis, unde etiam Fortuna nominatur. Quo modo ergo bona est, quae sine ullo iudicio uenit et ad bonos et ad malos? Ut quid autem colitur, quae ita caeca est passim in quoslibet incurrens, ut suos cultores plerumque praetereat et suis contemptoribus haereat? Aut si aliquid proficient cultores eius, ut ab illa uideantur et amentur, iam merita sequitur, non fortuito uenit. Ubi est definitio illa Fortunae? Ubi est quod a fortuitis etiam nomen accepit? Nihil enim prodest eam colere, si fortuna est. Si autem suos cultores discernit, ut prosit, fortuna non est. An et ipsam, quo uoluerit, Iuppiter mittit? Colatur ergo ipse solus; non enim potest ei iubenti et eam quo uoluerit mittenti Fortuna resistere. Aut certe istam mali colant, qui nolunt habere merita, quibus dea possit Felicitas inuitari. 37 Augustinus, Retract., I 1,2 (CChr.SL 57, 7,23 f. Mutzenbecher).

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ve philosophische Positionen der Neuplatoniker und Ciceros, die vierzig Jahre zuvor erklären, warum wir noch fern der Heimat sind – nein, sie bezeichnen sachidentisch den Grund unserer prinzipiellen Verworfenheit, die Ursünde Adams oder, mit der klassischen Terminologie gesprochen, die Erbsünde. Aus dieser Erbsünde rettet uns kein providentielles Schicksal namens fortuna, wir tragen sie an unserem Leib auch nicht per Zufall umher, sondern wir verdienen sie und einige von uns werden allein aus Gnaden daraus erlöst werden. Es wäre spannend, diese Entwicklung nun auch noch an einigen weiteren, vor allem antipelagianischen und antidonatistischen Texten des Augustinus zu verfolgen – das würde unser Bild nicht wesentlich verändern. Mindestens ebenso spannend wäre es daher, nun auch beispielsweise den Umgang des Origenes und der großen Kappadozier mit dem verwandten Begriff τύχη darzustellen und von dem des Augustinus abzusetzen (schon allein, um zu sehen, ob die duale Modellierung durch Kurt Flasch auch hier am Kern der Sache vorbeiführt). Aber für diese große Aufgabe bedürfte es einer eigenen Studie. Und daher können wir nun diese primär auf Augustinus konzentrierten Ausführungen auch schließen.

Literaturverzeichnis Quellen Aurelius Augustinus, Confessiones, hg. v. Lucas Verheijen, Turnhout 1983 (Corpus Christianorum Series Latina, 27). Aurelius Augustinus, Contra Academicos. De beata vita. De ordine. De magistro. De libero arbitrio, hg. v. W. M. Green, Turnhout 1970 (Corpus Christianorum Series Latina, 29). Aurelius Augustinus, De civitate Dei, hg. v. Bernhard Dombart/Alfons Kalb, Turnhout 1955 (Corpus Christianorum Series Latina, 47). Aurelius Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus, hg. v. Bettina Mutzenbecher, Turnhout 1975 (Corpus Christianorum Series Latina, 44A). Aurelius Augustinus, Dialoge vor den Toren der Stadt. Gegen die Akademiker. Über das Glück. Über die Ordnung, 2. Auflage Zürich 1987. Aurelius Augustinus, Expositio quarundum propositionum ex epistula apostolica ad Romanos, hg. von Johannes Divjak, Wien 1971 (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, 84). Aurelius Augustinus, Retractationum, hg. von Bettina Mutzenbecher, Turnhout 1984 (Corpus Christianorum Series Latina, 57). Stoicorum veterum fragmenta, Vol. 1: Zeno et Zenonis discipuli, hg. v. Hans von Arnim, Stuttgart 1964. Stoicorum veterum fragmenta, Vol. 3: Chrysippi fragmenta moralia. Fragmenta successorum Chrysippi, hg. v. Hans von Arnim, Stuttgart 1964.

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Kontingenz und Subjektivierung: Dynamiken der Veränderung im Zeit-Raum der Ontologie von Platon bis Duns Scotus Thomas Micklich

1. Methodologische Vorbemerkungen Das Problem der Kontingenz aus einer dezidiert philosophischen Perspektive in den Blick zu nehmen bedeutet eine transperspektivische Bewegung: den perspektivgebundenen Versuch, Perspektivität zu entbinden, Perspektive auf Perspektiven zu sein. Dabei ist spätestens seit Wilhelm Dilthey klar, dass eine solche Bewegung, soll sie überhaupt in irgendeiner Form gelingen können, sich nicht ungeschichtlich vollziehen kann.1 Die Kritik der historischen Vernunft, die er gerade nach Kant als überfälliges Desiderat einfordert und in eigenen Ansätzen selbst durchzuführen sucht, stellt einen im 19. Jahrhundert sich ratifizierenden Wendepunkt dar. Hegels Systemphilosophie hatte die Geschichte noch metaphysisch in Form einer Kategorie des objektiven Geistes stillgestellt, lozierbar im Gesamtgefüge des Systems des absoluten Idealismus. Geschichte gerann dem System zur partikulären Kategorie. Dilthey stülpt die bedingungstheoretischen Voraussetzungen um: Geschichte ist nicht mehr kategorial ableitbar, sondern umgekehrt gilt: Wenn Systemphilosophie überhaupt noch sinnvoll sein können soll, dann allerdings nur unter der Bedingung ihrer Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Sie ist zwar nicht per se obsolet, aber doch zu begreifen als das, was allein sie sein kann: ein Interpretationsvorschlag im dynamischen Horizont gemeinsamer Weltdeutung. Erkenntnis vollzieht sich – insbesondere in der Mitteilungsform, also in dem Maße, in dem sie Ausdruck gewinnt – immer nur als Interpretation, und diese spricht nicht einfach für sich selbst, sondern kommt zum Zuge, wenn überhaupt, unter gewissen soziokulturellen und geschichtlichen Bedingungen ihrer Kommunikation. Luhmann würde – schärfer – formuliert haben, dass die Kommunikation darüber entscheidet, was zum Thema wird und wie es sich selektiv als Deutungsangebot behaupten kann. Dilthey ging es aber nicht um einen Begriff äußerlicher und zufälliger Kontingenz im Sinne der Feststellung, dass auch anders und etwas anderes hät1

Cf. Dilthey (1992)..

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te kommuniziert werden können. Er wollte in bestimmungsvoller Kritik an der philosophischen Tradition und insbesondere an den Vertretern des Deutschen Idealismus vor allem darauf hinweisen, dass die geschichtliche Existenzform unhintergehbar ist, wenngleich idealistische Pointen und Positionen deshalb nicht schon per se verspielt sein müssen. Geschichte gewinnt den – man möchte sagen: »apriorischen« – Status einer hermeneutischen Fundamentalkategorie. In diesem Sinne geht es um die Geschichtlichkeit als ein – mit Heidegger zu sprechen – Existential menschlicher Existenz. Eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte kann demnach nicht anders als unter den Bedingungen von Geschichte stattfinden: als kritische Hermeneutik. Wie es dann zur dia­ chro­nen Kommunikation im Verhältnis von differenten soziokulturellen Kontextlagen, von Referenz- und Aufnahmekulturen kommen kann, mit Gadamer gesprochen zu partiell gelingenden Horizontverschmelzungen, und was dies ermöglicht, darf nicht aus dem Blick – jedenfalls nicht aus dem philosophischen – geraten. Das transformationstheoretische Konzept der Allelopoiese ist von seinem Ansatz her eine kongeniale Umsetzung des Gedankens einer historischen Kritik der Vernunft.2 Transformationen werden demnach verstanden als »bipolare Konstruktionsprozesse, in denen die beiden Pole einander, im Sinne einer kulturellen Selbstdeutung, wechselseitig konstituieren und konturieren.«3 Diese Figur der Wechselwirkung, sie sei symmetrisch oder asymmetrisch pointiert, setzt allerdings die Form eines Zweiseitenmodells voraus. Eine Frage kommt dabei aber letztlich zu kurz: Was ist das, das beide Seiten als beziehend-bezogene Relate so konstituiert, dass der Wechsel der Wirkungen der Seiten, dass die Beziehung der Bezogenen gelingen kann? Das gemeinsame Thema? Was aber wäre das gemeinsame Thema, das beide Bezugsgrößen der Referenz- und Aufnahmekultur verknüpft? Anders gefragt: Gibt es etwas, das das je geschichtliche Deutungsgeschehen so fundiert, dass die verschiedenen, je zeiträumlich perspektivierten Bezugnahmen auf ein – mehr oder weniger – geteiltes Thema als auf einen gemeinsamen Sachverhalt bezogen begriffen werden können? Setzt die Figur der Allelopoiese also doch »etwas« voraus, das sich zwar je und je und nur im Modus der Geschichtlichkeit auslegt, gleichwohl aber dasjenige ist, das die geschichtlichen Perspektiven allererst aufeinander beziehbar macht und zusammenhält und gerade so und nur so doppelseitig strukturierte Bezugnahmen ermöglicht? Transformationen sind immer Transformationen von etwas. Aber wo und wann könnte man es »dingfest« machen? Der Prozess der Transformation, einschließlich seiner reflexiven Formen, vollzieht sich folglich als Semiose zwischen den Extremwerten von Ontologisierung und Deontologisierung. Das »Etwas« bildet einen dynamisch aufgespannten Zeit-Raum seiner 2 3

Cf. zum Begriff der Allelopoiese Böhme (2011); zum Begriff der Transformation Bergemann et al. (2011). Ebd., 43.

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Interpretation, in dem es nicht aufgeht, gleichwohl aber vielfältigen Ausdruck gewinnen kann und zur Sprache kommt. Charles Sanders Peirce hat in seinen semiotischen Grundlagenstudien auf diese hermeneutisch akute Problematik reagiert, und zwar durchaus dezidiert unter dem Einfluss der nachmetaphysischen Fragestellungen nach Kants Kritik der reinen Vernunft und der sich Geltung verschafft habenden historisch-kritischen Bewusstseinslage des 19. Jahrhunderts. In den späteren semiotischen Schriften am Anfang des letzten Jahrhunderts (nach 1903) schlägt er vor, im Hinblick auf den Objektbezug von Zeichenprozessen zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt zu unterscheiden. Vom dynamischen Objekt spricht er als von demjenigen realen Objekt, das den Zeichenprozessen nicht intern ist, in ihnen nicht aufgeht. Das dynamische Objekt steht so für diejenige zeichenunabhängig zu denkende Realität, welche das Interpretationsgeschehen von sich her bestimmt, in Gang setzt und in Gang hält. Diese realitas, die das gemeinsame Thema von Interpretationsprozessen konstituiert, macht diachrone und synchrone Bezugnahmen aufeinander allererst möglich und stiftet so Kommunikation, die mehr ist als eine Anzahl verschiedener, einander letztlich äußerlich bleibender Vollzüge je soziokulturell vermittelter Konstruktionen. Eine dyadische, zweistellige Konstellation kann Zusammenhänge im Blick auf die verbindende Einheit in der geschichtlich-kulturellen Vielfalt der Auslegungen nicht wirklich erklären. Das Peircesche Semiose-Modell operiert dagegen mit einer irreduzibel triadischen Struktur im Zeichenbegriff als derjenigen genuinen Relation von Zeichen-Objekt-Interpretant4, die im dynamisch-realen Objektbezug des Zeichenbegriffs ihre kritisch-realistische Pointe hat.5 Das Interpretieren fremder Texte ist also qua Bezugnahme notwendigerweise ein wechselseitiges Konstruieren, aber darüber hinaus eben auch ein Den-Sachenauf-den-Grund-Gehen.

2. Zugang zum Thema Kontingenz Kontingenz betrifft einen Sachverhalt, der unsere Wirklichkeit wesentlich bestimmt: dass die Welt, in der wir leben, die Welt der Tatsachen, Handlungen und Ereignisse so ist, wie sie ist; dass sich Erfahrungen und Erwartungen vor dem Hintergrund von Abweichungen und im Horizont anderer Möglichkeiten nur bilden; die Frage gar, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts; dass das, was ist und geschieht, auch nicht oder anders hätte sein bzw. geschehen können – all das sind existentielle Grundfragen und unabweisbare Er-

4 5

Cf. Peirce (1983), 64. Cf. Pape (1989), 297–342.

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fahrungen unseres In-der-Welt-Seins. Duns Scotus spricht Kontingenz als ein tamquam per se notum an. Niklas Luhmann definiert geradezu klassisch weit: Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes … im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.6

Damit ist mittels doppelter Negation (weder notwendig – noch unmöglich) zumindest der Rahmen ex negativo abgesteckt. Aber was ist Kontingenz genau und positiv? Die Fragestellung impliziert: Das perspektivenübergreifende gemeinsame Thema der verschiedenen Verstehensbemühungen um einen angemessenen Begriff in Geschichte und Gegenwart existiert aus dem Bezug auf seinen gründenden Sachverhalt als denjenigen Grundsachgehalt, der Interpretierbarkeit aus sich heraussetzt und um dessen angemessene Erfassung und Begriff hermeneutisch gerungen wird. Die interpretative Dynamik der Begriffsgeschichte von Kontingenz appräsentiert neben der semantischen also eine genuin philosophische Dimension. Diese zeigt sich an den verschiedenen jeweils zum Zuge kommenden Aspekten der Darstellung des Interpretandums. Gegen den Hintergrund der konkreten semantischen Zugänge hebt sich eine rationalitätslogisch fundierte Grammatik ab, deren formative Kraft für die interpretatorischen Zugriffe jeweils konstitutiv wirksam ist. Diese grundbegriffliche Dimension abzublenden bedeutete, Transformationsvorgänge und ihre Resultate nur positivistisch-deskriptiv hinsichtlich gegebener semantischer Textoberflächen zu sichern. Um geschichtliche Interpretationsleistungen tiefergehend verstehen zu können, ist jedoch gerade diese Differenz von Struktur und Prozess, Rationalitätslogik und Semantik, in den Blick zu nehmen.7 Die rationalitätslogische Form fungiert als grundbegriffliche Infrastruktur, als Grammatik möglicher Semantiken und ihrer Interpretamente in dem Versuch, Kontingenz zu denken. Und: Sie findet je nur geschichtlichen Ausdruck in konkreten Deutungsprozessen. Kommt nun ein Grundbegriff [Sein, Subjektivität (Freiheit), Intersubjektivität (Sozialität)] geschichtlich zum Zug, gewinnt er also die rationalitätslogisch bindende Kraft eines Leitmotivs, dann bildet sich diese »hintergründige« strukturelle Umund Weichenstellung auch in den semantischen Arrangements zum Thema ab und eröffnet in der Regel neu justierte Diskurskonstellationen. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob man Kontingenz im Horizont von Freiheit und Subjektivität zu denken sucht oder aber im Horizont der Kategorien von Notwendigkeit und Wesenssein. Der Zusammenhang von Struktur und Semiose

6 7

Luhmann (1984), 152. Im Sinne eines nicht naturwissenschaftlich verengten Naturbegriffs könnte man von der interpretativen Gleichzeitigkeit von Metaphysik und Physik sprechen, wobei die Einheit der Differenz, die diese Korrelation vollzieht, die Geschichte selbst wäre.

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ist also auch und gerade für das Verständnis von Kontingenz grundlegend. Warum dies so ist, soll sich im Folgenden zeigen. Rationalitätslogisch lassen sich drei fundamentale Aspekte unterscheiden. Sie kreisen um die Grundbegriffe Ontologie, Subjektivität, Intersubjektivität. Der Vortrag hier will nun zwei grundbegriffliche Konstellationen im Blick behalten: den durch die Platonisch-Aristotelische Grundlegung eröffneten ZeitRaum der klassischen Ontologie einerseits sowie das motivische Brüchigwerden der ontologischen Konstellation bei Duns Scotus im Zeichen einbrechender Subjektivität andererseits. Die These lautet: Der sich unter der onto-theologischen Fragestellung ankündigende Umbruch im Verständnis von Kontingenz ist einem rationalitätslogischen Motivschub geschuldet. Grundbegriffliche Formatierungen, Übergänge von einem Frame zum anderen, insbesondere die konkreten Schnittstellen (in unserem Fall das Denken des Johannes Duns Scotus) zwischen den Traditionen sind nicht aus dem Blick zu verlieren, will man nicht unvermerkt einem unreflektierten Beschreibungspositivismus verfallen. Es soll gezeigt werden, wie sich im Denken des Duns Scotus nicht nur ein solch neuartiges Motiv sui generis entsprechend Geltung verschafft, sondern auch angedeutet werden, wie es dadurch schließlich den Diskurs einem Transformationssog aussetzt, der ihm zugleich einen neuen Richtungssinn verleiht. Es ist hier das Leitmotiv der Freiheit des Willens, das die Grundlage für die Entfaltung dieser Dynamik bildet. Wohlgemerkt: Behauptet wird nicht, dass das Thema der Freiheit des Willens irgendwie neu sei oder überhaupt erst gefunden worden wäre. Behauptet wird vielmehr, dass dieses Motiv nun als Leitmotiv in eine genaugenommen rationalitätslogische Position einrückt, mit der Wirkung, veränderte grundbegriffliche Bedingungen der Interpretationsform zu definieren. Ein solcher Zusammenhang soll nun am Kontingenzbegriff im Blick auf drei sachliche Phasenverschiebungen (Platon → Aristoteles → Duns Scotus) untersucht werden.

3. Die ontologische Dynamik der Deutungsgeschichte von Kontingenz Platon Der Begriff der Kontingenz ist ohne das Problem des Nicht-Seienden nicht begreifbar. Platon referiert im Sophistes den berühmten Satz des Parmenides, der dazu auffordert, den Gedanken, dass Nichtseiendes sei, fernzuhalten. Nichtseiendes ist nicht. Was sollte ein Nichtseiendes sein? Bestenfalls etwas, das nicht mehr ist, aber einmal war, bzw. das noch nicht ist, aber einmal sein wird. Seiend ist also das Gegenwärtige, aber ein Gegenwärtiges, das nicht vergeht, sondern eben ist. Das Sein des Seienden ist deshalb strenggenommen reine Gegenwart, reine Präsenz. Und darum sind der Bereich des ewigen Seins

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(Intelligibilität) und das Werden als der Bereich des Entstehens und Vergehens (Materialität) grundsätzlich zu unterscheiden. Der Mensch aber, als beseelte Entität auf der Grenze und in der Mitte zwischen Sein und Werden, partizipiert an beiden Horizonten. Im Sophistes (ab 236c9) demonstriert nun der Fremde aus Elea dem Theaitetos das Problem des Nichtseienden entlang der basalen Struktur des Aussagesatzes (Subjekt – Prädikat), welche die Form τὶ κατὰ τινός aufweist8, nämlich etwas (P) von etwas (S) auszusagen (S – P). Er kommt zu folgendem Ergebnis: 1. Es ist unmöglich, dass einem Seienden das Nichtseiende zukommt. Denn das Seiende ist etwas, das Nichtseiende aber nichts. Das Nichtseiende sagt folglich nicht etwas aus, sondern eben nichts. Deshalb: Wer Nichtseiendes prädizieren will, sagt nichts. Über etwas nichts auszusagen, ist nichts sagen. 2. Es ist ebenso unmöglich, dass einem Nichtseienden Seiendes zukommt. Denn auch hier gilt wieder, dass das Seiende etwas ist, das Nichtseiende jedoch nichts. Etwas über nichts auszusagen, ist wiederum keine Aussage, sondern die Prädikation von etwas über nichts. Das Nichtseiende ist also, so das Zwischenfazit, undenkbar (ἀδιανοητόν), unaussagbar (ἄρρητον), unerklärlich (ἄλογον). 3. Nun zeigt sich der logische Widerspruch offen: Wenn ich sage, dass das Nicht­seien­de undenkbar, unaussagbar und unerklärlich sei, dann verbinde ich es gerade so mit dem (Prädikat) Sein und verstricke mich mit dieser Aussage in einen performativen Widerspruch. Ich sage ja etwas über das, was nichts ist, aus, so dass mir das Nichtseiende unter der Hand zum Etwas wird. Das Sein des Nichtseienden lässt sich ohne Selbstwiderspruch nicht verneinen, denn wer vom Nichtseienden spricht, spricht es als ein Seiendes an, und zwar auch dann noch, wenn er negative Prädikate verwendet. Die Kopula _ist_ tangiert beide grammatischen Funktionsstellen, strahlt in Subjektterm und Prädikatterm aus. Auch die doppelt negative Besetzung der Satzstruktur ändert nichts daran, dass allein das unverdrängbare Sein der Kopula die Verknüpfung leistet, sei sie auch im höchsten Maße unsinnig, wie: Nichts ist nicht. Der Widerspruch bedeutet die Aporie des Nichtseins. Wollte man aber das Nichtseiende wirklich denken, dann müsste das eben widerspruchsfrei erfolgen können. Denn das Widersprüchliche ist nicht und man könnte deshalb auch nicht darüber sprechen. Unsere Intuition legt aber nahe, dass es Nichtseiendes gibt, beispielsweise das Falsche, die Täuschung, den Schein. Es gilt also, die falsche Rede, den ψευδὴς λόγος, zu untersuchen, denn sie sagt, dass das Seiende nicht sei bzw. dass das Nichtseiende sei. Die Überwindung der dogmatischen Position des Parmenides hinsichtlich des Nichtseienden liegt nun darin, zu erkennen, dass die falsche Rede absolute »οὐκ ὄν«-Aussagen dieser Art, die in den Widerspruch führen, gar nicht vornimmt. Ihre Aussagen sind vielmehr immer gegenstandsbezogen, so dass 8

Cf. Aristoteles, De Interpretatione, c. 5.

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nur in Bezug auf einen Gegenstand ein Nichtseiendes (μὴ ὄν) als seiend (S – PN) und ein Seiendes als nichtseiend (SN – P) behauptet wird. Konkret: Sagt man im Blick auf einen Gegenstand Nichtseiendes als seiend aus, dann spricht man einem Subjekt ein Prädikat zu, das dem Subjekt nicht zukommt, welches das Seiende also nicht ist. Der Prädikatterm wird hinsichtlich seines Seins am Subjektterm (am Gegenstand) gemessen. Sagt man im Blick auf einen Gegenstand nun Seiendes als nichtseiend, dann spricht man ein Prädikat, das etwas ist, einem Gegenstand, der das nicht ist, zu. Der Subjektterm wird hinsichtlich seines Seins am Prädikatterm (an der Eigenschaft) gemessen. Das Nichtseiende kann folglich an der Subjekt- oder Prädikatstelle vorkommen. Das Problem stellt sich also zunächst als ein logisches dar. Aber gibt es dafür eine epistemologische Erklärung? Denn es ist noch nicht geklärt, was das Seiende und was das Nichtseiende, wenn es denn ist, sind. Die falsche Applikation der Verknüpfung von Subjekt- und Prädikatbegriff als referentielle Bezugnahme auf einen realen Gegenstand klärt nicht die Bedingung der Möglichkeit von Sein und Nichtsein im Aussagesatz. Zur Lösung des Problems wird die Aufmerksamkeit der Platonischen Gesprächspartner nun von der empirischen Welt des Werdens, des Entstehens und Vergehens, der Welt also der kontingenten Faktizität, weg und auf eine ontologisch fundierte Epistemologie hin gelenkt (Soph. 249d6 ff.) – zu dem Horizont der spekulativ-apriorischen Ideendialektik der obersten Gattungen (μέγιστα γένη) in ihrer wechselseitigen Verflechtung (συμπλοκή) und Gemeinschaft untereinander (κοινωνία τῶν εἰδῶν). Platon demonstriert an den reinen Begriffen der Ruhe (στάσις) und Bewegung (κίνησις), wie aus ihrer denkenden Betrachtung allein ganz notwendig andere Begriffe resultieren. Die Frage des Fremden aus Elea, ob beide, Ruhe und Bewegung, denn etwas sind, muss Theaitetos natürlich bejahen. Wenn Ruhe und Bewegung aber etwas sind, dann kommt ihnen notwendigerweise Sein (ὄν) zu. Ruhe und Bewegung sind also nicht selbst das Sein, so wie das Sein selbst gewiss nicht Ruhe bzw. Bewegung ist. Aus der Betrachtung der Begriffe Ruhe und Bewegung ergeben sich folglich weitere Begriffe, zunächst aber ein dritter, nämlich derjenige des Seins. Schließlich wird logisch aufgezeigt, wie jeder der Begriffe mit sich selbst auch identisch, den anderen gegenüber jedoch verschieden sein muss, will man den Widerspruchssatz nicht verletzen. Deshalb resultieren aus dem Procedere zwei weitere ontologische Grundbegriffe: der Begriff der Selbigkeit (ταὐτόν) und der der Verschiedenheit (θάτερον). Anhand des Ideenbegriffs der Verschiedenheit finden die Dialogpartner nun den Schlüssel zur ontologischen Antwort auf die Frage, was denn das Nichtseiende eigentlich sei (ab 257b3). Ist Ruhe verschieden von Bewegung, also das Andere der Bewegung, dann zeigt sich, dass sie das Nichtsein an sich hat, insofern nämlich, als sie etwas nicht ist. Ruhe ist nämlich nicht Bewegung. Die Ruhe ist ein negativer (nichtseiender) Gegenstand gemessen am Prädikat (am eigenschaftlichen Sein) der Bewegung, denn es gibt keine Ruhe, die Bewegung ist; ebenso gilt aber, dass die Ruhe

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negatives (nichtseiendes) Prädikat ist gemessen am seienden Gegenstand der Bewegung, denn Bewegung ist nicht Ruhe. Nichtsein wird also im Rahmen einer in sich notwendigen, onto-epistemologischen Struktur aufgerechnet, indem das Eidos (εἶδος) des Verschiedenen das Nichtsein intelligibel macht. Ohne Verschiedenheit keine Ideendialektik, keine Verknüpfung Unterschiedener und folglich keine Denkbarkeit und Prädizierbarkeit. Jedes Seiende ist demnach an sich selbst auch ein irreduzibel Nichtseiendes, nämlich insofern, als es sich von anderen Seienden unterscheidet, ihnen gegenüber ein Anderes ist bzw. diese nicht ist. Der Platonische Fremde aus Elea resümiert gegen Parmenides und nicht ohne eine gewisse Ironie, dass nicht nur gezeigt wurde, dass das Nicht­ seien­de sei, sondern sogar, dass jedes Seiende in Wahrheit Nichtseiendes sei. Die Gemeinschaft der Ideen nun weist eine innere kombinatorische Struktur auf. Nicht alles verbindet sich mit allem (Soph. 251a5 ff.). Der Widerspruchssatz reguliert die Verknüpfungen. So geht die Idee der Bewegung keine Gemeinschaft mit der der Ruhe ein, da beide zueinander eine kontradiktorische Opposition bilden, also einander ausschließen. Es ergäbe sich nur der widersinnige Gedanke einer ruhenden Bewegung bzw. bewegten Ruhe. Diese Aussage gilt grundsätzlich auch für den Bereich der konkreten Erfahrungswelt. Der Hinweis auf eine in einem fahrenden Zug sitzende Person und darauf, dass diese sich zugleich in Bewegung (sie fährt) und Ruhe (sie sitzt) befinde, widerlegt gerade nicht das ideenontologische Theorem, sondern bekräftigt es. Denn allein die sachgemäße Unterscheidung beider begrifflicher Gehalte (Ruhe, Bewegung) ermöglicht erst entsprechende empirische Feststellungen, beispielsweise dass sich eine Person gleichzeitig in Bewegung und Ruhe befinde. Sie ist zwar gleichermaßen in Bewegung und Ruhe, allerdings doch wohl nur in verschiedenen Hinsichten. Diese ontologische Pointe der dialektischen Ideengemeinschaft findet ihren logischen Ausdruck in der Sprachpraxis, so im Aussagesatz. Auch hier gehen Subjekt- und Prädikatbegriffe eine Gemeinschaft (Verbindung) ein oder nicht ein. Es gilt nun die formale Regel: Weder verbinden sich alle Begriffe mit allen noch keiner mit keinem, sondern einige mit einigen. Ob Theaitetos sitzt oder fliegt ist nicht noetisch deduzierbar, sondern abhängig vom doxisch-induktiven Gegenstandsbezug der Rede, also davon, ob es der Fall ist, dass Theaitetos sitzt oder ob etwas anderes der Fall ist (δόξα ἀληθής – δόξα ψευδής). Die wahre Rede sagt jeweils das, was der Fall ist, sie sagt also das Seiende von Theaitetos aus, die falsche Rede dagegen sagt das Nichtseiende, also das, was nicht der Fall ist, von ihm aus. Sie sagt das Nichtseiende aber als ein Seiendes, nämlich als ein im Hinblick auf das faktische Sein ihres Gegenstandes Verschieden-Seiendes aus. Die Aussage »Theaitetos fliegt« (Θεαίτετος πέτεται) verwendet als Prädikat ein Seiendes, nämlich das intelligible Konzept Fliegen, und Fliegen ist sehr wohl etwas, und nicht nichts, das aber, auch wenn es etwas (= Fliegen) ist, durchaus den Gegenstand Theaitetos in diesem Fall falsch beschreibt, weil

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er in Wirklichkeit nicht fliegt, sondern sitzt. Die begrifflichen Gehalte in ihrer intelligiblen Differenziertheit sind, was sie sind, können aber im Hinblick auf konkrete Dinge und Ereignisse der empirisch-faktizitären Welt falsch appliziert werden. Gleichwohl stellen sie die notwendige Voraussetzung solcher Bezugnahmen in der Welt dar und sind insofern epistemologisch konstitutiv. Es ist deutlich geworden, dass es und wie es Platon vor allem um die ideen­ onto­lo­gi­sche Dimension als epistemologische Bedingung der Möglichkeit gelingender innerweltlicher Bezugnahmen in Sprechen und Handeln geht. Die kontingente Welt des Werdens, des Entstehens und Vergehens, ist als Existenzbereich des Menschen auf seine rationalen Strukturen hin zu befragen und nicht als solche von Interesse. Erkenntnis in diesem Sinne ermöglicht die relativ vernünftige Einrichtung des Lebens unter den Bedingungen von Kontingenz. Dem Kontingenzgeschehen selbst kommt kein eigener, kein konstitutiver, kein genuin ontologischer Wert zu. Das Problem des Nichtseins als Voraussetzung einer Auseinandersetzung mit dem Kontingenzproblem und in Abhängigkeit davon das Problem der Kontingenz selbst wird ontologisch aufgefangen und kommt deshalb nur indirekt und uneigentlich zum Zug. Aristoteles Aristoteles entwickelt im 9. und 13. Kapitel von De Interpretatione ein differenziertes Kategoriensystem von Modalitäten, indem er sich der Begriffe der Möglichkeit und Notwendigkeit bedient und einen Negationsoperator verwendet. Insbesondere zwei Versionen von Kontingenz finden sich bei ihm und können unterschieden werden: Eine weitere begriffliche Fassung in De Interpretatione und eine engere in den Analytica Priora. Festzuhalten ist, dass der Kontingenzbegriff anhand des Modalbegriffs der Möglichkeit entwickelt wird, Aristoteles also noch keinen genuinen (positiven) Begriff für Kontingenz zu bestimmen vermocht hat. Dabei dient ihm der Begriff des ἐνδεχόμενον (von ἐνδέχεσθαι = aufnehmen), das Problem genauer einzugrenzen. Die ἐνδεχόμενα bezeichnen alles das, was an sich ein nicht schon vollkommen verwirklichtes Seiendes (ἐνέργεια, actus) ist, sondern solches Seiendes ist, das Bezug auf noch nicht verwirklichte Möglichkeiten hat. Es geht also um Möglichkeiten gegenüber bestehenden Wirklichkeiten. Der Begriff des ἐνδεχόμενον steht nun zusammen mit dem anderen abstrakteren Modalbegriff des δυνατόν (möglich). Das δυνατόν ist zu verstehen von dem her, was Aristoteles δύναμις (Möglichkeit, Vermögen) nennt. Diese wird aber nur begriffen, wenn sie als Oppositionsbegriff zu ἐνέργεια (Wirklichkeit, actualitas) aufgefasst wird. Um nun nachvollziehen zu können, wie Aristoteles den Begriff der Kontingenz genauer profiliert, muss man verstehen, wie sein substanzontologisches Modell funktioniert. Aristoteles entwickelt seine Konzeption von Substanz (οὐσία) vor allem

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in den Substanzenbüchern Zeta, Eta und Theta der Metaphysik (also in den Büchern 7–9). Dort unterscheidet er drei Substanzen. Für den unmittelbaren Bereich unserer Erfahrungswelt kommt nun die der Vergänglichkeit ausgesetzte οὐσία αἰσθητή zur Sprache: die im Bereich des Entstehens und Vergehens vorfindliche sinnlich wahrnehmbare Substanz. Diese ist ein compositum (σύνθετον) aus Form (εἶδος) und Materie (ὕλη) und so ein nur zusammengenommen Ganzes (σύνολον). Eine solche Substanz besteht demnach aus zwei inneren Teilursachen, ihrer Materialität (causa materialis) und ihrer Formalität (causa formalis). Der Anteil der Materialität zeichnet nun für die ontologische Differenz und Spannung zwischen ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit (Potenz/ Akt) verantwortlich. Empirische Substanzen sind nie identisch mit der reinen idealen Wirklichkeit ihrer internen Form, sondern sie realisieren sie immer nur mehr oder weniger (μᾶλλον καὶ ἥττον). Die Materialität wirkt demnach privativ auf die formative Wirklichkeit von Substanzen. Daraus wiederum resultiert eine Finalität, die sich als intrinsisches Streben nach Verwirklichung und Vervollkommnung darstellt. Die Materie wirkt also als principium individuationis und auf diese Weise als eine Größe der Brechung und Depravierung der Realität der substantiellen Form. Diese Dimension der faktizitären Existenz empirischer Substanzen beschreibt genau den (sublunaren) Wirkungsbereich Aristotelischer Kontingenz. Das δυνατόν markiert zwar eine Möglichkeit, ein Vermögen der Verwirklichung. Es zeigt aber als Möglichkeit einen entitativen Mangel an, einen Mangel an Wirklichsein, der ursächlich ist für das teleologische Streben innerweltlicher Substanzen. Materielle Individuierung bedeutet in eins Rückfall hinter volle substantielle Realität. Aristoteles Denken ist mehr als das Platonische auf die konkrete Wirklichkeit fokussiert und an ihr interessiert. Dasein und Sosein der Welt und der Entitäten in ihr gewinnen bei ihm nun einen durchaus eigenständigen, genuinen theoretischen Wert. Dies lässt sich an der unterschiedlichen Konzeptualisierung von Ontologie gerade im Vergleich mit seinem Lehrer Platon ablesen. Das substanz-ontologische Modell des Aristoteles bemüht sich anders um die sublunare Werdewelt als noch Platons ideen-ontologischer Denkansatz. Die Aristotelischen Substanzen tragen nun ihr Seinsprinzip in sich. Ob damit und in dieser Richtung die partizipationstheoretischen Aporien der Ideen-Ontologie Platons wirklich gelöst sein können oder ob es sich dabei um eine eher vereinseitigende Rezeption des Schülers handelt, muss an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Es wird aber doch deutlich, dass es zu einer Rationalisierung der empirischen Welt als solcher kommt. Ihr wird nun Rationalität zugetraut, zugesprochen und an ihr selbst ausgemacht. Gleichwohl besteht ihr Sein nicht aufgrund ihrer Materialität (causa materialis), sondern gründet auch hier in ihrer Formalität (causa formalis) als ihrem intelligiblen inneren Prinzip: dem universale in rebus.

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Kontingenz ist folglich auch hier zurückgebunden an materiell substantiierte Entitäten im sublunaren Bereich der Werdewelt. Im supralunaren Bereich der unveränderlichen Substanzen und insbesondere beim ersten unbewegten Beweger, dem Aristotelischen Gott als πρῶτον ἀκίνητον κινοῦν, herrscht hingegen das Gesetz strenger intelligibler Notwendigkeit. Im sublunaren Bereich wird aber die ewige regelmäßige Bewegung des – aus dem grundlosen Grund der ersten, ganz und gar einfachen Substanz (πρῶτη οὐσία) noetisch dominierten – supralunaren Horizonts durch die Materie unterbrochen, aufgeteilt und folglich unregelmäßig. Die Materialität zeichnet verantwortlich für die ontologische Unterbrechung noetischer »Energien« (ἐνέργεια = actualitas = reine Wirklichkeit) und somit für den unvermeidlichen Einbruch von Kontingenz in die Welt des Werdens und Vergehens. Die ἐνέργεια wird unter den Bedingungen der Materialität der Werdewelt konsequenterweise entelechetisch (ἐντελέχεια), das heißt auf einen Zweck bezüglich, da es zu einer ontologischen Spannung zwischen Akt (ἐνέργεια) und Potenz (δύναμις), zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit (Vermögen), und im Blick auf die konkreten innerweltlichen Substanzen zwischen ideeller (asymptotisch gedachter) möglicher Wirklichkeit und ihren reellen wirklichen Möglichkeiten sub specie mortalitatis kommt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Wahrheit und Falschheit von Aussagesätzen, nach dem λόγος ἀποφαντικός, inwiefern also Prädikate wie Wahrheit und Falschheit auf diesen prekären Bereich ontischer Instabilität bezogen werden können. Denn die logische Operation der Aussage ist diejenige basale doxische Handlung, mit der der Mensch auf die veränderliche Welt, in der er lebt, kognitiv Bezug nimmt. Wahrheit und Kontingenz im Sinne nicht necessitate determinierter Ereignisse – wie gehen sie zusammen? Im 9. Kapitel von De Interpretatione an prominenter Stelle erörtert Aristoteles das Problem der Kontingenz im Blick auf zukünftige Ereignisse, die eintreten können oder auch nicht eintreten können und kommt in diesem Zusammenhang auf die bekannte Seeschlacht-Problematik zu sprechen. Die Frage lautet, ob alles, was zukünftig geschieht, notwendig oder zufällig geschieht. Denn aus der Perspektive der Gegenwart erscheint das zukünftige Ereignis (die Seeschlacht) kontingent: Es kann stattfinden, muss aber nicht. Hat die Seeschlacht aber tatsächlich stattgefunden, dann wird die Aussage, welche die Seeschlacht vorausgesagt hat, umschlagen in eine notwendige Wahrheit, während die andere sich de facto als falsche erwiesen hat. Das Ereignis der Seeschlacht hat stattgefunden und ist nun wahr, weil irreversibel. Aristoteles entwickelt hier nur erst einen weiten Begriff von Kontingenz unter Zuhilfenahme des Möglichkeitsbegriffs und von Negation. Also gilt zumindest: möglich ist, was nicht unmöglich ist. Das, was nicht unmöglich ist, kann eintreten, sich ereignen. Dieser Begriff der Möglichkeit impliziert allerdings – gemessen an einer exakten Bestimmung von Kontingenz als solcher – zu viel, nämlich die Mo­dal­

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aspek­te Kontingenz (contingens), Möglichkeit (possibile) und Notwendigkeit (necessarium). Für alle sie gilt ja der Satz: möglich ist, was nicht unmöglich ist. Die Aussage über ein künftiges Ereignis, zum Beispiel eine Seeschlacht, kann demnach möglich, wirklich (kontingent) und notwendig sein. Das ἐνδεχόμενον schließt unter dieser weiten Fassung keine der genannten Modalitäten aus. In den Analytica priora formuliert Aristoteles freilich einen engeren Begriff, wobei er nun Kontingenz als eine symmetrische Möglichkeit des Seins oder Nichtseins fasst. Die Symmetrie hinsichtlich von etwas, zu sein oder nicht zu sein, eröffnet neue Wege zur genaueren Bestimmung von Kontingenz. Das Faktum der Kontingenz wird somit noch genauer eingegrenzt. Denn nun gilt als möglich (kontingent), was nicht unmöglich und nicht notwendig ist – was zwar wiederum unmittelbar einleuchtet, gleichwohl immer noch keinen hinreichenden Begriff zur Bestimmung von Kontingenz liefert. Die Seeschlacht ist demgemäß kontingenterweise möglich, wenn sie einerseits nicht unmöglich, andererseits nicht notwendig ist. Das, was zwischen diesen Modalwerten liegt, zwischen der Negation der Unmöglichkeit und der Negation der Notwendigkeit, umgrenzt den Bereich dessen, was als Kontingenz allererst noch zu bestimmen wäre. Der so gewonnene engere Möglichkeitsbegriff beinhaltet nun also nur noch Kontingenz (contingens) und Möglichkeit (possibile), nicht mehr den Modalwert Notwendigkeit (necessarium). Es bleibt demnach die Frage zurück, wie man Kontingenz von Möglichkeit sinnvoll unterscheiden kann, um einen scharfen unzweideutigen Begriff zu erhalten. Das Phänomen der Kontingenz konnte zwar eingrenzend umrissen werden, aber doch aus einer nur äußerlichen Beschreibungsperspektive in einer methodischen Annäherung ex negativo. Weder ist also eine positive Bestimmung dessen, was ein kontingentes Ereignis ist, gelungen, noch kam ein genuiner Grund für Kontingenz in den Blick, so dass sie letztlich ein Epiphänomen innerweltlichen Werdeseins unter Bedingungen der irreduziblen Materialität – als principium irrationalis – bleibt.9 Kontingent ist nun, was nicht sein bzw. anders sein kann. Nach Aristoteles besteht also im engeren Sinne die symmetrische Möglichkeit, dass die Seeschlacht stattfindet oder nicht stattfindet. Diese Symmetrie ist jedoch nur erst diachron gedacht, als diachrone Kontingenz. Was die Diachronisierung der modallogischen Symmetrie bedeutet, führt Eef Dekker aus: A state of affairs p is contingent if the negation of p, written as –p, can be the case at a different moment. The possibility of the opposite obtains for a later moment, and does not obtain for the same moment at which p is the case. But if –p is not possible for the same moment at which p is the case, then it must be concluded that p is necessary for that (same) moment. … So in this Aristotelian model contin9

In Aufnahme der Problemlage und aus diesen Fragerichtungen hervorgehend ergibt sich sodann die Entwicklung eines neuen Prinzips bei Duns Scotus und schließlich vor allem bei Leibniz, des principium sufficientis rationis.

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gency means nothing but change through time; change consists of states of affairs which are successive in time but necessary on their own.10

Es ist offenkundig, dass das Problem der Kontingenz noch nicht zu den ihr eigenen Bedingungen, Kontingenz also noch nicht als Kontingenz erfasst worden ist. Um aber einen genuinen Zugang zum Sachverhalt Kontingenz zu bekommen, ist eine rationalitätslogische Umstellung der grundbegrifflichen Fundamente der Diskussion vonnöten. Dabei geht es nicht nur darum, was Kontingenz ist, sondern auch darum, warum etwas kontingent ist. Einen strikten Kontingenzbegriff findet man im Metalogicon (1159) des Johannes von Salisbury, der contingens nicht mehr bloß ex negativo als zusammengesetzte Modalität (zwischen nicht-unmöglich und nicht-notwendig), sondern als einfache Modalkategorie sui generis begreift, nämlich als das, was nicht-unmöglich, nicht-notwendig, nicht-nur-möglich, sondern faktisch-wirklich ist. Es wird so das contingens als das, was faktisch-wirklich, aber nicht-notwendig ist, vom possibile unterschieden, was faktisch-wirklich sein kann, aber als Mögliches eben (noch) nicht ist.11 … illud solum esse contingens quod interdum evenit, iam dicitur: alioquin neque propter amotam necessitatem, neque propter assistentem possibilitatem, dicetur contingere.12

Aber selbst das exakte modallogische Herausarbeiten der Faktizität kontingenter Wirklichkeit in Unterscheidung vom Möglichen – als mehr als möglich – und vom Notwendigen – als weniger als notwendig – vermag den Begriff der Kontingenz noch nicht positiv zu fassen, sondern Kontingenz eben nur erst zu konstatieren im Procedere einer methodischen Einkreisung ex negativo. Kontingent ist so das, was übrig bleibt, wenn man gesagt hat: nicht-unmöglich, nicht-notwendig, nicht-nur-möglich. Aber was ist dieses Faktische genaugenommen, das bei Salisbury als interdum evenit, als das, was sich bei Gelegenheit ereignet, zur Sprache kommt, welches mehr als nur möglich und weniger als notwendig ist? Und: Warum überhaupt gibt es Faktisches dieser Art? Was ist dessen Seins-Grund? Oder geschieht es grundlos, ohne jeden Grund und wäre folglich gänzlich zufällig. Auf dem Spiel steht die Rationalität, das Wesen von Kontingenz.

10 Dekker (2000), 61. 11 Cf. zum Problem Stoellger (2000), 86. 12 Joannis Saresberiensis, Metalogicus, MPL 199, 823–946, 901. Ausführlicher mit Zitat und Anmerkung Stoellger (2000), 86 f.

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Duns Scotus An der Art, wie Duns Scotus13 sich dem Problem der Kontingenz zuwendet, zeigt sich nicht nur eine begriffsgeschichtliche Beschleunigung bestimmter Motivlagen, sondern eben auch ein die intellektuelle Situation des späten Mittelalters kennzeichnender Umbruch der rationalitätslogischen Grundlagen des Denkens. Dieser Umbruch bestimmt das Interpretationsgeschehen und drückt sich an ihm aus. Es ist eine aufkommende Unzufriedenheit hinsichtlich der an Aristoteles geschulten Art, den christlichen Schöpfergott zu denken, die schließlich wichtige Weichenstellungen im grundbegrifflichen Gefüge der Zeitkonstellation katalysieren und bestimmte in der Sache selbst angelegte Dis­ po­si­tio­nen zum Austrag bringen wird. Gott unterm Zwang der Kategorie der Notwendigkeit zu denken widerspricht den biblisch fundierten Offenbarungszeugnissen von Gott als dem personalen Schöpfer, Erhalter und Vollender. Im Zusammenhang mit dieser theologisch-philosophischen Grundfrage kommt es in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Schulen und Traditionen. Das Ideal der Einheit der Unterschiedenheit von Vernunft und Glaube im Sinne der fides quaerens intellectum des Anselm löste sich mehr und mehr auf. Das Jahr 1277 mit der Verurteilung Aristotelisch-Thomistischer Sätze setzte auch äußerlich eine Zäsur und Demarkationslinie14 und ist Ausdruck dieser innertheologischen Kämpfe im Ringen um ein angemessenes Verständnis dessen, wer und was der Gott der Offenbarung in Christus ist. Joachim Söder schreibt in seiner Einleitung zu den Pariser Vorlesungen des Johannes Duns Scotus: Bereits 1270 hatte Stephan Tempier, der Bischof von Paris, einige nezessitaristisch-ontokosmologische Thesen verurteilt. 1277 wird er noch deutlicher. Exkommuniziert sei, wer behauptet: ›Das göttliche Vorauswissen ist notwendig wirkende Ursache für das, was vorausgewusst wird‹, und infolgedessen die Kontingenz der Dinge leugnet; wer behauptet: ›Gott kann nicht etwas irregulär bewegen (= verursachen), d. h. auf eine andere Weise, als er es faktisch tut‹; wer behauptet: ›Was immer Gott tut, muss er mit Notwendigkeit tun‹; wer behauptet: ›Gott ist die notwendig wirkende Ursache der Bewegung der Himmelskörper‹ usw. Hier werden Grenzpfähle eingeschlagen, an denen sich fortan die wissenschaftliche Diskussion – zumindest im unmittelbaren Geltungsbereich des Dekrets – zu orientieren hat.15

13 Eine den hohen Komplexitätsgrad nicht aus dem Blick verlieren wollende Auseinandersetzung mit dem Denken des Duns Scotus ist nach wie vor bestens beraten, sich mit den einschlägigen Arbeiten Ludger Honnefelders auseinanderzusetzen, insbesondere mit Honnefelder (1979) und Honnefelder (1990). Zum Problem der Modalität cf. Honnefelder (1990), Erster Teil, Kapitel I– III, 3–199, zur Kontingenz insbesondere Kapitel II, 56–108. 14 So J. R. Söder in seiner Einleitung zu: Duns Scotus, Pariser Vorlesungen, 19. 15 Duns Scotus, Pariser Vorlesungen, 18 f.

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Die neue Bekanntschaft mit solchen Aristotelischen Schriften, die man noch nicht lange kannte (zu denken ist insbesondere an die metaphysischen Bücher sowie die Physik), löste eine im 13. Jahrhundert intensive Aristotelesrezeption aus, deren Ergebnisse gerade für die Denkbarkeit des christlichen Gottes und dabei im Blick auf gewisse biblische Vorgaben teilweise als starke Provokation, ja als Blasphemie wahrgenommen wurden. Der Aristotelische Gott ist ens necessarium – reine Notwendigkeit im Sinne vollkommener Wirklichkeit. Es stellte sich also die Frage, wie man die personalen Attribute des biblischen Gottesverständnisses und der lehramtlichen Tradition gerade hinsichtlich der dogmatischen Ausbuchstabierung der innertrinitarischen funktionalen Unterscheidungen noch in einen Gottesbegriff integrieren kann, dessen Pointe darin besteht, nichts als reinste Denknotwendigkeit zu sein. Muss einem solchen Gott nicht jede Freiheit abgehen, jeder Grad einer freien willentlichen Entscheidung abgesprochen werden, deshalb, weil seine Wirklichkeit und Tun durch sein notwendiges Wesen ewig und unvorgreiflich festgelegt sind? Ein solcher Gott vollkommener Wirklichkeit weiß von keiner Möglichkeit, die bei ihm nicht schon wirklich wäre. Gott ist ens perfectissimum, ens necessarium, actus purissimus: Er ist also nichts als notwendige reine Wirklichkeit. Akt und Potenz sind in ihm identisch (gesetzt). So gesehen hat dieser Gott dann, wie man mit Eberhard Jüngel16 kritisch anmerken mag, keine Möglichkeiten mehr. Nun kann es in diesem substanzontologischen Referenzsystem nicht sein, dass Gott weniger-als-notwendig ist, da ihm dann degenerativ Möglichkeiten zukämen auf Kosten seiner Wirklichkeit. Der Möglichkeitsbegriff ist aus der Perspektive der zu privilegierenden Aktualität der Substanz ein defizitär bestimmter Terminus im Sinne einer privatio boni. Das jüdisch-christliche personale Verständnis von Gott hat Bezug auf eine Dimension, die das Aristotelische Modell, Gott zu denken, nicht berücksichtigt und nicht berücksichtigen kann. Wenn Gott aber nicht weniger-als-notwendig sein kann, weil er so eben in den Mangelbereich nicht-verwirklichter Möglichkeiten zurückfiele: Was dann? Gott ist nicht weniger als notwendig, er ist aber auch nicht notwendig. Möglichkeit und Kontingenz gehören in den Bereich dessen, was nicht notwendig ist und kommen somit im Gefüge dieses Denkrahmens nicht als Wesensprädikate Gottes in Frage. Wenn Gott nun weder weniger als notwendig noch nicht notwendig ist, dann hat man es zunächst mit einer Aporie, einem Widerspruch zu tun, der lautet: Gott ist notwendig (nicht weniger als notwendig) und er ist nicht notwendig. Ist er dann vielleicht als mehr-als-notwendig zu denken, mit der überraschenden Pointe, dass der Begriff eines rein notwendigen Wesens deshalb noch nicht hinreichend ist, weil sein mehr-als-notwendiger Grund noch nicht mitgedacht ist? Mit anderen Worten gibt es einen Grund, der so Grund ist, dass er auch als Grund aller modalen Unterscheidungen in diesem 16 Cf. Jüngel (1977), §2.

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Zusammenhang gedacht werden kann? Scotus geht es genau darum, und er findet dafür neue grundbegriffliche Kategorien bei dem Versuch, der Freiheit des göttlichen Tuns und der Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit als dazugehörigem Korrelatbegriff gerecht zu werden. Offensichtlich stehen beide Aspekte in einem inneren Zusammenhang. Die Welt wird biblisch als Schöpfung begriffen, und die Schöpfung als ganze ist kontingent. Gott ist derjenige, der die Wahl »hatte«, sie zu schaffen oder nicht zu schaffen bzw. so oder anders zu schaffen. Scotus korrigiert das Aristotelische Paradigma, das besagt, nur der Seinsmodus der Notwendigkeit sei der Erstursache (prima causa) angemessen, auf den Willensbegriff hin. Dadurch kommen die zufälligen, kontingenten Ereignisse nicht mehr nur als ontologisch defizitäre in den Blick, sondern sie erlangen eine Bedeutung sui generis. Dem Modell notwendiger ewiger regelmäßiger Verursachung durch den ersten unbewegten Beweger, dem in der Konsequenz eine nezessitaristische Gottesvorstellung und Weltsicht entsprechen soll17, setzt er ein Modell entgegen, das die rigide deterministische Verbindung von Kosmologie und Ontologie unterbricht. Aus seiner Metaphysikkonzeption als Ontologik und Transzendentalwissenschaft (scientia transcendens) folgen gravierende Weichenstellungen im grundbegrifflichen Design. Scotus’ Bemühungen um die Deutung des Begriffs seiend zeigen dies an. Die Analyse ergibt, dass neben den aus der Tradition bekannten einfach-konvertiblen Begriffen des unum, verum und bonum nun weitere transzendentale Begriffe zur Bestimmung von seiend in den Blick kommen müssen. Dies betrifft die prominenten passiones entis disiunctae – also disjunktive Transzendentalien wie endlich/unendlich, kontingent/notwendig usw. Die Pointe dabei ist, dass die disjunktiven Transzendentalienpaare zusammengenommen denselben Begriffsumfang aufweisen wie seiend. Daraus folgt nicht nur, dass alles, was ist, entweder endlich oder unendlich, entweder kontingent oder notwendig ist – tertium non datur –, sondern vor allem die Einsicht, dass Kontingenz nicht mehr eine von der Notwendigkeit des Seinsbegriffs sekundär abgeleitete und aufgrund der Materialität bloß defizitäre Seinsweise darstellt, sondern dass der Kontingenz nun selbst eine transzendentale Qualität zukommt. Sie steht demgemäß als transzendentales Bestimmungsmoment und zusammen mit dem Modus der Notwendigkeit auf einer Stufe mit dem Transzendentalbegriff seiend, ist selbst ein transzendentaler Begriff geworden. Was aber von allem Seienden ist kontingent, was notwendig? Nur Gott als causa prima kann das notwendig Seiende sein, während alles von ihm verschiedene kontingent, da von ihm verursacht, ist. Zum Nachweis der Existenz der Erstursache liefert Scotus den ausführlichsten ontologischen Gottesbeweis des Mittelalters (in De primo principio). Eine weitere Neuerung neben 17 Es ist durchaus zweifelhaft, ob diese Konsequenzen tatsächlich aus dem substanzontologischen Denkmodell des Aristoteles so folgen oder gar folgen müssen, insbesondere im Blick auf den materiell strukturierten Bereich der erfahrbaren Weltwirklichkeit.

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der Einführung der passiones disiunctae, die den Begriff der Kontingenz ontologisch massiv aufwerten, ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von entitativer und operativer Kontingenz in seinem Lehrstück von der duplex contingentia18. Es lässt sich nämlich zeigen, dass nicht alles, was seinem Sein nach kontingent ist, auch kontingent wirkt. Joachim Söder gibt das Beispiel des Apfelbaums19. Ein Apfelbaum ist seinem Sein nach entitativ-kontingent, nicht notwendig. Die Tatsache aber, dass er Äpfel hervorbringt, ist seine operativ-notwendige Wirkweise. Die Erstursache hingegen ist ihrem Sein nach entitativ-notwendig, ihr Verursachen erfolgt jedoch operativ-kontingent, also nicht nezessitiert. Daraus folgt, dass alle Zweitursachen, weil sie von der ersten abhängige Ursachen sind, entitativ-kontingent sind, während sie entweder operativ-kontingent oder operativ-notwendig verursachen. Damit kommt es zu einer grundbegrifflichen Binnendifferenzierung des theologischen Gottesverständnisses in Form einer modalphilosophischen Tieferlegung. Es kommt zur unhintergehbaren Unterscheidung des Willens Gottes von seinem Denken. Entscheidend ist also nun der Begriff des Willens Gottes, der voluntas Dei, in Unterscheidung vom Begriff des göttlichen Intellekts, des intellectus Dei, dessen Natur seine essentia divina ist. Der göttliche Wille wird als das Vermögen der absoluten erstursächlichen Selbstbestimmung begriffen, das verschiedene, alternative Kausalreihen in Form einer Kombination von Seinsmöglichkeiten aus sich heraussetzen, beginnen und beenden lassen kann. Kontingenz impliziert in diesem Sinne Andersseinkönnen und Nichtseinkönnen. Etwas, das ist und so ist, wie es ist, könnte auch nicht sein, und es könnte auch anders sein als so, wie es ist. Der göttliche Wille setzt alles, was er setzt, ins Sein; das aber, was er ins Sein gesetzt hat, ist entitativ-kontingent, insofern und weil es auch nicht oder anders hätte gesetzt werden können. Weil es auch anders oder nicht hätte gesetzt werden können, setzt der göttliche Wille alles operativ-kontingent ins Sein, so dass sich die göttliche operative Kontingenz als entitative Kontingenz der Geschöpfe umsetzt. Es handelt sich hier zugleich auch um eine Neubestimmung des Seinsbegriffs in Abhängigkeit vom Konzept der voluntas Dei. Denn im Blick ist nun vor allem die Faktizität des Dass-Seins, die Existenz oder das Dasein von Entitäten, deren jeweiliges Was-Sein auf einen anderen Aspekt des Gottesbegriffs zurückverweist, auf den Begriff des intellectus Dei oder des Verstandes Gottes. Auf der Grundlage dieser durchaus grundbegrifflichen Umstellungen gelingt es Scotus, das diachrone Symmetriekonzept des Aristotelischen Kontingenzmodells zu korrigieren, das, wie wir gesehen haben, Kontingenz noch nicht als Kontingenz zu denken erlaubte. Er führt demgemäß nun das Konzept einer genuin-symmetrischen, nämlich synchronen Kontingenz vor. »… non 18 Duns Scotus, Reportatio I d. A 39–40 n. 36–37. 19 Cf. J. Söders Einleitung in Duns Scotus, Pariser Vorlesungen, 20 f.

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voco hic contingens quodcumque non-necessarium vel non-sempiternum, sed cuius oppositum posset fieri quando illud fit.« (Ord. I d. 2 p. 1 q 1–2 n. 86) Kontingent ist also dasjenige, dessen Gegenteil geschehen könnte, wenn es geschieht. Demgegenüber ist dasjenige notwendig, dessen Gegenteil einen Widerspruch einschließt. Das Notwendige kann also nicht nicht sein (non potest non esse): »voco simpliciter necessarium, cuius oppositum includit contradictionem.« (Ord. IV d. 12 q. 1 n. 9) Das ens possibile wiederum wird von Scotus bestimmt als »possibile … est illud cui non repugnat esse et quod non potest ex se esse necessario« (Ord. I d.43 q. un. n. 7), also als dasjenige, dem das Sein nicht widerspricht und das aus sich selbst heraus nicht notwendig sein kann. Wieder findet sich insgesamt an diesen Stellen die implizite intrinsische Differenzierung von Was-Sein und Dass-Sein, von Wesenheit gemäß der Vernunft und Existenz in Abhängigkeit vom Willen. Denn das possibile ist notwendigerweise an sich genau das, was es ist, aber es kann sich aus sich selbst heraus kein Sein – und das heißt hier: kein Dasein geben. Erst mit dieser Bestimmung kommt es zur wirklichen Symmetrisierung der Kontingenz, wird die Symmetrie auch als Symmetrie umgesetzt, und zwar genau so, dass und indem nun Alternativen dem göttlichen Willen simultan präsent sind. Beide Seiten einer Alternative sind hinsichtlich der schöpferischen Handlung Gottes gleichermaßen möglich, aber »möglich« in dem Sinne ihrer Beziehung auf Wirklichkeit, auf ihr Wirklichseinkönnen und eben so simultan kontingent. Possibilia sind nicht an sich kontingent, sondern erst in Bezug auf ihr mögliches Wirklichwerden kommt der Aspekt der Kontingenz ins Spiel. Der göttliche Wille kann sich synchron, gleichzeitig entweder für A oder für non-A entscheiden. Diese Perspektive bringt den Begriff der Kontingenz auf den Punkt, weil nur von dieser simultan-alternativen Bestimmung her die Kontingenz eines Ereignisses angemessen zur Sprache kommt. Der Begriff der Faktizität ( factum, factibilia) stellt den handlungslogischen Aspekt heraus. Die Welt und das, was ist, ihre Kausalreihen und Ereignisketten, stellen sich als gewollte Handlungsfolgen dar, deren nicht-zufälliger und nicht-notwendiger, sondern zureichender Grund der hinsichtlich seiner Operationalität kontingente göttliche Wille ist, der insofern kontingent ist, als er eine willentliche Auswahl aus den der Natur der essentia divina entsprechenden intelligiblen Möglichkeiten trifft. Selbstbestimmung ist demnach ein Akt aus zwei die eine göttliche Wirklichkeit gleichermaßen bestimmenden Teilursachen. Sie setzt zwei Vermögen in der Einheit seines Wesens voraus: seinen Verstand (intellectus) und seinen Willen (voluntas). Der göttliche Wille ist (Selbst-)Beziehung auf die Fülle seiner intelligiblen Möglichkeiten, die ihm der göttliche Verstand präsentiert. Aus dem Horizont seiner possibilia wählt er diejenigen aus, die nach seinem Willen verwirklicht werden sollen. Entitativ-kontingent

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ist also das ausgewählt-gewollte und darum welthaft-seiend Gewordene, das auch nicht oder anders hätte sein können. Erinnern wir uns an den Satz im Sophistes »Theaitetos sitzt«. Beide, Theaitetos und Sitzen, sind für sich genommen intelligibilia, also possibilia im göttlichen Verstand, die Scotus im Verhältnis zur voluntas auch als factibilia bzw. creabilia bestimmt und deren gezielte Auswahl und gewollte Verknüpfung zu einer dann entitativ-kontingenten Wirklichkeit extra Deum führt. Das ens contingens ist folgerichtig dasjenige Seiende, das »haberet non-esse nisi causa extrinseca suum non-esse impediret dando sibi esse« (Ord. II d. 1 q. 2 n. 62). Es ist also in seinem kontingenten Dass-Sein abhängig von einer äußeren ihm solches Sein verleihenden Ursache. Das ens necessarium dagegen »habet ex se esse actualissimum«. Die Synchronie der Wahl hinsichtlich der vom Verstand her präsenten Möglichkeiten bedeutet, dass dem göttlichen Willen eine infinite Auswahl an Möglichkeiten zur Verfügung steht, einschließlich der kontradiktorischen Möglichkeiten, die im Verstand an sich zwar gleichermaßen möglich sind, als possibilia ad esse jedoch, im Hinblick also auf ihre Verwirklichung, miteinander unvereinbar – inkompossibel – sind. Wahl und Verknüpfung von Möglichkeiten sind zwar dem göttlichen Willensakt frei gestellt, aber doch so, dass das Widerspruchsaxiom die logische Kompossibilität der metaphysisch zugrundeliegenden Möglichkeiten des göttlichen Intellekts hinsichtlich ihrer Verwirklichung regelt. Das principium contradictionis gilt für alles Seiende insgesamt, insofern es strukturell Ordnung ermöglicht, es kann aber nicht regeln, welcher Ordnung Dasein (esse existentiae) zukommen soll. Damit ist Scotus eine grundlegende Neubestimmung des ens necessarium gelungen, gewissermaßen als eines ens plus quam necessarium. Gott ist zu denken als die mehr als notwendige Einheit der Modalitäten aus Notwendigkeit, Möglichkeit und Kontingenz: »Deus non tantum est cui non repugnat esse, sed est ex se ipsum esse.« (Ord. n. 50) Gott ist das Sein selbst, ist das ipsum esse. 1. Gott ist notwendig die entitative Einheit seines Wesens, und zwar hinsichtlich der Möglichkeiten seines Verstandes und der kontingenten Entscheidungen seines Willens. 2. Die intelligiblen Möglichkeiten des göttlichen Verstandes sind als mögliche an sich notwendig, weil sie als sie selbst, als das, was sie sind, keinen Widerspruch einschließen (cuius oppositum includit contradictionem = notwendig) noch nicht nicht sein können (non posse non esse), sie sind aber als sie selbst möglich (possibilia), weil sie nicht dem Seinkönnen (im Sinne des Daseinkönnens) widersprechen (non repugnantia ad esse = möglich). 3. Gottes Handeln ist notwendigerweise, nicht kontingenterweise, operativ kontingent, weil sein Wille nicht nezessitaristisch gebunden, sondern (absolut) freier Wille ist.

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Diese Neubestimmung lässt sich noch schärfer stellen im Kontrast zur Aristotelischen Konzeption. Bei Aristoteles ist Gott die reine Wirklichkeit aller seiner Möglichkeiten. Darüber hinaus gibt es keine Möglichkeiten und sind auch keine denkbar, da sie andernfalls Gott äußerlich bleiben müssten, was dem Gottesbegriff als actus purissimus widersprechen würde. Der Begriff der Möglichkeit (δύναμις) erhält auf diese Weise einen theologisch pejorativen Akzent, insofern er einen grundsätzlichen Mangel an Sein zum Ausdruck bringt. Bei Scotus ist das nicht so. Indem Gott sich notwendig zu sich selbst verhält, gewinnt er Möglichkeiten, die er kontingent realisieren kann. Sein entitatives Selbstverhältnis produziert (producere!) ad intra in einer productio in esse intelligibili seine ihm eigenen Möglichkeiten – natürlich von Ewigkeit her, weshalb sie auch nicht als geschaffene (kontingente) angesprochen werden dürfen, sondern als durch sich selbst hervorgebrachte begriffen werden müssen – und verwirklicht ad extra autonom aus sich heraus eine kontingente geschöpfliche Wirklichkeit. Der Gott des Scotus hat also Möglichkeiten. Ihm ist nicht nur alles Mögliche an sich denkbar, sondern alles Denkbare auch möglich. Möglichkeiten, die der Aristotelische Gott nicht haben kann, weil er sich selbst genug ist. Gott muss aber Möglichkeiten über seine Notwendigkeit hinaus haben. Seine Suisuffizienz ist wesentlich transitiv und deshalb kreativ. Dies zeigt sich schließlich auch daran, wie sein Selbstverhältnis statthat. Auch der Aristotelische Gott ist ein Selbstverhältnis, ein πρῶτον ἀκίνητον κινοῦν, das νόησις νοήσεως ist, ein sich ewig selbst denkendes Denken. Aber die Art des Selbstverhältnisses weist signifikante Unterschiede auf, die unmittelbar zu tun haben mit der modalen Auffassung des jeweiligen Gottesbegriffs. Der Aristotelische Nous (νοῦς) Gottes ist ganz klassisch vom Denkgegenstand her konstituiert (bestimmt, bewegt). Dies bezeichnet eine Eigentümlichkeit des klassischen ontologischen Paradigmas, worin es sich deutlich unterscheidet von der Figur ursprünglicher Spontaneität des Denkens zum Beispiel im Deutschen Idealismus. Bei Aristoteles heißt es im 6. Kapitel des 12. Buches der Metaphysik von der Vernunft: νοῦς δὲ ὑπὸ τοῦ νοητοῦ κινεῖται. Für Gott bedeutet dies, dass er seine intelligiblen Gegenstände als ihm gleichsam »objektiv« vorgegebene denken muss, er ist reiner Vollzug seines Denkinhalts. Bei Scotus kommt ein neuer Aspekt hinzu. Das Selbstverhältnis Gottes wird hier vielmehr gedacht als eine unvorgreifliche Spontaneität, als ein ursprüngliches Hervorbringen der eigenen Gehalte (als logischer Möglichkeiten), als eine productio in esse intelligibili. Es kommt zu einer Verschiebung des Akzents des konstitutiven Aspekts des Denkens vom Gedacht-Sein hin zum Denkend-Sein, von Rezeptivität zu Spontaneität. Diese Spontaneität bildet einen Aspekt sui generis und verweist auf die voluntas Dei. Es gibt also in Gott so etwas wie eine »ursprüngliche Synthesis a priori«, die allererst diejenigen Möglichkeiten hervorbringt, von denen sie logisch und metaphysisch bestimmt ist, die zugleich eine widerspruchsfreie Auswahl durch

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den Willen ermöglichen, wodurch die possibilia auch als creabilia bzw. factibilia angesprochen werden können. Gott erzeugt ex se die Möglichkeiten, die er notwendigerweise ist, und er macht etwas aus diesen Möglichkeiten, indem er eine ihm gegenüber andere kontingente Wirklichkeit schafft. Ein weiterer Punkt ist anzusprechen, ohne den das spezifische Sein des göttlichen Willens gegenüber dem Sein des göttlichen Verstandes nicht angemessen begriffen werden kann. Es geht um die genaue Erfassung der Struktur des freien Willens, ohne welche das Konzept von Kontingenz obsolet werden müsste. Die Freiheit des Willens besteht nicht nur in der Unterscheidung zwischen dem, was der Wille will (velle) und dem, was er nicht will (nolle), sondern ist bei Scotus richtigerweise tiefergelegt in einen reflexiven Akt als eines solchen Selbstverhältnisses, in dem sich der Wille zu sich selbst verhält, ein Motiv, das Sören Kierkegaard in der Krankheit zum Tode als das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, subjekttheoretisch ausbuchstabiert hat. Dieses reflexive Selbstverhältnis hebt den Willen als Willen allererst von den anderen Aspekten ab, setzt ihn gleichsam frei und bedeutet nun das Vermögen des Willens, sich nicht nur zwischen Alternativen entscheiden, sondern sich auch angesichts einer Alternative von der Wahl enthalten zu können. Es kommt so die logische Figur des Weder-Noch (non velle) in den Blick. Der Wille kann das Wollen wollen oder auch nicht wollen. Er ist so gesehen eine libertas exercitii. Erst diese zweite Stufe des Willens im Verhältnis zu sich selbst bedeutet wirkliche Freiheit, da andernfalls der Wille von den zur Wahl stehenden Gegenständen in erster Instanz gebunden wäre. Das Angebundensein an die Gegenstände der Wahl setzte den Willen zur Funktion der Gegenstände herab. Er könnte folglich seiner selbst als einer Wirklichkeit sui generis nicht gewahr werden. In diesem Verhältnis zu sich selbst ist der Wille sich selbst Maßstab seines Wollens und Handelns (bzw. eben auch Nicht-Handelns). Da Gott die Güte (benignitas), oder mit 1. Johannes 4,16 gesprochen die Liebe ist (ὁ θεὸς ἀγάπη ἐστίν), ist für Scotus das Maß der reflexiven Selbstbestimmung des Willens – im Blick auf simultane Handlungsalternativen – als seine Fürsorge (caritas) zu bestimmen. Diese begründet in den mit einem freien Willen ausgestatteten Geschöpfen eine libertas innata, deren innerer Bezug Rückbindung an den »bestimmten« (statt unbestimmten, gleichgültigen, zufälligen) Willen Gottes ist (affectio iustitiae vs. affectio commodi). In dieser eigentümlichen Bestimmtheit muss der Wille betrachtet werden, da sonst die Gefahr bestünde, ihn als Beliebigkeit und Gleichgültigkeit zu missdeuten.20

20 Cf. Honnefelder (2005), 115 ff.

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4. Fazit Es dürfte deutlich geworden sein, wie der Prozess der begrifflichen Fassung von Kontingenz eine Dynamik entwickelt, die in Duns Scotus schließlich eine besondere Zuspitzung erfährt – mit der Konsequenz, dass der klassisch-ontologische Referenzrahmen brüchig wird. Dies sind deutliche Vorzeichen eines in der zukünftigen Ferne noch gelegenen, sich aber schon abzeichnenden neuen Grundthemas, das sich nicht mehr in die altbewährten Formen der Ontologie wird einpassen lassen. Bei Scotus handelt es sich um ein Syndrom, eine Konstellation von Begriffen, die diese Bewegung in Gang setzen, vollziehen und darstellen: Kontingenz, Wille, Freiheit, Individualität. Damit kommen nun aber Grundbegriffe zum Zuge, die ein verändertes neuartiges Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Natürlich bleibt das Denken des Scotus der ontologischen Perspektive treu. Dies zeigen Terminologie und Orientierung an der Tradition. Dennoch: Ausgerechnet der höchste aller Begriffe, der Gottesbegriff, infiziert sich bei ihm mit Subjektivität, und von dort her schließlich Mensch und Welt. Man mag diesen transformatorischen Zusammenhang auch als Säkularisierungsgeschehen begreifen. An Gott, dem Super-Subjekt, wird in vertikaler Perspektive ausbuchstabiert, was, einmal in die Horizontale gekommen, endlich für den Menschen gelten können soll, wobei es so aussehen mag, dass, was zunächst an Gott demonstriert wurde, nichts als die idealisierte Darstellung menschlicher Subjektivität ist. Ob diese These die ganze Wahrheit beinhaltet, ist eine Frage, der hier nicht mehr nachgegangen werden kann.

Literatur Quellen Johannes Duns Scotus, Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz, Freiburg 2005.

Forschungsliteratur Bergemann, Lutz/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Toepfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, »Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels«, in: Hartmut Böhme/Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Toepfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, 39–56. Böhme, Hartmut, »Einladung zur Transformation«, in: Hartmut Böhme/Lutz Bergemann/ Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Toepfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, 7–37.

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Virtù vince fortuna. Aufstieg, Wandel und späte Blüte eines frühneuzeitlichen Topos1 Peter Vogt

In seinem klassischen Werk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur unterscheidet der Romanist Erich Auerbach zwei Konzeptionen historischen Wandels, von denen er behauptet, dass ihnen in jeweils einer ganz spezifischen Weise eine bestimmte Auffassung historischer Kontingenz zu Grunde liegt, eine bestimmte Auffassung davon, wie in der menschlichen Geschichte unvorhersehbare Ereignisse oder unerwartete Zufälle, leidvolle Widerfahrnisse und glückliche Begebenheiten gleichermaßen, zu erklären seien. Auerbach spricht in dem genannten Werk im Zuge seiner Beschäftigung mit der literarischen Behandlung ebenjener historischen Kontingenz in der antiken Literatur von dem Unterschied zwischen einer Auffassung, für die »der Glückswechsel fast immer die Form eines von außen in einen bestimmten Bezirk hineinbrechenden … Schicksals« hat, und einer Auffassung, welche die »innergeschichtliche Anschauung der Schicksalswendungen«2 in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt. Offensichtlich verortet die erstgenannte Auffassung die Quelle historischer Kontingenz außerhalb der Geschichte. Gemäß einer solchen Auffassung ist die menschliche Geschichte immer und überall gleichermaßen, mithin in einer zeitlosen Weise von unvorhersehbaren Kontingenzen geprägt. Eine außergeschichtliche Instanz soll es sein, welche die menschliche Geschichte dirigiert. Die Wirkungsweise dieser außergeschichtlichen Instanz folgt freilich nicht dem Modell einer heilsgeschichtlich lenkenden und alle Kontingenz aufhebenden providentia. Jenes Verständnis von Geschichte, welches Auerbach 1

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Eine nahezu identische Fassung dieses Aufsatzes ist in italienischer Übersetzung in der Zeitschrift Annali dell’Istituto storico italo germanico in Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient erschienen. Vergleiche hierzu: Vogt, Peter, »Virtù vince fortuna. Ascesa, cambiamento e tarda fioritura di un topos dell’età moderna«, in: Annali dell’Istituto storico italo germanico in Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 39 (2013), 63–104. Für Ermutigung beim Zustandekommen dieses Aufsatzes danke ich Stefan Bauer. Besonders aber weiß ich mich Jan Papy verpflichtet, der eine erste Manuskriptfassung in einer bewundernswert akribischen, fundierten und konstruktiven Weise prüfte, was mich zu einer umfangreichen Überarbeitung des Aufsatzes veranlasste. Auerbach (1946), 32 bzw. 33.

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meint, wenn er vom »Glückswechsel« im Sinne »eines von außen in einen bestimmten Bezirk hineinbrechenden … Schicksals« spricht, unterstellt zwar eine außergeschichtliche Regie der menschlichen Geschichte, widersetzt sich aber der teleologischen Bestimmung der Geschichte als Exekution einer göttlichen providentia. In der Ideengeschichte stand spätestens seit dem Zeitalter des Hellenismus und dann vor allem seit der römischen Antike ein nachgerade klassisches Modell zur Verfügung, sollte einerseits menschliche Geschichte als unwiderruflich kontingent charakterisiert, andererseits historische Kontingenz weder durch »innergeschichtliche Schicksalswendungen« erklärt noch in einem heilsgeschichtlichen Sinne aufgehoben werden: Die römische Fortuna oder die griechische Tyche waren seit den Zeiten des Thukydides oder Livius fest etablierter Gegenstand geschichtstheoretischer Reflexionen.3 Diese Auseinandersetzung mit der Fortuna erlebt in der italienischen Renaissance eine einzigartige Konjunktur. Weder vor noch nach dieser historischen Epoche lässt sich ein derart intensiver kultureller und intellektueller Diskurs über die Fortuna ausmachen. Die Vorgeschichte und die genauen Konturen dieser ideengeschichtlichen Konjunktur der Fortuna in der Renaissance sowie schließlich der Versuch einer Systematisierung der Nachgeschichte dieser Konjunktur bilden den Gegenstand der folgenden Ausführungen.4 Dabei bildete die Fortuna in der italienischen Renaissance lediglich das eine konstitutive Element einer fortunazentrierten Auffassung menschlicher Geschichte. Wie auch immer nämlich die Fortuna seinerzeit aufgefasst wurde, stets wurde sie als Widerpart jener menschlichen Fähigkeiten gedacht, die vorrangig, wenn auch nicht ausschließlich, sowohl durch den lateinischen Terminus virtus als auch durch den vernakularen Begriff der virtù auf den Begriff gebracht wurden. Die theoretische Dichotomie von Fortuna und virtù war es demnach, auf welche sich das Denken der italienischen Renaissance verließ, wollte es den unaufhörlichen »Glückswechsel« (E. Auerbach) in der menschlichen Geschichte erklären. Insofern war es zutreffend, als Paul Joachimsen in seinem 1920 erschienenen Aufsatz »Aus der Entwicklung des italienischen Humanismus« vom »Fortunaproblem« als einem der »großen Probleme der Renaissance«5 sprach. Freilich war der Renaissance mit der die Epoche prägenden Kontrastierung von Fortuna und menschlicher virtù nicht nur ein bestimmtes intellektuelles »Problem« aufgegeben. Zwar, so viel trifft zu, beschrieben die Humanisten der 3 4

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Vergleiche exemplarisch Cupaiolo (1984). Mit der Thematik dieses Aufsatzes habe ich mich in einem umfangreichen Kapitel meiner Habilitationsschrift beschäftigt. Dort finden sich auch zahlreiche Themen, Autoren und Diskussionen, die für diesen Aufsatz nicht berücksichtigt werden konnten. Vergleiche Vogt (2011), 503–648. Joachimsen (1970), 72.

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Renaissance mit Hilfe der Fortuna, so formulierte es Jahrzehnte später Paul Oskar Kristeller, »the general situation in which human beings find themselves« und »the place man and his world occupy within the larger universe«6. Aber das besondere Moment des Fortuna-Diskurses der Renaissance bestand doch stets darin, die menschliche virtù als der Fortuna prinzipiell überlegen aufzufassen. In diesem Sinne bezeichnete Eugenio Garin in seiner 1947 zunächst auf deutsch erschienenen Studie Der italienische Humanismus den sich im Topos virtù vince fortuna artikulierenden Gedanken, dass bestimmte menschliche Ressourcen, die man mit dem Begriff der virtù zu fassen glaubte, das Treiben der Fortuna geradezu besiegen können, als das »typische Renaissance-Motiv«7. Bedauerlicherweise unterzog sich indes keine der drei zuletzt genannten Koryphäen der Renaissanceforschung der Mühe, eingehend zu klären, wie die beiden Elemente des genannten Topos seinerzeit konkret verstanden wurden. So aber wurde die Frage, was es der Renaissance eigentlich bedeuten konnte, von einem »Sieg« der virtù über die Fortuna zu sprechen, mit Hilfe welches Vorgehens zudem ein solches Resultat zu erringen sei, nur unbefriedigend geklärt. Für dieses Defizit gibt es nach meiner Überzeugung einen methodischen Grund. Denn um die angedeuteten Fragen zu klären, hätte es vor allem einer ideengeschichtlichen Kontextualisierung bedurft. Nicht der Zweifel an den substanziellen Ergebnissen der Studien von Joachimsen, Kristeller oder Garin ist daher das entscheidende Motiv für die folgenden Überlegungen, wohl aber die Unzufriedenheit mit den von diesen Autoren gelieferten, um ideengeschichtliche Kontexte unbekümmerten Interpretationen des »Fortunaproblems« (P. Joachimsen). Die folgenden Ausführungen wollen, freilich mehr in einer überblicksartigen und um grundsätzliche Schlussfolgerungen bemühten als in einer auf vollständige Berücksichtigung eines letztlich uferlosen Materials zielenden Weise andeuten, wie eine derartige Kontextualisierung zur Überwindung des beschriebenen Defizits beiträgt.8 6 7 8

Kristeller (1961), 57. Garin (1947), 64. Ich greife dabei unter anderem auf die Arbeiten von Vincent Cioffari, Alfred Doren und H. R. Patch zurück, welche ich trotz unbestreitbarer Mängel als unverzichtbaren Ausgangspunkt für jede weitere Diskussion empfinde: Patch (1922a), Patch (1922b), Patch (1927), Doren (1922/23). Unlängst hat die französische Historikerin Florence Buttay-Jutier die bislang wohl umfassendste Studie zu unserem Thema vorgelegt, welche vor allem hinsichtlich der Menge des berücksichtigten Materials beeindruckt. Ich befürchte indes, dass schon mein Ansatzpunkt gänzlich unterschiedlicher Natur ist. Insofern für mich eine Behandlung der Fortuna-Thematik ohne eine Berücksichtigung theologischer Dimensionen völlig undenkbar ist, bleibt mir rätselhaft, wie Buttay-Jutier die Geschichte der Fortuna, zumal im ersten Satz ihres Buches, als »histoire d’une banalité« bezeichnen kann. Eine derartige Ausdrucksweise soll wohl zu erkennen geben, dass Buttay-Jutier Fortuna ausschließlich als ein rhetorisches oder visuelles Instrument für einen performativen Sprechakt oder ein politisches Kalkül betrachtet. Ich finde es bedauerlich

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Weder die Fortuna noch der Topos virtù vince fortuna sind ideengeschichtliche Innovationen der Renaissance. Die Fortuna der Renaissance beruht vielmehr auf einer windungsreichen Vorgeschichte, auf der, so möchte man sagen, »longue durée« einer intellektuellen Tradition, die ich im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes Revue passieren lassen werde, indem ich die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Fortuna von der römischen Antike bis an die Schwelle zur Renaissance gleichsam typologisch zu ordnen versuche (1). In einem zweiten Abschnitt will ich mich wesentlichen Wortführern des Topos virtù vince fortuna in der italienischen Renaissance zuwenden. Am Ende dieses zweiten Abschnitts soll deutlich werden, dass im frühen Cinquecento, bei Machiavelli ebenso wie bei Guicciardini, Zweifel an der Plausibilität jenes geschichtstheoretischen Optimismus laut werden, der sich bis dahin in unserem Topos zweifellos artikuliert (2). Nicht nur Joachimsen, Garin und Kristeller, auch zahlreiche andere Autoren, die sich mit der Fortuna in der italienischen Renaissance beschäftigen, ignorieren zumeist die Tatsache oder lassen diese Tatsache in ihren Arbeiten jedenfalls unbehandelt, dass mit dem Ende der italienischen Republiken im frühen 16. Jahrhundert der frühneuzeitliche Fortuna-Diskurs keinesfalls an sein endgültiges Ende gelangt. So aber werden, so will ich im dritten Abschnitt andeuten, wenn auch nicht mehr ausführlich darlegen, die äußerst vielfältigen Früchte einer späten Blüte der Fortuna außerhalb Italiens und gleichsam im »Herbst der Renaissance« (W. Bouwsma)9 übersehen, Früchte, wie sich zeigen lässt, von sehr unterschiedlicher Natur, insofern sie sich von einer endgültigen Verabschiedung des Topos virtù vince fortuna bis zu dessen Wiederbelebung erstrecken können (3).

1. Aufstieg der Fortuna: Der Fortuna-Diskurs zwischen Cicero und Petrarca Die immense Bedeutung, welche der Fortuna in der Kultur der römischen Antike zukam, in republikanischer Zeit ebenso wie zu Beginn des Kaisertums, lässt sich exemplarisch der großen Zahl der seinerzeit über die ganze Stadt verteilten Tempel und Kultstätten, welche der Fortuna geweiht waren, entnehmen. Aber auch extra muros, etwa in Praeneste und in Antium, wurden der Fortuna

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zu sehen, wie ein Thema, welches, um eine von Ernst Troeltsch hinsichtlich des Begriffs der Kontingenz gebrauchte Formel zu variieren, »in nuce alle philosophischen Probleme« enthält, einen Historiker gerade nicht zu einer Historisierung dieses Themas, sondern allein zu einer Dekonstruktion seines Gegenstandes zu motivieren vermag. Vergleiche hierzu: Buttay-Jutier (2008), Troeltsch (1910), 777. Bei Bouwsma erstreckt sich dieser Zeitraum auf die Jahre 1550–1640. Der Titel der deutschen Übersetzung verfährt übrigens äußerst freizügig. Im englischen Original ist lediglich von »Waning of the Renaissance« die Rede (Bouwsma [2000]).

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seinerzeit Tempel errichtet.10 Dieser kultisch-religiösen Bedeutung der Fortuna waren erhebliche Konsequenzen für den Alltag der Römer eigen, wie eine Schilderung, welche sich der aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammenden Naturalis historia (II.22) von Plinius dem Älteren entnehmen lässt, eindringlich unterstreicht: … toto quippe mundo et omnibus locis omnibusque horis omnium vocibus Fortuna sola invocatur ac nominatur, una accusatur, rea una agitur, una cogitatur, sola laudatur, sola arguitur et cum conviciis colitur, volucris volubilisque a plerisque vero et caeca existimata, vaga, inconstans, incerta, varia indignorumque fautrix. huic omnia expensa, huic feruntur accepta, et in tota ratione mortalium sola utramque paginam facit, adeoque obnoxii sumus sorti, ut ipsa pro deo sit qua deus probatur incertus11.

Wie aber stellten sich die Römer dieses Objekt alltäglicher Verehrung eigentlich vor? Angesichts der ihrem Kult geweihten Anlagen kann kein Zweifel bestehen, dass die Fortuna den Römern anderes war als eine Allegorie oder ein rhetorischer Topos, ihr vielmehr tatsächlich ein göttlicher Status zugeschrieben wurde. Diese Göttin wurde darüber hinaus auch in einer ganz bestimmten Weise verstanden. Fortuna war den Römern zumindest seit der frühen Kaiserzeit die Göttin des Zufalls. »That she was the goddess of chance at the time of the early Empire, all the authorities happily agree«12, resümiert H. R. Patch diesen Befund. Wie lassen sich die wesentlichen charakterlichen Merkmale dieser römischen Göttin des Zufalls bestimmen? Ein erster Wesenszug der römischen Fortuna besteht darin, dass sie in höchstem Maße irrational und unberechenbar ist, daher ganz so verfährt, wie es sich für eine Göttin des Zufalls ziemt, nämlich zufällig. Fortuna entscheidet einer theoretisch unzugänglichen Laune gemäß über Glück oder Unglück einer Handlung oder eines ganzen Lebens. Diese Auffassung der Fortuna nicht nur als abstrakte Verkörperung des Zufalls, sondern als eine nachweislich unberechenbar handelnde und sich daher allen theoretischen Kalkülen entziehende Instanz, die lediglich »constans in levitate«13 ist, wie es bei Ovid (Trist. V.8) einmal heißt, diese Auffassung der Fortuna lässt sich in der Philosophie, in der Geschichtsschreibung und in der Literatur des römischen Altertums vielfach belegen. Besonders aufschlussreich präsentiert Ciceros Traktat De divinatione diese Skizzierung des ersten charakterlichen Merkmals der Fortuna, der römischen Göttin des Zufalls. In dieser Schrift betont und begründet Cicero ausdrücklich die theoretische Unmöglichkeit, die zufälligen Aspekte des Lebens, also 10 Aus der Fülle der Literatur, die sich diesem Thema widmet, vergleiche folgende Studien: Champeaux (1982/1987), Merz (2001), Scullard (1981). 11 Plinius, Naturkunde, 26. 12 Patch (1922a), 141. 13 Ovid, Briefe, 264.

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all jene Aspekte, die dem Reich der Fortuna unterstehen, vorherzusagen. Im zweiten Buch dieser Schrift, in welchem er eine kritische Replik auf das im ersten Buch von seinem Bruder Quintus formulierte Plädoyer für die Existenz der divinatio im Sinne der Möglichkeit, zufällige Dinge vorherzusagen, formuliert, erblickt er das konstitutive Merkmal des Zufalls, wie er dem Reich der Fortuna untersteht, gerade darin, dass dieser sich jeder Vorhersehbarkeit und Prognose entzieht. Zufälliges Geschehen lässt sich nicht prognostizieren – weder mittels einer divinatio noch durch eine andere Methode. Diese Unmöglichkeit, das zukünftige Walten des Zufalls mittels einer divinatio vorherzusagen, spricht aber laut Cicero nicht gegen die Existenz des Zufalls, sondern allein für die Unmöglichkeit der divinatio. Die aufgrund seiner prinzipiellen Prämisse, dass sich das zukünftige Walten des Zufalls nicht vorhersagen lasse, ebenso gültige Schlussfolgerung, dass es eben deshalb den Zufall gerade nicht geben könne, da sich kraft welcher Methode oder Überzeugung auch immer alles Zukünftige zumindest prinzipiell theoretisch vorhersagen lasse, weist er ausdrücklich zurück.14 Denn den Zufall gibt es, seine ontologische Dignität ist für Cicero ebenso wenig zu bestreiten wie für Aristoteles.15 Fortuna aber war den Römern stets mehr und anderes als lediglich eine unberechenbare Göttin des Zufalls, die sich aller theoretischen Kalkulation entzieht; sie war den Römern immer auch eine wohlgesonnene und bestimmte Gaben bereit haltende Göttin. Demnach war das menschliche Leben nicht nur mit der Unberechenbarkeit einer den Zufall verwaltenden Göttin konfrontiert, sondern es profitierte auch von den Gaben, welche Fortuna verteilte. Die römische Antike sprach der Göttin Fortuna mithin durchaus freundliche Züge zu. Die Epitheta einer kultisch verehrten Fortuna machen in ihrer übergroßen Mehrheit deutlich, dass Fortuna, wie Iiro Kajanto schreibt, als »benevolent power«16 wahrgenommen wurde. Quentin Skinner charakterisiert die römische Fortuna in diesem Sinne als eine »good goddess, bona dea, and a potential ally whose attention it is well worth trying to attract«17. Alfred Doren spricht im selben Sinn von der römischen Fortuna als »einer zwar wankelmütigen, aber 14 Aufschlussreich und illustrativ ist in dieser Hinsicht eine Passage in Leibniz’ Theodizee, in der sich Leibniz mit Ciceros Behandlung der Fortuna in De Divinatione auseinandersetzt. Cicero, so schreibt Leibniz, bemerke zu Recht, dass, wenn das Zukünftige gewiss sei, Fortuna keine Rolle spielen könne. Aber Cicero leite daraus eine falsche These ab, nämlich die, dass, da die Zukunft gerade nicht vorhergesagt werden könne, die Existenz der Fortuna unbezweifelbar sei. Er hätte indes aus seiner richtigen Prämisse auch eine andere Schlussfolgerung ziehen sollen und können: »Il devait conclure plutôt que, les événements étant prédéterminés et prévus, il n’y a point de fortune« (Leibniz [1710], 182). 15 Jede Diskussion des aristotelischen Verständnisses des Zufalls hätte sich dabei auf Metaphysik ebenso wie Physik zu konzentrieren. Eine Interpretation des aristotelischen Zufallsverständnisses ausgehend von diesen beiden Büchern versuche ich in Vogt (2011), 108–123. 16 Kajanto (1981), 516. 17 Skinner (1981), 25.

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doch im ganzen den Menschen freundlich im Diesseits geleitenden lebensbejahenden Wunschgöttin«18. Das ikonologische Indiz für dieses zweite Charakteristikum der römischen Fortuna stellt jenes Füllhorn dar, das cornu copiae, welches Fortuna auf Münzen oder künstlerischen Darstellungen der römischen Zeit stets in der Hand hält. Wenn Fortuna aufgrund ihrer Willkür und Launenhaftigkeit erstens theo­ re­tisch unzugänglich ist, wenn zweitens diese unberechenbare Fortuna den Ansinnen der Menschen potenziell wohlgesonnen ist, stellt sich drittens die Frage, wie ein angemessener praktischer Umgang mit einer derart charakterisierten Fortuna zu denken ist: Kaum noch zu überblicken sind nun jene schriftlichen Zeugnisse der römischen Antike, welche die Fortuna als menschlichem Handeln prinzipiell verfügbar beschreiben. Dieser dritte Wesenszug der römischen Fortuna, ihre praktische Verfügbarkeit, bedingt, dass der Mensch als Bezwinger der Fortuna und so gleichsam als Herr seines Schicksals reüssieren kann. In diesem Sinne postuliert Sallust, um ihn stellvertretend für eine allerorten sich findende Meinung zu zitieren, zu Beginn seiner Epistulae ad Caesarem (1.2), dass »fabrum esse suae quemque fortunae«19. Wenn zutrifft, dass jeder – zumindest prinzipiell – seines Glückes Schmied ist, harrt indes die Frage, mit Hilfe welcher Praxis genau sich Fortuna in diesem Sinne beeinflussen lässt, noch einer detaillierten Antwort. Diesbezüglich lässt sich für das römischen Denken eine klare Alternative konstatieren, die Alternative zwischen einer, wie man in Abwandlung des von Hermann Lübbe im Rahmen seiner Religionsphilosophie kreierten Terminus »Kon­tin­genz­be­ wäl­ti­gungs­pra­xis«20 sagen könnte, ciceronischen Fortunabewältigungspraxis, der Strategie einer gleichsam direkt ansetzenden Fortunabeeinflussung qua fortitudo, und einer senecaischen Fortunabewältigungspraxis, der stoischen Strategie einer gleichsam indirekt operierenden Fortunavermeidung qua prudentia. Gemäß dem erstgenannten Ansatz kann Fortuna durch fortitudo, demnach durch eine der vier antiken Kardinaltugenden, direkt attackiert und gleichsam in die Knie gezwungen werden. Unzählig sind die diesem Rezept entsprechenden Sentenzen und Maximen in der römischen Literatur, wonach Fortuna stets auf Seiten der Tapferen stehe: »Fortis Fortuna adiuvat«, heißt es bei Terenz (Phormio I.4.26). »Audentes fortuna iuvat«, heißt es bei Vergil (Aeneis X.284). Im gleichen Sinne zeigt sich Livius in seiner Römischen Geschichte (VIII.29.5) überzeugt, dass »eventus docuit fortes fortunam iuvare«21. Insbesondere für Ciceros Tusculanae Disputationes lässt sich nachweisen, inwiefern diese direkte Fortunabeeinflussung der menschlichen virtus im 18 Doren (1922/23), 84. 19 Sallust, Werke, 318. 20 Lübbe (1986). 21 Livius, Römische Geschichte, 190.

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Sinne von fortitudo stets die Dominanz über Fortuna zubilligt. Würde diese Suprematie der fortitudo hingegen geleugnet, so heißt es in den Tusculanae Disputationes (V.2) unterstelle man, dass Tugenden wie fortitudo »den verschiedenen und ungewissen Schicksalsschlägen unterworfen«22 seien, dann müssten wir »zu Gebeten an die Götter unsere Zuflucht nehmen« (V.2)23. Schon die Diskreditierung solcher Gebete als Ausflucht gibt hinreichend zu erkennen, dass Cicero derartigen Zweifeln an der praktischen Verfügbarkeit der Fortuna nichts abgewinnen kann: »Denn wenn es überhaupt eine Tugend gibt …, dann hat sie alles, was einem Menschen widerfahren kann, unter sich, schaut darauf herab und verachtet die menschlichen Schicksalsschläge« (Tusc. V.4)24. Dem vir virtutis gelingt es dank seiner fortitudo stets, Fortuna zu übertrumpfen. Nun lässt sich für das römische Denken aber noch eine zweite Weise der Fortunabewältigungspraxis identifizieren, welche weniger die fortitudo als vielmehr eine andere der antiken Kardinaltugendenden, nämlich die prudentia, für die angemessenste Rezeptur gegen die Unbilden einer adversa fortuna hält. Die römische Stoa und insbesondere Seneca schlagen eine gleichsam indirekte Strategie im Umgang mit Fortuna vor. Der stoische Weise macht sich dank prudentia von den Begleiterscheinungen der Fortuna, ihren Wohltaten ebenso wie ihren Zumutungen, unabhängig. Offenkundig ist es diesem Modell weniger um eine direkte Unterwerfung oder Zähmung der Fortuna zu tun, sondern mehr um eine möglichst geschickte Vermeidung des Kontakts mit ihr. Während für Cicero die fortitudo unmittelbar auf die Fortuna einwirkt, werden im stoischen Modell Nutzen und Kosten des Wirkens der Fortuna gleichsam externalisiert, sodass die einzig zählenden, inneren Güter von dem Walten der Fortuna unbehelligt bleiben. Nicht eine aktive Beeinflussung der Fortuna, sondern intellektuelle Distanzierung von den korrumpierenden Effekten einer prospera fortuna wie von den Unbilden einer adversa fortuna verordnet eine solche Sichtweise. Dieses stoische Konzept der Fortunavermeidung lässt sich exemplarisch dem Ende von Senecas Schrift De providentia entnehmen: Keine Waffe sei der Fortuna gegeben, so schreibt Seneca dort, mit deren Hilfe sie die feste Burg einer tranquillitas animi erobern könne: »Contemnite fortunam: nullum illi telum quo feriret animum dedi« (De prov. VI.6)25. Welche Tugend auch immer diese beiden Varianten römischer Fortunabewältigungspraxis präferieren, beide Ansätze setzen die grundsätzliche Möglichkeit einer praktischen Verfügbarkeit der Fortuna durch wie auch immer 22 Cicero, Tusculanae Disputationes, 397. Im Original heißt es: »sin autem virtus subiecta sub varios incertosque casus famula fortunae est … « (ibidem, 378). 23 Ibidem, 379 f.: »vereor ne non tam virtutis fiducia nitendum nobis ad spem beate vivendi quam vota facienda videantur«. 24 Ibidem, 381. Im Original heißt es: »illa enim, si modo est ulla virtus …, omnia, quae cadere in hominem possunt, subter se habet eaque despiciens casus contemnit humanos … « (ibidem, 380). 25 Seneca, De otio, De Providentia, 62.

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aufzufassende Fertigkeiten offenkundig voraus. Die praktische Verfügbarkeit der Fortuna wird prinzipiell für gänzlich unbestreitbar gehalten und freilich dann in den zwei beschriebenen Weisen konkretisiert. Wenn das Andenken der Göttin Fortuna das römische Alltagsleben in kultureller wie in religiöser Hinsicht stark prägt, wenn römische Geschichtsschreibung, Philosophie und Literatur die Göttin Fortuna stets in einer ganz bestimmten Weise charakterisieren, wenn sodann unterstellt wird, die potenziellen Wohltaten einer zwar theoretisch unberechenbaren, wohl aber praktisch verfügbaren Fortuna seien durch bestimmte Tugenden oder Fertigkeiten zu erringen, dann liegt für das Vorhaben einer ideengeschichtlichen Kontextualisierung des in der Renaissance formulierten Topos virtù vince fortuna zwangsläufig die Frage nahe, wie sich jener Topos zu den entsprechenden Ansichten der römischen Antike verhält. Stellt dieser Topos lediglich die Übertragung lateinischen Gedankenguts in die vernakulare Sprache einer anderen Zeit dar? Oder lässt sich ein markanter Bedeutungswandel registrieren? Bevor wir uns derartigen Fragen sinnvoll zuwenden können, müssen wir uns zunächst noch über das Fortleben der Fortuna nach dem Niedergang ihres paganen Entstehungskontextes verständigen. Schließlich gehört die Zeit zwischen Spätantike und Frührenaissance nicht minder zur Vorgeschichte unseres Topos als die römische Antike. Dabei wäre die Vermutung naheliegend, dass die römische Göttin Fortuna im Zeitalter der endgültigen kulturellen und religiösen Durchsetzung des christlichen Monotheismus, der doch wohl keine Götter neben dem einen Gott zulassen kann, verdrängt wird oder in Vergessenheit gerät. Allein, das Gegenteil trifft zu: Fortuna ist in der Kultur des christlichen Mittelalters seit der Zeit der frühen Kirchenväter kaum minder präsent als im römischen Altertum. Alfred Doren diagnostiziert eine kulturelle Omnipräsenz der Fortuna auch und gerade im Mittelalter. An den »Schauseiten mittelalterlicher Kathedralen«26, in »weltabgelegenen Schlössern«27 sowie in einer Fülle literarischer Quellen und alltagsgeschichtlicher Gegenstände sei Fortuna auch nach der Antike noch zu entdecken. Wie aber, so fragt Doren angesichts dieses Befundes provokativ, kam »Saul unter die Propheten«28, »wie das Symbol eines heidnisch-antikischen Götter- und Fabelwesens in den christlichen Bilder- und Vorstellungskreis«29? Die sich in derartigen Formulierungen artikulierende Irritation resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die patristischen Schriften unzweideutig die Position einer, wie H. R. Patch es formuliert, »annihilation of Fortuna«30 zu 26 27 28 29 30

Doren (1922/23), 71. Ibidem, 72. Ibidem, 72. Ibidem, 72. Patch (1922a), 180.

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erkennen geben und damit den Weg zu einer mittelalterlichen Thematisierung der Fortuna gerade zu versperren scheinen. Laktanz’ Bemerkung in De falsa sapientia philosophorum ist in dieser Hinsicht repräsentativ: »Fortuna ergo per se nihil est« (Div. inst. III.29)31. Am wirkungsmächtigsten für die spätantik-christliche annihilatio fortunae dürften indes die Schriften des Augustinus gewesen sein: Eine Göttin Fortuna zu apostrophieren, dies gilt Augustinus, daran lässt seine Kritik des antiken Polytheismus im vierten Buch von De Civitate Dei keinen Zweifel, als mit dem christlichen Glauben völlig unvereinbar. Der eine Gott und seine providentia wirken für Augustinus ohne Umwege über Fortuna direkt auf die Welt ein, in einer Weise, die uns zwar verborgen ist, an der wir mitunter auch verzweifeln mögen, an deren Weisheit und Güte im Hinblick auf das für den Gläubigen allein entscheidende ewige Leben aber kein Zweifel sein kann. Für Augustinus ist es schlichtweg Häresie, von Fortuna zu sprechen. Augustinus wendet sich aber nicht nur gegen die antike Präsumtion einer Göttin namens Fortuna. Die römische Einschätzung der virtus als einer Kraft, welche über eine vermeintlich existierende Fortuna praktisch verfügen kann, lehnt Augustinus nicht minder energisch als unerhörte Selbstüberhebung des Menschen ab. Was der Mensch ist, ist er nur dank göttlicher Gnade, nicht aufgrund seiner eigenen Fähigkeiten und des eigenmächtigen Vertrauens auf diese. Virtus und Fortuna sind für Augustinus keine Göttinnen, Tugenden und Glückseligkeit sind vielmehr Gaben des einen Gottes.32

31 Laktanz, De falsa sapientia philosophorum, 440. 32 Auf die ikonologischen Folgelasten der augustinischen Vorstellung von Tugenden als Ausfluss göttlicher Gnade verweist Erwin Panofsky. Bildliche Darstellungen einer Tugend schlechthin, künstlerische Darstellungen eines, wie man sagen möchte, »Kollektivsingulars« (R. Koselleck) der Tugend, welcher als eine dem Menschen anthropologisch zustehende Möglichkeit gedacht wird, finden sich im Unterschied zu Darstellungen einzelner Tugenden laut Panofsky erst ab der Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Begriff der Tugend schlechthin sei ein »spezifisch unmittelalterlicher«, so schreibt Panofsky. Vergleiche hierzu Panofsky (1930), 166. Unabhängig vom Thema der Herkules-Allegorie erwähnt Panofsky diesen Gedanken eines Wandels von den mittelalterlichen virtutes zu einer für die Renaissance spezifischen virtus schlechthin auch in seiner Untersuchung über die Ikonographie von Corregios Camera di San Paolo: »During the Middle Ages the problem Virtue vs. Fortune lost all its urgency because both adversaries had been deprived of their independence, not to say their identity. … The Renaissance … revived both the ideas of Virtus as the sum total of purely human achievement and the idea of Fortuna as a sovereign and unpredictable mistress of human destiny«. Vergleiche hierzu Panofsky (1961), 62. In beiden Schriften unterstellt Panofsky somit eine für das Denken der Renaissance konstitutive Dichotomie von Fortuna und Tugendhaftigkeit schlechthin: »Die ›Virtus‹, für die das mittelalterliche Moralsystem keine eigentliche Stelle gehabt hatte, wird jetzt zu dem, was den Menschen wahrhaft zum Menschen macht …, ja sie wird wieder das, was sie im Altertum gewesen war: ›la domitrice della Fortuna‹: denn während das mittelalterliche Denken sich einen ›Sieg‹ über das von Gott mit der wahllosen Verteilung der irdischen Güter beauftragte ›Glück‹ nur in der Weise vorstellen konnte, dass der fromme Mensch von vornherein auf diese Güter verzichtet … ist die Renaissance zu der Überzeugung gelangt, dass der Tugendhafte der

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Wäre mit Augustinus die geistige Entwicklung des Christentums zum Stillstand gekommen, ließe sich die kulturelle und intellektuelle Omnipräsenz der Fortuna im römischen Altertum wie zugleich in der Renaissance lediglich als eine sprunghafte Überwindung einer christlichen annihilatio fortunae begreifen. Aber Augustinus repräsentiert keinesfalls zur Gänze die spätantike Behandlung der Fortuna, und diese Tatsache ist entscheidend dafür, dass der Weg zu einer mittelalterlichen Behandlung der Fortuna gerade nicht blockiert wurde. In der um 524 n. Chr. verfassten Schrift De Consolatione Philosophiae des Boethius findet sich ein der theologischen Position des Augustinus ganz entgegen gesetzter Versuch formuliert, göttliche providentia und Fortuna gleichsam auszusöhnen. Zwar handelt es sich bei dem Autor dieser Schrift um einen Angehörigen des römischen Hochadels; aber De Consolatione Philosophiae ist eben auch das Werk eines getauften Christen, der, Opfer einer politischen Intrige, auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartet und dabei nun über das Elend des menschlichen Daseins räsonniert.33 Nun kann und soll hier nicht die äußerst verzweigte Argumentationsstruktur von Boethius’ Schrift rekonstruiert werden.34 Deren für unsere Fragestellung allein entscheidende These besteht, so lässt sich resümieren, in einer christlichen Instrumentalisierung der paganen Instanz der Fortuna. Erscheint die Fortuna am Beginn von De Consolatione Philosophiae, wobei sie sogar als eine der dramatis personae selbst auftritt, dem wehklagenden Menschen als ungerechte Tyrannin, die Gottes Gerechtigkeit Hohn spricht, so gibt sie sich schließlich dem einsichtigen Gläubigen als ancilla Dei, als Werkzeug Gottes, zu erkennen. Die historische Wirkungsmächtigkeit der Schrift des Boethius im Hinblick auf unser Thema ergibt sich aus zweierlei: Boethius konzediert einerseits und im Gegensatz zu Augustinus das schlichte Faktum der Existenz der Fortuna. Andererseits beharrt er auf der providenztheologischen Überlegung, wonach es Gott mit seinem »Steuerruder der Güte«35 (Cons. III.12) ist, durch den »die Weltmaschine fest und unzerstört erhalten wird« (III.14)36.

Glücksgöttin ihre Gaben unmittelbar abzwingen kann, – ›velis nolisve‹, wie es auf einer Medaille heißt«. Vergleiche hierzu Panofsky (1930), 164 f. 33 Vergleiche dazu die Bemerkung von Jerold Frakes: »The vast, polemical body of secondary literature concerning Boethius’ Christianity need not be summarized here. Modern scholarship has determined that Boethius was the author of the Christian theological tractates associated with his name and that he was a Christian« (Frakes [1988], 54). 34 Einen solchen Versuch habe ich unternommen in Vogt (2011), 546–554. 35 Boethius, Trost der Philosophie, 155. Im Original ist von »bonitatis clavo« die Rede (ibidem, 154). 36 Ibidem, 155. Im Original heißt es: »mundana machina stabilis atque incorrupta servatur … « (ibidem, 154).

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Dieser theologisch approbierten Assistentin Gottes eignen nun zwangsläufig nicht mehr diejenigen Wesenszüge, welche sich der unberechenbaren und theoretisch unzugänglichen, indes dem Menschen potenziell auch wohlgesonnenen, vor allem aber praktisch verfügbaren Göttin der römischen Welt nachweisen lassen: Fortuna als Gehilfin Gottes ist erstens nicht mehr in der Lage, über die Zuweisung ihrer willkürlichen Launen in einer theoretisch unzugänglichen Weise autark zu entscheiden. Boethius versteht die Fortuna zweitens nicht als eine wohlgesonnene oder gütige Bundesgenossin des Menschen und seiner irdischen Bemühungen. Daher auch kann ihm, das ist schließlich der dritte Unterschied zwischen klassisch-römischer und boethianischer Fortuna, der angemessene praktische Umgang des Menschen mit der Fortuna nicht in dem Versuch bestehen, durch eigenes Zutun eine prinzipiell verfügbare Fortuna gemäß den eigenen Intentionen zu beeinflussen, sondern einzig darin, im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung in ihr praktisch unverfügbares Wirken einzuwilligen. Mit und seit Boethius’ spätantiker Charakterisierung der Fortuna wird die Fortuna nicht nur theoretisch wie ikonologisch ihrer Autarkie, ihrer theoretischen Unzugänglichkeit sowie schließlich ihrer Wohlgesonnenheit beraubt. Es ändert sich auch die Auffassung von der Leistungsfähigkeit der menschlichen virtus in der Auseinandersetzung mit dieser Fortuna. Boethius widerspricht der Annahme einer praktischen Verfügbarkeit der Fortuna durch die Anstrengungen der virtus, er empfiehlt vielmehr die Einwilligung in die von einer praktisch unverfügbaren Fortuna inszenierten Schicksalsschläge. Statt der Unterwerfung einer praktisch verfügbaren Instanz fordert Boethius Einwilligung in eine praktisch unverfügbare. Diese boethianische Auffassung der Fortuna war keine auf die spätantike Welt begrenzte Erscheinung, vielmehr hat sie, einsetzend mit der Karolingerzeit37, auf die nachfolgenden Jahrhunderte eine ungeheure geistige Wirkung entfaltet, ja diese mindestens ebenso geprägt wie die augustinische annihilatio fortunae. In diesem Sinne veranlasste die Alternative zwischen einer boethianischen und einer augustinischen Bestimmung der Fortuna samt ihrer sie jeweils fundierenden »Ökonomien der Geschichte«38 den englischen Germanisten F. P. Pickering dazu, in zahlreichen und unaufhörlich erneuerten Anläufen die mutige These zu formulieren, die gesamte mittelalterliche Geschichtsschreibung bis in die Epoche der frühen Neuzeit hinein sei wesentlich als ein von der 37 Vergleiche dazu die bedeutenden Arbeiten von P. Courcelle: Courcelle (1967), Courcelle (1971). Die Auffassung der Fortuna in der Karolingerzeit illustriert am Beispiel Reginos von Prüm auch H. Löwe: »Regino … hat … etwas gespürt von der Macht der über den Menschen hinwegrollenden Geschichte, von Verkettungen der Ereignisse, die der beste Wille der besten Köpfe nicht rückgängig machen konnte, und aus dieser lebendigen Geschichtserfahrung ist ihm die Fortuna, die er bei Justinus fand, wieder eine Macht geworden. Diese Fortuna stand freilich durchaus in einem Unterordnungsverhältnis zur Providentia« (Löwe [1952], 115 f.). 38 Pickering (1967), 62.

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theoretischen Alternative »Augustinus oder Boethius?« geprägter Diskurs zu verstehen39: »There are therefore two distinct mediaeval philosophies of history: Christian ›Heilsgeschichte‹ (Augustine), and history pure and simple as it is written ›after Boethius‹ «40. Ich kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht einmal ansatzweise die Frage diskutieren, inwiefern sich Pickerings idée directrice bestätigen und für die Zwecke einer umfassenden Ideengeschichte der Fortuna fruchtbar machen lässt. Immerhin will ich am Ende dieses ersten Abschnitts aber nicht darauf verzichten, drei prominente Beispiele zu erwähnen, welche das Fortleben der boethianischen Fortuna-Auffassung nach der Spätantike hinreichend belegen: So lässt sich zeigen, dass die in der scholastischen Theologie entwickelten Lehren des Zufalls insofern an die boethianische Lösung des »Fortunaproblems« anknüpfen, als der Zufall in Form der beiden Termini casus oder fortuna als Instrument der göttlichen Vorsehung mediatisiert wird, mithin seine schlichte Existenz durchaus konzediert wird. Die Vermutung, die scholastische Theologie des Mittelalters perpetuiere die augustinische oder patristische annihilatio fortunae, trifft daher durchaus nicht zu.41 Freilich, als autark will Thomas diesen Zufall niemals charakterisiert wissen: Selbst wenn aus menschlicher Perspektive der Zufall als wirklich erscheinen mag, gilt aus der Perspektive Gottes doch: Nihil fit casu in mundo. Eine mittelalterliche Versöhnung von Fortuna und providentia im Sinne der von Boethius entwickelten Argumentation lässt sich nicht nur für die Theologie nachweisen. Sie prägt auch die Literatur des ausgehenden Mittelalters bis an die Schwelle zur Renaissance, wie ein nur momentartiger Blick auf Dantes Göttliche Komödie und Petrarcas De remediis utriusque fortunae zu bestätigen vermag: Im Siebten Gesang des Inferno kommt Dante ausdrücklich auf Fortuna zu sprechen. Dante interpretiert die Fortuna ganz im Sinne des Boethius nicht als eine der göttlichen Vorsehung widersprechende Instanz, sondern als die von Gott eingesetzte »general ministra e duce«42 (VII.78) ebenjener Vorsehung. Auf eben diese Formulierung gründete Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance in Italien die These, dass bei Dante die biblische Lehre von der Weltlenkung stark zurücktrete. Die providentia specialis, »das ganze Détail der Weltregierung«, so Burckhardt, sei bei Dante bereits jenem dämonischen Wesen der Fortuna überlassen, »welche für nichts als für Veränderung, für das Durcheinanderrütteln der Erdendinge zu sorgen hat und in indifferenter

39 Vergleiche dazu die folgenden Arbeiten: Pickering (1967/1976), Pickering (1966), Pickering (1980), Pickering (1965). 40 Pickering (1965), 2. 41 Klar arbeitet dies Lhotzky (1910) heraus. 42 Zitiert nach: Dante Alighieri, La Commedia, 110.

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Seligkeit den Jammer der Menschen überhören darf«43. Wenn sich Dante dennoch einen starken religiösen Glauben bewahrt hatte, dann konnte er das, so Burckhardt, einzig deshalb, weil er die eigentliche Bestimmung des Menschen ohnehin in ein Jenseits verlagert hatte.44 Auch in Petrarcas 1366 fertiggestellter Schrift De remediis utriusque fortunae, dem »Grundbuch der werdenden Renaissance« (K. Burdach)45, bleibt die Fortuna trotz aller für Petrarcas Schrift grundsätzlich charakteristischen Ambivalenz zwischen antiken und christlichen Gedankengängen letztlich in die christliche Vorsehung eingebettet.46 Dieser providentiellen Einbettung der Fortuna entnimmt Petrarcas Moralistik Konsequenzen, die für seine Auffassung der virtus nicht folgenlos bleiben können: Petrarca hat, wenn er von virtus in einem entschieden christlichen Sinne spricht, das Vertrauen auf Gottes gütige Vorsehung und die Einwilligung in diese als Ideal vor Augen, nicht aber die Konzentration auf weltliche Belange und auch nicht die ihm als Häresie geltende Ansicht, über diese weltlichen Belange durch ein Vermögen welcher Art auch immer praktisch verfügen zu können. Ist die Fortuna als ancilla Dei zu verstehen, dann, so folgert Petrarca konsequent, ist nicht »trotziges Sichaufbäumen« verlangt, gleichviel, ob die Wankelmütigkeiten der Fortuna ins Leere laufen oder durch direkten Eingriff aktiv beeinflusst werden sollen. Vielmehr gilt Petrarca, wie es Heitmann umschreibt, »rückhaltlose Fügung in Gottes Geschick«47 als Verkörperung der höchsten dem Menschen möglichen virtus, wie die folgende Passage aus De remediis utriusque fortunae (LVIII) besonders klar verdeutlicht: »Illum mortales agere

43 Burckhardt (1860), 539. 44 Burckhardt scheint mir freilich in seinem Kommentar zu übersehen, dass die »general ministra e duce« bei Dante keinesfalls autark verfährt, sondern ganz im Sinne des boethianischen Modells eingespannt bleibt in eine göttliche Vorsehung. 45 Anders als Konrad Burdach hat Marlene Meuer nicht mit Anerkennung, sondern mit einer unverhohlenen Note der Geringschätzung im Zusammenhang ihrer Diskussion von Petrarcas De remediis utriusque fortunae von einer »moralphilosophischen Hausapotheke im frühneuzeitlichen Deutschland« gesprochen. Vergleiche Meuer (2004), 57. 46 Meine Interpretation von Petrarcas De remediis utriusque fortunae ist stark der Studie Klaus Heitmanns verpflichtet, welche die christlichen Elemente von Petrarcas Fortuna-Bild in den Vordergrund stellt. Mir ist bewusst, dass mich diese Verpflichtung in Gegensatz zu anderen Interpretationen bringt, unter anderem zu der Studie von Eckhard Keßler, deren Argumentation in dem Kapitel »Philosophiebegriff und Geschichtsverständnis: Die Fortuna-Theorie« freilich unentschieden bleibt zwischen einer Deutung von Petrarcas Fortuna-Begriff im Sinne einer Gleichsetzung von fortuna und providentia einerseits, der Annahme einer praktischen Verfügbarkeit der Fortuna bei Petrarca andererseits. Vergleiche hierzu Keßler (1978), 141–158; Heitmann (1958). Hinsichtlich Petrarcas Verständnis des Verhältnisses von Fortuna, göttlicher Gnade und menschlicher Tugend ähnelt die Interpretation von Charles Trinkaus derjenigen Heitmanns. Vergleiche Trinkaus (1970), 3–50. 47 Heitmann (1958), 84.

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sinite, et videte quid agitur et laudate; sinite opificem operari, et unius artificii perito homini exhibendam reverentiam non negetis«48.

2. Wandel der Fortuna: Der Fortuna-Diskurs im Cinquecento Die Ausführungen des ersten Abschnitts dienten vorrangig und gemäß den eingangs geäußerten methodischen Überzeugungen dem Zweck, die für das Denken der Humanisten des Quattrocento als konstitutiv eingestufte Dichotomie von virtus und Fortuna ideengeschichtlich zu kontextualisieren. Nur eine derartige Kontextualisierung, so lautete die zugrunde liegende Überzeugung, eine Kontextualisierung, welche die gleichsam zwischen Cicero und Petrarca formulierten Auffassungen der Fortuna typologisch zu ordnen erlaubt, ermöglicht zu verstehen, was dem Zeitalter der Renaissance der Topos virtù vince fortuna war und sein konnte. Erst jetzt nämlich, nach all den bisherigen Vorarbeiten, lässt sich der Gehalt dieses Topos zur Fortuna-Konzeption und zum Tugendbegriff der römischen Antike ebenso in Bezug setzen wie zu jener augustinischen annihilatio fortunae und zu dieser boethianischen Versöhnung von Fortuna und providentia, deren geistige Wirksamkeit sich bis an die Schwelle zur Renaissance nachweisen ließ. Was zunächst den lateinischen Begriff der virtus angeht, so lässt sich feststellen, dass die italienischen Humanisten des Quattrocento einem »Ciceronian concept of virtus«49 verpflichtet blieben. Demnach müssen von einer tugendhaften Person nicht nur – in welcher Gewichtung und Rangfolge auch immer – die vier antiken Kardinaltugenden iustitia, prudentia, temperantia und fortitudo im Einzelnen beachtet werden. Vielmehr sollen sich alle Lebensäußerungen des vir virtutis als Ausdruck höchster Bildung und Tugendhaftigkeit verstehen lassen. Ein »Kollektivsingular« (R. Koselleck) der Tugendhaftigkeit schlechthin, so möchte man sagen, wird apostrophiert, welcher die Ausdrucksformen einzelner Tugenden gleichsam bündeln soll.50 Diese Wiederanknüpfung an einen antiken Begriff der virtus stellt ganz unbestreitbar einen Bruch mit der augustinischen Konzeption des Verhältnisses von göttlicher Gnade und menschlichen Kompetenzen dar. In Abwehr der augustinischen Überzeugung von der menschlichen Sündhaftigkeit und der unvermeidbaren Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen, die höchsten Ideale eines diesseitigen Lebens zu realisieren, insistieren die humanistischen Erziehungstraktate des 15. Jahrhunderts allesamt darauf, so reformuliert es Skinner, »that men do in fact have the power to attain the highest excellence«51, 48 Petrarca, Opera, 177. 49 Skinner (1979), 88. 50 Vergleiche dazu die im Anschluss an Panofsky formulierten Erläuterungen in Anmerkung 31. 51 Skinner (1979), 93.

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insistieren somit auf der für den römischen Fortuna-Diskurs zentralen Annahme, wonach die Fortuna der menschlichen virtus praktisch verfügbar ist. Diese Rezeption der römisch-antiken Einschätzung des Kräfteverhältnisses von virtus und Fortuna hat Folgen für die Charakterisierung der Fortuna im Zeitalter der Renaissance: Erneut erscheint die Fortuna nunmehr nicht nur als eine menschlicher virtù praktisch verfügbare Macht, sondern auch als eine theoretisch unzugängliche, dabei aber dennoch wohlgesonnene Instanz. Hingegen findet Boethius’ Versuch einer Versöhnung von Fortuna und providentia durch die Mediatisierung der Fortuna als ancilla Dei im Quattrocento ebenso wenig mehr theoretische Akzeptanz, wie eine annihilatio fortunae im augustinischen Sinne noch als das zeitgemäße theoretische Mittel gilt, um das Verhältnis von virtù und Fortuna zu bestimmen. Die Vorgeschichte des Topos virtù vince fortuna verdeutlicht somit die Umrisse dessen, was mit diesem Topos im Zeitalter der Renaissance überhaupt gesagt werden konnte. Ungeklärt ist hingegen noch, welche Autoren als Repräsentanten dieses Topos im Quattrocento zu gelten haben und inwiefern sie das, was gemäß jener semantischen Grenzen, wie sie sich aus unserer ideengeschichtlichen Kontextualisierung ergeben, mit diesem Topos grundsätzlich gesagt werden konnte, auch tatsächlich sagten. Diesbezüglich will ich im Folgenden auf einige besonders aussagekräftige Autoren, Werke und Passagen verweisen: Im »Prologo« seiner Schrift Della famiglia lässt Leon Battista Alberti keine Zweifel an seiner Überzeugung, dass Völker wie Individuen die Schmiede ihres Glücks sind und dass es folglich nicht eine außermenschliche Instanz namens Fortuna, sondern eine diesseitig zu praktizierende virtù ist, die über Wohl und Wehe einer Familiendynastie, einer politischen Institution oder auch eines individuellen Lebens entscheidet: Statuiremo noi in la temerità della fortuna l’imperio, quale e’ maggiori nostri piú con virtù che con ventura edificorono? Stimeremo noi suggetto alla volubilità e alla volontà della fortuna quel che gli uomini con maturissimo consiglio, con fortissime e strenuissime opere a sé prescrivono? E come diremo noi la fortuna con sue ambiguità e inconstanze potere disperdere e dissipare quel che noi vorremo sia piú sotto nostra cura e ragione che sotto altrui temerità? Come confesseremo noi non essere piú nostro che della fortuna quel che noi con sollicitudine e diligenza delibereremo mantenere e conservare? Non è potere della fortuna, non è, come alcuni sciocchi credono, cosí facile vincere chi non voglia essere vinto. Tiene gioco la fortuna solo a chi se gli sottomette. … Cosí adunque si può statuire la fortuna essere invalida e debolissima a rapirci qualunque nostra minima virtù, e dobbiamo giudicare la virtù sufficiente a conscendere e occupare ogni sublime ed eccelsa cosa, amplissimi principati, suppreme laude, eterna fama e immortal gloria. E conviensi non dubitare che cosa qual si sia, ove tu la cerchi e ami, non t’è piú facile ad averla e ottenerla che la virtù. Solo è sanza virtù chi nolla vuole. … Saremo adunque sempre di questa opinione, nella quale credo siate ancora voi, e’

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quali tutti siete prudenti e savi, che nelle cose civili e nel vivere degli uomini piú di certo stimeremo vaglia la ragion che la fortuna, piú la prudenza che alcuno caso52.

Für Alberti ist die menschliche virtù dem Wirken der Fortuna eindeutig überlegen. Mehr noch, virtù zieht eine wohlgesonnene Fortuna an, während der Mangel an virtù ein böses Geschick geradezu provoziert: Co’ Macedoni fu seconda la fortuna e prospera quanto tempo in loro stette l’uso dell’armi coniunto con amor di virtù e studio di laude. Vero, doppo la morte d’Allessandro Grande, subito ch’e’ príncipi macedoni cominiciarono ciascuno a procurare e’ suoi propri beni, e aversi solliciti non al publico imperio, ma curiosi a’ privati regni, fra loro subito nacquero discordie, e fra essi cuocentissime fiamme d’odio s’incesoro, e arsero e’ loro animi di face di cupiditate e furore, ora d’ingiuriare, mo di vendicarsi…53.

Diese Heroisierung der menschlichen Fähigkeit, Fortuna in grenzenloser Weise beeinflussen zu können, wie sie einem bei Alberti exemplarisch begegnet, paraphrasiert Eugenio Garin mit den Worten: »L’uomo è stesso cagione dei suoi mali e dei suoi beni. Sempre la virtù vince la fortuna. E virtù significa qui umana virtù, operosità terrene, ›la buona e santa disciplina del vivere‹ «54. Alberti ist aber gewiss nicht der einzige Autor des Quattrocento, dessen Schriften sich das Pathos einer unbeschränkten Suprematie der menschlichen virtù über die Fortuna entnehmen lässt. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Somnium de fortuna von Aeneas Sylvius Piccolomini, auf jene Reflexion über Wesen und Macht der Fortuna in Briefform, die der spätere Papst Pius II. 1444 verfasst hatte: Dem Autor erscheinen in seinem Traum das Reich der Fortuna und schließlich diese selbst. Auf die an die Fortuna gerichtete Frage des Autors, ob es denn eine menschliche Kraft gebe, von der sie sich prinzipiell beeinflussen ließe, formuliert Fortuna den uns mittlerweile vertrauten Gedanken, dass sie den Tapferen hilfreich und gefügig sei, schwächliche Kreaturen aber verabscheue und bestrafe. Sinnbild einer die Fortuna bezwingenden fortitudo ist im Somnium de fortuna die Figur des triumphalisch in Neapel einziehenden Alfons von Aragon, welcher in einer diesbezüglich besonders aussagekräftigen Szene die Fortuna mutig am Schopfe packt und ihr gegenüber mit der selbstbewussten Attitüde des Siegers behauptet: »… capta es, sive velis sive nolis, ut me respicias oportet, satis mihi adversa fuisti. nunc alium vultum prebebis reor. aut mihi blanda eris, aut omnes tibi crines evellam. cur me fugis magnanimum pusillanimesque sectaris«55? Der fortitudo gelingt

52 Alberti (1969), 7, 10 und 11. 53 Ibidem, 5. 54 Ich zitiere hier nach Garin (1952), 76. Die Erstausgabe dieses Werkes erschien zunächst in deutscher Sprache, war aber eine Übersetzung eines italienischen Manuskripts, welches schließlich auch im Italienischen erschien. 55 Piccolomini, Somnium de fortuna, 350.

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in dieser Szene, so möchte man sagen, die Transformation der Fortuna in die Occasio.56 Schließlich sei noch ein drittes Beispiel erwähnt, um die bislang umrissene Deutung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna dem Quattrocento nachzuweisen. Ich entnehme dieses Beispiel Aby Warburgs Aufsatz »Francesco Sassettis letztwillige Verfügung«. Warburg untersucht dort ein von ihm recherchiertes und aufgetanes Dokument, ebenjene »letztwillige Verfügung«, die Francesco Sassetti 1488 vor Antritt einer Geschäftsreise nach Frankreich seinen beiden Söhnen hinterließ und in welcher er Regelungen für den hypothetischen Fall seines plötzlichen Ablebens traf, durchaus noch nicht in einem testamentarischen Sinne, wohl aber im Sinne einer Verfügung, die er, wie Warburg schreibt, als einen »klaren Verteidigungsplan«57 für die Sicherung der politischen und ökonomischen Stellung der Familie verstanden wissen wollte. In dieser Situation berief sich Sassettis »letztwillige Verfügung« auf Fortuna, um ein »Sinnbilde bewusster Energieentfaltung«58 zu beschwören, wie es bei Warburg heißt. Die Söhne eines Sassetti, so fordert der Vater, müssten sich jeder Launenhaftigkeit und Willkür der Fortuna stets als überlegen erweisen: Non so dove la fortuna ci aproderà che vedete nelle conversione et pericoli che noi ci troviamo (a Dio piaccia concederci gratia di pigliare porto di salute) et come ella si vada in qualunque modo dove mi capiti, vi comando et richiegho per quanto voi disiderate ch’io ne vada contento che la mia redità non rifiutate per nessuna cagione, quando bene vi lasciassi più debito che mobile, voglio che viviate et moiate in quella medesima fortuna, parendomi che così si richiegha al debito vostro. Difendetevi et aiutatevi valentemente et con buono animo immodo non siate giunti al sonno ne giudicati imbecilli o da poco…59.

Mit der Rückkehr der Medici nach Florenz im Jahre 1512 und spätestens mit dem Ende des Republikanismus in den oberitalienischen Stadtstaaten seit 1530 macht sich in den humanistischen Traktaten der Zeit jedoch eine ungleich defensivere Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen menschlicher virtù und Fortuna bemerkbar. Ein bemerkenswerter Wandel in der Geschichte unseres Topos ist zu registrieren, ohne dass dabei die römische Auffassung der Fortuna als autarke Instanz in Frage gestellt würde oder dem boethianischen

56 Vergleiche zu diesem Gedanken einer zunehmenden Vermengung der Fortuna mit der Occasio den Aufsatz von Frederick Kiefer: Kiefer (1979). Alessandro Scafi macht in der Einleitung des von ihm übersetzten und herausgegebenen Dialogo su un sogno darauf aufmerksam, dass Piccolomini in diesem 1453 entstandenen Werk Bernardino da Siena in einem fiktiven Gespräch gegen die Annahme einer autarken Fortuna an die Omnipotenz der göttlichen Providenz appellieren lässt, was die Argumentation des Somnium de fortuna geradezu umkehrt. Vergleiche hierzu Piccolomini, Dialogo su un sogno, 95–101. Ausführlich wird die Entwicklung der Fortuna-Thematik in Piccolominis Schriften diskutiert von Stefano Colonna: Colonna (1989). 57 Warburg (1907), 140. 58 Ibidem, 153. 59 Zitiert nach ibidem, 141.

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Modell einer Einbettung der Fortuna in die göttliche providentia nun wieder das Wort geredet würde. Für diesen Wandel stehen die beiden größten politischen Theoretiker und Historiker, die Florenz im 16. Jahrhundert hervorbrachte: Niccolò Machiavelli und Francesco Guicciardini. Machiavelli betont in allen sich der Diskussion der Fortuna widmenden Passagen seiner Schriften stets, dass Fortuna zwar gezähmt und gesteuert werden kann, niemals aber in unbeschränkter Weise verfügbar ist. Einen endgültigen Sieg der virtù über die Fortuna hält Machiavelli für undenkbar. In diesem Sinne kommt Machiavelli in Il Principe an mehreren Stellen auf Fortuna zu sprechen. Besonders wichtig für unseren Zusammenhang ist die folgende Bemerkung in dem für unsere Diskussion einschlägigen Kapitel XXV: E’ non mi è incognito come molti hanno avuto e hanno opinione che le cose del mondo sieno in modo governate dalla fortuna e da Dio, che gli uomini con la prudenzia loro non possino correggerle, anzi non vi abbino remedio alcuno; e per questo potrebbono iudicare che non fussi da insudare molto nelle cose, ma lasciarsi alla sorte60.

Machiavelli widerspricht der referierten Ansicht. Allerdings verleitet ihn dies nicht im Umkehrschluss zu einer übertriebenen Einschätzung der Potenziale der virtù. Äußerst vorsichtig formuliert er, Fortuna sei zwar »arbitra della metà delle azioni nostre«61, immerhin aber überlasse sie die andere Hälfte unseren Entschlüssen und Handlungen. Nach dieser gleichsam paritätischen Gewichtung deutet Machiavelli für all jene Geschehnisse, welche nicht gänzlich dem Einfluss der Fortuna unterliegen, eine bestimmte Möglichkeit des menschlichen Einwirkens an. Zwar vermag die menschliche virtù keinesfalls alles so zu beeinflussen, wie es ihr beliebt. Sie kann Fortuna daher niemals endgültig überwinden oder vernichten. Aber die virtù kann die Fortuna doch immerhin dirigieren oder steuern, indem sie mit der Macht der Fortuna bei der Durchführung ihrer Taten rechnet und mental entsprechend disponiert ist. Machiavelli verdeutlicht diese These in Kapitel XXV durch folgendes Bild: E assomiglio quella a uno di questi fiumi rovinosi, che, quando s’adirano, allagano e’ piani, ruinano gli alberi e gli edifizii, lievono da questa parte terreno, pongono da quell’altra; ciascuno fugge loro dinanzi, ognuno cede allo impeto loro, sanza potervi in alcuna parte obstare. E benché sieno cosí fatti, non resta però che gli uomini, quando sono tempi quieti, non vi potessino fare provvedimenti, e con ripari e argini, in modo che, crescendo poi, o egli andrebbano per un canale, o l’impeto loro non sarebbe né sí licenzioso né sí dannoso. Similmente interviene della fortu60 Machiavelli, Il Principe, 190 f. Zumindest in diesem Zitat scheint sich Machiavelli nicht der Tatsache bewusst zu sein, dass der Fortuna-Begriff und der Schicksals-Begriff im Sinne von fatum oder sorte seit der Antike zwei zumindest theoretisch klar trennbaren Diskurstraditionen entstammt, wie sich etwa durch eine Kontrastierung des Tyche-Begriffs der griechischen Komödie (Menander) mit der Schicksalssemantik der Tragödie zeigen ließe. 61 Ibidem, 192.

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na; la quale dimostra la sua potenzia dove non è ordinate virtù a resisterle; e quivi volta li sua impeti dove la sa che non sono fatti gli argini e li ripari a tenerla62.

Eine ganz ähnlich lautende Einschätzung des Kräfteverhältnisses von menschlicher virtù und Fortuna finden wir auch in Machiavellis Discorsi. Das menschliche Leben kann die Herrschaft der Fortuna niemals überwinden, so heißt es auch in den Discorsi, wohl aber diese Herrschaft zähmen, indem es Fortuna in die Bahnen des eigenen Interesses lenkt und so die Überraschungseffekte der Fortuna minimiert. Was kann es angesichts einer solchen Einschätzung der Kräfte von virtù und Fortuna heißen, der virtù gemäß zu handeln? Machiavelli legt sich diesbezüglich in seinen Schriften niemals auf einen bestimmten Katalog von Tugenden fest. Die Summe der in den beiden bislang genannten Werken ausgesprochenen Empfehlungen läuft weniger auf die Lobpreisung einer bestimmten Verhaltensweise oder spezifischer Charakterzüge hinaus, insofern auch nicht auf eine Empfehlung einer bestimmten der vier antiken Kardinaltugenden, als vielmehr auf den Ratschlag, sich stets den Zeiten gemäß zu verhalten und insofern so, wie es angesichts der gegenwärtigen Umstände den größten Erfolg verspricht. Kurzum, Machiavelli rät zu einer wendigen Anpassung an die Zeitläufte, zu einer Verhaltensweise, welche Machiavelli zufolge allerdings sowohl aufgrund der Trägheit der menschlichen Natur, ihrer Neigungen und Antriebe, als auch wegen der begrenzten kognitiven Kompetenzen des Menschen, die Variabilität der Zeitläufte richtig einzuschätzen, nur bei den Wenigsten verfängt. Dieses Plädoyer für einen gleichsam opportunistischen Umgang mit Fortuna lässt sich nicht nur den beiden Hauptwerken Machiavellis, sondern besonders einprägsam auch dem Gedicht Di fortuna entnehmen, welches Machiavelli Giovan Battista Soderini widmete und das wohl um 1506, also noch vor seinen beiden Hauptwerken63, entstand und gemeinsam mit Dell’occasione, Dell’ambizione und Dell’ingratitudine Bestandteil des Capitoli-Zyklus ist.64 Die nicht nur darstellungsästhetisch innovative, sondern auch theoretisch höchst folgenreiche Pointe der in diesem Gedicht entwickelten Auffassung der Fortuna besteht darin, dass Machiavelli die Anzahl der Räder, mit denen sich Fortuna seit dem Mittelalter in Literatur und bildender Kunst traditionell dargestellt fand65, vervielfacht. Diese ikonologische Innovation bietet dem Menschen ganz neue praktische Möglichkeiten im Umgang mit der Fortuna:   Colui con miglior sorte si consiglia tra tutti li altri che ’n quell loco stanno che ruota al suo valor conforme piglia 62 63 64 65

Ibidem, 192. Vergleiche dazu Leeker (1989), 422. Vergleiche hierzu Hoeges (2006), 111 f. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Ernst Kitzinger. Vergleiche Kitzinger (1973).

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  perché li umor che adoperar ti fanno, secondo che convengon con costei, son cagion del tuo bene e del tuo danno;   non però che fidar si possa in lei né creder d’evitar suo duro morso suo duri colpi impetuosi e rei:   perché, mentre girato sei dal dorso di ruota per allor felice e buona, la suol cangiar le volte a mezzo el corso   e, non potendo tu cangiar persona né lasciar l’ordin di che ’l Ciel ti dota, nel mezzo del cammin la t’abbandona.   Però, se questo si comprende e nota, sarebbe un sempre felice e beato che potessi saltar di rota in rota;   ma, perché poter questo ci è negato per occulta virtù che ci governa si muta col suo corso el nostro stato66.

Was vom Menschen in der Auseinandersetzung mit den vielen Rädern der Fortuna gefordert ist, dies ist mithin der Versuch, so suggeriert Machiavellis Di fortuna, gleichsam vom Scheitelpunkt des einen Rades zu jenem des nächsten zu springen (»saltar di rota in rota«). Ein Mensch, der derart in der Lage wäre, sich ständig den Zeitläuften anzupassen, dem es gelänge, widrige Umstände stets zu vermeiden und sich justament so auf den unaufhörlich kreisenden Rädern der Fortuna zu positionieren, dass es ihm erspart bliebe, in die Tiefe eines Radumlaufes gerissen zu werden, weil der eigene Aufenthaltsort sich stets im Aufstieg oder ohnehin schon auf dem höchsten Punkt des Radumlaufs befände, dessen Position sich demnach, ruft man sich die Ikonographie mittelalterlicher Darstellungen von Fortuna-Rädern in Erinnerung, durch die Ortsangaben »regnabo« oder »regno« (im Unterschied zu »regnavi« oder »sum sine regno«) hinreichend definieren ließe, ein solcher Mensch, aber auch nur ein solcher, würde ständiges Aufenthaltsrecht auf den wechselnden Sonnenseiten des Lebens genießen. Allein, dies Hüpfen von Scheitelpunkt zu Scheitelpunkt der vielen Fortuna-Räder gilt Machiavelli allenfalls als hypothetische Möglichkeit. Die kognitive Beschränktheit des Menschen hinsichtlich der Bestimmung der zukünftigen Zeitläufte einerseits, die unvorteilhafte, gleichsam anthropologisch bedingte Starrköpfigkeit des Menschen andererseits, sie bewirken, dass Fortuna immer oder jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit die Überlegungen und Absichten 66 Zitiert nach: Hoeges 2006, 117. J. G. A. Pocock hat in seiner Studie The Machiavellian Moment Machiavellis Fortuna-Gedicht zwar erwähnt und zitiert, die eigentliche, mir theoretisch höchst bedeutsam erscheinende Pointe dieses Gedichts aber leider unkommentiert gelassen. Vergleiche Pocock (1975), 169.

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des Menschen konterkariert.67 Der unverhohlene Tonfall der Resignation, wie er uns in der folgenden Passage der Discorsi begegnet, markiert insofern einen deutlichen Bruch mit jener Zuversicht, wie sie noch den Fortuna-Diskurs des Quattrocento charakterisierte: Io ho considerato piú volte come la cagione della trista e della buona fortuna degli uomini è riscontrare il modo del procedere suo con i tempi: perché e’ si vede che gli uomini nelle opere loro procedono, alcuni con impeto, alcuni con rispetto e con cauzione. E perché nell’uno e nell’altro di questi modi si passano e’ termini convenienti, non si potendo osservare la vera via, nell’uno e nell’altro si erra. Ma quello viene ad errare meno, ed avere la fortuna prospera, che riscontra, come ho detto, con il suo modo il tempo, e sempre mai si procede, secondo ti sforza la natura 68.

Machiavellis Skepsis bezüglich des menschlichen Vermögens, auf die Fortuna praktisch einzuwirken, ist freilich keinesfalls gleichbedeutend mit einer Geringschätzung der Relevanz der Auseinandersetzung von virtù und Fortuna für ein gelungenes Leben. Dass sich der Mensch dem Konflikt zwischen virtù und Fortuna durch einen stoischen Rückzug in die Innerlichkeit entziehen oder sich durch eine christliche Hinwendung zur Transzendenz über diese Dichotomie erheben kann, dies kann Machiavellis diesseitsorientiertes Geschichtsund Menschenbild niemals zugeben. Machiavellis Denken ist und bleibt dem Diesseits, vor allem dem Erfolg in diesem Diesseits, völlig verpflichtet. Einzig im Zuge der Auseinandersetzung mit Fortuna kann sich, wenn überhaupt, so etwas wie ein gelungenes Leben ergeben. Auch für Guicciardini spielt die Fortuna eine theoretisch unverzichtbare Rolle. Freilich, was die Frage der praktischen Verfügbarkeit der Fortuna betrifft, hält Guicciardini weder die virtù des Quattrocento noch diejenige Machiavellis für ein geeignetes Antidot. Guicciardinis radikale Zweifel an den menschlichen Erfolgsaussichten im Duell mit Fortuna dürfen jedoch nicht zu dem Missverständnis führen, dieser denke die Fortuna erneut als in eine göttliche Vorsehung eingebettet und deute sie gerade deshalb als praktisch unverfügbar. Nein, auch Guicciardini versteht die Fortuna als autarke Instanz. Aber diese Instanz ist für Guicciardini derart übermächtig, dass der Mensch in das von ihr gestiftete, für menschliches Handeln unverfügbare Geschick nurmehr in einer Haltung der Resignation und ohne theologisches Mandat einwilligen kann.69 In diesem Sinne argumentiert Guicciardini noch einmal deutlich pessi67 Sehr schön bringt Jerrold Seigel das diese These fundierende Menschenbild Machiavellis auf den Punkt: » … Machiavelli’s most consistent deduction from the idea that those men are happy whose character fits the time was not that men should change to fit the times, but that they are unable to do so. The fundamental notion in Machiavelli’s theory of human action is not the flexibility of human nature but its rigidity. The man prudent enough to change his actions to suit the time will never be found«. Seigel (1973), 481. 68 Machiavelli, Discorsci, 408 f. 69 Mario Santoro weist im Guicciardini-Kapitel seines Werkes Fortuna, Ragione e Prudenza nella Civiltà Letteraria del Cinquecento überzeugend nach, dass einerseits diese »späte« Position

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mistischer als Machiavelli, so wenn er in seinem Spätwerk, der Storia d’Italia, auf die praktische Übermacht der Fortuna, welche alle menschlichen Pläne und Absichten konterkariert, verweist: Ma è grandissima (come ognuno sa) in tutte le azioni umane la potestà della fortuna maggiore nelle cose militari che in qualunque altra; ma inestimabile, immense, infinita ne’ fatti d’arme dove uno comandamento male inteso, dove una ordinanza male eseguita, dove una temerità, una voca vana, insino d’uno piccolo soldato, trasporta spesso la vittoria a coloro che pareano vinti70.

Der locus classicus für ein Verständnis von Guicciardinis Pessimismus bezüglich der menschlichen Handlungsmöglichkeiten in einer Geschichte, welche prinzipiell dem Diktat der Fortuna untersteht, sind jedoch die posthum erschienenen Ricordi. Darin heißt es unter anderem: Chi considera bene, non può negare che nelle cose umane la fortuna ha grandissima potestà, perché si vede che a ognora ricevono grandissimi mota da accidenti fortuiti, e che non è in potestà degli uomini né a prevedergli né a schifargli: e benché lo accorgimento e sollicitudine degli uomini possa moderare molte cose, nondimeno sola non basta, ma gli bisogna ancora la buona fortuna71.

Es kann kein Zweifel sein, dass Guicciardini in ungleich stärkerem Maße als Machiavelli eine praktische Unverfügbarkeit der Fortuna unterstellt und sich somit noch eindeutiger als dieser von der im Quattrocento gängigen Auffassung der Suprematie einer wie auch immer konzipierten virtù, ob als Verkörperung einer spezifischen Tugend, als Tugendhaftigkeit schlechthin oder als eine einzig am Kriterium des Erfolgs zu bemessende Durchschlagskraft konzipiert, über die Fortuna distanziert. Roberto Palmarocchi hat diese spezifischen Züge von Guicciardinis Fortuna-Begriff treffend umschrieben: Ognun vede come il Guiccardini, a differenza di altri umanisti, riconosca alla fortuna un predominio quasi assoluto e non dia alla virtù dell’individuo neppure quella percentuale di autonomia che le assegnava il Machiavelli. Per il Guicciardini lo scopo della vita non è il raggiungimento dei beni desiderabili, ma la buona reputazione, la lode dei propri simili, in una parole l’onore72.

Guicciardinis auf die politische Krise von 1527 (»crisi del ’27«) antwortet und damit auf eine für Guicciardini auch biographisch relevante politische Niederlage zurückzuführen ist, andererseits in einem deutlichen Kontrast steht zu der vor 1527 in Guicciardinis Werk formulierten Zuversicht, Fortuna mit Hilfe menschlicher Vernunft und Voraussicht kontrollieren zu können. Für Guicciardini handelte es sich bei den Ereignissen des Jahres 1527 »non …solo della sua sconfitta personale, del crollo della propria fortuna e del proprio pretigio, ma piuttosto del naufragio di tutto un sistema di convinzioni, di valutazioni, di ideali, ai quali aveva costantemente ispirato la sua condotta politica; e soprattutto crollava la fiducia nelle possibilità dell’uomo di controllare gli eventi«. Santoro (1967), 340. 70 Guicciardini, Storia d’Italia, 135. 71 Guicciardini, Ricordi, 14. 72 Palmarocchi (1941), 15.

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Indes, ein Einzelfall war Guicciardinis Einschätzung des Verhältnisses von virtù und Fortuna in der italienischen Spätrenaissance wiederum nicht. Dies legen die Untersuchungen von Felix Gilbert in seinem Buch Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence nahe, insbesondere Gilberts Beschäftigung mit Francesco Vettoris Sommario della Storia d’Italia dal 1511 al 1527, in welcher Vettori die beiden Medici-Päpste, Leo X. und Clemens VII., kontrastiert. Deren jeweilige politische Fähigkeiten und Talente hätten unterschiedlicher nicht sein können, so Vettori. Aber dem vorsichtig taktierenden, klugen Clemens VII. sei die Fortuna nicht gewogen gewesen, dem ahnungslos einen politischen Fehltritt nach dem anderen begehenden Leo X. hingegen sehr wohl. Offensichtlich seien der Fortuna, so resümiert Vettori, »tutte le azioni umane sottoposte«73. Nicht minder als für Guicciardini erweist sich auch für Vettori alles menschliche Bemühen angesichts der Fortuna in einer Weise als ohnmächtig, dass selbst jene ausgewogene Bilanzierung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna, wie sie zuletzt noch die Schriften Machiavellis auszeichnet, theoretisch haltlos wird. Ungeachtet dieser graduellen Differenzen bleibt festzuhalten, dass in den Schriften der drei zuletzt behandelten Autoren die menschliche virtù ihr geschichtstheoretisches Valeur insbesondere im Vergleich mit den entsprechenden Überzeugungen der Antike oder auch des Quattrocento wesentlich einbüßt: »And with this loss of faith in the power of virtù«, so kommentiert Quentin Skinner diese Entwicklung, »the great tradition of Italian Republicanism finally came to an end«74. Felix Gilbert wiederum hat im Hinblick auf die Geschichtsschreibung der italienischen Renaissance nach dem endgültigen Untergang der republikanischen Stadtstaaten eine neuartige Betonung der Dominanz der Fortuna beobachtet, eine Betonung ihrer praktischen Unverfügbarkeit, die den Glauben an die Kapazitäten der menschlichen virtù zunehmend schwinden lässt: …whereas in earlier times Fortuna’s influence was limited to special spheres or definite occasions, the Fortuna which emerged as the ruler of world history in the sixteenth century was the power behind everything that happened: it was an embodiment of the uncontrollable forces determining the course of events. … Such a view of Fortuna destroyed the fifteenth-century belief in man’s power to control, or at least to influence events. Yet this notion of Fortuna did not lead to a return to the medieval concept of a world directed according to God’s plan75.

Skinner wie Gilbert unterstellen somit gleichermaßen, dass mit dem Ende des italienischen Republikanismus die These einer praktischen Verfügbarkeit der Fortuna im Sinne unseres Topos virtù vince Fortuna zunehmend an Bedeutung verliert. 73 Zitiert nach Gilbert (1965), 252. 74 Skinner (1979), 187. 75 Gilbert (1965), 269 f.

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3. Späte Blüte der Fortuna: Der frühneuzeitliche Fortuna-Diskurs nach der Renaissance Doch stimmt dies wirklich? Ist für die frühe Neuzeit insgesamt tatsächlich ein »loss of faith in the power of virtù«, wie Skinner behauptet, und damit einhergehend ein Verlust des Glaubens an »man’s power to control, or at least to influence events«, wie Gilbert formuliert, zu registrieren? Jedenfalls ist das Ende der italienischen Renaissance, wie wir in diesem dritten Abschnitt sehen werden, nicht eo ipso mit einem Ende des frühneuzeitlichen Fortuna-Diskurses gleichzusetzen. Welche neuen Akzente aber setzte der Fortuna-Diskurs nach der Renaissance, wenn denn tatsächlich zutreffen soll, dass die entsprechenden Positionen des Quattrocento nun in Misskredit gerieten? Wie verhielt sich dieser Diskurs wiederum zu seinem antiken Erbe und seinen spätantiken Traditionsbeständen? Die verbleibenden Ausführungen dieses dritten Abschnitts dienen dem Zweck, gleichsam die andere Seite der Medaille des von Skinner und Gilbert in den Vordergrund gestellten Befunds, wie zutreffend er auch immer sein mag, eingehender zu betrachten: nicht mehr den Zusammenhang von Aufstieg und Verfall des Republikanismus und der Konjunktur des Topos virtù vince Fortuna zu erkunden, sondern das Wechselverhältnis von frühneuzeitlichem Absolutismus und einer gleichsam späten Blüte der Fortuna zu verfolgen. Insofern lassen sich die folgenden Bemerkungen inspirieren von der von Werner Krauss exemplarisch im Kontext seiner Studie über »Graciáns Lebenslehre« formulierten These eines gedanklichen Zusammenhangs zwischen den existenziellen Auswirkungen höfischer Malice im Zeitalter des entstehenden Absolutismus und spezifischen Zügen des frühneuzeitlichen Fortuna-Diskurses nach der Renaissance: Graciáns eigene Welterfahrung war … wesentlich einem höfischen Umkreis verhaftet: Hier war auch das Glück noch eine Lebensmacht, deren Walten man täglich verspürte und abergläubisch anerkannte. Glanz und Elend der Günstlingslaufbahn, das vollständige Revirement, das mit jedem Regierungswechsel einen Schub von bisher hoffnungslos verbitterten Prätendenten plötzlich an die Sonnenseite gelangen ließ, die Verknüpfung höfischer Einflußübung mit politischer Macht und unmessbaren, finanziellen Vorteilen – das sind Erscheinungen, die zur absolutistischen Lebensordnung gehören. Das Auf und Ab der Fortuna ist ein häufiges und immer wieder sich aufdrängendes Thema höfischer Erfahrungen und höfischer Kommentare. … Die Flucht vom Hof war in jenen Zeiten ein erwägenswertes und auch häufig erwogenes Projekt – jedoch war sie gleichbedeutend mit der Flucht aus dem Leben76.

Die Fortuna nach der Renaissance ebenso ausführlich zu untersuchen wie die Fortuna in der Renaissance bedürfte indes vermutlich eines separaten Aufsat76 Krauss (1947), 76 bzw. 78.

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zes. Das ist hier nicht zu leisten. Immerhin will ich aber nicht darauf verzichten, meine bisherigen Ausführungen dadurch abzurunden, dass ich jene vier ideengeschichtlichen Phänomene gleichsam typologisch differenziere, von denen ich glaube, dass sich jede ausführliche Studie der Fortuna der Post-Renaissance auf sie zu konzentrieren hätte.77 Eine derartige Differenzierung halte ich auch deshalb nicht für gänzlich wertlos, da mir ein derartiger Versuch, den Fortuna-Diskurs der frühen Neuzeit nach der Renaissance in systematischer Absicht zu strukturieren, in der entsprechenden Sekundärliteratur bislang nicht begegnet ist. Erstens: Im Rahmen der folgenden Skizze will ich zunächst auf den frühneuzeitlichen Neostoizismus eingehen. Skinner selbst hat im zweiten Band seiner Foundations of Modern Political Thought die geistige Auseinandersetzung mit der Fortuna als zentrales Merkmal dieses Neostoizismus begriffen und sich dabei wesentlich auf Justus Lipsius und Guillaume Du Vair bezogen. Blickt man zunächst auf Lipsius, dann wird man sich im Zusammenhang unserer Thematik vor allem mit dessen 1584 veröffentlichter Schrift De Con­ stan­tia zu beschäftigen haben. Den Aufbau dieses Buches zeichnet aus, dass insgesamt vier Argumentationsstränge ins Feld geführt werden, um zu begründen, dass das eigene Elend zu beklagen, anstatt es standhaft qua constantia zu ertragen, weder praktisch empfehlenswert noch theoretisch legitim ist: Das erste Argument besagt, dass »…a deo immitti et circummitti haec publica mala«78, dass also alle Übel unmittelbar von Gott entsandt sind. Die entscheidende Voraussetzung dieses Arguments besteht in der Präsumtion einer göttlichen Providenz, die gleichsam im Sinne einer Weltregierung wirkt. Angesichts einer solchermaßen begriffenen Providenz kann es nun aber auch, so Lipsius weiter, kein Wirken der Fortuna in dieser Welt geben. Kein Unglück und kein Übel verdanken sich dem Wirken der Fortuna; vielmehr wird auch die Verteilung der mala von der göttlichen Providenz reguliert. Das zweite Argument besagt, dass auch jedes noch so willkürlich erscheinende malum sich nicht zufällig ereignet, sondern notwendig aus einem fatum hervorgeht. Was aus einer menschlichen Perspektive als bedauernswertes malum erscheinen mag, dies erweist sich aus dem Blickwinkel Gottes als das geplante Zusammenspiel der göttlichen Providenz mit dem intermediären Werkzeug des fatum. Das dritte Argument für die constantia besagt, dass all das, was zunächst als malum erscheint, auch deshalb nicht zu beklagen ist, weil es letztlich von Nutzen ist. Alle mala haben ihren Ursprung in der göttlichen Vorsehung; allen mala wohnt aber auch ein göttliches telos inne. Worin besteht dieses Ziel? Darin, so besagt das dritte Argument, dass die Frommen geübt und auf die Probe gestellt, die Sünder hingegen bestraft werden. Das vierte Argument zugunsten der prakti77 Einen ersten Anlauf zu seiner solchen umfassenden Studie der Fortuna in der frühen Neuzeit nach der Renaissance habe ich unternommen in Vogt (2011), 607–655. 78 Lipsius, De Constantia, 91.

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schen Ausübung und theoretischen Verinnerlichung der constantia schließlich operiert vor allem mit historischen exempla und Analogien. Alle vier Stränge von Lipsius’ Argumentation vereinen sich zu dem Plädoyer, allen Widerfahrnissen stets mit der Geisteshaltung der constantia zu begegnen. Angesichts der praktischen Unverfügbarkeit dieser Widerfahrnisse sei standhaft zu erdulden, was auch immer sich ereignen mag. Welche Rolle billigt Lipsius im Kontext dieses Plädoyers der Fortuna zu? Wir hatten es bereits angedeutet: Lipsius bestreitet die Existenz der Fortuna in einer lückenlos von providentia und fatum regierten Welt. Er behält, so möchte man sagen, das Modell der boethianischen Lösung des Fortunaproblems mutatis mutandis formal bei, nimmt aber innerhalb dieses Modells eine folgenreiche Umbesetzung vor, in deren Zuge nun das fatum – gleichsam als funktionales Äquivalent – als ancilla Dei reüssiert, die Existenz der Fortuna hingegen ausdrücklich bestritten wird. Lipsius bettet anders als Boethius nicht die Fortuna in die providentia ein, begreift folglich auch nicht die Fortuna als ancilla Dei, insofern diese doch nur eine Chimäre ist, die es realiter gar nicht geben kann, bettet aber sehr wohl und durchaus im Sinne des Boethius das fatum in die providentia ein. Lipsius’ Form der Auseinandersetzung mit der Fortuna ähnelt, so könnte man formulieren, einem Fortuna-Diskurs à contrecœur. Lässt sich das für Lipsius ermittelte Bild einer neostoizistischen Auseinandersetzung mit der Fortuna wider Willen bestätigen, wenn wir auf Guillaume Du Vairs Traité de la constance et consolation és calamitez publiques aus dem Jahre 1590 blicken? Die Ausführungen von Orphée, einem der Teilnehmer der von Du Vair inszenierten Gesprächsrunde, nehmen ebenso wie diejenigen von Lipsius’ alter ego Langius ihren Ausgang bei einer spezifischen Bestimmung des Verhältnisses von providentia, fatum und Fortuna. Dabei zeigt sich, dass die Annahme einer allgütigen und allmächtigen göttlichen Vorsehung für Du Vair ebenso unstrittiges Axiom ist wie für Lipsius: C’est de verité la plus grande et plus certaine consolation, que puissent prendre et recevoir les hommes és calamitez publiques ou particulieres, que de se persuader que tout ce qui leur arrive est ordonné par cette puissance eternelle, distribué par cette sagesse infinite, qui gouverne le monde avec la mesme bonté et iustice qu’elle l’a creé79.

Zudem eint beide Autoren die Vorstellung, wonach die göttliche Vorsehung das fatum als Werkzeug für die Durchsetzung jener Ratschlüsse, die uns Menschen stets verborgen bleiben, gebraucht. Nicht anders als Lipsius begreift auch Du Vair ein Geschehen, welches in respectu hominis als willkürliches Wirken der Fortuna erscheinen mag, in respectu Dei als Durchsetzung der göttlichen Vorsehung mit Hilfe eines unmittelbar auf die Zeitläufte einwirkenden fatum. Auch Du Vair begreift allein dieses fatum als ancilla Dei, nicht aber die Fortu79 Du Vair, Œuvres, 340.

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na. Deren Existenz bestreitet er angesichts einer als konfliktfrei konzipierten Kooperation von fatum und providentia ebenso vehement wie Lipsius. Und doch und ebenso wie Lipsius kommt Du Vair nicht umhin, Fortuna immer wieder zum Gegenstand seiner Ausführungen zu machen, weshalb wir auch für ihn die Formel eines Fortuna-Diskurses à contrecœur aufrecht erhalten wollen. Zweitens: Nicht minder erfolgreich als im Kontext des holländischen und französischen Neostoizismus reüssierte Fortuna im »Herbst der Renaissance« auch in England, genauer: auf der Theaterbühne des elisabethanischen Zeitalters. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass Fortuna auch schon vor dem Amtsantritt von Elizabeth I. und außerhalb des Theaters ihre literarischen Auftritte hatte, etwa, um nur diese Beispiele zu erwähnen, in Chaucers Monk’s Tale, in Lydgates Fall of Princes oder dann später im Mirror for Magistrates, einer 1559 publizierten Sammlung von Lehrgedichten über die rechten Tugenden des Fürsten oder politischen Amtsinhabers. Freilich blieb die Fortuna in all diesen Beispielen, das ist die wesentliche These von Frederick Kiefer ebenso wie von Willard Farnham80, stets eingebunden in die göttliche Vorsehung. In der für das Theater des elisabethanischen Zeitalters verfassten Literatur hingegen, also etwa ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, weicht diese Vorherrschaft der providentia über die Fortuna zunehmend auf. Blicken wir zur Verdeutlichung dieser These auf Marlowes Tamburlaine von 1587 und Shakespeares spätes Stück Timon von Athen81: Marlowes Tamburlaine, »the Scythian shepherd … that became so great a conqueror«82, wie es in der fiktiven Notiz des Herausgebers des Stückes heißt, Tamburlaine, der unerwartet zum Herren der Welt aufgestiegene Hirte, gibt sich in geradezu hysterischer Weise euphorisch, was die praktische Verfügbarkeit der Fortuna dank menschlicher Willensstärke angeht. Die folgende Passage gibt dies unmissverständlich zu erkennen: Forsake thy king and do but join with me, And we will triumph over all the world. I hold the Fates bound fast in iron chains, And with my hand turn Fortune’s wheel about. And sooner shall the sun fall from his sphere Than Tamburlaine be slain or overcome83.

Freilich wird mitunter selbst dem sich omnipotent gebärdenden Tamburlaine bewusst, dass sein Leben, insofern es menschliches ist, endlich ist. Vita brevis. In diesem Sinne unterbricht Tamburlaine an einer Stelle des Stücks urplötzlich die Konversation mit seinen Getreuen und seine sich in einen wahrhaften 80 Farnham (1956); Kiefer (1983). 81 Diesbezüglich besonders hilfreich: Soellner (1979). 82 Marlowe, Tamburlaine, 73. 83 Ibidem, 87.

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Rausch steigernden Allmachtsphantasien, hält – scheinbar zweifelnd an den Möglichkeiten seiner Macht – abrupt inne, zeigt sich irritiert von dem Gefühl eines je ne sais quoi, dessen Entstehung er sich nicht zu erklären vermag.84 Freilich, das Eingeständnis der eigenen Endlichkeit oder gar die Einwilligung in diese Endlichkeit tauchen in Tamburlaines Weltanschauung nur für den Bruchteil eines Moments als valide theoretische Position auf. Dann verdrängt Tamburlaine auch in dieser Passage die Möglichkeit unüberwindbarer Grenzen der eigenen Existenz durch die nunmehr explizit formulierte Hybris, selbst eine der Fortuna geschuldete Krankheit setze seiner seelischen und körperlichen Omnipotenz keine Schranken. Die Auffassung der Fortuna in Marlowes Tamburlaine lässt sich somit interpretieren als ein in extremis gesteigertes Beispiel für das in der frühen Neuzeit durchaus immer noch anzutreffende Pathos einer schrankenlosen praktischen Verfügbarkeit der Fortuna. Auch Shakespeare hat das Wesen der Fortuna in seinen Stücken immer wieder diskutiert, dabei freilich die Möglichkeiten eines praktischen Triumphs über die Fortuna wesentlich verhaltener eingeschätzt als Marlowe, auch wenn er keinesfalls im Sinne des Boethius Fortuna als Medium der göttlichen Providenz rehabilitierte. Die Fortuna gilt Shakespeare ganz im Sinne der römischen Fortuna sowie der Fortuna des Quattrocento und auch noch des Cinquecento – man entsinne sich unserer Ausführungen zu Machiavellis oder Guicciardinis Fortuna-Diskurs – als autarke Instanz. Vor allem die Betonung der Wandelbarkeit und Unzuverlässigkeit dieser autarken Instanz prägt Shakespeares wiederholte Referenzen auf die Fortuna in seinen Stücken. Anhand der Eröffnungsszene von Shakespeares Timon in Athen, Shakespeares »pessimistischer Tragödie«85, wie sie Rolf Soellner genannt hat, lässt sich dies trefflich illustrieren: Shakespeare zeigt einen Maler und einen Dichter, beide Günstlinge des reichen Atheners Timon, in ein Gespräch über das Wesen der Fortuna verstrickt. Der Maler charakterisiert dabei die Fortuna dem Poeten gegenüber so: A thousand moral paintings I can show That shall demonstrate these quick blows of Fortune’s More pregnantly than words (I.1.91–94)86.

Schon dieser anfängliche Dialog zwischen dem Dichter und dem Maler über die »quick blows« der Fortuna kündet vom späteren Fall des Protagonisten Timon, deutet voraus auf jenes Geschehen, wie es sich im weiteren Verlaufe des Stückes ereignen wird. Was schließlich die Möglichkeit der praktischen Verfügbarkeit der Fortuna angeht, ergibt sich uns für Shakespeare kein einheitliches Bild, sodass es 84 Vergleiche ibidem, 229 f. 85 Soellner (1979). 86 Shakespeare, Timon of Athens, 71.

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aussichtslos bleiben dürfte, die Frage, ob und inwiefern Shakespeare eine Beeinflussbarkeit der Fortuna durch menschliches Handeln unterstellt, eindeutig beantworten zu wollen. Die vermutlich berühmtesten Verse, die Shakespeare der Fortuna widmet, können insofern nicht nur als Ausdruck einer intellektuellen Unsicherheit Hamlets, sondern auch als ein Dokument von Shakespeares geistiger Ambivalenz hinsichtlich der Formen und Möglichkeiten einer angemessenen Fortunabewältigungspraxis interpretiert werden: To be or not to be, that is the question: Whether ’tis nobler in the mind to suffer The slings and arrows of outrageous fortune, Or to take arms against a sea of troubles, And by opposing, end them (III.1.57–61)87.

Drittens: Unstrittig dürfte sein, dass jede Beschäftigung mit dem frühneuzeitlichen Fortuna-Diskurs nach der Renaissance die spanische Literatur des siglo de oro zu berücksichtigen hat. Man denke diesbezüglich nur an Baltasar de Gracián y Morales und sein Werk Oráculo manual y arte de prudencia, das erstmals im Jahre 1647 erschien, ein Buch, welches der amerikanische Philosoph Nicholas Rescher als »one of the classical treatments of the role of luck in human affairs«88 etikettierte. Gracián entwickelt in diesem Werk durch die Kompilation konkreter Maximen für das alltägliche Leben eine Moralistik, eine arte de prudencia, deren theoretischer Kern stets im Vertrauen auf die lebensdienlichen Effekte praktischer Klugheit besteht. Beim Vollzuge eines Lebens, welches sich in einem theatrum mundi ereignet, in welchem Fortuna Regie führt, kommt es für Gracián darauf an, nicht zu verzweifeln, sich vielmehr an bewährte Regeln praktischer Klugheit zu halten, wie sie uns etwa auch aus dem Kartenspiel bekannt sind. Beachtet der Spieler eines Lebens derartige Regeln, dann, so die theoretische Prämisse von Graciáns Handorakel, kann es ihm gelingen, mit Hilfe der arte de prudencia das willkürliche Regiment der Fortuna zu beherrschen. Als zentrale Passage für diese Zuversicht muss im Rahmen von Graciáns Oráculo manual der folgende Aphorismus gelten: Reglas hay de ventura, que no toda es acasos para el sabio; puede ser ayudada de la industria. Conténtanse algunos con ponerse de buen aire a las puertas de la Fortuna y esperar a que ella obre. Mejor otros, pasan adelante y válense de la cuerda audacia, que en alas de su virtud y valor puede dar alcance a la dicha y lisonjearla eficazmente. Pero, bien filosofado, no hay otro arbitrio sino el de la virtud y atención; porque no hay más dicha ni mas desdicha que prudencia o imprudencia89.

Für Gracián ist das Leben ein Spiel oder auch – dramatisch zugespitzt – ein Kampf, dessen Risiken durch die Metapher des Kartenspiels ebenso zum Aus-

87 Shakespeare, Hamlet, 160. 88 Rescher (1993), 142. 89 Hier zitiert nach Jansen (1958), 194.

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druck gebracht werden können wie durch den Begriff der Fortuna. In diesem gefahrvollen Kampf besteht nur, wer sich je nach Situation variabel und klug verhält, sich weder dem stoischen Rückzug in die uneinnehmbare Zitadelle subjektiver Innerlichkeit verschreibt noch sich im Vertrauen auf eine fürsorgende Providenz passiv verhält noch auf zeitlos geltende Regeln für eine mehr als provisorische Bewältigung der Fortuna setzt. Indes, Graciáns Beschäftigung mit Fortuna verfährt keinesfalls so eindeutig, wie es bislang erscheinen mag. Mag auch zutreffen, dass, wie Hellmut Jansen formuliert, eine »illusionslose Diesseitsschau« Gracián zu einer »trotzigen Weltbejahung«90 motiviert, so sind doch Graciáns Welt- und Menschenbild im Allgemeinen wie auch seine Aussagen über die Fortuna im Besonderen sowohl vor einem voluntaristischem als auch vor einem rationalistischen Überschwang gefeit. Denn Gracián will doch gerade nicht behaupten, dass der Mensch alles erreicht, was er erreichen will, strenge er sich nur genügend an. Dies verdeutlicht die Metapher des Kartenspiels zu Genüge. So sehr Gracián dem Menschen Regeln für die auszuspielenden Karten mit auf den Weg gibt, gemischt und ausgeteilt wird das Kartenblatt nicht von den Menschen selbst. Der Mensch erreicht Gracián zufolge aber nicht nur nicht alles, was er erreichen will. Er erkennt auch nicht alles, was er erreichen soll. Schließlich stellt Gracián nicht nur die Allmacht menschlicher Willenskraft sowie die Allwissenheit menschlicher Klugheit in Frage. Er begreift, anders als uns dies das bislang skizzierte Plädoyer für eine direkte Beeinflussung der Fortuna qua arte de prudencia im Grunde vermuten lässt, die der menschlichen Omnipotenz und Omnikompetenz Grenzen setzende Instanz der Fortuna keinesfalls immer, wenn von ihr die Rede ist, als eine autarke Instanz. In seinem spätem Roman El Criticón bezeichnet Gracián die Fortuna einmal ausdrücklich als Tochter der Vorsehung, als »hija de la Providencia«91. In diesem Sinne besteht die Pointe des in diesem Roman enthaltenen Kapitels »Fortuna beschuldigt, Fortuna verteidigt« auch in einer Zurechtweisung anderslautender Auffassungen des Wesens der Fortuna.92 Blicken wir auf einen zweiten spanischen Autor des »goldenen Zeitalters«: Francisco de Quevedo errichtete der Fortuna in seiner 1635 geschriebenen, aber erst 1650, fünf Jahre nach dem Tod Quevedos, damit also ungefähr zur gleichen Zeit wie Graciáns Oráculo manual veröffentlichten Satire La Fortuna con seso y la hora de todos ein außergewöhnliches Denkmal, dessen theoretische Substanz deutliche Parallelen zum bereits diskutierten Neostoizismus eines Du Vair und eines Lipsius aufweist. Getragen von der Einsicht in die göttliche Lenkung aller nur aus einer begrenzten menschlichen Perspektive zufällig erscheinenden Vorgänge formuliert Quevedo das praktische Ideal ei90 Ibidem, 209. 91 Hier zitiert nach Krauss (1947), 170. 92 Vergleiche hierzu Gracián, Das Kritikon, 426–445.

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ner providentiell abgestützten constantia. Insofern die Fortuna Untertanin der göttlichen Vorsehung ist, soll der Mensch erst gar nicht versuchen, eine vermeintlich autarke Fortuna durch sein Handeln zu beeinflussen. Die Begleiterscheinungen der Fortuna werden von Quevedo vielmehr als für den stoischen Weisen, der sich dem Ziel des desengaño verpflichtet weiß, ohnehin indifferente Güter charakterisiert. In dieser Hinsicht erinnert Quevedos Schrift stark an die erwähnten constantia-Traktate des Neostoizismus. Es verwundert daher nicht, dass Quevedo, von Henry Ettinghausen als der neostoizistischen Bewegung »most powerful spokesman in Spain and as one of its most dedicated adherents anywhere in Europe«93 bezeichnet, auch das Selbstverständnis von Du Vair und Lipsius teilt, wonach der frühneuzeitliche Neostoizismus Christentum und antike Stoa theoretisch versöhnt habe. Ja, dieser Versuch einer Versöhnung von christlicher Religion und stoischer Philosophie prägt seine Schriften ebenso wie die entsprechenden Ambitionen von Lipsius und Du Vair, so etwa das 1633 geschriebene, aber erst 1638 veröffentlichte Werk De los remedios de cualquier fortuna, eine Übersetzung und Kommentierung des apokryphen Seneca-Dialogs De remediis fortuitorum, ebenso wie die 1635 veröffentliche Doctrina estoica, in welcher Quevedo allen Ernstes zeigen will, dass wesentliche Passagen von Epiktets Encheiridion dem alttestamentlichen Buch Hiob entnommen sind.94 Viertens: Zahlreiche Autoren haben die zentrale Rolle der Fortuna für die Zeit des Barock und vor allem für die deutschsprachige Literatur dieser Zeit immer wieder prononciert hervorgehoben. So schreibt Leo Farwick in seiner Studie über die Rolle Fortunas im höfischen Roman des Barock: Die Auseinandersetzung mit der Fortuna, d. h. mit der Welt in ihrer werdemäßigen Form, die nicht mit einer einmaligen Entscheidung oder Erkenntnis abgetan werden kann, sondern einen immer wieder erneuten Einsatz fordert, ist dem beginnenden Barock als Aufgabe gestellt. Diese Aufgabe bestimmt zutiefst seine Struktur, seinen Menschentyp und seine Weltanschauung95.

Gottfried Kirchner gelangt zu dem Urteil, Fortuna beherrsche »wie kein anderer Bewohner des heidnischen Pantheons den barocken Vorstellungskreis«96. Lothar Pikulik attestiert dem barocken Lebensgefühl, das »Anormale nicht für das Ausgefallene, sondern angesichts des Waltens der Göttin Fortuna für das Allgemeinübliche«97 zu halten. Unabhängig von der Frage, welchen Themen und Fragen die Literatur des Barock mit Hilfe der Fortuna eigentlich Ausdruck zu geben versucht, finden 93 Ettinghausen (1972), 25. 94 Vergleiche hierzu die aufschlussreichen Ausführungen von Karl Alfred Blüher: Blüher (1969), 351 f. 95 Farwick (1941), 15. 96 Kirchner (1970), 102. 97 Pikulik (1979), 98.

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diese Befunde Bestätigung durch die immer wieder auch namentliche Erwähnung der Fortuna bei einzelnen Schriftstellern des Barock. Ausdrücklich etwa geht der Lyriker und Opitzschüler Paul Fleming in der folgenden Passage auf Fortuna ein: …ich will auffs Ende sehen und immer stille seyn / wenn das Verhängnüß schilt / Fortuna wüte fort / verfolge wie du wilt. Es eilet jedes Ding zu seinem Ziel und Ende / und läufft der Eitelkeitt doch letztlich in die Hände98.

Im zweiten Reyhen des um 1650 entstandenen Trauerspiels Leo Armenius von Andreas Gryphius, dem »Reyhen der Höflinge«, erblickt Hans-Jürgen Schings »das bedeutendste Zeugnis einer Fortunagläubigkeit«99 in der deutschen Barockliteratur. Auch Wilhelm Vosskamp sieht in den beiden ersten Strophen dieses Reyhens »ein Musterbeispiel dafür, wie weit bei Gryphius die Fortuna-Gesetzlichkeit ihre Macht behaupten kann«100: O du wechsel aller dinge Immerwehrend’ eitelheit / Laufft denn in der zeiten ringe Nichts alß unbestendigkeit / Gilt denn nichts / alß fall und stehen Nichts denn Cron und Henckerstrang / Ist denn zwischen tief und höhen Kaum ein Sonnen untergang?101

Nun ist es mir hier nicht um eine archivarische Auflistung aller auffindbaren Fortuna-Referenzen in der deutschen Barockliteratur zu tun. Aber immerhin kenntlich machen möchte ich die entscheidenden theoretischen Optionen, die dem Barock zur Verfügung stehen, sollen das Wesen der Fortuna und der angemessene praktische Umgang des Menschen mit ihr dargestellt werden. Dabei zeigt sich, dass sich in der barocken Auseinandersetzung mit Fortuna exakt jene Ambivalenz des frühneuzeitlichen Fortuna-Diskurses wiederholt, auf die wir in diesem dritten Abschnitt immer wieder gestoßen waren. Gegenüber einer als autark konzipierten Instanz wird in der Literatur des Barock einerseits in Anknüpfung an das antik-stoische Ideal der constantia102 der Rückzug in die subjektive Innerlichkeit, andererseits die direkte Beeinflussung der Fortuna durch eine nüchtern antizipierende Kalkulation anempfohlen. Eine 98 Fleming, Teütsche Poemata, 232. Hier zitiert nach Kirchner (1970), 44. 99 Schings (1966), 188 f. 100 Vosskamp (1967), 138. 101 Gryphius, Leo Armenius, 46 f. Hier zitiert nach Vosskamp (1967), 138. 102 Diese Variante barocker Fortunabewältigungspraxis, eine Wiederanknüpfung an das stoische constantia-Ideal, hat Werner Welzig vor allem für Opitz und Harsdörffer betont. Vergleiche hierzu Welzig (1961).

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als Gehilfin Gottes aufgefasste Fortuna wiederum wird im Barock – und dies markiert einen auffallenden Unterschied zu dem doch ebenfalls dem Gedanken einer umfassenden göttlichen Providenz verpflichteten Neostoizismus – als Stimulans für die Hinwendung zu einer das fortunadurchtränkte Diesseits überwindenden Sphäre der Transzendenz verstanden. Diese für den barocken Fortuna-Diskurs konstitutive Dichotomie – sowohl hinsichtlich der theoretischen Auffassung der Fortuna als auch bezüglich der anempfohlenen Fortunabewältigungspraxis – lässt sich exemplarisch illustrieren anhand des Gegensatzes von Daniel Caspar von Lohensteins und Andreas Gryphius’ Zeit- und Geschichtsauffassung103: Für die Schriften des Daniel Caspar von Lohenstein und die darin formulierte Auffassung der Fortuna, so zeigt Wilhelm Vosskamp in seiner Studie über die »Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert«, ist ein schwindendes Vertrauen in eine die Geschicke der Welt lenkende providentia bestimmend. Gryphius hingegen betrachtet die Fortuna ganz im Sinne der von Boethius inaugurierten Tradition. Er bettet insofern die Fortuna in die göttliche Vorsehung ein, aber er leugnet keinesfalls ihre Existenz. Seine Auffassung der Fortuna als Werkzeug der göttlichen Providenz ist deshalb auch nicht mit einer an Augustinus anknüpfenden annihilatio fortunae zu verwechseln, mit einer Position, die sich in der Reformation besonders ausgeprägt bei Calvin fand. Am factum brutum von »immerwehrend’ Eithelheit« und »Unbestendigkeit« ist für Gryphius kein Zweifel. Diese Meinungsunterschiede hinsichtlich des Wesens Fortuna spiegeln sich, so zeigt Vosskamp weiter, konsequent in den von Gryphius und Lohenstein anempfohlenen Formen des praktischen Umgangs mit Fortuna wider: Lohenstein hält in seinem Arminius-Roman angesichts einer autarken Fortuna durchaus die Möglichkeit offen, die Fortuna praktisch zu beeinflussen. Leonard Forster hat in diesem Sinne auf das Lohensteins Fortuna-Diskurs innewohnende Pathos der segensreichen Kraft nüchterner Kalkulation und Umsicht hingewiesen. Für Lohenstein, so schreibt Forster, the world is indeed dominated by Fortune, and he has no valid concept of eternity to set against it; only the mastery of self enjoined by the Stoics, and the cold calculation, the constant vigilance of the trained intellect in taking advantage of the workings of Fortune…104.

Forsters Zitat enthält wie in einem Vexierbild die gänzlich anders gestimmte Position von Gryphius: Wird nämlich die Fortuna nicht als autarke Herrin der Welt aufgefasst, sondern als Gehilfin Gottes, dann kann die praktische Empfehlung im Umgang mit dieser Instanz weder in der Lobrede einer »cold calculation« und »constant vigilance« des menschlichen Intellekts noch im stoischen Rezept des »mastery of self« bestehen. Im Umgang mit einer als ancilla 103 Vergleiche dazu insgesamt Vosskamp (1967). 104 Forster (1952), 26.

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Dei verstandenen Fortuna empfiehlt Gryphius vielmehr, die Sphäre diesseitiger Vergänglichkeit durch »Hinwendung zum Ewigen« (W. Vosskamp) in ihrer Bedeutung gänzlich zu relativieren. Insofern hält Gryphius der Fortuna jenes »valid concept of eternity« entgegen, welches laut Forster den Schriften Lohensteins gerade ermangelt. Mit diesen notgedrungen fragmentarischen Bemerkungen zur Literatur des deutschen Barock ist unsere typologische Skizze der späten Blüte des frühneuzeitlichen Fortuna-Diskurses nach der Renaissance im dritten Abschnitt dieses Aufsatzes zum Abschluss gekommen. Eine Frage, die sich an diese Skizze unweigerlich anschließt, die Frage nämlich, wann schließlich auch diese späte Blüte endgültig verwelkte, kann in diesem Aufsatz indes nicht mehr beantwortet werden. Immerhin andeuten will ich aber, inwiefern ich davon überzeugt bin, dass sich Theodore Rabbs Studie über den »struggle for stability« im frühneuzeitlichen Europa ab etwa 1650 wertvolle Hinweise für die Beantwortung dieser Frage entnehmen lassen:105 Rabb geht in dieser Studie davon aus, dass sich die Zeit zwischen Reformation und Renaissance einerseits und dem Zeitalter der beginnenden Aufklärung andererseits, er datiert diesen historischen Abschnitt einmal plakativ als die Zeit zwischen Calvins Tod und Voltaires Geburt, in insgesamt drei historische Phasen unterteilen lässt: Auf eine erste Phase der frühen Neuzeit im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert folgt laut Rabb der Ausbruch einer politischen, sozialen und ökonomischen Krisis im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts, also etwa zwischen 1630 und 1670. Diese Krise spielt sich für Rabb aber nicht nur in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen ab, sondern artikuliert sich auch in einer intellektuellen Ungewissheit und Instabilität, die wiederum in Kunst, Wissenschaft und Religion, aber auch in einer Fülle alltagskultureller Phänomene deutliche Spuren hinterlässt. Blicken wir nun mit diesem Schema Rabbs auf die voran gegangenen Ausführungen des dritten Abschnitts zurück, so lässt sich unschwer erkennen, dass es genau die beiden ersten Phasen von Rabbs Periodisierungsversuch sind, in denen wir auf die von uns als späte Blüte charakterisierte Konjunktur des frühneuzeitlichen Fortuna-Diskurses nach der Renaissance stoßen.106 105 Rabb (1975). 106 Bringt man Rabbs Periodisierung mit Stephen Toulmins Thesen über die Entstehung der Moderne in dem meisterlichen Buch Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne in Verbindung, so ließe sich plakativ formulieren: Eine erste, durch Fortuna- und Kontingenzsensibilität charakterisierte Moderne, welche der Renaissance entspringt und bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts hineinreicht, wird ab Mitte des 17. Jahrhunderts von einer gleichsam zweiten Moderne abgelöst, welche die »Suche nach Gewissheit« (John Dewey) zu ihrem zentralen Programmpunkt erhebt und Kontingenz im Sinne von Fortuna zunehmend verdrängt. Insofern könnte man von zwei Fundamenten der Moderne sprechen, einem ersten, der Renaissance entspringenden Fundament und einer nachfolgenden (!) Phase, die freilich den nachfolgenden Generationen und vielen Meistererzählungen über die Entstehung der Moderne als die erste und eigentliche Gründungsphase der Moderne gilt und welche mit Hiram Haydn und Eugenio

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Die Krisis Europas in der frühen Neuzeit im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts wird laut Rabb drittens, dies ist gerade die Pointe seines Ansatzes, im Zuge eines »struggle for stability« überwunden, so dass nun ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts eine »Stabilisierungsmoderne« (H. D. Kittsteiner) einsetzt, in welcher Gewissheit, Stabilität und Kontrolle an die Stelle von Ungewissheit, Instabilität und Kontingenz treten. Rabbs Charakterisierung und Datierung einer Krisis im frühneuzeitlichen Europa sowie ihrer Überwindung durch ein neues Zeitalter der Stabilität geben zu erkennen, inwiefern im Zuge jenes frühneuzeitlichen »struggle for stability« die letzten Reste jener theoretischen und praktischen Sensibilität für Kontingenz ausgelöscht werden, wie sie sich dem frühneuzeitlichen Fortuna-Diskurs in der Renaissance und nach der Renaissance zweifellos noch entnehmen lassen.

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Das Prinzip Kontingenz in der Naturwissenschaft der Renaissance Pietro Omodeo und Jürgen Renn

Die als solche isolierte Psychologie des Arbeitsprozesses [gibt] ebenso das Modell zu den idealistischen Weltbildern ab […], wie die Arbeit – in ihrer wahren konkreten Totalität erfasst – den Ausgangspunkt zur richtigen Widerspiegelung der Wirklichkeit, damit zum Entfernen der anthropomorphisierenden Betrachtungsweisen bildet. G. Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen In keinem einzigen Falle ist es möglich ein physikalisches Ereignis genau zu vorhersagen. [Diese Unmöglichkeit ist] eine natürliche Folge des Umstandes, das der Mensch mit seinen Sinnesorganen und seinen Messgeräten selber ein Teil der Natur ist, deren Gesetzen er unterworfen ist und aus der er nun einmal nicht heraus kann. M. Planck, Der Kausalbegriff in der Physik

Eine Untersuchung der Rolle des Kontingenzbegriffs in der Renaissance-Naturwissenschaft erlaubt es, zwei alte, aber noch weit verbreitete Gemeinplätze betreffend der Wissenschaftsgeschichte in Frage zu stellen. Der erste besagt, dass die Entwicklung der Naturwissenschaften deterministisch verlaufe. Dabei wird davon ausgegangen, dass sie auf das progressive Enthüllen objektiver Fakten über die reale, festgelegte Natur gerichtet sei. Der zweite Gemeinplatz besteht in der Annahme, dass die auf der klassischen Physik beruhende Naturwissenschaft keinen Raum für Kontingenz zulasse, weil diese in ihrem Wesen deterministisch sei. Gegen beide Annahmen spricht die Renaissance-Wissenschaft, wie hier exemplarisch am Beispiel der zwei sich am schnellsten entwickelnden mathematischen Naturwissenschaften der Renaissance, der Mechanik und der Astronomie, und der philosophischen Reflexion über die epistemologischen und ontologischen Grundlagen dieser Disziplinen aufgezeigt werden soll.

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Historische Kontingenz und der Streit über die Autorität der Antike in der Mechanik Die Wissenschaftler der Renaissance waren ständig mit Überlieferungsproblemen sowie mit der Hybridisierung von mittelalterlichen Traditionen und neuerworbenen Texten aus der klassischen Antike konfrontiert. Keine andere Gruppe von Wissenschaftlern ist sich vielleicht mehr als sie so bewusst gewesen, dass Naturtheorien historisch bedingt sind. Theorien und Ansätze erweisen sich als kontingent, weil ihre Form, Grundbegriffe und Methoden Ergebnisse der genannten historischen Prozesse der Aneignung der Überlieferung, der Übersetzung von Quellen sowie der unvermeidlichen Hybridisierung älterer und neuerer Lehren sind. In der Mechanik erwuchs dieses historische Bewusstsein ab dem 16. Jahrhundert insbesondere aus der Wiederentdeckung und Neubewertung des fragmentarisch überlieferten archimedischen Werkes. Archimedische Begriffe wie der des Schwerpunktes und die Methoden der Hydrostatik versprachen grundlegende Fragen der Mechanik zu beantworten und stellten die Möglichkeit in Aussicht, eine streng mathematische Naturwissenschaft zu begründen. Durch Archimedes wurde den Wissenschaftler-Ingenieuren der Renaissance verdeutlicht, dass das mechanische Wissen sich historisch auch anders hätte entwickeln können. Die Begegnung mit den antiken Quellen war ja selbst das Resultat historischer Entwicklungen.1 Überlieferungslücken forderten kundige Exegeten heraus, Theorien und Texten kreativ zu ergänzen und dabei auch bisher unbekannte Wege zu gehen. Dies bedeutet einen transformativen Zugang zu den Klassikern, obwohl er als solcher nicht immer reflektiert und verstanden wurde. Im Gegenteil, dies konnte auch zu Formen wissenschaftlichen Purismus führen, wie im Fall der Archimedes-Renaissance innerhalb der Commandino-Schule von Urbino.2 Der Widerspruch zwischen der Verehrung des »divinus Archimedes« in der Renaissance-Wissenschaft und der Unvollständigkeit der überlieferten Werke ist bemerkenswert. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern aus der islamischen Hemisphäre verfügten die neuzeitlichen Akteure der Archimedes-Renaissance in Europa nicht einmal über Herons mechanisches Werk, abgesehen von Exzerpten durch Pappus von Alexandria.3 Darüber hinaus wurden in der Renaissance diese fragmentarischen archimedischen Kenntnisse in einen grundsätzlich durch Aristoteles geprägten Kontext gesetzt. Die aristotelische Philosophie 1 2 3

Ein Überblick über die frühneuzeitlichen Wirkung von Archimedes ist bei Renn (2013) zu finden, wo der aktuelle Stand der Forschung vorgestellt wird. Der intellektuelle Konservatismus der Urbino-Schule zeigt sich im Kontrast zwischen ihren Vertretern und eklektischen Wissenschaftlern anderer Schulen. Siehe Renn/Omodeo (2013). Renn/Damerow (2012) bietet eine kurze Fassung der Geschichte der Mechanik bis zur Renaissance, 39–46 einschließlich einer »Timeline«, 265–268.

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und die darauf basierende »Naturwissenschaft« des lateinischen Mittelalters boten Begriffe und Erklärungsmöglichkeiten zu Fragen der Statik und der Dynamik. Ein in der Frühen Neuzeit prominentes Beispiel war die Bestimmung der Bewegungsbahn eines Projektils anhand der Unterscheidung zwischen natürlichen und erzwungenen Bewegungen zu oder aus dem »natürlichen Ort« eines Körpers beziehungsweise eines Elementes. Seit dem 13. Jahrhundert etablierte sich eine Wissenschaft der Gewichte als eigenständige Disziplin unter dem Namen einer aristotelischen scientia de ponderibus, die auf dem Werk des Jordanus Nemorarius beruhte und die den Gewichtsbegriff eng an die aristotelische Vorstellung der Bewegung eines Körpers zu seinem natürlichen Ort band. Die Wissenschaftler-Ingenieure der Renaissance stritten darüber, ob die Zusammenführung der archimedischen Statik mit dieser mittelalterlichen Tradition der scientia de ponderibus legitim sei – wie etwa in den Werken von Niccolò Tartaglia und Giovanni Battista Benedetti – oder ob sie im Namen des Archimedes abzulehnen sei – wie in der Urbino-Schule. Wie in neueren Studien nachgewiesen werden konnte, konzentrierten sich diese entgegengesetzten Positionen in der Kontroverse über das Gleichgewicht der Waage.4 Die Unterschiede der zwei Schulen, der »Eklektiker« und der »Puristen«, lässt sich am deutlichsten im Streit über das Gleichgewicht einer gleicharmigen im Schwerpunkt aufgehängten Waage erläutern. Umstritten war, wie sie sich idealiter verhalten würde, nachdem sie aus der horizontalen Position geneigt würde. So lehnte Commandinos Schüler Guidobaldo Del Monte die scientia de ponderibus radikal ab. Er versuchte alternativ die Mechanik durch Anwendung des zentralen archimedischen Begriffs des Schwerpunkts zu begründen. Sein archimedischer Purismus verhinderte es, das Potential zu erkennen, das im Werk seines Gegners Benedetti steckte. Letzterer verzichtete nämlich auf einen strengen archimedischen Ansatz und dachte die Schlüsselbegriffe der scientia de ponderibus um. Insbesondere versuchte er durch die Revision des Begriffs des pondus secundum situm, oder des »positionellen Gewichts«, eine ortsabhängige Vorstellung von Gewicht zu erarbeiten, die später zur Formulierung des physikalischen Begriffs des Moments führte. Unterschiedliche Ansätze konnten also zu unterschiedlichen Antworten auf anscheinend einfache Fragen führen, wie beispielsweise die Frage nach dem Verhalten einer geneigten, gleicharmigen Waage, die an ihrem Schwerpunkt hängt. Nach Guidobaldo sollte diese unbewegt bleiben. Benedetti hingegen ging vom positionellen Gewicht unter Einbeziehung des kosmologischen Kontexts, also der Vorstellung der Erde als Kugel aus, und schloss daraus, dass sie sich in eine senkrechte Position begeben sollte. 4

Siehe vor allem Renn/Damerow (2012).

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In dieser Auseinandersetzung ging es nicht nur um ein spezifisches Problem der Waage, sondern vielmehr darum, sich an verschiedenen Traditionen abarbeitend unterschiedliche konzeptuelle Werkzeuge zu entwickeln und diese zu verfeinern. Die Kontroverse erweist sich also gleichzeitig als theoretisch-wissenschaftliche Polemik und als Streit über die Bewertung der Antike als autoritative Referenzkultur (Allelopoiese). Dies bietet uns ein einleuchtendes Beispiel der Kontingenz in der Geschichte der Naturwissenschaften und der Wirkung von Überlieferungen auf diese Entwicklung. Beide Betrachtungen des Gleichgewichts, die von Del Monte sowie die von Benedetti, sind aus heutiger Sicht unzureichend. Trotzdem hatten sie eine äußerst wichtige theoretische und historische Bedeutung, denn sie beinhalteten Elemente, die für spätere Entwicklungen der Mechanik eine wesentliche Rolle spielten. So wurde bei Galilei der Versuch Benedettis, den positionellen Effekt eines Gewichts zu ermessen, zu einem Schlüsselbegriff seiner neuen Mechanik und Bewegungslehre. Er benannte diesen Effekt auf Italienisch »momento« und auf Lateinisch »momentum«, also durch einen Terminus, der den archimedische Begriff ῥοπή wiedergeben sollte. Galilei etablierte diesen Begriff sowohl für die Betrachtung der positionellen Wirkung eines Gewichts in verschiedenen mechanischen Systemen als auch in der Beschreibung des variierenden Effekts eines Gewichts während der Bewegung. Zugleich verband Galilei diesen Begriff mit dem archimedischen Begriff des Schwerpunktes, den Del Monte für unvereinbar mit Benedettis Lehre gehalten hatte.

Die Inszenierung der historischen Kontingenz im astronomischen Diskurs Die Kontingenz der Überlieferung ist nicht nur für die Mechanik kennzeichnend, sondern auch für die meisten mathematischen Wissenschaften. Die Aneignung klassischer und hellenistischer Quellen im 15. und 16. Jahrhundert war gleichzeitig ein philologisches und ein exegetisches Unternehmen. Dabei galt es eventuell inkorrekt und fragmentarisch überlieferte Texte inhaltlich wiederherzustellen und zu ergänzen. Deshalb sind zum Beispiel in der Archimedes-Rezeption der Commandino-Schule die humanistisch-literarischen Interessen von mathematischen und naturwissenschaftlichen nicht zu trennen. Vor allen Dingen lassen sich diese Bemühungen im Licht der Rhetorik der Reinheit, der wieder zu belebenden Antike, begreifen. Letztendlich ist dieses Kontingenz-Bewusstsein im Topos einer historischen Diskontinuität zwischen einem trüben Mittelalter und einer zu rettenden Antike verankert, die zugleich die Neuzeit zu reformieren gestattet. In der Astronomie kann Johannes Regiomontanus’ Widmung der Epytoma in Almagestum Ptolemaei (Venedig 1496) an Kardinal Bessarion als ein

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berühmtes Zeugnis dieser historischen Diskontinuitätsperspektive gelten. In der Epytoma, die eine Wende in der lateinischen Rezeption der ptolemäischen Theorien und Methoden war, stellte Regiomontanus den Verlust antiken as­ tro­no­mi­schen Wissens als Zeichen eines sowohl intellektuellen als auch moralischen Niederganges der moderni dar. Die Tugend (virtus) der Alten wird bei ihm der Geldgier der Modernen entgegengesetzt (hinc nihil praeter aurum suave creditum est), der splendor pristinus dem deforme simulachrum, das decus und die facilitas der Griechen der barbaries der Lateiner. Dazu behauptete Regiomontanus, dass die ursprüngliche Klarheit der Texte durch lateinische Übersetzungen aus fremden Sprachen (ex peregrinis linguis), hauptsächlich aus dem Arabischen, verfälscht worden sei. Ptolemäus hätte sein eigenes durch Überlieferungen und Übersetzungen korrumpiertes Buch nicht mehr erkennen können: Darin beruht eine größere Schwierigkeit dieser Disziplin, die uns die Übersetzer fremdsprachiger Handschriften eingebrockt haben. Sie ist allerdings in der Tat nicht unerheblich. Schwierig ist es und sehr beschwerlich, dass man das, was in einer fremden Sprache wohl formuliert ist, mit demselben Stil und derselben Leichtigkeit in der Übersetzung bewahrt, sogar wenn es von gebildeten Männern mit höchster Sorgfalt und höchstem Aufwand übersetzt wurde. Denn wenn einer von ihnen ein wenig [zu] beredter oder ein [zu] sorgfältiger Übersetzer wäre, würde der Ausdruck geradezu unsauber und verwirrend klingen. Das scheint mir wirklich bei jenem deutlich herausragenden Buch von Ptolemäus eingetreten zu sein, das man Magnam Compositionem [= Almagest] nennt, die sich im Griechischen durch wundervolle Leichtigkeit und Stilistik auszeichnet, aber im Lateinischen so hart und ungekonnt klingt, dass Ptolemäus sie in der Tat, wenn er wiederauferstehe, nicht wieder erkennen würde.5

Das religiöse und politische Element der kontingenten Überlieferung antiken Wissens wird in Regiomontanus’ Rede auch explizit gemacht, indem er Kardinal Bessarion dafür lobt, dass er aus dem »Schiffbruch seiner Heimat« nach der türkischen Eroberung Konstantinopels die Schätze der Kultur, die libri, retten konnte. Eines davon war der Kodex mit der Μαθηματίκη σύνταξις des Ptolemäus, auf der die Einführung der Epytoma von Regiomontanus basierte.6

5

6

Regiomontanus (1496), Bl. a2v: »Hinc maior huius disciplinae pendet difficultas, quamquam nec illa quidem parva est quam nobis peregrinorum codicum interpretes pepererunt. Difficile est sane atque ardui ut quae in aliena lingua bene dicta sunt, eundem decorem eandemque facilitatem in translatione conservent, etiam si a disertis viris summo studio ac diligentia translata fuerint. Quorum si parus vel disertus vel curiosus fuerit interpres scabra prorsus et turbulenta redundat oratio. Quod mihi plane evenisse videtur in praeclarissimo illo Ptolemaei libro, quem Magnam Compositionem vocant, quod apud Graecos mira facilitate facundiaque resplendeat, ita apud Latinos durum ineptumque habetur, ut ne Ptolemaeus quidem ipse si reviviscat ipsum sit pro suo recepturus.« Ebd., Bl. a3r: »[…] nihil perniciosius accidere posse existimans, quam si cum patria etiam libri periissent.«

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Die allelopoietische Beziehung von Antike und Moderne führte zu unerwarteten ideengeschichtlichen Begegnungen, nicht nur zu derjenigen von Archimedes und Aristoteles in der Mechanik, sondern auch zu derjenigen von Kopernikus mit den Pythagoräern in der Astronomie. In der Renaissance wurde das kopernikanische Planetenmodell als eine Neugeburt des »pythagoreischen« Systems von Aristarchos von Samos angesehen. Obwohl der einzige Hinweis dafür eine Referenz in Archimedes’ Arenarius war,7 stellten sich die Hauptrepräsentanten der kopernikanischen Astronomie und der neuen Physik am Anfang des 17. Jahrhunderts Johannes Kepler und Galileo Galilei gerne als Neupythagoräer vor.8 Diese Zuschreibung führte zu einer merkwürdigen historischen Fälschung, und zwar zur Edition einer fiktiven Übersetzung aus dem Arabischen durch Gilles Personne de Roberval, die eine vorgeblich »verlorene« aristarchische Verteidigung des heliozentrischen Systems enthalten solle: Aristarchus von Samos, De mundi systemate, partibus et motibus eiusdem libellus (Paris, 1644). Dieser Text wurde später auch in Marin Mersennes Novarum observationum physico-mathematicarum… tomus III (Paris, 1647) abgedruckt. Die inszenierte Entdeckung einer autoritativen Quelle erzeugte historische Kontingenz, deren Kontext hier kurz dargestellt werden soll. Nach der Zensur der kopernikanischen Hypothesen durch die römische Kirche im Jahre 1616 und der Verurteilung Galileis im Jahre 1633 wurde die Diskussion des Heliozentrismus in katholischen Ländern gefährlich für deren Vertreter. Die Kopernikus-Rezeption in Frankreich, die etwas freier als in Italien verlief, war durch die Beschränkung auf eine bloß formale Zustimmung zur römischen Zensur gekennzeichnet, während eine eher freie Erwähnung und Behandlung der verbotenen Planetentheorie durchaus möglich war. In Paris galt zum Beispiel Pierre Gassendi als ein überzeugter Verfechter von Kopernikus. Des weiteren veröffentlichten dort mehrere Autoren Apologien des heliozentrischen Systems in verschiedenen Formen. Der Heliozentrismus konnte aber nur mit einer gewissen Vorsicht vertreten werden. Ismael Boulliaus kopernikanisches Werk Dissertationis de vero systemate mundi libri IV erschien unter dem Pseudonym Philolaus im Ausland (Amsterdam 1639). Erst später wagte er den Band Astronomia Philolaica mit seinem echten Namen in Paris 1645 zu veröffentlichen. In diesem Zusammenhang erschien auch Robervals Pseudo-Aristarchus. Das Vorwort der genannten Fälschung ist eine Nachahmung von Regiomontanus’ einführender Widmung zur Epytoma. Ein fiktiver, auf Arabisch überlieferter und »barbarisch« ins Latein übersetzter Text sei von Roberval stilistisch revidiert und mit Kommentaren versehen worden, wie in der Quelle 7 8

Siehe Gingerich (1985) und Omodeo (2013). Siehe auch Heath (1997). Siehe Omodeo (2012), 228–234.

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behauptet. Ironisch verweist Roberval darauf, dass die kopernikanische Lehre durch Aristarchus’ heliozentrisches Werk die Würde einer alten Lehre verliehen bekomme, die die Wahrheitsliebenden schätzen würden: Schau, mein verehrter Herr [Petrus Brulart de S. Martin], das Buch des Aristarchus von Samos De Mundi Systemate [= Über das Weltsystem] zeigt Dir, was, wenn ich mich nicht irre, Du und verehrter Vater Mersenne von uns erwartet. Denn nachdem es in einem handgeschriebenen arabischen Kodex wiederentdeckt und durch deine Bemühung ins Lateinische übersetzt wurde – die Übersetzung aus dem Arabischen war in so rohem und fremdartigem Stil verfälscht worden, dass sie kaum verständlich war – hast Du uns das Buch zur Lektüre und Korrektur übergeben, damit wir Kommentare über das hinzufügen, was nach der Zeit des Autors entdeckt wurde und was seine Thesen bestätigen oder eventuell ablehnen könnte. Sicher wirst Du es billigend anerkennen, da Du allein die Wahrheit liebst, statt Neuigkeiten, und da Du vor der gängigen Meinung zurückschreckst.9

Das Narrativ der historischen Kontingenz der Wissenschaftsüberlieferung und -entwicklung könnte nicht besser inszeniert werden als in dieser Passage. Die Renaissance ist eine Epoche, in der das Thema der historischen Verortung des Wissens wie nie zuvor in der europäischen Geschichte thematisiert wurde. Die zentrale Renaissance-Idee der Neubelebung der Antike und die humanistische Ablehnung der mittelalterlichen »Barbarei« beruht auf einer historischen Selbstbehauptung, wenn nicht auf einer Geschichtsphilosophie. Aus der Perspektive einer zyklischen Auffassung der Zivilisation, in welcher sich helle Zeiten mit dunklen abwechseln, zelebrierte Giordano Bruno die heliozentrische Planetentheorie des Kopernikus als die Neugeburt der antiken Weisheit, insbesondere der pythagoreischen Weltanschauung.10 In seiner epochalen Erwartung war er nicht isoliert und viele Humanisten, Mathematiker und Wissenschaftler-Ingenieure verstanden ihre intellektuelle Aktivität als eine Neubelebung antiker Lehren, wie wir an den Beispielen von Archimedes und Pythagoras rekonstruiert haben.

9

Aristarchus (1644), Bl. a2r–v: »Ecce, vir amplissime [Petrus Brulart de S. Martin], talis tibi prodit Aristarchi Samii libellus, de Mundi Systemate, qualem, ni fallor, tu et R. P. Mersennus a nobis expectastis, cum ipsum ex Arabico codice manu scripto recuperatum, atque tuis impensis, ab extraneo quodam Arabice linguae perito, Latine scriptum, stilo, ut scis, adeo rudiatque Barbaro ut vix intelligeretur, nobis legendum atque emendandum tradidistis; simulque ipse mandasti, ut notas quasdam adiiceremus, circa ea quae post Authoris ipsius tempora detecta sunt, ex quibus sententia illius corroborari posset, vel etiam, si ita contingeret, infirmari. Unde solius veritatis amantem te, non vero rerum novarum, aut a communi opinione abhorrentium cupidum, plane licuit agnoscere.« 10 Siehe Brunos La cena de le Ceneri, in Bruno (2000), 25: »Chi dunque sarà sí villano e discortese verso il studio di quest’uomo, che, avendo posto in oblio quel tanto che ha fatto, con esser ordinato dagli dei come una aurora, che dovea precedere l’uscita di questo sole de l’antiqua vera filosofia, per tanti secoli sepolta nelle tenebrose caverne de la cieca, maligna, proterva ed invida ignoranza; vogli, notandolo per quel che non ha possuto fare, metterlo nel medesmo numero della gregaria moltitudine.«

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Allerdings hat Edgar Zilsel zurecht vor den Exzessen einer Ideengeschichte gewarnt, die nur die Auseinandersetzung mit antiken Ideen in den Vordergrund stellt und dabei die Rolle der zeitgenössischen technischen Herausforderungen übersieht: »Abseits von Einflüssen der pythagoräischen und platonischen Metaphysik behandeln die mathematischen Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts erstens detailliert die Probleme der Handelsmathematik und zweitens die technologischen Bedürfnisse der Militäringenieure, Feldmesser, Architekten und Künstler.«11 Im Anschluss an Zilsels These behauptete Wolfgang Lefèvre in Naturtheorie und Produktionsweise, dass es nicht nur einen Zusammenhang zwischen den technischen Fähigkeiten der Frühen Neuzeit und den zeitgenössischen Naturanschauungen gegeben habe, sondern dass es darüber hinaus die ideologische Motivation des aufstrebenden Bürgertums gewesen sei, die zu Versuchen einer immanenten Welterklärung auf der Grundlage dieses technischen Wissens geführt habe. Die Mechanik entwickelte sich zunächst als Theoretisierung technischer Ausrichtungen und Prozeduren. Aus der Perspektive einer solchen Disziplin erwies sich die Kontingenz als ein durch die Praxis bestimmtes epistemologisches Element. Erst später, im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert, entwickelte sich die Mechanik zum Paradigma der Physik und sogar der Naturphilosophie tout court.12 Die anfängliche Technikbezogenheit der Disziplin wurde von Leonhard Olschki – wenn auch nur reduktiv und anachronistisch – als »angewandte Wissenschaft« beschrieben. Im Gegensatz zur Rolle der Technik bei Olschki leugnete Alexandre Koyré die enge und produktive Verflechtung von Technik und Wissen in der Renaissance, wahrscheinlich aus ideologisch-konservativen Gründen, obwohl er die Primärquellen sowie die Werke von Olschki und die Thesen von Zilsel wohl kannte.13 Wir wollen uns im Folgenden der Rolle dieser materiellen Herausforderungen für die Frage der Kontingenz im Sinne der epistemologischen Kontingenz auf Praxis beruhender wissenschaftlicher Erkenntnis zuwenden.

Von der praktischen zur epistemologischen Kontingenz Das Kontingenzbewusstsein durchdrang nicht nur den historischen Metadiskurs über die Wissenschaft, sondern auch deren epistemologischen Kern und die damit verbundenen Naturvorstellungen. So schrieb Galilei an Del Monte 11 Zilsel (1942) übersetzt in Zilsel (1976), 49–65, 52–53. 12 Siehe auch Lefèvre (2001), 25. 13 Der erste Band von Olschkis Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur hieß Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften vom Mittelalter bis zur Renaissance (Heidelberg 1919). Koyrés Deutung von Galilei als rein spekulativem Geist, zumal in »Galileo and Plato«, kann legitimerweise als eine »Provokation« verstanden werden oder als eine Reaktion auf die materialistische Lektüren der Renaissance-Mechanik etwa bei Zilsel und Olschki. Über »Koyré’s provocation« siehe Lefèvre (2001), 11.

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aus Padua am 29. November 1602 über die Unvermeidlichkeit der Kontingenz in der Betrachtung der Natur der Bewegung: Bezüglich Ihrer Frage bin ich mit Ihrer erlauchten Hoheit ganz einverstanden. Wenn wir uns mit der Materie befassen, verändern sich wegen ihrer Kontingenz [per la sua contingenza] die Sätze, die vom Geometer nur abstrakt betrachtet werden. Über so getrübte [Sätze] kann es keine reine Wissenschaft [certa scienza] geben, deshalb ist der Mathematiker von der Spekulation darüber frei.14

Diese Aussage mag überraschend klingen, insbesondere wenn man die wesentliche Rolle Galileis für die klassische Physik bedenkt. Allerdings darf seine Stellungnahme zur Kontingenz der Materie und zur Unzulänglichkeit der reinen Geometrie für das Verständnis der Bewegung keineswegs als radikale Skepsis missverstanden werden. Sie sollte eher mit Blick auf die Rolle des praktischen Wissens der Wissenschaftler-Ingenieure seiner Epoche gedeutet werden. Mit der Kontingenz der Materie, verstanden als Widerständigkeit und als eine ihrer wesentlichen Eigenschaften, waren diese Ingenieure und Mechaniker ständig konfrontiert. Die Erfahrung der Differenz von Theorie und Praxis wurde von zeitgenössischen Wissenschaftlern als theoretische Unterscheidung von Mathematik und Mechanik reflektiert, wie das folgende Zitat aus Bonaiuto Lorinis Delle fortificationi (1597) belegt: Aber ehe wir weitergehen, muss ich auf den Unterschied hinweisen, der zwischen einem rein spekulativen Mathematiker und einem praktischen Mechaniker besteht. Dieser Unterschied liegt darin begründet, dass Beweise und Verhältnisse, die von Linien, Flächen und bloß eingebildeten, materielosen Körper abgeleitet werden, nicht mehr genau gelten, wenn man sie auf materielle Gegenstände anwendet, weil die geistigen Vorstellungen des Mathematikers nicht jenen Hinderungen unterworfen sind, die von Natur aus der Materie eigen sind, mit der der Mechaniker arbeitet.[…] Deshalb will ich durch das oben Mitgeteilte dem, der sich auf dergleichen Unternehmungen verlegen will […], vor Augen führen, dass ihm nicht allein die Kenntnis der Mathematik vonnöten, sondern dass er auch ein vorsichtiger und geübter Mechaniker sei […].15

Auf den Kontext weist Lorini in seiner Behandlung explizit hin: Es handelt sich um ein praktisches Anliegen. Sein Interesse ist es, durch sein Buch Orientierung für die technische Praxis zu geben und diese dadurch zu unterstützen, dass er nicht nur die Regeln (die »Verhältnisse«) für die Herstellung von Ma14 Galilei (1968), Bd. X., Nr. 88, 97–100, 100: »Perquanto al suo quesito, stimo benissimo quanto ne dice V.S. Ill.ma, e che quando cominciamo a concernere la materia, per la sua contingenza si cominciano ad alterare le proposizioni in astratto dal geometra considerate; delle quali così perturbate siccome non si può assegnare certa scienza, così dalla loro speculazione è assoluto il matematico.« 15 Klemm (1954), 157–158 und Lefèvre (1978), 96.

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schinen, sondern auch die Prinzipien ihrer Wirkungsweise erklärt. Die Kenntnis theoretischer Grundsätze ist die Voraussetzung der erfolgreichen Abschätzung eines Projekts sowie seiner Realisierung. Theorie reicht laut Lorini aber nicht aus. In konkreten Ausführungen sei man gezwungen von ihr abzuweichen. Diese Diskrepanz von Theorie und Praxis hat gleichzeitig eine philosophische und eine soziale Konnotation. Einerseits kennt der reine Mathematiker die notwendigen Eigenschaften der geometrischen Figuren, die aber bloß als abstrakte Gegenstände gelten können. Andererseits weiß der Praktiker – der Mechaniker – über die Abweichung realisierbarer Maschinen und Instrumente von geometrischer Perfektion Bescheid. Der Praktiker ist durch seine Tätigkeit mit der »Materie« vertraut. Er ist sich bewusst, dass die reale Entwicklung eines Projekts einer gewissen Kontingenz unterworfen ist. Hierbei redet Lorini von »natürlichen Hindernissen« und von der approximativen Gültigkeit der Mathematik, wenn man mit konkreten Gegenständen arbeitet. Aus diesem Grunde erweist sich die Fähigkeit, mögliche Schwierigkeiten vorauszusehen, als eine äußerst wichtige Kompetenz des Mechanikers. Durch sie vermag er seine Arbeit, die Herstellung eines Kunstwerkes, gegen die Angriffe des Zufalls zu sichern. Die Kontingenz der Materie bringt ein qualitatives Element in die Leistung und das Verständnis des Handwerkers ein. Die Mechanik, als Technologie-Wissenschaft, kann sich dieser Kontingenz nicht entziehen. Ein gut ausgebildeter Mechaniker soll nach Lorini mathematische Kompetenzen und die durch Übung erworbene Erfahrung zusammenführen.

Kontingenz als Aspekt eines intuitiven Modells handwerklicher Arbeit Hinter der Diskussion der Renaissance-Ingenieure über die Kontingenz der Mechanik steckt das intuitive Modell der Arbeit oder der handwerklichen Herstellung, in dem die Kontingenz als Abweichung der Ausführung eines Projekts vom abstrakten Entwurf eine Schlüsselrolle annimmt. Das Kontingente resultiert aus dem nicht genau bestimmbaren Hindernis, das aus der quantitativ, mathematisch nicht fassbaren Ungenauigkeit der Materie entstammt. Es kann nicht präzise bestimmt werden, kann aber durch die Erfahrung des Praktikers mit guter Voraussicht abgeschätzt werden. Der hier dargestellte Hiatus zwischen θεωρία und πράξις ist der Ort der Kontingenz. Es sei dabei angemerkt, dass diese Unterscheidung primär in Hinsicht auf die Praxis gemeint ist. Sie entspringt nicht aus der reinen Theorie, sondern aus der Technik, da sie die Grunderfahrung des Herstellens widerspiegelt. Das intuitive mentale Modell der handwerklichen Herstellung besteht aus mehreren Elementen: dem Handwerker, seinem Produkt, seinem Vorhaben und

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den Hindernissen bei der Realisierung des Projekts, welches zunächst nur abstrakt konzipiert wurde. Wenn man sich diese vierfache Gliederung vor Augen hält, bemerkt man, dass dieses intuitive Modell auch der berühmten aristotelischen Ätiologie unterliegt, nämlich der Lehre der vier Ursachen (causa efficiens, finalis, formalis und materialis).16 Auch die aristotelische Lehre von Materie und Form, der sogenannte »Hylemorphismus« kann als eine Abstraktion des gleichen Modells verstanden werden, denn die Materie entspricht dem Rohstoff des Herstellungsprozesses, die Form dem Projekt des Herstellers und ihre Einheit dem Produkt. Ein weiterer Aspekt dieses intuitiven Modells ist die Prozesshaftigkeit der Arbeit, die zur Umsetzung eines Vorhabens in ein Produkt notwendig ist. Dieser Aspekt spielte im Technologie-Verständnis und den damit verbundenen naturphilosophischen Überlegungen der Renaissance Mechaniker-Ingenieure eine Schlüsselrolle. Im aristotelischen Hylemorphismus verbirgt sich allerdings noch ein weiteres intuitives Modell, das des Wachstums. Hier entspricht die Form dem Entwicklungsziel des Wachstumsprozesses eines Lebewesens, während die Materie der Rohstoff ist, aus dem es erwächst. Im Einzelnen können die Rollen von Materie und Form unterschiedlich gefasst werden. So heisst es zum Beispiel bei Aristoteles in De generatione animalium in Bezug auf die Embryologie: »Einerseits gewährt das Männliche die Form und das Prinzip der Bewegung, andererseits das Weibliche den Körper und die Materie.«17 Im Anschluss daran heißt es bei dem noch in der Renaissance maßgebenden Mediziner Galen in einer anderen Akzentuierung der hylemorphischen Erklärung der Befruchtung: »Er [Aristoteles] leugnet nicht, dass der Samen die Funktion des Handwerkers [ὁ τοῦ δημιουργοῦ λόγος] im Bezug auf den Fötus hat.«18 An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass sich im hylemorphischen Denkmodell zwei intuitive Vorstellungen begegnen, das schon besprochene Handwerkermodell und das Wachstumsmodell. Durch ihre Vereinigung in der abstrakteren aristotelischen Lehre erhielt diese eine Ambivalenz, die ihre ganze Wirkungsgeschichte prägen sollte. Aus der Wachstumsvorstellung entstand insbesondere eine stärkere Betonung der eigenständigen Rolle der Materie und des Prozesscharakters der Natur gegenüber der Interpretation, die im Sinne des Handwerkermodells die Unselbstständigkeit und die Passivität der Materie ins Zentrum rückte.19 Seit der Antike bot das Modell des Handwerkers die Grundlage für kosmologische und naturtheoretische Betrachtungen. Nach Geoffrey E. R. Lloyd können die griechischen kosmologischen Vorstellungen auf drei Modelle zurückgeführt werden: das Artefakt, den lebendigen Organismus und die poli-

16 Aristoteles, Physik II 3, 194b16–195a3. 17 Aristoteles, De generatione animalium I, 729a10. Siehe Aristoteles (1990), 81. 18 Galen, De semine I 5, 8–9. Vgl. Galen (1992), 80. 19 Vgl. Bloch (1963), 71–75.

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tische Entität.20 Diesen drei Grundvorstellungen, die zu absoluten Metaphern wurden, ist eine anthropologische Dimension gemeinsam. Zu beachten ist dabei, dass das Artefakt und die Polis auf menschliche Produktion und Organisation verweisen, während der lebendige Organismus oftmals als göttliche Schöpfung gedacht wurde. Das Handwerk konnte vice versa als mangelhafte menschliche Nachahmung eines lebendigen Organismus begriffen werden; ein Vergleich, den man häufig in der antiken philosophischen Literatur antrifft und im Mittelalter im Motto »ars imitatur naturam« gefasst wurde. Im nächsten Abschnitt wird ein viertes Modell eingeführt: das autonome Natursystem als deanthropomorphisierte Weltanschauung, die sich allerdings bereits in der Antike finden lässt. Darüber hinaus verschiebt sich in der Renaissance gegenüber der Antike der Akzent in der Verwendung des Handwerker-Modells vom Produkt auf den Produktionsvorgang. Für unsere Fragestellung zum Kontingenzbegriff in der Naturwissenschaft ist die Polis-Metapher weniger relevant. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass die Kontingenz selbstverständlich eine zentrale Rolle im politischen Bereich (etwa in Entscheidungsprozessen, Verhandlungen, und bei der Bewältigung unberechenbarer Notfälle) und daher auch in den daraus abgeleiteten Weltvorstellungen spielte. In der Renaissance ist sie in Machiavellis Diskurs über die fortuna durchaus präsent. Die anderen beiden Modelle aber waren im weiteren Verlauf innerhalb der naturwissenschaftlichen Tradition zunächst von größerer Bedeutung. Im Zeitalter der mechanistischen Philosophien standen die Metapher der Natur als Königreich Gottes und die Metapher der Welt als Artefakt (die notwendig regulierte Maschine) in offensichtlichem Kontrast. Die Verbindung der natürlichen Ursachen mit menschlichen Absichten und Zwecken wurde im Zeitalter der Mechanisierung des Weltbildes zum Problem. Sie wurde von Gottfried Wilhelm Leibniz als eine »prästabilierte Harmonie« in den Principes de la nature et de la grace und in der Monadologie postuliert. In der Monadologie (87–88) liest man über die Versöhnung von Dieu comme architecte und Dieu comme legislateur folgendes: § 87. Wie wir weiter oben eine vollkommene Harmonie zwischen zwei natürlichen Reichen, dem der Wirkursachen und dem der Zweckursachen, festgestellt haben, so müssen wir hier noch eine andere Harmonie zwischen dem physischen Reich der Natur und dem moralischen Reich der Gnade bemerken, d. h. zwischen Gott betrachtet als Architekt der Maschine des Universums und Gott betrachtet als Monarch des göttlichen Staates der Geister.

20 Lloyd (1991), 148.

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§ 88. Diese Harmonie macht, dass die Dinge auf den Wegen der Natur selbst zur Gnade führen […].21

Leibniz’ Konzept der Beziehung zwischen Gott und der Welt ist deutlich anthropomorphisch in dem Sinne, dass es menschliche Verhältnisse auf natürliche Verhältnisse projiziert. Für unseren Zusammenhang ist bemerkenswert, dass das Leibniz’sche Problem der Harmonisierung der zwei Reiche, das der mechanisch konzipierten Natur und das der Gnade, eine Folge der zeitgenössischen Versuche ist, die Kontingenz aus dem Weltmechanismus zu verbannen. In der Antike und in der Renaissance dagegen war die Kontingenz noch ein wesentlicher Teil der Naturauffassung. Für die Renaissance haben wir dies durch die Zitate von Galilei und Lorini belegt. Für die Antike lässt sich diese Behauptung durch einen Blick in die Schriften von Plato und Aristoteles bestätigen. Wie wir bereits angemerkt haben, stützen sich Aristoteles’ Ursachen-Lehre und die hylemorphistische Theorie auf das intuitive Handwerkermodell. Diese Lehre steht ihrerseits im Zentrum seiner Naturphilosophie und wird gleich am Anfang seiner Physik beschrieben. Auch bei Plato spielt das Handwerkermodell eine entscheidende Rolle für seine Idee des Schöpfergottes und der von ihm als Handwerksprodukt geschaffenen Welt. In Timaios wird Gott (ὁ θεός) als der Handwerker, der δημιουργός, angesehen, der die Welt als ein einheitliches, sinnlich wahrnehmbares Lebewesen (ζῷον ἓν ὁρατόν) gestaltet.22 Zur Gestaltung der Welt musste der Demiurg einerseits das Ideelle (τὰ διὰ νοῦ) in Betracht ziehen und andererseits mit der materiellen Notwendigkeit (τὰ διὰ ἀνάγκης) rechnen. Der platonische Ansatz ist teleologisch, weil er eine Zweckmäßigkeit in der Natur voraussetzt. Diese Zweckmäßigkeit hängt vom Intellekt des Schöpfers ab, und wird deshalb als νοῦς bezeichnet. Ihr Gegenteil ist die Notwendigkeit, im Griechischen ἀνάγκη, die deshalb anders als bei den modernen Autoren (zum Beispiel bei Leibniz) der Zweckmäßigkeit entgegensteht.23 Platos Ansatz ist nicht nur teleologisch, sondern auch ästhetisch ausgerichtet. Weil der Demiurg auf ewig bestehende Ideen als Vorbild seiner Weltgestaltung schaut, kann er das Schöne erzeugen, im Gegensatz zum menschlichen Hersteller, der das Werdende, die Natur, als Vorbild betrachtet. Die Nachahmung der Nachahmung weicht notwendigerweise von ideeller Schönheit ab: Jedes Ding nun also, dessen Gestalt und Wirkungskraft der Schöpfer [ὁ δημιουργός] herstellt, indem er auf das immer sich gleich Verhaltende hinblickt und ein derartiges zum Vorbild nimmt, muss er so notwendig als ein ganz Schönes [καλόν] hervorbringen; das, bei dessen Herstellung [der Schöpfer] auf Gewor-

21 Leibniz (2002), 149 (minimal revidiert). 22 Plato, Timaios, 31a. 23 Ebd., 48a.

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denes schaut, also ein dem Werden unterliegendes Vorbild heranziehend, [wird] nicht schön [οὐ καλόν] [sein].24

Aus diesem ätiologischen Mythos leitet Plato naturphilosophische Folgerungen ab. Das Handwerker-Modell, das intuitive Modell der Arbeit, spiegelt sich auf der abstrakten Ebene der Spekulation über die Prinzipien der Realität wider. Plato führt drei Prinzipien ein: Aus der Polarität von Form und Materie entsteht eine dynamische Realität, die Natur. Das materielle Prinzip wird von Plato als χώρα bezeichnet. Platons χώρα wurde dann von Aristoteles dem Ort, dem τόπος, gleichgesetzt25, aber der Begriff hat im Timaios nicht nur eine räumliche, sondern auch eine materielle Bedeutung. Denn χώρα ist auch das Land um die Polis herum, der Acker, der durch die Arbeit des Bauern Früchte bringt. Hier verschmelzen die Metapher des Handwerkers und des Bauern, während die Gleichsetzung des göttlichen Schöpfung mit der menschlichen Bearbeitung der Materie bestehen bleibt. Entsprechend führt Plato im Timaios aus: Angesichts dieses Tatbestandes soll man darin einig sein: Eines ist die immer sich gleich verhaltende Form, ungeworden und unvergänglich, weder in sich selbst ein anderes von woandersher aufnehmend noch selbst irgendwohin in ein anderes fortgehend, unsichtbar und auch sonst nicht wahrnehmbar – das was das Denken zur Betrachtung erhalten hat; das dem Gleichnamige und Ähnliche ist das Zweite, wahrnehmbar, dem Werden unterworfen, immer hin und her bewegt, ins Werden tretend an einer bestimmten Stelle und wieder daraus im Untergang verschwindend, durch Mutmaßung in Verbindung mit Sinneswahrnehmung erfassbar; die dritte Gattung wieder ist die des je raumgebenden Feldes [χώρα], die Untergang nicht an sich lässt, stattdessen einen Wohnsitz gewährt allem, was da Entstehung hat, selbst ausgestattet mit Nichtwahrnehmbarkeit durch Sinne, zugänglich nur einer Art unechten Schlusses [λογίσμος νόθος].26

Natur im Zeichen des Zufalls oder der Kontingenz? Materialistische, physikalische und nicht-anthropomorphe Weltvorstellungen waren der Antike durchaus nicht unbekannt. Solche Perspektiven wurden bereits der Philosophie durch die ionischen und eleatischen Schulen eröffnet. Die einflussreichste Theorie der Natur als autonomes System war aber die atomistische, die in der Zeit von Aristoteles entworfen wurde und sehr bedeutsam für die naturwissenschaftlichen Debatten der Neuzeit wurde. Wichtigster Vermittler dieser Konzeption in der Renaissance wurde Lukrez durch sein Poem De rerum natura.

24 Ebd., 28a–b. Übersetzung aus Plato (1992), 29 (revidiert). 25 Aristoteles spricht über χώρα bei Plato in Physica IV. 26 Ebd., 52 A–B, Übersetzung revidiert, 83–85.

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Sein Ansatz kehrte die idealistische und theologisch aufgeladene platonische Vorstellung um, dass die Perfektion der Welt notwendigerweise aus der Güte des Demiurgen entstamme. Anders als bei Plato wird nicht für diese Vollkommenheit argumentiert, sondern umgekehrt schließen die Unvollkommenheiten und das Leiden der Welt die Möglichkeit aus, dass »vorsehende« Götter sie geschaffen haben könnten: »Keineswegs wurde das Weltall für uns durch göttliches Walten / Jemals geschaffen – zu zahlreiche Mängel sind ihm zu eigen!«.27Der deantropomorphisierende und ateleologische Ansatz geht bei Lu­ krez so weit, dass die Zweckmäßigkeit der Natur sogar im biologischen Bereich geleugnet wird: Nachdrücklich muss ich bei diesem Thema noch warnen vor einem Irrtum. Ich bitte dich dringend, ihn voller Vorsicht zu meiden: Glaub nicht, das Augenlicht wäre geschaffen, die Gabe des Sehens uns zu vergönnen, oder es könnten, gestützt auf die Füße, Ober- und Unterschenkel in ihren Gelenken sich drehen, um uns weit ausgreifend unseres Weges schreiten zu lassen; oder die Arme hingen an kraftvollen Schultern und unsre Hände seien uns beiderseits gleichsam als Diener gegeben, um das zum Leben Notwendige selber beschaffen zu können; glaub auch nicht weitern derartigen Deutungen! Sind sie doch sämtlich Trugschlüsse, Ursachen werden und Wirkungen schlechthin verwechselt; Gar nichts am Körper wurde für uns zur Nutzung geschaffen. Vielmehr bewirkt das einmal Geschaffene selbst sich die Nutzung. Vor der Erschaffung der Augen gab es keinerlei Sehen, vor der Geburt der Zunge auch keinerlei Sprechen von Worten. Vielmehr entstand die Zunge weit früher als jegliches Sprechen, wurden die Ohren geschaffen schon lange, bevor man Geräusche wahrnehmen konnte, kurz, sämtliche Glieder gab es, nach meiner Meinung, bereits, noch ehe man lernte, sie sinnvoll zu brauchen. Keineswegs konnten sie also zum Zwecke der Nutzung entstehen.28

Zusammen mit dem Teleologismus wird bei Lukrez vor dem Hintergrund eines atomistischen Naturbildes die Vorstellung eines Herstellers fallen gelassen. Stattdessen ersetzte er die Idee der Natur als einer vom Projekt abweichenden Wirklichkeit durch die Idee eines durch Zufall beherrschten ewigen materiellen Universums. In der Gegensätzlichkeit zwischen den hellenistischen Schulen der Epikureer und der Stoiker und ihrer Grundbegriffe von Zufall und Logos kristallisierte sich in der Antike die Opposition zwischen einer von innerer Rationalität und Planmäßigkeit gekennzeichneten Naturvorstellung bei den Letzteren und einer radikalen Ablehnung solcher anthropomorphischen Deutungen bei den Ersteren heraus. Die Epikureer lehnten die auf dem intuitiven mentalen Modell des Handwerkers beruhende Idee der Kontingenz radikal 27 Lukrez, De rerum natura II, 180–181. Übersetzung aus Lukrez (1994), 63 28 Ebd., IV, 822–842, Lukrez 1994, 201–202.

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ab. Das clinamen – die intrinsisch unvorhersehbare Abweichung der Atome aus ihren geradlinigen Bahnen – führte die Perspektive einer nicht-kausalen Unbestimmtheit in die Naturvorstellungen der Antike ein. Trotz der Prominenz der epikureischen Schule in der Antike ist die Radikalität ihrer Verneinung von jeder der Natur unterliegenden Planmäßigkeit ein unicum in der Philosophiegeschichte. Die frühneuzeitlichen Autoren, die auf die Atomlehre zurückgriffen, verzichteten nämlich auf solche Verabsolutierung des Zufalls.29 Stattdessen postulierten und suchten sie die Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge der Natur unter der Frage, ob diese als unvollkommen in ihrer realen und einmaligen (sprich kontingenten) Gegebenheit oder als deterministisch, wie etwa im Mechanizismus, angesehen werden können. Der Kontingenz-Begriff ermöglichte eine Kausalerklärung der Realität und gleichzeitig die Anerkennung ihrer Faktizität bezüglich der einzelnen Phänomene sowie der Natur in ihrem Ganzen. Er schloss die Verallgemeinerung des entgegengesetzten Zufallsbegriff als Grunderklärung der Realität aus. Die Kontingenz befand sich im konzeptuellen Raum zwischen der Notwendigkeit und der absoluten Möglichkeit. Sie wurde beispielsweise als possibilitas determinata bei Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert vorgestellt. Als solche betrachtete er sie im zweiten Buch von De docta ignorantia als die dynamische Verbindung zwischen formalen Zwängen und der chaotischen Vielfalt der materiellen Möglichkeiten: Die Einheit des Alls ist also dreifaltig aus Möglichkeit, Notwendigkeit der Verknüpfung und aus Verbindung, die man als Potentia, Actus und Nexus bezeichnen kann. Gewinne daraus vier allgemeine Weisen des Seins. Es gibt nämlich eine Weise des Seins, die sich als absolute Notwendigkeit bezeichnen lässt, wie nämlich Gott die Form der Formen, das Seiende der Seienden, der Grund oder das Wesen der Dinge ist. In dieser Seinsweise ist alles in Gott die absolute Notwendigkeit selbst. Eine andere Seinsweise besteht darin, dass die Dinge in der Notwendigkeit der Verknüpfung sind. In ihr befinden sich die in sich wahren Formen der Dinge mit ihrer Verschiedenheit voneinander und ihrer natürlichen Ordnung. In dieser Weise finden wir sie im Geist [mens]. […] Eine weitere Seinsweise ist die, dass die Dinge in bestimmter Möglichkeit [possibilitas determinata] tatsächlich dieses oder jenes sind. Und die unterste Seinsweise liegt dann vor, wenn die Dinge sein können. Sie besteht in der absoluten Möglichkeit.30 29 Für eine klassische Diskussion des frühneuzeitlichen Atomismus, siehe Freudenthal 1982. 30 Cusanus, De docta ignorantia II, 7: Cusanus (1977), 53 und 55. Siehe Cusanus (1932), 83–84: »Est igitur unitas universi trina, quoniam ex possibilitate, necessitate complexionis et nexu, quae potentia, actus et nexus dici possunt. Et ex hoc quattuor modos universales essendi collige. Nam est modus essendi, qui absoluta necessitas dicitur, ut scilicet Deus est forma formarum, ens entium, rerum ratio sive quidditas; et in hoc essendi modo omnia in Deo sunt ipsa necessitas absoluta. Alius modus est, ut res sunt in necessitate complexionis, in qua sunt rerum formae in se verae cum distinctione et ordine naturae, sicut in mente; an autem hoc ita sit, videbimus infra. Alius modus essendi est, ut res sunt in possibilitate determinata actu hoc vel illud. Et infimus modus essendi est, ut res possunt esse, et est possibilitas absoluta.«

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Laut Cusanus besteht das Universum, die Realität, aus drei Dimensionen, die in Abgrenzung zu Gottes Absolutheit zu begreifen sind: Notwendigkeit, Möglichkeit und ihre Verbindung. Dieser Nexus, der als Kontingenz im Sinne einer Ontologisierung der modalen Logik verstanden werden muss, fällt mit der Natur zusammen. Das Werden aller Dinge ist bei Cusanus die Naturbewegung, die die konkrete Verbindung von Form und Materie darstellt und dadurch die Welt schafft und transformiert. Folgende Tabelle fasst Cusanus’ Realitätsvorstellung zusammen und zeigt die Zentralität der als Kontingenz zu verstehenden Natur. SEINSEBENE I. Absolute Notwendigkeit (necessitas absoluta) a. Notwendigkeit der VerknüpII. Unitas fung (necessitas complexionis) universi trina b. Verbindung (nexus) c. Möglichkeit (possibilitas)

Gott Form / Aktualität (anima sive forma universi) Geist oder Natur (spiritus universorum / natura) Materie / Potentialität

Neuzeitliche Variationen des kosmologisch-theologischen Handwerker-Modells Die theologische Vorstellung der Natur als einer vom Handwerkergott gewollten, kontingenten Wirklichkeit ist in der neuzeitlichen Naturwissenschaft überall präsent. Sie wird zum Beispiel von Galilei in seinem Jugendwerk De motu verwendet, um eine auf archimedischen Prinzipien beruhende Kosmogonie theologisch zu rechtfertigen: Nachdem der göttliche Schöpfer [divinus opifex] die weite Himmelssphäre wunderbarerweise konstruiert hatte, sonderte er die [übriggebliebenen] Exkremente im Zentrum dieser Sphäre ab, und versteckte sie dort. Seine Absicht dabei war es, dass der Anblick dieser Exkremente die unsterblichen und gesegneten Geister nicht beleidigen möge. Weil aber jene sehr dichte und sehr schwere Materie durch ihre Masse den weiten und umfangreichen Raum, der unterhalb der konkaven Oberfläche der letzten Sphäre übriggeblieben war, nicht ausreichend füllte, und damit ein großer Raum nicht nutzlos und leer bliebe, riss er jene schwere und rohe Masse, die sich in engen Grenzen eingeschlossen hatte, auseinander. Aus ihren unzähligen, mehr oder weniger ausgedünnten Teilchen formte er jene vier Körper, die wir später Elemente nannten.31

31 Galilei (1968), Bd. I., 344: »Graviora centro propinquiora, minus gravia centro remotiora, a natura constituta esse, et cur.«: »Vastissimae caelestis excrementa sphaerae, post illius mirabilem

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Die weitere Entwicklung der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft verstärkte diese bereits bei Galilei erkennbare Tendenz, die Welt und ihre Entstehung aus immanenten wissenschaftlich begreifbaren Prinzipien zu erklären und die theologische Einbettung solcher Erklärungen immer weiter zur bloßen Hülle zu degradieren. Einen Höhepunkt fand die Auseinandersetzung um die mit dem Schöpfergott noch verbliebene Rolle und die mit dieser Rolle verbundene Kontingenz seiner Wirkungen in dem berühmten Briefwechsel zwischen Leibniz und Samuel Clarke. Clarke vertrat die Position Newtons, der von einem in die Welt eingreifenden und ihre Kontingenz korrigierenden Schöpfergott ausging. Koyré skizzierte diese Entgegensetzung als den Kontrast zwischen Newtons »Gott des Werktages« und Leibniz’ »Gott des Sabbats«, sowie zwischen der Welt als einer »Uhr, die allmählich abläuft,« bei der Ersteren und der Welt als dem ewigen Automaton beim letzteren.32 So schrieb Clarke an Leibniz: Unter dem Vorwand, dass man dadurch Gott zu einer über die Welt gesetzten und erhabenen Intelligenz [intelligentia supermundana] machen will, sondert man die Vorstellung der Regierung Gottes von der Welt ganz und gar ab. Ich füge hinzu, dass um eben der Ursache willen, welche sich ein Weltweiser einbilden kann, als wenn nach der Schöpfung alles in der Welt geschehe, ohne dass eine besondere Mitwirkung Gottes daran mit Teil nehme; es einem Zweifler oder Sceptico nicht schwer fallen werde, seine Schlüsse so weit zu treiben und anbei zum Grunde zu setzen, dass die Dinge ohne eine vorhergehende wahre Schöpfung oder Kraft eines allgemeinen Urhebers der Welt, sondern bloß vermöge der von einigen Raisonneurs so genannten allweisen und ewigen Natur sich von aller Ewigkeit her also zugetragen, wie sie sich jetzo noch ereignen. Wenn ein König ein Königreich hätte, allwo alles ohne seine Veranstaltung und Regierung geschähe, so würde dieses nur ein Königreich dem Namen nach auf Seiten des Königs sein; und er würde in der Tat den Titel eines Königs oder Regenten im geringsten nicht verdienen.33

Diese Auseinandersetzung illustriert die Entgegensetzung einer unvollkommenen, geschaffenen Welt und einer Welt, die sich wie ein idealisiertes wissenschaftliches Instrument, etwa eine Präzisionsuhr, verhält. Während das letztere Modell dem universellen immanenten Erklärungsanspruch der neuzeitlichen Naturwissenschaft besser zu entsprechen scheint als ein Handwerkermodell der Unvollkommenheit der Natur, war es jedoch dieses, das in der Naturphilosophie und Mechanik der Renaissance eine entscheidende Rolle spielte. Denn compaginem, divinus Opifex, ne forte immortalium beatorumque spirituum offenderent intuitum, in eiusdem globi centrum extrusit atque abscondidit: verum; cum satis amplum et capax sub ultimi concava superficie orbis relictum spacium densissima gravissimaque illa materia mole sua non expleret, ne magnum spacium otiosum atque vacuum esset, quae, pressa gravitate sui, onerosam illam indigestamque massam, in angustis se cancellis concluserat, distraxit; et ex illius innumeris particulis plus minusve rarefactis quatuor illa efformavit corpora, quae postea elementa diximus.« 32 Koyré (1980), 211 und 245. 33 Ebd., 214–215.

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nur die Vorstellung einer unvollkommenen, kontingenten Natur ermöglichte es den Renaissance-Philosophen und -Wissenschaftler-Ingenieuren, ihren Erklärungs- und Beherrschungs-Anspruch der Natur auch trotz der offensichtlichen Diskrepanzen zwischen ihren mathematischen Modellen und ihren praktischen Erfahrungen aufrecht zu halten. Zugleich hielt auch eine wesentlich als kontingent gedachte Natur die Perspektive menschlicher Freiheit offen und unterlag noch nicht dem Determinismus-Dilemma der späteren, mechanistisch interpretierten Naturwissenschaft.

Die Transformation der Arbeits- oder Handwerksmetapher in der Renaissance Seit der Renaissance gewinnt die Metapher des Handwerkers durch die Praxis der Wissenschaftler-Ingenieure neue Konkretheit. Die Abweichung vom mathematischen Entwurf in der Realität wird von diesen durch ihre praktische Erfahrung neu gedacht. Das technische Wissen wurde in der Renaissance durch die aufsteigende Klasse der Wissenschaftler-Ingenieure wegen ihrer zunehmenden Bedeutung in einer sich rasch entwickelnden Gesellschaft neubewertet und wegen seiner Nützlichkeit für zivile und militärische Zwecke hoch eingeschätzt. Im Brief ai lettori (an den Leser), Vorwort zur italienischen Übersetzung von Del Montes Le mechaniche (Venedig 1581), schrieb Filippo Pigafetta: »Mechaniker ist eine sehr ehrenwerte Bezeichnung, die sich nach Plutarch auf einen militärischen Beruf bezieht, der einem hoch angesehenen Mann würdig ist. Dieser ist fähig mit den Händen und der Vernunft wunderbare Werke herzustellen, die besonders nützlich und vergnüglich [utilità et diletto] für das menschliche Leben sind.«34 Im Gegensatz zur aristokratischen Philosophie der Antike und zum theologischen Denken des Mittelalters führte die weltliche und praxis-orientierte Einstellung der Renaissance zur Umwälzung der traditionellen Perspektive auf das Verhältnis zwischen Denken und Handeln.35 Die Überlegenheit der Praxis über die Kontemplation wird vom Polymath Girolamo Cardano in De inventione explizit postuliert: »Inventio ipsa sapientia praestantior est […].« »Die Erfindungsgabe ist höher als die Weisheit. Die Erfindungsgabe ist potentiell

34 Del Monte (1581), Bl. b3r: »Mechanico è vocabolo honoratissimo, dimostrante, secondo Plutarco, mestiero alla Militia pertinente, et convenevole ad huomo di alto affare, et che sappia con le sue mani et co’l senno mandare ad esecutione opre maravigliose a singulare utilità et diletto del vivere humano.« 35 Siehe Rossi (2001), 15–17.

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unendlich, aber aktuell endlich: Deshalb ist sie es allein, die das Unendliche mit dem Endlichen verbindet. Und sie verbindet uns mit den Göttern selbst«.36 Dieses praktische Anliegen hat die Renaissance-Mechanik mit verwandten Disziplinen gemein, die auf die Praxis und die Erfahrung gerichtet sind. Wie Paolo Rossi in seinen Studien zur Geburt der neuzeitlichen Wissenschaft bereit hervorgehoben hat, entstammte die empirische, experimentelle und angewandte Seite der klassischen Physik unter anderem aus Wissensbereichen, die zu späteren Zeiten aus der Sphäre der Wissenschaft ausgegrenzt wurden, etwa wie Magie und Alchemie. Beide Künste antizipierten paradoxerweise die baconsche Wissenschaftsphilosophie der menschlichen Herrschaft über die Natur durch Wissen und Technik.37 Jedoch basierten Magie und Alchemie auf einem Erkenntnismodell des Zusammenwirkens von Mensch und Natur und nicht der Überlegenheit des Ersteren. Das Wesen der Magie – so schrieb Cornelius Agrippa von Nettesheim in De incertitudine et vanitate scientiarum (Köln 1527) – besteht in der Betrachtung aller natürlichen und himmlischen Kräfte, der tiefgründigen Erforschung ihrer Zusammenhänge und Wirkungen und in der Suche nach Kräften in der Natur, die noch tief in ihr verborgen ruhen. Dabei wird Irdisches mit vom Himmel Gegebenem als Anreiz in so enge Beziehung gebracht, dass daraus oft höchst erstaunliche Phänomene hervorgehen, und zwar nicht so sehr durch die Kunst, sondern vor allem durch die Natur, deren Wirken die Kunst nur dienend unterstützt.38

Der Magier ist also derjenige, der die Natur dazu führt, zu seinen Gunsten sich zu entfalten. Die erstaunlichsten Effekte, die seine Kunst hervorbringt, sind nicht unnatürlich oder übernatürlich. Er agiert in und mit der Natur zusammen. Ähnliche Vorstellungen über die Zusammenarbeit von Mensch und Natur liegen hinter der alchemistischen Praxis, wie man in Benedetto Varchis Questione sull’alchimia (Florenz 1544) lesen kann: Weder die Kunst noch der Alchemist kann Gold produzieren, sondern nur die Natur vorbereitet und unterstützt durch den Alchemisten und die Kunst, genau wie die Gesundheit nicht wieder hergestellt werden kann an einem leidenden Körper allein durch Medizin und Ärzte. […] Es ist daher klar, dass die Kunst alleine keine Metalle transmutieren kann, sondern dass die Natur mindestens eben so Werkzeug ist wie die Kunst.39

36 Cardano (1966), Bd. X., 90: »Inventio ipsa sapientia praestantior est: quoniam sapientia humana res est perexigua, tum ob vitae brevitatem, tum ob tot impedimenta, quae hominibus occurrunt etiam in temporibus felicissimis: at inventio infinitis simul satisfacit velut qui de triangulo demonstravit, quoniam tres angulos habet duobus rectis aequales, de infinitis et licet numero tantum differentibus: etiam iuxta species idem continget […]. Itaque inventio potestate quidem infinita actu vero finita: Igitur haec pene sola infinitum cum finito coniungit. Nosque cum Diis continuat.« 37 Rossi (1968), insbes. Kap. I. »The Mechanical Arts, Magic, and Science«, 1–35. 38 Agrippa (1993), Kap. XLII, 87. 39 Varchi (1827), 21–22.

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Die gleiche Idee stellt Galilei direkt am Anfang von Le mechaniche vor. In diesem Traktat über einfache Maschinen zeigt er, dass die Natur nicht hintergangen werden kann, sondern, wie er betont, dass die wundervollen und nützlichen Maschinen, die die Mechaniker herstellen, nur dadurch funktionieren, dass sie den Gesetzen der Natur gehorchen und sie zu gegebenen Zielen kanalisieren können. Nur das kann durch die mechanische Kunst in und aus der Natur aufgerufen werden, was schon in ihr liegt. Falsch ist laut Galilei das Gerücht, dass die artefici, die Ingenieure, »fähig sind, mit wenig Kraft sehr große Gewichte zu heben, dadurch dass sie durch ihre Maschinen die Natur irgendwie betrügen.«40 Die Komplizenschaft zwischen Mechanikern und ihrer natürlichen Umwelt sowie der Kontinuität von Kunst und Natur sind Vorstellungen, die einen Naturbegriff voraussetzen, der nun etwas ausführlicher behandelt werden soll.

Spekulative Widerspiegelung: Die Natur als Handwerker »Wie soll man eigentlich nicht staunen, wenn man sieht, dass die Kunst, die ein externes Prinzip ist, den leblosen Dingen eine innere Bewegung verleiht, die derjenigen ähnlich ist, die die Natur selbst den natürlichen Dingen gibt?« Mit dieser Frage stellte Commandinos Schüler Bernardino Baldi in seiner Heron-Übersetzung Di Herone Alessandrino de gli Automati, over machine se moventi (Venedig 1601) das Problem des Zusammenhangs von mechanischer Kunst als externer Urheberin von natürlichen Effekten und der Natur selbst in ihrer inneren Kausalität vor.41 Die klassische Frage nach dem Wesen der Kunst als imitatio naturae kann jetzt hermeneutisch umgedreht werden, als Frage nach der Naturvorstellung, die aus der Erfahrung der Renaissance-Mechaniker folgt. Die praktisch-technische Erfahrung der frühneuzeitlichen Ingenieure unterschied sich, wie schon bemerkt, von der klassischen Vorstellung, weil letztere die Praxis degradierte. Dadurch wurde zugleich das Handwerker-Modell, das nach wie vor zur Interpretation der Wirkungen der Natur verwendet wurde, transformiert. Der Akzent verschob sich vom letztlich unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen Idee und Realität zur Betonung der Prozessualität der Produktion. Zeitgenössische Reflexionen über Kunst und Technik betonten das kreative und aktive Moment gegenüber dem fertigen und statischen Produkt. 40 Galilei (1968), Bd. II., 155: »[la credenza] di potere con poca forza muovere ed alzare grandissimi pesi, ingannando in un certo modo, con le loro macchine la natura.« 41 Baldi (1601), Bl. 10r: »Et in vero, come non ha da porgere maraviglia il veder che l’arte, la quale è principio estrinseco, dia a le cose inanimate un moto intrinseco, e simile a quello, che a le cose naturali dà la natura medesima?« Die Autoren danken Matteo Valleriani für die Unterstützung bei der Identifizierung von mehreren Passagen der Renaissance-Mechanik in diesem Abschnitt.

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Dieser Selbstreflexion von Künstlern und Ingenieuren entsprach auch ein Weltverständnis, nach dem die Natur nicht statisch gegeben ist, sondern einem Produktionsprozess entspricht. Letztere wurde als innere Dynamik gedacht, als Subjekt oder als Künstlerin, die aus dem Inneren der Materie die Welt bewegt und gestaltet. In De subtilitate (Lyon 1550) behandelt Cardano den Ursprung der Bewegung auch in Bezug auf mechanische Systeme. »Die Bewegung – schreibt er – wird nicht durch die Seele, sondern durch die Natur verursacht. Das, was ein Element bewegt, ist nämlich intern.«42 Natur wird hier als Selbstbewegung postuliert. Aus einer ähnlichen Perspektive reduzierte Niccolò Tartaglia die von außen verursachte Bewegung zur »Okkasion« der Entfaltung interner Tendenzen in der Nuova scientia (Venedig 1537): »Es ist offenkundig, dass die natürliche Bewegung die gewaltsame verursacht und nicht anders herum, d. h. dass die gewaltsame [Bewegung] die natürliche verursacht. Im Gegenteil verursacht sie sich selbst.«43 Dasselbe Bild findet sich in zeitgenössischen philosophischen Schriften wieder, etwas wie in den folgenden Passagen aus Giordano Brunos Camoeracensis Acrotismus (Wittenberg 1588), in dem die Natur als lebendige mathematische Künstlerin porträtiert wird: Die NATUR: […] Sie ist eine lebendige Kunst und eine gewisse intellektuelle Fähigkeit [potestas] der Seele, die nicht fremd sondern eigen, nicht extrinsisch sondern intrinsisch [ist], nicht beliebig sondern wesentlich und die die Materie beständig gestaltet [ figurat]. [Das geschieht] nicht wie beim Bildhauer extern, der mit Hilfe von Vernunft und Instrument operiert, sondern eher wie beim Geometer, wenn er sich mit Leidenschaft und Macht geometrische Bilder [ figuras] vorstellt [und] seinen Geist mit der Einbildungskraft von innen [intimum] bewegt und gestaltet [ figurat].44

Einerseits wird die Natur als lebendige Handwerkerin gedacht, andererseits wird menschliche Kreativität naturalisiert. Diese philosophische Position, die die Kontinuität zwischen menschlichem Handeln und Naturprozessen postuliert, ist die Voraussetzung der frühneuzeitlichen Annahme, die Natur lasse sich durch technischen Zugriff erkennen. Beide, Natur und menschliche Erfindungskraft, werden letztendlich als mechanische Handwerker konzipiert. In seinem mechanischen Werk Le diverse et artificiose machine (Paris, 1588) stellt Agostino Ramelli diesen Zusammenhang den Lesern seines Buches klar 42 Cardano (1966), Bd. II., 360A: »Motus non ab anima sed a natura est […]. Intimum igitur est, quo movetur elementum.« 43 Tartaglia (1558), Bl. 4r: »Per il che egl’è cosa manifesta che dal moto naturale si causa il violente, et non e converso, cioè che dal violente giamai viene causato il naturale, anci si causa per se.« 44 Bruno (1962), 80: »DE NATURA: […] Ipsa est ars viva et quaedam intellectualis animae potestas, non alienam sed propriam, non extrinsecus sed intrinsecus, non electione tali, sed essentia tali, materia perpetuo figurans: utpote non sicut statuaris externe, cum discursu, et instrumento operatur, sed perinde ut Geometra, dum vehementer quodam affectu figuras imaginatur, spiritum eius intimum imaginatione movet atque figurat.«

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vor Augen, indem er ankündigt: »Das wird wohl jeder bemerken, der sich mit der Lektüre dieses Bandes von mir vergnügen wird. In ihm kann man alle wunderschönen Werke beobachten, die die Natur, die Kunst, oder die menschliche Erfindungskraft vor den Augen der lebendigen Zuschauer hervorbringen können.«45

Praktische Erfahrung und Kontingenz Die vorangegangene Analyse hat die naturphilosophischen Ansichten und Anschauungen als abstrakte »Spiegelbilder« der epistemologischen Kontingenz betrachtet, wie sie aus dem historischen Stand der Naturwissenschaften und vor allem der Künste hervorging. Es soll nun über die Spekulation hinaus gefragt werden, auf welche Erfahrung sich die wissenschaftlichen Theorien und die philosophische Rechtfertigung stützten. Es sei zunächst erwähnt, dass Galilei in seinem Werk immer wieder auf den methodologischen Zwang verwies, die Wissenschaft durch die Erfahrung zu begründen und in ihren Ergebnissen zu bestätigen. Simplicio: […] Ich würde es für sehr wünschenswert halten, an dieser Stelle irgendeine Erfahrung heranzuziehen, von der behauptet wurde, dass es ihrer viele gäbe, die in verschiedenen Fällen mit den bewiesenen Schlussfolgerungen übereinstimmen. Salviati: Ihr stellt in der Tat, als Mann der Wissenschaft, eine ganz vernünftige Frage, und so ist es üblich und gehört es sich in den Wissenschaften, die auf natürliche Schlussfolgerungen mathematische Beweise anwenden wie man bei den Perspektivkundigen, Astronomen, Mechanikern, Musikern und den anderen sieht, die mit Sinneserfahrungen ihre Prinzipien bestätigen, die die Fundamente der gesamten darauf bauenden Struktur sind.46

Die in dieser Passage der Discorsi aufgeführten Empirie, die noch nicht mit dem späteren Konzept des Experiments zusammenfällt, birgt in sich die Er45 Ramelli (1588), Bl. 7v: »[…] Sì come potrà vedere ciascuno che piglierà piacere di leggere il presente Volume, che io gli appresento, in cui scorgere si puote tutte quelle stupende cose, che la natura, l’arte o lo ingegno humano con tal scienza possa, o sappia fare innanzi a gli occhi de i viventi.« 46 Galilei (1968), Bd. VIII, 212: »Simpl. […] Ma se tale sia poi l’accelerazione della quale si serve la natura nel moto de i suoi gravi descendenti, io per ancora ne resto dubbioso; e però, per intelligenza mia e di altri simili a me, parmi che sarebbe stato opportuno in questo luogo arrecar qualche esperienza di quelle che si è detto esservene molte, che in diversi casi s’accordano con le conclusioni dimostrate. Salv. Voi, da vero scienziato, fate una ben ragionevol domanda; e così si costuma e conviene nelle scienze le quali alle conclusioni naturali applicano le dimostrazioni matematiche, come si vede ne i perspettivi, negli astronomi, ne i mecanici, ne i musici ed altri, li quali con sensate esperienze confermano i principii loro, che sono i fondamenti di tutta la seguente struttura.«

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fahrung der Kontingenz. Durch ihre Praxis waren sich die Renaissance-Ingenieure und Wissenschaftler, zu denen auch Galilei gehörte, der Abweichung des Hergestellten von den abstrakten Prinzipien bewusst, die jeglicher technischen Realisation innewohnten. Aus deren Perspektive dieser Wissenschaftler-Ingenieure sind reine Geometrien in der Natur nie gegeben. Das heißt aber nicht, dass die Natur von Zufall gesteuert wird. Eher folgt sie unvollkommenen Wegen, die im Prinzip geometrisch verlaufen, und kann auch dabei durch die Technik geführt und »exakter« gemacht werden. Technik und Wissenschaft »geometrisieren« die Natur, die nicht selbst perfekt geometrisch sein muss. Leonardo da Vinci, der quasi als Prototyp der Renaissance-Ingenieur-Wissenschaftler angesehen werden kann, behandelte das Gleichgewicht einer am Fulkrum aufgehängten gleicharmigen Waage nach dem archimedischen Prinzip des centrum gravitatis. Seine Erklärung kam dadurch der späteren Theorie von Del Monte sehr nah: Laut Leonardo sollte die Waage theoretisch in ihrer jeweiliger Position unbewegt bleiben, auch wenn sie nicht horizontal ausgerichtet ist. Jedoch zeigt die Erfahrung etwas anders. Typischerweise kehrt die Waage in die horizontale Position zurück. Das Gewicht ist ganz für die gesamte Länge seines Trägers und ganz für jeden seiner Teile. Doch was geschieht in der Erfahrung [in isperienzia], wenn sich die Balken längs einer geneigten Linie befinden und ihre Teile gleich weit von der mittleren Linie entfernt sind, bleiben sie nicht geneigt sondern werden horizontal und bilden mit der besagten mittleren Linie 4 rechte Winkel? Die Antwort ist, dass dies durch die Unvollkommenheit des Drehpunktes hervorgerufen wird.47

In dieser Passage aus dem Kodex Forster II antwortet also Leonardo auf die Frage, wieso die reale am Schwerpunkt aufgehängte gleicharmige Waage zur horizontalen Position zurückkehrt, obwohl sie sich nach der archimedischen Lehre nicht aus dieser Lage bewegen sollte: »Risponda nascere dalla imperfezione del polo.« Diese Unvollkommenheit der isperienza ist der Kontingenz geschuldet. Der Handwerker und die Natur verwirklichen eine mathematische Realität, die in concreto geometrische Gesetze nur bedingt verkörpert. Ähnlich argumentiert Guidobaldo del Monte: Es soll aber hier angemerkt werden, dass man nur mit Schwierigkeit eine materielle Waage herstellen kann, die nur in einem Punkt aufgehängt ist – so wie wir sie uns im Geist vorstellen […]. Denn die Materie duldet nur mit großer Schwierigkeit ein solches ausgewogenes Maß. Deswegen, wenn wir annehmen, dass das Zentrum in der Waage selber liegt, sollen wir uns nicht unserer Sinne bedienen, denn

47 Leonardo (1992), 108 (= Bl. 128r): »La gravità è tutta per tutta la lunghezza del suo sostentaculo e tutta in ogni parte di quello. Per che causa accade in isperienzia che quando l’aste istando per obbliqua linia e restando colle sue parti equalmente distante a la linia centrale, essa non resta obliqa, anzi si fa equidiacente e componente colla detta linia centrale con 4 angoli retti? Risponda nascere dalla imperfezzione del polo.«

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Maschinen [le cose artificiate] können nicht zu einem solchem Perfektionsgrad gelangen.48

Diese Passage aus Del Montes Le mechaniche (Venedig 1581) über den Unterschied zwischen der ideellen und materiellen Waage ist das pendant zu der zitierten Überlegung von Leonardo. Die Vollkommenheit der Prinzipien ist technisch unerreichbar. Jedoch sind die Prinzipien der technischen Herstellung und der Natur intrinsisch mathematisch: Es geht um eine Mathematik ohne absolute Notwendigkeit.

Galileis Experimente Die epistemologische Kontingenz der Renaissance-Naturwissenschaft hatte nicht nur technologische Gründe, sondern auch theoretische und methodologische Wurzeln. Wie der historische Stand der Technologie die Theorieentwicklung der Mechanik (vor allem in ihrem Ursprung als Technologie-Wissenschaft) bestimmte, so wurde die theoretische Entwicklung auch von den zu Verfügung stehenden konzeptuellen Werkzeugen determiniert. Dies soll im folgenden am Beispiel der historischen Versuche, die Bahn eines Projektils geometrisch und naturphilosophisch zu bestimmen, kurz gezeigt werden. In der Beschreibung und Erklärung der Trajektorie einer Kanonenkugel versuchten berühmte Renaissance-Autoren wie Tartaglia, Benedetti und Galilei mit Aristoteles gegen Aristoteles zu denken.49 Die aristotelische Naturphilosophie spielte dabei durch ihre Unterscheidung zwischen natürlicher und gewaltsamer Bewegung eine Schlüsselrolle. Andererseits erwarteten die Wissenschaftler-Ingenieure der Renaissance, dass sich in der Form der Bahnkurve eine mathematische Gestalt wiedererkennen lasse. Nur die genaue mathematische Form war umstritten, also ob es sich um ein Kreissegment oder eine Parabel handelte, die Tatsache jedoch, dass eine solche mathematische Gestalt hinter 48 Del Monte (1581), Bl. 20r: »Egli è però d’avertire in questa parte che con difficultà si puote lavorare una bilancia materiale, che in uno punto solamente sia sostenuta, sì come con la mente la imaginiamo, et habbia le braccia dal centro così eguali non solamente in lunghezza, ma in larghezza, et in profundità o grossezza che tutte le parti di qua e di là pesino a punto egualmente. Percioché la materia difficilissimamente patisce cotale giusta misura. Per la qual cosa se considereremo il centro essere in essa bilancia, non bisogna ricorrere al senso, conciosia, che le cose artificiate non si possano ridurre a quel sommo grado di perfezione. Ma nelle altre cose la esperienza veramente potrà insegnare le cose che appaiono, percioché quantunque il centro della bilancia sempre sia un punto, nondimeno quando egli sarà sopra la bilancia, poco importa, se ben la bilancia non sarà sostentata in quel punto così puntualmente, però che per essere sempre sopra la bilancia averrà sempre il medesmo. Con il simile modo, quando egli anco è sotto la bilancia, il che tuttavia non accade stando il centro in essa bilancia, perché se egli non sarà sostenuto sempre in quel mezo accuratamente, sarà differenza essendo cosa facilissima che quel centro muti il proprio sito mentre si muove la bilancia.« 49 Büttner et al. (2003) und Valleriani (2013).

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den realen Erscheinungen stehen musste, wurde dagegen vorausgesetzt. Diese doppelte Erwartung der Existenz einer mathematischen Struktur einerseits und ihrer kontingenten Realisierung in der Wirklichkeit andererseits bildete auch den Hintergrund für Galileis berühmte Experimente zur Projektilbewegung. In diesen Experimenten führe er einerseits sehr genaue Messungen durch, lies sich aber andererseits von der Vorstellung einer prästabilierten Harmonie zwischen den kontingenten Erscheinungsformen mathematischer Prinzipien leiten. So war er der irrigen Überzeugung, dass die Wurftrajektorie und die aufgehängte Kette beide die Form einer Parabel besitzen müssen und lies sich von dieser Überzeugung auch durch genaueste Messungen nicht abhalten.50 Dieselben Erwartungen hinsichtlich der Existenz einer mathematischen Struktur der Natur und ihrer kontingenten Umsetzung wurden auch auf die allgemeinsten Fragen zur Konstitution der Welt übertragen.51 Das zeigt sich insbesondere anhand des Vergleichs von Galileis Forschungsnotizen zu einer Plato zugeschriebenen Theorie der Weltentstehung und ihrer Interpretation in seinem berühmten Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (Florenz 1632). In seiner kosmogonischen Theorie nahm Galilei an, dass Gott die Planeten aus einer bestimmten Höhe in Richtung der Sonne herabfallen lies, um sie dann umzulenken und auf den ihnen entsprechenden Bahnen und mit der aus dem Fall resultierenden Geschwindigkeit um die Sonne kreisen zu lassen. Zur Berechnung und Überprüfung dieses Modells verwendete Galilei in seinen Forschungsnotizen die Werte von Planetenperioden, die er aus Johannes Keplers Mysterium cosmographicum entnommen hatte, und kombinierte sie mit seinem Fallgesetz.52 Obwohl die so berechneten Zahlen nur annähernd die Realität wiederzugeben vermochten, war Galilei mit seinem Ergebnis so zufrieden, dass er auf diese kosmogonischen Rechnungen auch in seinem späteren Werken verwies. Man liest zum Beispiel in den Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze (Leiden 1638): Dieser Einfall ist wahrhaftig Platos würdig und ist um so höher zu schätzen, als die von jenem verschwiegenen Grundlagen, die von unserem Autor aufgedeckt wurden, indem er jenem die Maske oder poetische Erscheinung entriss, ihn in seiner Gestalt als wahrhaftige Geschichte enthüllen. […] Ich glaube mich zu erinnern, dass jener mir bereits gesagt hat, dass er einst eine Rechnung angestellt hat und dass er sie auch als ziemlich befriedigend den Beobachtungen entsprechend gefunden hat.53 50 51 52 53

Siehe Renn/Damerow/Rieger (2001). Ebd. und Büttner (2001). Siehe Büttner (2001), 392. Galilei (1968), EN VIII, 284. Die ganze Passage lautet: »Il concetto è veramente degno di Platone; ed è tanto più da stimarsi, quanto i fondamenti taciuti da quello e scoperti dal nostro Autore, con levargli la maschera o sembianza poetica, lo scuoprono in aspetto di verace istoria. E mi

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Galilei ist wegen des Mangels an Übereinstimmung zwischen Rechnung und Naturphänomenen nicht besorgt. Die »wahrhaftige Geschichte«, die hinter dem kosmogonischen Mythos von Plato zu entziffern ist, ist eben nur eine »kontingente Wahrheit«, oder besser die Realität in ihrer unvermeidbaren Gegebenheit. Denn die Welt ist nach Überzeugung der Renaissance-Wissenschaftler das Königreich der Kontingenz, in der die Natur als Handwerker und Künstlerin mathematische Formen und Zusammenhänge aufführt, ohne dass dadurch die Realität auf die Mathematik reduziert wird. Es ist das dynamische Natur-Modell, das wir als eine Transformation des Handwerkermodells betrachtet haben und in dem die Tätigkeit über die statischen Elementen des Plans und des Produkts dominiert. Solcher schöpferischen Natur konnten sogar göttliche Eigenschaften zugeschrieben werden, wie es Galilei am Anfang von De motu tat. Um die gravitas und levitas verschiedener Körper zu erklären, fragte er nach dem Grund ihrer natürlichen Neigung nach unten beziehungsweise nach oben. Die Natur wurde von ihm als ein Subjekt gesehen, aus welchem die beobachtbaren Phänomene hervorgehen (»quare talia determinata loca illis [quae naturaliter moventur] a natura praescripta esse« und »cur talem ordinem in distribuendis locis prudens natura servaverit«).54 Die übliche philosophische Erklärung der natürlichen Regelmäßigkeit, insbesondere der natürlichen Orte, als providentiell (»placuit Summae Providentiae in hunc distribuere«) reichte Galilei offenbar nicht aus. Eine solche theologische, von den Philosophen vertretene Meinung, bemerkte er, lässt daran zweifeln, dass die Naturordnung keine zwingende Erklärung beziehungsweise keinen Nutzen besitzt. Die Philosophen führen Gott als Deus ex machina ein, wenn sie nicht in Besitz einer ausreichenden Theorie sind. Im Gegensatz dazu suchte Galilei die Bewegungsgründe einer »providentiellen Natur«, die keine Willkür zulässt und den Zufall soweit wie möglich eindämmt: Nun, so weit ich gelesen habe, wird kein anderer Grund für die bestehende Verteilung durch die Philosophen angeführt, als dass sich alles in irgend einer Ordnung befinden müsse. Und dass es der Höchsten Vorsehung [Summa Providentia] gefiel, pare assai credibile, che avendo noi per le dottrine astronomiche assai competente notizia delle grandezze de gli orbi de i pianeti e delle distanze loro dal centro intorno al quale si raggirano, come ancora delle loro velocità, possa il nostro Autore (al quale il concetto Platonico non era ascosto) aver tal volta per sua curiosità auto pensiero d’andare investigando se si potesse assegnare una determinata sublimità, dalla quale partendosi, come da stato di quiete, i corpi de i pianeti, e mossisi per certi spazii di moto retto e naturalmente accelerato, convertendo poi la velocità acquistata in moti equabili, si trovassero corrispondere alle grandezze de gli orbi loro e a i tempi delle loro revoluzioni. Salv. Mi par sovvenire che egli già mi dicesse, aver una volta fatto il computo, ed anco trovatolo assai acconciamente rispondere alle osservazioni, ma non averne voluto parlare, giudicando che le troppe novità da lui scoperte, che lo sdegno di molti gli hanno provocato, non accendessero nuove scintille. Ma se alcuno avrà simil desiderio, potrà per sè stesso, con la dottrina del presente trattato, sodisfare al suo gusto.« 54 Galilei (1968), Bd. I, 252.

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alles so zu verteilen. Doch, wenn wir die Sache näher betrachten, können wir keineswegs glauben, dass die Natur bei dieser Verteilung keine Notwendigkeit und Nützlichkeit besaß, sondern in irgend einer Weise nur mit Willkür und Zufall verfahren habe. Weil ich aber glaubte, dass dies der vorsehenden Natur [provida natura] keinesfalls zugeschrieben werden könnte, versuchte ich bisweilen ängstlich herauszufinden, ob es irgendwelche, wenn nicht notwendige dann doch angemessene und nützliche Ursachen gäbe und ob es mir nicht wirklich gelänge herauszufinden, dass die Natur diese Ordnung mit höchstem Recht und mit höchster Umsicht [summa prudentia] gewählt habe.55

Die Erklärung der natürlichen Bewegungen ist nach Galilei in der Stoffdichte zu finden. Auf diese Art, beschließt er, kann man vielleicht keine Notwendigkeit (necessitas) der natürlichen Ordnung feststellen, aber zumindest ihre Angemessenheit (congruentia). Dafür sorgt die von ihm fast vergöttlichte provida natura. Die Planmäßigkeit, die hier als Vorsehung dargestellt wird, schränkt den Zufall so weit wie möglich ein, schließt ihn aber nicht notwendig aus. Da die Kontingenz die konkrete Realisierung eines inneren künstlerischen Triebs ist, ist sie auch der Willkür diametral entgegengesetzt. Bei Galilei ist eine kontingente Natur also der Gegenpol der Vorstellung von einem durch bloßen Zufall beherrschten Universum. Die Vollkommenheit der Schöpfung ist also nicht mathematisch. Sie ist mathematisierend. Diese Überzeugung geht auch aus den Methoden und Überlegungen der mathematischen Naturwissenschaft par excellence, der Astronomie, hervor. Der Wegbereiter Galileis, Benedetti, stellte in seinem Werk Diversarum speculationum mathematicarum et physicarum liber (Turin 1585) sogar die mathematische Harmonie des Himmels in Frage. Obwohl er ein überzeugter Vertreter der mathematischen Erklärbarkeit der Naturphänomene in der Mechanik sowie in der Astronomie war, behauptete er, dass die himmlische Harmonie nur aus der göttlichen Vorsehung zu erklären ist und nicht durch die Mathematik determiniert ist. In Bezug auf die Musik der himmlischen Körper schrieb Benedetti: Die Musik der himmlischen Körper – schrieb Benedetti – […] Es ist die Wahrheit, dass man keine harmonischen Intervalle in den Aspekten entdeckt hat, wie Ptolemäus gezeigt hat […]. Was aber die Bewegungen, die Größen, die Entfernungen und Einflüsse betrifft, zeigt sich nichts, was diesen Proportionen entspricht. Aber, da alles dies von der unendlichen und göttlichen Vorsehung Gottes abhängt, ist es notwendig, dass jene Geschwindigkeiten, Größen, Entfernungen und Einflüsse 55 Ebd.: »Huius distributionis non alia, quod legerim, a philosophis affertur causa, nisi quod in aliquem ordinem erant cuncta disponenda, placuit autem Summae Providentiae in hunc distribuere. […] Attamen, si rem accuratius spectemus, non erit profecto existimandum, nullam in tali distributione necessitatem aut utilitatem habuisse naturam, sed solum ad libitum et casu quodammodo operatam esse. Hoc cum provida natura nullo pacto existimari posse perpenderem, interdum anxius fui in excogitanda, nisi necessaria saltem congruente ac utili, aliqua causa: ac profecto, non nisi optimo iure summaque prudentia hunc elegisse ordinem naturam, comperi.«

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eine solche Ordnung und Beziehung unter sich und zum Universum haben, die höchst vollkommen sind.56

Die Perfektion im Sinne der mathematischen Genauigkeit ist in der Natur nicht gegeben. Sie wird vielmehr hervorgebracht. Genauso ist die Mathematik in der Natur nicht gegeben, sondern inszeniert. Die natürlichen durch eine innere künstlerische Kraft angetriebenen Körper repräsentieren die Geometrie auf der Bühne der Welt. Das Buch der Natur, im Unterschied zu den Heiligen Schriften, ist noch nicht vollendet. Es wird vor unseren Augen gewissermaßen geschrieben. Die Philosophie ist in diesem sehr großen Buch geschrieben, das uns fortwährend offen vor Augen steht (ich spreche vom Universum), das man aber nicht verstehen kann, wenn man nicht zuvor die Sprache verstehen und die Buchstaben erkennen lernt, in der es geschrieben ist. Es ist in mathematischer Sprache geschrieben, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne deren Hilfsmittel es unmöglich ist, auf menschenmögliche Weise auch nur ein Wort zu verstehen; ohne diese ist es ein vergebliches Umherirren in einem dunklen Labyrinth.57

In dieser berühmten Passage aus dem Saggiatore weist Galilei auf Dädalus, den Archetyp eines Ingenieur-Wissenschaftlers in der griechischen Mythologie hin. Das Stichwort »Labyrinth« macht deutlich, dass es hier nicht einfach um eine von vorn herein klar und mathematisch geordnet vor unseren Augen offenbarte Natur handelt, sondern um eine Natur, in der wir den Ariadnefaden immer erst finden müssen, bevor wir uns in ihr zurecht finden. Die Natur hat offenbar eine helle und eine dunkle Seite. Halten wir uns nicht an den Ariadnefaden von Geometrie und Mechanik, droht uns das Minotaurusungeheuer der Kontingenz zu verschlingen. Der Mechaniker Dädalus war derjenige, der durch seine Instrumente in der Lage war, sich vom »vergeblichen Umherirren in einem dunklen Labyrinth« zu befreien. Wie Pigafetta in der Widmung der italienischen Ausgabe des bereits erwähnten Werkes von Guidobaldo del Monte Le Mecaniche 1581 schrieb: »In der archaischen Epoche vor dem Trojanischen Krieg lebte der großartige Meister der Mechanik Dädalus von Athen, der als erster die Säge, die Axt, das Senkblei [piombino da torre le diritture], 56 Benedetti (1585), 190–191: »De sonitu corporum coelestium […]. Verum quidem est nonnulla harmonica intervalla in aspectibus comperta fuisse, ut Prolomeus ostendit […]. Quod autem attinet ad motus, ad magnitudines, ad distantias, et ad influxus, nihil est, quem hisce proportionibus conveniat, sed quia haec omnia dependent ab infinita, et divina providentia Dei, necessario fit ut istae velocitates, eae magnitudines, distantiae, et influxus, talem ordinem, et respectum inter seipsa, et universum habeant, qualis perfectissimus sit.« 57 Galilei (1968), Bd. VI, 232: »La filosofia è scritta in questo grandissimo libro che continuamente ci sta aperto innanzi agli occhi (io dico l’universo), ma non si può intendere se prima non s’impara a intender la lingua, e conoscer i caratteri ne’ quali è scritto. Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche senza i quali mezi è impossibile a intenderne umanamente parola; senza questi è un aggravarsi veramente per un oscuro laberinto.«

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den Bohrer [trivella], den Mast [albero], den Rüstbaum [antenna], das Segel und andere Erfindungen [ordigni] entdeckte. Er zeichnete dann in Kreta das berühmte, verworrene Labyrinth. Laut den Dichtern musste er schließlich für sich und seinen Sohn Ikarus zwei Paar Flügel bauen, um vogelgleich wegzufliegen.«58 Aus Galileis Passage erfahren wir, dass Dädalus’ Instrumente mathematisch waren, genauso wie die Mittel mathematisch sind, durch die das natürliche Buch des Universums vor unseren Augen geschrieben wird. Die die Natur und ihre Prinzipien nutzenden Mechaniker generieren als kundige Handwerker eine geometrische, aber nicht-deterministisch konnotierte Welt.

Nachspiel: die Aufhebung der Kontingenz Diese Untersuchung hatte Kontingenz in der Geschichte, Theorie und Praxis der Renaissance-Naturwissenschaft zum Gegenstand. Dieser relevante, aber häufig vernachlässigte Aspekt – so unsere These – war unmittelbar mit der Vorstellung der Natur als handwerklicher Herstellungsprozess verbunden. Das Handwerker-Modell wurde aus der praktischen Erfahrung des Handwerkers, die eine Diskrepanz zwischen seiner Intention und seinem Produkt einschloss, abgeleitet. Von der Antike bis zur Renaissance implizierte dieses Modell die Kontingenz der Erzeugnisse praktischer Tätigkeit. Gleichzeitig schloss dieses mentale Modell die durch den Zufall bedingte Weltvorstellung, als Gegenmodell zur planmäßigen, vom Logos gesteuerten Realisierung der Wirklichkeit, aus. In der Frühen Neuzeit wurde das Modell zur Grundlage eines neuen Naturverständnisses. Dies geschah im Rahmen historischer Prozesse, die den mechanici und ingegneri eine soziale Bedeutung und intellektuelle Würde ohne Präzedenz verlieh. Somit ist im Verständnis der Naturwissenschaften und auch der Erkenntnistheorie der Renaissance die Realität von Kontingenz durchgedrungen. Diese Kontingenz betrifft die Faktizität der Welt in ihrer Gesamtheit sowie einzelne Naturprozesse in ihr. Das Leben und die Bewegung, welche alle Phänomene begründen, in einem Wort, die natura naturans, erschaffen die Welt zwar geometrisch, aber »mit Freiheit«. Im Gegensatz zur Weiterentwicklungen der Naturphilosophie im 17. Jahrhundert folgt daher kein deterministischer Mechanizismus aus dieser Vorstellung, auch wenn Wissenschaft, Technik und Naturvorstellungen auf einer mathematischen Grundlage beruhen. Darüber hinaus wird in der Renaissance Kontingenz nicht bloß als Folgerung der Be58 Del Monte (1581), Bl. A3r: »Ne gli antichissimi secoli, che passarono avanti la guerra di Troia visse Dedalo Atheniese, gran maestro di Mechanica, il quale trovò il primiero la sega, l’ascia, il piombino da torre le diritture, la trivella, l’albero, l’antenna, la vela, et altri ordigni: disegnò in Creta poi quell’intricato labirinto, et alla fine gli convenne fabricare per se, et per Icaro suo figlio due paia d’ali, et volarsene via per l’aere a guisa d’augelli, come cantano i Poeti.«

Das Prinzip Kontingenz in der Naturwissenschaft der Renaissance

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grenztheit der menschlichen Möglichkeiten gegenüber der Komplexität des Realen betrachtet. Sie beschränkt sich also nicht allein auf die Erkenntnistheorie, sondern schließt die Natur und die Naturphänomene ein. Die Wissenschaft der Renaissance kennt noch keine strenge Anwendung des leibnizschen Satzes vom zureichenden Grund. Stattdessen gilt das »Prinzip der Kontingenz«, das die Unschärfe der natürlichen Prozesse postuliert. Erst später, im Zeitalter des Mechanizismus wurde die »Kontingenz« zum subjektiven Mangel an vollkommener Genauigkeit beziehungsweise an Übereinstimmung mit den Phänomenen. Diese Auffassung darf allerdings nicht, wie wir gezeigt haben, auf die Renaissance-Naturwissenschaft zurückprojiziert werden. Der Mechanizismus entstand vielmehr erst vor dem Hintergrund des Erfolgs der mathematischen Naturwissenschaften, der ihre Wurzeln in einem handwerklich verfassten und von Kontingenz geprägten Erkenntnisprozess verdrängte. So verbannt Spinoza ausdrücklich die Kontingenz aus dem Naturbereich in seiner deduktiven Ethik, Ethica ordine geometrico demonstrata, I. Teil, Lehrsatz 29: »In der Natur der Dinge gibt es nichts Kontingentes, sondern alles ist kraft der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken.«59 Noch klarer definiert Spinoza im I. Teil, Lehrsatz 33 die Kontingenz als eine determinierte Möglichkeit, die nur für uns undeterminiert bleibt: Aus eben den Ursachen sodann heißt ein Ding unmöglich, weil nämlich entweder seine Wesenheit oder Definition einen Widerspruch in sich schließt, oder weil keine äußere Ursache vorhanden ist, die dazu bestimmt wäre, es hervorzubringen. Dagegen heißt ein Ding kontingent [contingens] allein im Hinblick auf einen Mangel unserer Erkenntnis und sonst aus keiner anderen Ursache. Denn ein Ding, von dem uns unbekannt ist, ob seine Wesenheit einen Widerspruch in sich schließt, oder von dem wir zwar genau wissen, dass seine Wesenheit keinen Widerspruch in sich schließt, über dessen Existenz wir aber mit Gewissheit nichts behaupten können, weil die Ordnung der Ursachen uns verborgen ist: ein solches Ding kann uns niemals weder als notwendig, noch als unmöglich erscheinen, und deshalb nennen wir es kontingent oder möglich [contingentem sive possibilem].60

Spinoza weist hier deutlich auf eine Tendenz hin, die der gesamten Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert innewohnt. Die Kontingenz als das Konkrete oder possibilitas determinata verliert die frühere ontologische Valenz und behält nur die epistemologische. Sie weist bloß auf die unvollkommene Übereinstimmung zwischen dem menschlichem Wissen und der Komplexität des Realen hin. Die Kontingenz betrifft keine Einzelprozesse mehr, um möglicherweise nur als abstraktester Horizont in der Betrachtung des Universums als Ganzes zu überleben, wie es beispielsweise aus Leibniz’ These der Exis59 Spinoza (1943), 31 (Übersetzung revidiert). Siehe Spinoza (1843), 210 »In rerum natura nullum datur contingens, sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum et operandum«. 60 Spinoza (1943), 35 (Übersetzung revidiert). Siehe Spinoza (1843), 213.

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tenz vom bestmöglichen système de l’univers hervorgeht. In der post-cartesianischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft verwandelt sich die Welt in eine tadellose und präzise Uhr. Die Natur wird nicht mehr als Künstlerin gesehen. Stattdessen wird sie zu einem Präzisionsinstrument und einer perfekten Maschine.

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›Kontingenz‹ in der Historiografie. Der Kontingenzbegriff in der Natur-, Wissenschaftsund Kulturgeschichtsschreibung Georg Toepfer

Die Geschichtsschreibung der Naturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Kulturgeschichte bezieht sich auf drei verschiedene Felder eines vergangenen Geschehens, nämlich des Geschehens der Naturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Kulturgeschichte. ›Naturgeschichte‹ soll hier nicht Theorien zur Geschichte der Natur bezeichnen, sondern die zeitliche Veränderung von Wesen und anderen Entitäten in der Natur. Analog dazu ist mit ›Kulturgeschichte‹ das Geschehen der Veränderung von kulturellen Praktiken, Einstellungen und Produkten gemeint. Historiografisch beschrieben wird dieser Wandel in der Kulturgeschichtsschreibung. Für alle drei Bereiche soll also zwischen Geschichte als realem Geschehen und Geschichtsschreibung als Beschreibung und Analyse dieses Geschehens unterschieden werden. Nicht bestritten werden soll mit dieser parallelen Behandlung von vergangenem Geschehen in der Natur und Kultur, dass die Naturgeschichte nicht in gleichem Maße Geschichte wie die Wissenschafts- und Kulturgeschichte ist.1 Aber nicht auf diesem Unterschied, sondern einer historiografischen Parallele im Hinblick auf das Konzept der Kontingenz liegt in diesem Beitrag die Betonung. 1

Sie ist nicht »Geschichte im eminenten Sinn«, wie Johann Gustav Droysen (1868/82, 13) die Geschichte der »Menschenwelt« nennt. Unterschieden ist die Naturgeschichte unter anderem darin von der Kulturgeschichte, dass sich ihr Subjekt, die Natur, diese Geschichte nicht auf eine solche Weise reflexiv aneignet, wie dies der Mensch in seiner Kultur tut. Weil sich das langfristige Geschehen der organischen Welt aber ebenso wenig wie das der Menschenwelt aus Naturgesetzen oder Regeln erschließt, spricht viel dafür, »den Begriff der Geschichte gegenüber dem Unterschied von Natur und Kultur indifferent zu gebrauchen«, wie es Hermann Lübbe (1977, 102) fordert. Dagegen steht die jüngst von Doris Gerber vorgebrachte Ansicht, dass nur »Handlungen« in der Lage seien »Geschichte hervorzubringen« und dass eine »wechselseitige Bedingtheit von Intentionalität und Historizität« bestehe: »Intentionalität als das wesentliche Merkmal geistiger Zustände ist die Bedingung für Geschichte« (2012, 197). Es erscheint allerdings ausgeschlossen, dass die Naturwissenschaften den Begriffe der Geschichtlichkeit oder Historizität, den sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts erobert haben (vgl. Boveri [1906]; Schaxel [1922], 261; Heberer [1960]; Lewontin [1967]), demnächst wieder aufgeben werden, weil einige (wenige) Philosophen eine analytische Verbindung von Historizität und Intentionalität behaupten (vgl. dazu Toepfer 2014).

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Georg Toepfer

Insofern die Wissenschaften auch zu den kulturellen Praktiken gehören, bilden sie einen Teil der Kultur und ihre Geschichte einen Teil der Kulturgeschichte. Es gibt also Überschneidungen zwischen den drei hier betrachteten Bereichen. Für die Frage nach der Kontingenz in der Historiografie erscheint eine gesonderte Untersuchung der Wissenschaftsgeschichte aber gerechtfertigt und aufschlussreich. Die zugewiesene Sonderstellung des kulturellen Bereichs der Wissenschaften hängt mit der ausgeprägten Annahme eines Realismus durch die Wissenschaften – es geht im Folgenden vor allem um die Naturwissenschaften – zusammen: Im Gegensatz zu vielen anderen Kulturbereichen beschäftigen sich die Naturwissenschaften mit einem Gegenstand, von dem sie in der Regel annehmen, dass er unabhängig von ihnen existiert und den sie nicht erst durch ihre Aktivität hervorbringen – diese externalistische Annahme macht sie innerhalb des allgemeinen Bereichs der Kultur besonders, wenn es um die Diskussion von Kontingenz geht. Die Folie des Kontingenzbegriffs erlaubt es also, die Sonderstellung der Naturwissenschaften innerhalb der kulturellen Interessen und der Naturwissenschaftsgeschichtsschreibung innerhalb der Kulturgeschichtsschreibung zu erkennen und zu begründen. Als historiografische Kategorie, also Kategorie einer Wissenschaft, wird der Begriff der Kontingenz hier primär epistemologisch betrachtet, d. h. im Hinblick auf seine methodische Funktion, die er in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen spielt. Dabei kommen auch ontologische Fragen in den Blick. Primär geht es aber um den Wert des Kontingenzbegriffs als Erkenntniswerkzeug in verschiedenen Feldern der Geschichtsschreibung. Im Unterschied zur Kategorie des Zufalls, die primär auf individuelle Ereignisse bezogen ist, soll ›Kontingenz‹ als eine Bereichsangabe verstanden werden, die einen Gegenstandsbereich identifiziert, in dem Prozesse der Bildung von Ordnungen und Strukturen erfolgen.2 Eine Definition des Begriffs, die gleichzeitig die kurz gefasste These dieses Beitrags enthält, lautet: Kontingenz bezeichnet in der Historiografie einen Bereich innerhalb der Darstellung eines Geschehens oder des Ergebnisses eines Geschehens, in dem die Abfolge von Ereignissen oder die Bildung von Strukturen beschrieben wird, die sich aus irreduzibel individuellen, nicht in allgemeinen Vorstellungen zu fassenden Entwicklungslinien ergaben und damit einen schrittweisen Nachvollzug auf individueller Ebene erfordern. Historiografisch nicht kontingent, sondern notwendig ist dagegen der Bereich innerhalb der Darstellung eines Geschehens oder des Ergebnisses eines Geschehens, der die Abfolge von Ereignissen oder die Bildung von Strukturen beschreibt, die durch unabhängig verlaufende (kausale oder semantische) Prozesse hervorgebracht und stabilisiert wurden oder (kontrafaktisch durch nur geringe Modifikationen der Welt) hätten hervorgebracht werden kön-

2

Bubner (1984), 38; Seifen (1992), 9; Hoffmann (2005), 58; kritisch dazu Vogt (2011), 336 ff.

›Kontingenz‹ in der Historiografie

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nen, der also auf konvergenten Entwicklungen beruht und in allgemeinen Vorstellungen gefasst werden kann.

Historiografisch kontingent ist beispielsweise (nach Francis Cricks Hypothese des eingefrorenen Zufalls3) die wissenschaftliche Darstellung der Entstehung der in fast allen Lebewesen auf der Erde vorhandenen Zuordnungsregel der Basen der DNA zu den Aminosäuren der Proteine im genetischen Code. Weil die Natur- und Kulturgeschichtsschreibung in diesem Beitrag parallel behandelt werden, verfolgt er ausdrücklich keinen handlungstheoretischen Ansatz, in dem das Kontingente im Zusammenhang mit dem Zufälligen, Ungeplanten, Überraschenden, Sinnlosen oder Chaotischen steht. Aus der hier eingenommenen Perspektive ist das Kontingente nicht zu verstehen als Störung von Handlungsabsichten4 oder als irrationaler Zufallsfaktor, und auch nicht als Koinzidenz, also als unwahrscheinliches Zusammentreffen voneinander unabhängiger Handlungsketten. Die Kategorie der Kontingenz mag einen ihrer theoretischen Orte dort haben, wo Beschreibungen für Handlungen und das überraschende Zusammentreffen von Handlungen gegeben werden – dieser Sinn liegt auch in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Kontingenz (abgeleitet von lat. ›contingere‹, »sich-berühren«). Mit einer solchen Verortung wird das Kontingente häufig mit dem Zufälligen zusammengedacht. Eine hier vertretene These wird es aber gerade sein, dass in der Historiografie das Kontingente mit dem Zufälligen nicht zusammengehen muss: Auch in deterministischen zeitlichen Verläufen, die keinem Zufall unterliegen, kann es Kontingenz geben. In historiografischer Perspektive ist die adäquate Kontrastfolie für den Kontingenzbegriff nicht die Position der kausalen Determiniertheit allen Geschehens, sondern dessen theoretische Determiniertheit. Historiografisch kontingent ist eine Struktur, die sich nicht aus der Perspektive einer Theorie ableiten lässt, weil sie nur als Ergebnis eines einmaligen zeitlichen Verlaufs verständlich wird. Kontingente Strukturen können demnach kausal voll determiniert sein, ihre Beschreibung ist aber nicht in einer Theorie komprimierbar; sie können nicht als Anwendungsfall einer Theorie, sondern nur durch den schrittweisen Nachvollzug des historischen Ablaufs beschrieben werden. Für diesen Nachvollzug ist gerade die Geschlossenheit der kausalen Ketten, d. h. die Möglichkeit der Beschreibung der Ereignisfolge über deterministische Verknüpfungen von Vorteil.5

3 4 5

Crick (1968), 369. Wie dies etwa Lübbe (1977, 54 ff.) und Bubner (1984, 27 ff.) vornehmen; vgl. Hoffmann (2005), 7. Die These der Vereinbarkeit von Kontingenz und Determinismus in der Geschichte steht analog zu der Position des »Kompatibilismus« in der intensiv geführten Debatte der Philosophie des Geistes, die für eine Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus eintritt.

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1. Was ist Kontingenz? Auch wenn Zufall historiografisch von Kontingenz zu unterscheiden ist, kann eine Annäherung an die Kategorie der Kontingenz ausgehend von zufälligen Ereignissen aufschlussreich sein. Daher hier drei Beispiele zufälliger Ereignisse, jeweils eines aus den drei in diesem Beitrag betrachteten Bereichen: 1. Vor rund 40 Millionen Jahren trat in einer Population meeresbewohnender Säugetiere, der Vorfahren der heutigen Wale, eine letzte in einer Reihe von Mutationen auf, die dazu führte, dass die ursprünglich zur Fortbewegung auf dem Land geeigneten Hinterextremitäten sich zurückbildeten, so dass sie in der äußeren Gestalt der Tiere nicht mehr sichtbar waren6 – ein Ereignis der Naturgeschichte. 2. Am 19. Dezember 1744 verteidigte Daniel Rudberg in seiner Dissertation eine These seines Lehrers Carl von Linné über die Beschreibung einer Pflanzenart, die dieser als Hybrid zweier Pflanzen verschiedener Arten ansah und als »neue Art« beschrieb, die als »Transmutation« aus einer anderen entstanden sei7 – ein Ereignis der Wissenschaftsgeschichte. 3. Vermutlich im Frühjahr 1914 ließ Marcel Duchamp in Paris drei einen Meter lange, horizontal gehaltene Fäden aus einem Meter Höhe auf eine Leinwand fallen und fixierte sie in ihrer jeweiligen Lage8 – ein Ereignis der Kulturgeschichte. Für diese drei in der Vergangenheit liegenden Ereignisse erscheint der Begriff des Zufalls angemessen. Denn es ist leicht vorstellbar, dass diese Ereignisse gar nicht oder anders stattgefunden hätten. Dass sie gar nicht oder anders stattgefunden haben, ist von vielen, vielleicht von allen Ereignissen vorstellbar. Ludwig Wittgenstein veröffentlicht 1921 im Tractatus logico-philosophicus diese Sätze: 5.634 Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. […] 6.3 Und außerhalb der Logik ist alles Zufall.9

Wenn alles Sichtbare und alles über sinnliche Erfahrung Gegebene Beschreibbare zufällig ist, würde die Kennzeichnung von etwas als ›kontingent‹ so viel bedeuten, wie seine Verbindung zum Materiellen zu behaupten. Nicht kontingent, also unmöglich oder notwendig – dies seit der Ersten Analytik des Aristoteles10 die beiden Gegenbegriffe zu kontingent – könnten nur Verhältnisse im

6 7 8 9 10

Thewissen (1998). Linné (1744), 55 f.; vgl. Larson (1968), 293 f.; Gustafsson (1979). Molderings (2006). Wittgenstein (1921), 68 (5.634); 78 (6.3). Aristoteles, Analytica priora I 13, 32a18–20.

›Kontingenz‹ in der Historiografie

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Nicht-Materiellen sein, im Geistigen, der Logik, etwa im Verhältnis der Sätze eines syllogistischen Schlusses zueinander. Die Unmöglichkeit oder Notwendigkeit von logischen Relationen könnte darauf beruhen, dass sie sich nicht auf konkrete Individuen beziehen. Denn es sind offenbar in erster Linie die Individuen, die stets auch anders sein könnten. So heißt es 1913 bei Edmund Husserl: »Individuelles Sein jeder Art ist, ganz allgemein gesprochen, ›zufällig‹. Es ist so, es könnte seinem Wesen nach anders sein«.11 Es ließe sich auch einfach mit Novalis sagen, »das Individuum, als solches, steht seiner Natur nach unter dem Zufall.«12 In besonderer Weise gilt diese Zufälligkeit für individuelle Lebewesen, z. B. für die Existenz eines Menschen, für die ein Indeterminismus auf zwei Ebenen angenommen werden kann, einer personalen und einer mikrophysikalischen Ebene: Erstens ist die Existenz eines Menschen das Ergebnis vieler individueller, persönlicher Entscheidungen, die in der Regel als nicht determiniert angesehen werden, etwa der Entscheidung der Eltern dieses Menschen füreinander, zumindest während eines gewissen, am Beginn seiner Existenz stehenden Moments. Und zweitens ist die Existenz eines Menschen durch mikrophysikalische Prozesse bei der Bildung der Geschlechtszellen und ihrer Vereinigung im chemischen Prozess der Befruchtung bedingt, und auch für diesen Prozess, der sich auf der Ebene von Atomen und Molekülen bewegt, liefern die Physik und Chemie lediglich probabilistische, nicht deterministische Gesetze. Weil jedes Individuum in seiner Existenz auf Zufällen beruht, auf Ereignissen, die jedes für sich und mehr noch in ihrer Konstellation extrem unwahrscheinlich sind, könnte man der Ansicht sein, dass auch der Geschichtsverlauf insgesamt nichts als Zufall sei. Wenn Individuen als die entscheidenden Akteure der Geschichte verstanden würden, diese aber in ihrer Existenz alle zufällig sind, müsste doch in der Geschichte insgesamt nichts als Zufall herauskommen. Wäre dem so, dann wäre Kontingenz, verstanden als Zufall, in seiner Ubiquität ein analytisch nicht sehr fruchtbarer Begriff. Aber dem ist nicht so: Selbst wenn die Existenz der einen Mutation, die vor vierzig Millionen Jahren zum endgültigen Verlust der Hinterextremitäten der Wale führte, des einen Wissenschaftlers namens Carl von Linné, der 1744 eine Transmutation von Arten beschrieb, und des einen Künstlers namens Marcel Duchamp, der 1914 drei Fäden fallen ließ, nichts als Zufall wäre, weil sie drei Individuen sind, heißt das doch nicht, dass die Existenz von meeresbewohnenden Säugetieren ohne Hinterextremitäten, von wissenschaftlichen Theorien, die eine Transformation von Arten beschreiben, oder von Strömungen der Kunst, die den Zufall als integrales Gestaltungsmoment verstehen, auch Zufall

11 Husserl (1913), 9. 12 Novalis [1798], 501 (Nr. 63).

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wären (bzw. ihre Entstehung historiografisch als kontingent dargestellt werden müsste). Um dies einzusehen, sind Sätze zu Ereignissen der Vergangenheit, die sich nicht auf Individuen beziehen, aufschlussreich: 1. Im Laufe ihrer über mehrere Hunderte von Millionen Jahren sich erstreckenden Geschichte eroberten die ursprünglich auf dem Land lebenden Säugetiere auch den auf der Erde sehr großen Lebensraum des Meeres und erfuhren im Zuge dessen eine Umbildung ihres Körpers. 2. Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Naturforscher ausgehend von Beobachtungen zu Hybridformen bei Pflanzen und Tieren Hypothesen zur Entstehung neuer Arten durch Transformation bestehender. 3. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstand eine Richtung der Kunst, die mit künstlerischen Traditionen brach, indem sie sich gegen die Vorstellung des Künstlers als schöpferisches Genie wandte und neben Gemälden experimentelle Verfahren, Aktionen und die Inszenierung von Alltagsgegenständen als gleichberechtigte Kunstformen etablierte. Von diesen nicht mehr auf Individuen bezogenen Aussagen gilt nicht mehr oder zumindest in geringerem Maße, dass sie sich auf ein zufälliges Geschehen beziehen. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass für diese Aussagen theoretische Erklärungen, nicht nur historische Erzählungen gegeben werden können, z. B. diese: 1. Weil die Vorfahren der Wale sich in dem neuen Lebensraum des Meeres besser ohne Hinterextremitäten fortbewegen konnten, bildeten sich diese zurück. 2. Weil Naturforscher Mitte des 18. Jahrhunderts Hybride bei Pflanzen und Tieren beobachteten und die Entstehung neuer Arten beschrieben, wurde die Hypothese einer genealogischen Verwandtschaft von Organismen verschiedener Arten aufgestellt. 3. Weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung des Künstlers als schöpferisches Genie abgelehnt wurde, setzten einige Künstler den Zufall gezielt als Gestaltungselement ein. Weil mit diesen Sätzen Erklärungen und kausale Beziehungen hergestellt wurden, können sie auch als kontrafaktische Konditionale ausgedrückt werden. Denn nach einer verbreiteten Auffassung steht hinter jeder Kausalaussage ein solches kontrafaktisches Konditional: Kontrafaktisches Denken ist in jeder kausalen Analyse implizit enthalten.13 Sofern in historischen Analysen also der Ursachebegriff in Ansatz gebracht wird, ist damit auch bereits die Legitimität kontrafaktischen Denkens impliziert. Für die drei Beispiele könnten z. B. diese drei kontrafaktischen Konditionale formuliert werden: 13 Fogel (1989), 413; Bunzl (2004), 846; Giere (2010).

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1. Hätten die Säugetiere nicht den Lebensraum des Meeres erobert und hätten sich die Vorfahren der Wale in diesem neuen Lebensraum nicht besser ohne Hinterextremitäten fortbewegen können, dann hätten sich diese nicht zurückgebildet. 2. Hätten Naturforscher Mitte des 18. Jahrhunderts nicht Hybride bei Pflanzen und Tieren beobachten und die Entstehung neuer Arten beschrieben, dann wäre die Hypothese einer genealogischen Verwandtschaft von Organismen verschiedener Arten zu dieser Zeit nicht aufgestellt worden. 3. Wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung des Künstlers als schöpferisches Genie nicht abgelehnt worden, dann hätten einige Künstler den Zufall nicht gezielt als Gestaltungselement eingesetzt. Solche kontrafaktische Aussagen können in dem Maße gerechtfertigt werden, in dem kausale Behauptungen in historiografischen Aussagen enthalten sind. Um die Faktoren zu bestimmen, die für das Eintreten eines Ereignisses oder eines Zustandes entscheidend sind, ist zu untersuchen, wie der Verlauf gewesen wäre, wenn der eine oder andere Faktor nicht vorhanden gewesen wäre. In einer präzisen Analyse dieses Verfahrens schreibt Max Weber 1906: »Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu verstehen, konstruieren wir unwirkliche«.14 Und der Althistoriker Alexander Demandt, auf den die wissenschaftliche Legitimierung kontrafaktischen Denkens im Bereich der Geschichtsschreibung wesentlich zurückgeht, bemerkt 1984: »Die nicht eingetretenen Möglichkeiten haben selbst keinen Belang, liefern uns aber die notwendige Folie, vor der wir die Bedeutung des wirklichen Geschehens erst erkennen«.15 Nur durch die gedankliche Analyse des kontrafaktischen Denkens gelangt man überhaupt von der Feststellung einer Korrelation von Ereignissen oder Zuständen zu einer Kausalbehauptung, von einem post hoc zu einem propter hoc.16 Nicht jedes hypothetische, kontrafaktische Denken ist aber für ein Verständnis historischen Geschehens hilfreich. In der Geschichtswissenschaft sind daher methodologische Überlegungen notwendig, um Kriterien für die legitime Anwendung kontrafaktischen Denkens zu formulieren. Vier solcher »Richtlinien« gibt Hermann Ritter 1999: (1) die Einhaltung naturwissenschaftlicher Grundgesetze, (2) die Beziehung zu einer ausreichenden Menge historisch dokumentierter »Fakten«, zu denen eine konkrete Alternative formuliert wird, (3) die Relevanz der imaginierten Alternative für den weiteren Verlauf der Geschichte und (4) die absichtliche Konstruktion der kontrafaktischen Szenarien.17 Nach dieser Erläuterung der Kontingenz anhand von Beispielen und der Legitimität des kontrafaktischen Denkens in der Historiografie vor dem Hintergrund der Rede von Ursachen soll im Folgenden das Konzept der Kontin14 15 16 17

Weber (1906), 187. Demandt (1984), 39. Demandt (1984), 20. Ritter (1999), 15 f.

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genz abstrakt charakterisiert werden, und zwar ausgehend von einer Bestimmung, die Yemima Ben-Menahem 1997 gibt. Ben-Menahems Grundidee ist, dass Kontingenz und Notwendigkeit zwei Pole in einem Spektrum von Typen kausaler Muster darstellen: Während kontingente Strukturen oder Ordnungen auf nur einem oder wenigen Wegen realisiert werden könnten, gelte für notwendige Strukturen, dass eine Vielzahl von Wegen zu ihrer Realisierung führen könne.18 Definiert wird Kontingenz als starke Abhängigkeit eines Prozessendes von seinen Anfangsbedingungen: Ähnliche Ursachen führen zu sehr verschiedenen Typen von Wirkungen. Notwendigkeit wird dagegen definiert als schwache Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen: Sehr verschiedene Typen von Ursachen führen zu ähnlichen Wirkungen. Kontingenz und Notwendigkeit sind damit definiert als die beiden Extrempunkte eines Spektrums von Möglichkeiten; sie sind also graduierbare Größen, etwas kann mehr oder weniger kontingent oder notwendig sein: Je stärker die Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen und auch von dem Entwicklungspfad, also die Pfadabhängigkeit (»path dependence«), ist, desto ausgeprägter die Kontingenz. Ein extremes Beispiel für Notwendigkeit ist der Tod: Es gibt viele Wege zu sterben, dass der Zustand des Todes ein Individuum aber irgendwann ereilen wird, ist notwendig. Der Tod ist für jedes Individuum also ein hochgradig nicht-kontingenter, sondern im Verlauf der Zeit irgendwann notwendiger Zustand. Die Rede von Kontingenz und Notwendigkeit bezieht sich hier auf Typen von Ereignissen, nicht auf individuelle Ereignisse. Auf den Fall von individuellen Ereignissen sollten die Kategorien der Kontingenz und Notwendigkeit am besten gar nicht bezogen werden. Denn, wie oben erläutert, ist jedes individuelle Ereignis zufällig und keines notwendig. Zufall ist »ein Strukturmoment von Ereignissen«, wie der Historiker Arnd Hoffmann 2005 bemerkt.19 Zufall ist aber nicht notwendig auch ein Strukturmoment von Ereignistypen. Es gibt Ereignistypen, die eher notwendig als kontingent sind, etwa die Umformung des Körpers nach der Eroberung des Meeres durch die Säugetiere, die Entwicklung von Deszendenztheorien seit Mitte des 18. Jahrhunderts oder Strömungen wie der Dadaismus im frühen 20. Jahrhundert. Kontingenz ist also im Gegensatz zu Zufall keine primär auf Ereignisse zu beziehende Kategorie. Sie bezieht sich neben Typen von Ereignissen primär auf Zustände, Ordnungen und Strukturen20 – etwa den Zustand des Gleichgewichts eines politischen Systems oder die morphologische Struktur im Bauplan eines Organismus.

18 Ben-Menahem (1997); (2009). 19 Hoffmann (2005), 154. 20 Hoffmann (2005), 58 f.

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Deutlich wird an dieser Gegenüberstellung von Kontingenz und Notwendigkeit auch, dass Kontingenz und kausale Determination einander nicht widersprechen müssen. Ein System kann voll determiniert sein, aber trotzdem hochgradig kontingent, weil seine zeitliche Veränderung in starkem Maße von den Anfangsbedingungen abhängt. Mit diesem Ansatz sind auch manche Schwierigkeiten verbunden, etwa das Problem der Bestimmung der Ähnlichkeit von Ursachen und Wirkungen. Eine übergreifende Theorie dazu, wann zwei Ursachen oder Wirkungen einander ähnlich sind, wird es kaum geben können, so dass es vom jeweiligen Kontext und den gewählten Beschreibungen abhängt, wie groß die Ähnlichkeit ist.21 Trotz dieser Schwierigkeit bietet die Grundidee, den Grad der Kontingenz an die Sensitivität eines Prozesses gegenüber seinen Anfangsbedingungen und seinem Entwicklungspfad zu binden, eine klare und empirisch anwendbare Basis zur Unterscheidung von Kontingenz und Notwendigkeit. Und dieser Begriff der Kontingenz ist geeignet, sowohl auf die Verhältnisse der Naturgeschichte als auch der Wissenschafts- und Kulturgeschichte bezogen zu werden.

2. Kontingenz in der Naturgeschichtsschreibung In der älteren »Naturgeschichte« vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert ist die Vorstellung einer notwendigen Höherentwicklung der Lebewesen im Laufe der Evolution weit verbreitet. In dieser Zeit etablierte sich auch die immer noch gebräuchliche Bezeichnung Entwicklung für die Abfolge und Transformation von Organismen im Laufe der Erdgeschichte. Treffend für die ältere Vorstellung war dieser Ausdruck, weil Entwicklung als ein »sprachliches Instrument zur Kontingenzabwehr« funktioniert, wie Ute Daniel 2001 bemerkt.22 Ein Kontingenzabwehrbegriff ist der Ausdruck Entwicklung seinem Wortsinn nach, weil er – ebenso wie Evolution – die Entfaltung von etwas Präfiguriertem nach einem gegebenen Plan nahelegt. Die zufälligen, zukunftsoffenen Momente des beschriebenen Geschehens werden mit dem Entwicklungsbegriff dagegen verdeckt. Am entschiedensten ist in den letzten Jahrzehnten der amerikanische Biologe Stephen Jay Gould der älteren Vorstellung einer Notwendigkeit in der Evolution entgegengetreten. In einer berühmten Passage seines Buchs Wonderful Life über die Fossilien des Burgess-Schiefers in den kanadischen Rocky Mountains behauptet er 1989, eine Wiederholung der Evolution auf der Erde würde zu ganz anderen Lebensformen führen:

21 Vgl. Tucker (1999), 269. 22 Daniel (2001), 426.

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[A]ny replay of the tape [of the evolution of life on earth] would lead evolution down a pathway radically different from the road actually taken. […] Alter any early event, ever so slightly and without apparent importance at the time, and evolution cascades into a radically different channel.23

Nun lässt sich die gesamte Evolution des Lebens auf der Erde nicht ein zweites Mal abspulen, so dass sich Goulds These der Kontingenz in der Evolution in ihrer globalen Dimension nicht überprüfen lässt. Sie kann aber in kleinem Maßstab auf lokaler Ebene überprüft werden. Eine experimentelle Bestätigung erfährt Goulds These durch die Langzeituntersuchung von Bakterienpopulationen im Labor: In einem berühmten Experiment unter der Leitung von Richard Lenski, das seit 1988 läuft, werden zwölf anfänglich identische, aber dann strikt getrennte Populationen von Escherichia coli in einem Medium gehalten, das zwar arm an Glukose, aber reich an Zitrat ist. Trotz des enormen Vorteils für die Bakterien, das Zitrat in ihrem Stoffwechsel verwerten zu können, hat es 15 Jahre oder 31.000 Generationen gedauert, bis in einer und nur einer der zwölf Populationen die Fähigkeit zur Verarbeitung des Zitrats entstanden ist. Wie genetische Rekonstruktionen des Evolutionspfads zeigen, war eine bestimmte Sequenz von Mutationen notwendig, damit diese Fähigkeit entstand. Die Abhängigkeit der Entwicklung von genau dieser einen Sequenz von Mutationsschritten belegt für die Autoren den großen Einfluss des Zufalls für den Evolutionsverlauf: In dem sehr langen Zeitraum von 30.000 Generationen hat die Evolution nur in einer von zwölf der identischen Ansätze diesen Verlauf genommen, obwohl diese Entwicklung den Individuen einen sehr großen Vorteil verschaffte, weil sie sich durch die Nutzung der neuen Ressource sehr viel stärker vermehren können.24 Auf der anderen Seite sprechen aber auch manche empirischen Befunde gegen Goulds Kontingenzthese. Eine bekannte Studie stammt aus der Arbeitsgruppe von Jonathan Losos: Auf vier Inseln der Karibik wurden vier verschiedene ökologische Typen von Eidechsen beobachtet.25 Eine naheliegende Erklärung dieses Vorkommens lautet, dass die vier Eidechsentypen jeweils nur einmal entstanden sind und dann die Inseln sukzessive besiedelten. Wie Verwandtschaftsuntersuchungen gezeigt haben, war dem aber nicht so: Tatsächliche sind alle vier Typen von Eidechsen unabhängig voneinander auf den vier Inseln entstanden – nämlich als gleichgerichtete Anpassungen an ähnliche ökologische Nischen. Diese parallele Evolution oder Konvergenz spricht also gegen den Faktor der Kontingenz und für die Notwendigkeit der Diffe23 Gould (1989), 51. Bei Gould erscheinen zwei unterschiedliche Bedeutungen des Ausdrucks ›Kontingenz‹, nämlich einerseits Unvorhersehbarkeit einer Struktur (»contingent per se«) und anderseits ihre kausale Abhängigkeit von bestimmten Vorläuferstrukturen (»contingent upon«) (vgl. dazu Beatty 2006 und Martin 2013, der Beattys Unterscheidung weiter differenziert). 24 Blount et al. (2008); (2012). 25 Losos et al. (1998).

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renzierung der Eidechsen in gerade diese vier Typen. In diesem Fall ist also die Selektion, nicht die genealogische Verwandtschaft der Grund für das zu beobachtende Muster der Ähnlichkeit. Als Reaktion auf Gould haben Biologen darauf verwiesen, dass viele evolutionäre Innovationen wiederholt aufgetreten sind. Dies gilt insbesondere für die spät in der Evolution, d. h. in den letzten 500 Millionen Jahren, erschienen Neuerungen.26 Die Ähnlichkeit dieser wiederholten Errungenschaften beruht daher nicht auf Abstammung, auf Homologie, sondern auf gleichgerichteter Entwicklung ausgehend von verschiedenen Anfangsbedingungen, also auf Konvergenz. Der Paläontologe Simon Conway Morris, einer der Hauptkritiker Goulds, gibt in seinem Buch Life’s Solution von 2003 zahlreiche Beispiele für Konvergenzen und spekuliert, der These Goulds diametral entgegengesetzt, die Lebensformen auf einem anderen Planeten würden denen auf der Erde sehr ähnlich sein. Die evolutionären Entwicklungstrajektorien seien durch funktionale Zwänge in starkem Maße kanalisiert und würden zu den immer gleichen Typen führen. Given certain environmental forces, life will shape itself to adapt. History is con­ strain­ed, and not all things are possible. […] Almost any planet with life, in my view, will produce living creatures we would recognize as parallel in form and function to our own biota.27

Eines der bekanntesten Beispiele für die konvergente Evolution betrifft die Spindelform von unter Wasser schwimmenden Wirbeltieren (wie Fischen und Walen). Diese Spindelform des Körpers hat sich ausgehend von sehr unterschiedlichen Bauplänen (der Kieferlosen, Knorpelfische, Knochenfische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere) in einer konvergenten Evolution entwickelt.28 Das Muster der Konvergenz entspricht hier genau dem Muster der Notwendigkeit in dem Modell Ben-Menahems, also einer schwachen Abhängigkeit einer Struktur von den Anfangsbedingungen ihrer Entwicklung. Die Spindelform der unter Wasser schwimmenden Wirbeltiere ist in diesem Sinne nicht kontingent, sondern notwendig.29 Die Polarität von Kontingenz und Notwendigkeit kann biologisch also durch das Begriffspaar Homologie und Konvergenz zum Ausdruck gebracht werden. Dahinter steht der Dualismus von Deszendenz und Selektion. Denn diese bei26 27 28 29

Vermeij (2006). Conway Morris (1998), 51. Koepcke (1971–74), I, 148; vgl. auch Conway Morris (2003), 133. Die wiederholten Innovationen in der Evolution des Lebens befinden sich auf verschiedenen biologischen Ebenen, z. B. auf molekularer Ebene: Polymere als Baustoffe (Cellulose, Chitin), auf morphologischer Ebene: Multizellularität, Innen- und Außenskelett, Bilateralsymmetrie, Sinnesorgane für Licht, Schall, chemische Stoffe und Oberflächenbeschaffenheit sowie Fortbewegungsorgane wie Flossen, Beine oder Flügel, auf physiologischer Ebene: Kreislaufsystem mit Herzen und Exkretionssystem mit Niere, auf ethologischer Ebene: Warnfärbungen und Schutzähnlichkeiten (Krypsis und Mimikry), Eusozialität und Bewusstsein.

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den Prozesstypen können als zwei alternative Mechanismen zur Entstehung der Ähnlichkeit von Organismen verstanden werden: Deszendenz, also genealogische Verwandtschaft, führt zur Ähnlichkeit von Organismen aufgrund eines einmaligen historischen Verlaufs von Vorfahren-Nachfahren-Relationen. Selektion, verstanden als Anpassung an gleiche Umweltbedingungen, kann dagegen eine Ähnlichkeit von Organismen bedingen, die nur sehr entfernt miteinander verwandt sind. Bereits Charles Darwin erkennt die Unabhängigkeit dieser zwei Prozesse und behauptet an einer Stelle des Origin of Species, die eigentlichen Ähnlichkeiten zwischen Organismen seien eine Folge ihrer gemeinsamen Abstammung, nicht von Anpassungsprozessen.30 Der wesentliche Teil der organischen Ähnlichkeiten beruht nach Darwin also nicht auf Selektion, d. h. Konvergenzen, sondern auf Vererbung, d. h. Homologien. Darwin gesteht damit die Schwäche der Selektion relativ zur Vererbung ein – und behauptet damit implizit, ähnlich wie später Gould, dass die organischen Formen meist kontingent und nicht notwendig sind.

3. Kontingenz in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung In der Wissenschaftsgeschichtsschreibung wird dem Zufall zunächst besonders in einer Hinsicht eine wichtige Rolle für die Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung eingeräumt, nämlich insofern, als der Zufall als integraler Bestandteil der Wissenschaft im Modus des Forschungsprozesses gilt. Die wissenschaftliche Innovation wird als nur in Grenzen planbar angesehen.31 Jede wissenschaftliche Entdeckung enthält ein »irrationales Moment«, eine »schöpferische Intuition«, wie es Karl Popper in seiner Logik der Forschung formuliert.32 Für das verbreitete Phänomen des wissenschaftlichen Glücksfundes, d. h. des aufgrund einer zufälligen Beobachtung sich einstellenden »Aha-Erlebnisses« zur Lösung eines wissenschaftlichen Problems, hat sich sogar ein eigener Begriff etabliert, die Serendipität (»serendipity«).33

30 Darwin (1869), 566: »The real affinities of all organic beings, in contradistinction to their adaptive resemblances, are due to inheritance or community of descent«. 31 Clusius (1961); Halacy (1967); Müller (1977); Roberts (1989); Zankl (2002); Schury (2006). 32 Popper (1935), 7. 33 Das Wort geht auf den englischen Schriftsteller Horace Walpole zurück, der es in einem Brief an seinen amerikanischen Freund Horace Mann 1754 einführt. Es ist im Anschluss an die aus dem Arabischen stammende Bezeichnung ›Serendip‹ für Sri Lanka gebildet. Anlass für die Einführung des Wortes durch Walpole war das persische Märchen Die drei Prinzen aus Serendip, in dem von drei Prinzen berichtet wird, die auf Sri Lanka durch Zufall einige nützliche Dinge entdecken, die sie gar nicht gesucht hatten. Die Verwendung im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext geht auf Robert Merton zurück, bei dem das Wort seit den 1940er Jahren erscheint; vgl. Merton/Barber (2004).

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Nicht selten wird die wissenschaftliche Innovation hinsichtlich ihres nichtplanbaren Zufallscharakters mit der evolutionären Innovation aufgrund genetischer Mutationen und Rekombinationen verglichen. Tatsächlich kann die Zufälligkeit in beiden Fällen, der wissenschaftlichen wie der evolutionären Innovation, eine funktionale Komponente haben, so dass sie in beiden Fällen auch stabilisiert wird: im einen Fall beispielsweise in der Freiheit der Grundlagenforschung, im Fall der Evolution in artspezifisch konstanten Mutationsraten als positiven, selbst durch Selektion geförderten funktionalen Produkten von Evolutionsprozessen, ein durch die Natur entworfener Zufall, »chance as de­ signed by nature«, wie es Jonathan Hodge 1983 formuliert.34 Aber darum, um diesen Zufall auf individueller Ebene, auf der Ebene des individuellen Forschers oder der individuellen Mutation, soll es hier nicht gehen. Das Thema ist Kontingenz, nicht Zufall. Im Mittelpunkt steht daher die Frage nach der Unausweichlichkeit in der Veränderung von Strukturen, nicht die Planbarkeit von glücklichen Ereignissen. Im Bereich der Wissenschaftsgeschichte ist daher weniger die Heuristik von Innovationen als die Dynamik von Theorien ein Feld der Kontingenz.35 Hinsichtlich der Frage der Theoriendynamik sind die meisten Naturwissenschaftler der Auffassung, nicht Kontingenz, sondern ihr Gegenteil, Unausweichlichkeit, charakterisiere die Abfolge von Theorien. Die meisten Naturwissenschaftler sind dezidierte Realisten. Sie gehen von einer gegebenen Wirklichkeit aus, deren Struktur es so zu entdecken gelte, wie in früheren Jahrhunderten unbekannte Inseln und Kontinente entdeckt wurden: als objektiv in der Welt vorhandene Entitäten. Eng mit diesem Realismus hängt die Überzeugung von Unausweichlichkeiten in der Entwicklung ihrer Wissenschaft zusammen. Erfolgreiche Wissenschaft führe daher zu Ergebnissen, die zwar im Entdeckungszusammenhang an Individuen gebunden und damit zufällig, im Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung aber doch unausweichlich und notwendig seien. Wenn nicht von dem einen Protagonisten, dann werde der wissenschaftliche Fortschritt von einem anderen in eine vorgegebene Richtung vorangetrieben. In diesem Sinne schreibt Werner Heisenberg unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Text mit dem Titel Über die Verantwortung des Forschers: [Man wird] annehmen müssen, daß die Individuen im Grunde weitgehend ersetzbar sind. Wenn Einstein nicht die Relativitätstheorie entdeckt hätte, so wäre sie früher oder später von anderen, vielleicht von Poincaré oder Lorentz formuliert worden. Wenn Hahn nicht die Uranspaltung gefunden hätte, so wären vielleicht einige Jahre später Fermi oder Joliot auf dieses Phänomen gestoßen.36 34 Hodge (1983), 326 f. 35 Zur aktuelle Debatte in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vgl. Radick (2008) und Soler (2008). 36 Heisenberg (1945–50), 229.

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Bei einem anderen Physiker, Steven Weinberg, heißt es 1998 ähnlich: Physical theories are like fixed points, towards which we are attracted. Starting points may be culturally determined, paths may be affected by personal philosophies, but the fixed point is there nonetheless. It is something toward which any physical theory moves; when we got there we know it, and then we stop.37

Als empirischer Beleg für diese These wird auf die zahlreichen Doppelentdeckungen und -erfindungen verwiesen, den multiples der Wissenschaftsgeschichte, wie sie Robert Merton 1961 nennt.38 Eine ältere, 148 Einträge von multiples umfassende Liste stammt von William Ogburn und Dorothy Thomas aus dem Jahr 1922 und enthält solche Erfindungen bzw. Entdeckungen wie den Buchdruck, das Stereoskop oder die Vererbungsgesetze.39 Für Anhänger der Unvermeidlichkeitsthese wurden für die Biologiegeschichte in den letzten Jahren allerdings überraschende Behauptungen aufgestellt: Einer der besten Kenner der Geschichte der Evolutionstheorie, Peter Bowler, ist der Ansicht, ohne Darwin hätte die Biologie keine Selektionstheorie entwickelt. Darwin sei der einzige gewesen, der sich für Variation auf der Ebene von Individuen interessiert habe, der die damalige Züchtungspraxis wissenschaftlich ernst genommen habe und für den die geografische Verbreitung von Organismen einen experimentell zugänglichen Bereich darstellte. Ohne Darwin wäre eine ganz andere Evolutionstheorie entstanden, so Bowler.40 Gregory Radick behauptet Ähnliches für die Frühphase der Genetik um 1900, und zwar ausgehend von dem frühen Tod eines Forschers, von dem viel zu erwarten war: Raphael Weldon, einer der Protagonisten der Schule der Biometriker, entwickelte eine Vorstellung von genetischen »Determinanten«, deren Wirksamkeit in starkem Maße von ihrem genetischen Kontext abhing. Er stand damit heutigen Vorstellungen der Interaktion von genetischen Faktoren näher als der um 1900 entwickelte Genbegriff der Mendelianer. Weldon starb aber bereits 1906 und der atomistische Genbegriff, der Gene als unabhängig wirksame Einheiten verstand, setzte sich im 20. Jahrhundert allgemein durch.41 Es sind fast ausschließlich Naturwissenschaftler, die die starke Doktrin der Unvermeidlichkeitsthese, den inevitabilism, vertreten. Die meisten Philosophen und noch mehr die Soziologen der Naturwissenschaften, angefangen in den 1930er Jahren mit Ludwik Fleck, folgen dieser These zumindest nicht ohne Einschränkung. Sie bevorzugen es, von einer Pfadabhängigkeit im Fortgang der wissenschaftlichen Erkenntnis auszugehen. Sie argumentieren: Gerade in den modernen Wissenschaften würden die Theorien und postulierten Entitäten in hohem Maße von den Apparaten und Maschinen abhängen, die für die Ex37 38 39 40 41

Weinberg (1998), 163. Merton (1961). Ogburn/Thomas (1922). Bowler (2008). Radick (2005), 34 ff.

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perimente eingesetzt werden. Damit kommen die Kontingenzen der Praxis ins Spiel, wie es Andrew Pickering nennt, der genaue Verlauf in der Entwicklung von Techniken und apparativen Einrichtungen.42 Mit anderen Techniken werden aber andere Daten erhoben, die zu veränderten Theorien und damit wieder zu andersartigen experimentellen Fragestellungen und Apparaturen führen würden, so dass sich hier ein sich selbst verstärkender Kreislauf der Divergenz in der Theorieentwicklung etablieren könnte. Die empirisch zu beobachtende relativ langfristige Stabilität und Robustheit in der Gestalt der Naturwissenschaften schließt also nicht deren Kontingenz aus.43 Trotz dieser Möglichkeit der Divergenz würde aber aus der Perspektive eines einmal eingeschlagenen Wegs dieser als alternativlos erscheinen, auch wenn er es tatsächlich nicht ist. Dies gilt in besonderem Maße für die modernen, hoch apparativen Laborwissenschaften, die in der Verbindung ihrer Experimentalpraktiken und theoretischen Gestalt ausgesprochen kompakt und unangreifbar erscheinen, auch deshalb, weil sie von Kollektiven getragen werden und daher von einem einzelnen Forscher überhaupt nicht mehr umzustürzen sind. In dieser Situation kann man mit Emiliano Trizio eine gewisse Ohnmacht gegenüber dem erreichten Stand der Wissenschaft empfinden: Wir können die vorhandene Gestalt der Naturwissenschaften nur akzeptieren und uns einen grundsätzlich anderen theoretischen Rahmen kaum vorstellen, gleichzeitig können wir aber nicht ausschließen, dass andere Theorien sehr wohl möglich wären, wenn die Zufälle in der Wissenschaftsgeschichte andere gewesen wären.44 Einen von vielen akzeptierten wissenschaftsphilosophischen Konsens in der Debatte um Unausweichlichkeit versus Kontingenz in der historischen Entwicklung der Naturwissenschaften formuliert Ian Hacking im Jahr 2000. Hacking hält am Realismus der Naturwissenschaften fest und schließt daher mit den heutigen Theorien inkompatible Ansätze aus; gut möglich seien aber alternative Wege der Entwicklung eines Forschungsfeldes, die in gleichem Maße in erfolgreicher Wissenschaft bestehen könnten.45 Für den Kontext der Kontingenz ist festzuhalten, dass der Realismus und Externalismus der Naturwissenschaften, d. h. ihr Bezug auf die Natur als das Gegebene, Konsequenzen für die Darstellung der Theoriendynamik hat, die die Naturwissenschaftsgeschichte in eine gewisse konzeptionelle Parallele zur Naturgeschichte stellt: So wie in der Naturgeschichte ausgehend von verschie42 Pickering (1995), 185. 43 In diesem Sinne unterscheidet Léna Soler zwischen Robustheit und Kontingenz (Soler 2012, 34). Ebenso wie Pickering behauptet sie eine ausgeprägte Pfadabhängigkeit, also Kontingenz, in der Entwicklung der Naturwissenschaften (»they could have been different and incompatible«) und erklärt ihre Robustheit aus der wechselseitigen Stabilisierung von Praxen, Theorien und externen Faktoren. 44 Trizio (2008), 258. 45 Hacking (2000), S71.

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denen Anfangsbedingungen Konvergenzen auftreten, also alternative evolutionäre Wege zu einer Form, die als Anpassung an einen Lebensraum gelten kann, so kann es auch in der Wissenschaftsgeschichte konvergente Entwicklungen hin zu einer theoretischen Gestalt geben. Eine Robustheit des Endzustandes gegenüber alternativen Anfangszuständen könnte in beiden Fällen die Dynamik kennzeichnen – und das Ausmaß dieser Robustheit könnte in beiden Fällen als ein Maß für die Unausweichlichkeit bzw. Kontingenz der Entwicklung dienen.

4. Kontingenz in der Kulturgeschichtsschreibung Analog zu den Fixpunkten der Theorienentwicklung, auf die hin nach Ansicht von Steven Weinberg die Entwicklung der Naturwissenschaften gerichtet sei, wurden in den großen geschichtsphilosophischen Entwürfen der Vergangenheit derartige Fixpunkte auch für die Dynamik des Kulturellen behauptet, also für die Geschichte im emphatischen Sinn. Die Geschichtsphilosophie bestand bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen darin, Strukturen, Gesetze oder Konvergenzen in der kulturellen Entwicklung zu identifizieren oder meist doch nur zu postulieren. Dies erfolgte einerseits in der Variante materialer Geschichtsphilosophie mit der Behauptung einer teleologischen Ausrichtung der Geschichte des Menschen auf ein Ziel oder in der Variante der formalen Geschichtsphilosophie, die zumindest einen festen begrifflichen Rahmen von Prinzipien annimmt, zum Beispiel »Werten«46, innerhalb dessen Kulturen sich entwickeln. Als ein Beispiel dafür könnte die Geschichtsphilosophie Immanuel Kants dienen, die zwar nur in Ansätzen vorliegt, insbesondere in den Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht von 1784, die aber trotzdem als grundlegende Methodologie der Geschichtswissenschaft interpretiert werden kann, wie dies Werner Flach in den letzten Jahren vorgeschlagen hat47. Die Lehre vom »weltbürgerlichen Zustand«, der, in Kants Worten, »dereinst 46 Vgl. Rickert (1905), 126: »Wir fanden nämlich, daß die Deutung des allgemeinen Sinnes der Geschichte die Idee eines Systems unbedingter Werte voraussetzt, an dem die empirisch allgemeinen Kulturwerte gemessen werden können«; »Immer […] sind es Werte, mit denen die Geschichtsphilosophie, die von der Logik der Geschichte ausgeht, es zu tun hat. Zunächst die Werte, aus denen sich die Denkformen und Normen des empirisch-geschichtlichen Forschens herleiten lassen, sodann die Werte, welche als Prinzipien des geschichtlich-wesentlichen Materials die Geschichte selbst erst konstituieren und endlich die Werte, deren allmähliche Verwirklichung sich im Lauf der Geschichte vollzieht« (133); vgl. auch Rickert (1924). 47 Flach (2002); (2005); (2006); vgl. insbesondere (2005), 170 und diese Passage: »Kant ist sich sicher, daß die Narration des geschichtlichen Geschehens nur Zufälliges, Regelloses, ja Widersinniges darbietet. […] [Das] methodische Konzept kann sich […] nicht auf die handelnden Menschen als einzelne individuell oder kollektiv agierende Subjekte beziehen; es kann sich nur auf die Menschen als Gattung, d. i. in ihrer Gattungsbestimmtheit, beziehen. Darin liegt: Das

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einmal zu Stande kommen werde«48, dient Kant als ein »Leitfaden« für die Darstellung der Geschichte – nicht unbedingt der Geschichte selbst, die, weil von Individuen getragen, durch Zufälligkeit geprägt ist, sondern eben ihrer Darstellung, der Geschichtsschreibung. Ein Leitfaden kann diese Idee des weltbürgerlichen Zustandes sein, insofern sie dazu eingesetzt wird, das »sonst planlose Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen«49. Geschichtsschreibung ist für Kant keine bloße Narration, sondern methodisch in einer Theorie der Kultur fundiert, insofern sie die Momente der Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung als Leitfaden ihrer Beschreibung verwendet.50 Könnte damit der »weltbürgerliche Zustand« als Fluchtpunkt historiografischer Argumentationen dienen, dann würde eine ähnliche Struktur vorliegen wie in der Naturgeschichtsschreibung oder der Wissenschaftsgeschichtsschreibung: dann würde ein externer Referent existieren, auf den hin die konkreten, immer auch zufälligen Verläufe des Geschehens als mehr oder weniger konvergierend beschrieben werden könnten. Derartige Fixpunkte werden für die Geschichte und die Geschichtsschreibung in der Gegenwart aber meist nicht angenommen, nicht für die Dynamik einzelner Kulturen und schon gar nicht als Fluchtpunkt für eine kulturübergreifende Dynamik. Die Vorstellung einer historischen Unvermeidlichkeit, historical inevitability, wird von den meisten Geschichtstheoretikern grundsätzlich abgelehnt. Ein sprachphilosophisches Argument für diese Ablehnung formuliert Isaiah Berlin 1954: Die Vorstellung der historischen Unvermeidlichkeit, also eines Determinismus, sei mit unserem konventionellen Sprachgebrauch nicht vereinbar, weil diese Vorstellung allen leitenden Konzepten für unser Handeln, die eine Freiheit und Verantwortung für das eigene Tun voraussetzen, widersprechen würde. Eine strenge Widerlegung des historischen Determinismus meint Berlin aber auf dieser Grundlage nicht geben zu können51 – und damit hat er sicher recht. Denn es ist doch fraglich, inwiefern aus der personalen Fähigkeit des Andershandelnkönnens, die sich auf der Ebene von Individuen bewegt (und von der umstritten ist, ob sie mit dem Determinismus vereinbar ist), eine stichhaltige Kritik historischer Unvermeidlichkeit, die sich auf ganz anderer Ebene befindet, entwickeln lässt. Aber auch wenn sprachphilosophische Argumente allein noch nicht ausreichen, um die fragliche Unvermeidlichkeit der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung zu widerlegen, wird sie heute von Historikern trotzdem kaum

48 49 50 51

Geschichtskonzept, das so fundiert ist, thematisiert Geschichte als Geschichte der menschlichen Gattung« (2002, 114). Kant (1784), 28. Kant (1784), 29. Kant (1784), 26; (1798), 324. Berlin (1954), 122.

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noch vertreten. Der Verlauf der Kulturgeschichte wird meist nicht (mehr) so verstanden, dass er auf einen (durch die Vernunft erkannten) extern vorgegebenen Zustand ausgerichtet sei (oder auch nur in Hinsicht darauf zu erzählen wäre) – so wie dies in der Historiografie der Naturwissenschaften durchaus noch Praxis sein kann. Die kulturelle Dynamik gilt als in die Zukunft offen und unabschließbar. Sie ist nicht an der Vorstellung eines Abbilds orientiert, wie das Weltbild des Realismus der meisten Naturwissenschaftler. Maßgeblich für die kulturelle Dynamik ist nicht, zumindest nicht allein, Repräsentation, sondern zuallererst Imagination. Die Resultate von Imagination, Fiktion, Kreativität lassen sich aber nicht in der Weise in ein System bringen wie wissenschaftliche Theorien. Sie versperren sich nicht selten ganz einer Erklärung und können nur beschrieben werden. Damit sind sie aber als einzelne zufällig und in ihrer kulturell stabilisierten Struktur kontingent. Denn, wie der Historiker Kurt Kluxen 1981 feststellt: »Alles, was kontingent ist, wird nur erzählt und kann aus dem der Erzählung zugrunde liegenden Aspekt nicht erklärt werden.«52 Ähnlich wie es Mark Bedau für das Konzept der Emergenz vorgeschlagen hat53, könnte auch Kontingenz über eine explanatorische Inkompressibilität gekennzeichnet werden: Kontingente Strukturen könnten ebenso wie emergente dadurch gekennzeichnet werden, dass sie nicht aus einer komprimierten allgemeinen Theorie abgeleitet, sondern nur über das schrittweise Durchlaufen einer Ereignisfolge beschrieben werden können. Imaginationen schließen häufig an andere Imaginationen an, zwischen ihnen entwickelt sich eine aus Theorien und allgemeinen Prinzipien nicht ableitbare selbstbezügliche Dynamik. Diese besteht in einem offenen Prozess der Pluralisierung von Perspektiven, Einstellungen und Stilen. Und sie bedingt damit auch die Unterschiedenheit der Kulturgeschichte von der Wissenschaftsgeschichte. Die Philosophie der Historiografie nimmt daher einen einzigen durchgehenden Leitfaden der Geschichtsschreibung In der Regel nicht mehr als verbindlich an. Statt der einen welthistorisch übergreifenden Konvergenz hin 52 Kluxen (1981), 203. Für den um Erklärungen bemühten Historiker folgt daraus nach Kluxen auch: »Die historische Erklärung strebt danach zu zeigen, daß das geschichtliche Ereignis nicht Zufall war, sondern aus gewissen Bedingungen erwartet werden konnte« (1974, 111). E. H. Carr (1961, 103) kennzeichnet das historisch Zufällige über seine fehlende historische Signifikanz; historisch irrelevant seien in der ex-post-Perspektive des Historikers solche Zusammenhänge, die nicht »in das Gewebe der rationalen Erklärung und Interpretation einzuflechten« sind. Ähnlich sieht es Hermann Lübbe (1977, 38 f.), der dasjenige, das man »nur historisch erklären kann«, dadurch charakterisiert, dass es ausgehend von einer »Handlungsrationalität« »nicht ›rationalisierbar‹ « ist: »Geschichten sind Vorgänge, die der Handlungsraison der Beteiligten sich nicht fügen. Sie sind nicht handlungsrational« (55). Der Evolutionsbiologe Richard C. Lewontin (1967, 87) identifiziert das irreduzibel Historische mit dem Kapriziösen, das sich ausgehend von Erfahrungen der Vergangenheit nicht prognostizieren lässt. 53 Vgl. Bedau (2008).

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zum »weltbürgerlichen Zustand« werden lediglich lokale Konvergenzen identifiziert, Konvergenzen, die nicht normativ aufgeladen sein müssen wie der Zustand des vollendet kultivierten, zivilisierten und moralisierten Menschen. Die geschichtsphilosophisch legitimierten Konvergenzen werden in der Regel auch nicht im Vorgriff auf den zu erwartenden Geschichtsverlauf kon­stru­iert, sondern entstehen erst in der rückblickenden Beschreibung. Trotzdem sind sie geeignet, Kontingentes von weniger Kontingentem zu unterscheiden: Dass Marcel Duchamp im Frühjahr 1914 drei Fäden fallen lässt und das auf Leinwand fixierte Ergebnis oder auch die Aktion insgesamt als ein Kunstwerk erklärt, dem er später den Namen konservierter Zufall oder Zufall in Konserven (»hasard en conserve«54) gibt, ist nicht kontingent, zumindest, paradoxerweise, weniger kontingent als seine Geburt, weil es sich einordnen lässt in eine kunsthistorische Strömung, einen Stil der Kunst, in dem sich charakteristische Formprinzipien ausdrücken, die in rückblickender Beschreibung unter dem Titel Dadaismus zusammengefasst werden können.

5. Kontingenz und Allelopoiese Dass Geschichtsschreibung nicht einfach ein objektives Abbild des vergangenen Geschehens ist, sondern stets perspektivisch, selektiv und interessegeleitet, betont 1919 Theodor Lessing: [E]s wird Geschichte bekanntlich nur von Überlebenden geschrieben. Die Toten sind stumm. Und für den, der zuletzt übrig bleibt, ist eben alles, was vor ihm dagewesen ist, immer sinnvoll gewesen, insofern er es auf seine Existenzform bezieht und beziehen muß, d. h. sich selbst und sein Sinnsystem eben nur aus der gesamten Vorgeschichte seiner Art begreifen kann. […] Geschichte [ist] die egozentrische Selbstbezüglichkeit des Geistes, der aus Geschichten herausgeboren, zuletzt Geschichte als Vorstufe seiner eigenen Gegenwart begreift.55

Wie alles in der Geschichtsschreibung so ist auch die Feststellung von Kontingenzen nicht einfach eine realistische Abbildung des Vergangenen, sondern erfolgt im Rahmen einer jeweiligen Perspektive und unter den Vorgaben be54 Cabanne (1967), 82; nach Herbert Molderings (2006, 12) erscheint die Formulierung bereits auf einem Zettel in der so genannten Grünen Schachtel von 1934. Duchamps Wortwahl ist möglicherweise durch biologische Kenntnisse inspiriert. In die Biologie führt Otto zur Strassen den Ausdruck ›konservierter Zufall‹ 1915 ein, und zwar im Kontext einer Diskussion der organischen Zweckmäßigkeit; der Zufall ist nach zur Strassen »die einzige Geschehensform, die überhaupt Zweckmäßiges de novo entstehen läßt«, mit anderen Worten: »Jede unmittelbar-zweckmäßige Leistung ist konservierter Zufall: der Mechanismus, der ihr zugrunde liegt, ist seinerzeit zufällig in die Welt getreten« (1915, 148). In diesem Sinne sind alle nachhaltig bestehenden Kontingenzen der Evolutionsgeschichte des Lebens konservierte Zufälle. Francis Crick spricht später in Bezug auf den genetischen Code von einem eingefrorenen Zufall (1968, 369). 55 Lessing (1919), 63.

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stimmter theoretischer Einstellungen und Interessen. Auch die Beschreibung einer Struktur als unausweichlich oder kontingent ist eine theorieabhängige Repräsentation und Konstruktion des Vergangenen aus einer ex-post-Perspektive.56 Die Kontingenzen der Vergangenheit haben also nicht nur die jeweilige Gegenwart hervorgebracht, sondern ihre Einordnung als kontingent hängt umgekehrt von dieser jeweiligen Gegenwart ab. Auch in Bezug auf die Kontingenz liegt damit das Verhältnis der wechselseitig voneinander abhängigen Konstruktion des Vergangenen und Gegenwärtigen vor, das der Sonderforschungsbereich ›Transformationen der Antike‹ als Allelopoiese bezeichnet.57 Aufgrund ihrer Theorieabhängigkeit sind die Feststellungen von Kontingenzen historisch variabel; sie sind ein »Reflexionsprodukt«, wie Alfred Heuß bemerkt58. Das, was auch anders sein kann, ändert sich im Laufe der Zeit. Diese Variabilität ist eine Erfahrung von allen drei hier betrachteten Wissensbereichen: Es unterliegt einem historischen Wandel, welche Strukturen von Organismen Biologen als ›konvergent‹, also als unvermeidliche Anpassungen, und welche als ›homolog‹, also als kontingent, ansehen; einem historischen Wandel unterliegt es, welche Positionen in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Vorläufer der biologischen Deszendenztheorie angesehen werden; und einem historischen Wandel unterliegt auch die typisierende Klassifikation von Kunstwerken zu Stilen. Der historische Index, mit dem die Kennzeichnung einer Struktur als unvermeidlich oder kontingent versehen ist, muss aber nichts an der Grundlage ändern, auf der diese Unvermeidlichkeit oder Kontingenz festgestellt wird. Historisch übergreifend ist das in der Retrospektive festgestellte Muster der Konvergenz von Geschehnissen ausgehend von verschiedenen Anfangsbedingungen hin zu einem ähnlichen Endzustand, über das für einen Kontext jeweils ein Spektrum von Kontingenz bis Notwendigkeit definiert werden kann. Im Laufe der Zeit ändert sich zwar der Bereich dessen, was sein kann, aber auch anders sein kann; nicht aber ändert sich dabei, inwiefern etwas anders sein kann, nämlich insofern es mit anderem nicht konvergiert. Mit anderen Worten: Der Kontingenzbegriff ist ein nützliches Werkzeug für den Historiker, wenn er die Entstehung wiederkehrender Strukturen in den unterschiedlichsten Bereichen beschreiben und verstehen will.

56 Vgl. Baumgartner (1986), 924. 57 Vgl. Bergemann et al. (2011), 39. 58 Heuß (1985), 32.

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Die Rolle des Zufalls in den Funktionssystemen der Weltgesellschaft. Eine vergleichende Perspektive Rudolf Stichweh

I. Einleitung Eine gesellschaftliche Ordnung, die auf normativen Erwartungen ruht, wird dem Zufall einen relativ kleinen Spielraum zumessen. Sie wird sich für die Erfüllung der Erwartungen nicht auf Zufall verlassen wollen – und auch die Verletzung geltender normativer Erwartungen ist leichter korrigierbar, wenn man sie einem devianten Willensakt zuschreibt, der zugerechnet und verantwortet werden kann. Insofern scheint plausibel, dass über Jahrtausende hinweg dem Zufall in der Selbstbeschreibung von Gesellschaft nur eine Nebenrolle zugedacht werden konnte und er nicht nur selten vorkam, sondern auch überwiegend unerwünscht war. Das ändert sich in der Moderne in genau zwei Hinsichten. Erstens entsteht mit dem Darwinismus historisch erstmals ein signifikantes Denksystem und Forschungsparadigma in der Geschichte der Wissenschaften, das den langfristigen Strukturwandel von Makrosystemen (die Diversität des Lebens auf der Erde, die soziokulturelle Diversität menschlicher Sozialsysteme) ›in letzter Instanz‹ auf zufällige Ereignisse zurückzuführen versucht. Auf dieser Basis wird man künftig Zufälle dort entdecken, wo man sie bisher nicht sehen konnte und wollte. Zugleich aber – und das ist ein völlig selbständiger Teil des hier vorzustellenden Arguments – vollzieht sich ein Strukturumbau der Gesellschaft vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, der dem Zufall eine neuartige Realität und Wirkungsmächtigkeit verschafft, so dass die verfügbaren wissenschaftlichen Beschreibungsmöglichkeiten und die gesellschaftliche Wirklichkeit sich in die gleiche Richtung bewegen, der Darwinismus gewissermaßen die Semantik einer zufallsbasierten Gesellschaft ist, obwohl er als Theorie der biologischen Evolution zunächst einmal gar nicht von Gesellschaft spricht. Das Argument des folgenden Textes wird diese beiden Bewegungen in der Geschichte der modernen Gesellschaft in ihrer Parallelität und Verknüpfung zu studieren versuchen. In einem ersten Schritt stelle ich in der Form einer kurzen Skizze intellektuelle Positionen vor, die auf je verschiedene Weise an der theo­ re­ti­schen Legitimation des Zufalls in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts

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beteiligt sind (II). Darauf folgen Überlegungen, die den Zufall tiefer in der Strukturgeschichte der Gesellschaft des 18. bis 21. Jahrhunderts zu verankern versuchen (III). Der Text fährt fort mit einer vergleichenden Diskussion der Funktionssysteme der Weltgesellschaft, die drei Typen von Funktionssystemen unterscheidet: Zunächst geht es um diejenigen, deren moderne Form der Strukturbildung gerade auf einer umfassenden Institutionalisierung und Akzeptanz des Zufalls aufruht (Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Intimbeziehungen). Als Kontrastprinzip zur umfassenden Legitimation des Zufalls verwenden diese Systeme starke Symbolisierungen von Notwendigkeit für die Beschreibung stabiler Zwischenzustände (Wahrheiten, Werke, Unternehmen, Ehen) (IV). Diesen Systemen tritt eine zweite Klasse von Funktionssystemen gegenüber, die die normativen Fundamente von Gesellschaft dadurch stabilisieren, dass sie Zufall und Kontingenz deutlicher und wertend voneinander trennen: Sie akzeptieren Kontingenz als eine Austauschbarkeit / Veränderbarkeit, die selbstverständlich auch die normativen Bestände des Systems einschließt; aber für diese Substitutionsvorgänge sind sie auf keinen Fall bereit, eine signifikante Beteiligung des Zufalls zu akzeptieren (Religion, Recht, Erziehung) (V). Den dritten Typus verkörpern Medizin / Gesundheit und Politik, als Systeme, bei denen sich in der modernen Form durch Empirisierung und Verwissenschaftlichung von Medizin und durch Demokratisierung von Politik eine Art Seitenwechsel vollzieht, der in diesen beiden Systemen die Form annimmt, dass globale Varianten entstehen, die teils stärker die Seite der Legitimation des Zufalls betonen, teils stärker auf die normative, dem Zufall abgewandte Seite blicken (VI).

II. Intellektuelle und theoretische Positionen Der wichtigste Autor für die Wiederkehr und Neuformulierung von Theorien soziokultureller Evolution nach dem zweiten Weltkrieg war der amerikanische Psychologe und Methodologe Donald T. Campbell (1916–1996)1. Das darwinistische Modell, das er für verschiedene Ebenen der Organisation von Wirklichkeit, aber eben auch für die soziokulturelle Evolution von Gesellschaft vorschlug, ruhte für jede dieser Ebenen immer auf der Leitunterscheidung von »random variation and selective retention«. Ausgangspunkt des Wandels auf jeder der Systemebenen, die in den Bereich einer evolutionären Theorie fallen, ist immer eine Neuheit (»variation«), die sich zufällig ereignet.2 Gerade der Zufall sichert der Neuheit das Überraschungsmoment, ist eine Voraussetzung der 1 2

Eine repräsentative Sammlung wichtiger Texte ist Campbell (1988). Campbell erläutert sein Konzept des Zufalls immer wieder mit Ketten von Begriffen, die sich leicht überschneiden: »The basic recipe for evolutionary adaptations is haphazard variation, selection, and blindly loyal transmission. All of the fit is achieved by selection. The variations

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Möglichkeit, dass die jeweilige Neuheit sich eventuell als eine Problemlösung erweist, auf die man durch Nachdenken allein nicht hätte stoßen können, weil dieses Nachdenken zu sehr durch bereits vorhandene Bestände und Erwartungen in seiner Kühnheit und Innovativität eingeschränkt wird. Wirkliche Neuheit, die sich nicht aus bereits Vorhandenem ableiten lässt, kann, so postulierte es Campbell, nur zufällig entstehen. Zufall allein genügt natürlich nicht. Deswegen wird er in einer evolutionären Theorie immer durch einen Begriff für Selektion (hier »selective retention«) ausbalanciert, die in der Form des selektiven Wiederaufgreifens nur einiger der Zufälle (und durch Nichtberücksichtigung der meisten Zufälle), die vorhandenen Strukturen des Systems ins Spiel bringt, die mit vielen der Zufälle nichts anfangen können. Die ontische Plausibilität der Kategorie des Zufalls erklärt Campbell mittels Ebenenunterscheidungen. Eine kommunikative Intervention in einem Sozialsystem beispielsweise, die sich vorgängigen Denkprozessen in einem Individuum verdankt, ist, solange man nur die Denkprozesse dieses Individuums und deren innere Interdependenzen analysiert, schwer mit der Kategorie des Zufalls zu fassen. Aber wenn ein Resultat dieses Denkprozesses als kommunikative Intervention in einem Sozialsystem vorkommt, ist dieses Geschehen mit den Strukturen des betreffenden Sozialsystems vielfach nicht ›vorabgestimmt‹. Und in genau diesem Sinne der Zufälligkeit im Blick auf eine andere als die ursprüngliche Systembildungsebene macht die Kategorie des Zufalls Sinn. Campbell hat, um nur zwei Namen zu nennen, Karl Raimund Popper genauso intensiv beeinflusst, wie ihm dies bei Niklas Luhmann (1927–1998) gelungen ist3. Dieser Einfluss erstreckt sich auch auf den Begriff des Zufalls, den Luhmann genau wie Campbell über »Interdependenzunterbrechungen« definiert. Etwas, was zufällig geschieht, ist nicht schlicht und einfach »independent« (also keinen Einflüssen ausgesetzt). Es sind vielmehr relevante, von vielen als wichtig erachtete Interdependenzen unterbrochen – und in diesen Hinsichten kann etwas in einem bestimmten System als zufällig fungieren, während es diesen Status in anderen Hinsichten (im Blick auf andere Systeme oder Systemebenen) nicht zu reklamieren imstande ist. Luhmann verstärkt das Argument noch einmal dadurch, dass er die Evolutionsfähigkeit eines Systems ausdrücklich mit der Fähigkeit des Systems verknüpft, vorkommende Zufälle für Vorgänge der Strukturbildung zu nutzen. Zukunftsfähigkeit des Systems ist dann gewissermaßen identisch mit Zufallssensibilität oder Offenheit für Zufälle.4

3 4

show no foresight. They are ›chance‹, ›random‹ (but not in a technical, mathematical sense), ›haphazard‹, ›blind‹.« (Campbell [1991], 103). Luhmann (1997), Kap. 3. »… ersetzt ein System Vollkenntnis der Umwelt durch Einstellung auf etwas, was für es Zufall ist. Nur dadurch ist Evolution möglich« (Luhmann [1997], 449).

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Ein drittes gutes Beispiel bietet der armenisch-amerikanische Ökonom Armen A. Alchian (1914–2013), eine der Schlüsselfiguren in der Entstehung der »new institutional economics«. Wie die anderen Autoren auch argumentiert Alchian nicht in einem ontologischen Sinn für die Bedeutsamkeit des Zufalls. Sein Argument ist populationistisch: In einer großen Population von Handlungen unterscheidet sich die Verteilung der Handlungen auf die verschiedenen Alternativen unter der Prämisse rationaler Voraussicht der Handelnden möglicherweise nicht von der Verteilung, die sich bei einer Zufallsauswahl einstellen würde.5 Oder, in einer Umkehrung der Blickrichtung: Auch in einer Population von Handlungen, von denen jede einzelne nachlässig und unaufmerksam vollzogen wird, werden sich, wenn die Population nur groß genug ist, Handlungen finden, die im Sinne einer vollständigen Voraussicht optimale Handlungsvollzüge verkörpern.6 Wenn man beide Argumente mit der Annahme einer wirksamen Selektionsumwelt verbindet, ergibt sich daraus (und hier kommt Alchian zu denselben Schlussfolgerungen, die wir auch bei Campbell und Luhmann feststellen) ein Ordnungsaufbau, der durch die Prominenz des Zufalls in den Elementarereignissen des Systems in keiner Weise beeinträchtigt wird. Eine vierte relevante Illustration einer wissenschaftstheoretischen Legitimation des Zufalls findet sich in der Wissenschaftssoziologie. In die soziologische Theorie der Wissenschaft hat Robert K. Merton (1910–2003) 1945 das Konzept der »Serendipität« eingeführt7. Dieses meint eine wissenschaftliche Entdeckung, nach der der Forscher aber gar nicht gesucht hatte. Erneut ist das Zusammenspiel von Zufall in der Entstehung und anschließender Zwangsläufigkeit in der Selektion auffällig. Die zufällige Entdeckung gelingt nur einem Wissenschaftler, »(who) … had been trained to look for significance in scientific accidents«8. Und die Zwangsläufigkeit haftet bereits dem ungesucht entdeckten Sachverhalt selbst an: »the unexpected fact must be strategic … it must permit of implications which bear upon generalized theory«9. D. h. natürlich auch, dass es viele Zufälle gibt, die folgenlos bleiben, dass am Ende nur die Zufälle überleben, denen außer ihrer Zufälligkeit auch das Moment der Zwangsläufigkeit oder Notwendigkeit anhaftet.

5 6 7 8 9

»Individual behavior according to some foresight and motivation does not necessarily imply a collective pattern of behavior that is different from the collective variety of actions associated with a random selection of actions« (Alchian [1950], 215). »Even if each and every individual acted in a haphazard and nonmotivated manner, it is possible that the variety of actions would be so great that the resulting collective set would contain actions that are best, in the sense of perfect foresight« (ebd.). Im gleichen Jahr 1945 findet sich der Begriff auch bei Walter B. Cannon in »The Way of an Investigator«. Merton (1968), 158, Fn. 4a. Ebd., 159.

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III. Strukturen der Ermöglichung des Zufalls in der Moderne Die Legitimation des Zufalls, das wurde eingangs bereits betont, ist nicht allein und nicht zuallererst ein denkgeschichtliches Ereignis. Der Umbruch in der Wissenschaftsgeschichte läuft parallel zu Strukturänderungen der Gesellschaft, die dem Zufall neue Möglichkeitsbedingungen schaffen. Die vermutlich wichtigste Bedingung ist die Individualisierung der Handlungsfähigkeit, die für die moderne Gesellschaft charakteristisch ist10. Handeln ist nicht mehr durch die Mitgliedschaft in Gemeinschaften und die Zugehörigkeit zu Strata weitgehend vorbestimmt, es wird als Folge dieses Umbruchs in historisch außergewöhnlichem Umfang das Resultat individueller Entscheidung. Damit wird es für die Gesellschaft zufällig. Gesellschaft erzeugt nicht mehr genug Bindungen, um das Handeln des Einzelnen zu bestimmen und es verlässlich voraussagen zu können. Dieses Moment wird verstärkt durch die Individualisierung der Konfliktfähigkeit11, d. h. durch eine ausgeprägtere Toleranz, eine Art Gewöhnung an die Alltäglichkeit des ›Nein‹, das der Einzelne ihm kommunizierten Erwartungen entgegenzusetzen bereit ist. Widerspruchsgeist genügt und dieser wird viel weniger als je zuvor durch geltende überindividuelle Imperative aufgehalten oder blockiert. Die Gründe des Handelns, die Motive, die man zu nennen bereit wäre, bleiben in einer so verfassten Gesellschaft zunächst außer Betracht. Motive des Handelns sind zunehmend posthoc. Man wird sich ihrer bewusst, man beginnt nach ihnen zu suchen, sobald sie in Frage gestellt werden, in dem Augenblick, in dem eine Rechtfertigung für Handlungen eingemahnt wird. Dann aber ist die Handlung längst vollzogen und der um Erklärung und Rechtfertigung gebetene Handelnde kann seine Aufmerksamkeit darauf lenken, im Vorrat legitimer Motive eines zu finden, das sich für die nachträgliche Erklärung der eigenen Handlung eignet12. Diese nachträgliche Erklärung der Einzelhandlung, die manchmal eingefordert wird, aber in der Regel ausbleibt, ist einmal mehr eine Struktur, die etwas möglicherweise Zufälligem nachträglich die Form einer scheinbaren Notwendigkeit verleiht. Das, was hier beschrieben wird, hat etwas mit dem Auseinanderziehen von Systemebenen in der modernen Gesellschaft zu tun. Die Einzelhandlung findet ihren Platz auf einer Mikroebene, die eine zunehmend große Distanz von Makroebenen der Strukturbildung trennt. Insofern ist die Zufälligkeit der Einzelhandlung und des millionen- oder milliardenfachen Mikrokonflikts gut kompatibel mit einem als systematisch oder konsequent erscheinenden Strukturaufbau höherer Systemebenen, denen der Zufall der Mikroereignisse einen größeren Variantenreichtum zur Verfügung stellt. 10 Stichweh (2005). 11 Luhmann (1984). 12 Scott/Lyman (1968).

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Es ist eine zweite Beschreibung derselben Sachverhalte möglich und verfügbar. Man wird dann von einer zunehmend großen Zahl von elementaren Vorkommnissen (Kommunikationen oder Handlungen) in der Gesellschaft sprechen. Jedes einzelne dieser elementaren Vorkommnisse kann als zufällig erscheinen. An dieser Vielzahl von Elementen fällt weiterhin auf, dass sie sich im Lauf der Zeit stärker voneinander unterscheiden. Das heißt, die Verschiedenheit oder Diversität der Elemente nimmt zu, so dass auf der Elementbasis eines jeden sozialen Systems die Deutung zwingender wird, dass wir es mit Populationen von Elementen zu tun haben und in der Folge Mikrodiversität eine entscheidende Charakterisierung der Basis eines sozialen Systems wird. Außer Vielzahl und Mikrodiversität wird eine Lockerung der Verknüpfungen unter den Elementen ein drittes bestimmendes Moment der Infrastruktur so­zia­ ler Systeme. Man wird dann entweder von einem loose coupling der Elemente im Verhältnis zueinander sprechen oder in einer alternativen theoretischen Sprache von weak ties als der dominierenden Verknüpfungsform der Elemente untereinander. Schließlich ist als ein viertes Charakteristikum hervorzuheben, dass Differenzen unter sozialen Systemen kumulativ entstehen, nicht in der Form abrupter Diskontinuitäten. Differenzen sind zunächst klein, mögen als insignifikant erscheinen; aber aus diesen kleinen Differenzen kann ein kumulativer Differenzausbau und Strukturaufbau resultieren. Mit dem Anfang dieser Prozesse – den kleinen Differenzen – kann sich noch die Vorstellung der Zufälligkeit der Unterschiede verbinden (es kann sich um Tagesschwankungen oder Launen handeln), aber in der Folge einer Kumulation erscheint der Unterschied irgendwann als voraussehbar determiniert. Aber diese scheinbare Voraussicht ist in der Wirklichkeit retrospektiv. Alle in den Überlegungen dieses Abschnitts skizzierten Strukturen sind Strukturen der Ermöglichung des Zufalls. Dieses Argument wird nun im nächsten Schritt mit der Soziologie der funktionalen Differenzierung verbunden werden, um eine Antwort auf die Frage zu suchen, wie die Reaktionsmuster verschiedener Funktionssysteme auf die Erleichterung und Ermöglichung des Zufalls divergieren.

IV. Akzeptation und Legitimation des Zufalls in Funktionssystemen: Inverse Kontingenz Eine Kulturgeschichte der funktional differenzierten Gesellschaft wird schnell auf den Sachverhalt der Legitimation des Zufalls stoßen – und zwar einerseits auf breiter Front, als etwas, was in einer Reihe von Systemen vorkommt; andererseits aber auch als ein spezifisch lokalisiertes Phänomen, das in einer zweiten Reihe von Systemen systematisch negiert wird. Diesen Unterschieden werden wir uns im Folgenden zuwenden.

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Es ist auffällig, dass in der Semantik und Selbstbeschreibung mehrerer Funktionssysteme die Semantik des Zufalls entscheidende Aspekte der Modernität des jeweiligen Systems formuliert. Die Systeme akzeptieren den Zufall nicht nur als eine hinzunehmende Gegebenheit. Sie identifizieren sich teilweise emphatisch mit ihm und in dieser Identifikation tritt der Zufall als eine Signatur der Moderne besonders deutlich hervor. Wir hatten die Bedeutung von Serendipität als Selbstbeschreibung des Wissenschaftssystems bereits hervorgehoben13. Es geht bei Serendipität darum, dass man im Forschungsprozess etwas findet, das man nicht ausdrücklich gesucht hatte. Dieses zufällige Moment wird in der Wissenschaft aber nicht negativ bewertet, vielmehr dominiert eine positive Identifikation damit, die das Auftreten von Serendipität als Indiz für die geschulte Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers und die Systematik seines Suchprozesses sieht. Zufall und Notwendigkeit werden nicht als einander widersprechend gedeutet, vielmehr kann zufällig nur das entdeckt werden, was, nachdem es einmal entdeckt worden ist, sich als etwas erweist, was sich notwendigerweise so verhält, wie es ist. Ein Sachverhalt ist also zugleich zufällig wie er auch notwendig ist und die intensive Bejahung des Zufalls steigert zugleich die positive Affirmation der Notwendigkeit. Für die gerade beschriebene Struktur schlage ich den Begriff der inversen Kontingenz vor. Seit Niklas Luhmann dem Begriff der Kontingenz eine Schlüsselstellung in der Soziologie zugewiesen hat14, wird Kontingenz im Sinn einer doppelten Negation sowohl von Zufall wie von Notwendigkeit verstanden. Etwas, was kontingent ist, beispielsweise die Gottesvorstellung des Christentums, ist weder einfach nur zufällig noch ist es als unhintergehbar und zweifelsfrei notwendig zu verstehen. Es gibt andere Möglichkeiten, die Gottesvorstellung des Christentums könnte also auch anders aussehen. Man könnte beispielsweise auf Trinität verzichten. Genau dies meint der Begriff der Kontingenz. Nun stoßen wir in unseren Überlegungen in diesem Text auf einen Sachverhalt in der Grundlegung einiger Funktionssysteme, der mit Kontingenz anders umgeht. Statt mit einer doppelten Negation haben wir mit einer doppelten Affirmation zu tun. Etwas ist in einer gewissen Hinsicht dem Zufall verdankt, aber diese Zufälligkeit wird gerade deshalb affirmiert, weil man sie in einer anderen Hinsicht als eine höhere Notwendigkeit behaupten will. Inverse Kontingenz (die ineinandergreifende, sich wechselseitig bestätigende, doppelte Affirmation von Zufall und Notwendigkeit) scheint ein treffender Name für diesen Sachverhalt. Die Kunst als moderne und zeitgenössische Kunst kennt eine Reihe von Termini für dieselbe Struktur. Die Kunst soll auf Automatismen ruhen, Spon13 Merton/Barber (2006) 14 Luhmann (1971); Luhmann (1992).

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taneität verwirklichen, eine ungeplante Intervention sein. Dies alles sind Zufallstermini, Termini der Ausschaltung bewusster Voraussicht und Planung, die am Startpunkt der Erstellung des künstlerischen Werks stehen. Im Prozess der Fertigstellung des Werks setzen sich dann langsam Notwendigkeiten durch, die Verwirklichungen erscheinen als zwangsläufig, nicht in anderen Formen realisierbar als in den Gestalten, in denen sie schließlich definitiv sichtbar werden. Auch die Vorstellung, die vor allem Niklas Luhmann argumentativ vertreten hat, dass in der modernen Kunst das einzelne Kunstwerk sich gewissermaßen selbst programmiert15, also nicht Programmen zuzuordnen ist, die systemweit und für viele verschiedene Kunstwerke gelten, sondern das Werk im Prozess seiner Entstehung für sich selbst ein Programm entwirft, das das individuelle Programm eines individuellen Werks ist, verkörpert dieselbe begriffliche Logik des Fortschreitens von einem zufälligen Ausgangspunkt zu einer am Ende notwendig erscheinenden Schließung des einzelnen Kunstwerks. Das Wirtschaftssystem ist der dritte interessante Fall. Auch hier ist die Legitimation des Zufalls unübersehbar. Eine der wichtigsten Kategorien ist die des Unternehmertums. Während das Management des Unternehmens Grund­ ent­schei­dun­gen in Strategien umsetzt, also etwas dem ersten Anschein nach Berechenbares vollzieht, ist der Unternehmer jemand, der etwas tut, für das ein Beweis nicht angetreten werden kann. Joseph A. Schumpeter unterscheidet in der Theorie des Unternehmertums den »adaptive response«, der aus einer rationalen Beobachtung der gegenwärtigen Situation abgeleitet werden kann, vom »creative response«, der diese Legitimität nicht für sich reklamieren kann, sondern geltend machen muss, dass er ein zufallsgestütztes riskantes Experiment ist, für das der Unternehmer mit dem von ihm investierten Kapital einsteht16. Eine genauere Analyse wird diese Diagnose auf den Manager ausdehnen müssen. Je weniger wir mit Bürokratien zu tun haben, stattdessen mit autonomen wirtschaftlichen Organisationen, gilt erneut, dass man die Auswahl eines Managers für die gewählte Aufgabe eher zufällig vollzieht. Die Passung von gestellter Aufgabe und Manager kann vorweg nicht geprüft werden. Ausbildung und frühere Erfolge beweisen wenig, so dass die Sicherung hier darin besteht, dass man den Manager möglichst schnell auch wieder entlassen kann. Dasselbe gilt auf auffällige Weise für den Fußballtrainer, der ein Manager einer Organisation ist, nur dass der Primat des Ökonomischen als Erfolgskriterium nicht gilt und an dessen Stelle die Leistungsgesichtspunkte des Funktionssystems Sport treten. Der eintretende Erfolg des Unternehmers / Managers steuert dann die Umdeutung von Zufall in Notwendigkeit. Wenn man die Leidenschaft und Designbesessenheit von Steve Jobs in Rechnung stellt, konnte es gar nicht anders kommen, als dass Apple die Stellung unter Weltunternehmen erlangen 15 Luhmann (1995), 328 ff. 16 Schumpeter (1947).

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musste, die es gegenwärtig erlangt hat. Eine solche Diagnose gilt zumindest immer bis zur nächsten Krise. Unser vierter Fall ist das System der Liebesbeziehungen oder Intimbeziehungen. In gewisser Hinsicht ist dies sogar der am meisten klassische Fall. Das Aufeinandertreffen der Liebenden aus Milliarden von Menschen ist nicht anders denn als Zufall zu analysieren. Wenn die Liebesbeziehung aber zustande gekommen ist, erscheint sie als notwendig. Das Paar ist auf eine solche Weise überzeugend verknüpft, dass dies mit niemand anderem in ähnlicher Weise hätte gelingen können. Wie im Fall des Managements gerade schon registriert, gilt auch hier, dass dies alles solange richtig ist, bis die Beziehung wieder auseinandergeht. Danach wird aus dem Zufall wieder ein Unfall, der mit etwas mehr kritischem Bewusstsein eigentlich hätte vermieden werden sollen. Das öffnet den Raum für eine neue Liebesbeziehung.

V. Negation des Zufalls, Akzeptation von Kontingenz Auffällig ist an den Diagnosen des vorhergehenden Abschnitts, wie ausgeprägt die moderne Gesellschaft in wichtigen Teilbereichen bereit ist, ihre Fundamente auf Zufall zu gründen. Den wichtigsten sozialstrukturellen Hintergrund haben wir im Abschnitt III erörtert: die Elementarisierung des Sozialen und die Individualisierung der Handlungsfähigkeit als eine ihrer Realisierungsformen. Diese verteilt die Anfänge eines Geschehens auf so viele Ausgangspunkte, dass für diese das Risiko des Zufalls in Kauf genommen werden kann und in gewisser Hinsicht sogar werden muss. Erst die Anschlüsse wählen unter den unzählig vielen Zufällen diejenigen aus, auf die sich dann Strukturen und wahrgenommene Notwendigkeiten stützen lassen. Zugleich haben wir hier mit Mustern zu tun, die nicht für alle Funktionssysteme gelten. Jesus und Moses fällt ihre Rolle in ihren Religionen nicht auf der Basis einer Zufallsauswahl zu. Alle beide und zugleich viele andere Religionsstifter kommen bereits mit einer Bestimmung auf die Welt und oft kommen sie wegen dieser Bestimmung auf die Welt. Auch die Erziehung knüpft an Begabungen und an Genie an, manchmal auch an gesellschaftliche Bestimmungen, die den zu Erziehenden zugedacht sind, und sie kann nicht mit beliebigen Kandidaten ihre Ziele erreichen. Für die Normgenese im Recht werden erneut Stiftungsakte gedacht (Solon, Mose), die der Zufälligkeit und Beliebigkeit enthoben sind. An diesen Beispielen erhellt, dass wir offensichtlich eine Reihe von Systemen haben, die bereits im Ausgangspunkt des sie konstituierenden Geschehens den Rekurs auf Zufälliges zu vermeiden versuchen, weil sie eine normative Festigkeit der Grundlagen suchen, die sie anderenfalls gefährdet sehen würden. Das Argument hat drei Kandidaten isoliert, nämlich Erziehung, Recht und Religion, die auffällige Gemeinsamkeiten miteinander teilen. Alle

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drei Funktionskomplexe sind normativ bestimmt, alle drei zeichnen sich durch eine starke Asymmetrie von Klienten und Professionellen aus, die zur Folge hat, dass die Normen und die Kognitionen des jeweiligen Systems von Professionellen betreut und verwaltet werden. Für alle drei Systeme ist charakteristisch, dass sie das Risiko des Zufalls am Startpunkt zu vermeiden suchen, weil sie darin eine Gefährdung ihrer normativen Grundlagen sehen würden. Andererseits sind die Resultate der drei genannten Systeme nicht schlicht und einfach notwendig. Die rechtlichen Normen, die religiösen Glaubensüberzeugungen, die Erziehungsideale, die sich durchsetzen, so sehr sie auch normativ fundiert sind, sind andererseits interpretationsfähig und veränderbar. Insofern zeichnet sie das Charakteristikum der Kontingenz aus. Es gibt jeweils andere Möglichkeiten der Interpretation und der Normbildung, aber von Zufall kann hinsichtlich der normativ-professionellen Grundlagen dieser Systeme nicht die Rede sein.

VI. Zwei interessante Sonderfälle: Medizin / Gesundheit und Politik Es bleiben zwei Systeme zu diskutieren, deren Positionierung hinsichtlich der hier erarbeiteten Alternative von Zufallsaffinität / inverser Kontingenz vs. Negation des Zufalls / Kontingenz nicht eindeutig ist. Das sind Medizin / Gesundheit und Politik. Der Komplex Medizin / Gesundheit gehört historisch sowohl in einer langfristigen gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive (die Jahrzehntausende einschließt) wie auch im Blick auf die europäische Entwicklung (der letzten Jahrhunderte) eher dem normativ-professionellen Komplex zu. Gesundheitsprobleme waren vielfach auch Folgen normativer Fehler, sie waren religiöser oder moralischer Devianz verwandt und waren alles andere als zufällig. Ein normativ-professionelles Wissenssystem, das der Religion nahestand, war darauf eine nicht unangemessene Antwort. Aber diese Lage hat sich verschoben. Es gibt heute einerseits eine Vielzahl von Personen, Fällen und Krankheiten, die lose miteinander gekoppelt sind und temporär feste Kopplungen eingehen: Durch einen unglücklichen Zufall hat man sich einen Infekt zugezogen oder beim Sex mit AIDS infiziert. Parallel dazu wandert die Medizin aus dem Bereich des gelehrten Wissens, dessen empirisches Fundament schwach war, mit Kuren und Therapien, die eher Bestrafungen und Beschwörungen als wissensgestützten Interventionen glichen, in die Welt der rein wissenschaftlichen Biomedizin ein, die epidemiologisch operiert, Hunderte und Tausende von Fällen vergleicht und auf dieser Basis eine wissenschaftliche Wissensordnung erarbeitet, die sich dramatisch von der Medizin der Vormoderne unterscheidet. Wenn diese hier vorgeschlagene

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Beschreibung zutreffen sollte, spricht vieles dafür, dass die Medizin / das Gesundheitssystem sich in den letzten zweihundert Jahren aus der Welt der Negation des Zufalls / der Kontingenz in die Welt der inversen Kontingenz (affirmative Kopplung von Zufall und Notwendigkeit = Unabweisbarkeit bestimmter Interventionen, sobald die Diagnose einmal etabliert ist) bewegt hat. Zugleich aber existieren im globalen – alle Fälle, alle Diagnosen und alle Therapieformen in sich einbeziehenden – Gesundheitssystem neben der Biomedizin noch viele andere Therapien, von denen nicht wenige auch global verfügbar sind, an denen das Moment der Beschwörung und der moralischen Reform des Patienten deutlicher hervortritt (von der Homöopathie bis zu vielfältigen Varianten von Psychotherapie). Insofern haben wir hier mit einem System zu tun, an dem vor allem die innere Variantenvielfalt im System auffällt. Eine ähnliche Diagnose ist für die Politik zu stellen. Diese war über Jahrtausende auf das Engste mit den normativen Grundlagen der Gesellschaft verknüpft. Die Nähe von politischer Entscheidung und Rechtsprechung in der europäischen Tradition, die Auslegung politischen Entscheidens als die Zuerkennung von Rechten, die vorgängig bereits vorhanden waren17, ist dafür ein gutes Indiz. Ähnlich wie im Fall der Medizin hat sich diese Ausgangsstruktur in den letzten zweihundert Jahren dramatisch gewandelt. Das wichtigste Moment ist die Erfindung und vor allem die praktisch-politische Institutionalisierung von Demokratie, vor allem in den Fällen USA (nach 1787), Schweiz (nach 1848) und Frankreich (als gescheitertes Experiment in der Revolution). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dann Demokratie die quantitativ und normativ bestimmende (aber alles andere als die einzige) Form politischer Regimes in der Welt. Demokratie meint den Fall einer radikalen Umstellung auf die Individualisierung der politischen Entscheidungsbeteiligung. Millionen von Menschen nehmen als Individuen an den politischen Prozessen ihres Landes teil und können mit ihren Meinungen in diese intervenieren. Die Stimmungen, Meinungen, individuellen Überzeugungen sind nicht anders als durch die Zufälle dessen, was in einem Bewusstsein vorkommt, zu erklären, aber sie sind politikfähig und beteiligungsberechtigt – und den politischen Institutionen (der direkten Demokratie oder alternativ der majoritären Demokratie) kommt die Aufgabe zu, aus diesen Millionen individueller Meinungen politische Optionen zu filtern und zu synthetisieren, denen irgendwann in einem Entscheidungsprozess (z. B. in einem Gesetzgebungsprozess) ein Moment von Notwendigkeit hinzugefügt wird.18 Diese Notwendigkeit ist temporär, weil sich hinsichtlich dessen, was Gesetz geworden ist, morgen andere Mehrheiten durchsetzen mögen. Sie ist schwächer als die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Wahrheit oder des 17 Vgl. Stichweh (1991), 197–203. 18 Für die Rationalität dieser Form der kollektiven Intelligenz auf der Basis der Inklusion der zahllosen Individuen argumentiert Landemore (2013); vgl. Landemore/Elster (2012).

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gelungenen Kunstwerks, aber ihr kommt zumindest temporär eine genuine kollektive politische Bindungswirkung zu. Aber diese demokratische Welt, die ein eindrucksvoller Fall der Durchsetzung der Legitimation des Zufalls zu sein scheint, beschreibt nur die eine große Variante der politischen Regimes der Welt. Daneben gibt es in unserer Gegenwart sechzig bis siebzig Staaten in der Welt, die statt eines demokratischen ein autoritäres politisches Regime aufweisen. Und die Differenz von Demokratie und Autoritaritarismus besteht darin, dass die vielfältigen Varianten von Autoritarismus sich alle dadurch auszeichnen, dass sie auf letzten Wertgesichtspunkten und Normen insistieren, die auf keinen Fall den Zufällen eines demokratischen Entscheidungsprozesses anheimgegeben werden sollen19. Das Studium des Autoritarismus ist entscheidend das Studium jener Werte und Normen, die als Grundlegung autoritärer Systeme verwendet werden. Es kann sich bei jenen Werten und Normen um Fragen des Expertentums, des Wissens, der Anpassungs- und der Leistungsfähigkeit eines politischen Systems handeln; es kann um den Vorrang bestimmter Familien und Ethnien gehen, der auf keinen Fall in Frage gestellt werden darf; um religiöse Wertgesichtspunkte, denen Nichtnegierbarkeit zugesprochen wird; um den Vorrang von Gemeinschaftsbindungen gegenüber individuellen Überzeugungen. Alle diese Formen der Prävalenz von Normen und Werten begründen Formen des Autoritarismus und lassen eine Stabilität des Autoritarismus neben den demokratischen Regimes als langfristig wahrscheinlich erscheinen. In dieser Bifurkation des Politischen ist der Grund dafür zu suchen, dass das politische System in der gegenwärtigen Welt der vielleicht interessanteste Fall eines Funktionssystems ist, das sich auf beiden Seiten der hier diskutierten Unterscheidung plaziert. Die Politik kennt Regimes, die in ihrer Konstitution vor allem normativ bestimmt sind, und es kennt Regimes, die die Individualisierung und damit die Zufallsabhängigkeit des Entscheidens soweit treiben, dass sie jede politisch beeinflussbare Struktur der Gesellschaft der demokratischen Disposition zu übergeben bereit sind.

Literatur Alchian, Armen A., »Uncertainty, Evolution, and Economic Theory«, in: Journal of Political Economy 58 (1950), 211–221. Campbell, Donald T., Methodology and Epistemology for Social Science, Chicago 1988. Campbell, Donald T., »A Naturalistic Theory of Archaic Moral Orders«, in: Zygon. Journal of Religion and Science 26, no. 1 (1991), 91–114. Landemore, Hélène, Democratic Reason: Politics, Collective Intelligence, and the Rule of the Many, Princeton 2013.

19 Stichweh (2015a); Stichweh (2015b).

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Landemore, Hélène/Ion Elster (Hg.), Collective Wisdom: Principles and Mechanisms, Cambridge 2012. Luhmann, Niklas, Kontingenz und Recht, Berlin 2013 (zuerst 1971/1972). Luhmann, Niklas, »Widerspruch und Konflikt«, in: ders., Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, 488–550. Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde., Frankfurt am Main 1997. Merton, Robert King, Social Theory and Social Structure. 3rd, enlarged ed. New York 1968. Merton, Robert King/Elinor Barber, The Travels and Adventures of Serendipity: A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science, Princeton 2006. Schumpeter, Joseph A., »The Creative Response in Economic History«, in: The Journal of Economic History 7 (1947), 149–159. Scott, Marvin/Stanford Lyman, »Accounts«, in: American Sociological Review 33, no. 1 (1968), 46–62. Stichweh, Rudolf, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1991. Stichweh, Rudolf, »Individuum und Weltgesellschaft. Handlungsmöglichkeiten für Individuen in einem globalen Gesellschaftssystem«, in: Effi Böhlke/Etienne Francois (Hg.), Montesquieu. Franzose – Europäer – Weltbürger. Berlin 2005, 117–127. Stichweh, Rudolf (2015a), »Politische Demokratie und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft. Zur Logik der Moderne«, in: ders., Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. 2. erweiterte Auflage. Bielefeld 2015 Stichweh, Rudolf (2015b), Demokratie und Autoritarismus als globale politische Modelle. Zu einer soziologischen Theorie politischer Regimes. Ms. Bonn 2015.

II Aeque possibile. Die Entdeckung des Zufalls in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Die Kontingenz aus der Maschine. Zur Transformation und Refunktionalisierung antiker Götter in Heinrichs von Veldeke Eneasroman und Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland Lea Braun

I Ein Ringen um die Götter ist es, das uns in den mittelalterlichen Bearbeitungen der Vergil’schen Aeneis zu begegnen scheint, ein Ringen um ihre Präsenz und ihre Bedeutung, ein unbequemes Nebeneinander von Antikem und Christlichem, das der narrativen Kohärenz des Textes ebenso geschuldet ist wie den Besonderheiten des gewählten Stoffes. Die unhinterfragte Macht der Götter, die sich sowohl im long game des dem Aeneas und seinen Nachkommen prophezeiten Fatums, der Gründung Roms, als auch in den konkreten Handlungseingriffen durch göttliche Figuren erweist, ist essentiell für die Konzeption des antiken Epos. Im christlich-höfischen Entstehungskontext der mittelalterlichen Antikenromane muss diese Macht prekär werden.1 Wie umgehen mit den heidnischen Göttern, die nicht nur das Fatum der flüchtigen Trojaner in Händen halten, sondern gleichzeitig auch den Kern und Ursprung der eigenen Kultur und politischen Verfasstheit? Denn antiker Mythos und antike Geschichte sind eigene Geschichte für die mittelalterliche höfische Kultur, sind Ursprung und Gründungsmythos der eigenen Gesellschaft, Legitimation und Kontinuitätsgarant.2 Nicht zuletzt erlaubt die transformierende Bearbeitung antiker Stoffe das Aufspannen einer zeitlich vergangenen, jedoch nicht fernen Projektionsfläche, die als Reflektionsmedium wie als Bühne für die Verhandlung aktueller Fragen und Diskur1

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Vgl. Kottmann (2001), 71. Als wie problematisch dieser Sachverhalt Heinrich und dem anonymen Bearbeiter des Roman d’Eneas nun genau erschienen sein mag, wird aus offensichtlichen Gründen nicht geklärt werden können. Die Forschungspositionen hierzu sind breit gefächert zwischen extremen Polen (vgl. die Diskussion bei Meincke am Beispiel des Liebesverhältnisses zwischen Dido und Eneas (Meincke [2007], 33 ff.). Vgl. grundsätzlich hierzu Friedrich (2004); Lienert (2001), 13–25; Herberichs (2010a), 11–62. Zum Eneasroman vgl. Hamm (2001); zur Konstitution von Geschichtsbildern im Apollonius von Tyrland vgl. Röcke (1990).

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se funktionalisiert werden kann.3 Diese transformierende translatio4 hat zwei zentrale Konsequenzen für die mittelalterliche Gattung der Antikenromane: Sie weisen zum einen eine hohe identifikatorische Verbindlichkeit für die höfische Gesellschaft und für das Selbstverständnis der mittelalterlichen Kultur auf, sind gültige historische Wahrheit,5 was den Umgang mit dem Götterapparat der Texte nur problematischer macht. Zum anderen sind diese Stoffe in mehrfacher Hinsicht überdeterminiert6 – historisch; stofflich, weil z. B. Vergil als Schulautor bekannt war, zumindest die gebildeteren Rezipienten also spezifische Erwartungshaltungen mitbrachten;7 heilsgeschichtlich, weil durch die interpretatio christiana der Stoff in den meisten Fällen auf einen christlichen End- und Zielpunkt hinerzählt wurde; gattungsgeschichtlich schließlich, da in der transformierenden Bearbeitung die Erzählkonventionen der alten mit denen der neuen Gattung hybridisiert wurden. Um den Zusammenhang dieser auf Kontingenzvermeidung ausgerichteten Gattung und der in den ihr zugehörigen Texten vorgenommenen Transformationen göttlicher Figuren herauszuarbeiten, werde ich im Folgenden die Refunktionalisierung der Venus-Figur in zwei höfischen Romanen untersuchen, die zeitlich und in ihrem Zugriff auf antike Stoffe deutlich divergieren. Der zwischen 1170 und 1190 entstandene Eneasroman Heinrichs von Veldeke8 hat in seiner »epochemachende[n] Bedeutung«9 für die höfische Literatur nicht nur bereits bei Zeitgenossen Aufmerksamkeit und Anerkennung genossen,10 sondern ist auch von der Forschung gerade im Hinblick auf die Aktualisierung antiker Stoffe intensiv diskutiert worden.11 Der deutlich später um 1300 verfasste 3

Vgl. Opitz (1998). Für die Beschreibbarkeit der Dynamik dieser gegenseitigen Erzeugung von Referenz- und Aufnahmebereich bietet die theoretische Arbeit des Berliner Sonderforschungsbereiches 644 ein differenziertes terminologisches und theoretisches Instrumentarium. Vgl. hierzu die Beiträge in Böhme (2011). 4 Vgl. Thomas (1999); Verger (1999). 5 Lienert (2001), 9 ff. 6 Gerok-Reiter spricht in Hinblick auf den Eneasroman von einer »Kontingenz-Nullvariante«, bei der »ein Raum offener Möglichkeiten von vornherein im Prinzip nicht gegeben ist« (Gerok-Reiter [2010], 133). 7 Herberichs (2010), 154 ff. 8 Auf das genaue Verhältnis und die Bezugnahme zwischen Heinrichs Bearbeitung und seinen Vorlagen kann hier nicht detailliert eingegangen werden. Verwiesen sei für Vergil auf Blümer (2010); Brand (1969); Kern (1996); für den Vergleich mit dem altfranzösischen Roman d’Eneas auf Fisher (1992); Henkel (2005); Kasten (1988); für einen übergreifenden Vergleich auf Dittrich (1966). Den Zusammenhang zwischen »Geschehen und Geschick im altfranzösischen Eneas-Roman« hat bereits Blask (1984) herausgearbeitet. 9 Schröder (2010), 912. 10 Wohlbekannt ist Gottfrieds von Straßburg Würdigung im Literaturexkurs des Tristan – Heinrich habe das erste Pfropfreis auf den Stamm der deutschen Sprache gesetzt (Gottfried, Tristan, 4738 f.). 11 Vgl. Kottmann (2001); Gerok-Reiter (2010); sowie die Forschungsberichte bei Meincke (2007).

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Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt ist die früheste erhaltene deutschsprachige Fassung eines im europäischen Mittelalter ebenfalls äußerst beliebten Stoffes,12 was sich aber nicht zuletzt aufgrund seines hybriden und die Vorlage stark transformierenden Zugriffs nicht in Forschungsdiskursen niedergeschlagen hat, in denen er meistenteils eher marginalisiert wurde.13 Bei der Analyse der in diesen Texten inszenierten Venus-Figuren sollen dabei weniger die hinlänglich bekannten Erklärungs- und Bewältigungsstrategien der göttlichen Präsenz im Zentrum stehen, die größtenteils bereits in der Spätantike entwickelt und im Mittelalter philosophisch, literarisch und theologisch breit reflektiert wurden.14 Mein Frageinteresse gilt vielmehr den editorisch-kompilatorischen und narrativen Techniken, mit denen die Verfasser mittelalterlicher Antikenromane den Balanceakt zwischen der für die narrative Kohärenz15 notwendigen Präsenz der Götter und der gleichzeitigen Reduktion ihrer Einflusssphäre umsetzen. Darüber hinaus zielen die folgenden Überlegungen auf die Konsequenzen, die diese Eingriffe für das Verhältnis von Providenz und Kontingenz,16 von narrativer Teleologie und linearer Sukzession haben.

II Die Transformation der göttlichen Figuren- und Handlungsebene durch den altfranzösischen Bearbeiter und dann noch einmal durch Heinrich von Veldeke ist in der Forschung breit aufgearbeitet worden.17 Sie lässt sich kurz unter den Stichworten Reduktion sowohl des Götterapparats als auch der auf die göttliche Erzählebene entfallenden Erzählanteile, Substitution konkreter Götterfiguren durch vagere Konzepte, wie ›saelde‹ oder ›gelucke‹, also heilsgeschichtliche 12 Vgl. zu Textgeschichte und Überlieferungslage den Kommentar von Kortekaas (2007) und seine ausführlich kommentierte Edition (Kortekaas [1984]), sowie zu Bearbeitungen des Stoffes im Mittelalter Archibald (1991). 13 Ein ausführlicher Forschungsbericht findet sich bei Achnitz (2002), 239 ff.; unter den neueren Erscheinungen ist v. a. auf Schneider (2004) und Schultz-Balluff (2006) zu verweisen. 14 Vgl. Kern (1998), 7 ff.; Wehrli (1983). 15 Ich folge in meinem Kohärenzbegriff weitgehend Meincke, die gegen einen nur primär kausal bzw. kausal-teleologisch und damit für mittelalterliche Literatur unzureichenden Kohärenzbegriff für ein erweitertes Kohärenzmodell argumentiert, das »die systematische Unterscheidung verschiedener Abstraktions- und Sinnebenen narrativer Texte (Oberflächenstruktur – Tiefenstruktur, WIE – WAS) ebenso wie verschiedener Sinnaspekte (formal – thematisch, Handlungsfunktion – Nichthandlungsfunktion) jeweils genau beschreibbar macht« (Meincke [2007], 246). Nicht ausreichend betont Meincke aber die Kohärenzfunktion und -anforderungen von materia und gattungsspezifischen Erzählkonventionen, die ich im Folgenden herausarbeiten werde. 16 Zur Begriffsdiskussion grundlegend die Beiträge in Graevenitz (1998); Seelbach (2010); Reichlin (2010); Brugger (2004); Warning (2001). 17 Keilberth (1975); Gerok-Reiter (2010); Kottmann (2001); Dittrich (1961); Gosen (1985).

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Begrifflichkeiten, sowie moralisch-euhemeristische Umdeutungen der Götterfiguren fassen. Vom so reichen Götterpersonal der Vergil’schen Aeneis bleibt so als handelnde, aktiv eingreifende Figur neben der Antagonistin Juno fast ausschließlich Venus von Bedeutung für den Roman.18 Diese ist bereits in der Aeneis in mehr als einer Hinsicht zentrale göttliche Parteigängerin des Aeneas – als seine Mutter und als Patronin der flüchtenden Trojaner sind es ihre Eingriffe in die Handlung, die gegen Aeneas’ göttliche Widersacher die Erfüllung seines Schicksals, also die Heirat mit Lavinia, die Herrschaft über Italien und die Gründung seines Geschlechts erst ermöglichen. In den mittelalterlichen Romanen ist Venus durch ihre fast exklusive göttliche Präsenz in besonderem Maße exponiert: Sie ist wesentlich an der Entstehung der einseitigen Minne Didos, der Königin von Karthago, für Eneas beteiligt, wobei die politisch-historische Ebene der Feindschaft zwischen Rom und Karthago kaum explizit gemacht, das Interesse also auf die unglücklich endende Liebe Didos gelenkt wird.19 Sie verschafft Eneas göttliche Waffen und Rüstung, so dass er im Krieg um Italien seine Überlegenheit beweisen kann. Und noch einmal entzünden ihre Pfeile eine bedingungslose Liebe zu Eneas, dieses Mal in Lavinia, der ihm eigentlich bestimmten Frau, und in Erwiderung darauf auch in Eneas selbst, so dass es im mittelalterlichen Roman zu so etwas wie einer Liebesheirat kommen kann. Von der Teleologie des Eneas’schen Fatums abgesehen, das eingangs zwar in einem Erzählerbericht ausgeführt, jedoch nicht wie in der Aeneis personal von den Göttern ausgesprochen wird,20 ist die handlungsmotivierende Funktion der Götter also stark quantitativ reduziert21 und darüber hinaus umgelagert auf die Ebene der Minne, wobei diese wiederum schicksalsträchtige Bedeutung erlangt. Anette Gerok-Reiter hat in ihrem Aufsatz über »Sedimente von Kontingenz« im Eneasroman herausgearbeitet, wie sich durch diese Reduktionen »Phänomene des Kontingenten in der Narratio einschreiben«,22 die kreative Nutzungsspielräume23 auf der Figurenebene eröffnen – nicht länger scheint das Geschehen absolut so notwendig zu sein, wie es sich faktisch ereignet. Vielmehr wird durch das Aufscheinen von Momenten der Wahlmöglichkeit, durch Augenblicke des ›auch-anders-sein-Könnens‹, die eigentlich unhinterfragbare

18 Interessant ist in diesem Kontext die ausführlich erzählte, von den mittelalterlichen Bearbeitern eingefügte Episode von Vulkanus’ und Venus’ Streit nach Venus’ Affäre mit Mars (vgl. Kottmann [2001], 76 f.). 19 Quast/Schausten (2008), 66 ff. Zuletzt differenziert diskutiert von Benz (im Erscheinen); vgl. auch Kasten (1988) zu den sich daraus ergebenden Umdeutungen und Ambivalenzen der Eneasfigur. 20 Vgl. Gerok-Reiter (2010), 138. 21 Kottmann (2001), 73. 22 Gerok-Reiter (2010), 136. 23 Gerok-Reiter (2010), 133.

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Macht der Götter unterhöhlt. Menschliches Handeln wird – wenigstens punktuell – mehr als bloßes Erfüllen, es wird zur Wahl und zur Bewährung. Diese Doppelung der Motivation, der göttlichen Bestimmtheit des Geschehens einerseits und der im Raum des Möglichen sich vollziehenden menschlichen Wahl andererseits,24 produziert gerade im Hinblick auf die Ursache des Liebesbegehrens in den Figuren des Eneasromans einen veritablen Überschuss an Motivation.25 Lavinia, die der Stofftradition und Erzählkonvention gemäß dem Eneas bestimmt ist, von ihrer Mutter aber zu eine Ehe mit Eneas’ Rivalen Turnus gedrängt wird, wird zunächst von besagter Mutter erstmalig mit dem Konzept der Minne vertraut gemacht,26 also als persönlich noch Unbetroffene in die Symptome und Konsequenzen der Minnekrankheit eingeführt. Beim erstmaligen Betrachten des Eneas aus der Ferne erkennt sie die Schönheit des »minnesâlegen Troiân«.27 Erst jetzt schießt Venus ihren Pfeil ab und Lavinia beginnt zu lieben.28 Trotz der klaren göttlichen Verursachung der Liebe wird die unvermeidliche Entwicklung erzählerisch vorbereitet und durch die Betonung der Eignung der beiden füreinander plausibilisiert.29 In Bezug auf die Göttin unseres Interesses kommt noch eine weitere literarische Transformation hinzu, die wesentlich ist für die hohe Bedeutung von Heinrichs Eneasroman sowohl als Traditionsstifter einer höfischen Literatur als auch Innovator des Minnediskurses: Venus tritt im Eneasroman eben nicht 24 Gerok-Reiter spricht im Kontext des Zweikampfes zwischen Turnus und Eneas, in dem nur ein zufälliger Blick auf Lavinia Eneas die Kraft zum Sieg gibt, von »der Engführung von Zufall und Notwendigkeit im Erblicken der Geliebten«, die Handlungsraum und Zufall zusammenbringen und so eine szenische Lösung für die Widersprüchlichkeiten bieten (Gerok-Reiter [2010], 149). 25 Auf diesen hat die Forschung oftmals mit Irritation reagiert und ihn weniger als narrativen Effekt denn als ein zu lösendes Problem behandelt. Vgl. zu diesem Phänomen u. a. Meincke (2007), 33 ff.; sowie die Diskussion bei Benz (im Erscheinen). 26 Heinrich, Eneasroman, 260,21 ff. 27 Heinrich, Eneasroman, 267,11. Die Exzeptionalität des Eneas und Lavinias hohes Interesse an ihm werden vom Erzähler deutlich betont: »dô sach diu junkfrowe her abe / von dem venster dâ si lach. / den hêren sie wol besach, / den minnesâlegen Troiân. / wie wart her ie sô wol getân, / hern mohte niemer schôner sîn« (»Da sah die junge Dame herab von dem Fenster aus, an dem sie saß. Sie betrachtete den Herrn genau, den liebesseligen Trojaner. Wie schön er war, er hätte nicht schöner sein können«, Heinrich, Eneasroman, 267,8–13). 28 »dô schôz si frouwe Vênûs / mit einer scharphen strâle. Daz wart ir al ze quâle / sint uber ein lange stunden. / si gewan eine wunden / an ir herze enbinnen, / sô daz si mûste minnen, / si wolde oder enwolde« (»da schoß Frau Venus mit einem scharfen Pfeil auf sie. Das brachte ihr seither nur Schmerzen für eine lange Zeit. Sie empfing eine Wunde innen in ihrem Herzen, so daß sie lieben mußte, ob sie nun wollte oder nicht«, Heinrich, Eneasroman, 267,24–31). 29 In Bezug auf den Liebesbeginn bei Eneas betonen Quast und Schausten: »Man kann den Neuen Mythos darüber hinaus als Versuch verstehen, dem Nichterklärbaren der Minne literarisch-mythisch beizukommen. Nicht von ungefähr bedarf es zweier Pfeile, um die Minne des Eneas entstehen zu lassen. Der Liebesbrief gibt nur die Richtung der Aufmerksamkeit vor, er lenkt den Blick des Eneas auf Lavinia. Erst Amors Pfeil macht diesen Blick zu einem Liebesblick« (Quast/Schausten [2008], 80).

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nur als Göttin in Erscheinung, sondern auch als Personifikation der höfischen Liebe, in der Ekphrasis eines Amorbildes gar als Allegorie.30 Die Königin erklärt ihrer Tochter Lavinia während eines Gespräches über die Macht der Minne: Dû hast dicke wol gesehen, wie der hêre Amôr stet in dem templô, dâ man in gêt engegen der ture inne, daz bezeichent die Minne, diu gewaldech ist ubr alliu lant. (264,18–23)31

Es folgt eine detaillierte Allegorese des Bildes und seiner Attribute.32 Das hier »Bezeichnete« ist nicht die handelnde Göttin, nicht die Pfeile verschießende Venus oder ihr Sohn Amor, sondern eine Personifikation, das Medium einer poetologischen Reflektion des neuen Liebeskonzepts.33 Diese Personifikation ist aber auch kommunikatives Gegenüber für die Reflektionsarbeit auf Fi­gu­ ren­ebe­ne. Dido, Lavinia und Eneas rufen »Frau Minne« in langen Reden an,34 die das Minneleid rhetorisch fassen, hinterfragen und zugleich Strategien zu seiner Bewältigung entwickeln.35

30 Vgl. Zur Allegorisierung der Liebe in mittelalterlicher Literatur grundsätzlich Schnell (1985); Kern (1998); Sablotny (2011). 31 »Du hast oft schon gesehen, wie Herr Amor (gemalt) ist im Tempel, der Tür gegenüber, durch die man eintritt. Damit ist die Minne gemeint, die über die ganze Welt herrscht«; vgl. auch Kern (1998), 448. 32 Heinrich, Eneasroman, 264,18–265,19. 33 Kern (1998), 398 ff. Kern spricht in diesem Kontext vom Spiel »mit Identität und Differenz von ›mythologischer‹ Venus und ›allegorischer‹ Minne« (Kern [1998], 403). 34 Zur Tradition der Minnedialoge in höfischer Epik vgl. Kern (1998), 442 ff. Für Eneas besonders interessant in diesem Kontext ist die Doppelrolle von Mutter und Göttin, die Venus einnimmt, und die dann noch erweitert wird um ihre allegorische Funktion. So kann in den Minneklagen des Eneas ein Wechsel von Bezeichnungen ausgemacht werden, der das Changieren zwischen den Rollen der Venus als Göttin, Verwandter (»Amôr unde Cupidô, / die mîne brûder solden sîn, / und Venûs diu mûder mîn«, Heinrich, Eneasroman, 293,10 ff.) und Minnepersonifikation (»Minne, ir tût mir al ze wê / […] Minne, sal ez lange weren, / […] Minne, waz hân ich û getân«, Heinrich, Eneasroman, 294,8 ff.) durch die je unterschiedlichen Apostrophierungen zum Ausdruck bringt. Punktuelle Zusammenführungen dieser Rollen (»bistû mîn mûder, Minne, / Vênûs, hêriu gotinne, / ob ich dîn sun bin, Minne, / des brink mich schiere inne«, Heinrich, Eneasroman, 195,31 ff.) binden das hier aufgefächerte Rollenspektrum rück an Handlungsebene und Personal des antiken Stoffes. 35 Nach einer ausführlichen, durch rhetorische Fragen als Innenschau gestalteten Klage über die gewaltsam in sie eingedrungene Minne (Heinrich, Eneasroman, 268,9–271,22) reflektiert Lavinia den Erkenntnisprozess, den sie in eben dieser Klage durchlaufen hat: »Wannen komet mir der sin, / daz ich sus wîse worden bin, / des ich ê sô tumb was?« (»Woher aber kommt mir diese Einsicht, daß ich so klug geworden bin, wo ich bisher so unerfahren war?« Heinrich, Eneasroman, 271,233ff). Zur Relation der Modi von Liebe als mythischem und medialem, d. i. kommunikativ vermitteltem und reflektiertem Ereignis vgl. Quast/Schausten (2008).

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Im Oszillieren zwischen Personifikation und mythischer Figur wird Reflektion möglich,36 Identifikation, aber auch Aneignung – Lavinia wird von der Minne selbst belehrt,37 wie sie ihr Liebesbegehren mitteilen und erfüllen kann, und sie tut dies bezeichnenderweise mit einem Pfeil, an dem sie einen Brief versteckt und den sie auf Eneas schießen lässt – sie wird also gleichsam selbst zur mit Bogen und Pfeil bewaffneten Frau Minne.38 Lavinia trägt aktiv zum Zustandekommen der Ehe und damit zum Kriegsende bei. Die im Kriegsverlauf entfalteten Bewährungsproben zeigen Eneas als den Besten, der somit die Schönste verdient. Nach seinem Sieg muss Eneas sich gar mühsam dazu zwingen, das höfisch Richtige zu tun, nämlich Lavinia nicht vom Fleck weg zu ehelichen, und sie wiederum nimmt ihm die Entscheidung zu warten übel.39 Politisches Kalkül tritt in den Hintergrund bei einer Ehe, die nicht nur zwischen Trägern der Herrschaft, sondern zwischen zwei Liebenden geschlossen wird – die Liebesvereinigung wird zum eigentlichen Höhepunkt des Romans umgewichtet. Sie folgt nicht bloß göttlicher Bestimmung, sondern ebenfalls, parallel und nicht weniger bedeutsam, der menschlichen Wahl. Die Reduktion des Götterpersonals und seiner Bedeutung eröffnet also im Eneasroman wenigstens punktuell einen Möglichkeitshorizont und Handlungsraum,40 in welchem Handeln über das Erfüllen eines Schicksalsplans hinaus vorgeführt wird. Dieser Schicksalsplan wird dabei nicht in Frage gestellt, erfährt sogar noch zusätzliche Bestätigung über die aktive Bejahung des Schicksals. Die durch das Einspielen von Kontingenz erzeugten Momente menschlicher Wahlfreiheit dienen also nicht der Hinterfragung des in der Stofftradition fixierten Figurenschicksals, sondern vielmehr zu seiner Bekräf36 Für Quast und Schausten steht in Lavinias Minnereden mythische Rede »neben bereits abstrakter allegorischer Rede« (Quast/Schausten [2008], 75), anders als im altfranzösischen Roman d’Eneas, wo Allegorie und Mythos zusammenfallen. »Damit wird bei Heinrich von Veldeke der mythischen Sichtweise der Dinge ein neuer Raum eröffnet, er hegt im Wissen um die allegorische Funktion mythischer Figuren und Erklärungsweisen eine deutliche Sympathie für eine Remythisierung der Minne, einen ›Neuen Mythos‹ der Minne« (Quast/Schausten [2008], 76). 37 »mîn mûter sagete mir wâr / diu wîse kuneginne, / si sprach, daz mich diu Minne / wol gelêren solde / des ich niht enwolde / tûn noch dorch ir bete« (»Meine Mutter hat mir die Wahrheit gesagt, die erfahrene Königin. Sie sagte, daß mich die Minne schon lehren würde, was ich auf ihre Bitte hin noch nicht tun wollte«, Heinrich, Eneasroman, 272,26ff). 38 Vgl. Quast/Schausten (2008), 76 ff. für eine mediale Deutung dieser Passage. 39 Vgl. Heinrich, Eneasroman, 333,1–40. Der Rat, seine Frau zu nehmen »als ez kunege wol gezâme« (»wie es einem König zukomme«, Heinrich, Eneasroman, 333,6), wird von Eneas befolgt. Lavinia dagegen bleibt blind für diese politisch-repräsentative Dimension und interpretiert Eneas’ Verhalten ausschließlich in Bezug auf ihre personale Bindung: »ich erkenne leider wol den sin, / daz ich im ummâre bin« (»Ich erkenne leider genau, was das bedeutet, nämlich daß ich ihm gleichgültig bin«, Heinrich, Eneasroman, 333,37 f.). Hier zeigt sich nicht nur eine deutliche Differenz zu Didos leidvollem Gespaltensein zwischen Herrschaftsraison und Liebe im ersten Teil des Romans, sondern auch die misogyne Rollendifferenz zwischen der zur Liebe geschaffenen und ausschließlich auf die Liebe ausgerichteten Frau und dem zwar ebenfalls liebenden, aber gleichzeitig weitsichtigeren und Herrschaft ausübenden Mann. 40 Makropolous (1998), 62; vgl. auch Gerok-Reiter (2010), 131 ff.

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tigung. Kontingenz, das heißt Zufall auf der Objekt-, Wahlfreiheit aber auf der Subjektseite,41 macht das menschliche Schicksal zwar hinterfragbar, wird aber sofort funktionalisiert für seine umso entschiedenere Festschreibung. An dieser narrativen Refunktionalisierung aber lässt sich die am Eneasroman so oft behauptete, im einzelnen jedoch unklar bleibende Transformation des heidnischen Fatums in christliche providentia Dei festmachen – denn das Fatum der Aeneis lässt dem Protagonisten keine Wahl, es ist eine festgeschriebene Spur in Raum und Zeit, der Aeneas folgen muss, will er nicht scheitern. Für die christliche Idee göttlicher Providenz hingegen ist ein kontingentes Moment »insoweit unabdingbar, als für den Einzelnen die Möglichkeit offenbleiben musste, sich zum göttlichen Weltplan und seinem Sinn zu bekennen oder sich ihm zu verweigern«.42 Venus nun wird im Dienst eines neuen Erzählens von der Minne und dem sich hierin entfaltenden Reflektionsraum refunktionalisiert. Über die Kippfigur einer zwischen Göttin und Allegorie oszillierenden Venus wird ihre Macht eingeschränkt und zugleich auf neue Ebenen verlagert. Im final ausgerichteten Erzählen des Antikenromans wird das mikrostrukturell Kontingente notwendig.43 Das auf Figurenebene nicht kausal motivierbare Handeln der Liebesgöttin gibt sich in der teleologischen Gesamtschau der Textstruktur als Notwendigkeit im Dienst der Providenz zu erkennen. Von der Vogelperspektive der Makroebene aus offenbart sich die Kontingenz als ihr Gegenteil. Auch wenn in der Sukzession des mittelalterlichen Erzählens Kontingenz in all ihrer Bedrohlichkeit und Unberechenbarkeit, aber auch in Form von Chancen und Möglichkeiten auftritt – stets konstituiert sich der Sinn des Geschehens, die Notwendigkeit des scheinbar Zufälligen, aus der Finalität der Erzählstruktur. Welche Form diese Funktionalisierung des Kontingenten annimmt, das ist nicht zuletzt vom Status des Stoffes und von den Gattungskonventionen des Erzählens abhängig. Für den Eneasstoff als Antikenroman gilt, wie bereits gezeigt, die fast systematische Ausgrenzung des Kontingenten, das nurmehr zur Bekräftigung der Providenz funktionalisiert wird.

III 41 Vgl. Haug (1998), 151. 42 Haug (1998), 153. 43 Unter Berücksichtigung von Meinckes Kritik an dem oft zu eng kausal verwendeten Begriff folge ich dennoch Haferland in seiner weiten Finalitätsdefinition, die zwar kausale Verknüpfungen einschließt, den Schwerpunkt jedoch auf die Ereignisfolge und Betonung ihres Ausgangs legt (»Wird der Ausgang einer sei es auch kausalen Ereignisfolge narrativ hervorgehoben und fixiert, wird er zudem noch mit Sinn aufgeladen, so wird die Ereignisfolge final aufgefasst«, Haferland [2010], 347).

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Die Stoffvorlage des um 1300 entstandenen Apollonius von Tyrland dagegen, die spätantike Historia Apollonii Regis Tyri, ist der antiken Gattung des Liebes- und Reiseromans zuzurechnen.44 Wie Bachtin und andere gezeigt haben, wird hier Kontingenz ganz anders funktionalisiert, nämlich in einer Fülle von aufeinanderfolgenden Zufällen und unberechenbaren Ereignissen ostentativ exponiert, um die Protagonisten der Texte, voneinander durch ebendiese Ereignisse getrennte Liebende, in ihrer Standhaftigkeit und Treue zu prüfen.45 Das positive Endergebnis – die Liebenden, im Fall der Historia Apollonius, seine Frau und ihre gemeinsame Tochter, finden sich schließlich wieder – relativiert die Kontingenzen des von Bachtin als »Abenteuerzeit« oder »Zeit des Zufalls«46 bezeichneten Möglichkeitsraums und bestätigt sie als konstruktiv, d. h. auf die Finalität der narrativen Struktur hin ausgerichtet und ihr zuspielend.47 Heinrichs von Neustadt deutschsprachige Bearbeitung des Stoffes scheint auf den ersten Blick diese ostentative Kontingenz noch zu intensivieren. Den Seestürmen, Piraten und Sklavenhändlern der Vorlage fügt er eine lange Reihe von aventiure-Episoden des Apollonius hinzu, die er in die Lücken des Textes hineinerzählt und die an Umfang deutlich die Stoffvorlage übersteigen. In immer neuen Reisen besteht der König von Tyrus Abenteuer, als deren Quellenvorlagen sowohl zeitgenössische Wissensordnungen als auch literarische Traditionen, biblische Räume und Geschehnisse wie höfische Erzählschemata ausgemacht werden konnten.48 Apollonius erobert bzw. befreit in rascher Folge eine Fülle von Reichen, verbringt ein Robinsonade-Jahr mit einem Wundertier, betritt das von Gott verfluchte Babylon und trifft auf die Entrückten Henoch und Elias. Er besiegt Zentauren, monstra und die Völker Gog und Magog, entthront Tyrannen, knüpft Allianzen, heiratet insgesamt noch dreimal und zeugt so berühmte Nachkommen wie Ptolemäus und Yppocras. Zum Ende des Romans führt er die Länder der bekannten Welt unter seiner Herrschaft zusammen.49

44 Vgl. Holzberg (2006); Müller (2006) 476–491. Holzberg ordnet die Historia den ›fringe novels‹, einer Randgruppe der Liebes- und Reiseromane zu, und hebt damit den Hybridcharakter bereits dieser antiken Erzählung hervor (Holzberg [2006], 37 ff.). 45 Bachtin (2008); vgl. auch Wegner (1989), Frank (2009), Schulz (2010), sowie die Arbeiten in Paschalis (2002). Besonders für die Historia lassen sich Bachtins Thesen zur leeren Abenteuerzeit (»Diese leere Zeit hinterläßt nirgends die geringsten Spuren, keine Merkmale ihres Verlaufs bleiben erhalten«, Bachtin [2008], 14) so nicht halten, da der Roman mit dem Heranwachsen der gemeinsamen Tochter gerade ein textkonstituierendes Signal verstreichender Zeit setzt. 46 Bachtin (2008), 18. 47 Gerok-Reiter (2010), 132. 48 Noch immer grundlegend hierzu sind die Arbeiten von Singer (1895); Bockhoff/Singer (1911). Eine ausführliche Übersicht über Interpretationsansätze und Quellenforschung bietet u. a. Achnitz (2002). 49 Für eine ausführliche Inhaltsausgabe vgl. Kern (2003a).

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Auch dieser scheinbar kontingenten Abfolge von Kriegen, Zweikämpfen, Vernichtung von monstra und Befreiung von Reichen eignet jedoch eine finale Struktur, die nicht auf die Wiedervereinigung der Familie, sondern vielmehr darüber hinaus auf einen politisch-heilsgeschichtlichen Entwurf von Universalherrschaft zielt: Apollonius wird Herrscher der gesamten bekannten Welt, König in Jerusalem und Kaiser in Rom. Heilsgeschichtliche Teleologie steht hier wenigstens scheinbar neben oder sogar gegen episodische Kontingenz, und dieses Verhältnis ist kein unproblematisches. Die im Text konfligierende Brüche und scheinbare Widersprüche erzeugenden Erzählkonventionen haben auch in der Forschung Uneinigkeit hervorgebracht. Der Apollonius wird von einigen Forschern als Minne- und Abenteuerroman geführt, eine Gattung, die wohl am ehesten als mittelalterliche Nachfolge des Liebes- und Reiseromans gesehen werden kann.50 Andere wiederum ordnen den Text selbstverständlich den Antikenromanen zu.51 Diese Uneindeutigkeit ist meines Erachtens auch ein Effekt der hybridisierenden Transformationen, die im Text als Spiel mit den Gattungskonventionen erkennbar werden, als Changieren zwischen dem ostentativ Kontingenten des Liebes- und Reiseromans bzw. höfischen Liebes- und Abenteuerromans und den jegliche Zufälligkeit ausschließenden Erzählstrategien des Antikenromans. Dies möchte ich im Folgenden an der Inszenierung und Funktionalisierung von Kontingenz in dem aventiure-Teil, den Heinrich von Neustadt in die Leerstellen der Vorlage einschreibt, entwickeln. Denn dieser ›Binnenteil‹,52 der die vierzehn Jahre währende Reise des Apollonius über eine Fülle von Etappen beschreibt, weicht massiv von dem beliebten und breit überlieferten Apolloniusstoff ab53 und entgrenzt zugleich den Handlungsraum der Vorlage bis hin zu anderweltlichen Paradiesentwürfen in einer dilatatio materiae, die ihresgleichen sucht. Die Erwartungshaltung der Rezipienten muss hier unsicher werden, zumal das eigentliche Erzählziel, 50 So u. a. in Wolfgang Achnitz’ detaillierter Studie (Achnitz 2002); vgl. auch Schulz, der den Minne- und Aventiureroman als ein Erzählgenre sieht, »das sich durch narratives Ausstellen und Ausspekulieren von Kontingenz geradezu zu konstituieren scheint« (Schulz [2010], 206), nur um diese insgesamt wieder abzuweisen und die bestehende Ordnung zu bestätigen (Schulz [2010], 207). 51 So Lienert (2001). Dies ist nicht notwendigerweise ein Widerspruch, da die Zuordnung zum Antikenroman wesentlich auf der Stoffwahl beruht (vgl. Lienert [2001], 10 ff.). Für die oben diskutierte Gültigkeit und damit Variabilität der im Erzählschema des Stoffes überlieferten Ereignisabfolge und dagegen kann eine solche Zuordnung durchaus von hoher Relevanz sein. 52 Schon in den Begrifflichkeiten, mit denen die großen, von Heinrich selbsttätig geschaffenen Mittel- und Endteile in der Forschung beschrieben werden, wird die Problematik des Umgangs mit diesen ausführlichen ›Einfügungen‹ deutlich. Diese werden oft als Aufpfropfungen auf den eigentlichen, antiken Stoff gewertet. Eine solche Perspektive greift jedoch zu kurz, da sie die grundlegenden Eingriffe Heinrichs in Struktur und Komposition der Gesamterzählung verkennt. 53 Vgl. Archibald (1991).

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die Rückkehr zu Frau und Tochter, zeitweise ganz in den Hintergrund gerät. Die klare Teleologie der Vorlage wird ersetzt durch eine neue, die eben nicht auf privat-familiäre Wiedervereinigung, sondern weltumspannende Herrschaft zielt. Die Konsequenz ist ein in Bezug auf die finale Zielsetzung des Stoffes kontingentes, episodisches Erzählen, dessen Ziel nicht mehr in eins geht mit der Struktur und den Erzählkonventionen der Vorlage. Um diese Brüche aufzufangen und eine neue Sinnstruktur einzuziehen, bedient sich der Text einer Reihe von Bewältigungsstrategien, die ihn stärker in die Nähe des Antikenromans und namentlich des Eneasromans rücken: Immer wieder wird dem doch eigentlich dem Zufall anheimgegebenen Apollonius nämlich seine Zukunft prophezeit, ein spezifisches Schicksal zugesagt, ein Sieg vorab verkündet: von Sirenen, Wahrsagern, ja seinen monströsen Gegnern selbst. Als prominentes Beispiel kann hier der ›Sternseher‹ Albedacus54 dienen, der kurz nach dem erzählerischen Ausstieg aus der Stoffvorlage bei Apollonius vorstellig wird und seine ausführliche (und korrekte) Voraussage des Kommenden so einleitet: Ich pin ain stern sehere Und pin Albedacus genannt Dy gottin haben mich her gesant, (Was du wellest von ir han, Das soll dir wesen undertan) Pallas, Venus und Juno. Ge hab dich wol und piß fro! Du pist zu solcher zeyt geporen Das sy dich haben aus erkoren. Das zaiget dein edel sterne, Deß helffent sy dir gerne. (4191–4201)55

Seine Wahrsage- und Deutungskompetenz beglaubigt Albedacus doppelt: über die Astrologie56 und über einen spezifisch an ihn ergangenen Götterauftrag (»Dy gottin haben mich her gesant«), der mit Botschaften und Gunstzusicherungen für Apollonius einhergeht. Die hier aufgerufene Göttinen-Trias ist nicht zuletzt verwunderlich, weil in der späteren Episode um die Königinnen Diomena und Palmina57 die Göttinnen Juno und Venus als Rivalinnen entworfen werden, die Apollonius in ihrem Konflikt instrumentalisieren. Sie erinnert aber 54 Heinrich, Apollonius, 4186 ff. 55 »Ich bin ein Sternseher, Albedacus genannt. Die Göttinnen haben mich gesandt (was Du von ihnen haben willst, das soll Dir untertan sein), Pallas, Venus und Juno. Sei gesund und froh! Du bist so günstig geboren, dass sie Dich auserkoren haben – das zeigt Dein hoher Stern. Deswegen unterstützen Sie dich gern.« 56 »Das zaiget dein edel sterne« (Heinrich, Apollonius, 4200); »An dem stern hab ichs gesehen / das will ich dir pey Got jehen« (Heinrich, Apollonius, 4227; »An dem Stern habe ich es gesehen / das will ich Dir bei Gott verkünden«). 57 Vgl. Fußnote 76 dieses Aufsatzes.

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zugleich an die im Eneasroman referenzierte Geschichte um den Schönheitswettbewerb zwischen den drei Göttinnen, der in Konsequenz zum Untergang Trojas führt, verstärkt also die Parallelen zum wohl prominentesten Antikenroman. Besonders interessant ist diese Passage aber, weil das eigentlich finale Ziel der Erzählung ja nicht wie noch im Eneasroman heidnisches Fatum, sondern christliche Providenz ist, das von Albedacus prophezeite Schicksal also gerade auf die Verdrängung der hier als Unterstützer benannten Götter durch Christianisierung zielt.58 Nach dieser Zusicherung eines bedeutenden Schicksals schildert Albedacus nun jedes der Apollonius bevorstehenden Abenteuer, interessanterweise auch das Wiederfinden seiner ersten, totgeglaubten Frau.59 Eigentlich wäre hier bereits alles gesagt über die Zukunft des Helden, aber dieses Wissen entfaltet bis auf wenige Ausnahmen keine Wirkung auf der Handlungsebene. Das kann es aber aus Gründen narrativer Pragmatik auch nicht, da ein sicheres Wissen um die Zukunft diese negieren würde. Glaubte Apollonius, dass seine Frau noch am Leben sei, so würde es wohl kaum zu den drei anschließenden Ehen mit anderen Königinnen kommen. Aus diesem Befund kann nur geschlossen werden, dass die hier getätigten Prophezeiungen recht eigentlich für die Rezipienten gedacht sind. Auf der Handlungsebene müssen die Ereignisse kontingent bleiben – Apollonius’ Schicksal erweist sich hier in der sukzessiven Entfaltung immer neuer Bewährungstaten und Tugendproben. Seinem Publikum aber gibt der Erzähler eine Art Leitfaden zur korrekten Interpretation der scheinbar kontingenten Ereignisse mit – er lässt es durch diese Prolepse gleichsam hinter den Vorhang schauen, einen Blick auf die finale Erzählstruktur erhaschen. Ihren Höhepunkt findet diese Verschränkung von Verheißung und Bewährung, von prophezeitem Schicksal und individuellem Kontingenzerleben in der Episode vom »Goldenen Tal«, und hier kehre ich auch wieder zur Venusfigur zurück. Das Goldene Tal wird in mehreren Prolepsen und ausführlichen descriptiones als überaus reiches und herrliches Land entworfen, als ›ander paradeyß‹.60 Bevor Apollonius auch nur dorthin aufbricht, ist der Status dieses Abenteuers, d. h. der Befreiung des Landes von monströsen Invasoren und der anschließenden Ehelichung der Königstochter Diomena, als Höhepunkt seines Herrschaftshandelns festgesetzt: Wer auch kummet in das lant, Der wirt der tewrist genant

58 Diese Ambivalenz wird bereits im Wortmaterial der Stelle erkennbar – Albedacus referentialisiert einen ausführlichen Katalog von Göttern, denen er bereits zu Diensten war (Heinrich, Apollonius, 4253–4621). Apollonius dagegen reagiert auf die Prophezeiung mit dem Verweis auf einen Gott im Singular (» ›Unser herr ist so gut: / Alle ding sind mugleich / Pey dem werden Gote reich.‹ « Heinrich, Apollonius, 4247–4249). 59 Heinrich, Apollonius, 4221 ff. 60 Heinrich, Apollonius, 8848.

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Der auff erden ye ist geporen, Vor allen fursten außerkoren. (10610–10614) 61

Dieses In-das-Land-Kommen gestaltet sich dann auch dementsprechend aufwändig, denn hier bleibt nichts dem Zufall überlassen. Jeder Schritt des Apollonius und seines Gefolges ist entworfen, um seinen Wert und seine Auserwähltheit zu beweisen.62 Diese aventiure ist die einzige, die Apollonius im Verlauf seiner Reisen nicht auf Anhieb besteht, denn zum Zeitpunkt seines ersten Versuchs befindet er sich noch in Gefangenschaft und ist damit nicht würdig.63 Erst als freier Mann kann er die monstra Serpanta und Ydrogant, die das Reich isoliert halten, besiegen. Doch anders als in vorhergehenden Episoden ist dies erst der Beginn der Inbesitznahme des Landes. Auf die Überwindung eines Tugendrades, das jeden Unwürdigen in einen reißenden Fluss stürzt, folgen Turniere in 30 hintereinander liegenden Städten, während deren Apollonius und seine Gefährten ihre Kampfkraft beweisen müssen, bis sie endlich in der Hauptstadt Crisa auf den König treffen und von ihm zu ihrem letzten Kampf mit einem Löwen angeleitet werden. Auf gut dreitausend Versen wird diese Bewährung aller Bewährungen auserzählt, nicht ohne dass zugleich immer auch schon Apollonius’ vorausbestimmter Erfolg betont würde. Dies wird besonders deutlich an der Funktionalisierung der Königstochter Diomena, deren Hand Apollonius im Falle einer erfolgreichen Bewährung zugesagt wird (und mit ihr die Herrschaft über das Reich). Obwohl die Voraussetzungen zur Minnewerbung und Heirat also noch nicht erfüllt sind, ist die hohe Zahl von Boten, Nachrichten und Geschenken auffällig, die Diomena ihrem persönlich noch unbekannten Bräutigam sendet und die zur Überwindung von Distanz, als Belohnung seiner Werbung, zugleich aber auch als Stellvertreter für die aufgrund der räumlichen Ferne unmögliche Interaktion der Liebenden dienen. So überreicht Diomenas Bruder Apollonius einen Kranz, der als ihr ›magtum‹ apostrophiert wird und den Apollonius tragen soll.64 Dieser Kranz weist voraus auf ihre geschlechtliche 61 »Wer auch immer in dieses Land gelangt, der wird der Edelste genannt werden, der je auf Erden geboren wurde, auserkoren vor allen Fürsten.« 62 »Niemandt enmag in das lant / Er ensey an allen valsch erkant. / Niemant dar inn peleyben kann / Er ensey an allen valsch ain man« (»Niemand darf in das Land, der sich nicht ohne allen Falsch erwiesen hat. Niemand darf darin bleiben, wenn er nicht ein Mann ohne Fehler ist«, Heinrich, Apollonius, 8866 ff.). 63 Heinrich, Apollonius, 9114–9128. Dieses erste Scheitern ist jedoch wiederum gekoppelt an eine vom Gegner selbst ausgesprochenen Prophezeiung, die Apollonius den endgültigen Sieg zusichert. 64 »Er sprach ›ditz schone scheppelein / Hatt ew di liebe swester mein, / Dyomena gesant. / Welches ist der von Tyrland? / Er ist mir noch unpekant. / Der soll es durch iren willen tragen / (Man hatt in nicht fur ainen zagen): / Si gicht es sey ir magtum« (»Er sprach: ›Dieses schöne Kränzlein hat Euch meine liebe Schwester, Diomena, gesagt. Welcher von Euch ist Tyrland? Ich kenne ihn noch nicht. Der soll es nach ihrem Willen tragen (wenn er sich nicht als Feigling erweist): Sie sagt, es sei ihre Jungfräulichkeit«, Heinrich, Apollonius, 11620–11627).

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Vereinigung, sollte er sich denn dieser würdig erweisen, und erzeugt so eine Gegenwärtigkeit des räumlich und zeitlich noch fernen Ziels.65 Der Handlungsausgang wird hier durchgängig dem Vollzug vorweggenommen, das Risiko eines Scheiterns so recht eigentlich eliminiert.66 Die Architektin und graue Eminenz dieses Wunderwerks an Tugendprobe aber ist niemand anderes als Venus. Ihr Tempel steht im Zentrum des Goldenen Tals, und sie ist die höchste richtende Instanz des hier inszenierten Idealreiches,67 die die Mängel der Erprobten in ihrer Schwere beurteilt – und vergibt. Um in das Innerste des Reiches zu gelangen, müssen die Helden nämlich ihre Hände in einen Brunnen tauchen. Je nach Grad ihrer Sündhaftigkeit färbt ihre Haut sich schwarz – bei Apollonius ist dies ›nur‹ der kleine Nagel. Aber selbst dieser geringe Makel bedarf eines Besuchs bei der Göttin: Do was ein gottynne, Venus, die susse mynne. Der priester vor dem altar lag Der deß selben tempel pflag. Dem zaigten sy di hende. Er sprach ›ewr misse wende Ist nür von den gedäncken komen Di weder schaden noch enfrummen. Welt ir der mail ledig sein, So gett fur die gottin. Ir habet frauwen an gesehen, Da von sind ew di mail geschehen. Nu get, ir frumen knechte, Und saget vor ir rechte Wie ewr gedäncken sind gewesen, So latt sy ew zehant genesen‹ (11799–11813)68 65 Dies stellt eine andere Parallele zum Eneasroman und der perspektivierten Vereinigung mit Lavinia da, die durch Lavinias und Eneas’ Liebesbegehren der tatsächlichen Heirat und Herrschaftsübernahme weit vorausgeht. In Bezug auf den Apollonius handelt es sich aber trotz der überbrachten Geschenke und Zuneigungsversicherungen eher um eine Variante des Brautwerbeschemas – der Minnediskurs wird wenigstens im von Heinrich auserzählten aventiure-Teil eher für die Sicherung und Stabilisierung von Herrschaft funktionalisiert, als dass er einen eigenen Schwerpunkt bilden würde. 66 Besonders interessant ist in diesem Kontext der im innersten Garten des Reiches befindliche Jungbrunnen (Heinrich, Apollonius, 12951 ff.), dem die Königsfamilie ihre ewige Jugend verdankt und der über die Stillstellung der Zeit und damit das Ausschließen von jeglicher Entwicklung das Ausscheren dieses Reiches aus der Zeitlichkeit und der damit verbundenen Kontingenz allegorisch verdeutlicht. 67 Venus wird häufiger als richterliche Instanz in Minneklagen und Minnereden dargestellt (vgl. Kern [1998], 411); diese Funktionalisierung verstärkt also noch den Eindruck, es im Falle des Goldenen Tals mit einem als Minnereich gestalteten Raum zu tun zu haben. 68 »Da [im Tempel] war eine Göttin, Venus, die süße Minne. Der Priester, der diesen Tempel bewahrte, lag vor dem Altar. Sie zeigten ihm ihre Hände. Er sprach: ›Euer Makel kommt nur von den Gedanken, die weder schaden noch Heil bringen. Wollt Ihr die Male verlieren, so geht

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Der Ablauf wird wenige Verse später im Text explizit als confession69 bezeichnet, und in mehrfachen Variationen, die jeweils detailliert auserzählt werden, wiederholt.70 Dieser proto-christliche Entwurf der Venus-Figur als Sündenlöserin muss verwundern, nicht nur, weil andere Götterfiguren im Text verspottet oder gar dämonisiert werden, wobei dies durch die Sonderstellung zu erklären wäre, die Venus im Minnediskurs genießt, sondern auch, weil die antike Vorlage gar kein göttliches Personal über den Kurzauftritt eines Engels im Traum hinaus aufweist. Heinrich fügt in seine Erzählung selbsttätig die Inszenierung heidnisch-göttlicher Macht ein, und dies in Analogie zum christlichen Beicht­ ritus. Er begibt sich also freiwillig in jenen prekären Balanceakt, mit dem die Bearbeiter des Eneasstoffes mühsam gerungen hatten. Wie ist dies vereinbar mit einer heilsgeschichtlichen Teleologie, die auf einen christlichen Kaiser in Jerusalem zielt? Nun, zum einen werden Apollonius’ Herrschaft über das Goldene Tal und seine Ehe mit Diomena nicht lange währen. Auf einer weiteren Seefahrt zeugt er mit Palmina, einer afrikanischen Königin, ein Kind und wird daraufhin von Diomena verstoßen. Hierauf entschließt er sich endgültig zur Rückkehr in die Heimat, findet nach einigen Wirren seine Frau und Tochter wieder und demonstriert seine Herrschaft in einem Fest von unvergleichlicher Pracht. Die eigentlich als Höhepunkt inszenierte aventiure vom Goldenen Tal wird reduziert zu einem bloßen Schritt auf dem Weg zur eigentlichen Bestimmung. Dementsprechend ist diese Episode in der Forschung als Entwurf einer »erotischen Sondermoral«71 bewertet worden, als nurmehr weltliche Verlockungen symbolisierend.72 Bei genauerer Betrachtung der Verschränkung von Providenz und Kontingenz, die in der Erzählung vom Goldenen Tal offenbar wird, zeigt sich die Funktionalisierung der Venusfigur hier aber als sehr viel komplexer. Denn die in dieser Episode als allmächtig und höchste richterliche Instanz entworfene Venus wird in der Ausübung ihrer göttlichen Macht als eingeschränkt entlarvt, und das gleich zweimal: Zunächst lässt sie sich von Apollonius überreden, eigentlich unerlässliche Sünden, nämlich Feigheit und Lüge, doch als lässlich durchgehen zu lassen und ihm so die Ehe mit Diomena zu ermöglichen.73 Venus zeigt sich hier nicht als gnädige Göttin, sondern als eine, die mit sich verhandeln lässt, die sich gar von dem Verweis auf das durch Albedacus geweissagte Schicksal (und damit ihr eigenes Versprechen an Apollonius) zu vor die Göttin. Ihr habt Frauen angesehen, davon kommt Euer Makel. Nun geht, ihr frommen Diener und sagt vor ihr wahrheitsgemäß, was Eure Gedanken gewesen sind, so wird Sie Euch sofort heilen.‹ « 69 Heinrich, Apollonius, 11837. 70 Heinrich, Apollonius, 11881 ff. und 12683 ff. 71 Müller (2007), 335. 72 Achnitz (2002), 322. 73 Heinrich, Apollonius, 12120ff; Heinrich, Apollonius, 12691–12734.

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einer Meinungsänderung bewegen lässt.74 Und dann ist es gar die von Venus auferlegte Buße für diese Sünden selbst, die für das Ende besagter Ehe verantwortlich wird, denn die Göttin verlangt als Bedingung der Absolution von ihm, in Zukunft keine Bitte einer Frau auszuschlagen.75 Genau dieses Schlupfloch nutzt aber Palmina später mit Hilfe der Göttin Juno aus, um Apollonius quasi zum Beischlaf zu zwingen.76 Die Allmacht und Überlegenheit der Venus wird hier unterhöhlt. Sie selbst, deren Reich doch eigentlich auf totalen Kontingenzausschluss ausgerichtet ist, verursacht den Einbruch des Unerwarteten, Ungeordneten in die Idealität des Goldenen Tals. Und dessen Bewohner sind wiederum unfähig, flexibel mit kontingenten Ereignissen umzugehen – Diomena reagiert unverhältnismäßig, verstößt Apollonius und belegt ihn darüber hinaus mit einem unschmeichelhaften Zauber. Als sich die Zusammenhänge klären, bittet sie ihn zwar um Verzeihung, aber Apollonius zieht es doch vor, auf der Suche nach seiner Tochter weiterzureisen und damit wieder in den Handlungsrahmen der antiken Vorlage einzutreten. Der sich final tatsächlich als absolut erweisenden Providenz des christlichen Gottes wird in dieser Episode eine nur scheinbare Providenz der Venus gegenübergestellt, die tatsächlich aber der Kontingenz Tür und Tor öffnet und keine Strategien bereitstellt, diese zu bewältigen.77 Erst an diesem späten Punkt der Handlung findet nun das Christentum, dessen Hüter und Verteidiger Apollonius immerhin werden soll, expliziten Eingang in die Handlung: Apollonius trifft auf Henoch und Elias, die ihm vom prophezeiten Messias berichten, und die er über die Kreuzigung Jesu in Jerusa-

74 Apollonius spricht direkt mit Venus: »Susse Venus, ich dich pitt, / Hilff mir von diser schult! / Ich pin dir ye gewesen hold. / Albedacus der weyssage / Ze Warcilon an ainem tage / Sagt auß seinem munde mir / Von anderen gottynnen und von dir / Ewr gnad und ewr gruß: / Nu tüe mir diser sorgen puß!« (»Süße Venus, ich bitte Dich, hilf mir, mich aus dieser Schuld zu lösen. Ich bin Dir immer zugeneigt gewesen. Albedacus der Wahrsager hat mir an einem Tag in Barcelona Gnade und Gruß von Dir und anderen Göttinen zugesagt: Nun löse mich von diesen Sorgen.« Heinrich, Apollonius, 12183–12191). Es ist bezeichnend, dass gerade in dieser Auseinandersetzung mit der Göttin die sonst völlig ignorierte Prophezeiung Albedacus’ handlungsmächtig wird, ihr Versprechen an ihn also gleichsam auf sie zurückgeworfen und zur Verpflichtung gemacht wird. 75 Heinrich, Apollonius, 12727 ff. 76 Heinrich, Apollonius, 14093–14109. Auch diese Konstellation zweier als oppositionelle Agenten zugunsten ihrer jeweiligen präferierten Herrschaftsgebiete handelnden Göttinnen ist eine deutliche Parallele zum Eneasroman. Die Episode um Palmina selbst ist stark angelehnt an die Gahmuret-Vorgeschichte in Wolframs von Eschenbach Parzival. 77 Schulz spricht im Kontext des Minne- und Aventiureromans von einem punktuellen Exponieren der Kontingenz auf untergeordneter Ebene, das letztlich auf deren Negierung im Sinne der höheren göttlichen Ordnung zielt. Er benennt Kippfiguren wie den adeligen Körper, die Kontingenz einerseits einhegen, anderseits massiv ausstellen (Schulz [2010], 213 f.). Im Falle der Venus im Apollonius ließe sich eine doppelte Kippfigur beschreiben: Venus scheint Kontingenz einzuhegen, nur um eine wahre Kontingenzexplosion hervorzubringen, die dann jedoch wieder in die nichtkontingente providentia Dei überführt wird.

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lem informieren kann.78 Das Christentum erweist sich in Folge als der falschen Idealität des Goldenen Tals überlegen. Heilsgeschichte wird gegen den künstlichen Austritt aus der kontingenten Zeitlichkeit ausgespielt und als eigentliches Erzählziel festgeschrieben.

IV Die Venusfigur, deren Präsenz im Eneasroman noch zwischen der Loslösung aus einer paganen Providenz und der Refunktionalisierung für das höfische Minnekonzept changierte, wird hier bewusst als narratives Instrument79 in die Scharnierstelle zwischen Heinrichs aventiure-Erzählung und der Rückkehr zur antiken Stoffvorlage eingefügt – und auch in dieser Instrumentalisierung vorgeführt. Wo Heinrich von Veldeke Venus im Eneasroman umgestaltet zum Kristallisationskern einer neuen Mythologie der höfischen Literatur,80 wird sie im Apollonius des Heinrich von Neustadt als scheiternde Instanz der Providenz inszeniert, die gegen ihre eigene Intention selbst Kontingenz in einen auf Kontingenzvermeidung ausgerichteten Raum hineinträgt. Venus wird hier als in ihrer Macht und Voraussicht beschränkt entlarvt, ihre Göttlichkeit wird relativiert und unterhöhlt und macht so Platz für die eigentliche providentielle Macht des Textes, die christliche Heilsgeschichte. Damit aber kann eine Figur, deren Status im Eneasroman noch prekär war, textintern narrativ refunktionalisiert werden. Als dea ex machina wider Willen bewirkt sie die handlungslogisch eigentlich nicht motivierbare Degradierung des aventiure-Höhepunkts zur bloßen Zwischenstation des Helden und wird dabei als Pseudo-Macht, als vom Erzähler kontrollierte Zufallsmaschine entlarvt, die sich in ihrem eigenen providentiellen Netz verheddert. So wird an einer zentralen Bruchstelle des Textes, besagtem Scharnier zwischen aventiure-Handlung und antikem Erzählstoff, die narrative Gemachtheit von Kontingenz nicht kaschiert, sondern in der Venusfigur dar- und ostentativ ausgestellt. Venus trägt im Apollonius die höhere Ordnung des den Zufall funktionalisierenden Erzählers in den Text hinein. 78 Hier nun enthüllen sich auch die von Apollonius unternommenen Meerfahrten, die nicht nur im antiken Liebes- und Reiseroman, sondern auch generell in der mittelalterlichen Literatur als totales der Kontingenz und damit existentieller Bedrohung Anheimgeben zu lesen sind, als eine nur scheinbare Kontingenzerfahrung, die eben der Notwendigkeitslogik der aventiure-Struktur, nicht der Zufälligkeit der Abenteuerzeit folgt. Zum Meer als Kontingenz und Gefahrenraum vgl. Schnyder (2010); Makropoulos (1998); Blumenberg (1979); Delumeau (1984). 79 »Die Verfügbarkeit der Venus, ihre Apostrophierbarkeit auch für den Erzähler, ist somit – poetologisch gesehen – letztlich Ausdruck der Verfügbarkeit literarischer Tradition, ihrer bisweilen manierierten Weiterführung um ihrer selbst willen« (Kern [1998], 446). 80 Vgl. Jauß (1977); Friedrich/Quast (2004a).

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Die auf totale Kontingenzvermeidung ausgerichtete Abfolge von Tugendproben, die das Goldene Tal bestimmt, wird so schließlich als unzureichender, falscher Umgang mit Kontingenz enttarnt. Ziel ist eben nicht die Vermeidung des unvermeidbaren Zufalls, sondern die flexible Anpassung an sich verändernde Verhältnisse bei gleichzeitigem Beibehalten eines festen Wertekanons. Anders als die Vertreter des Goldenen Tales zeichnet sich Apollonius gerade durch eine solche Flexibilität aus – er kann erfolgreich gegen Venus’ Sündenkatalog argumentieren, sich der Ordnung des Goldenen Tals anpassen, diese Ordnung aber auch verlassen und schließlich zum Instrument einer höheren werden. Auch hier zeigt sich die Möglichkeit der Wahl, die aus dem Raum des Kontingenten sich ergebende Bekräftigung der Bestimmung, als wesentliche Komponente christlicher Providenz. Diese richtige, christliche Haltung formulieren im Apollonius schon die ersten Sätze des Prologs, in denen Heinrich von Neustadt gleichsam einen Reiseführer durch die folgende narrative Kontingenzinszenierung bereitstellt, und in denen mit dem Bild der »welte schancz« providentieller Heilsweg des Menschen und kontingente Weltereignisse bereits zusammen gebunden werden: Der welte schancz ist wunderlich, Alle tag so wechselt sy sich, Wyers yelangk so lenger. Der tugent steyg ist enger Worden her zu unnseren tagen: Das hör ich weyse leutt sagen Es muß auch furbaß ymmer wesen (1–7)81

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81 »Der Würfelfall der Welt ist wunderlich. Er verändert sich von Tag zu Tag. Wie es bisher war, so wird es auch weiter sein. Der Pfad der Tugend ist schmaler geworden in unserer Zeit. Das höre ich weise Leute sagen, und es muss auch immer so bleiben.«

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»das Glück ist kuglet vnd flück« – Fortuna und Kontingenzerfahrung in den Römerdramen Jacob Ayrers Julia Weitbrecht

Das dramatische Werk des Nürnbergers Jacob Ayrer (1543–1605) ist im Hinblick auf die unterschiedlichsten Fragestellungen zu den gesellschaftlichen, kulturellen und literarischen Umbrüchen des 16. Jahrhunderts von Interesse. Das in diesem Band thematisierte Fortuna-Motiv indessen wird in einer programmatischen Figurenrede am Beginn des ersten Teils seines fünfteiligen Zyklus von Römerdramen1 artikuliert, in der es um die im christlichen Mittelalter viel berufene Verbindung von Fortuna und Herrschaft geht. Ein weiser Ratgeber des römischen Königs Amulius, der sich damit brüstet, die Herrschaft erlangt zu haben, sagt zu ihm: […] das Glück ist kuglet vnd flück, Verkehrt sich in eim augenblick. Heint ist einer Herr vnd Regent; So balt sich das Glückradt vmbwendt, Ist er ettwann ein vnterthan Vnd geht jn alles vnglück an. Drumb ist dem glück nicht wol zutrauen. (Ay, 34, 23–29)

Im Dramentext aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts taucht also ein traditionelles Motiv auf, das Fortuna und Herrschaft verkoppelt: An Herrschaft ist stets auch die Gefahr gebunden, diese wieder zu verlieren und ebenso tief zu fallen, wie man zuvor erhöht wurde. Diese Auffassung von Fortuna folgt einer strengen Logik, in der ein Aufstieg immer mit der Notwendigkeit des anschließenden Falls verbunden ist. Es handelt sich dabei vielleicht weniger um eine Figuration der Kontingenz als in der christlichen Anbindung an die providentia Dei vielmehr um eine Form der Kontingenzbewältigung: Die Gesetzmäßigkeit von Aufstieg und Fall bietet ja zumindest immer die Gewissheit, dass man fallen wird. Nun stammt das Zitat allerdings aus der Zeit, in der diese stabile Hierarchisierung von Providentia und Fortuna in Auflösung gerät, wie Alfred Doren, 1 Ayrer, Dramen (im Folgenden unter der Sigle Ay). Zu Leben und Werk siehe Bock (1971).

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Howard R. Patch und andere gezeigt haben.2 »Hatte das Mittelalter«, so beschreibt es Udo Friedrich, die Fortuna gewissermaßen moralisiert und domestiziert, indem es sie bei aller scheinbar waltenden Willkür der göttlichen Ordnung unterstellte, scheint die Frühe Neuzeit diese Bindung wieder aufzulösen. Ein solcher Prozess ist nicht als lineare Ablösung zu beschreiben, sondern als Tradierung alter und Aufkommen neuer Motive sowie deren Vermischung.3

Es handelt sich also um einen komplexen Prozess der Transformationen von Antike(m), denn während in der Innovation immer auch die Tradition noch sichtbar bleibt, bleibt zugleich von der ursprünglichen antiken Figuration einer Schicksalsgöttin im Prozess ihrer Transformation nicht mehr viel Antikes übrig. In diesem Spannungsfeld steht auch Ayrer, denn das »flücke«, das flatterhafte Glück wird in seiner monumentalen Dramatisierung der römischen Geschichte in fünf Teilen4 permanent berufen und dazu gibt es angesichts der Verwerfungen im Herrschaftssystem der Frühzeit Roms auch allen Grund. Ayrers Römerdramen sind bisher nur wenig beachtet worden. Sie stehen in einem dramenhistorischen Spannungsfeld von städtischer Fastnachtskultur einerseits, zu der Ayrer mit zahlreichen Spielen beigetragen hat,5 andererseits ist auch die humanistische Antikenrezeption für sein Werk von Bedeutung,6 denn Ayrer hat das Geschichtswerk Ab urbe condita des Livius7 vermutlich in Form von Bernhard Schöfferlins freier Livius-Bearbeitung Römische Historie (Mainz 1505) rezipiert.8 Er hat aus seinen historiographischen Vorlagen die exemplarischen Figuren und Handlungszusammenhänge bezogen,9 doch kon2

Zum Wandel der Fortuna-Konzeption in der Frühen Neuzeit s. Doren (1924) und Patch (1927), zum englischen Drama Reichert (1985), zur mittelalterlichen Literatur zuletzt Reichlin (2010). 3 Friedrich (2011), 128. 4 Der Zyklus bildet den Anfang des 1618 posthum erschienenen Opus Thæatricum Ayrers, er besteht aus drei tragedien (I, II, IV) und zwei comedien (III, V). Der erste Teil trägt den programmatischen Titel »von Erbauung der Statt Rom vnd wie sie sich ihr grosser gewalt angefangen«. Der dritte Teil nennt Livius als Quelle (»auß dem Tito Livio«), der fünfte verweist implizit auf Livius und evtl. auch Schöfferlin (»von den Römischen Hystorien«). 5 Catholy (1966). 6 Zum möglichen Einfluss der römischen Komödie auf Ayrers dramatisches Werk s. Röcke (2009) und (2008). 7 Livius, Ab urbe condita (im Folgenden unter der Sigle Liv). 8 Schöfferlin, Römische Historie (im Folgenden unter der Sigle RH). Zum Verhältnis zu Livius s. Winter (1999). 9 Die Dramen behandeln die römische Frühgeschichte bis zum Tod des Romulus (I), die Belagerung Albas durch Tullus Hostilius und den Kampf der Curatier und Horatier (II), die Machtübernahme und Ermordung des Tarquinius Priscus sowie die Wahl des Servius Tullius zum König (III), die Ermordung des Servius Tullius durch Tarquinius Superbus, die Schändung der Lucretia und Vertreibung der Tarquinier (IV), die Abschaffung der Königsherrschaft, Krieg und Versöhnung mit den Etruskern (Mucius Scaevola und Porsenna) (V). Der inhaltliche Schwerpunkt scheint dabei auf dem ›human interest‹ zu liegen, insbesondere werden tragische und heroische Frauenfiguren in den Mittelpunkt gestellt (Rea Silvia, der Raub der Sabinerinnen, die Schwester der Horatier, Ocrisia, Lucretia, Cloelia).

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zentriert er sich, anders als seine Quellen, auf die unglückseligen Verstrickungen der römischen Herrscher, die jeweils ihren Fall bewirken. Hier zeigt Ayrer, das macht seine Römerdramen so interessant, eine bemerkenswerte Eigenständigkeit in der Rekombination und Dramatisierung der historischen Stoffe. Im Geschichtsdrama bringt er aktuelle kulturelle Spannungen, insbesondere diejenige von guter Herrschaft und schlechtem regiment und die Frage, wer überhaupt herrschen soll, in ein Medium, das im ›römischen Gewand‹ stets die eigenen Problemstellungen durchspielt. Ayrers Dramen zielen somit ebenso wie seine Fastnachtspiele darauf ab, dem Publikum konkrete Verhaltensregeln und Handlungsoptionen für den städtischen Alltag zu vermitteln, indem sie an den gemeinen nutz appellieren. Daher werden in Bezug auf die Willfährnisse des Glücks immer auch menschliche Gier und Besitzstreben angeprangert, die bei Ayrer als Movens der Handlung und einzig verlässliche Größe erscheinen. Die frühneuzeitliche Kontingenzerfahrung, insbesondere in Bezug auf Herrschaftsordnungen, wird also bei Ayrer offenbar diskursiv noch an traditionelle Konzepte der Kontingenzbewältigung (wie das »Glückradt«) gebunden, es kann auf der Handlungsebene aber angesichts von Unordnung und Missherrschaft nur noch pessimistisch konstatiert werden, dass »dem glück nicht wol zutrauen« ist. Daneben finden sich jedoch auch ›neue‹ Strategien der Bewältigung von Kontingenzerfahrung: Diese liegen zum einen in der originellen Figur des Possenreißers Jahnn/Jodel,10 der in parodistischer Weise den Verlust von Herrschaft behandelt. Zum anderen aber findet sich eine permanente didaktische Berufung auf die Bedeutung von Erziehung und Bildung als Mittel zum sozialen Aufstieg. In Verbindung mit der Darstellung von Aufstieg und Fall wird somit auch die Frage nach dem Zugang zur Herrschaft virulent, und dabei scheinen Eigenschaften wie Tatkraft, Flexibilität und Kommunikationsfähigkeit betont zu werden, also Tugenden, die in der sich allmählich pluralisierenden Gesellschaft des 16. Jahrhunderts, nicht zuletzt in Städten wie Nürnberg, immer größere Bedeutung erhalten. Hier überlagern alte und neue Strategien der Kontingenzbewältigung einander. Somit bieten Ayrers Römerdramen eine Möglichkeit, diejenige Übergangszeit genauer zu bestimmen, in der Fortuna, Providentia und Occasio aufeinandertreffen und die Vorherbestimmtheit des menschlichen Schicksals durch eine soziale Dynamisierung abgelöst wird, in der das Glück nicht zuletzt mit demjenigen ist, der sich selbst zu helfen weiß. Im Folgenden wird die für Ayrers Dramenzyklus konstitutive Logik von Aufstieg und Fall von Herrschaft skizziert, um dann am Beispiel des römischen 10 Eine von Ayrer eingeführte Figur, die an den ›engellendischen‹ Jann seiner Fastnachtsspiele erinnert, einen »komischen, etwas beschränkten, häufig in größte Konfusionen geratenden Diener« (Röcke [2008], 101), der wiederum aus dem englischen Theater entlehnt ist. S. a. Röcke (2009), 286; Catholy (1966), 62 f. Zu den ›Englischen Komödianten‹ in Deutschland s. Haekel (2004), zu Ayrer 145–152.

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Königs Servius Tullius zu zeigen, wie Ayrer das Fortuna-Motiv mit der Frage nach Herrschaft und sozialem Aufstieg verknüpft, mit der Figur des Jahnn aber auch parodierend behandelt. Am Schluss stehen einige Überlegungen zur (dramen-)historischen Einordnung von Ayrers Umgang mit dem Fortuna-Motiv.

1. Das Modell von Aufstieg und Fall in Ayrers Dramenzyklus zur Geschichte Roms Ayrers fünfteiliger Dramenzyklus setzt mit König Procus ein, der, kurz vor dem Tode stehend, die Herrschaft an seine beiden Söhne Numitorius und Amulius übergibt und sie auffordert, einträchtig zu regieren: »Dann einigkeit baut Städt und Landt, / Zwitracht verwüst die beede sandt.« (Ay, 20, 9 f.) Doch sobald Procus verstorben ist, lässt Amulius den Bruder vertreiben, dessen Sohn ersticht er und die Tochter Rea schickt er zu den Vestalinnen ins Kloster, wo sie alsbald mit Zwillingen schwanger wird. Der Rest ist bekannt. Als Amulius sich damit rühmt, die Herrschaft erlangt zu haben, erwidert ihm sein Ratgeber Neander, wie eingangs erwähnt, dass das Glück »kuglet und flück« sei, und dass, wer aufsteige, eben auch wieder fallen müsse. Dieser Verknüpfung der Fortuna mit dem Motiv des Missbrauchs von Herrschaft folgt dann im Weiteren der Aufbau von Ayrers Dramenzyklus. Im Sinne der exemplarischen Darstellung wird kontrastiv dazu immer wieder das Ideal der guten Herrschaft berufen, die durch gute Untertanen und Eintracht befestigt wird. Alle Könige müssen auch wieder abtreten bzw. werden getötet, weil man ihnen ihre Position neidet und sie sabotiert. Erst am Ende des Fünften Teils steht die Versöhnung mit den Etruskern und es herrschen Eintracht und Friede. Bis zu diesem glücklichen Ende aber erscheint die gesamte Darstellung vom regiment in der Stadt Rom als ein Reigen von Intrige, Verrat, Königs- und Vatermord. Das lässt sich an der Figur des Servius Tullius verdeutlichen, von dessen märchenhaftem Aufstieg vom Sohn einer Gefangenen zum König von Rom der Dritte Teil und von dessen erbärmlichem Tod in der schandgassn Roms der Vierte Teil von Ayrers Dramenzyklus handelt. In diesen Teilen fällt auch die Berufung auf die Götter und das Glück besonders häufig. Dass sich das Verhältnis von Fortuna und Kontingenz bei Ayrer besonders gut an Servius Tullius demonstrieren lässt, ist vielleicht nicht ganz zufällig, denn infolge der römischen Frühgeschichte hat er als besonderer Günstling der Göttin den Fortuna-Kult in Rom eingeführt.11

11 Historische Quellen bei Fündling (2002), Sp. 901. Zum historischen Servius Tullius siehe Ridley (1975), Thomsen (1980), Vernole (2002).

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Im Dritten Teil des Zyklus, der zur Zeit der tarquinischen Königsherrschaft spielt, kommt die Mutter des Servus Tullius, die Adlige Ocrisia, als Gefangene schwanger nach Rom und wird am Königshof von Tarquinius Priscus und Tanaquilla großzügig aufgenommen. Sie freundet sich aufgrund ihrer guten Herkunft bald mit der Königin an, und ihr Sohn wird gemeinsam mit der Tochter des Königspaars, Servia, erzogen. Diese glückliche Verbindung zweier hervorragender Familien wird schließlich durch die Verlobung von Servius Tullius und Servia besiegelt. Ocrisia, die in ihrem bewegten Leben das Glück schon hat kommen und gehen sehen, benennt gegenüber ihrem Sohn die Faktoren, auf die es dabei ankommt: Denck, wer dein Vater gwessen ist, Daß du Ehelich geboren bist! Darneben aber hab in acht, Was das vnglück auß vns hat gmacht, Daß wir jtzt seindt in frembten Landt! Vermeit als böß, Laster vnd Schandt! Befleiß dich in deiner Jugent Auff ehrlich that, Sitten vnd Tugent! Wer weiß, wie sich das Glück verkehrt! (Ay, 225, 2–11)

Der Aufstieg an den Königshof ist hier ganz klar sozial bedingt, denn Servius Tullius ist trotz seines Flüchtlingsstatus von guter Herkunft und wurde obendrein gut erzogen. Der Blick auf die Vorlagen Ayrers zeigt darin eine markante Veränderung, denn damit wird der Figur die antike Ambivalenz ihrer »mythisch-obskur[en]«12 Herkunft genommen, die Livius glaubt berichten zu müssen, auch wenn er sie zurückweist: Dass es sich bei Servius Tullius um den Sohn einer Sklavin handelt oder auch um einen Sklaven, der durch die Gunst der Fortuna, bzw. »weil es den Göttern am Herzen lag«13, zum König wurde. Dazu schreibt Livius: Diese ihm aus welchem Grunde auch immer zuteil gewordene Ehre [die Verlobung mit der Tochter des Tarquinius, J. W.] verbietet die Annahme, er sei von einer Sklavin geboren und als Knabe selber Sklave gewesen. Ich bin eher der Meinung jener, die sagen, nach der Einnahme von Corniculum sei die schwangere Frau des Servius Tullius […] wegen ihres einzigartigen Adels durch die römische Königin vor dem Sklavenlos bewahrt worden […] nur das Schicksal der Mutter – weil sie nach der Einnahme ihrer Vaterstadt in feindliche Hände gefallen – habe bewirkt, dass man ihn für den Sohn einer Sklavin hielt.14 12 Fündling (2002), Sp. 900. 13 quod dis cordi esset; Liv. I, 39,4, S. 122/123. 14 Hic quacumque de causa tantus illi honos habitus credere prohibet serua natum eum paruumque ipsum seruisse. Eorum magis sententiae sum qui Corniculo capto Ser. Tulli, […] ob unicam nobilitatem ab regina Romana prohibitam ferunt seruitio […] fortunam matris, quod capta patria in hostium manus uenerit, ut serua natus crederetur fecisse. Liv I, 39,5–6, S. 122/123.

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Livius kann die zeitgenössische Mythenbildung um Servius Tullius nicht ausblenden, aber er versucht sie zu rationalisieren.15 Bereits bei Bernhard Schöfferlin jedoch erscheint Servius Tullius von vornherein ganz unproblematisch: Er ist so tugendhaft und seine Mutter so schön, dass ihre Abkunft nicht weiter thematisiert werden muss: Darzu hett Tarquinius der küng vnd syn husfrow Tanaquil by in erzogen eynen iungen/der hieß Seruus tullius einer gefangen frowen son/den hielten sy gar erlich/ wan er was sonder wiß/manlich zuo allem dem/darzuo man ein mensch bruchen mag geschickt deshalb sie im ein ir tochter zuo der ee geben hetten. (RH, XVr)

In der frühneuzeitlichen Livius-Rezeption wird also weder auf die Zeichen providentieller Erwählung noch auf das Narrativ der Erhöhung aus der Erniedrigung heraus Wert gelegt. Stattdessen wird der künftige Herrscher durch ›immanente‹ positive Eigenschaften entproblematisiert. Dies wird nun bei Ayrer noch zusätzlich dadurch kontextualisiert, dass das Rom, das er entwirft, davon geprägt ist, dass jeder seines Glückes Schmied ist und die richtige Mischung aus guter Herkunft und tugendhaftem Verhalten zum Erfolg führt. Somit positiviert Ayrer einen Sachverhalt ganz entscheidend, der in der Vorlage des Livius immer wieder als konfliktreich dargestellt wird, nämlich dass in Rom Fremde an die Macht kommen. Als noch zu Regierungszeiten des Königs Arnus, des Vorgängers von Tarquinius Priscus, die beiden Räte Nicaner und Leudolt sich über die militärischen Leistungen des Tarquinius Priscus im Dienste Roms unterhalten, meint Nicaner: All Römer sich des schämen soltn, Die weil er ist ein Frembtling gar. (Ay, 197, 8 f.)

Leudolt erwidert darauf: Ey, das kann nicht schaden fürwar. Wer seind wir Römer anfangs gewesn, Da Rom noch war ein neues Wesen Vnd Romulus noch ward das Haupt? Ein Volck allenthalb zusammen klaubt. So gschicht es auch noch heut bey Tag. Wer hie sein vnd hie wohnen mag, Den nimpt man gar gern an vnd auff, Allein darnach so seh man drauff, Wie sich einer helt in die leng. (Ay, 197, 11–20)

15 In anderen Quellen dagegen hat Ocrisia ihren Sohn »durch einen wunderbarerweise aus dem Herd des Tarquinius erschienenen Phallos« empfangen. Vgl. Käppel (2000) Sp. 1094.

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Rom erscheint aus der Perspektive des 16. Jahrhunderts als ›melting pot‹, Zuwanderung als etwas uneingeschränkt Positives. Das Paradebeispiel für gelungene Integration ist der Flüchtlingsjunge Servius Tullius. Es sind lediglich die Intriganten und Widersacher der guten, gemeinnützigen Sache, die immer wieder auf ihre genuin römische Herkunft pochen, etwa die beiden Königssöhne Ancus und Marcus, die sich durch die Wahl des Tarquinius Priscus in der Herrschaftsfolge übergangen fühlen: Noch ist alhie zum König worn Tarquinius, ein außlender, Vnsers Ehrenstandts ein schender, Dem solten wir sein vnterthan. Drumb ich nicht zu ruh bleiben kan, Biß ich mich an jm gerochen Vnd sein stoltz vnd Hochmuth brochen. Ich will jm gar nicht ghorsam sein. (Ay, 217, 18–25)

Der Diskurs einer an sich positiven und willkommenen Migration wird also unmittelbar damit verbunden, dass bei aller Tüchtigkeit das Glück dennoch nur von kurzer Dauer sein kann, weil Neid und Gier es immer wieder zerstören. Ayrer inszeniert das in Schnitt und Gegenschnitt: Am Königshof ist alles für die Verlobung bereit, die heimliche Liebe zwischen Servius Tullius und Servia ist gegenüber der Familie öffentlich gemacht, und Tanaquilla, Ocrisia und Servia müssen nur noch auf die Rückkehr der Männer von der Belagerung der Stadt Apiola warten. Parallel dazu schmieden die beiden Arnus-Söhne ein Komplott gegen Tarquinius. Während sich also dessen Frau Tanaquilla permanent auf das Glück der beiden Familien beruft, ist vor der Bühne16 allen bereits bewusst, dass auch dieses nicht von Dauer sein wird. Das Ende des Tarquinius wird dramatisch gestaltet, in einer Prügelszene erstechen zwei von Ancus und Marcus angeheuerte Mörder den König. Trotz dieses bitteren Rückschlags gelingt es Tanaquilla durch geistesgegenwärtiges – occasionell zupackendes – Handeln, Servius Tullius zum König wählen zu lassen. Damit endet der Dritte Teil mit Hochzeit und Herrschaftsübernahme – er wird innerhalb des Zyklus als comoedia bezeichnet –, und Ocrisia weist noch einmal auf die Wankelmütigkeit des Glückes hin: Nun so muß ich bekennen frey, Daß das Glück wunderbarlich sey, Das lest oft manchen Menschen falln 16 Über die Aufführungsbedingungen dieser Dramen ist – wenn sie überhaupt je zur Aufführung gekommen sind – nichts bekannt. Ihr Aufbau, insbesondere die Szenenanweisungen zu Aufund Abtritten verweisen eventuell schon voraus auf eine modernere Bühnenform. Gleichzeitig könnte man die parallelen Handlungsstränge Hochzeitsvorbereitungen/Komplott aber auch als Hinweise auf eine traditionelle Reihenbühne verstehen. Auch theaterhistorisch erscheint Ayrer hier als ein Grenzgänger.

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Vnd kommen von dem seinen alln, Wie meinem Herrn, der must auffgeben Vom hohen Stand sein edles Leben, Vnd ich mit grossen schweren Leib Ward zu einem gefangnen Weib. Doch haben mich die Götter tröst Vnd von meiner Gfengnuß erlöst, Mir an meines herrn statt beschert Ein Sohn vnd jetzt mein Laid verkert. (Ay, 267, 24–35)

Eigentlich wäre jetzt alles gut: Tarquinius Priscus ist zwar tot, aber dafür ist Servius Tullius auf dem Glücksrad empor gefahren: Wie Tarquninio ist gschehen Vnd jhr an seim Aiden [d. i. Servius Tullius, J. W.] gsehen, Die waren frembd vnd vnbekandt, Schlecht vnd veracht kamen ins Landt, Aber durch Tugent vnd wolhaltn, Auch der lieb, die Jung vnd Altn Derhalben zu jn tragen han, Beede erlangt Königliche Kron, (Ay, 270, 16–23)

Aber es wäre nicht Ayrer, wenn er nicht schon im Schlussakt des Dritten Teils darauf hinweisen würde, dass es dabei nicht lange bleiben wird, denn den Gegenstand des folgenden Vierten Teils bildet, »[w]ie aber Tullius vnd sein Kinder / Seind wider geruckt hininder / Vnd was dasselb verursacht hat« (Ay, 270, 24–26). Servius Tullius hat zwar in weiser Voraussicht dafür gesorgt, dass sich die beiden Söhne seines ermordeten Vorgängers mit seinen Töchtern verloben, um ihre Herrschaft abzusichern. Bereits Livius aber weist in der entsprechenden Passage darauf hin, dass er »durch menschliches Planen das unabwendbare Geschick nicht zu brechen [vermochte], daß der Neid um die Herrschaft sogar unter Hausgenossen alles unsicher und unzuverlässig machte.«17 Livius deutet hier darauf voraus, dass Tullia, eine der Töchter des Servius Tullius, gegen ihren Vater intrigieren wird. Dies wiederum steht im Kontext der Umstände, die später zur Schändung der Lucretia durch ihren Sohn und die daraus folgende Vertreibung der Tarquinier führen werden.18 Ayrer demonstriert an dieser Stelle die Bedeutung der guten Ehe für die Herrschaft und die fatalen Konsequenzen einer schlechten Verbindung für die ganze Gemeinschaft, indem er dies durch die beiden ungleichen Töchter des

17 nec rupit tamen fati necessitatem humanis consiliis quin inuidia regni etiam inter domesticos infida omnia atque infesta faceret. Liv I, 42,2, S. 128/129. 18 Vgl. zur Lucretia-Bearbeitung Ayrers Weitbrecht (vorauss. 2013).

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Servius Tullius ausagieren lässt:19 Die brave Servia interessiert sich für Religion, »kunst vnd Tugent« (Ay, 283, 36), während die ehrgeizige Tullia »Gelt, Gut vnd Pracht« (Ay, 285, 3) erlangen will. Diese Gegenüberstellung von guten und schlechten Ehevoraussetzungen verweist im Kontext frühneuzeitlicher Ehedidaxe auf den Zusammenhang von großer und kleiner Haushaltung20. Daher wird die Kontrastierung der guten mit der bösen Schwester von Ayrer nicht nur auf den privaten Bereich, sondern zugleich auch auf die Frage bezogen, welche Herrschaftsform die richtige sei. Nachdem die anstehende Verlobung angekündigt wurde, beraten die beiden Schwestern, ob es eine sinnvolle Entscheidung ist. Die sanftmütige Servia warnt Tullia vor Hochmut: Siehst nicht, daß auff erden zugleich Auch vergehn grosse Königreich? […] Darumb acht ich nicht des Hochmuts, Welchr mit schröcklichem Todt vergeht. (Ay, 284, 24–34)

Tullia dagegen sagt: Denckst nicht, die Götter haben drummen Auch in der gantzen Welt so weit Verordnet solchen vnterscheidt, Daß einer Herr sey, zu regirn, Vber die andern zu gubernirn, Der ander sey ein Vnterthan, Das jedes seins gleichen soll han? […] Daß alles in der ordnung bsteh Vnd fein ordentlich vnd wol zugeh. Darumb so ist es recht vnd gut, Daß wir haben ein guten muth, Die Königlichs herkommen sein. (Ay, 285, 5–23)

Da Tullia als die hochmütigste Person gezeichnet ist und auf ihr ehr- und respektloses Verhalten immer wieder Bezug genommen wird, stellt sich die Frage, warum Ayrer ausgerechnet ihr eine derart konservative Rede in den Mund legt, der selbst eher für eine restaurative Haltung bekannt ist. Der Ausgang des Dramenzyklus nach Abschaffung der Königsherrschaft lässt darauf schließen, dass Ayrer eher ein obrigkeitliches Modell präferiert, innerhalb dessen die Burgermeister, wie die Konsuln bei ihm heißen, von den Bürgern gewählt werden.

19 Bei Livius heißen diese Tulia maior und Tulia minor, bei Ayrer Tullia und Servia. 20 Vgl. Raitz/Röcke/Seitz (2004).

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Offenbar sieht er insbesondere in einem hierarchischen Herrschaftsmodell, wie Tullia es hier beschreibt, die Gefahr für Missbrauch angelegt. Darin gibt ihm die weitere Handlung durchaus recht: Fatalerweise haben die Königssöhne ebenso komplementäre Charaktere wie die Schwestern und hat die tugendhafte Frau den ehrgeizigen Mann bekommen und umgekehrt. Tullia und Lucius Tarquinius finden schnell heraus, dass sie ihre Gatten falsch gewählt haben, und kommen umstandslos überein, ihre Ehepartner umzubringen. Tullia stellt Lucius dafür in Aussicht, ihn bei der Erlangung der Königsherrschaft zu unterstützen. Das wird bei Livius nur angedeutet, Schöfferlin erzählt es in seiner Römischen Historie als eiskalten Plan von Tarquinius Superbus und Tullia aus21 – die Rede von einem Komplott der beiden geht aber zurück bis in die Antike.22 In Ayrers Inszenierung wird dieser taktische Gattenwechsel jedoch noch zusätzlich dramatisch gesteigert und als Höhe- und Schlusspunkt des ersten Aktes inszeniert: Lucius ersticht Servia im Schlaf, während Tullia Tarquinius Arnus vergiftet. Anschließend heiraten die beiden und erlangen dann die Königsherrschaft, indem sie Servius Tullius erschlagen lassen.

2. Der Narrenkönig Jahnn Das für den dramatischen Rahmen der ersten vier Teile des Zyklus konstitutive Muster von Aufstieg und Fall wird immer wieder durch das närrische Verhalten des königlichen Boten Jahnn kontrastiert, der Ocrisia beneidet, weil sie einen großzügigen Herrn hat, bei dem man sicherlich bis mittags schlafen darf (Ay, 195, 17–22), der davon phantasiert, am besten gleich beide Töchter des Servius Tullius zu heiraten (Ay, 282, 8–9), und der sich mit Szepter und Krone zum König gekrönt glaubt, obwohl er nur eine Narrenkappe trägt (Ay, 207, 8–12). Als er herausfindet, dass bereits ein anderer zum König gewählt wurde, will er sich – ganz desillusionierter gefallener Herrscher – aufhängen: O wehr keiner vnd last mich henckn Vnd sol mich das nicht hart bekrenckn, Daß ich das königreich verlorn! Tarquinius ist König worn, So zieh ich wie ein Narr hie vmb. (Ay, 213, 10–14)

Jahnn parodiert somit Aufstieg und Fall der wahren Könige, und bringt zuletzt Herrschaft auf eine recht einfache Formel: Wenn er König wäre, müsste er

21 RH, XVIv–XVII r. 22 Als initium turbandi benennt Livius Tullia Maior, ohne auf die Ursachen der »fast gleichzeitig erfolgten« (prope continuatis) Todesfälle einzugehen; Liv I, 46,7–9, S. 140/141.

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keine Botengänge mehr erledigen, sondern könnte andere schicken. Für diese Schlichtheit wird er von seiner Frau verprügelt: Ey harr, ich will dirs Königs gebn, Dann zu eim Narrn bist du geborn. Deins gleichn ist nie kein König worn. (Ay, 215, 13–15)

Lacher sind hier wohl garantiert, aber die derbe Komik besitzt, zumindest aus der historischen Distanz heraus, auch etwas zutiefst Resignatives. Jahnns närrisches Verhalten dient sicherlich dazu, die Willfährnisse des Glücks lachend zu bewältigen; sein Scheitern zeigt aber auch die Grenzen sozialer Durchlässigkeit auf, die bei Ayrer ja durchaus ein Thema ist – Occasio fliegt im Nürnberg des 16. Jahrhunderts nicht jedermann über den Weg. Vor allen Dingen aber gehen die Schelmereien des Narrenkönigs der oben behandelten Ermordung des Tarquinius Priscus im Dritten Teil unmittelbar voraus und weisen leitmotivisch-parodistisch auf den tragischen Handlungsausgang hin. So trägt der Diener bei Ayrer auch die Funktion des moralischen Kommentators: Im Vierten Teil bewertet er das Verhalten der Tullia in Zusammenhang mit der Ermordung ihres Vaters Servius Tullius, nachdem dieser von den Leuten ihres Ehemannes totgeschlagen wurde und in der schandgassn liegt. Tullia zwingt Jodel (wie die Figur in diesem Teil heißt) daraufhin, mit der Kutsche über die Leiche ihres Vaters zu fahren. Jodel bemerkt, dass selbst die Pferde mehr Tugend besitzen als Tullia, weil sie vor der Leiche zurückschrecken, und fasst Tullias Untaten zusammen: Sie thut jr lebenlang nichts guts. Hat durch des teuffels list erdacht, Das man jr Schwester hat vmbbracht, Vnd sie hat jren Mann vergebn, Iren Vatter auch bracht vmbs leben Vnd ist darnach vber jn gfahrn. Was gelts, man werd nach tausent Jahrn Von dieses Weibs boßheit wissen? Der Teuffel hat vns mit jr bschissen. (Ay, 311, 15–22)

Tullias skandalöses Agieren wiegt am Ende des Vierten Teils ebenso schwer wie die Schändung der Lucretia durch ihren Sohn Sextus: Beides führt schließlich zur Vertreibung der Tarquinier aus Rom. Damit ist auch diese Herrschaft beendet, aber das wird nun nicht mehr auf die Widrigkeiten der Fortuna zurückgeführt (die hier auch insgesamt viel seltener benannt wird), sondern ist die Schuld der verderbten und gierigen Menschheit, insbesondere der Frauen.

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3. Fortuna als Kontingenzbewältigung? Nach fünf Teilen und zahlreichen tragischen Intrigen und Todesfällen, gefallenen Herrschern und vertriebenen Königinnen herrscht am Ende Friede in Rom und der Ehrnholt beschließt den fünften Teil: Dieweil doch hie auff dieser erdt Nichts besser ist vnd werden kan, Als daß Regent vnd vnterthan Treulich zusamm setzen allzeit Vnd mans erkenn mit danckbarkeit, Dardurch erwachs der Gmeine nutz, Der Vnterthan wiß seinen schutz, Die Obrigkeit wiß den beystand. So bsteht als denn lang Leut vnd Landt Vnd lebt in ruh hie in der zeit, Biß Gott auch hilfft in ewigkeit. (Ay, 433, 23–33)

Insbesondere was die Konzeption schicksalhafter Verstrickung und den Verlust von Herrschaft angeht, wird hier die Selbständigkeit Ayrers im Kontrast zu seinen Vorlagen deutlich. Livius beruft sich in seinem Geschichtswerk stets auf die vergangenen Werte der sagenhaften Anfangszeit Roms, auf virtus und libertas des römischen Volks. Als Telos seines Erzählens von der Gründungszeit erscheint die Hoffnung auf eine Restauration dieser Werte. In diesem Zusammenhang erscheint die fortuna populi Romani als eine Art Hüterin der Nation, sie ist »nicht wankelmütig, sondern wirkt immer für den Nutzen der Bürgerschaft«23. Für den Livius-Bearbeiter Bernhard Schöfferlin hat Carla Winter dagegen gezeigt, dass er in seiner Römischen Geschichte der mittelalterlichen Fortuna-Konzeption insofern verpflichtet ist, als er sich, wenn er die wankelmütige Fortuna behandelt, immer wieder auch auf die ausgleichende Macht der providentia Dei beruft, die damit, christlich gewendet, eine ähnliche Funktion einnimmt wie die römische Schutzgöttin bei Livius.24 Ayrer steht somit mitten im Spannungsfeld von antiker Fortuna und mittelalterlicher Providentia, aber anders als seine Vorlagen inszeniert er die politischen Geschehnisse in Bezug auf das Verhältnis von Obrigkeit und Bürgern in einem städtischen Organisationsgefüge. In diesem Kontext ist sein ›Glückskonzept‹ zu sehen, das in idiosynkratischer Weise zwischen den gesellschaftlichen Einschränkungen und den Möglichkeiten seiner Zeit angesiedelt zu sein scheint. Obwohl zuletzt – wenn auch erst nach dem »Gmeine[n] nutz« – auch Gottes Hilfe genannt wird, spielt die Vorsehung auf der Handlungsebene kaum 23 Kajanto (1967), 481 f.; vgl. Kajanto (1957). 24 Winter (1999), Kap. 4.2 »Die Fortuna-Problematik bzw. das göttliche Einwirken auf die Geschichte«, 232–241.

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mehr eine Rolle. Fortuna erscheint also weder als ein Instrument der Kontingenzbewältigung, das vom Aufgehobensein in der göttlichen Providenz bestimmt ist, noch stehen die Möglichkeiten, die sich mit der Dynamisierung dieser im Mittelalter so stabilen Verkoppelung bieten, den handelnden Personen zur Verfügung: Auch die Schnellen und Tüchtigen, welche die günstige Gelegenheit, die Occasio, ergreifen, müssen bei Ayrer damit rechnen, dass ihnen die Neider auf dem Fuße folgen und dass ihr Glück nicht von langer Dauer sein wird. Ayrers Darstellung von Herrschaft und regiment ist letztlich von Willkür und menschlichem Versagen bestimmt. Auch das ist, wie wir bei Livius gesehen haben, kein ganz neues Motiv, aber erst bei Ayrer wird, überspitzt gesagt, die Misanthropie handlungsbildend. Viel verloren, aber (noch) nichts gewonnen, so könnte man Ayrers Fortuna-Konzept vielleicht auf den Punkt bringen, wenn da nicht der Eindruck bliebe, dass er das Medium des Römerdramas, das zu diesem Zeitpunkt überhaupt erst im Entstehen begriffen ist,25 so souverän nutzt. Er gebraucht die römische Frühgeschichte konsequent, um seine eigenen Standpunkte für eine städtische Gegenwart des 16. Jahrhunderts zu formulieren und zu dramatisieren, und schafft damit eine lebendige Antike im neuen Gewand. Vielleicht liegt darin das Occasionelle in Ayrers Schaffen.

Literatur Quellen [Ayrer, Jacob], Jacob Ayrers Dramen, hg. v. Adelbert von Keller, Bd. 1, Stuttgart 1865. [Livius] Titus Livius, Ab urbe condita. Liber I / Römische Geschichte, 1. Buch, Lat./Dt., übers. u. hg. v. Robert Feger, Stuttgart 2003 (RUB 2031). Schöfferlin, Bernhard, Römische Historie uß Tito Livio gezogen, Mentz 1505 [Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München, Rar. 2086; URL: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00004902/image_1 (Zugriff: 20.03.2013)].

Forschungsliteratur Bock, Hans Bertram, »Jakob Ayrer (1543–1605)«, in: Fränkische Klassiker. Eine Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen, hg. v. Wolfgang Buhl, Nürnberg 1971, 264–288. Catholy, Eckehard, Fastnachtspiel, Stuttgart 1966 (= Sammlung Metzler, 56). Doren, Alfred, »Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance«, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, II. Vorträge 1922–1923, I. Teil, Leipzig/Berlin 1924, 71–144. Friedrich, Udo, »Providenz – Kontingenz – Erfahrung: Der ›Fortunatus‹ im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit«, in: Erzählen und Episteme. 25 Vgl. Niefanger (2005), zu Ayrer 105–110.

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Die Macht der Sterne und die Kontingenz Michael Weichenhan

1. Einleitung Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Aufund Untergang der Sonne, des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern.1

Mit dieser parodistischen Transformation eines Horoskops beginnt Robert Musil seinen Mann ohne Eigenschaften. Ganz anders als in jener Lebensgeschichte, die einsetzt mit dem Hinweis auf die Konstellation des 28. August 1749, »mittags mit dem Glockenschlage zwölf« in der Stadt Frankfurt am Main, sind die meteorologischen und astronomischen Verhältnisse jenes schönen Augusttages des Jahres 1913 bei Musil gekennzeichnet als solche, »aus denen bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht«. Denn was hätte woraus hervorgehen sollen? Geschichte, also eine Reihe von Ereignissen, so meditiert der Protagonist Ulrich, sei nicht der Weg »eines Billardballs, der einmal angestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken«2. Ereignisse verschwinden wie die sich verdichtenden, dahinziehenden und sich wieder auflösenden Wolken. Eine Reihe von ihnen ergibt keinen Zusammenhang, und zwar gerade keinen solchen, wie ihn Goethe wohl mit Hilfe des Horoskops anzudeuten versuchte: einen ursprünglichen Zusammenhang, der der Folge von erinnerungswürdigen Aktivitäten und Widerfahrnissen zu Grunde liegt.3 Und 1 2 3

Musil (1978), 9. Musil (1978), 361. So treffend v. Stuckrad (2005), 232. Der Anfang von Goethes Dichtung und Wahrheit bezieht sich selbst wiederum auf Cardanos De propria vita (1663 I), 2a/b; zu Cardanos Interpretation des Horoskops Christi, die Goethe ebenfalls gekannt haben könnte, s. u. Eine Interpretation von Goethes Horoskop auf Grund antiker Quellen in Boll/Bezold/Gundel (1974), 67–71.

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auch das, was als Basis dieser durch den zur Schau gestellten Dilettantismus merkwürdigen Genitur gewählt wird, hat die Kontur verloren. Meteorologische Zustände waren nie das, wovon eine astrologische Ansage ausging, sondern zuweilen das Gesuchte. Dadurch, dass der Roman beginnt mit einem ironischen Blick auf das Horoskop in Dichtung und Wahrheit, das sich wiederum auf die Autobiographie des Girolamo Cardano bezogen hatte, geht allerdings doch etwas aus diesem Anfang hervor: Dem Leser signalisiert er, dass eine Welt entworfen wird, in der eine Verknüpfung zwischen himmlischen Prozessen und irdischen Ereignissen nicht mehr sinnvoll ist. Was einst einen Menschen und die Gestirne verband, indem die momentane Konfiguration der Planeten in ein Diagramm eingetragen und vom über den Horizont aufsteigenden Grad der Ekliptik aus auf 12 Häuser eingeteilt wurde, aus dem der Sterndeuter mindestens Grundzüge eines künftigen Lebens eines Individuums ersehen konnte, ist zum Bericht über die augenblickliche Witterung und deren Verhältnis zu statistisch ermittelten Richtwerten geworden, aber die Positionen von Sonne und Planeten beziehen sich nicht auf das, was auf der Erde geschieht. In der Erinnerung an die Deutungsmuster der Astrologie ist manches durcheinandergeraten, ein Wissen über die Existenz des Saturnrings mit dem hier allein interessierenden Saturn, die in den Ephemeriden verzeichneten Planetenpositionen mit »Voraussagen«. Astrologie ist sowohl gesunkenes Bildungsgut als auch »Aberglaube aus zweiter Hand«, in beiden Fällen unverständlich.4 Dass jene Verknüpfung nicht mehr sinnvoll erscheint, heißt aber auch: in der Welt geschieht nichts Konturiertes, nichts »Besonderes«, sondern es ereignet sich etwas. Der Verlauf der Weltgeschichte, so heißt es an anderer Stelle im Roman, ähnele deshalb einem »Sich-Verlaufen«. Das reflexive Verb bedeutet nicht nur, dass etwas eine andere als die geplante Richtung nimmt und so an einem anderen als dem intendierten Ziel anlangt, sich also jemand verläuft. Das spezielle Versprechen der Astrologie bestand ja gerade darin, den Menschen auf die nicht vorhergesehenen Wendungen, die sein Leben nehmen kann, vorzubereiten. Wohl kann der Mensch an der Ausführung seiner Pläne gehindert sein oder werden, ein Ziel aus den Augen verlieren, in der Mitte seiner Lebensreise von der Straße abkommen und sich in einem dunklen Wald wiederfinden – der Sterndeuter 4

Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Adorno (1979), 147–176. Wie zutreffend die Analyse in soziologischer Hinsicht auch sein mag – von der Astrologie selbst verstand Adorno erkennbar nur so viel wie die von ihm untersuchten ahnungslosen Leser der in den Tageszeitungen abgedruckten »Horoskope«. Die weit verbreitete Unkenntnis gegenüber der Sterndeutung und ihrer Methoden ist ein Faktum, auf dem sowohl die weit verbreitete Trivialastrologie bspw. in Tageszeitungen wie auch die Kritik am astrologischen Aberglauben basiert. Dieses Einvernehmen zwischen Kontrahenten exemplifiziert der Aufsatz von Adorno auf eindrückliche Weise. Paul Feyerabend hat dieses Phänomen benannt und kritisiert (1981); eine Diskussion der dort vorgebrachten Argumente ist an dieser Stelle nicht erforderlich, weil die Astrologie ausschließlich als historisches Phänomen im Blick steht.

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aber weiß, könnte mindestens wissen, dass solche Abweichung bereits vorgezeichnet war im Moment der Geburt oder gar der Empfängnis.5 Denn die Abweichung vom »geraden« Wege, von dem also, was intendiert war, gehört zur Gesamtheit der Person wie das, was als konsequentes Verfolgen von Zielen erscheinen mag, das sich als erfolgreich erwiesen hat. In jenem »Sich-Verlaufen« der Weltgeschichte schwingt deshalb ein Verschwinden mit: Ereignisse folgen nicht aus- und aufeinander, konstituieren keine sich entwickelnde Gesamtheit, sondern verlaufen sich wie verschüttetes Wasser im Sande, lösen sich auf wie die Wolken am Himmel. Planeten beschreiben exakt berechenbare Bahnen. Was hingegen in Wien im August 1913 geschieht, ereignet sich. Es geschieht einfach. Gegen die Gefahren, die jemandem auf Grund der langen Bremswege der Lastkraftwagen drohen,6 kann er sich durch Vorsicht wappnen, vor allem aber wird er eine Versicherung abschließen, die die Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses und damit die Höhe der Prämie kalkuliert, die davon unabhängig ist, was ihm gegebenenfalls geweissagt worden ist. Horoskope werden für Individuen gestellt, Wahrscheinlichkeiten aber auf eine beliebige Anzahl von Personen bezogen. Selbst dann, wenn die astrologische Prognose auf ein mögliches Ereignis im Sinne einer Gefahr oder einer Chance verweist, die es zu meiden oder zu ergreifen gilt, ist die einzelne Person gemeint, der dieses droht und jenes verheißen ist. Das aber ist für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, ohne Belang: Wie viele Personen durch ein Kraftfahrzeug jährlich zu Schaden kommen, lässt sich empirisch ermitteln und das Risiko des Einzelnen durch einen Wert zwischen 0 und 1 ausdrücken, aber dass ein bestimmtes Individuum davon im August 1913 betroffen ist, verändert diesen Wert ebenso wenig wie es die Tatsache könnte, dass es am Vortag dreimal in Folge einen Sechserpasch mit zwei Würfeln gewürfelt hat, was zwar möglich, aber auch recht unwahrscheinlich ist, nämlich (1:6)6 bzw. 1:46656 = 0,00002143… Die Astrologie fragt nach Prägungen und Dispositionen des Individuums, nicht aber die Wahrscheinlichkeitstheorie. Bei jedem Wurf des Würfels besteht die Chance von 1:6, eine bestimmte Augenzahl zu erreichen, unabhängig davon, wie oft sie bereits gefallen ist und ob sich der Spieler als Pechvogel oder Glückskind weiß. Da sie weder mit seinem Charakter noch mit dem bisherigen Verlauf der Vergangenheit zu tun haben, erscheinen solche Ereignisse als »zufällig« eingetreten. Die klassische Formulierung von Laplace, die die Ereigniswahrscheinlichkeit – offenbar am Modell des Glückspiels orientiert – als das Verhältnis von »günstigen« zu »gleichmöglichen« Fällen einführt, präsentiert die entsprechenden Ereignisse als zufällig eintretend, weshalb Theorie des Zufalls und des Wahrscheinlichen identisch sind:

5 6

Die Empfängnis gilt in der antiken Astrologie oft als der wichtigere Zeitpunkt als der der Geburt, vgl. Bouché-Leclercq (1899), 373–383. Vgl. Musil (1978), 11.

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Die Theorie des Zufalls besteht darin, gleichartige Ereignisse auf eine bestimmte Anzahl gleich möglicher Fälle zurückzuführen, also auf solche, über deren Existenz wir gleich unentschieden sind, und dann die Anzahl der Fälle zu bestimmen, die für das Ereignis günstig sind, dessen Wahrscheinlichkeit man sucht. Das Verhältnis dieser Zahl zu der der möglichen Fälle ist das Maß der Wahrscheinlichkeit, die nichts anderes als ein Bruch ist, deren Zähler die Zahl günstiger Fälle, deren Nenner die Zahl aller möglichen Fälle ist.7

Günstig ist beim Würfeln beispielsweise das Ereignis »der Würfel zeigt 6«, gleichmöglich aber auch »der Würfel zeigt 3«. Mit einer gewissen Veränderung an Laplaces Formulierung lässt sich die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bestimmen als der Grenzwert, auf den das Verhältnis zwischen der Häufigkeit seines Eintretens bei einer beliebigen Anzahl von Versuchen (z. B. Würfen) zustrebt. Bei einem nicht manipulierten Würfel wird sich daher die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Augenzahl zu würfeln, als 0,166… = 1:6 erweisen.8 Mit Hilfe der Theorie des Zufalls ist es somit möglich, sich in einer Welt relativer Ungewissheit zu orientieren, indem beispielsweise Risiken und Chancen kalkuliert werden, um die Auswirkungen eines möglichen Unglücks auf den Einzelnen durch Versicherungen abzufangen. Bei derartigen Ereignissen handelt es sich stets um solche, die für das Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt unbeabsichtigt und unabsehbar, insoweit also »zufällig« eintreten. Entscheidend ist an dieser Stelle deshalb nicht, dass Laplace der Auffassung war, dass dieses Eintreten an sich streng determiniert erfolgt, die Ungewissheit also ausschließlich epistemischer Natur ist. Wie die Würfel fallen, weiß zwar der Spieler nicht, wohl aber der Schöpfer der realen Welt im Sinne Leibniz’, in der ausnahmslos das Prinzip des zureichenden Grundes gilt.9 Den Unterschied zur Astrologie bestimmt also nicht unbedingt eine unterschiedliche Haltung zum Determinismus, sondern dass es nicht aus der »Natur«, der Geschichte, 7

8

9

Laplace (1886), VIII: »La théorie des hasards consiste à réduire tous les évènements du même genre à un certain nombre de cas également possibles, c’est-à-dire tels que nous soyons également indécis sur leur existence, et à déterminer le nombre de cas favorables à l’évènement dont on cherche la probabilité. Le rapport de ce nombre à celui de tous les cas possibles, est la mesure de cette probabilité qui n’est ainsi qu’une fraction dont le numérateur est le nombre des cas favorables, et dont le dénominateur est le nombre de tous les cas possibles.« Vgl. v. Mises (1972), 16–18. Was bei Laplace »les cas possibles« und im Text als »Anzahl von Versuchen« bezeichnet wurde, wird bei v. Mises »Kollektiv« genannt, das zur zuverlässigen Ermittlung des wahrscheinlichen Eintretens von A möglichst groß gewählt wird, d. h. n→∞, so dass sich die Eintrittswahrscheinlichkeit von A als Grenzwert in folgender Beziehung n(A) n

P(A) = lim darstellt:                             . n→∞

Laplace (1886), VI–VII: »Nous devons donc envisager l’état présent de l’univers comme l’effet de son état antérieur et comme la cause de celui qui va suivre. Une intelligence qui, pour un instant donné, connaitrait toutes les forces dont la nature est animée et la situation respective des êtres qui la composent, si d’ailleurs elle était assez vaste pour soumettre ces données à l’analyse, embrasserait dans la même formule les mouvements des plus grandes corps de l’univers et ceux du plus léger atome: rien ne serait incertain pour elle […].«

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also dem astral geprägten Charakter des handelnden Individuums resultiert, welches Ereignis eintritt, das sein Leben unter Umständen grundlegend verändert. Denn die Person bildet keinen roten Faden, deren Schicksal sich im Laufe der Zeit gleichsam abrollt und bereits am Beginn des Lebens insoweit vorgezeichnet war, als es die Gestirne in bestimmter Weise prägten.10 Die Welt des Mannes ohne Eigenschaften wird durch den Beginn des Romans als eine solche gekennzeichnet, in der die Sterndeutung als Bündel gewisser Überzeugungen auftritt, an die vage Erinnerungen bestehen, die aber keine Funktion mehr erfüllen. Sie gehört vielmehr zu dem Hintergrund, vor dem sich die Auffassungen, wie sie der Mathematiker Ulrich, nicht nur von der Wahrscheinlichkeitsrechnung, sondern auch beeinflusst von Ernst Mach und Friedrich Nietzsche, vertritt, um so schärfer abheben. Keine Eigenschaften zu besitzen erinnert freilich zunächst einmal an das Charakteristikum des Intellekts in jener oft zitierten und interpretierten Passage aus Aristoteles’ De anima III: Er kann, um alles zu erkennen, nichts von dem sein, was er erkennt; er ist, was freilich Probleme aufwirft, »leidensunfähig«, und er hat nichts mit dem gemein, worauf er sich kognitiv bezieht.11 Andernfalls wäre er auf bestimmte Objekte festgelegt. Offenkundig soll man extrapolieren: Ein Mensch ohne Eigenschaften ist nicht das, was er tut oder erleidet; er spielt gleichsam eine Reihe von Rollen, ohne eine von ihnen zu sein, also auch nicht deren je vorläufige Summe. Wer keine Eigenschaften aufweist, verhält sich in den sich verändernden Situationen, die einander ablösen wie jene Wolkenfigurationen, und zwar 10 Der Vergleich der Geschichte eines menschlichen Individuums mit einem Faden, der in der Zeit lediglich entrollt wird, ist in dem Sinne zu verstehen, dass in deterministischen Welten keine Verzweigungen auftreten, so dass bereits zu einem früheren Zeitpunkt prinzipiell eine Tatsache feststeht, die erst später auftreten wird. Selbst dann, wenn der Weg von einem Zustand q in t1 zu einem Zustand p in t n mit Hilfe eines Baumdiagramms vorgestellt wird, steht die Wahrheit der Tatsachenbehauptung, dass p/t n, bereits früher (»von Anfang an«) fest und lässt sich der Verlauf als ein Faden, der über (vermeintliche) Verzweigungsstellen von der Vergangenheit bis in die Zukunft reicht, abbilden; so bei Cicero, Div. I 127: »non enim illa quae futura sunt subito exsistunt, sed est quasi rudentis explicatio, sic traductio temporis nihil novi efficientis et primum quicque replicantis.« Zur Unverzweigtheit deterministischer Welten, wie sie etwa Leibniz’ Monaden exemplifizieren, vgl. insbesondere v. Kutschera (2004), 163–187. Dass sich aus der Retrospektive diese Veranschaulichung nahelegt, weil die Geschichte diesen und nicht jenen Verlauf genommen hat, entspricht über die Erfahrung einer zeitübergreifenden Identität hinaus auf logischer Ebene der Notwendigkeit des Faktischen im Sinne der Unveränderlichkeit des Vergangenen, die natürlich dessen kontingentes Eingetretensein nicht berührt; vgl. dazu Meixner (2008), 26 f.; historisch lässt sich dies zurückverfolgen bis Aristoteles, EN VI 2, 1139b7–9; Cicero, De fato 14: »omnia vera in praeteritis necessaria sunt, ut Chrysippo placet […], quia sunt immutabilia nec in falsum e vero praeterita possunt convertere«. Problematisiert ist diese »redundante« Notwendigkeit im Zusammenhang der Diskussion, ob die Allmacht Gottes auch diese außer Kraft setzen, also Geschehenes ungeschehen machen kann. 11 Vgl. Aristoteles, DA III 4, 429a10–430a9. Zur Interpretationsgeschichte vgl. die klassische Abhandlung von Gilson (1930); weiterhin Davidson (1972); Musil dürfte durch die zweibändige Ausgabe von Schriften und Predigten Meister Eckharts durch Hermann Büttner (zuerst 1903– 1909) auf diese Tradition aufmerksam geworden sein; vgl. Flasch (2010), 29, 121–124.

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so, dass die Risiken des Scheiterns nach Möglichkeit minimal ausfallen. Es ist die Welt, in der eine Vielzahl von Kräften und Tendenzen konkurrieren, sich gegenseitig bald schwächen, bald verstärken, und auf die die Person flexibel reagiert.12 Es ist eine Welt, in die der Mensch nicht mit der astralen Prägung seiner Eigenschaften eintritt, welche nach und nach zur Erscheinung kommt, zuweilen mit freilich verblüffenden Wendungen, sondern in der sich die Person je nach den Verhältnissen allererst konstituiert. Es ist schließlich eine Welt der Kontingenz: Alles, was geschieht, hätte auch nicht bzw. anders geschehen können. Folglich entwickelt Ulrich analog zum Wirklichkeitssinn einen »Möglichkeitssinn«13: Er erfasst, was ist, als das, was kontingent der Fall ist, daher auch nicht sein könnte, dann also kontingent nicht der Fall wäre. Intellektuell durchgespielt ist dies bereits in der mittelalterlichen, dann in der frühneuzeitlichen Scholastik worden, was bereits der 16jährige Gymnasiast Ulrich ahnte, »denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein«14. Ob nun ebenso gut oder einfach anders: Es bestand keine metaphysische Notwendigkeit, dass die Welt so war, wie sie war: Sie war gewollt und insofern selbst das Resultat einer freien Entscheidung, und zwar als eine, in der es selbst freie Entscheidungen und demzufolge echte contingentia geben sollte.15 Oder sie ist

12 Dieser Zug wird kritisch dargestellt insbesondere durch Walter im Gespräch mit Clarisse, Musil (1978), 64–67, besonders 65: »Du kannst keinen Beruf aus seiner Erscheinung erraten, und doch sieht er auch nicht wie ein Mann aus, der keinen Beruf hat. Und nun überleg dir einmal, wie er ist: Er weiß immer, was er zu tun hat; er kann einer Frau in die Augen schaun; er kann in jedem Augenblick tüchtig über alles nachdenken; er kann boxen. Er ist begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, draufgängerisch, besonnen – ich will das gar nicht im einzelnen prüfen, er mag all diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht! Sie haben das aus ihm gemacht, was er ist, und seinen Weg bestimmt, und sie gehören doch nicht zu ihm.« 13 Musil (1978), 16–19. 14 Musil (1978), 19. Die Besorgnis wegen möglicher Gotteslästerung von Seiten des Lehrkörpers der Theresianischen Ritterakademie dürfte vielleicht durch die etwas vage Ausdrucksweise des »ebensogut« motiviert sein, verrät aber wohl schlichte Unkenntnis, hatte Thomas v. Aquino doch selbst gelehrt, dass Gott anderes schaffen könnte als das, was er geschaffen hat (»dicendum est simpliciter quod Deus potest alia facere quam quae facit«, STh I, q. 25, a. 5c.) und dass er es auch anders im Sinne von »besser« hätte schaffen können (»posset tamen Deus alias res facere vel alias addere istis rebus factis, et esset aliud universum melius«, a. 6 ad 3). Das Gegenteil zu behaupten gilt vielmehr als auf Abaelard zurückgehender Irrtum, der später durch Wyclif und den Protestantismus aufgegriffen wurde. Das übersieht auch nicht die – freilich nicht unumstrittene – Lehre von der moralischen Notwendigkeit, die beste aller möglichen Welten zu schaffen, vgl. dazu T. Ramelow (1997). Dass insbesondere die katholische Theologie in gegenreformatorischer Frontstellung die Akte des freien Willens scharf profiliert und sie als aus göttlicher Perspektive »zufällig« verstanden hat, hat in seiner brillanten und nicht zuletzt für die Geschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie aufschlussreichen Studie gezeigt: Knebel (2000). 15 Ioannes Duns Scotus hatte gelehrt, dass die Kontingenz, die es in der Welt offenkundig zu geben schien, nicht nur Ausdruck unserer begrenzten Erkenntnis, sondern der Sache nach begründbar ist, und zwar »a parte causalitatis Dei, quia non potest effectus aliquis contingenter provenire a causa secunda nisi prima causa in illo ordine contingenter moveat«, so in Lectura I

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nicht gewollt, sondern ein kontingentes Resultat zufälliger Prozesse, weshalb sie nicht notwendig so ist, wie sie ist. Ohne weiter auf die Gedankenspiele jenes jungen Mathematikers in Wien am Anfang des 20. Jahrhunderts einzugehen lässt sich festhalten, dass die Sterndeutung hier wiederum in jener Konstellation auftritt, in der sie im Laufe ihrer Geschichte häufig erschienen war: als eine Überzeugung, wonach das, was geschieht, der Sache nach mit einer mindestens gewissen Zwangsläufigkeit eintritt, weil es abhängt von den berechenbaren Bahnen von Himmelskörpern, die das Wetter, das Klima, ja sogar das Leben von Individuen beeinflussen. Gegen die Unsicherheit dessen, was »nur« wahrscheinlich eintritt, verheißt die Astrologie, dass alles nach einem unveränderlichen Gesetz eintritt: Certa stant omnia lege. Und sie geht davon aus, dass dieses Gesetz, nach dem die einzelnen Zustände aufeinander folgen, dem Individuum eingeprägt ist, so dass aus einer mit größtmöglicher Genauigkeit gestellten und interpretierten Genitur bereits am Anfang das Künftige abgelesen werden könnte: Finis ab origine pendet.16 Ist man etwas weniger optimistisch oder bei der Interpretation jener Verse entsprechend großzügig, wird sich zum mindesten bei der Rückschau auf das Leben zeigen, dass sich vieles sinnvoll zueinander fügte. Selbst dann, wenn man die Auffassung nicht teilte, dass die Gestirne alles bis ins Einzelne bestimmen, sondern einen lediglich allgemeinen Einfluss ausüben, der den Charakter betrifft, kam dem Horoskop die Funktion zu, den Zusammenhang zwischen einzelnen Handlungen und verschiedenen Widerfahrnissen sichtbar zu machen, also gewissermaßen markierte Punkte zu einer Kurve verbinden zu können. Mag im voraus – ebenso wenig wie bei einem Orakel – nicht erkennbar sein, was die Konfiguration der Planeten im Moment der Geburt bedeutet, so erweist die Retrospektive, dass vermeintlich rein zufällige Ereignisse und Wendungen mit der Person insgesamt etwas zu tun hatten. Sie waren nicht nur geschehen, ihr nicht nur »zugefallen«, sondern als Entwicklungen erkennbar, die in ihr selbst angelegt waren, und zwar in diesem Falle, weil sie von den Sternen verursacht worden waren. Insofern geht für denjenigen, der sich mit seiner Nativität befasst, aus ihr stets etwas hervor, und zwar auch dann, wenn der Glaube an die Macht der Sterne, wie etwa bei Goethe, vergleichsweise gering ist. Den Zusammenhang von der Macht der Sterne und der Kontingenz zu thematisieren heißt, dem Programm der Tagung entsprechend, der sich der folgende Beitrag verdankt, nicht nur, das problematische Verhältnis der Sterndeutung zur Kontingenz von Ereignissen in Augenschein zu nehmen. Es bedeutet auch, den Blick auf die selbst kontingente Geschichte zu lenken, die die Überzeugung von der Beeinflussung irdischer Prozesse durch Planeten und Fixsterne 39, 41 (1994), 102. Zur Bedeutung der »synchronen Kontingenz« vgl. ebd., 28–36; Honnefelder (2008), 179–183. 16 Beide Zitate nach Manilius: IV, 14, 16.

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aufweist. Dies wiederum nötigt zur Kombination unterschiedlicher Perspektiven. Die Betrachtung aus großer Entfernung mit geringer Auflösung lässt großflächig mögliche Alternativen und Diskontinuitäten sichtbar werden. Der damit verbundenen Gefahr, lediglich mit Abstraktionen zu operieren und hinlänglich Bekanntes zu wiederholen, kann vielleicht entgangen werden, wird sie kombiniert mit einem gelegentlichen Blick auf Details. Begonnen wird damit, den Blick auf die selbst kontingente Tatsache zu richten, dass die Verfahren der Sterndeutung im Hellenismus nicht nur praktiziert, sondern auch an Hand der Auffassungen der philosophischen Schulen reflektiert wurden (2.). Was später als »Astrologie« bezeichnet wurde, nahm gewisse Positionen zu den von diesen diskutierten Fragen der Determiniertheit von Prozessen, dem Verhältnis zwischen weitgehend unveränderlicher und veränderlicher Welt ein, aus einer Synthese von Mathematik und Ominagläubigkeit wurde ein rational abgesichertes System, das einen späteren Kritiker auf Grund seines vermeintlichen Determinismus und seiner Strenge an Spinoza erinnerte.17 Wie sich der Glaube an die Macht der Sterne an nahezu alle philosophische Schulen (mit Ausnahme des Epikureismus und der Skepsis) anschließen ließ, so konnten analoge Verbindungen zu den monotheistischen Religionen hergestellt werden: Wenigstens summarisch wird auf derartige Transformationen hingewiesen (2.1), die die Sterndeutung zu einem bis in die Gegenwart hinein präsenten Stück antiker Kultur machen. In 2.2 wird thematisiert, inwieweit eines der auffälligsten und meistdiskutierten Merkmale astrologischen Denkens, der »Determinismus«, vor allem bei Ptolemaios diskutiert wird, schließlich (3.) auf die Konzeption eingegangen, dass von der Kraft der Gestirne der Wille ausgenommen und er somit als Quelle der Kontingenz angesehen wird.

2. Astrologie im Spiegel: Selbstreflexion und Fremdkritik 2.1 Astrologie als Transformationsphänomen Die Sterndeutung in dem Sinne, wie wir sie kennen und wie sie in Europa bis ins 17. Jahrhundert praktiziert wurde,18 ist wesentlich ein Erzeugnis des Hel17 Bailly (1781), 268. 18 Leicht zugängliche Darstellungen der Geschichte der Astrologie von der Antike bis zur Renaissance sind das zuerst 1917 erschienene und 1931 tiefgreifend überarbeitete Werk von Boll/ Bezold/Gundel (1974) und Tester (1987), daneben die Aufsatzsammlung von Boll (1950); detaillierter ist das freilich in einigen Einzelheiten überholte monumentale Standardwerk von Bouché-Leclercq (1899), zur antiken Literaturgeschichte vgl. Gundel/Gundel (1966); für die Rezeption hellenistisch-antiker Astrologumena in persische, arabische, jüdische und indische Kontexte ist grundlegend Pingree (1997B). Juste (2007) hat in seiner grundlegenden Studie die Anfänge der lateinischen mittelalterlichen Astrologie untersucht, exemplarisch weiterhin

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lenismus.19 Dabei ist den griechischen und lateinischen Autoren bewusst gewesen, dass deren Wurzeln zeitlich und räumlich weit reichten und deshalb in einer bereits vergangenen Kultur, also Babylon,20 oder im seines hohen Alters

die Einzelstudien von North (1989); Klibansky/Panofsky/Saxl (1990), Zambelli (1992), Federici Vescovini (1992); für die Zeit der Renaissance sei hingewiesen auf Hübner (2005), Grafton (1999) und den von Bertozzi (2008) edierten Band. Für die astronomisch-mathematischen Grundlagen ist unverzichtbar Neugebauer (1975). Einen Eindruck von der Komplexität der Astrologie und ihrer Erforschung vermittelt paradigmatisch Hübner (2010). 19 Pingree (1997B), 21, datiert die Entstehung der »science of astrology« auf Grundlage insbesondere babylonischer Astralomina auf die Wende vom 2. zum 1. Jahrhundert v. Chr., ähnlich Neugebauer (1957), 170 f.; die Datierung basiert auf der Verwendung des Sternatlas von Hipparch. 20 Plinius, NH VII 193, gibt eine 720.000-jährige Beobachtungsgeschichte bei den Babyloniern an, bei Cicero ist eine 470.000-jährige Tradition überliefert (Div. II 97); zu »Chaldaeus« als eine der Bezeichnungen für einen Sterndeuter vgl. Baumstark (1897), 2060 f. Zu den entsprechenden Zuschreibungen in der Antike vgl. Gundel/Gundel (1966), 40–51; Rochberg (2004), 21. Frühe Zeugnisse für den babylonischen Ursprung bieten Eudoxos (bei Cicero, Div. II 87: »sic opinatur, id quod scriptum reliquit, Chaldaeis in praedictione et in notatione cuiusque vitae ex natali die minime esse credendum«) und Theophrast (bei Proklos, In Timaeum III 151,1–4 Diehl: θαυμασιωτάτην δὲ εἶναι φησιν ὁ Θεόφραστος […] τὴν τῶν Χαλδαίων […] θεωρίαν, τά τε ἄλλα προλέγουσαν καὶ τοὺς βίους ἑκάστων καὶ τοὺς θανάτους), selbst der aus Ägypten stammende Astrologe des Jahres 379 räumt, etwas widerstrebend zwar, den Primat der Babylonier ein, CCAG V/1, 204,13 f.: Βαβυλώνιοι μὲν οὖν καὶ Χαλδαῖοι σχεδὸν πρῶτοι ἐφεῦρον τὴν τῶν φαινομένων γνῶσιν. Nach gegenwärtigem Stand der Forschung lässt sich die Astrologie in Form von Astralomina bis auf das 19./18. Jh., Horoskope bis auf das 5. Jh. a. Chr. n. zurückführen, vgl. Pingree (1997B), 12 f.; Rochberg (1999), 39 f. Zur Forschungsgeschichte vgl. Rochberg (2004), 14–43, Swerdlow (1999), 3–11; Maul (2011).

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wegen berühmten Ägypten21 zu suchen waren.22 Dass die Astrologie in einem eminenten Sinne alt und nicht allein nicht griechischer, sondern überhaupt fremder Herkunft ist,23 dürfte ein Moment ihres dauerhaften Faszinosums und damit ihrer Geschichte ausmachen. Was fasziniert, ist zweideutig. Ihre Ambivalenz hat die Astrologie nie ganz verloren, auch wenn sich die Parameter, an denen sie bestimmt wurde, änderten. Sie ist mindestens im europäischen Rahmen nie so etabliert gewesen, dass sie nicht von scharfer Kritik begleitet worden wäre. Offenbar gilt auch das Umgekehrte: Die immer wieder dargelegte physikalische Abwegigkeit ihrer grundlegenden Annahme, Planeten und Fixsterne besäßen einen »Einfluss« auf Klima und Witterung, auf das Wachstum

21 Die fantastischen Altersbestimmungen der ägyptischen Astronomie ähnelt denen Babylons; ägyptische Astrologumena sind mit historisch nicht oder kaum identifizierbaren Figuren wie Petosiris, Nechepso und vor allem mit »Hermes« verbunden: Firmicus bspw. führt am Anfang des 3. Buches das »Horoskop der Welt« (thema mundi) über Nechepso und Petosiris, Aesculap und Anubis bis auf Hermes zurück (1897 I), 91 f.; über die zahlreichen astrologischen Hermetica Gundel/Gundel (1966), 10–27. Mindestens die Überlieferung erweist sich als schlecht, vgl. Cumont (1937), 17 f.: »Les œuvres des écrivains de l’âge hellénistique ont péri presque tout entières: de Pétosiris et Néchepso, de leur successeurs grecs, antérieurs à l’Empire, les Sérapion, les Timée, les Critodème, nous n’avons que des fragments épars. La première œuvre traitant de la divination astrale qui nous soit parvenue est […] les Astronomiques de Manilius.« Neugebauer ((1983), 40 f.) hat die Existenz einer ägyptischen Astrologie vor dem Ende des 1. Jahrhunderts a. Chr. n. überhaupt in Zweifel gezogen. Die Annahme, die hellenistische Astrologie sei anfangs stark aus Ägypten beeinflusst worden, darf als überholt gelten. – Laut Seneca (QN VII 56) hat Eudoxos Kenntnisse über die Planetenbewegungen aus Ägypten nach Griechenland gebracht, auf entsprechende Beobachtungen aus Ägypten wiesen auch der Autor der Epinomis (987a) und Aristoteles (DC II 12, 292a7 f.) hin; »ewige Tafeln« (αἰώνιοι κανόνες) der Planetenpositionen, die von Ägyptern einst berechnet worden seien, sind in einem Horoskop erwähnt, das auf den 31. März 81 n. Chr. gestellt ist, vgl. Neugebauer/van Hoesen (1959), 21,12f; zur Kritik des Ptolemaios an deren mangelnder Genauigkeit vgl. ebd., 24. Charakteristisch für die ägyptische Astrologie ist freilich die Verbindung zur Medizin, auf die sich Ptolemaios (Apot. I 3, 18, (1998), 21,358 f.), Hephaistion (1973 I), 3,6–10, der Anonymus des Jahres 379 (CCAG V/1, 209,8–15), u. a. beziehen; vgl. auch CCAG VII, 232–236, Riess (1892), 65–67; Bouché-Leclercq (1899), 517–521; Gundel (1936b), 262–287. Darauf wird hier nicht eingegangen. 22 Cicero, Div. I 2, deutlicher noch Dorotheus (1976) I prooem. 4, V 1,3 (S. 161, 262) nennen aus Babylon und Ägypten stammende Experten parallel. So noch in Picos Abriss der Astrologiegeschichte (1557), 719–723. 23 Vgl. z. B. auch Manilius I, 6: Der Dichter kündigt an, »Heiligtümer aus fremden Ländern« herbeizubringen: hospita sacra ferens. – Auf eine seltenere »exotische« Ursprungskonstruktion sei an dieser Stelle hingewiesen: Auf die Äthiopier, von wo sie zu den Ägyptern, Libyern, Babyloniern gelangt sei, wird sie in der hinsichtlich der Bestimmung ihrer Intention und folglich ihrer Authentizität umstrittenen Schrift De astrologia des Lukian zurückgeführt, vgl. dazu Berdozzo (2011), 163–183; Übersetzung durch Erasmus v. Rotterdam in Lukianos (1543), 166r–168r. Allerdings ist nicht zwingend, dass damit exklusiv der divinatorische Zweig der Himmelskunde gemeint ist. Der bei Lukian geäußerte Gedanke, dass auf Grund der idealen Beobachtungsbedingungen bei geographischer Breite φ=0° (»sphaera recta«), weshalb die Tagebögen der Sterne den Horizont senkrecht schneiden und sämtlich an einem Tag zu sehen sind, die Astronomie von den Äthiopiern stamme (166v), begegnet wieder im Zusammenhang der Deutungen der stella nova Cassiopeae der Jahre 1572–73 bei Guillaume Postel ((1573), B1v–2r) und Tycho Brahe ((1913 II), 313 f.).

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von Mineralien und Lebewesen, ja sogar auf vom Menschen gestaltete Prozesse,24 hat nicht zu ihrem Verschwinden geführt. Wohl niemand wird heute die Phlogistontheorie verteidigen, an der Lehre von der rotierenden Fixsternsphäre festhalten oder meinen, mindestens primitive Tiere entstünden spontan aus unorganischer Materie. Hingegen findet die Astrologie neben – vermeintlich oder wirklich – gläubigen Anhängern auch solche, die mit guten Gründen auf die spezifische Bedeutsamkeit, ja in gewisser Weise auf ein Wahrheitsmoment aufmerksam machen, was sie von widerlegten Auffassungen und von bloßem Aberglauben unterscheidet. Damit soll keine Konstante konstruiert werden, als ob die Empfindung für eine jenseits von Behauptungen liegende Bedeutsamkeit, die Ernst Jünger mit der vergleicht, die Musizieren oder ein anspruchsvolles Spiel gewähren, stets das gewesen sei, was Astrologen eigentlich hatten sagen wollen.25 Vielmehr lässt sich zeigen, dass derartige Argumente voraussetzen, dass die Astrologie als das überkommene Interpretationssystem menschlichen »Schicksals«, das auf einer physischen Beeinflussung durch weit entfernte Himmelskörper beruhte, nicht mehr ohne weiteres akzeptabel erscheint. Man kann das verdeutlichen, indem man Jüngers Analogie zwischen der Astrologie und dem Schachspiel mit einer ähnlich angelegten bei Vettius Valens vergleicht,26 die er sogar gekannt haben könnte, was freilich nicht wahrscheinlich und an dieser Stelle nicht entscheidend ist.27 Der kaiserzeitliche Astrologe hatte am Anfang des 6. Buches seiner Anthologiae eine Methode erläutert, die es ermöglicht, mit 24 Vgl. den grundlegenden Aufsatz zur Geschichte des influxus caelestis von North (1989), 243– 298. 25 Jünger (1981); die hier vorgebrachten Gedanken dürften zum Besten zählen, was in jüngerer Zeit über die Astrologie geäußert worden ist; vgl. auch Hübner (1993), der sich nicht nur der Persistenz astrologischer Strukturen auf dem Gebiet der astronomischen Nomenklatur widmet, sondern unter Hinweis auf Michel Butor auch auf die »enorme Poetizität« aufmerksam macht (bes. 119, 123); ders. (2001), 839, 843 f. 26 Gundel/Gundel (1966), 216–221; Vettius Valens hat als Astrologe einen schlechten Ruf, vgl. Cumont, (1937), 18; dagegen Riley (1996); Hübner (2002); die hier verwendete Edition: Vettius Valens (1986). Von Riley stammt eine Übersetzung des kompletten Werkes, die das Verständnis des schwierigen Autors erleichtert: www.csus.edu/indiv/r/rileymt/Vettius%20Valens%20entire.pdf. 27 Gekannt haben dürfte Jünger aber Pfaffs nostalgische Betrachtung der Astrologie (1816). Wie Pfaff ist Jünger der Auffassung, dass die Astrologie im Gegensatz zu einer nur quantitativen Naturwissenschaft etwa nach Art der Himmelsmechanik steht. Auf Grund seiner Abneigung gegen die Reduktion auf die quantitativ erfassbare Dimension der Wirklichkeit sprach sich Pfaff auch gegen die Analogie zwischen Spiel und Astrologie aus (1816), 27: »Es ist eine moderne Wendung, dem astrologischen Glauben seinen Grund in der Liebe der Menschen oder der Lust zum Spiel anzuweisen: und seine lange Herrschaft aus den Gesezen der Wahrscheinlichkeit zu erklären, in dem die unendliche Menge von Fällen welche in der Stellung des Himmels eintritt, unerschöpflich ist. Solches ist Ansicht der blosen Arithmetischen Beurtheilung.« Jünger hebt zwar die enormen Kombinationsmöglichkeiten hervor, sein Begriff des Spiels nimmt in diesem Zusammenhang die Vorbehalte gegen die rein ›Arithmetische Beurtheilung‹ auf. Zu Pfaff als Astrologen vgl. Oestmann (2005).

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Hilfe der Bewegungen der Planeten, die in der »Momentaufnahme« des Horoskops ja praktisch ausgeblendet sind, astrologisch aufschlussreiche Beziehungen herzustellen, indem bestimmt wird, wann ein schnell laufender Planet den Ort eines anderen erreicht, den dieser zu dem Zeitpunkt innehatte, auf den sich das Horoskop bezieht, oder, da das Erreichen dieses Ortes gleichbedeutend mit dem astrologischen Aspekt der »Konjunktion« ist, zu ihm in einem anderen Aspekt steht. Es liegt auf der Hand, dass dies erstens gestattet, Planeten stets in jene Beziehungen der Aspekte zu setzen, in denen sie faktisch zum Zeitpunkt der Horoskopie nicht immer stehen. Zweitens ließen sich Beziehungen zwischen den einzelnen Planeten insofern herstellen, als im Verlauf der Zeit Planeten diejenigen Stellen einnehmen, die andere zu dem Zeitpunkt innegehabt hatten, auf den sich die Genitur bezog. Auf diese Weise entstand ein flexibles und komplexes Deutungsschema, das vor allem in die Lage versetzte, bereits geringe zeitliche Differenzen bei identischer geographischer Positionierung – wie im Fall von Zwillingsgeburten – prognostisch auszuwerten. Es ermöglichte, die recht begrenzte Anzahl von Eingangsgrößen (Planeten in bestimmten Positionen) auf eine große Anzahl unterschiedlicher menschlicher Individuen mit ihren divergenten Vorlieben und Lebensvollzügen zu beziehen, und gerade dies war es, was Valens dieses Schema mit dem nicht genannten Brettspiel vergleichen ließ, das sich als der »latrunculorum ludus« identifizieren lässt.28 An dieser Stelle interessiert nur, dass er am Spiel weniger die Geschicklichkeit der Spieler als die Wendigkeit des »Schicksals« in den Blick nahm, die sich analog zu den sich rasch bewegenden Planeten in den Spielverläufen manifestierte. Nach einer unter Umständen durchaus überraschungsreichen Partie wurde der eine Sieger, während der andere sich als Verlierer wiederfand. Das Modell des Menschen waren die Spielsteine, die einen gegnerischen Stein einkreisen und auf diese Weise fangen, oder eben von anderen umzingelt werden, den Gestirnen und ihrem Einfluss hingegen entsprachen die Spieler, die nach Regeln ziehen. Für Jünger hingegen, dessen zum Vergleich mit der Astrologie herangezogenes Spiel das Schach ist, waren es zwar auch die Figuren, die sich gemäß bestimmten Regeln auf dem Feld bewegen, die verdeutlichen, dass dem Menschen etwas »zugeteilt« ist. Aber, und das macht den Unterschied aus, Schach zu spielen bedeute nicht primär, zu gewinnen oder zu verlieren, also ein bestimmtes Resultat zu erzielen, sondern eine Tätigkeit auszuüben. Was so betrachtet das Schachspielen und die Beschäftigung mit der Sterndeutung gemeinsam haben, ist nicht, dass in beiden Fällen eine Lektion über Aufstieg und Fall oder das Ausgeliefertsein an höhere Mächte erteilt werden würde, sondern die Konzentration auf etwas, das wie eine »Praxis« ihren Sinn in sich selbst trägt. Denn man spielt, so Jünger, Schach nicht mit einem Zweck, und auch der Reiz der Astrologie besteht nicht darin, mit ihr etwas zu erreichen, also mit ih28 So W. Kroll in seiner Edition (245,34); Valens spricht von ἡ διὰ λευκῶν καὶ μελαινῶν μαρτυρία, (1986), 235,16 f.; vgl. zum Spiel selbst Schneider (1924).

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rer Hilfe verlässliche Prognosen aufzustellen, sondern in beiden Fällen handelt es sich um Übungen, die den Geist anregen, unter Umständen auch den Blick für Eigenschaften schärfen, die einem sonst entgehen würden. Dass Schach in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Veranschaulichung der Bedeutsamkeit der Astrologie herangezogen wird, wirft ein Licht auf das Verständnis der Sterndeutung, das sich gegenüber dem, was Valens von ihr hatte, unübersehbar unterscheidet. Denn weil Schach sehr wenig vom glücklichen oder unglücklichen Zufall, vielmehr vom Können der Spieler abhängig ist, ist es ungeeignet, die Prämisse der traditionellen Astrologie von der Beeinflussung des Irdischen, namentlich des menschlichen Schicksals, zu illustrieren. Es ist der Spieler selbst, in dessen Hand das Geschehen liegt, da ein Zufallsgenerator bspw. in Form von Würfeln fehlt. Sollte jene Prämisse an einem Spiel zur Geltung gebracht werden, so bot sich neben dem von Valens erwähnten latrunculorum ludus das »Nerdiludium« (‫ النرد‬an-nerd) an,29 die mittelalterliche Form des Backgammon. In seiner gelehrten Abhandlung zur Geschichte dieses Spiels hat Thomas Hyde (1636–1703) verschiedene Autoren angeführt, die es unter diesem Gesichtspunkt mit dem Schach verglichen hatten. Als besonders prägnant erweist sich unter ihnen die von Ibn Ḫallikān (1211–1282) wiederum berichtete Meinung,30 dass Nerd insoweit dem Schach überlegen sei, als es die göttliche Lenkung des Geschehens deutlicher zum Ausdruck bringe. Dies jedenfalls, sofern man von ihr keine mu‛tazilitischen Auffassungen hege: Schach entsprach offenbar der rationalistischen Theologie, die die Willensfreiheit des Menschen postulierte, während der vom Fall der Würfel abhängige Ausgang eines Spiels die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber dem Schöpfer vor Augen stellte und somit die theologisch auf die Dauer erfolgreichere aš‛aritische Richtung illustrierte. Wie bei Valens diente der Spielstein dann als Modell des menschlichen Individuums, das sich nicht selbst in Bewegung setzt, sondern bewegt wird. Aber, und darin liegt der Unterschied zu dem paganen Autor des zweiten Jahrhunderts, abhängig war der Mensch nun nicht mehr von den Gestirnen. Der pädagogische Wert des Nerd bestand deshalb auch nicht darin, sich ein wechselvolles Schicksal zu vergegenwärtigen, sondern mit Hilfe der Würfel die Aufmerksamkeit auf die Bestimmung jeden Ereignisses durch Gott zu richten.31 29 Der persische Name wird bei Hyde (1694), 24, von der zylindrischen Form der Spielsteine abgeleitet, die an einen Baumstumpf erinnert: »huic ludo primarium et originale nomen impositum est ‫ نرد‬Nerd, id est truncus arboris et trunculus quivis ligneus forma truncata; heic forte altitudinis sesquiuncialis prout apud Chineses hodie usurpantur.« 30 Hyde (1694), 52–54, zitiert aus AlSephadi [aṣ-Ṣafadī], »Commentarii ad Togrâi Lamîyato'l Agjam« [aṭ-Ṭuġrā’ī, Lāmiyat al-‛Ağam], der Ibn Ḫallikān zitiert. Zu den beiden Gelehrten aṣṢafadī (1297–1363) und Ibn Ḫallikān vgl. Rosenthal (1995) und Fück (1971). 31 Hyde (1694), 54: »Narravit mihi quidam fide dignus, Sheich Takjoddîn Ahmed Ibn Temîma [Taqī ad-Dīn Aḥmad Ibn Temīma] dixisse, ludum AlNerd praestantiorem esse ludo AlShatrangi, quod illo ludens agnoscat praedeterminationem et decretum divinum, at ludens AlShâtran-

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Die drei Spiele und ihre erwähnten Interpretationen zeigen drei verschiedene Möglichkeiten, die Astrologie zu reflektieren, ohne dass sie dabei bereits Gegenstand der Kritik werden würde. Sie kann verstanden werden als ein System, das zur Geltung bringt, dass der Mensch bei seinen Handlungen und in seinem Ergehen zu einem beträchtlichen Teil fremdgesteuert ist. Diese dem Individuum äußerliche Steuerung kann astraler oder göttlicher Art sein, wobei die Alternative nicht ausschließend sein muss. Wird das Geschehen durch Mächte oder Kräfte gelenkt, die von der Person, die plant und handelt, unabhängig sind, so erscheint dies zunächst als zufällig, ohne deshalb an sich zufällig zu sein. Der Würfel als Zufallsgenerator muss keineswegs und wird in den angeführten Beispielen auch nicht als Produzent indeterminierter Ereignisse verstanden, sondern fungiert als Vorrichtung, mit der sich lediglich epistemisch unbestimmbare Ausgänge modellieren lassen. Dies erweist sich als nützlich insbesondere dort, wo die göttliche Urheberschaft von Zuständen hervorgehoben werden soll. Da die astrologische Prognose im Gegensatz zu beispielsweise der erwähnten aš‛aritischen Position die Erweiterung der Kenntnisse über eine weitgehend unbekannte Zukunft anstrebt, beansprucht sie durch eine besonders sorgfältige und eine Vielzahl von Parametern berücksichtigende Auswertung einer bestimmten Situation, die vor allem der Moment der Geburt oder der Empfängnis ist, Einblick in die Zukunft zu erlangen.32 Dabei ist vorausgesetzt, dass die Gestirne in dem relevanten Moment das Indigi ea neget, quod proprius accedit ad Al-Mu’tazalos«. Deshalb illustriert das mittelalterliche Backgammon, anders als Schach, was ihnen gegenüber als theologische Orthodoxie gilt, die »via AlAshariorum«. Zur aš‛aritischen Konzeption von Willensfreiheit und der Ursächlichkeit Gottes im Gegensatz zur mu‛tazilitischen vgl. Nagel (1994), 136–164. Die arabische Bezeichnung aš-šaṭranǧ ist Fremdwort aus dem Sanskrit (caturaṅga), das sich bezieht auf die vier Abteilungen des das Königspaar verteidigenden Heeres, die wir als Bauern, Türme, Läufer und Springer bezeichnen; vgl. Jones (1792), 346 f. – Die Affinität von Nerd zur Astrologie lässt sich an Hand des Spielbrettes aufweisen, das in 12 dreieckige Felder aufgeteilt ist, die den Monaten oder auch den 12 Tierkreiszeichen entsprechen; die Augenzahl der gegenüberliegenden Seiten der Würfel, die die Funktion von Bewegern haben, beträgt analog zu den sieben Planetensphären sieben. Zu diesen und weiteren Analogien bei den muslimischen Autoren vgl. Hyde 53–56. 32 Vgl. die Argumentation, die Ptolemaios in Apot. I 2, 10 f., (1998), 8,126–9,145) entwickelte: Ihr zufolge ist es bei sorgfältiger Betrachtung der Planetenstände zunächst möglich, aus den Qualitäten der Planeten und deren spezifischer Mischung (ἡ σύγκρασις πάντων) zu einem bestimmten raumzeitlichen Punkt zunächst die allgemeinen klimatischen und die speziellen Witterungsverhältnisse festzustellen, unter denen ein Individuum zur Welt kommt, dann aber auch die Qualitäten eines Individuums aus denselben Parametern abzuleiten, die seinen Körper und seine Seele beeinflussen (δύνασθαι δὲ καὶ καθ’ ἕνα ἕκαστον τῶν ἀνθρώπων τήν τε καθ’ ὅλου ποιότητα τῆς ἰδιοσυγκασίας ἀπὸ τοῦ κατὰ τὴν σύστασιν περιέχοντος συνιδεῖν (οἷoν ὅτι τὸ μὲν σῶμα τοιόσδε, τὴν δὲ ψυχὴν τοιόσδε). Diese Temperierung (ἡ τοιάδε σύγκρασις) des Individuums disponiert zu einem bestimmten Lebensvollzug, der hier lediglich in gelungenen (πρὸς εὐεξίαν) und misslungenen (πρὸς κάκωσιν) differenziert wird. Cardano macht in seinem Kommentar zu Recht darauf aufmerksam, dass das, was auf diesem Wege an Wissen über den Lebensvollzug eines Individuums erlangt wird, nicht einzelne Handlungen, sondern nur etwas Allgemeineres sein kann, was sich eben als die Dispositionen eines Menschen bezeichnen lässt (1663 V), 102a–104b. Wie Ptolemaios selbst distanziert sich Cardano von überzogenen Erwar-

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viduum mit bestimmten Eigenschaften ausstatten. Es ergibt sich dann die als beruhigend empfundene – oder eben auch als der vernünftigen Natur des Menschen widersprechende – Einsicht, dass Planung und Abwägung von Handlungen immer schon wenigstens mitbestimmt sind von der weit zurückreichenden Prägung, so dass in bestimmten Situationen nicht anders als auf eine in der Natur des Individuums angelegte Weise gehandelt werden kann. An diesem Punkt nun konvergieren – und konkurrieren – offensichtlich natürliche und letztlich übernatürliche Determination des menschlichen Handelns, worauf unten kurz eingegangen werden wird. Wird in beiden erwähnten Varianten der Mensch als das bevorzugte, freilich nicht ausschließliche Objekt sterndeutender Aufmerksamkeit im Modell als ein willenloser Spielstein dargestellt, auf den in der realen Welt, sieht man diese mit den Augen des Astrologen, bestimmte himmlische Kräfte wirken, so zeigt sich der prinzipielle Unterschied zu Jüngers Analogie zwischen Astrologie und Schach. Denn in diesem Fall stehen diejenigen im Blick, die eine Tätigkeit betreiben, also lediglich den Spielregeln »unterworfen« sind. Darüber hinaus handelt es sich um ein Spiel nicht nur in dem Wittgenstein’schen Sinne des regelgeleiteten Verfahrens, sondern um eine Tätigkeit, deren Sinn sich gerade darin erweist, dass sie eine auch epistemisch zweckfreie Beschäftigung ist. Deshalb wird von der Astrologie nicht mehr erwartet, dass sie Aussagen über die reale Welt in dem Sinne ermöglicht, dass sie aus der Konstellation zum Zeitpunkt der Geburt den Charakter eines Individuums zu erschließen gestattete. Aus dem Instrument der Prognose ist eine spielerische geistige Übung geworden.33 Indem die Suche nach Ominösem aufgegeben werde, schärfe sie den Blick für das Numinose der Welt.34 Hans Blumenberg hat einmal geäußert, der Copernicanismus habe nicht so sehr über als durch seine Gegner triumphiert. Etwas Ähnliches gilt zweifellos von der Astrologie. Zwar hat sie nicht, wie das durch Kepler von Grund auf transformierte heliostatische System des Nicolaus Copernicus über die Kosmologie des Aristoteles und die kinematische Rekonstruktion der Planetenbewegungen auf geostatischer Grundlage durch Klaudios Ptolemaios gesiegt hatte, über beispielsweise die Himmelsmechanik Newtons triumphiert. Vertungen an die Sterndeutung und von all zu speziellen Ansagen, die sehr häufig fehlgehen. Dies wird insbesondere bei der Behandlung der Individualastrologie in Buch III unterstrichen. 33 Jünger (1981), 416: »Über die Realität der Astrologie soll kein Urteil gewagt werden. Der Streit um das, was wirklich an ihr ist, wird aufschlußreicher, wenn man sich nicht an ihm beteiligt – wird er doch auf einem Felde geführt, auf dem zwei Arten der Weltbetrachtung schroff aneinanderstoßen wie auf keinem anderen. Das gibt uns eine Ahnung von der Vollkommenheit des umstrittenen Gegenstandes, der unsichtbaren Welt. Es wird für den Menschen ewig müßig bleiben, über das zu streiten, was in den Sternen geschrieben steht. Unbestreitbar jedoch bleibt ihr Bedürfnis nach Schicksalserforschung, das unausrottbar ist und durch kein Wissen befriedigt werden kann.« 34 Vgl. Jünger (1981), 410.

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standen als eine wissenschaftliche Theorie ist sie nie als Sieger aus irgendeinem Wettstreit alternativer Konzeptionen hervorgegangen. Wenn man deshalb von einem historischen Triumph der Sterndeutung spricht, so bezieht sich das auf ihre erstaunliche und von ihren zahlreichen Gegnern mit spürbarer Verärgerung konstatierte, von ihren Historikern mindestens als bemerkenswert empfundene Anpassungsfähigkeit.35 Das betraf in der Antike zunächst die Hybridisierung mit kosmologischen Annahmen der aristotelischen Philosophie, die Rekonstruktion des stellaren Einflusses (τὸ ἀποτέλεσμα) als eines semiotischen Zusammenhanges, der zufolge die Sterne nicht »bewirken«, sondern lediglich »anzeigen«, in neuplatonische und von ihm wiederum beeinflusste christliche Kontexte,36 Assimilationen an theologische Auffassungen in Judentum, Christentum und Islam. Erschien sie Moses Maimonides, Savonarola und Pico della Mirandola als Inbegriff des Heidentums, Augustinus oder Nicolas Oresme als Aberglaube, stand sie spätestens seit dem 18. Jahrhundert als abergläubische Götterfurcht vor Augen, nunmehr aber in Abgrenzung gegenüber der Physik Newtons und Laplaces. Das Unbehagen über den Verlust an einer holistischen Betrachtung des Kosmos auf Grund des Siegeszuges der Mechanik ließ seit Herder zuweilen Erwartungen an eine erneuerte Astrologie wach werden, die einer Restauration des Gedankens kosmischer Sympathie gleichkam.37 Die Geschichte der Astrologie im Abendland, die nur einen (uns zu-

35 Vgl. Bouché-Leclercq (1899), V–VI; darauf nimmt die Formulierung Festugières Bezug, die für die Haltung zur Astrologie als weitgehend repräsentativ angesehen werden kann (1950), 89: »l’astrologie hellénistique est l’amalgame d’une doctrine philosophie séduisante, d’une mythologie absurde et de méthodes savantes employées à contre-temps«. Die lange Dauer dieser stets unzeitgemäß erscheinenden séduction heben auf je unterschiedliche Weise hervor Warburg (1979), 201–204; Boll (1950), 5 f.; vgl. dazu Hübner (1993), 108 f. 36 Vgl. Plotin II 3, 1 und 7; Origenes bei Eusebios Praep. evang. VI 11,54: τοὺς ἄστερες μηδαμῶς εἶναι ποιητικοὺς τῶν ἐν ἀνθρώποις, σημαντικοὺς δὲ μόνον, welche Auffassung für die byzantinische Orthodoxie akzeptabel erscheint, wie die Expositio fidei des Ioannes Damaskenos, aber auch der Traktat des – hinsichtlich seiner Orthodoxie freilich angegriffenen – Kaisers Manuel Komnenos († 1180) (CCAG V/1, 106–125, bes. 112,22–27) zeigen; vgl. Bouché-Leclercq (1899), 614 FN 2. Die Auffassung, dass die Erkenntnis von Zeichen nicht die einer notwendigen Ereignisfolge ermögliche, geht wohl auf Karneades zurück und bietet sich deshalb zur Verteidigung der Astrologie an; vgl. Cicero, De fato 32; Div. I 127. 37 Der Einfluss von Sonne und Mond auf die Erdbahn und das Klima führe zu der Einsicht, dass die Erde ein Teil des kosmischen Organismus ist, woraus Herder folgert (1877/XIII), 32: »Werden einst all diese Bemerkungen und ihre Resultate auf die Veränderungen unserer Luftkugel angewandt werden, wie sie bei der Ebbe und Fluth schon angewandt sind: wird ein vieljähriger Fleiß an verschiednen Orten der Erde, mit der Hülfe zarter Werkzeuge, die zum Theil schon erfunden sind, fortfahren, die Revolutionen dieses himmlischen Meeres nach Zeiten und Lagen zu ordnen und zu einem Ganzen zu bilden, so wird, dünkt mich, die Astrologie aufs neue in der ruhmwürdigsten nützlichsten Gestalt unter unsern Wissenschaften erscheinen.« Der Ton, den Herder in den »Ideen zur Geschichte der Menschheit« anschlägt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einsichten selbst mit denen der Physik Newtons vereinbar sind. Vgl. bspw. die bei Garin ((1982), 8) zitierten Verse des Wittenberger Philosophen Georg Bose von 1756: »Actio per distans dabitur? […] Gaude Melanchton, redeunt horoscopus, Haly, / Almutec […]«.

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meist bekannteren) Strang ihrer Entwicklung betrifft,38 erweist sich deshalb als ein vielgestaltiger Transformationsprozess, in dem unterschiedliche Arten von Distanzierung und Appropriation, Rekombination und Exklusion anzutreffen sind.39 Das Konzept der Transformation lässt, da es nicht nur unterschiedliche Formen von Aneignung, sondern auch Exklusion, Negation und Ignorierung als Weisen der Bezugnahme zu Überlieferungen zu erfassen gestattet, auch Formen gewissermaßen prekärer Präsenz astrologischer Gedanken erfassen. Diese reichen von Versuchen, sie durch detaillierte historische Darstellung endgültig zu destruieren, wie dies bspw. Claude Saumaise in seiner monumentalen De annis climatericis diatribae unternommen hat, bis hin zur fast vollständigen Ausblendung ihrer Existenz.40 Ihr folgte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein erneutes, vor allem von Seiten der Altorientalistik, der klassischen Philologie und der Kunstwissenschaft getragenes Interesse an dem historischen Phänomen der Sterndeutung, das sich nicht nur in großen Editionsprojekten und einer Fülle von Studien manifestierte, sondern zum Teil auch appropriative Einstellungen erneuerte, wie sie in der frühen Neuzeit entwickelt worden waren.41 Sie bezogen sich nun insbesondere auf eine altbabylonische Sternkunde, der nicht nur ein sehr hohes Alter zugeschrieben wurde, sondern von der auch angenommen wurde, sie sei der gemeinsame Ursprung aller späteren wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklungen, die den eurasischen Kulturraum bis hin zu literarischen Motiven geprägt habe.42 38 Auch dieser Strang ist nicht von der Geschichte zu trennen, die sich in arabischen, mittelpersischen, hebräischen und indischen Texten vollzieht. Das hat Pingree, einer der profundesten Kenner der Astrologiegeschichte, polemisch hervorgehoben (1990), 230. An der sachlichen Berechtigung seines Anspruches an die philologischen und mathematischen Kenntnisse, die zum Verständnis der äußerst komplexen Astrologiegeschichte erforderlich sind, kann kein Zweifel bestehen – weshalb Vf. sich darüber klar ist, in wie geringem Maße er ihm gerecht wird. 39 In der Historiographie der Wissenschaft ist der kreative Charakter von »Rezeptionen« (bspw. der griechischen Astronomie in arabische Kontexte) vor allem mit dem programmatischen Aufsatz von Sabra (1987) verbunden, der sie als »appropriation« und »naturalisation« beschrieb; seine Bedeutung für die Historiographie hebt insbes. Barker (1996), 551, hervor. Zur weiteren Differenzierung der Topik von Tradition und Rezeption im Rahmen des SFB, auf die hier Bezug genommen wird, vgl. Bergemann et al. (2011), 48–54. 40 In Delambre (1817) fehlt, von einigen Bemerkungen etwa zu Ptolemaios’ Apotelesmatica (Band II, 543 f.) abgesehen, astrologische Literatur völlig, und aus den knappen Notizen lässt sich entnehmen, dass für den großen Astronomen die Sterndeutung keinerlei Bedeutung besaß – auch nicht als Gegenstand von Polemik. Die wandte er gegen Ptolemaios als Astronomen. 41 Astrologie als eine Menge von Überzeugungen, die sich unterhalb der Ebene befindet, auf der Religionen und Philosophien gegeneinander differenziert sind, die deshalb ursprüngliche und allen Völkern gemeinsame Auffassungen von Gott und seinem Wirken enthält, thematisiert Vf. in (i. Vorb.). Kirchers »Rekonstruktion« der ägyptischen Astrologie und deren Verbreitung gehört neben Saumaise (1648) zu den wichtigen Quellen von Dupuis’ ab 1795 erschienenen Untersuchungen zu einer ursprünglichen und menschheitlichen Astralreligion. 42 Klassische Werke, die dem »Panbabylonismus« zugerechnet werden oder ihm nahestehen, sind Jensen (1890), Weidner (1915), Jensen (1906), Jeremias (1929); Astronomisch-Astrologisches hat dabei nicht immer, wie etwa bei Jensen (1906), die konstitutive Funktion, ist allerdings von Bedeutung. In den historischen Kontext, in dem der Panbabylonismus entstand, ohne des-

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Es soll an dieser Stelle nicht der vergebliche Versuch gemacht werden, von diesen Transformationen auch nur in groben Zügen ein Bild zu entwerfen, der letztlich nur auf eine unzulängliche Astrologiegeschichte hinausliefe. Was als Anpassungsfähigkeit der Astrologie, ja geradezu als der Triumph durch ihre Gegner bezeichnet wurde, beruht u. a. darauf, dass sie in bestimmtem Maße durch kritische Einwände überhaupt ein bestimmtes wissenschaftliches bzw. philosophisches Profil gewann. Nicht nur die babylonischen Texte, sondern auch die griechischen Horoskope und selbst antike Standardwerke wie das in der Mitte des ersten Jahrhunderts entstandene einflussreiche Lehrgedicht des Dorotheos von Sidon,43 die bereits erwähnten Anthologiae des Vettius Valens, Firmicus’ Mathesis, entstanden um 380, bis hin zum Handbuch des Rhetorios,44 verfasst am Beginn des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, verwenden, wenn überhaupt, sehr wenig Platz auf die Diskussion naturphilosophischer Prämissen oder gar philosophischer Implikationen. Es handelt sich vielmehr um eine Kunst, die auf der Basis von Erfahrungswerten und anspruchsvollen astronomischen Verfahren praktiziert wird – eine Kunst, die sich versteht, aber nicht expliziert werden muss.45 Ptolemaios’ Apotelesmatica (bzw. Tetrabiblos),46 die insbesondere in den ersten drei Kapiteln des ersten Buches die Reichweite dessen bestimmen, was für ein Wissen mit Hilfe der Positionen von Planeten über Zustände im sublunaren Bereich überhaupt erlangt werden

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sen bspw. politischen und religiösen Intentionen zu teilen, gehören auch das bereits erwähnte Interesse klassischer Philologen an Astrologumena und die von Warburg durchgeführten und angeregten Studien zur Astrologiegeschichte, u. a. sei verwiesen auf Warburg (1979), 173–304; Gundel (1936a), (1936b), Klibansky/Panofsky/Saxl (1990). Edition der evtl. von Māšā’allāh aus dem Mittelpersischen angefertigten arabischen Übersetzung und einer englischen Übersetzung sowie griechischer Fragmente durch Pingree (Dorotheus Sidonius (1976)); die Übersetzung des arabischen Textes ist auch separat erschienen: Dorotheus Sidonius (2005); vgl. Sezgin (1979), 32–38; zur Rezeption griechischer Astrologumena im Sassanidenreich und deren Aneignung in der arabischen Astrologie: Pingree (1997a), (1997b), 39–62, (1999). Der griechische Text ist in Teilen in den Bänden I, V/4, VII, VIII/1, VIII/4 des CCAG erschienen; allgemein zugänglich ist das, was von dem Werk überliefert ist, in einer englischen Übersetzung: Rhetorius (2009); eine (Vf. zum Zeitpunkt der Abfassung noch unzugängliche) Edition von Pingree und Heilen ist 2013 erschienen. Das von Neugebauer/van Hoesen (1959) präsentierte Material beschränkt sich auf die Darlegung astronomischer Fakten und überlässt selbst prognostische Schlüsse zu ziehen dem Leser bzw. mündlicher Mitteilung. Vorzügliche Edition mit ausführlichen Angaben zur Überlieferungsgeschichte und mit Nachweisen von Similia: Ptolemaios (1998); zitiert wird so, dass vor der Seiten- und Zeilenzählung dieser Ausgabe die Buch-, Kapitel- und Abschnittszahl angegeben werden, so dass auch die Edition von Boll/Boer verwendet werden kann; die verbreitete zweisprachige und knapp kommentierte Ausgabe von Robbins (11940) weist keine Abschnittszählung, aber weitgehend dieselbe Kapiteleinteilung auf. Zu Übersetzungen der Apot. und Ptolemaios zugeschriebenen Schriften vgl. auch Sezgin (1979), 41–48.

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kann und inwieweit derartige Untersuchungen sinnvoll sind, stellen in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar.47 Wie ein Jahrhundert zuvor Manilius näherte der Astronom aus Alexandria die Astrologie explizit der Philosophie an, und zwar derjenigen der Stoa; wie Boll überzeugend gezeigt hat, ist es insbesondere die wiederum platonische und aristotelische Elemente aufnehmende Philosophie des Poseidonios, mit der sie den Gedanken von »Kosmos und Sympathie« teilt. Der Kosmos, in dem die These vom Einfluss der Gestirne allererst philosophisch plausibel wird, ist ein solcher, in dem alle seine Bestandteile miteinander verbunden sind.48 Das bedeutet freilich nicht, dass die Astrologie in der Stoa gewissermaßen die ihr entsprechende Philosophie oder diese in der Sterndeutung ihr naturphilosophisches Fundament gefunden habe. Es waren die astrologiekritischen Ausführungen des Stoikers Panaitios, auf die sich Cicero in De divinatione stützte und auf die Ptolemaios reagierte.49 Freilich verband Stoa und Astrologie, mindestens für die Wahrnehmung von außen, auf lange Zeit der Gesichtspunkt des »Fatalismus«. Nicht ohne Grund. Der bereits erwähnte Valens hatte erklärt:

47 Dies zeigt nicht zuletzt der knappe Kommentar (»εἰσαγωγή«) des Porphyrios, der diese einleitenden Reflexionen übergeht. Für den praktischen Astrologen waren derartige Überlegungen offenbar nicht erheblich, vgl. CCAG V/4, 190 f. 48 Vgl. Bouché-Leclercq (1899), 75 f., Boll (1894), 135–140, und die suggestiven Ausführungen bei K. Reinhardt (1926), bspw. 116, 114: »Ist nicht das All ein ἡνωμένον? Steht nicht das Irdische in Sympathie mit dem Himmlischen? Woher die Zeit des Keims, der Blüte, der Frucht, des Blätterfalls in dieser Regelmäßigkeit? Woher mit der Zunahme und Abnahme des Mondes, woher mit den Sonnenwenden ein solcher Wandel des Irdischen? […] Denn eben dies bedeutet Sympathie, distantium rerum cognatio.« Die Stoiker haben sich im Gegensatz zum Peripatos und der Schule Epikurs eingehend und apologetisch mit Divination befasst, einen Überblick über die reiche Literatur gibt Cicero, Div. I 5 f. Ohne zu bestreiten, dass sich die Kosmologie des Aristoteles mit der Astrologie vereinbaren lässt, insofern die Rotationen der Himmelssphären als Quelle von Bewegung in der sublunaren Sphäre angesehen werden kann und der jährlichen Bewegung der Sonne in der Ekliptikebene eine Rolle bei der Entstehung von Lebewesen zugesprochen wird (vgl. De gen. et cor. II 10, 336a15–336b16; Meteor. I 2, 339a21–24, I 7, 344b26–35) ist festzustellen, dass die Annahme der πρώτη οὐσία, die keine Qualitäten mit denen der sublunaren Dinge gemeinsam hat, für die Astrologie nicht günstig ist; vgl. demgegenüber CCAG IV, 127: ὁ κόσμος οὗτος συνίσταται ἐκ πυρός, ἀέρος, ὕδατος καὶ γῆς· τοιουτοτρόπως οὖν συνίσταται καὶ ὁ οὐρανός. Darüber hinaus wird ein Zusammenhang aller natürlicher Erscheinungen, wie sie die stoische Philosophie u. a. mit Hilfe des Begriffs vom πνεῦμα postulierte, in der Naturphilosophie Aristoteles’ mindestens nicht ausgearbeitet und wird die für die Astrologie konstitutive »actio per distans« ausgeschlossen. Faktisch ist sie allerdings auf Grund ihrer Dominanz mit der Astrologie verknüpft worden, wie im Blick auf Albumasar grundlegend Lemay (1962) ausgeführt hat, vgl. Adamson (2002), 247–253. Dem Philosophen zugeschriebene Bücher astrologischen Inhalts unterstreichen dies; vgl. Steinschneider (1893), 272 f. Außerdem zeigen gewisse Affinitäten zu Aristoteles Stellen wie die Bemerkung Ptolemaios’, dass eine »Kraft von der ätherischen und ewigen Natur« ausgehe, die den sublunaren Raum durchdringe: ὅτι μὲν τοίνυν διαδίδοται καὶ διικνεῖταί τις δύναμις ἀπὸ τῆς αἰθερώδους καὶ ἀιδίου φύσεως ἐπὶ πᾶσαν τὴν περιγείαν καὶ δι’ ὅλως μεταβλητήν. (I 2, 1 (1998) 5,65–67). 49 Cicero, Div. II 87–97; vgl. Boll (1894), 140–142, zur Auseinandersetzung Ptolemaios’ mit Einwänden, wie sie von Panaitios vorgebracht wurden.

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Das Schicksal teilte jedem die unabwendbare Wirksamkeit des astralen Einflusses zu, das viele Ursachen guter und auch schlechter [Ereignisse] umfasst.50

Unübersehbar entspricht das seinem Vergleich des Menschen mit den Spielsteinen beim latrunculorum ludus. Der Mensch ist Kräften und Mächten ausgeliefert, deren Wirksamkeit sich am besten am Wirken der Sterne erkennen lässt. Insoweit erfüllt die Astrologie eine wichtige Funktion. Sie bereitet auf das Unabwendbare vor und erzeugt somit die ernste Haltung, mit der sich illusionsfrei und furchtlos in die Zukunft blicken lässt. 2.2 Astrologischer Fatalismus? Inwieweit diese der Astrologie häufig zugesprochene und immer wieder zurückgewiesene Position zutrifft, kann an dieser Stelle nicht umfassend geprüft werden. Auf Grund der großen Bedeutung der Apotelesmatica des Ptolemaios für die Geschichte der Astrologie erweist es sich als sinnvoll, eine Stelle zu betrachten, die dieses Problem diskutiert.51 Dabei wird zunächst ausgegangen von der Annahme, dass Ptolemaios der Auffassung war, dass das Kontingente, also das, was sowohl der Fall sein wie auch nicht der Fall sein kann (kp=◊p˄◊¬p), lediglich epistemischer Natur ist und sich nur insoweit die Möglichkeit der Prognose als beschränkt erweist. Hinsichtlich der Seeschlacht, durch Aristoteles’ De interpretatione das bekannte Beispiel eines contingens futurum, von dem zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 also nicht feststeht, ob der Satz p oder ¬p in tn wahr ist,52 stünde dann an sich immer schon fest, dass p (›die Seeschlacht findet statt‹) oder eben ¬p wahr ist. Nur reicht meist faktisch das Wissen in t1 nicht aus, um dies mehr als zu raten. Ist es aber der Sache nach nicht der Fall, 50 Vettius Valens (1986), 219,10 f.: Νενομοθέτηκε γὰρ ἡ εἱμαρμένη ἑκάστῷ ἀμετάθετον ἀποτελεσμάτων ἐνέργειαν περιτειχίσασα πολλαῖς αἰτίαις ἀγαθῶν τε καὶ κακῶν. 51 Ptolemaios Apot. I 3,7–16 (1998), 16,269–20,349. Die Bedeutung dieser Passage hebt Cardano unter Berufung auf den Kommentar des Haly (‛Alī ibn Riḍwān) hervor (1963 V), 112a: »Haly recte inquam mihi dicere visus est Ptolemaeum per haec verba ostendisse maximam in rebus divinis atque humanis sapientiam. Namque profecto maximarum rerum et quae pluribus etiam sapientissimis viris difficultatem pepererunt notitiam tradidit, humanas leges atque divinas cum naturalibus rationibus eventibusque ipsis, tum astronomicis iudiciis concordans.« Cardano bezieht sich auf Haly (1493), 8vb: »Haec autem verba demonstrant magnam potentiam Ptholemaei in sciendo divina et naturalia, et omnia verba sua aperte demonstrant magnam sapientiam et posse suum in loquendo in omnibus partibus philosophiae.« Vgl. in der vorzüglichen Einleitung von Pomeo Faracovi zu Cardano (2002), 19 f.; zum Kommentar selbst Sezgin (1979), 43 f. Die lateinische Übersetzung stammt von Aegidius de Tebaldis, vgl. Haly (1493), 2ra; Kunitzsch (1986), 72.– Da Vf. nicht in der Lage ist, arabische Texte zu lesen, basieren seine Kenntnisse stets auf den lateinischen Übersetzungen, weshalb die latinisierten Eigennamen verwendet werden. 52 Vorausgesetzt wird natürlich die Überführung des Satzes »morgen wird p der Fall sein« in »zu t n wird p der Fall sein«, weil andernfalls der Satz nur wahr wäre, wenn täglich eine Seeschlacht bevorsteht. Diese Überführung in die zeitlose B-Serie ist unproblematisch.

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dass ◊p˄◊¬p, sondern erscheint dies lediglich so, dann besteht die berechtigte Hoffnung, den Schleier des Nichtwissens vor der Zukunft wenn schon nicht gänzlich zu lüften, so doch wenigstens durchsichtiger zu machen. Denn Mantik basiert darauf, reflektiert man ihre Praxis philosophisch, wie etwa Cicero Poseidonios referierte,53 dass es eine durchgängige Kausalverknüpfung aller Zustände gibt, die von der Vergangenheit bis in die Zukunft reicht. Und deshalb steht es zu einem beliebig früh gewählten Zeitpunkt fest bzw. »ist notwendig«, dass p in t n der Fall ist. Modell derartiger determinierter Prozesse waren die Bewegungen der Himmelskörper, und noch Laplace führte sie als Beispiel für eine eindeutig bestimmte Abfolge von Zuständen an, die nunmehr, nach einer langen Reihe von Versuchen, sie sowohl kinematisch als auch physikalisch zu erfassen, exakt bestimmt werden konnte.54 Entsprechend lassen 53 Vgl. Cicero, Div. I, 125. Dies entspricht, freilich dort ohne Bezug auf Divination, der Annahme in Aristoteles, De int. 9, 18b9–16. Auf Grund der verschiedenen Interpretationen, die dieses problematische Kapitel erfahren hat, wird auf eine Diskussion verzichtet, insgesamt wird auch hier aber die sogenannte »klassische« Interpretation insoweit vorausgesetzt, als für auf Künftiges bezogene Aussagen nicht gilt, dass sie wahr oder falsch sind. Im Rahmen der Astrologie stellt sich das Problem anders als in der Philosophie, nämlich auf der Basis des in der Gegenwart tatsächlich zugänglichen Wissens über Künftiges. Deshalb sind Sätze, die sich auf Ereignisse beziehen, die in der Zukunft liegen, häufig unentscheidbar, weil unverständlich und deshalb schwerlich als Behauptungen aufzufassen (was selbstverständlich verschieden ist von Aussagen über schon jetzt aufweisbare Tendenzen). Dies gilt freilich nicht von einer Behauptung über das Stattfinden einer auf den geographischen Koordinaten von Berlin sichtbaren Sonnenfinsternis am 11. Mai 2097: Selbst wenn es an dieser Stelle keine Stadt und niemanden auf der Erde geben sollte, der sie beobachten könnte, ist die Aussage schon jetzt wahr oder falsch; vgl. http://eclipse.gsfc.nasa.gov/solar.html. 54 Ptolemaios erwähnt in Apot. I 2, 16 (1998), 11,174–177 die Vorstellung von der Wiederkehr des Gleichen auf astrologischer Basis, also der exakte Wiederholung der Planetenpositionen nach einem bestimmten Zeitraum (ἡ πάντων ἐν τῷ οὐρανῷ κατὰ τὸ ἀκριβὲς συναποκατάστασις), woraus die genaue Wiederkehr der Ereignisse folge. Wird dies ohne Einschränkung behauptet, wie die These 6 des Pariser Syllabus von 1277 unterstellt (Denifle (1889), 544), so müssen nach dem Prinzip, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, die Gestirne die Ursachen der irdischen Prozesse und folglich auch die Entscheidungen des Menschen astral determiniert sein. Ptolemaios zieht die Prämisse in Zweifel: Ob es eine genaue Periodizität aller Bewegungen gäbe, stünde nicht fest (11,177). Die Erwähnung der Apokatastasis steht an dieser Stelle im Zusammenhang der Überlegung, inwieweit sich Aufzeichnung der Vorgänger über bestimmte Aspekte und ihre Wirkungen als empirische Basis zur astrologischen Prognose fruchtbar machen lassen. Auch hier erweist sich Ptolemaios als zurückhaltend: in gewissem Rahmen können derartige Informationen genutzt werden, allerdings wiederholten sich die Aspekte innerhalb des überschaubaren Zeitraums nicht exakt (παρόμοιοι, ἀπαράλλακτοι οὐδαμῶς), was deren Vergleichbarkeit und damit das astrologische (Voraus-)Wissen einschränke. Bemerkenswert ist, dass Ptolemaios auch hier so etwas wie einen »Astralfatalismus« mit Argumenten auf der epistemischen Ebene zurückweist: Es ist unser Wissen, das nicht ausreicht, um die These der astralen Determination aller Ereignisse begründet vertreten zu können. – Aspekte und Ereignissen auf der Erde sind als synchrone Phänomene mitunter erfasst in den babylonischen »Astronomical Diaries«, Edition von Sachs/Hunger (1988); vgl. Jones (1996), 141; ihren epistemologischen Charakter diskutiert Maul (2011), 145–151. Die insbesondere in der indischen Astronomie ausgebildeten Lehren von den kosmischen Zyklen und deren Bedeutung für die Chronologie untersucht Pingree (1968), bes. 27–45. Auf die für das lateinische Abendland bis

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sich Konjunktionen und Oppositionen von Himmelskörpern voraussagen, zu denen die spektakulären und aufwändig zu berechnenden Sonnen- und Mondfinsternisse gehören, die sich ja nicht monatlich, sondern nach einem Muster von Vielfachen von 5 und 7 bzw. bei Mondfinsternissen 6 Monaten ereignen.55 Für Ptolemaios exemplifizierten Finsternisse Ereignisse, die gemäß dem »göttlichen Schicksal« auftreten.56 Auch wenn die entsprechenden Bewegungen kompliziert zu rekonstruieren sind und Abweichungen zwischen Prognose und Ereignis auftreten, so ist exaktes Wissen darüber, wann und wo eine Finsternis auftreten wird, prinzipiell erreichbar. Im sublunaren Raum nun sind Ereignisse offenkundig weitaus schlechter zu prognostizieren, was natürlich nicht heißt, dass sie nicht determiniert wären. Aber auch die Astrologie kann, wie Ptolemaios zu verstehen gab, die Unsicherheit dessen, was man von der Zukunft zu erwarten hat, nicht vollständig beseitigen. Ptolemaios räumte dies nicht nur ein, sondern machte daraus ein Argument für den Sinn der Astrologie. Die – recht unübersichtliche – Passage Apot. I 3 verdient in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit, weil sie den Blick auf den Unterschied zwischen der Annahme, alle Ereignisse träten determiniert ein, was der Position von Vettius Valens entspricht, und der Reichweite des auf dem Wege der Astrologie zugänglichen Wissens von der Zukunft lenkt. Bei der Diskussion des Einwandes, der darauf abzielt, das astrologisch gestützte Vorwissen sei deshalb weitgehend bedeutungslos, weil ohnehin alles notwendig eintrete,57 wird erstens vorausgesetzt, dass das, was vollkommen regelmäßig abläuft, die irdischen Prozesse steuert, zweitens aber, dass auch Ereignisse, die aus der sich der Erkennbarkeit mehr oder minder entziehenden Kombination von konstitutiven Faktoren resultieren, einer Ordnung entsprechend eintreten, da andernfalls der Ausdruck εἱμαρμένη unverständlich bliebe. Beide unterscheiden sich folglich hinsichtlich des Maßes an Erkennbarkeit, und auch der Astrologe vermag die Grenze nur zu verschieben, nicht aber aufzuheben. Daraus folgt zunächst, dass er über keine »übernatürlichen« Fähigkeiten verfügt, mindestens zu Kepler außerordentlich bedeutsame Lehre von den Großen Konjunktionen, die damit im Zusammenhang steht, kann hier nicht eingegangen werden, vgl. Kennedy (1964); Garin (1982), 17–30; Ernst (1986); Pomian (1986); North (1989), 59–89; Zambelli (1992), 11 f.; Weichenhan (2004), 85–92. 55 Plinius schreibt die Erkenntnis dieses Musters Hipparch zu (NH II 57); vgl. Neugebauer (1975), 129–134, es zu entdecken dürfte in Kulturen, in denen systematische Beobachtungen des Himmels ausgeführt werden, auf die Dauer nicht schwerfallen, vgl. Schramm (1999), 47 f. Die babylonische Astronomie verfügte nachweislich über ein numerisch exaktes Wissen darüber, vgl. Neugebauer (1975), 502–505. 56 Ptolemaios unterscheidet in Apot. I 3,6 (1998), 16,265–267, das, was καθ’ εἱμαρμένην θείαν eintritt von dem, was sich καθ’ εἱμαρμένην φυσικήν ereignet. 57 Ptolemaios, Apot. I 3, 4 (1998), 15,251 f.: […] ὅτι τῶν πάντῃ πάντως ἐσομένων ἡ πρόγνωσις περισσή. Verständlicher und ausführlicher Hephaistion (1973 I), 1,16–18: τινες φάσκοντες εἱμαρμένην μὲν εἶναι τὸ πάντων κρατοῦν, ἄχρηστον δὲ τὴν πρόγνωσιν διὰ τὸ πάντῃ πάντως ἔσεσθαι.

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in die Zukunft zu schauen: Gemessen an einem inspirierten Propheten, der von einer Gottheit etwas gesagt oder gezeigt bekommt,58 befindet sich der Sterndeuter zunächst in keiner anderen Situation als jeder andere Sterbliche, der von der Zukunft wenig weiß. Was ihn nun aber zu einem Experten in Fragen der Zukunftserkenntnis qualifiziert, beruht auf seiner Kenntnis von Positionen von Planeten sowie deren Natur und deren Wirkungen. Seine Aufgabe besteht genau darin, diese vorauszusagen. An ihre Grenze kommt die astrologische Prognostizierbarkeit nun aber dort, wo der erkennbare Einfluss der Himmelskörper durch die Vielzahl von Faktoren so gestört wird, dass eine zuverlässige Ansage nicht mehr gemacht werden kann. Derartiges tritt ein, ohne dass der Astrologe die Möglichkeit hätte, davon im voraus zu wissen. Es ist offensichtlich, da es eine erste Ursache von all dem gibt, was geschieht, und zwar hinsichtlich des Allgemeinen wie auch des Speziellen, die nicht zu bezwingen und stärker als jede ihr entgegenwirkende Kraft ist, dass dies voll und ganz mit Notwendigkeit geschieht. Was sich aber nicht so verhält, ist leicht veränderlich, da es über widerstrebende Kräfte verfügt, was aber instabil ist und nicht [direkt] den ersten Naturen folgt, [tritt ein] auf Grund von Unwissenheit, aber nicht auf Grund der Notwendigkeit, [die aus] der Stärke [des ersten Prinzips resultiert].59 58 So bspw. Kassandra bei Euripides, Troerinnen 352–461, in der Bibel: Ezechiel 8, Daniel 5. 59 Ptolemaios, Apot. I 3,8 (1998), 16,278–17,281: Der schwierige Text lautet: […] φανερὸν ὅτι καὶ καθόλου καὶ κατὰ μέρος ὅσων μὲν συμπτωμάτων τὸ πρῶτον αἴτιον ἄμαχον τέ ἐστι καὶ μεῖζον παντὸς τοῦ ἀντιπράττοντος, ταῦτα καὶ πάντῃ πάντως ἀποβαίνειν ἀνάγκη, ὅσα δὲ μὴ οὕτως ἔχει, τούτων τὰ μὲν ἐπιτυχόντα τῶν ἀντιπαθησόντων εὐανάτρεπτα γίνεται, τὰ δὲ μὴ εὐπορήσαντα καὶ αὐτὰ ταῖς πρώταις φύσεσιν ἀκολουθεῖ, δι’ ἄγνοιαν μέντοι καὶ οὐκ ἔτι διὰ τὴν τῆς ἰσχύος ἀνάγκην. Die um Verständlichkeit bemühte Paraphrase des Proklos ((1554), 28) vereinfacht den zweiten Teil zu: »Wird aber keine entgegengesetzte Ursache gefunden, so tritt etwas nicht auf Grund der Stärke der Ursache und nicht notwendig ein, sondern weil das Gegenmittel unbekannt ist, womit es abwendbar ist« (εἰ δὲ μὴ εὑρεθῆ ἀντιβαῖνον αἴτιον, ἀποβαίνει δὲ οὐ διὰ τὴν ἰσχυν τῆς αἰτίας, οὐδὲ κατ’ ἀνάγκην, ἀλλ’ ὅτι ἀγνοεῖται ἡ ἀντιπάθεια, ὑφ’ ἧς ἀνατραπήσεται). Wenn also etwas, was »leicht veränderlich« und deshalb »leicht abwendbar« ist (τὰ εὐανάτρεπτα), »durch Unwissenheit« (δι’ ἄγνοιαν) eintritt, so soll das bspw. wohl heißen, dass p (›Paul kommt durch ein vom Erdbeben zerstörtes Haus zu Tode‹) eintritt, wenn Paul die vom Astrologen ausgegebene Warnung missachtet und sich nicht in Sicherheit bringt. Die Flucht hätte in diesem Fall die Funktion eines bekannten und verwendbaren Gegenmittels, das nicht zur Anwendung gekommen ist. Bis kurz vor t n hätte er das selbst vermeiden können, ohne dass das Erdbeben und die Zerstörung des Gebäudes vermeidbar gewesen wären. Die Wirkung tritt in einem solchen Fall ein, wenn eine Warnung nicht ernst genug genommen wird. Fälle dieser Art dürfte Ptolemaios in dem Zusammenhang, der die Nützlichkeit der Astrologie hervorhebt, im Auge haben. Freilich ist eher das zusammenstürzende Haus als Ursache des Todes anzusehen als der leichtfertige Umgang mit Prognosen. Nun kann die Entscheidung, das Haus nicht zu verlassen, auch dadurch motiviert sein, dass Paul von einem Wahrsager den betreffenden Tag als verhängnisvoll angekündigt bekommen hat und er aus Furcht, auf der Straße von einem seiner Feinde erschlagen zu werden, das Haus nicht verließ. Dann wäre Unwissenheit insoweit im Spiel, als unklar ist, worauf sich die Voraussage bezog, so dass ein ungeeignetes Gegenmittel verwendet wurde – ein u. a. durch den Stoff des Oedipus hinreichend bekannter »Fehler« beim Umgang mit Weissagungen. In beiden Fällen ist die Unwissenheit für das Eintreten eines Ereignisses zwar relevant, ohne dass sie aber als Ursache anzusehen wäre. Aus dieser Stelle ergibt sich, dass der Astrologe im Sinne Ptolemaios’ p gar nicht behaupten kann,

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Er kann bspw. ein Erdbeben ankündigen und vor den kollektiv zu erwartenden tödlichen Gefahren warnen, aber nicht, ob es diesem einen Individuum bestimmt sein mag, dem Einsturz seines Hauses zu entgehen, dann aber seinem Todfeind in die Hände zu fallen.60 Daraus folgt, dass das Wissen, das die Astrologie über die Zukunft in Aussicht stellen kann, Überlegung und freie Entscheidung des Individuums nicht aufhebt, selbst dann nicht, wenn man insgesamt eine deterministische Position voraussetzt. Denn da der Sterndeuter über keine Befähigung zur Vision verfügt, kann er rein faktisch über einen relativ großen Zeitraum hinweg überhaupt keine Behauptungen über künftige konkrete Ereignisse aufstellen, die wiederum für das sogenannte Untätigkeitsargument von Belang wären. Da er nicht weiß, was einer Person an einem bestimmten Tag in 20 oder gar 50 Jahren geschehen wird, kann diese auch keine Haltung derart entwickeln, dass sie etwas, wovon weder sie noch der Astrologe etwas wissen, gleichsam auf sich zukommen ließe. Unbekanntes lässt sich nicht erwarten. Ist man hingegen der Meinung, dass aus der Annahme, das Zukünftige träte in jedem Falle ein, der lebenspraktische Schluss zu ziehen sei, es sei gleichgültig, Handlungen auszuführen oder zu unterlassen, dann resultiert eine solche Einstellung nicht daraus, dass irgend etwas Konkretes angekündigt worden ist; sie ist offenkundig gar nicht auf ein Argument gestützt, sondern es handelt sich eher um eine religiöse Überzeugung.61 Denn die fatalistische Haltung, das »fatum Mahumetanum« bei Leibniz, ist völlig davon unabhängig, ob ein gewisses Maß an Wissen um künftige Ereignisse bzw. um drohende Gefahren zur Verfügung steht oder nicht: was auch immer eintritt, ist ja einst zukünftig gewesen. Möglich wäre freilich auch, anders als bislang angenommen, dass das, was sich der astrologisch gestützten Prognose entzieht, auch an sich nicht notwendig eintritt und folglich nicht schon immer feststeht, dass p/t n. Bei dieser Interpretation geht das Nichtwissen in t1, ob p/tn der Fall sein wird, mit der realen Kontingenz von p einher. Dann wäre ein Wissen, ob p/t n, zu allen Zeitpunkten bis kurz vor tn auch der Sache nach ausgeschlossen. weil für das Eintreten eines solchen Sachverhaltes eine ihm unübersehbare Fülle von relevanten Faktoren erforderlich ist. – Zur von Melanchthon edierten Paraphrase des Proklos (1554), die von der anonymen und stärker erläuternden Paraphrase zu unterscheiden ist, die Hieronymus Wolf 1559 ediert und Proklos zugeschrieben hat, vgl. Gundel/Gundel (1966), 215. 60 Ptolemaios bietet kein solches Beispiel, sondern führt Muster an, die der Prognose von Krankheitsverläufen entstammen. Es scheint klar, dass die Diskussion sich auf das seit der Antike ventilierte Untätigkeitsargument bezieht. In diesem Falle wäre die fatalistische Haltung dann so begründet, dass sie aus dem – mit Hilfe der Astrologie erworbenen – Wissen um Zukünftiges resultiert. Zum Untätigkeitsargument vgl. Cicero, De fato 28–30; Schallenberg hat die Diskussion in der ausgezeichneten Studie (2008) dargestellt und philosophisch interpretiert, zum Argument bes. 196–205. Leibniz (1875 VI), 30–33, unterstreicht zu Recht, dass es sich eher um eine Haltung, mit der wiederum unterschiedliche Formen von Lebensvollzügen vereinbar sind, als um eine argumentativ begründete Position handelt. 61 Zum Astralfatalismus des »Zervanismus« vgl. van der Waerden (1952), 145 f.

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Eine praktisch relevante Alternative zur ersten Annahme besteht für den Astrologen nicht. Denn das, was von ihm erwartet werden kann, ist das, was vor tn über p/tn wissbar ist, und p/tn kann vor tn nicht definitiv gewusst werden. Die Hilfe, die der Sterndeuter zur Vorausschau auf Künftiges zu leisten imstande ist, beschränkt sich folglich darauf, solche Ereignisse anzukündigen, von denen vorausgesetzt wird, dass sie vom Einfluss der Gestirne unmittelbar abhängen und auf Grund der Zugänglichkeit der Parameter auch tatsächlich prognostizierbar sind: über jahreszeitlich bedingte Temperaturschwankungen hinaus Kriege, Unwetter, Erdbeben und Epidemien. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit Zuständen, die demgegenüber eine längere Dauer aufweisen, mit klimatischen Verhältnissen, die wiederum Auswirkungen auf den Charakter von Völkern besitzen.62 Schließlich stellt die Individualastrologie, die »Genethlialogie«, ein klassisches Betätigungsfeld dar. Auch wenn keine einzelnen Handlungen oder Unglücksfälle vorausgesehen werden können, gehört Neigungen, Begabungen und überhaupt körperliche und geistige Dispositionen aus dem Empfängnis- oder Geburtshoroskop anzukündigen zu dem, was das astrologische Wissen attraktiv macht. Wie auf den anderen Feldern, auf denen der Astrologe prognostisch tätig wird, basiert es darauf, dass die Planeten in bestimmten Aspekten in bestimmten Abschnitten des Tierkreises gewisse sublunare Zustände verursachen. Auf die Frage, die die Menschen aus naheliegenden Gründen stark interessiert, wie es um seine Chancen auf ein glückliches Leben bestellt sein mag, bietet der Astrologe durch die Analyse der Nativität die Kenntnis der notwendigen Bedingungen für den faktischen Verlauf des Lebens. So heißt es im Zusammenhang der Diskussion um Empfängnis- oder Geburtshoroskop bei Ptolemaios: Aus gutem Grund hält man die Position der Gestirne bei der Geburt für signifikant, nicht als etwas, was direkt verursacht, sondern was notwendig und seiner Natur nach dem Verursachenden dem Vermögen nach sehr ähnlich ist.63

Auch wenn sich das auf die Entwicklung vor der Geburt bezog, an deren Ende bereits ein voll entwickelter (μετὰ τὴν τελείωσιν) Μensch steht, lässt sich die Bemerkung auf die Reichweite des astralen Einflusses verallgemeinern. Das heißt, dass die Prägung durch die Planeten nicht hinreicht, um eine bestimmte Wirkung hervorzurufen. Auch das optimal berechnete und interpretierte Horoskop garantiert also nicht, dass dies und jenes spezielle Ereignis eintritt. Allerdings werden der Astrologe wie auch ein idealer Klient bei vielem, was sich in dessen Leben ereignet, geltend machen, dass es geschah, weil die dort 62 Vgl. Ptolemaios, Apot. II 1 (1998), 88,19–90,61. Zur »astrologischen Ethnographie« der Kapitel 2–5 des Buches vgl. Boll (1894), 181–217. Hieran lagern sich arabische pseudoptolemaiische Schriften zur astrologischen Geographie an, die Sezgin (1979), 46, Nrr. 3, 4, 14 anführt. 63 Ptolemaios, Apot. III 1, 4 (1998), 170,84–88: […] ὥστε εὐλόγως καὶ τῶν τοιούτων ἡγεῖσθαι δηλωτικὸν εἶναι κατὰ τὴν ἐκτροπὴν τῶν ἀστέρων σχηματισμόν – οὐχ ὡς ποιητικὸν μέντοι πάντως, ἀλλ’ ὡς ἐξ ἀνάγκης [καὶ] κατὰ φύσιν ὁμοιότατον δυνάμει τῷ ποιητικῷ.

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festgestellten Bedingungen vorlagen. Das Horoskop des gefürchteten Kritikers an der Astrologie, des Pico della Mirandola, gab Kennern zwar nicht zu verstehen, dass dessen Begegnung mit einem Dominikaner seinen philosophischen Interessen und der religiösen Haltung eine entscheidende Wendung geben oder er bereits im 32. Lebensjahr genau am 17. November 1494 an Fieber sterben werde. Einen Sterndeuter freilich, der sich, wie Lucio Bellanti († 1499) behauptete, darauf verstand, aus der Stellung der Gestirne bei der Geburt auch das noch ablesen zu können, was sich im hohen Alter ereignen würde,64 vermochte der frühe Tod des brillanten Philosophen nicht zu überraschen.65 Auch wenn 64 Vgl. Bellanti (1554), 175. Dieser sehr vollmundigen Behauptung hätte Ptolemaios widersprochen, der es bereits für lächerlich hielt, jemandem dies und jenes zu prognostizieren, weil nicht einmal klar sei, ob er das entsprechende Alter überhaupt erreichen werde, so Apot. III 11,1 (1998), 202,551–553. Begründung für die an dieser Stelle behauptete Überlegenheit der Astrologie über die Medizin ist, dass diese lediglich interne Faktoren berücksichtige. Auf den ersten Blick erscheint diese Bemerkung insofern erstaunlich, als Umweltfaktoren seit der Hippokratischen Abhandlung De aeribus, aquis, locis in der Medizin thematisiert werden und die Luft in der Galenischen Medizin zu den »res non naturales« zählt, darüber hinaus Astrologisches bekanntlich vielfältig mit der Medizin verflochten ist; hingewiesen sei lediglich auf epistemologischer Ebene auf den zentralen Begriff der Prognose, der wiederum mit dem Konzept der dies critici verbunden ist, die innerhalb des Oeuvres Galens eine wichtige Stelle zur Verbindung von Astrologie und Medizin darstellten, vgl. dazu Cooper (2011), bes. 43–75, weiterhin auf strukturelle Entsprechungen bei Mensch und Gestirnen, wie sie in planetarischen und zodiakalen Melothesien verwendet werden. Freilich: Kein Geringerer als Avicenna († 1037) räumte im Canon den astralen als allgemeinen und entfernten Ursachen keine bedeutende Funktion ein. So kann zwar zugestanden werden, dass »virtutes agentes caelestes« für die »febris pestilentialis« eine gewisse Rolle spielen, aber sie sind gegenüber den näheren Ursachen in der Luft, die wiederum die Mischung der Qualitäten im Körper beeinflussen, kaum von medizinischer Bedeutung (IV f. 1, tr. 4, c. 1; 1608 II, 67b). Ähnliches gilt von den dies critici, deren Kopplung an die Mondbewegung, ggf. auch an die Bewegung der Sonne, Avicenna zwar erwähnte, aber für die medizinische Prognostik als verzichtbar ansah, da sie in einen anderen Wissensbereich gehöre und demzufolge den Mediziner von seinen Aufgaben ablenke (IV f. 2, tr. 4, c. 2; 1608 II, 104a: »non pertinet ei, ut sciat, quae sit causa eius, quum declaratio illius causae extrahat eum ad artem aliam«). Bellantis Seitenhieb auf den Zustand seiner eigenen Wissenschaft (vgl. 169) versteht sich deshalb wohl auf dem Hintergrund der gegenüber Avicenna kritischen Tendenz, die diesem gegenüber Galen favorisierte und sich stärker an der Astrologie orientierte. Ähnlich Nicolaus Pruckner, der dem Mediziner Otto Brunfels als landläufige Meinung zur Kenntnis gab (1533), α1v: »Plures periisse manu medicorum quam gladio. […] Quis non videt verum esse, quod dici solet vulgo, solis medicis permissum impune occidere?« Brunfels und Pruckner erhofften den Ausweg aus dieser Situation durch die engere Anbindung der Heilkunst an die Sternkunde. Zu Bellantis Auseinandersetzung mit Pico vgl. Pompeo Faracovi (2008). 65 Vgl. Cardano (1663 V), 490b: »Vixit igitur annis XXXIII [sic!], cum eius obitum astrologus eodem anno praedixisset, qui etiam adversus illum scripsit.« Damit dürfte Bellanti gemeint sein; vgl. Grafton (1999), 91 FN 44. Pfaff bringt es noch pointierter (1816), 36: »Der gröste Gegner der Astrologen war Pico von Mirandola. Diese ermangelten nicht aus seiner Nativität […] ihm sein Leben, Unfälle, Tod selbst zu deuten. Sie waren auch geneigt ihn als ein warnendes Beyspiel der Macht der Gestirne über ihre Verächter aufzustellen, da er an einem Tage starb, den die Astrologen als gefährlich gedeutet.« Gaurico (1552), 58r führt hingegen Picos Abneigung gegen die Astrologie auf ein astrologisches Gutachten dreier Sterndeuter zurück, die ihm angekündigt hätten, er werde vor Vollendung des 33. Lebensjahres sterben, was dann ja auch eingetreten sei: »[…] edidit […] unum volumen contra astrologos suae aetatis admodum iratus, quoniam tres

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Bellanti bei seiner Verteidigung gegen Pico des Öfteren kräftig überzog, besonders was den Anspruch betraf, die Astrologie sei eine Wissenschaft, so gibt die Äußerung doch auch wieder, was sich als Eindruck beim Rückblick auf die Lebensbahn bereits eingangs bei Goethe gezeigt hatte. Aus der Retrospektive erscheint diese als ›in sich stimmig‹, so dass auch einst als überraschend empfundene Wendungen einen inneren Zusammenhalt mit allem übrigen erhalten. Zugleich zeigt sich an dieser Wahrnehmung das Problem notwendiger Bedingungen, wie sie die Astrologie zu verwenden genötigt ist. Da die Ereignisse sukzessiv auftreten, die Nativität aber den Einfluss innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne feststellt, der dann für das gesamte Leben konstitutiv ist, kann nicht nur, sondern muss vieles und Verschiedenes als Folge der nahezu momentan erfolgenden astralen Prägung angesehen werden. Betrachtet man Handlungen und Widerfahrnisse in dem Sinne als Wirkungen dessen, was zu Anfang von den Gestirnen mitgeteilt wurde, dass ohne diese jene nicht eingetreten wären, so umfasst der astrale Einfluss die Konjunktion aller notwendigen Bedingungen für die sukzessiv auftretenden Wirkungen. Das freilich heißt, dass der Astrologe für tendenziell alles nachträglich eine Erklärung finden kann. Ohne auf das Phänomen der Interpretation von bereits Geschehenem an Hand des Horoskops einzugehen, die nicht erst im Horizont biographischer und autobiographischer Reflexionen in der Neuzeit auftritt,66 bleibt festzuhalten, dass nach Ptolemaios ein Astrologe nicht behauptet, was sich ereigne, geschehe durchweg mit Notwendigkeit. Es hindert ihn zwar nichts, es anzunehmen, aber für die Ausübung seiner Kunst ist diese starke Annahme nicht konstitutiv. Insbesondere das, was Individuen über ihre eigene Zukunft zu erfahren wünschen, wird von den in einer bestimmten Weise über den Zodiakos verteilten Planeten und dem dadurch spezifizierten Einfluss zwar bedingt, aber nicht hervorgebracht. Eine im lateinische Mittelalter gängige Formel lautete: astra inclinant, non necessitant.

3. »Sapiens dominabitur astris« Wenn bei Ptolemaios der Astrologe nicht nur Unabwendbares ankündigt, sondern auch auf Gefahren aufmerksam macht, so sieht er einerseits etwas voraus, was selbst zwar exakt prognostizierbar eintreten wird, aber andererseits potissimum vaticinabantur ei mortem anno 33 suae aetatis fere completo ex directione horoscopi ad Martem, sicut accidit.« Dass Bellanti, der, soweit Vf. sehen konnte, in seiner Verteidigungsschrift nicht auf den prophezeiten Tod Bezug nimmt, einer dieser Astrologen gewesen sei, ist nicht ausgeschlossen, wird aber nicht gesagt. 66 Da es sich bei der Astrologie um ein auch auf Erfahrung gestütztes Wissen handelt, ist die Auswertung von geschehenen Ereignissen an Hand von Horoskopen im Grunde unumgänglich; vgl. Neugebauer/van Hoesen (1959), 162a.

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für eine bestimmte Person nicht die als gefährlich eingestuften Folgen haben muss: Eine Seuche kann vorausgesehen werden, wenn, wie angenommen werden soll, klar ist, welche Aspekte in welchen Zeichen eine solche Wirkung hervorrufen. Nicht vorauszusehen ist, ob und wann dieses Individuum ihr anheimfällt, es aber jenem gelingt, ihr durch das Ergreifen bestimmter Maßnahmen oder auf Grund seiner körperlichen Konstitution zu entkommen oder ihr irgendwie »zufällig« nicht zum Opfer zu fallen. Weil auch durch astrologisches Wissen die Zukunft nicht gänzlich transparent wird, bezieht es sich auf das, was eintreten kann und nicht eintreten muss, was also »kontingent« ist. In diesem Sinne hatte der aus Ägypten stammende Mediziner und Astrologe Haly Ibn Rodan (ca. 988–1061) in seinem Kommentar das angestrebte Wissen des zweiten, nicht rein mathematischen Teils der Sternkunde als das von veränderlichen und kontingenten Sachverhalten bestimmt.67 Dies entsprach der von Albumasar (787–886) ausführlich dargelegten Auffassung,68 dass die Planeten sich nicht allein auf das beziehen, was notwendig der Fall bzw. notwendig nicht der Fall ist, sondern auch auf das, was möglicherweise eintritt.69 Was das besagt, wird nun zu klären sein. Bereits an der angeführten Stelle aus Ptolemaios’ Apotelesmatica hatte sich gezeigt, dass das für die Abschätzung der Reichweite astrologischer Prognose interessante Gebiet dasjenige ist, auf dem Kenntnisse und Beeinflussbarkeit von Prozessen sich überschneiden. Wer bevorstehende Wirkungen von astralen Ursachen kennt, ist unter Umständen in der Lage, sich jenen zu entziehen, weil jene vom Sterndeuter identifizierbaren Kräfte nicht bis ins Einzelne determinieren. Was der lateinische Spruch, der Weise könne über die Sterne gebieten, recht emphatisch zum Ausdruck bringt, hat der unbekannte Autor der Aphorismensammlung »ὁ Kαρπός« (liber fructus)70 in der 5. Sentenz so formuliert: 67 Haly (1493), 3rb: »Res secunda quae considerari debet sunt mutationes et opera quae contingunt et perficiuntur per figurationem cursuum stellarum, quae sunt suae naturales et propriae in rebus quas comprehendunt. Haec est scientia iudiciorum astronomiae, quare per eam potest homo scire mutationes et opera contingentia in rebus […]«. 68 Edition des arabischen Textes und der beiden lateinischen Übersetzungen des Introductorium maius (al-mudḫal al-kabīr), (1.) der von Johannes Hispalensis (12. Jh.), durchgesehen von Gerhard v. Cremona († 1187), die an wörtlicher Übereinstimmung mit dem arabischen Original interessiert ist, und (2.) der durch die Editionen seit 1485 einflussreicheren freieren und um eine gewisse sprachliche Eleganz bemühten von Hermann de Carinthia (12. Jh.): Albumasar (1995). Schriftenverzeichnis des nach Ptolemaios wichtigsten Astrologen bei Pingree (1970), Sezgin (1979), 141–151. Lemay hat in (1962) eine grundlegende und äußerst detaillierte Interpretation vorgelegt, die die naturphilosophische Bedeutung dieses Werks herausstellte. 69 Albumasar (1996 V), 36–42 bzw. (1996 VIII), 15–17. Das zu widerlegende Argument lautet (V, 36,1267 f.): »possibile non significant [stellae]« bzw. in der Übersetzung von Hermann de Carinthia (VIII, 15,493): »tertia secta […] stellis ad utrumlibet effectum negat«, oder (15,501 f.): »nec stellarum effectus umquam utrumlibet esse potest«. Zum Unterschied zwischen »significatio« und efficacia s. unten. 70 Alternativer Titel: Centiloquium Ptolemaei. Trotz des von Lemay (vgl. (1987), 70) angenommenen arabischen Ursprungs – verfasst von seinem Kommentator Aḥmad Ibn Yūsuf – dürfte wohl

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Viele Wirkungen der Gestirne vermag der abzuwenden, der verständig ist, da er deren Natur kennt und sich gegen den Eintritt der Wirkungen zu wappnen versteht.71

Man kann diese Aussage so verstehen, dass sie die astralen Ursachen als notwendige Bedingungen von Ereignissen betrachtet. Es muss nicht eintreten, was vorhergesehen wird, weil das Wissen unter Umständen ermöglicht, erfolgreich Gegenmaßnahmen zu ergreifen. In diesem Sinne berief sich bspw. Pietro d’Abano († 1315/6) auf diese Stelle.72 Das entsprach Ptolemaios’ Bestimmung des Nutzens der Astrologie. Denn Kenntnisse über den Zusammenhang von Ereignissen in der sublunaren Welt und Konfigurationen der Planeten werden erworben, um ggf. einen drohenden Vorfall nicht eintreten zu lassen. In dem Haly zugeschriebenen arabischen Kommentar wurde der zweite Teil des Aphorismus nun nicht in dieser Weise aufgefasst, sondern so, dass der Astrologe auf das, was gemäß der Prognose eintreten wird, vorbereitet und es insoweit erträglich macht: derart wappnet er denjenigen, dem ein Unheil bevorsteht, dass er es ertragen kann.73

Diese Auffassung scheint einer »fatalistischen« Haltung nahezustehen. Begründbar ist sie aber insoweit, als es eine Reihe von Ereignissen gibt, die vor­ aus­ge­se­hen und deren Eintreten faktisch nicht verhindert werden kann. Eine tödliche Seuche, ein Krieg oder, konzentriert man sich auf Ereignisfolgen, die unmittelbar ein Individuum betreffen, eine zum Tode führende Erkrankung, als gesichert gelten, dass es sich um eine ursprünglich griechische Schrift handelt, die früh ins Arabische übersetzt worden ist und unter dem wörtlich entsprechenden Titel Kitāb aṯ-ṯamara umlief; Sezgin (1979), 44–46. Zu Überlieferung und Editionen vgl. die Praefatio der Edition von Boer (1952), XX–XXVI. 71 (Ps.)Ptolemaios (1952), 38: Δύναται ὁ ἐπιστήμων πολλὰς ἀποτρέψασθαι ἐνεργείας τῶν ἀστέρων, ὅτε ἐστὶν εἰδήμων τῆς φύσεως αὐτῶν, καὶ προπαρασκευάσαι ἑαυτὸν πρὸ τῆς συμπτώσεως τῶν ἐνεργειῶν. 72 Pietro d’Abano (1992), 126,29 f.: Im Centiloquium habe Ptolemaios geäußert, »hec iudicia, que tibi trado, sunt inter necessarium et possibile«. Gemeint ist damit, dass es sich etwas zumeist (in pluribus) so verhält (127); dafür hatte Bonatti († ca. 1300) bereits den Ausdruck »iudicium« geprägt: »inter necessarium et possibile medium est iudicium«, Bonatti (1550), 7. – Dieser Aphorismus ist ein locus classicus für den nicht deterministischen Charakter der Astrologie, vgl. bspw. auch Gregorius v. Trapezunt (1544), B3r: »utilitatem […] huius scientiae ostendit et effectus stellarum non necessario.« 73 Haly (1493), 107vb: »[…] sic enim praemuniet eum, cui malum futurum est, ut possit illud pati.« Laut den kommentierenden Bemerkungen wird deshalb verhindert, dass das Unheil »ex improviso« eintritt. So auch im Speculum astronomiae des Albertus Magnus, vgl. Zambelli (1992), 258,42 f. Der Kommentar zum Fructus stammt von Aḥmad Ibn Yūsuf Ibn Ibrāhīm Ibn adDāya († 912), vgl. Sezgin (1979), 45, 157. Pontano (1519), 7v/8r, folgt in der Übersetzung stärker dieser Tendenz: »se ipsum ante illorum eventum praeparare« und weist auf den Wert des nicht unvorbereitet eintretenden Unglücks: »recte Ptolemaeus subiunxit, posse instituere sese ad ea toleranda, quae eventura sint acerba et gravia. Quae enim provisa sunt, minus laedunt […]«. Das aber heißt nicht, dass die Möglichkeit, angekündigten Gefahren entkommen zu können, nicht ebenfalls erwähnt werden würde.

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lassen sich nicht beeinflussen.74 In derartigen Fällen sind die Umstände, etwas abzuwenden, nicht gegeben, deshalb auch die Freiheit des Willens nicht tangiert. Es bleibt also die Frage, was eigentlich gemeint ist, wenn es heißt, der Astrologe beschäftige sich mit dem, was »möglich« bzw. »kontingent« ist. Denn das hatte ja Albumasar gegen Einwände nachzuweisen versucht. Was die Diskussion an dieser Stelle interessant erscheinen lässt, besteht nicht einmal primär in der von Albumasar vorgetragenen Lösung, sondern in einer Zweideutigkeit, die die beiden lateinischen Übersetzungen erzeugen. Konzentriert man sich zunächst auf die Übersetzung des Johannes von Sevilla, so betrachtet der Astrologe unter anderem das, was möglich ist bzw. genauer, »ob möglich ist, dass etwas der Fall ist oder nicht der Fall ist«.75 Das unterscheidet sich von dem für den Astrologen irrelevanten Wissen, dass dieser Mensch weder morgen noch irgendwann fliegen, aber irgendwann sterben wird. Beides ist notwendig und insofern nicht Sache des Astrologen. Er beschäftigt sich nur mit solchen Gegenständen, in denen es eine Anlage zur Möglichkeit gibt, etwas aufzunehmen oder dessen Gegenteil aufzunehmen.76

Das heißt, da a über die Fähigkeit verfügt, F zu tun, aber auch F nicht zu tun, dass beides möglich ist. Das aber nur so lange, wie es noch nicht eingetreten ist. Seit dem Moment, in dem a tatsächlich einen Brief schreibt, ist es notwendig, dass a einen Brief schreibt, obwohl es diesen auch nicht hätte schreiben können. Was möglich ist in dem Sinne, dass etwas der Fall und auch nicht sein kann, ist lediglich das Künftige.77

74 Mit dem Verweis auf das Vorwissen des Mediziners argumentiert bspw. Albertus Magnus (Zambelli (1992), 260,54–60); Cardano führt in analogem Zusammenhang Kräfte an, denen man nicht ausweichen oder widerstehen kann (1663 V), 112a: Neben Naturkatastrophen weist er auf Tätigkeiten Gottes, bspw. unter expliziter Berufung auf Proverbia 21,21 die Lenkung des Herzens des Königs (»cor regis in manu Domini quocumque voluerit inclinabit illud«). Es gehört zur typischen Raffinesse des Autors Cardano, göttliches und astrales Wirken hier gleichsam geräuschlos konvergieren zu lassen, was nicht zuletzt im Blick auf die Person des Königs von Interesse ist. Denn im Gegensatz zu Firmicus wächst mit der Höhe der sozialen Stellung auch die Stärke des astralen Einflusses: »corda principum et mentes magis necessitati syderum et divinae voluntati subiacent, privatorum autem sint magis libera«. Bei Firmicus (II 30, 5; (1897 I), 86) hatte es hingegen geheißen, »solus […] imperator stellarum non subiacet cursibus et solus est, in cuius fato stellae decernendi non habeant potestatem«; dazu Grafton (1999), 234 f. 75 Albumasar (1995 V), 41,1474 f.: »utrum possibile est ut sit vel non sit«. 76 Albumasar (1995 V), 41,1463 f.: »Astrologus autem respicit res in quibus est fortitudo possibilitatis ad receptionem rei et eius contrarium«. 77 Deshalb heißt es Albumasar (1995 V), 42,1481 f.: »Cumque fuerit res, efficitur effectus eius ex necessario.«

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Also ist uns nunmehr klar, dass die Planeten Anzeiger dessen sind, was möglich ist und was der Wahl des Menschen unterliegt.78

Nun könnte man daraus den Schluss ziehen, dass Albumasar lediglich die klassische Interpretation der contingentia futura aufgreift, wonach das, was sich erst in der Zukunft ereignen wird, vor seinem Eintritt keinen definitiven Wahrheitswert aufweist, so dass beides möglich und nicht eines von beiden notwendig ist. Würde man die Astrologie auf die Erkenntnis des Möglichen begrenzen, dann würde sie Aufschluss darüber geben, ob a morgen in Erwägung ziehen wird, einen Brief zu schreiben und sich dann entschließt, ihn zu schreiben oder nicht, ob sich die Oberbefehlshaber morgen dazu durchringen werden, ihre jeweiligen Flotten auf eine Seeschlacht vorzubereiten, die ggf. übermorgen stattfinden wird. Erst unter solchen Umständen kann ja in einem qualifizierten Sinne davon die Rede sein, dass etwas eintreten kann oder nicht. Laut Albumasar kann der Astrologe aber mehr als nur erkennen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Alternative besteht, dass etwas stattfinden wird oder nicht, was natürlich von einer Reihe von Faktoren abhängt. Es müssen bspw. überhaupt Schiffe zur Verfügung stehen, um eine Seeschlacht bevorstehen zu lassen, man muss des Schreibens kundig sein, um einen Brief aufzusetzen oder es zu unterlassen. Der Astrologe kann nun unter idealen Bedingungen wissen, ob etwas stattfinden wird oder nicht, da er die Zeichen zu lesen versteht: Wie die Planeten anzeigen, was möglich ist und die Wahl, die der Mensch trifft, so zeigen sie zugleich auch, dass der Mensch nur das wählen wird, was die Planeten anzeigen werden.79

Das aber heißt, dass die Anzeige der Planeten sich nicht nur auf die für ein Ereignis notwendigen Bedingungen bezieht, sondern auf dieses selbst. Damit geht Albumasar deutlich über das hinaus, was Ptolemaios für wissbar gehalten hatte. Inwieweit kann dann aber davon die Rede sein, dass die Sterne ein »possibile« bezeichnen? Man könnte zunächst annehmen, im Rahmen der Übersetzung von Johannes könnte dies insofern gerechtfertigt werden, als die Planeten nicht selbst als Ursachen, sondern nur als Anzeiger (significatores) der Ereignisse gelten. Nun betrifft aber der Unterschied zwischen den Zeichen, die sich auf etwas beziehen, was eintreten wird, und den Ursachen, aus denen das Ereignis folgt, nicht unmittelbar Möglichkeit oder Notwendigkeit dessen, was geschieht. Denn offenbar ist für Albumasar der Verlauf der Welt nur auf einem Wege möglich, und zwar demjenigen, der von den Gestirnen nicht bewirkt, wohl aber angezeigt wird. Und da der Ausdruck »possibile« so verwendet wird, dass er sich auf das bezieht, was in t1 künftig ist, besitzt er 78 Albumasar (1995 V), 42,1489 f.: »Nunc igitur patefactum est nobis quod planete sint significatores super possibile et super electionem.« 79 Albumasar (1995 V), 42,1494–1497: »Et sicut planete significant possibile atque electionem que est hominis, similiter significant quod homo non eligat nisi quod significaverint planete.«

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über eine temporale Bedeutung hinaus, wenn überhaupt, eine lediglich epistemische. Der Sache nach und der Anzeige gemäß steht p/t n bereits in t1 fest. Freilich trifft dies nur unter einer bestimmten Bedingung zu. Die Planeten in bestimmten Aspekten und Tierkreiszeichen sind für Albumasar nämlich Anzeiger des Künftigen nur insofern, als Gott das Geschehen und die darauf weisenden Zeichen koordiniert: Die Tierkreiszeichen und Planeten sind Zeichen des Seins der vier Elemente, [und zwar] der Zerstörung [ihrer Kombinationen] und der [Neu-]Zusammensetzung in den Individuen nach Gottes Willen.80

Bemerkenswert ist nun, dass der Mensch sich nicht anders entscheiden wird als genau in der Weise, die von den Sternen angezeigt wird. Daraus ergibt sich, dass zwar die Wahl den Gestirnen nicht in dem Sinne unterworfen ist, dass sie von ihnen effektiv verursacht werden würde. Denn deren Funktion beschränkt sich auf eine significatio,81 die darüber hinaus auch von Gott so abgeändert werden kann, dass das, was die Gestirne anzeigen, sich später lediglich als Hinweis auf eine nicht eingetretene Gefahr erweist. Dass aber die Wahl des Menschen in der Regel entsprechend der Anzeige der Gestirne erfolgt, heißt, dass auch die Wahl analog zur Konjunktion von ◊p und ◊¬p in t1 als Bestimmung eines passiven Vermögens konzipiert wird, die in tn durch die Gestirne erfolgen wird.82 Einem astrologisch untermauerten Determinismus soll offenbar entgangen werden, indem Sterne nur als Zeichen, nicht aber effektive Ursachen gelten, und Gott in der Lage ist, in den Prozess einzugreifen.83 Es liegt aber auf der Hand, dass diese Lösung der Sache nach deterministisch ist: Der Mensch wird sich nur für das entscheiden, was die Sterne anzeigen.

80 Albumasar (1995 V), 40,1438–41,1440: »Signa ergo et planete sunt significantia esse quatuor elementorum et corruptionis eorum atque compositionis in individuis, nutu dei.« 81 Vgl. dazu Lemay (1962), 66–68. 82 Ein auch von Thomas v. Aquino angeführter locus classicus für diese Auffassung ist Averroes (1562), 67rC/D, welche Stelle hier zitiert wird, da der Kommentator unmittelbar im Zusammenhang astraler Kausalität argumentiert: »actio earum in causatis est in maiori parte, et sunt corpora caelestia, et ideo sunt causae eorum, quae sunt et non sunt aequaliter. Apparet igitur ex hoc, quod contingens aequaliter non invenitur in potentiis agentibus per se, sed in potentiis passivis et in eis, quarum praeparatio ad receptionem duorum contrariorum est aequalis, […] contingens aequaliter invenitur in passione, non in actione«. Vgl. Thomas, STh I, q. 19, a 3, 5: »quod est ad utrumlibet, non sequitur aliqua actio, nisi ab aliquo alio inclinetur ad unum, ut dicit Commentator«, weshalb die thematisierte Selbstbestimmung nach ad 5 nur im Falle Gottes auftritt: »causa, quae est ex se contingens, oportet ut determinetur ab aliquo alio exteriori ad effectum, sed voluntas divina, quae ex se necessitatem habet, determinat se ipsam ad volitum«. Die Sachverhalte, die »sunt et non sunt aequaliter« entsprechen dem, was zumeist auftritt, was also Gegenstand des »iudicium« ist, s. FN 72. 83 Adamson (2002), 253, macht darauf aufmerksam, dass Albumasar selbst (1.) zwischen der nicht-kausalen Anzeige bzw. dem Hinweis (dalāla) und (2.) der kausalen Nötigung, dem Zwang (iḍṭirār) unterscheidet, die Gestirne aber nur nach Gottes Willen wirken. Die Alternative, auf die im Text abgezielt wird, besteht demzufolge für Albumasar selbst nicht.

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Hermann von Carinthia, dessen Text gegenüber dem des Johannes um ziemlich genau 50% kürzer ist, verwendete hingegen nicht den Begriff der Anzeige, sondern übertrug Albumasar im interpretatorischen Rahmen einer neuplatonischen Emanations- und Ursachenlehre, wie sie der Liber de causis entwickelt hatte, die er selbst in De essentiis entfaltete. Die Astrologie galt deshalb nicht als Lehre von Zeichen, sondern von allgemeinen Ursachen. »Möglich« ist daher etwas (1) in dem Sinne, dass es gewählt oder nicht gewählt werden kann, »möglich« ist etwas (2) auch insofern, als es noch nicht wirklich geworden ist. Von Interesse ist an dieser Stelle lediglich (1). Anders als nach Johannes sind die Bewegungen der Gestirne nicht als die auf die Ereignisse, die aus der menschlichen Wahl folgen werden, in der Regel genau abgestimmte Anzeigen zu verstehen, sondern als das, was einen Zustand bewirkt, der sich als Alternative darstellt, die vom Menschen entschieden werden kann. An Hand des Beispiels von der Seeschlacht hieße das, dass der Kraft der Sterne unterliegt, was bis zu der Entscheidung erforderlich ist, um eine Schlacht schlagen zu können oder sie zu meiden, nicht aber der Entschluss, sie am nächsten Tage zu beginnen. Allein der Mensch ist zum beidseitig Möglichen [=Kontingenten] im ersten Sinne befähigt, indem er durch Überlegung der rationalen Seele und auf Grund des Körpers, der der Bewegung [der Planeten] angepasst ist, [der Führung der Gestirne] folgt oder sich ihr entzieht.84

Kontingent ist dann also nicht das, was – mindestens epistemisch – noch unbestimmt ist, sondern allein die Wahl des Menschen. Die Sterne zeigen folglich auch nicht an, wie die Wahl erfolgen wird und sind auch nicht motivierender Grund der Entscheidung. Weil die Verbindung zwischen den Himmelskörpern und den irdischen Prozessen natürlich und kausal relevant ist, wird die rationale Seele von deren Einfluss weitgehend abgeschirmt, um für das Kontingente Platz zu haben. Das war nach Johannes’ Übersetzung weder vorgesehen noch erforderlich, da sie Prozesse ja anzeigen, nicht aber verursachen. Als philosophiehistorisch bedeutsam erweist sich nun aber, dass der Wille und das, was aus seiner Entscheidung als Handlung folgt, laut der Stelle aus Hermanns Übersetzung nicht deshalb Quelle des Kontingenten ist, weil er nicht in hinreichendem Maße bestimmt wäre, sondern weil er gegenüber der Macht der Sterne selbstständig ist. Das heißt, dass er nicht als ein passives, sondern als ein aktives Vermögen betrachtet werden muss.85 Das wiederum entspricht der Auffas84 Albumasar (1995 VIII), 17,570–572: »Solus homo utrique aptus ex primo [sc.: sensu], i. e. deliberatione rationalis anime corporisque adapti motu secundum vel consequitur vel evitat [sc.: siderum ducatus].« Bei allen anderen Wesen ist etwas nur insoweit möglich, als es noch nicht wirklich ist: »pro temporum commutatione« (Z. 568). 85 Vgl. Ioannes Duns Scotus Lectura II d. 25, q. un. nr. 73 (1950 XIX), 254: »plura agentia concurrant in causando […] unum tamen est agens principale […] voluntas tamen est causa principalior et natura cognoscens minus principalis, quia voluntas libere movet«. Dass das Kontingente auf das aktive Prinzip des Willens zurückzuführen sei (»voluntas agit contingenter ad utrumque«),

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sung, wie sie auch dem 5. Aphorismus des Centiloquium entnommen werden kann. Wenn der Wille des Menschen etwas abzuwenden in der Lage sein soll, dann kann es nicht der Mangel an Bestimmtheit sein, der zu einem gewissen Zeitpunkt sowohl p als auch ¬p als gleichermaßen möglich erscheinen lässt. Vielmehr geht es dann gewissermaßen um das Verhältnis zweier konkurrierender Kräfte, von denen sich unter Umständen die eine als stärker, die andere als schwächer erweist, wobei die astralen Kräfte nicht immer gegenüber dem Menschen mächtiger sind. Der Eintritt oder Nichteintritt von Effekten ändert aber nichts daran, dass das Vermögen des Menschen, in bestimmter Weise zu entscheiden, prinzipiell nicht den Sternen unterliegt und deshalb die einzige Quelle von Kontingenz darstellt, die astrologisch untergehbar ist. Allein nach der Übersetzung von Hermann kann gelten, dass der Mensch, nicht nur der Weise, sondern die mit dem Vermögen des Willens ausgestattete Kreatur über die Sterne »gebietet«, insofern dieses nicht von den Gestirnen aktualisiert wird, sondern bereits ein selbst aktives und sich bestimmendes Vermögen ist. Man wird deshalb wohl sagen können, dass die später v. a. für die Philosophie der Franziskaner charakteristische Willenskonzeption in der Albumasar-Übersetzung Hermanns einen Vorläufer hat – ob und inwieweit sie sie auch beeinflusste, kann an dieser Stelle nicht untersucht werden. Nach der Verurteilung von 1277 wurden astrologische Gedanken rezipiert, ohne dass sie in den Diskussionen um die Freiheit des Willens und die Kontingenz erkennbar eine Rolle spielten: den Sternen wurde ein Einfluss auf weitgehend körperliche Eigenschaften zugestanden, weshalb feststand, dass der Wille ihnen gegenüber frei war. Virulent wird das Problem des aktiven Willens, der dem influxus caelestis nicht einfach untergeordnet werden kann, im Zusammenhang der Herausbildung frühneuzeitlicher Handlungsmetaphysiken.86 Die beiden Übersetzungen des Introductorium maius Albumasars haben im lateinischen Raum auch die beiden theoretischen Konzeptionen über die Art des Zusammenhanges zwischen sublunaren und supralunaren Prozessen abgegrenzt: das eher »semiotische« und das eher »kausale« Modell. Ohne dass darauf näher eingegangen werden könnte, möge lediglich ein Beispiel den Unterschied zwischen beiden illustrieren. Interpretiert man die Gestirne als Zeichen, scheint die Gefahr, sich dem »Astralfatalismus« anheimzugeben und damit die Macht Gottes einzuschränken, gering zu sein. Nicht nur Albertus Magnus hat sich deshalb nicht gescheut, die auf Albumasar zurückgehende

lehrt dann bspw. Wilhelm von Ockham (1984), 736–741. Weitere Stellen bietet der luzide Beitrag von Knebel (2006), bes. 668–676. 86 Vgl. zur Einordnng des stellaren Einflusses bspw. Ioannes Duns Scotus Lectura II d. 14, q. 4, nr. 36 (1950 XIX), 126. Zu Veränderungen des Blicks auf die Astrologie an der Grenze zwischen Mittelalter und früher Neuzeit vgl. Weichenhan (2007), 72–91.

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»Weissagung« der Geburt Christi aufzugreifen, die auf dem ersten Dekanbild des Tierkreiszeichens Virgo basiert:87 Nicht weil sich der Bewegung der Sterne oder ihrem Urteil der unterwürfe, der der am meisten ersehnte unter allen ist, die geboren wurden, da er ja die Sterne geschaffen hat, sondern weil er, da er den Himmel ausspannte wie eine Haut und so das Buch des Alls schuf, das Werk unvollständig zu lassen für unwürdig hielt, wollte er nicht, dass er derjenigen Buchstaben entbehrte, die nach seiner Vorsehung im Buch der Ewigkeit geschrieben stehen.88

Die Sterne als Zeichen – Buchstaben – zu interpretieren, heißt folglich nicht, sie als Kräfte zu verstehen. Ein Horoskop zu stellen bedeutet meist etwas anderes, was sich vor allem dann zeigt, wenn man es demjenigen zu stellen versucht, der eben der Bewegung der Sterne und ihrem »Urteil« schlechterdings nicht unterworfen ist. Ein Horoskop Christi wurde wahrscheinlich dem Astrologen Cecco d’Ascoli zum Verhängnis, der 1327 hingerichtet wurde.89 Mehr als 200 Jahre später brachte es Cardano zwar nicht den Tod ein, aber als unproblematisch wurde die von ihm gestellte Genitur auch nicht aufgefasst.90 Trotz der Versicherungen, dass es sich um eine »nativitas admirabilis« handele, der die Natur zwar alles erdenklich Gute zugeteilt habe, er aber weder Göttlichkeit, noch Wunder, Heiligkeit und die Verkündung eines neuen Gesetzes von den Sternen abhängig behaupten wolle,91 handelte sich Cardano damit Schwierigkeiten ein. Vielleicht deswegen, weil Cardano nicht umhinkonnte, die nach Ptolemaios interpretierte Nativität als Beleg dafür zu verwenden, dass die Astrologie sich schlicht als wahr erwies. Da das nach den Regeln des großen antiken Astrologen gedeutete Horoskop mit der Geschichte völlig übereinstimmende Aussagen erzeugte, drängte sich die Einsicht auf, mit ihr eine Methode

87 Albumasar (1995 V), 224,430–438; vgl. auch Hermann de Carinthia (1982), 82; Weichenhan (2004), 85–87; die Rezeption der sogenannten Albumasar-Weissagung im 14. Jahrhundert stellt dar Smoller (2007). 88 Zambelli (1992), 254,92–256,97: »[…] non quia subiaceret stellarum motui aut earum iudicio natorum desideratissimus, qui creaverat ipsas stellas, sed quia cum extenderet caelum sicut pellem, formans librum universitatis, et dedignaretur opus facere incompletum, noluit litteris eum deesse ex eis, quae secundum providentiam suam in libro aeternitatis sunt scriptae […].« Der Text wurde an den hervorgehobenen Stellen gegenüber dem bei Zambelli verändert. Die Passage wird zitiert bei Pierre d’Ailly (1490), e4v. 89 Tester (1987), 193–195. 90 Text: Cardano (1663 V), 221–222, das Blatt ist nicht in allen Exemplaren der Gesamtausgabe enthalten und die Seitenzahlen 221/222, um die Zensur unauffällig zu gestalten, doppelt vergeben; vollständiger Text in der Ausgabe Cardano (1555), 368–375; an allen hier zitierten Stellen gibt es keine Abweichungen. Shumaker (1982), 76–90, gibt eine präzise astrologische Interpretation, vgl. auch Cardano (2002), 138–146. 91 Cardano (1663 V), 221a: »[…] Christi nativitatem fuisse admirabilem naturamque illi tribuisse quantum concursu omnium caelorum excogitari poterat […]. Nec tamen me velle credas dicere, quod vel divinitas in Christo, vel miracula eius, vel vitae sanctitas, vel legis promulgatio ab astris pendeant.«

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in der Hand zu haben, die Ereignisse genau zu rekonstruieren versprach.92 Das aber würde bedeuten, sie vom Lauf der Gestirne bestimmt sein zu lassen. Damit aber zeigte sich das andere und aus theologischer Sicht schwerwiegendere Problem: Bereits aus dem Horoskop war der spektakuläre Tod zu ersehen, dem deshalb die Freiwilligkeit abzugehen drohte.93 Cardano hat das gewusst. Denn in seiner Konzeption der Astrologie war, wie bei Hermann von Kärnten, der Wille wieder das, was sich seiner Natur nach selbst bewegte und damit dem astralen Einfluss nicht einfach untergeordnet werden konnte, sondern mit ihm konkurrierte.94

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92 So Cardano am Schluss (1663 V), 222b. Wer an der Astrologie zweifle, müsse deshalb annehmen, Ptolemaios habe seine Apotelesmatica auf dieses Horoskop hin ausgerichtet, was eine offensichtlich absurde Vorstellung sei: »Quid id igitur reliquum est nisi ut dicant [sc.: qui artem veram esse negant] Ptolemaeum, qui ne forsan unquam hanc genesin cognovit, ut artem fidem faceret, totom hunc librum ad eius exemplar confinxisset? Quo quid stultius dici aut absurdius excogitari possit non intelligo.« 93 Cardano (1663 V), 222a: »solis praesentia indicans mortem praeclaram et a morte nomen clarissimum«. 94 Cardano (1663 V), 114a: »Nam voluntas mutatur etiam per se, quod vero a natura fit, non nisi a potentiore causa alia impediri potest.«

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Das Neben- und Miteinander providentieller Deutungsmuster im Rolandslied des Pfaffen Konrad Susanne Reichlin

Die mediävistische Literaturwissenschaft nimmt gewöhnlich im Rekurs auf die spätantike und mittelalterliche Philosophie (insbesondere Boethius) an, dass in mittelalterlichen Erzählungen die Kontingenz sowie die Macht des Zufalls1 klar begrenzt sind: »Kontingenz ist nur im kleinen möglich, unterhalb des göttlichen Heilsplans; in der Summe alles einzelnen jedoch manifestiert sich die göttliche Providenz, auch wenn dies die menschliche Erkenntniskraft übersteigen kann«.2 Diese philosophisch gut abgestützte Annahme führt zu Lektüren, die je neu aufzeigen, wie im Erzählen Kontingenz ›bewältigt‹ wird: Dem vordergründigen Zufall (z. B. im Höfischen Roman) komme eine das Geschehen lenkende Funktion zu3 und alle Missgeschicke (z. B. in Legenden) seien nur vordergründige, die am Ende die göttliche Voraussicht bestätigen würden.4 1

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Dass Zufall und Kontingenz als zwei eng miteinander verknüpfte Begriffe verstanden werden, ist u. a. das Ergebnis einer komplexen Übersetzungsgeschichte. So wird von Seiten der analytischen Philosophie problematisiert, dass Boethius sowohl symbanein (zusammengehen, eintreffen, ereignen) als auch endechesthai (mögliches Ereignis) mit contingit oder contingens übersetzt. Dadurch werden accidens und contingens enger miteinander verknüpft, als dies bei Aristoteles der Fall ist; so Schulthess (2009), 67–69; Brugger (1976), 1028 f.; Störmer-Caysa (2007), 149–152; Seelbach (2010), 6 f. Auch die Übersetzung von contingentia mit ›Zufälligkeit‹ im 17 Jh. ist keineswegs selbstverständlich; vgl. Kranz/Knebel (2004), 1408; Mainzer (2011), 2665; Wetz (1998). Im Folgenden wird Kontingenz der Einleitung entsprechend modallogisch als weder unmöglich noch notwendig bestimmt. Die Begriffsgeschichte stützt sich hierbei traditionell auf die Definition von Aristoteles: »dass überhaupt für diejenigen Dinge, die sich nicht immer im Zustand der Verwirklichung (einer bestimmten Möglichkeit) befinden, die Möglichkeit besteht, (das und das) zu sein, und auch die Möglichkeit, (es) nicht zu sein, wobei für diese Dinge jeweils beides möglich ist: sowohl, dass sie (das und das) sind, als auch, dass sie (es) nicht sind, und demzufolge sowohl, dass sie (es) werden, als auch, dass sie (es) nicht werden;« (Aristoteles, De interpret. 9,19 a 9 f.; vgl. auch: Met. IX, 3d–4a). Vgl. zu den unterschiedlichen Konzeptionen des Kontingenten bei Aristoteles u. a. Schulthess (2009), 57 f. Schulz (2012), 298; vgl. auch Neuschäfer (1969), 76–90; Störmer-Caysa (2007), 149–196. Vgl. zu den folgenden Abs. insgesamt ausführlicher: Reichlin (2010a). Vgl. u. a. Cormeau (1995), 25–28; Haug (1995a), 64; Haug (1995b), 12–14; Störmer-Caysa (2007), 162–170; Methodisch sind diese Analysen häufig geprägt von Bachtin (2008), 18–21. Vgl. zur Kritik an dieser Lektüreform Seelbach (2010), 20–31. Allenfalls dienen die Hindernisse dazu, den niemals wankenden Glauben der christlichen Protagonisten darzustellen; vgl. Martínez (1996), 90–100; Haferland (2005), 349. Methodisch sind

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Dieses Modell einer begrenzten Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur gewinnt seine Plausibilität auch dadurch, dass es in eine prägnante Transformationsgeschichte eingebettet wird: Während in der Vormoderne die Ordnung vorgibt, in welchem Bereich kontingente Ereignisse möglich sind, werde in der Moderne die Ordnung, die vorgibt, was notwendig und was nicht-notwendig ist, ihrerseits kontingent. Soziale, politische oder diskursive Ordnungen würden nicht als gegeben angenommen, sondern als eine Möglichkeit unter anderen, deren Realisierung sich nur historisch, nicht systematisch begründen lässt.5 Das in einem emphatischen Sinne kontingente Ereignis ist dann nicht nur nicht-notwendig und nicht unmöglich, sondern es sprengt die bestehende Ordnung und macht ihre Arbitrarität sichtbar.6 Die vormoderne Hierarchie von Providenz und Kontingenz wird – dieser Transformationsgeschichte zufolge – in der Moderne verkehrt: Während in der Vormoderne die Kontingenz der Ordnung nachgeordnet ist, geht sie ihr in der Moderne voraus. Damit lassen sich auch Providenz und Kontingenz klar entgegensetzen: In der Vormoderne wird die Kontingenz durch die Providenz gerahmt, während Providenz in der Moderne eine naive Sinnstiftung darstellt, die die universal gegebene Kontingenz vergeblich zu bewältigen versucht. Diese ›Transformationsgeschichte‹ bietet in ihrer pointierten Zuspitzung eine gute ideengeschichtliche Grundorientierung.7 Allerdings hat ihre fortschrittsgeschichtliche Ausrichtung auch einige problematische Nebeneffekte: So wird der Endpunkt der Geschichte – also das moderne Kontingenzverständnis – zum seinerseits nicht weiter begründeten Ausgangspunkt für die Betrachtung vergangener Kontingenzkonzeptionen: Kontingenz wird als universelle Gegebenheit vorausgesetzt und zugleich – im Sinne einer anthropologischen Konstante – angenommen, dass sie für den Menschen bedrohlich

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diese Analysen meist geprägt von Lugowski (1994), 24–28, 40–44. Prominent Luhmann (1992), der jedoch zugleich betont, dass dieses moderne Kontingenzverständnis nicht mit Ordnungslosigkeit gleichzusetzen ist. Vielmehr würden die modernen Institutionen ihre Stabilität auf Kontingenz, statt auf transzendent garantierten Letztgewissheiten gründen (ebd. 103). Vgl. auch Waldenfels (1987), 89 f.; Waldenfels (2000); Graevenitz/Marquard (1998), XI–XIV; Makropoulos (1998), 69 f. Blumenberg (1999) skizziert das Verhältnis von vormodernem und modernem Kontingenzverständnis leicht anders: Er nimmt an, dass die im Spätmittelalter radikalisierte Allmacht Gottes zu einer »Gewißheitskrise« führt, auf die sodann Descartes reagiert, indem er der Vernunft die Freiheit gibt, die Bedingungen des Erkennens mitzubestimmen (ebd. 208–245). Vgl. dazu wiederum die Kritik von philosophiehistorischer Seite Goldstein (2004). Vgl. Wellbery (1992), 162 f., der hierbei sehr genau zwischen unterschiedlichen Positionen und Medien differenziert. Dass damit auch begriffs- und ideengeschichtliche Pauschalisierungen einhergehen, sei hier nur am Rande vermerkt: So kann damit z. B. die Entstehung der christlichen providentia-Positionen durch die Abgrenzung von den antiken Positionen (Nezessitarismus oder Determinismus) nicht gefasst werden. Ebenso wenig finden sodann die innerchristlichen Entwicklungen und insbesondere die spätmittelalterlichen Diskussionen um die Allmacht und Kontingenz Gottes (bei Scotus und Ockham) ihren Platz. Vgl. dazu Söder (1999), 14–49, 125–186.

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und nur schwer zu akzeptieren ist.8 Aufgrund solcher Prämissen wird jegliche Form von Providenz fast automatisch zu einer naiven Kontingenzbewältigung. Die Differenzen und Diskontinuitäten zwischen verschiedenen Diskursen und der je nach (Darstellungs-)Medium unterschiedliche Umgang mit Kontingenz werden außer Acht gelassen.9 Deshalb soll im Folgenden nicht von einem vormodernen Primat der providenten Ordnung ausgegangen werden, sondern gefragt werden, wie im Medium der Erzählung Providenz und Kontingenz dargestellt werden, wie sie ineinander greifen und inwiefern sich diese erzählende Darstellung und Konzeption des Verhältnisses von Kontingenz und Providenz von dem anderer Diskurse unterscheidet. Dabei soll zunächst von zwei Besonderheiten des Darstellungsmediums ›Erzählung‹ ausgegangen werden. (1) Das eingangs skizzierte vormoderne Providenz-Kontingenz-Verhältnis basiert auf einer doppelten Perspektive. Auf der einen Seite steht die menschliche und zeitliche Perspektive, der viele Ereignisse als unbegründet, willkürlich oder kontingent erscheinen. Durch den Wechsel auf die imaginierte Position der Providenzinstanz – also durch den Blick sub specie aeternitatis – kann die Wohlgeordnetheit der irdischen Ereignisse präsentiert werden. Diese Perspektiven, die theoretisch vollständig inkommensurabel sind, werden in den philosophischen Texten klar voneinander getrennt.10 Die literarischen Texte unterscheiden sich von den philosophischen aber nicht zuletzt dadurch, dass 8

Dies wird besonders bei Blumenberg immer wieder deutlich, vgl. u. a. Blumenberg (1999), 201, 656. Eine ähnliche Position vertritt in der Literaturwissenschaft auch Seelbach (2010), 8–10, 26, die Kontingenz als (universelle) ›Erfahrung‹ versteht, die von einer »exkludierenden Vernunft« ausgeschlossen wird und deshalb gerade in literarischen Texten dargestellt werden kann. 9 Die Gleichzeitigkeit mehrerer ganz unterschiedlicher Kontingenzkonzeptionen kann bereits bei Aristoteles beobachtet werden, wie bereits in der Einleitung vermerkt wird. Während Aristoteles mit endechomenon einen logischen Bereich dessen bestimmt, was ›weder unmöglich noch notwendig‹ ist, steht tyche für das unerwartete Zusammentreffen mehrerer zielgerichteter Handlungen. automaton wiederum bezeichnet nicht-notwendige Wirkungen im Bereich der leblosen Dinge. Während die Notwendigkeit, von der sich das Kontingente abgrenzt, bei endechomenon eine semantisch-logische ist, handelt es sich bei tyche und automaton um Zweckursachen (causa finalis) und nicht um Wirkursachen (causa efficiens). Vgl. Kranz/Knebel (2004), 1410 f.; Mainzer (2011), 2664. 10 Vgl. u. a. Boethius, Consolatio philosophiae, Lib. 4, prosa 6, 56–60: illud certe manifestum est, immobilem simplicemque gerendarum formam rerum esse providentiam, fatum vero eorum, quae divina simplicitas gerenda disposuit, mobilem nexum atque ordinem temporalem. »das ist gewiss offenbar, dass die Vorsehung die unbewegte und einfache Form der sich vollziehenden Dinge ist, das Schicksal aber die bewegte Verflechtung und die zeitliche Ordnung dessen, was die göttliche Einfachheit zum Vollzug geordnet hat.« Ebenso unterscheidet z. B. Thomas von Aquin zwischen der zeitlosen vernünftigen Ordnung (ratio ordinis / providentia) und ihrer zeitlichen Ausführung (executio ordinis / gubernatio) S. Theol. I, [86,4c] Q. 22,1,3. Vgl. auch Störmer-Caysa (2007), 155. Damit soll nicht gesagt sein, dass die philosophischen Texte die Unverfügbarkeit der göttlichen Perspektive nicht ihrerseits thematisieren oder gar reflektieren. Doch tun sie es auf andere Art und Weise als die literarischen Texte (Boethius konzipiert z. B. das fatum sowohl als ausführende Instanz der providentia als auch als willkürliche Instanz der Verknüpfung in der Zeit).

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sie diese klare Trennung der Perspektiven nicht bieten: Zwar stehen auch hier die verschiedenen Figurenperspektiven der Erzählstimme gegenüber, die der geschilderten Welt übergeordnet ist und allenfalls auch vom Eingreifen Gottes berichtet. Doch präsentiert diese Erzählstimme keineswegs eine zeitlose Ordnung, sondern ist Teil der Zeitlichkeit des Erzählens. Die absolute und zeitlose Perspektive Gottes ist deshalb im zweifachen Sinne unverfügbar: Sie ist zum einen dem Menschen unzugänglich und sie kann zum anderen im zeitlichen Medium des Erzählens nicht dargestellt werden. Es ist zu untersuchen, wie Erzählungen, die ein providentes Weltbild vertreten, mit diesem Problem umgehen: Welche unterschiedlichen Perspektiven prägen diese Texte und wie werden die – theoretisch inkommensurablen – Perspektiven aufeinander bezogen oder gar hierarchisiert?11 (2) Erzählungen sind Zeichenketten, deren Anordnung nicht logisch notwendig ist, sondern auf Konventionen beruht. Deshalb können Ereignisse, die kontingent erscheinen, nachträglich als provident ausgewiesen werden und providente Deutungen sich als kontingent (im Sinne von beliebig) herausstellen. Damit wird jedoch auch die Darstellung von kontingenten Ereignissen bzw. Zufällen zu einem erzählerischen Problem, da diese immer als ›inszenierte‹ und nicht als lebensweltliche Zufälle erscheinen bzw. nicht in einem »emphatischen Sinne« kontingent sind.12 Man kann daraus für die literaturwissenschaftliche Analyse von Kontingenz unterschiedliche Schlüsse ziehen: Auf der einen Seite kann man folgern, dass Kontingenz nicht auf der Ebene des Dargestellten, sondern auf der Ebene der Darstellung (Kontingenz des Erzählens) oder bei der Überlieferung angesiedelt werden muss.13 Dies bedeutet jedoch, Kontingenz weiterhin als beobachtbares Phänomen zu betrachten. Dagegen kann man auf der anderen Seite die ›Gemachtheit‹ einer Erzählung zum Anlass nehmen, Kontingenz nicht als Phänomen, sondern als Deutungskategorie zu analysieren. Kontingenz wird somit – ganz ähnlich wie Providenz – als eine Zuschreibung verstanden, die den Zustand oder das Ereignis, dem sie attribuiert wird, zugleich deutet. Es ist dann nicht das kontingente Phänomen, sondern die Logik und Rhetorik der Zuschreibung von Kontingenz und Providenz zu beobachten.

11 In einigen didaktischen Texten wird ein und dasselbe Geschehen zuerst aus der Perspektive des Menschen und dann aus der Perspektive einer Providenzinstanz erzählt; vgl. z. B. von Heinrich Kaufringer Der Einsiedler und der Engel. Diese Hierarchisierung zweier Perspektiven ist jedoch eine Ausnahme und v. a. in kurzen didaktischen Texten zu finden; vgl. dazu Reichlin (2010b), 257–261. 12 Wellbery (1992), 161 f., unterscheidet diesbezüglich zwischen einer »funktionalen« und einer »emphatischen« Kontingenz. Ricoeur (1986), 12–14, unterscheidet zwischen wilder Kontingenz (»contingence sauvage«) und geregelter (»contingence reglée«); vgl. dazu Anm. 14. 13 So Warning (2002), 176, 180; zur Kontingenz der Überlieferung vgl. den Beitrag von Kaiser in diesem Band.

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Von diesen Überlegungen ausgehend sollen im Folgenden Providenz und Kontingenz als Deutungsmuster verstanden werden, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen von Erzählungen zum Einsatz kommen können (Zuschreibungen und Deutungen von Figuren und Erzähler, dargestellte ›Notwendigkeiten‹ sowie das direkte Eingreifen einer Providenzinstanz). Es soll untersucht werden, in welchem Verhältnis diese Deutungen zueinander stehen und welche Effekte durch die Überlagerung unterschiedlicher Deutungen erzeugt werden. Ausgangspunkt der Analyse ist das Rolandslied des Pfaffen Konrad, das sich durch einen gehäuften und scheinbar redundanten Einsatz providentieller Deutungsmuster auszeichnet. Diese prägen den mittelhochdeutschen Text viel stärker als seine altfranzösische Vorlage. Anstatt dies – der skizzierten Transformationsgeschichte entsprechend – als verstärkte Kontingenzbewältigung zu lesen, soll gezeigt werden, dass die Vielzahl der Providenzdeutungen einander nicht – oder nicht nur – additiv ergänzen, sondern gerade durch die damit einhergehende Reduktion von Kontingenz Geltungsfragen aufgeworfen werden. Dadurch wird Raum für Deutungsstrukturen geschaffen, die dem eingangs skizzierten modernen Kontingenzverständnis nahekommen. Während jedoch die skizzierte Transformationsgeschichte das moderne Kontingenzverständnis als Emanzipation von religiösen oder machtpolitischen Ordnungen begreift, soll am Rolandslied die Interdependenz von Providenz- und Kontingenzdeutungen gezeigt werden. Das Rolandslied bestätigt auf den ersten Blick die These, dass Erzählen ungeordnetes Geschehen in geordnetes überführt14 und so der Kontingenzbewältigung und womöglich auch der ideologischen Sinnstiftung dient. Der Text bezieht sich auf eine in den historischen Quellen nur am Rande erwähnte Episode, als Karl der Große 778 in Spanien in einen baskischen Hinterhalt gerät und seine Nachhut vernichtend geschlagen wird.15 Die altfranzösische Chanson de Roland16 erzählt noch um 1095 von dieser Niederlage, doch wird Karls Heer nun nicht mehr von den Basken, sondern von den Sarazenen in einen Hinterhalt gelockt. Ebenso sind innerchristliche Streitigkeiten für die Niederlage der christlichen Nachhut verantwortlich: Ganelon, der Schwager von Karl, verrät das christliche Heer und insbesondere seinen Stiefsohn Roland (L 28–47). Dieser wird zum Führer der Nachhut bestimmt und muss in Unterzahl 14 So Ricoeur (1986), 11–20. Er nimmt an, dass durch das Erzählen die »wilde« lebensweltliche Kontingenz in eine »geregelte« intelligible Kontingenz überführt wird, die spezifische Sinneffekte erzeugt. Ähnlich Warning (2002), 176, der die Kontingenzbewältigung allerdings nur dem sujethaften Erzählen zuschreibt. 15 Einhardi Vita Karoli Magni, Kap. 9. Vgl. dazu Ott-Meimberg (1980), 6–16; Ott-Meimberg (1984), 83–89. Ohly (1971) gibt zudem Hinweise auf Texte, die die Überlieferung zwischen 778 und 1095 überbrücken und die Chanson de Roland (im Folgenden durch ChdR abgekürzt) zusätzlich geprägt haben könnten. 16 Zur Diskussion um die orale oder schriftgestüzte Produktion und Transmission der ChdR vgl. die Forschungsüberblicke bei Kloocke (1972), 287–457; Bastert (2010), 11–58.

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gegen die Sarazenen kämpfen. Er und seine Männer sterben einen heldenhaften Märtyrertod (L 145–177). Kurz vor seinem Tod ruft Roland das Hauptheer zu Hilfe. Karl kehrt mit seinem Heer um, beerdigt die Toten und beginnt eine zweite, noch gewaltigere Racheschlacht. Dank der Hilfe Gottes besiegt Karl im abschließenden Zweikampf den Führer der Sarazenen, den Emir Baligant (L 258–262).17 Die Christen vernichten das fliehende sarazenische Heer vollständig. Somit wird die historische Niederlage in der Chanson de Roland erzählerisch legitimiert und die Niederlage zu einem späteren Sieg umgeschrieben. Die ca. um 1170 entstandene mittelhochdeutsche Erzählung des Pfaffen Konrad basiert auf der geschilderten altfranzösischen Vorlage,18 doch wird der Text großzügig erweitert: Während die Chanson de Roland nahezu mitten in der Schlacht einsetzt, wird der mittelhochdeutsche Text durch Prolog und Epilog gerahmt.19 Es kommt eine Vorgeschichte hinzu, in der Karl von einem Engel den Auftrag erhält, nach Spanien zu ziehen und die Heiden zu bekehren (V. 55 ff.). Ebenso finden sich im mittelhochdeutschen Text neu eine Reihe von Figuren- und Erzählerkommentaren, die das Geschehen mittels biblischer Vergleiche und Psalmanspielungen kommentieren und deuten.20 Dabei präsentiert der mittelhochdeutsche Text das Geschehen viel deutlicher als die altfranzösische Chanson im Rahmen eines heilsgeschichtlichen Kontextes und fügt viele neue Providenzhinweise und providentielle Deutungen hinzu. Während also die altfranzösische Chanson eine legitimierende und die Niederlage kompensierende Sinnstiftung bietet, geht es im mittelhochdeutschen Text – bei aller Vorsicht, die bei solchen Vergleichen angebracht ist21 – vermehrt darum, inwiefern ein historisches Geschehen als ein providentiell bestimmtes Geschehen verstanden werden kann und inwiefern dieses Verständnis aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein anderes ist. Um dies sowie die weiter oben aufgeworfenen Fragen zu beantworten, werden im ersten und zweiten Teil des Aufsatzes die einzelnen Erzählebenen ge17 Vgl. zur ChdR allg. Kullmann (2008); die romanistische Forschung geht davon aus, dass die Baligant-Episode erst später in den Stoff eingearbeitet worden ist; vgl. ebd. 57. 18 Es lässt sich allerdings keine Handschrift der ChdR als Vorlage des Pfaffen Konrad identifizieren und insofern ist ein Vergleich methodisch nicht unproblematisch; vgl. dazu Hennings (2008), 90–110. Im Folgenden wird zwar wie in der Forschung üblich die Oxforder Handschrift der ChdR zitiert, doch werden die zitierten Stellen mit den anderen Handschriften (vgl. La Chanson de Roland, hg. v. Duggan) abgeglichen. 19 Dieser unmittelbare Einstieg entspricht der zyklischen Struktur der Chanson de geste; vgl. Bastert (2010), 178 f. Das Rolandslied wird nach der nicht normalisierten Ausgabe von Wesle (1985) zitiert (und mit RL abgekürzt); die normalisierte Ausgabe von Kartschoke (1993) wird vergleichend hinzugezogen. 20 Castelberg (2002), 55, bezeichnet dies überzeugend als » ›textintegrierte Gloßierung‹ der Handlung«; vgl. dazu auch allg. Backes (1966), 61–110; Ohly (1987), insbes. 90–92. 21 Vgl. Ott-Meimberg (1980), 51–58, 76–78, die aufzeigt, dass der Vergleich häufig nationalen Stereotypen folgt, und die auch überzeugend die These kritisiert, dass die politische Problematik in der ChdR im RL eine sog. metaphysische werde; so u. a. Ohly (1940), 192, 204; Stein (1933), 37.

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trennt analysiert. (1) Das erste Unterkapitel ist der Figurenebene gewidmet. Es wird gefragt, welche providentiellen Deutungsmuster die Figuren verwenden und wie sie auf solche reagieren. Dies lässt sich besonders gut an den Szenen beobachten, in denen sowohl die Christen als auch die Sarazenen sich auf eine Providenzinstanz berufen oder in denen sie sich durch providentielle Deutungsmuster verführen lassen. Auf der Erzählebene ergeben sich dadurch Spiegelungen zwischen sog. heidnischen und sog. christlichen Providenzdeutungen, die einen stärker technischen Blick auf providentielle Deutungsmuster ermöglichen. (2) Der zweite Teil des Aufsatzes untersucht die Ebene der Motivation und analysiert, wie durch die Verknüpfung und Motivierung der Ereignisse eine providentielle Notwendigkeit suggeriert wird. Dabei ist zu zeigen, dass für die Providenzdarstellung nicht die Unterscheidung von kausaler und finaler Motivierung wichtig ist, sondern das Zusammenspiel von kausaler Über- und Untermotivierung. (3) Im dritten und letzten Teil werden die Effekte untersucht, die durch das Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher providentieller Deutungen auf unterschiedlichen Erzählebenen entstehen. Dabei wird erneut von der Parallelität der christlichen und der heidnischen Providenzdeutung ausgegangen und untersucht, wie die providentiellen Deutungsmuster der Figuren sich zur Faktizität des erzählten Geschehens verhalten. Diese Frage lässt sich jedoch nur beantworten, wenn auch die Zeitlichkeit des Erzählens und die begrenzte Zeitlichkeit der Deutungsmuster sowohl auf der Figuren- als auch auf der Erzählebene in den Blick genommen werden.

Spiegeleffekte: ›christliche‹ und ›heidnische‹ Providenzargumente und ihre Verführungskraft Als der Sarazenenführer22 Marsilie realisiert, dass er gegen das sich nähernde Heer Karls chancenlos bleiben wird, beruft er einen Rat ein. Dieser beschließt, Karl die Taufe in Aachen zu versprechen und dies mit Geiseln zu garantieren. Sobald das Hauptheer abgezogen ist, soll die Nachhut überfallen werden (V. 395–566). In der altfranzösischen Chanson schickt Marsilie seine Boten zu Karl, um diesem das vermeintliche Friedensangebot mit Ölbaumzweigen 22 Die Sarazenen werden wie in vielen Texten der Zeit nicht als Muslime im historischen Sinne, sondern als Heiden und Polytheisten dargestellt, ihre Hauptgötter werden Mahmet und Apollo genannt, manchmal auch »Teruagant«; vgl. u. a. V. 1998, 2364, 3465–3530, 8495. Vgl. dazu allg. Hensler (2006), 92 f., in Bezug auf das RL 205–239. Die Sarazenen werden im RL (wie auch in der ChdR) meistens als haiden bezeichnet (vgl. u. a. V. 3394, 3465). Dies entspricht der asymmetrischen Grundhaltung des Textes, der aus christlicher Perspektive erzählt und mit haide abwertend alles Nicht-Christliche fasst; vgl. dazu Koselleck (1989), 211–213, 229–231; siehe dazu auch unten Anm. 41. Wenn im Folgenden die Sarazenen punktuell als ›Heiden‹ bezeichnet werden, so geschieht dies, um die Perspektive des Textes zu verdeutlichen und im Wissen darum, dass es selbstverständlich kein neutraler, sondern immer ein asymmetrischer Begriff ist.

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(»branches d’olives«), die für den Frieden stehen, zu unterbreiten (ChdR, V. 72 f., 80). Das alttestamentliche und antike Symbol des Ölzweiges23 wird im Rolandslied durch ein dezidiert christliches Zeichen, den Palmzweig, ersetzt:24 Marsilie verlangt: »durch iwer selber gůte / machet uch demůte. / nemet palmen in die hant« (V. 593–595).25 In der darauf folgenden Szene am Karlshof übergeben die Boten Karl prachtvolle Geschenke26 und fallen vor ihm »in phellilinem gwande, / die palmen in den handen« auf die Knie (V. 677 f.).27 Während die Ölzweige im altfranzösischen Text bei der tatsächlichen Begegnung mit Karl nicht mehr erwähnt werden (L 8–10), denkt Karl im Rolandslied bei der Entgegennahme der Palmzweige laut über ihre Bedeutung nach: Nachdem er kurz daran erinnert hat, dass die Sarazenen zwei seiner Boten umgebracht haben (V. 815–819),28 deutet er die Palmzweige als Mahnung zur Demut sowie als Warnung vor vorschneller Rache: selbe der ware gotes sun […] durch sine demůte ein esel er zů Iherusalem reit […] einem palmen uůrte er in der hant.29 nu birt ir her zuo mir gesant u] uůret daz selbe zeichin. minem zorne muz ich intwichin. di palme bezeichinot den sigenunpht: owi ob iz hernach so komet, daz sich Marsilie bekeret, so wirdit di cristinheit wole geeret.

23 Vgl. den Olivenzweig, den die Taube Noah bringt (Gen 8,11), vgl. auch Ps 52,10 sowie Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 3, 341 f. 24 Vgl. Richter (1972), 179–186, der nachweist, dass der dies palmarum, der sowohl Siegesfeier als auch Beginn der Karwoche ist, den Palmzweig zu Zeichen für das Martyrium und für den Sieg bzw. die Auferstehung macht. Vgl. auch Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 3, 364 f. Siehe auch Anm. 29. 25 »Für euer eignes Wohl demütigt euch. Nehmt Palmwedel in die Hand«; die Übersetzungen folgen gewöhnlich der Übersetzung von Kartschoke (1993). 26 Die prachtvollen Geschenke der Boten werden allerdings vom prachtvollen Glanz von Karls Hof und seiner Erscheinung übertroffen; vgl. V. 641–674, 681–708; vgl. dazu auch Gerok-Reiter (2002), 80–89. Sie weist auch auf die Ersetzung der Olivenzweige durch Palmwedel hin, deutet dies aber als »Vergeistlichung« (ebd. 80). 27 »In ihren kostbaren Gewändern und mit den Palmzweigen in den Händen fielen sie wiederholt auf die Knie«. 28 In der ChdR erinnert Roland den Kaiser daran, dass Marsilie zwei seiner Boten umgebracht hat und erwähnt dabei auch, dass die damaligen heidnischen Boten, die die Boten abholten, ebenfalls branches d’olive in den Händen trugen (V. 203). 29 Wie bereits Richter (1972), 182, nachweist, hat Jesus im Johannesevangelium keine Palmzweige in der Hand, sondern diejenigen, die ihn bejubeln (Joh 12,13). Richter sieht diesen »bewußten oder unbewußten Fehler K.s« dadurch bedingt, dass in der zeitgenössischen Allegorese die Palme das Zeichen des Siegs über den Tod ist und z. T. auch von der Palme in der Hand des Siegers gesprochen wird (ebd. 182).

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swaz Marsilie hat widir mir getan, durch got schůlt ir uride han. (V. 820–834)30

Obwohl es in dieser Textsorte topisch ist, die Sarazenen als Lügner und Betrüger zu verunglimpfen, konzentriert sich die Szene ganz auf die Fehldeutung Karls, nicht auf den Betrug der Sarazenen. Karl bezieht die Palmzweige in einem ersten Schritt auf Jesu Einzug in Jerusalem, der bei Mt 21,4 und Joh 12,14 als Erfüllung eines Prophetenwortes dargestellt ist (Sacharja 9,9). Zugleich verlängert er diese Verheißungs- und Erfüllungsstruktur auf seine eigene Situation, die er als imitatio Christi darstellt: So wie Jesus durch den Ritt auf dem Esel Demut gezeigt habe, so fordert er nun sich selbst zur Demut auf (V. 821, 828). Darüber hinaus versteht er den Palmzweig aber auch – den zeitgenössischen Allegoresen31 folgend – als Siegeszeichen (V. 829), das er auf die vom Engel am Beginn des Rolandsliedes prophezeite Heidenbekehrung bezieht. Da ihm der Engel den Auftrag gegeben hatte: »ile in Yspaniam! / got hat dich irhoret, / daz lút wirdit bekeret; / di dír abir wider sint […] die slehet der gotes zorn« (V. 56–62),32 glaubt er sich providentiell dazu ausersehen, die Sarazenen zu bekehren. Er deutet somit den Palmzweig als providentielles Zeichen, dass die vom Engel angekündigte Bekehrung eingetroffen ist. Deshalb versichert er den Boten seinen Schutz und ruft nun seinerseits den Rat zusammen – und läutet damit die Niederlage der christlichen Nachhut ein. Während die Sarazenen in der altfranzösischen Chanson mehrfach33 dieselben trügerischen Ölbaumzweige einsetzen, wird Karl im Rolandslied mittels eines (von den Sarazenen neu eingesetzten) christlichen Symbols zur Annahme des Angebots verführt. Auch den vorbildlichen christlichen Figuren fehlt somit – wie die Analyse der Figurenebene zeigt – die Sicherheit zu wissen, welche Zeichen ein providentiell gelenktes Geschehen andeuten und welche bloß täuschende Zeichen des Gegners sind. Da der Rezipient im Unterschied zu den Figuren die ›richtigen‹ von den ›falschen‹ Zeichen unterscheiden kann, zielt der Text nicht auf eine generelle Verunsicherung, aber er zeigt doch die Verführungskraft und Instrumentalisierbarkeit von potentiellen providentiellen Zeichen auf. Doch nicht nur die Christen, sondern auch die Sarazenen lassen sich durch providentielle Argumentationen verführen. Noch vor seinem Verrat wird Genelun vom Sarazenen Blanscandiz gefragt, weshalb die Christen die ›heidni30 »Der wahre Sohn Gottes […] ritt in seiner Demut selbst auf einem Esel in Jerusalem ein […]. Einen Palmwedel hielt er in der Hand. Nun seid ihr zu mir entsandt und führt das gleiche Zeichen. Ich muss von meinem Zorn lassen. Die Palme bedeutet Sieg. Ach, wenn es wirklich geschähe, dass sich Marsilie bekehrt, so triumphiert das Christentum. Was immer Marsilie gegen mich unternommen hat, in Gottes Namen sollt ihr Frieden haben.« 31 Richter (1972), 182. 32 »Eile nach Spanien! Gott hat dich erhört: Das Heidenvolk wird bekehrt werden. Die sich dir aber widersetzen, […] sie wird der Zorn Gottes treffen.« 33 Vgl. Anm. 28.

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schen‹ Gebiete so verbissen eroberten. Genelun differenziert in seiner Antwort zwischen Karl und Roland:34 Karl handle nicht eigenmächtig, sondern im Auftrag Gottes, »der gebivtet ime di heruart. / so ne ist des nehein rat« (V. 1800 f.).35 Deshalb lohne es sich auch nicht, ihn anzugreifen: »dem keisere ne mah nieman geschaden. / got ist selbe mit im, / er gipt ime kraft v] sin / v] sterket in dar zo« (V. 1807–1810). Anders sei dagegen das Handeln von Roland und Olivier zu verstehen. Sie seien von einem unstillbaren Eroberungsdrang durchdrungen.36 Er fügt hinzu: »wie ob iz got so gescheidet, / die sich da zesamme habent gesellet, / daz ir hochuart wurde geuellet« (V. 1877 ff.).37 Genelun positioniert somit Roland und Olivier nicht außerhalb des providentiellen Plans, sondern sie werden einem anderen Teil des Plans zugeordnet. Er stellt sie als die Hochmütigen dar, die gemäß dem Ratschluss Gottes zu Fall kommen werden. Auch Genelun setzt also die providentiellen Deutungsstrukturen gezielt ein: Indem er Karl als Instrument einer providentiellen Macht darstellt, macht er deutlich, dass dieser nicht besiegt werden kann. Den Angriff auf Roland (und die Nachhut) bewirkt Genelun dagegen dadurch, dass er Rolands Fall als vorherbestimmt darstellt. Sowohl die Heiden als auch die Christen lassen sich somit von providentiellen Deutungen überzeugen. Diese Parallelität von ›christlichen‹ und ›heidnischen‹ Providenzannahmen wird – wie noch zu zeigen sein wird – in den Kampfpassagen der ersten Schlacht dadurch verstärkt, dass die sarazenischen und die christlichen Kämpfer sich mit z. T. denselben Worten den providentiell garantierten Sieg prophezeien. Anders als in vielen philosophischen Texten geht es also nicht darum, die christliche Providenz durch die Abgrenzung vom ›heidnischen‹ Nezessitarismus oder Sternenglauben zu profilieren – so wie man dies z. B. noch im Streitgespräch (V. 3092–3820) in der Faustinianlegende der Kaiserchronik beobachten kann.38 Vielmehr wird im Rolandslied die Ähnlichkeit der christlichen und der heidnischen Providenzargumentation hervorgehoben. Diese Parallelität der providentiellen Argumentationen zeigt auf der Erzählebene die Funktionsweise providentieller Deutungsmuster auf: Ihnen ist 34 Genelun beantwortet die Frage auch für sich selbst, ohne dabei jedoch auf providentielle Deutungsmuster zu verweisen; vgl. V. 1790–1795. 35 »Niemand kann dem Kaiser Unheil zufügen. Gott selbst ist mit ihm. Er gibt ihm Macht und Verstand und macht ihn stark für seine Aufgabe«. 36 Genelun wirft Roland auch ›Blutdurst‹ vor (V. 1863, vgl. auch V. 1129). In der ChdR wirft Genelun an dieser Stelle Roland darüber hinaus vor, dass er mit dem geplünderten Besitz seine Gefährten und Anhänger besteche (V. 398 f.). 37 »Was aber, wenn Gott es fügte, dass der Hochmut dieser Gesellen zu Fall käme?« 38 Die christlichen Protagonisten möchten einen altman überzeugen, dass die Welt nicht durch die wîlsælde, sondern die göttliche Providenz gelenkt wird. Im Streitgespräch wird die Differenz zwischen dem Sternen-Determinismus (wîlsælde) und der christlichen Position Punkt für Punkt herausgearbeitet. Allerdings wird der altman am Ende nicht durch die Argumente, sondern durch die ›Fakten‹, die Wiedervereinigung der Familie, überzeugt. Vgl. dazu Martínez (1996), 83–90; Störmer-Caysa (2007), 187–191.

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eine ganz spezifische Verführungskraft eigen, die sich der Suggestion einer erhofften Zukunft verdankt. Deshalb lassen sich providentielle Argumentationen und Zeichen auch von unterschiedlicher Seite instrumentalisieren. Die Parallelität des christlichen und des heidnischen Providenzglaubens widerspricht auf den ersten Blick der in der Forschung etablierten Annahme, dass das Rolandslied ein dem Christlichen radikal entgegengesetztes negatives Heidenbild biete:39 Die Heiden seien den Christen in jeder Hinsicht wertasymmetrisch entgegengesetzt und würden als Polytheisten, animalische und dem Teufel verfallene Wesen dargestellt.40 Durch diese dual organisierte Sinn­ord­ nung würde, so Peter Strohschneider, nicht nur der Wert des christlichen Handelns erhöht, sondern auch »Kontingenz reduziert«41: Da es nur eine Sinnordnung und die negativ konnotierte Abweichung von dieser gäbe, seien keine Irritation durch Fremdheit und dadurch keine Kontingenz – durch Fremdheit, wäre zu ergänzen – möglich. Diese wertasymmetrische Entgegensetzung beschreibt zwar sehr genau den unübersehbaren und radikal abwertenden Teil der Heiden-Darstellung im Rolandslied. Doch bleiben dabei die umfangreichen wertneutralen descriptiones des heidnischen Heeres (V. 625–630, 2595–2648; 3342–3360)42 sowie die vielen Parallelen zwischen Christen und Heiden bei den Ratsszenen (V. 391–566, 891–1381), der Schlachtvorbereitung (V. 2585–2738, 3113–4658) und der providentiellen Argumentation unberücksichtigt (V. 2559 f., 2616 f., 3516– 3524).43 Diese Parallelen fügen sich zwar einerseits in die von Strohschneider skizzierte holistische Sinnordnung ein, indem das Andere auf der Grundlage des Eigenen und mit denselben Schematismen wie das Eigene entworfen wird. Andererseits führen diese Parallelen jedoch zu einem Spiegelprozess, der einen verfremdeten Blick auf die eigene Providenzargumentation ermöglicht und der so die fehlende Sicherung providentieller Zeichen und Ordnungen sichtbar macht – eine fehlende Sicherung, die in der Moderne gerne als Verweis auf an39 Vgl. u. a. Stein (1933), 38 f., Wentzlaff-Eggebert (1960), 80 f.; Seidl (2009), 57–59; Strohschneider (2012), 395–401. Stein betont auch, dass diese Entgegensetzung im RL viel stärker ausgeprägt sei als in der ChdR. Ganz ähnlich Hensler (2006), 224–239, die auch den in der Forschung häufigen, aber problematischen Vergleich bemüht, dass der Kampf als »Auseinandersetzung zwischen civitas dei und civitas diaboli« dargestellt sei (ebd. 224, vgl. auch 228); so auch u. a. Ohly (1940), 192 f. 40 Dabei wird gewöhnlich auf folgende Stellen verwiesen: V. 59–64; 2682–2692; 3465–3531; 5421–5426; 8315–8320. 41 Strohschneider (2012), 395–401, hier 400, der die bestehende Forschungsmeinung nochmals zusammenfasst und im Anschluss an Koselleck (1989) theoretisch prägnant ausarbeitet; siehe dazu oben Anm. 22. 42 Darauf verweist auch Seidl (2009), 53, allerdings nur für die ChdR. Sie betont treffend, dass das »asymmetrische[] Verhältnis beider Religionen […] nur teilweise narrativ [entfaltet]« wird. Meines Erachtens gilt dies aber in vielerlei Hinsicht auch noch für das RL. 43 Vgl. für die ChdR Auerbach (1946), 100 f., der betont, dass der »Parallelismus zwischen Christen und Heiden« bis in die Einzelheiten gehe.

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dere mögliche Sinnstiftungen und damit als Verweis auf Kontingenz gedeutet wird. Dabei zeigt sich jedoch am Rolandslied, dass gerade die Reduktion von ›Kontingenz durch Fremdheit‹ und damit die prägnante Ausgestaltung einer providentiellen Sinnordnung der typisch modernen Kontingenzdeutung, die von der Vielzahl der möglichen (Sinn)Ordnungen ausgeht, Vorschub leistet. Denn erst dadurch werden die Geltungsfragen möglich, auf die Kontingenz eine mögliche Antwort darstellt. Dies soll nach einem kurzen Blick auf die erzählerische Motivation im dritten Teil des Aufsatzes genauer ausgeführt und vertieft werden.

Kausale und finale Über- und Unterdeterminiertheit Neben der Verführungskraft der providentiellen Argumentation zeigt sich in Karls Deutung des Palmzweiges auch die Mehrdeutigkeit von providentiell gedeuteten Zeichen. So zieht Karl zwar – auf der Figurenebene – die ›falschen‹ Handlungskonsequenzen aus dem Palmzweig, doch kündigt dieser – auf der Erzählebene – durchaus ›korrekt‹ den weiteren Geschehensverlauf an. Denn wenn Karl beim Verweis auf Jesu Einzug in Jerusalem hinzufügt, »du er [gotes sun] di martir durch uns leit« (V. 824),44 so bezieht er den Palmzweig nicht nur auf den Sieg, sondern – der zeitgenössischen Palmsonntagsliturgie45 entsprechend – auch auf das Leiden Jesu. Auch wenn dieser Verweis auf das Martyrium Jesu für Karls eigene Deutung keine Konsequenzen hat, so fügt er sich doch in das dichte Netz der Vorausdeutungen des Todes von Roland und seinen Kämpfern ein: Diese sind – so macht der Text von Beginn an deutlich – von Gott dazu ausersehen, im Kampf gegen die ›Heiden‹ zu sterben und dadurch die Märtyrerkrone zu erlangen.46 Man könnte deshalb – ganz im Sinne des eingangs skizzierten Modells – vermuten, dass die ›falsche‹ Figurendeutung Karls für die begrenzte Kontingenz auf der sublunaren Sphäre steht, während die übergeordnete finale Motivation den Heilsplan Gottes aufzeigt. Dazu ist allerdings genauer zu verstehen, was unter finaler Motivation zu verstehen ist und ob und wie sie als hierarchisch übergeordnet dargestellt wird.

44 »Wo er [der Sohn Gottes] den Tod für uns erlitt«. 45 Richter (1972), 182–186. Die Lesung am Palmsonntag ist Phil 2,5–11, in der es um die Erniedrigung Gottes durch die Menschwerdung und Jesu Kreuzigung geht (ebd. 179). Vgl. dazu Anm. 29. 46 So wird mehrfach betont, dass die entsprechenden Kämpfer bereits in das ›Buch des Lebens‹ eingetragen seien: »Alle di mit Rǒlante beliben, / di sint an den lebentigen bůchen gescriben« bzw. »Alle, die bei Roland ausharrten, stehen im Buch des Lebens« (V. 3265). »daz beware wir mit den lebentigen bůchen, / daz man si scol sůchen / unter allen mines trechtines chinden.« bzw. »Wir können es mit dem Buch des Lebens beweisen, dass sie zu finden sind unter allen Kindern Gottes« (V. 3259–3261) Vgl. auch V. 77–82.

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Finale Motivation bezeichnet in der germanistischen Mediävistik gewöhnlich, dass die erzählten Geschehnisse im Sinne der causa finalis (oder Zweck­ur­sache) durch das ›Ergebnis‹ motiviert werden, während auf die kausale Verkettung – verstanden als Stimmigkeit der Wirkursachen sowie ihre Wahrscheinlichkeit – wenig Wert gelegt wird.47 Da die finale Motivation suggeriert, dass das erzählte Geschehen vorab bestimmt ist, wird diese in der Literaturwissenschaft häufig als erzählerisches Mittel der Providenzdarstellung gewertet.48 Dabei wird allerdings übersehen, dass sowohl die sog. kausale oder vorbereitende Motivation (causa efficiens bzw. Wirkursache) als auch die finale Motivation (causa finalis bzw. Zweckursache) kausallogisch funktionieren. Deshalb gilt auch für beide Formen der Motivation, dass sich ihre sog. erzählerische Kausalität deutlich von einem durch die Naturwissenschaften geprägten Begriff der Kausalität unterscheidet.49 Denn es handelt sich bei beiden Formen der Motivation nur ganz selten um einen eindeutigen Zusammenhang von Ursache und Folge, sondern um bloße Andeutungen von Kausalbeziehungen. Denn sowohl in mittelalterlichen als auch in modernen Erzählungen ist nur selten explizit von kausalen Beziehungen die Rede, meistens dominieren auf der sprachlichen Ebene temporale und additive Verknüpfungen. Diese legen zwar häufig eine kausale (wirk- oder zweckursächlich) Deutung der geschilderten Vorgänge nahe, doch bleiben dabei immer auch alternative Kausalketten möglich.50 Diese kausale Unterbestimmtheit paart sich mit der kausalen Überdeter47 Lugowski (1994), 66–81; Martínez (1996), 87–96, sowie Martínez/Scheffel (1999), 111–119. Allerdings stellt sich bei der sog. finalen Motivation schnell die Frage, was denn als ›Ergebnis‹ oder ›Telos‹ einer Erzählung zu verstehen ist. So wird z. B. häufig auch ein durch Gattungsvorgaben motiviertes Geschehen als ›final‹ bestimmt. Lugowski (1994), 68, 79, setzt zudem das ›Ergebnis‹ auch mit der »Ganzheit« des Erzählens gleich. Dies birgt, wie Lugowski selbst schon andeutet, die Gefahr von Zirkelschlüssen; vgl. genauer Reichlin (2012), 178. Vgl. auch Meincke (2007), 142–145, 254–262, die kritisiert, dass die kausale Motivation nach einem »Natürlichkeitsparadigma« entworfen werde (ebd. 142). Martínez unterscheidet darüber hinaus (wenig überzeugend) zwischen einer »finalen« und einer »kompositorischen oder ästhetischen Motivierung«. Vgl. die stimmige Umformulierung dieser Unterscheidung bei Schulz (2012), 327–332, hier 328. 48 Frick (1988), 18 f.; Martínez (1996), 90 f.; Haferland (2010), 337–341; Störmer-Caysa (2007), 154, 185–187, die für das Mittelalter darüber hinaus zwischen einem Legendenmodell und einem Ritterromanmodell unterscheidet. Vgl. die ausführlichere Darstellung der Argumente bei Reichlin (2010a), 34–37. 49 Vgl. Koschorke (2012), 75: »Allerdings gehorcht ein erzählerischer Kausalnexus nicht den strengen Regeln, die für Kausalität anderswo gelten.« Vgl. auch Martínez/Scheffel (1999), 112 f., die allerdings keine Konsequenzen aus dieser Beobachtung ziehen. Wenn im Folgenden von ›Kausalität‹ oder ›Kausalketten‹ die Rede ist, so ist damit nicht der enge Begriff der vorbereitenden, sog. kausalen Motivation (nach Kriterien der Wahrscheinlichkeit) gemeint, sondern ein weiter Begriff von Kausalität, der jegliche kausale Motivation von Ereignissen meint, sei diese nun final oder vorbereitend. Vgl. dazu auch die folgenden Abschnitte. 50 Koschorke (2012), 75: »Das Ausspinnen der Fabel lebt von der Hintergrundmöglichkeit einer alternativen Verknüpfung, das heißt einer andern möglichen Sequenz, mithin von abgeschwächten, durch Gegenkräfte verunsicherten Implikationen und Kausalitäten.«

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mination herausgehobener Ereignisse: Einzelne Ereignisse werden mehrfach (sowohl vorbereitend als auch final) motiviert, wobei die Begründungen sich auf unterschiedliche Diskurse beziehen und auf unterschiedlichen Erzählebenen liegen können (Handlungswelt, Erzählebene, Ebene der Erzählmuster und Gattungskonventionen). Besonders deutlich zeigt sich dies im Rolandslied anhand der Motivierung von Geneluns Verrat. Im Vergleich mit der Chanson de Roland wird Genelun im mittelhochdeutschen Text neu mit Judas verglichen: »Genelun geriet michel not, / den armen Iudas er gebildot.« (V. 1924 f.)51 Doch obwohl dies Geneluns Tat in einen heilsgeschichtlichen Kontext stellt, so darf doch nicht übersehen werden, dass sein Verrat nicht nur final – als Eingebung des Teufels (V. 1974, 1979, 2365, 2858)52 –, sondern auch kausal überreichlich motiviert ist: Neben seiner »nature« (1961), die durch »triuwe«-Losigkeit (V. 1943, 1954) und Falschheit (V. 1958 f., 1964–1973) bestimmt wird, wird der Verrat auch durch materielle Besitzgier (V. 1941 f., 1980), »nît« (V. 1980) und familiär-erbrechtliche Konflikte (V. 1214 f., 1364–1463)53 motiviert. Darüber hinaus bewirken ungelöste Spannungen zwischen den Fürsten Karls sowie das Machtungleichgewicht zwischen Zentral- und Partikulargewalten (V. 1047–1287)54 den Verrat. Der Verrat Geneluns wird somit auf unterschiedlichen Ebenen – psychologisch, politisch, anthropologisch, metaphysisch – begründet. Die aufgeführten Begründungen oder Motivationen rekurrieren zum Teil auf innerweltliche Koinzidenzen und Umstände, zum Teil auf transzendente Letztbegründungen (Teufel, nature). Für die erzählerische Suggestion von Notwendigkeit oder Kontingenz des Geschehens ist jedoch nicht die Unterscheidung dieser beiden Motivationsrichtungen wichtig, sondern ihr Zusammenspiel, d. h. die Akzentuierungs- und Differenzierungseffekte, die sich durch die mehrfache Motivierung ergeben. Die kausale Übermotivierung von Geneluns Verrat hebt diesen aus dem restlichen Handlungsverlauf heraus und markiert ihn als ›Schlüsselstelle‹: Er erscheint als Kreuzungspunkt unterschiedlicher Motivations- oder Kausalketten und damit auch als Kreuzungspunkt unterschiedlicher möglicher Erzählungen. Damit können zugleich auch Differenzierungen vorgenommen werden: Zwar wird Geneluns Verrat bis in die sprachlichen Parallelismen hinein als dem Verrat des Judas analog dargestellt: Auch Geneluns Verrat geschieht unter einem Ölbaum (V. 1920), wie Judas verrät er seine(n) Gefährten für materiellen 51 »Geneluns Rat entsprang großes Unglück. Er ist ein Abbild des elenden Judas.« Vgl. auch V. 6103. 52 Vgl. dazu insgesamt Richter (1972), 273–282; Ohly (1987), 95. 53 Genelun wirft Roland vor, er habe ihn nur als Bote vorgeschlagen, um ihn zu beerben (V. 1384–1396). 54 Vgl. dazu sehr differenziert und auf die Unterschiede zwischen dem RL und der ChdR hinweisend Ott-Meimberg (1980), 116–210; Stackmann (1976), 261–271.

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Lohn (V. 1931, 1940) und wie dieser wird er vom Teufel gelenkt.55 Der Erzähler steigert diesen Vergleich jedoch zu einer Überbietung: »unde uerchophte Judas in einī, / Genelun uerchouphte widir die heidin / mit ungetruwen listen / manigen herlichen kristen.« (V. 1936–1939)56 Die Überbietung macht deutlich, dass neben der Parallelität auch die Differenz zwischen Judas und Genelun wichtig ist:57 Zwar hat Genelun eine größere Zahl von Christen »verkoupht«, doch kommt dieser Tat eine andere Notwendigkeit zu als der von Judas.58 Denn nur Judas’ Verrat wird im Rolandslied als providentiell notwendig dargestellt: »des [bezogen auf Judas’ Verrat] en was alles nehein rat, / iz was lange uore gewissaget.« (V. 1934 f.)59 Von Genelun wird nur gesagt »er iruolte daz altsprochene wort« (V. 1956). Das »wort« bezieht sich jedoch nicht auf eine biblische Prophezeiung, sondern auf die tradierte Spruchweisheit, dass der schöne Schein trügt.60 Während also Judas’ Verrat im Rolandslied als heilsgeschichtlicher Ratschluss Gottes dargestellt ist (er ist nötig, damit es zum Opfer Jesu und der Erlösung der Menschheit kommt), wird diese heilsgeschichtliche Notwendigkeit dem Verrat Geneluns – und damit auch dem erzählten Geschehen insgesamt – abgesprochen. Geneluns Verrat wird nicht monokausal auf eine letztbegründende Instanz zurückgeführt, sondern mehrfach motiviert. Der Teufel und das providentiell ›gewollte‹ Martyrium stehen als ein Motivationsangebot neben der politischen und der familiären Begründung. Die Rezipienten sind dadurch mit einer Vielzahl von kausalen und finalen Motivationsketten konfrontiert, die ihre je spezifischen Lücken aufweisen und von denen unklar ist, wie sie sich zueinander verhalten. Auch wenn der Tod von Roland und seinen Gefährten insgesamt als Martyrium und als von Gott bestimmt dargestellt wird, so bietet die Erzählung doch keine monokausal-finale Sinnstiftung, sondern deutet mehrere sich ergänzende Sinngefüge an, in denen das Geschehen verortet und begründet werden kann. Dabei wird dem Verrat Geneluns dadurch Gewicht verliehen, dass er mehrere mögliche Motivationsstränge und Kausalketten verknotet. Im Rahmen dieser Übermotivierung kann die Nähe zur heilsgeschicht55 Vgl. zum Verrat am Ölberg Lk 22,47; zur Eingebung des Teufels vgl. Lk 22,3, Joh 13,2 sowie RL V. 1979, 2365, 2858. Ohly (1987), 92 f., weist zudem darauf hin, dass in der Apostelgeschichte auch Judas’ Tod durch Zerreißen erwähnt wird (Apg 1,18). 56 »Während aber Judas den einen verriet, verkaufte Genelun den Heiden durch Treuebruch viele edle Christen.« Vgl. auch V. 6103. 57 Ohly (1987), 93 f., betont deshalb zu Recht, dass man trotz der unübersehbaren Parallelen nicht von einer Typologie sprechen sollte: »Imitatio und Typologie werden […] immer neu verwechselt.« Seine Kritik bezieht sich auf Geith (1977), 98 f. Ohly erkennt im überbietenden Vergleich mit Judas stattdessen ein rhetorisches Muster aus der »Strafpredigt gegen die Ketzer und ›Pfennigprediger‹«. 58 Dagegen spricht Stackmann (1976), 264 davon, dass Geneluns »Tat« ebenfalls »eine heilsgeschichtlich notwendige« sei. 59 »Es musste alles so kommen, es war längst prophezeit.« 60 Ohly (1987), 92, Kartschoke, Kommentar (1993), 679.

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lichen Notwendigkeit betont, aber zugleich auch die Differenz dazu markiert werden. Die skizzierte Lückenhaftigkeit der erzählerischen Kausalität unterscheidet das providentielle Erzählen von der theoretisch-philosophischen Darstellung der Providenz. Erzählungen wie das Rolandslied entwerfen keine in sich stimmigen, hierarchisch geordneten Welten, sondern fast immer mehrere providentielle Deutungsmuster und -perspektiven, die affektiv unterschiedlich besetzt sind und im zeitlichen Verlauf der Erzählung zwischen Vorder- und Hintergrund hin und her verschoben werden. Die Erzählungen sind deshalb aber auch mittels anderer Konzepte zu analysieren, als mit einem aus der Philosophie entlehnten statischen Ordnungsbegriff.

Der ›faktische‹ Beweis der Providenz und ihr Aufschub Mit der Vielzahl der Motivierungs- oder Begründungsketten wird auch die Differenz zwischen den providentiellen Zuschreibungen und dem ontologischen Status der dargestellten Welt sichtbar: Je mehr providentielle Deutungsmuster in einer Erzählung nebeneinander stehen, um so sichtbarer wird, dass auch diese ›nur‹ Zuschreibungen sind und sie die ontologische Beschaffenheit des Erzählten nicht eindeutig repräsentieren. Dieser Tendenz wird im Rolandslied dadurch entgegen gewirkt, dass zum einen die Faktizität als Beweis der christlichen Providenzdeutung dargestellt wird und zum anderen das direkte Eingreifen der Providenzinstanz, also des christlichen Gottes, gezeigt wird. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie die Figurendeutung, die sich auf die Faktizität stützt, das Eingreifen Gottes und die finale Motivierung des Martyriums als von ›Gott gewollt‹ im Rolandslied aufeinander bezogen werden. Dass sich im Kampf zeigt, welches providentielle Deutungsmuster das wahre ist, darauf berufen sich am Beginn der ersten Schlacht sowohl die Christen als auch die Sarazenen. In den seriell angeordneten Zweikämpfen drohen sich beide Kämpfer jeweils gegenseitig, dass ihnen ihr Gott zum Sieg verhelfen werde.61 So sagt z. B. der erste Vorkämpfer der Sarazenen, Adalrot, zu Roland: »Machmet hat dich mir zu gesant. […] daz ich din houbit abe slahe / unt iz fůr den chunc trage.« (V. 4022–4025)62 Ebenso kündigt der Bischof Turpin seinem Gegner an, dass sein Gott den Kampf zu seinen Gunsten entscheiden werde: »der heilige Crist scol der mittelare sin, / der min heilare ist, / des achtare du bist […] din gestaint helm also liecht / der nemac dir hiute gefrumen niet. / dir

61 Im Vergleich mit der ChdR kommen die Diskussionen um die providentielle Unterstützung durch den eigenen Gott neu hinzu; vgl. L 93–95. 62 »Mahomet hat dich mir gesandt. […] dir den Kopf abzuschlagen und ihn dem König zu bringen.«

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ist uil nahen der tot« (V. 4402–4411).63 Beide Seiten rufen auch provokativ den Gott der Gegenseite an und fordern ihn auf, seine Macht zugunsten des Gegners zu zeigen: So sagt Adalrot: »Crist der din herre / ist dir hiute uil uerre; […] wi hat dir nu Peter gelonet? / nu ist er ze Rome, / nu bistu hi zedem tode.« (V. 4027–4032)64 In seiner nicht weniger provokativen Antwort fordert Roland den heidnischen Gegner auf: »rufe Mahmete dinem herren, / ob er dir iht heluen welle.« (4050 f.)65 Diese dialogischen Gefechte überformen das Kampfgeschehen und markieren die Differenz zwischen dem Kampf und der Deutung desselben. Dabei wird erneut die Parallele der christlichen und der heidnischen Providenzargumentation sichtbar – und abermals wird diese nicht dadurch aufgehoben, dass die nezessitaristische ›heidnische‹ Argumentation sich grundlegend von der christlichen unterscheidet. Dies führt, deutlicher als bei den am Beginn analysierten Szenen, zu einem rhetorischen Patt, das den Blick vom ›Kampf um die Deutung‹ zurück zum Kampfgeschehen selbst lenkt. Denn erst durch den Sieg im Kampf zeige sich – so die Argumentation beider Seiten – die ›Wahrheit‹ der jeweiligen Deutung. So deutet Roland seinen Sieg triumphierend als Urteil über die Stärke der ihn stützenden providentiellen Macht: »sent Peter mac mir baz geheluen, / daz schinet hi zestet, / denne dir din herre Mahmet« (V. 4070–4072).66 Dass sich im Kampf der (in Unterzahl kämpfenden) Christen gegen die Sarazenen die lenkende Hand Gottes zeigt, ist für die Figuren solange plausibel, als der einzelne Christ den Zweikampf gewinnt. Auf der Erzählebene ist dies jedoch nicht ganz so einfach: Denn auch wenn die Christen einzelne Kämpfe gewinnen, so wissen die Lesenden aufgrund der vielen Vorausdeutungen doch, dass die christlichen Kämpfer die Schlacht insgesamt verlieren und sterben werden.67 Auf der Erzählebene ist deshalb die Figurenargumentation, dass sich die Providenz des christlichen Gottes auf der Ebene des Faktischen beweise,

63 »Das soll Christus entscheiden, der mein Heiland ist und dessen Feind du bist. […] Dein steinbesetzter, funkelnder Helm wird dir heute gar nichts nützen. Der Tod ist dir schon ganz nahe.« Vgl. V. 4247–4256: Olivier sagt: »also lange so got wil. […] uil bose wirt din gedinge: / uor gote bistu uerfluchet, / daz er din nine rFchet.« »Solange es Gottes Wille ist. […] Dein Anerbieten wird zunichte gemacht werden, verflucht vor Gott, so dass er sich von dir abwendet.« 64 »Christus, dein Gott, ist heute weit weg von dir. […] Und wie hat Petrus dir gelohnt? Er ist dort in Rom, und du bist hier dem Tod verfallen.« Das ist gemäß Kartschoke, Kommentar (1993), 705, so zu verstehen, dass der Heide denkt, die Anwesenheit des Standbildes helfe mehr als dessen Abwesenheit. Darüber hinaus wird der Kampf bereits in der ChdR (L 93) auch zum Urteil darüber stilisiert, ob Karl »tump« gehandelt habe, als er Roland und die Nachhut allein zurück ließ (V. 4033 f.). Dies verneint Roland in seiner Erwiderung explizit (V. 4074 f.). 65 »Rufe Mahomet, deinen Gott, an, ob er dir nicht helfen will.« 66 »St. Peter ist mir eine bessere Hilfe, das wird hier sichtbar, als dir dein Gott Mahomet.« 67 Vgl. Anm. 46.

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problematisch.68 Stattdessen wird angesichts der sich immer neu wiederholenden Kämpfe die Frage aufgeworfen, welche Geltungsdauer einem ›faktischen Beweis‹ bzw. einer providentiellen Sinnstiftung zukommt. Denn auch wenn die providentielle Macht des christlichen Gottes in einem Kampf bestätigt wird, so steht sie doch im nächsten erneut auf dem Spiel. Gleich nach der oben zitierten Aussage von Roland tritt Falsaron gegen Olivier an (ab V. 4217) und der ›Kampf‹ um die Deutung des Kampfes beginnt auf der Figurenebene von Neuem. Je länger der Kampf dauert, um so unausweichlicher erscheint auf der Erzählebene die Niederlage der Nachhut. Interessanterweise zeigt sich dies nicht zuletzt auch am Eingreifen der Providenzinstanz: Gott stärkt die christlichen Kämpfer (V. 4112–4115) und er bewirkt einen Tauregen (V. 4452–4459) und später einen »sůzen wint« (V. 5626), der sie kühlt und verjüngt. Diese direkten Eingriffe der Providenzinstanz69 bestätigen jedoch nicht das von den Figuren aufgerufene Deutungsmuster des faktischen Beweises der Providenz, sondern markieren die Transposition der Figurenargumentation hin zu einem anderen providentiellen Deutungsmuster. Denn das Eingreifen Gottes wird mehrfach mit dem Verb »gefristen« beschrieben: »inoch wolte si got gefristen« (V. 4112) oder »do wolt der himelische herre / di sine wol gefristen« (V. 4452 f.).70 Gottes Hilfe bestätigt so zwar, dass er die Christen unterstützt, doch ist das dahinter stehende Deutungsmuster nicht der von den Figuren angeführte ›faktische Beweis‹, sondern das von Gott gewollte Martyrium. Das Eingreifen Gottes wird somit gerade nicht für den faktischen Beweis der Providenz, sondern für die Transformation dieses providentiellen Deutungsmusters genutzt. Je deutlicher die Christen die erste Schlacht trotz punktueller Siege verlieren, um so stärker wird auch auf der Figurenebene das providentielle Deutungsmuster des ›faktischen Beweises‹ durch das des vorherbestimmten Martyriums überlagert. Als Olivier Roland noch vor dem Beginn der ersten Schlacht bittet, mit seinem Horn Karls Heer zu Hilfe zu rufen, weigert er sich. Während Roland in der Chanson diese Weigerung mit dem Verlust seiner Ehre begründet (V. 1053, 1063), verweist er im Rolandslied auf Gottes Vorsehung:71 daz můz nu allez an gote gestan […] di haiden sint uor gote uirtailet; so werdent abir mit blůte gerainet di heren gotes marterare: […] wi salic der ist geborn 68 Vgl. dagegen Strohschneider (2012), 397, der davon spricht, dass die »Ohnmacht der falschen Götter […] faktisch erwiesen« werde. 69 Vgl. auch V. 5727. 70 »Aber noch wollte sie Gott am Leben halten«; »Der Herr des Himmels aber wollte die Seinen am Leben erhalten.« 71 So auch Mertens (1997), 80 f., der dies als Beleg für die Kongruenz von adeliger und religiöser Identität deutet.

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den got da zu hat erchoren, daz er in sinim diniste beliget, want er im daz himilriche zelone gibet. (V. 3870–3888)72

Roland stellt sich somit nicht mehr als Sieger von Gottes Gnaden dar, sondern als derjenige, der durch göttliche Gnade zum Martyrium ausersehen worden ist. Indem sich der finale und die christliche Providenz beweisende Sieg verzögert, erhält auch auf der Figurenebene das zweite providentielle Deutungsmuster, das des gottgewollten Martyriums, Raum. Wenn man diese beiden Deutungsmuster nicht vorschnell hierarchisiert, so wird sichtbar, dass sowohl auf der Erzähl-, als auch auf der Figurenebene mehrere zeitlich unterschiedlich ausgerichtete Sinnstiftungshorizonte das Geschehen prägen. Diese werden gekonnt zwischen erzählerischem Vorder- und Hintergrund hin und her verschoben. Das Deutungsmuster des ›von Gott gewollten Martyriums‹ überdeckt die Niederlage der Christen und den damit ausstehenden ›faktischen‹ Beweis der christlichen Providenz. Während man dies auf der ideologischen Ebene als eine Immunisierung der providentiellen Deutungsmuster gegenüber der Faktizität deuten mag (Nicht-Falsifizierbarkeit), so ist aus einer stärker literaturwissenschaftlichen Perspektive nach der zeitlichen Anordnung und Verfugung der verschiedenen Deutungsmuster sowie den damit einhergehenden Effekten zu fragen. Denn die sich über mehrere 1000 Verse erstreckenden Kampf- und Martyriumsdarstellungen erzeugen eine Aufschubsstruktur, die im abschließenden Kampf zwischen Karl und dem Heidenführer Paligan ihre Erfüllung findet. In diesem Kampf wird bis in die sprachlichen Details73 an die ersten Zweikämpfe und das darin aufgerufene Deutungsmuster des ›faktischen Beweises‹ angeschlossen:74 Als Karl im Kampf mit Paligan in Bedrängnis gerät, deutet dieser die Schwäche Karls sogleich als Schwäche des christlichen Gottes: »wa ist din herre Crist, / uf den du so dicke gist? / nu helue er dir swes er mege! / din botech ich den uogelin lege« (V. 8497–8500).75 Wie in den seriellen Zweikämpfen am Beginn der Erzählung (V. 4017–4850) wird somit nicht nur körperlich, sondern auch rhetorisch darum gekämpft, was das Ergebnis des Kampfes über die konkurrierenden christlichen und heidnischen Providenzinstanzen aussagt. Doch nun, am Ende des Rolandslieds, wird diesem Streit dadurch erzählerisches Gewicht 72 »Das soll alles bei Gott stehen […] Die Heiden sind vor Gott verurteilt. Dagegen werden noch einmal mit Blut getauft die erhabenen Märtyrer Gottes. […] Selig der, den Gott dazu auserwählt hat, in seinem Dienst zu sterben; denn er lohnt ihm mit dem Himmelreich.« 73 Vgl. Anm. 75; vgl. auch, dass in V. 8542 erneut das Wortfeld der frist zum Einsatz kommt. 74 Bereits vor dem Kampf bittet Karl seinen Gott, er möge seine »tugende […] erzaige[n]« (V. 8419) und sie von den »hunden […] erlose[n]«, genauso wie er Gideon erlöst hat (V. 8420–8422). 75 »Wo ist nun dein Herr Christus, auf den du dich so oft berufst? Nun mag er dir helfen, wenn er kann. Deinen Leichnam werde ich den Vögeln vorwerfen.« Vgl. die parallelen Formulierungen von Roland im Kampf gegen Adalrot (V. 4050 f.) und von Falsaron im Kampf gegen Olivier (V. 4239).

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verliehen, dass der Streit auf der Figurenebene und das Eingreifen Gottes zusammenpassen: Während die sarazenischen Zuschauer ob der Schwäche Karls bereits in Siegesgeschrei ausbrechen, kommt Karl »an der frist / ain trost uon himele« (V. 8542 f.).76 Er hört eine göttliche Stimme, die ihm ankündigt: »dine uiante geligent unter dinin fuzen« (V. 8549).77 Dadurch erhält Karl neue Kraft und kann seinen Gegner töten. Eine predigende Erzählstimme überträgt das Geschehen am Ende der Szene in eine moraltheologische Lehre: »got erhorte ie di rechtin, / di an in geloubint / unt im durhnachtlichen getriwent: / den kumet er ie ander not.« (V. 8566–8569)78 Dieser Kommentar des Erzählers wirkt nahezu zynisch, wenn man bedenkt, dass derselbe Gott Roland und den Seinen in ihrer »not« nicht geholfen hat. Doch selbstredend ist diese Lesart verfehlt, weil sich der Fokus der Erzählung sowie die damit einhergehende Sinnstiftung bereits verschoben haben. Im Vordergrund stehen nicht mehr Martyrium und Niederlage, sondern der mit Gottes Hilfe erreichte Sieg der Christen gegen die Heiden. Das Deutungsmuster des Martyriums ist in den Hintergrund gerückt und die providentielle Deutung erstreckt sich nun über beide Schlachten, die als eine einzige, von den Christen gewonnene präsentiert wird. Die auf den ersten Blick lückenlose und effektive providentielle Sinnstiftung des Rolandsliedes basiert somit auf mehreren – theoretisch unvereinbaren – providentiellen Deutungsmustern, die ineinander verfugt sind. Diese Verfugung wird durch Verschiebungen zwischen Vorder- und Hintergrund sowie einem damit einhergehenden beweglichen Zeithorizont ermöglicht, der die Erfüllung der verschiedenen providentiellen ›Pläne‹ je nach Erzählpassage unterschiedlich ausrichtet. Dieses erzählerische Hantieren mit mehreren unterschiedlichen providentiellen Deutungsmustern, die im Verlauf des Erzählens in immer wieder anderen Konstellationen positioniert und zwischen den Erzählebenen hin und her verschoben werden, provoziert jedoch zugleich sog. moderne Kontingenzdeutungen: Denn der Einsatz unterschiedlicher Deutungsmuster und ihre zeitliche – statt räumlich-hierarchische – Anordnung, provoziert immer auch die Frage, wie die Anordnung und Geltung der Deutungsmuster legitimiert wird und ob diese Anordnung nicht auch eine andere sein könnte. Diese Interdependenz von Providenz- und Kontingenzdeutungen ist stärker zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn Kontingenz historisch als Emanzipation von providentiellen Vorgaben gedeutet wird.

76 »Da kam ihm zur rechten Zeit die Hilfe des Himmels.« 77 »Deine Feinde werden dir unterliegen.« Die Stimme fordert ihn auch auf, seinen Gegner – über den und dessen Sippschaft das Urteil bereits ergangen sei – nicht zu schonen (V. 8545–8558). 78 »So erhört Gott stets die Gerechten. Die an Ihn glauben und Ihm rückhaltlos vertrauen, denen hilft Er aus jeder Gefahr.« Vgl. auch V. 8612–8614: »so tut ie der unser rehte uater: / so in siniu kint sůchint, / alle ir not er wol berůchet.« »So tut unser Vater im Himmel stets, wenn Ihn seine Kinder darum bitten. Er nimmt sich ihrer Not an.«

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Es kommen jedoch nicht nur unterschiedliche providentielle Deutungsmuster zum Einsatz, sondern diese werden auch je nach Kontext und Kotext unterschiedlich eingesetzt. Dies wird besonders gut am die Erzählung abschließenden Gerichtsprozess in Aachen sichtbar.79 Geneluns Schuld wird keineswegs von allen Gefolgsleuten Karls akzeptiert und deshalb muss Karl (als Hüter des Rechts) einen Gerichtskampf (ordal) ausrufen.80 Damit wird abschließend das Erzählmuster aufgerufen, das dem ›faktischen‹ Beweis der Providenz Gottes zu Grunde liegt und an dem in späteren Texten – von Gottfried von Straßburg bis Kleist – die Paradoxien der providentiellen Argumentation verhandelt werden.81 Der altfranzösischen Vorlage entsprechend (L 274–278) stellt die Genelunsippe den kräftigen Binabel als ihren Kämpfer und Verteidiger des rechtmäßigen Handelns von Genelun auf. Karl findet nur mit Mühe einen Kämpfer, der für Geneluns Schuld ein- und gegen den starken Binabel antritt: Einzig der schwächliche Tirrich ist zum Kampf bereit (V. 8873–8877). Während Karl ängstlich betet (V. 8924 f.), beruft sich sein Kämpfer Tirrich auf Gottes Eingreifen im Kampf zwischen David und Goliath, wobei diese Aussage im altfranzösischen Text keine Vorlage hat: »Dauid was uil lutzeler gescaft / got selbe gap ime di craft / daz er Golie daz houbit abe slůc« (V. 8847–8849).82 Tirrich verlängert diese Gottesvorstellung explizit auf seine Gegenwart: »got hat inoch di selben gewonhait.« (V. 8851)83 Die Übertragung der alttestamentarischen Vorstellung vom direkten Eingreifen Gottes auf die dargestellte Zeit ist (anders als beim Kampf zwischen Karl und Paligan) nicht selbstverständlich, sondern wird extra betont. Ebenso wird das Eingreifen Gottes in diesem innerchristlichen Kampf auffällig verhalten dargestellt: Gott greift nicht direkt ein, sondern der Erzähler schreibt ihm den Sieg Tirrichs zu: »der elliu dinc wol kan / aine gezechen, / der wolt iz anderes scaffen: Tirrich gewan einis lewen můt« (V. 8926–8929).84 Damit erfolgt das Gottesurteil, ohne dass der Text – wie spätere Texte nach ihm – dessen Evidenz in Frage stellt. Doch die verhaltene Darstellung des Eingreifens Gottes und der Verweis auf die Historizität dieses Deutungsmusters markieren doch auch die Differenz zu den vorangehenden Kämpfen. Dem Eingreifen Gottes scheint ein anderer Status zuzukommen: Im 79 Die Szene hat »Nachtragscharakter«, so Schmidt-Wiegand (1986), 3. 80 Der Kämpfer Tirrich stellt den Gerichtskampf als Offenbar-Werden der Wahrheit dar: »da scol got sin warhait / hiute hie erzaigen« bzw. »Nun soll Gott die Wahrheit hier und heute offenbaren« (V. 8834 f.) In der ChdR folgt der Zweikampf auf die Verurteilung und Urteilsschelte (L 277). Im RL dagegen dient er der »Beweisfindung«. Vgl. Schmidt-Wiegand (1986), 5 f. Vgl. auch Ott-Meimberg (1980), 239–256. 81 Vgl. u. a. Grubmüller (1987); Müller (1998). 82 »David war von sehr kleiner Gestalt. Gott selbst gab ihm die Kraft, dem Goliath das Haupt abzuschlagen.« 83 »Das tut Gott auch heute noch.« 84 »Doch der alle Dinge allein zu bewirken vermag, wollte es anders zu Ende bringen. Tierrich gewann den Mut eines Löwen.«

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Vordergrund steht nicht mehr der ›Beweis‹ der providentiellen Lenkung des Geschehens durch einen christlichen Gott, sondern die Frage, wie rechtliche Urteile im Spannungsfeld von immanenten und tranzendenten Kräften legitimiert werden können bzw. wie und mittels welcher Deutungsmuster sich die transzendenten Kräfte erkennen lassen. Dabei kommt der Gottesurteil-Szene im Erzählverlauf eine markante Brückenfunktion zu: Sie verknüpft die Erzählung der beiden Schlachten mit dem Epilog, der das erzählte Geschehen auf die Gegenwart der Rezipienten bezieht (V. 9017–9094).85 Dies verdeutlicht, genauso wie die Tatsache, dass beide Kämpfer Christen sind, dass die providentiellen Deutungsmuster nicht nur zeitlich unterschiedlich eingesetzt werden, sondern auch in Abhängigkeit vom Anwendungskontext und dessen extratextuellen Referenzen variieren. Der Einsatz unterschiedlicher providentieller Deutungsmuster bei einem beweglichen Zeithorizont steht – wie mehrfach deutlich wurde – dem Eindruck einer providentiell geordneten Welt nicht im Wege. Dennoch basiert dieser Eindruck sowohl auf der Pluralisierung providentieller Deutungsmuster als auch auf der Pluralisierung der Deutungsperspektiven: Denn der unterschiedliche Zeithorizont der verschiedenen Deutungsmuster bedingt, dass auch die damit einhergehenden ›providenten Perspektiven‹ andere sind. Diese Pluralisierung wird umso besser wahrnehmbar, je offener und beweglicher der Zeithorizont ist – was in längeren Erzählungen meistens der Fall ist. Geht man vom Horizont des Textes aus, so kommt diese Pluralität durch die mangelnde Erkenntniskraft des Menschen zustande. Dennoch können davon ausgehend Schlussfolgerungen für die Zeitlichkeit und Interdependenz der erzählerischen Providenz- und Kontingenzdarstellung gezogen werden: Denn anders als in philosophischen Texten kommt providentiellen Deutungsmustern in Erzählungen nur eine zeitlich beschränkte Geltung zu. Sie müssen deshalb im Verlauf der Erzählung je neu aktualisiert werden, können dadurch aber auch den jeweiligen Erzählperspektiven und dem damit einhergehenden zeitlichen Horizont angepasst und dadurch sukzessive umbesetzt werden. Dies wirft aber zugleich Geltungsfragen auf: Die Anordnung und Gewichtung (oder gar Hierarchisierung) der Deutungsmuster könnte eine andere sein, wie insbesondere durch konkurrierende Deutungen zwischen den Figuren oder zwischen Erzähler und Figur deutlich wird. Die prägnante Providenzdarstellung im zeitlichen Medium der Erzählung leistet somit immer auch der modernen Kontingenzdeutung Vorschub. Providenz und Kontingenz sind dann jedoch nicht als zwei unabhängig voneinander existierende Betrachtungsweisen eines Geschehens zu verstehen, die man einmal als naiv und einmal als realistisch beschreiben kann, sondern als zwei sich gegenseitig bedingende Deutungsmuster, die den jeweils blinden Fleck des anderen abdecken. 85 Vgl. dazu Ohly (1973), 65–67; Ott-Meimberg (1992), 17 f., 29–31; Oswald (2004), 307–316.

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III Au hasard. Kontingenz und Risiko in Modernisierungsprozessen

Die Kontingenz des Geldes im Kontext der Genesis seiner modernen Entwicklung (13.–16. Jahrhundert) Achatz von Müller

Die moralische Fragilität des Geldes ist seit Aristoteles fester Bestandteil der europäischen Ethik. Die Anrüchigkeit monetärer Ökonomie ist auch insofern Teil des antiken Erbes, als die neutestamentlichen Exempla Christi die hauswirtschaftlichen Bedenken der aristotelischen Wirtschaftsüberzeugungen nicht nur in vielen Einzelheiten sanktionierten und spiritualisierten, sondern im Judasverrat zur Essenz des »Abfalls von Gott« und damit der sündhaften Natur des Menschen steigerten. Dennoch blieb »Geld« in christlicher Konnotation von Beginn an ein notwendiges Übel, das der Einlassung auf die Welt entsprach und zugleich den römischen Staat in einer Art paulinisch-augustinischen Pointierung mit Christus verband. Anknüpfungsmöglichkeiten für diese Akzeptanz von »Christus-Fiscus«1 boten bekanntlich die »Zinsgroschen-Varianten« des Fischwunders (Mt. 17, 24–27) sowie die »Kaiser-Steuer-Legitimation« (Mt 22, 15; Mk 12; Lk 20, 21–26). Die theologische Aspiration des Geldes entzog sich damit jedoch zugleich jeder ontologischen Einlassung auf das Phänomen »Geld«. Moralisch eng mit den notwendigen Kompromissen der Postparusie verbunden erschien »Geld« insofern unangreifbar, als es Medium des von Gott gewollten römischen Staates, schließlich des Staates an sich war. So wenig wie dieser Staat in Frage stand – wenn auch moralisch zweideutig und eben nicht »Gottesstaat« –, so wenig stand, wenn auch moralisch wegen der »paupertas Christi« noch zweideutiger, das Geld in Frage. Mittelbar war es dank der Christusworte eben auch von Gott. Erst die aristotelische Wende der Hochscholastik verband die doppelte moralische Fragilität des Geldes mit seiner »Gottgegebenheit« vor dem Hintergrund ontologischer aristotelischer Fragezeichen zu einer gänzlich neuen spannungsreichen Entität. Denn Aristoteles begnügte sich nicht mit der Analyse sozialer und moralischer Dysfunktionalität des Geldes. Er war der erste – ja gewiss: bekannte 1

Kantorowicz (1949). Zur Geldtheorie des Spätmittelalters und der Renaissance unterrichtet mit Text und Bild zuletzt grundlegend der Ausstellungskatalog Money and Beauty (2012). Zudem Le Goff (1988) und Le Goff (2011).

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– Theoretiker des Geldes, der im Kontext der von ihm verorteten Fragilität des Geldes dessen Kontingenz konstatierte. So heißt es in der »Politik« über die vermeintlich sichere Werthaltigkeit des Geldes: »Manchmal scheint es dann wieder, als sei das Geld bloß ein eingebildeter Wert und lediglich eine Sache von Gesetz und Brauch, von Natur aber gar nichts. Denn wenn diejenigen, die sich seiner bedienen, es ändern, dann ist es plötzlich gar nichts mehr wert. Man kann es dann zu keinem notwendigen Ding mehr brauchen. Und obwohl reich an Geld wird man Mangel an notwendiger Nahrung haben.«2 Und in der »Nikomachischen Ethik« raunt es förmlich: »Denn beim Geld gilt, dass man es nicht besitzen kann, wenn man sich nicht darum müht, es zu besitzen.«3 – Damit sind erste Andeutungen über eine an sich ungeliebte ökonomische Materialität positioniert, die weit über die moralische Problematik des Geldes in seine Essentialität eingreifen. Dabei spielt für die chrematistische Geldfeindlichkeit des Stagiriten gewiss die entscheidende Rolle, dass Geld ohnehin nicht zu trauen ist. Es liegt quer zu aller Tugend, suggeriert Glück ohne je glücklich zu machen etc. Vor allem aber zerstört es eben jene Zusammenhänge der Polis, denen es ursprünglich zugeordnet schien: ihre Fähigkeit zu Subsistenz und Tugend. Dies alles mag der feinen Witterung des Aristoteles für existentielle Defizite – »Wiedernatur« – dazu verholfen haben, die ontologische Problematik des Geldes mehr zu ahnen als zu analysieren. Aber seine Ahnung hat schwerwiegende Folgen. Von nun an ist Geld im Kontext einer über die Zeiten hinwegweisenden Definition eine unsichere Sache – auch wenn die christlichen Diskurse der »Patres« die Gewissheit des Geldes aus der ihm zugewiesenen Herkunft aus Gott und Staat für unanfechtbar halten. Aber es wird eben gerade diese Sicherheit der christlichen Geldlehre sein, die der aristotelischen Kontingenz eine Dynamik aufzwingt, die bis dahin unerhörte Energien der Monetarisierung Europas freilegen wird. Untrennbar bleibt die Durchsetzung aristotelischer Logik und Methodologie mit der »Summa Theologica« des Thomas von Aquin verbunden. Innerhalb nur einer Generation wurde dank der scholastischen Methode von dem mit Leseverboten überzogenen »Feind der Offenbarung« an der Pariser Universität der »Lehrer der Wissenschaften«. Die durch Thomas eingeleitete Wendung der Weltversöhnung der Theologie wäre ohne Aristoteles kaum denkbar gewesen. So argumentiert die »Summa« auch über das Wesen des Geldes ganz mit der Geldlehre des Aristoteles. Sowohl die »Widernatürlichkeit« der Zinsnahme und ihre Dequalifizierung als Wucher (»usura«) sowie das Beharren des Thomas auf der Funktion des Geldes, allein als Tauschmittel zu dienen, entnimmt er mit ausdrücklichem Verweis auf »Politik« und »Nikomachische Ethik« dessen Argumentationsreservoir. Nicht ohne Grund übersieht er jedoch 2 3

Aristoteles, Politik, 298. Dazu vgl. Schefold (2004a). Aristoteles. Nikomachische Ethik, 127 f.

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das Kontingenzargument des Aristoteles. Vielmehr erweitert er dessen Funktionszuweisung des Geldes als Tauschmittel zum zentralen Charakteristikum des reinen Verbrauchs (»consumptio«): »Das Geld aber ist nach Aristoteles vor allem zum Tausch erfunden worden. Und so ist der eigentliche und tatsächliche Gebrauch des Geldes zugleich sein Verbrauch.«4 So betrachtet sei Geld wie Wein zu behandeln, dessen Konsum ja auch nicht doppelt verkauft würde, nämlich als stofflicher Wein und als Getränk. Geld als Tauschmittel und Geld als Verbrauchsgut bestimmen somit die bekannte thomistische Argumentation, jedwede Form der Zinsnahme als Wucher zu verbieten. Wie erwähnt übersieht Thomas geflissentlich die Kontingenzannahme des Aristoteles, mit der dieser dem Charakter des Geldes als »Kredit« – also Vertrauensprodukt der Gesellschaft – näher war als der anderthalb Jahrtausende später schreibende Scholastiker. Für diesen war es jedoch undenkbar, Geld an sich als Übereinkunft zu qualifizieren. Seine Existenz konnte er ebenso wenig in Zweifel ziehen wie die Eindeutigkeit seiner alleinigen Funktion als Tauschmittel. Zwar war der Aquinate durchaus in der Lage, den aristotelischen Politikkonzepten zu folgen, wenn es um die gesellschaftliche Natur des Menschen ging. Doch für ihn blieb es (noch) undenkbar, den Staat (»res publica«, »Monarchia«) als soziale Absprache zu verstehen. Dieser war von Gott und in jeder Form eine Variante des römischen Staates, der mit der Menschwerdung Christi ebenso verbunden schien wie mit der augustinischen Konzeption des Bildes vom »Gottesstaat«, der als Ziel der Geschichte galt. Und »Geld« war durch Christus selbst als Medium des Staates bezeichnet und legitimiert, lag als »Regal« in der Hand der Könige und stand existentiell so wenig zur Disposition wie essentiell. Kontingenzannahmen verboten sich vor diesem Hintergrund. Und dennoch scheint in der Argumentation des Thomas von Aquin ein Moment auf, das sich mit der Zukunft monetärer Ordnungen und Strukturen unabweisbar verbinden sollte: die Rolle des Geldes als Schmiermittel, als dynamisches Medium der Ökonomie. Und weiter: enthielt nicht das Beharren der Scholastik auf dem Charakter des Geldes, Tauschmittel und Konsumgut zu sein, eine hintergründige Annahme substantieller Eskamotierung und zugleich die Notwendigkeit substantieller Wiederbeschaffung? Geld schien nichts zu sein und alles. Diesem Konzept folgt auch der wichtigste wirtschaftstheoretische Nachfolger des Thomas mit seiner Vorstellung des Geldes als produktives Kapital, das sich allein in der Verbindung mit »Arbeit« zu positionieren vermag. Die Rede ist von Antonino von Florenz, Erzbischof und konsequenter Modernisierer der »Summa« des Thomas (1389–1459). Antoninus war es, der den Begriff »capitale« von zu vermehrenden Rinderherden auf das als produktives »Kapital« tätige Geld übertrug und zugleich mit bis dahin unerhörten gefährlichen 4

Thomas von Aquin, Ausgewählte Schriften, 251. Vgl. dazu Thomas von Aquin, Summa Theologica.

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Kategorien wie »Risiko« und »entgangener Gewinn« (»Lucrum cessans«) für erlaubte Zinsnahme spielte. Undenkbar wäre noch bei Thomas, was Antoninus für möglich hält: ein Kaufmann spekuliert auf höhere Preise für einen Ballen Tuch im Herbst des Jahres. Käufer drängen ihn, den Ballen schon jetzt – im Frühjahr zu verkaufen. Schließlich gibt er dem Drängen nach. Darf er den höheren (nur wahrscheinlichen, nicht sicheren) Herbstpreis verlangen? – Thomas hätte mit dem Hinweis auf den diesem Geschäft innewohnenden Verkauf von Zeit, die allein Gott gehöre, den höheren Preis untersagt. Wie er überhaupt bei Kreditgeschäften nur den tieferen Preis bei Verkürzung von ausgehandelten Zahlungsterminen für möglich hält, nie einen höheren bei Verzögerung. Antoninus beantwortet die von ihm selbst exemplifizierte Frage mit einem deutlichen »Ja«. Denn – so die Begründung – das vom Verkäufer investierte Geld habe sich in Gestalt der von ihm verhandelten Ware bereits in »ratio capitalis« verwandelt – als solche sei es zu Recht mit Gewinnerwartung verbunden. Als Transformator dieser Verwandlung aber gilt ihm das »Risiko«, das der frühe Käufer ablöst.5 Damit ist zwar das Geld selbst noch nicht als kontingente gefährliche Größe und Quelle aller gesellschaftlichen Unsicherheit erkannt, wie es Aristoteles zumindest ahnt, aber doch mit der Kategorie »Risiko« und der expansiven Größe »Kapital« eine funktionale Kontingenz des Geldes konditioniert. Die von Raymond de Roover dem Antoninus wohl zu Recht zugeschriebenen Bedeutung für die Modernisierung der »Bank« auf dem Weg von der Wechselbank zum Kreditinstitut kann durchaus als Folge einer neuen, nunmehr gänzlich kontingenten Funktionsverwandlung des Geldes in Kapital mit Antonino in Zusammenhang gebracht werden. Ohne die von ihm vermittelte Legitimierung dieses Wandels der Kategorien wäre – wie de Roover vermerkt – der Weg wahrscheinlich anders verlaufen.6 Chronologisch zurück – in der Sache wahrscheinlich voraus – führt der Weg der Kontingenzwahrnehmung des Geldes als Mittel der Bannung der ihm inhärenten Gefahren für Gesellschaft und Politik zu einem Spätscholastiker unter dem Eindruck tiefgreifender Inflationsexzesse der ersten »Krise des Spätmittelalters«. Die Rede ist von Nicolas d’Oresme (1320–1382), scholastischer Universalist, Politologe, Mathematiker und frühhumanistischer Freund Petrarcas. Die westeuropäischen Ökonomien waren zu seinen Lebzeiten mit einem Phänomen konfrontiert, das Zeitgenossen und Historiker gleichermaßen euphemistisch als »Münzverschlechterung« bezeichneten. Tatsächlich handelte es sich um eine tiefgreifende Inflation, bei der das für den Erfahrungshorizont von d’Oresme zentrale Frankreich innerhalb von einem halben Jahrhundert einen Preisverfall von nahezu 250 Prozent durchmachte. Diese Erfahrung 5 6

Antoninus von Florenz, Summa Theologica, II, 1, 7 Paragraph 15. Vgl. dazu Roover (1967) und Roover (1974), 306–345. Roover (1967), 23 f.

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wurde als Bedrohung der Ordnung empfunden – nicht nur der weltlichen, sondern auch der göttlichen. Schon Papst Innozenz III. hatte Geldveränderungen für möglich erklärt, sie aber an Gemeinwohlfunktion und die Entscheidung »aller« gebunden. Nicolas d’Oresme sah sich nun seinerseits in seiner Funktion als Scholastiker, Gelehrter und Ratgeber dazu veranlasst, die politische und monetäre Reaktion auf die Krise als substantielle Verschlechterung der Lage zu beklagen. Insbesondere die königliche Politik, der Inflation durch zusätzliche Münzabwertung zu begegnen, indem Legierungen verschlechtert und der Edelmetallgehalt der Münzen dem königlichen Schatz zugeschlagen wurden, begegnet er in seinem Traktat über das Geld (»De moneta«) mit einer bis dahin so noch nicht vernommenen Definition des Geldes als Gemeingut: »Obwohl des gemeinen Nutzens wegen der Fürst die äußere Geldform bestimmt, so ist er doch nicht Herr und Besitzer des in seinem Hoheitsgebiet zirkulierenden Geldes. Dieses ist Austauschmittel, das den natürlichen Reichtümern an Wert gleichkommt. Es gehört daher jenen, die das besitzen, was für Menschen Wohlstand ist. Gibt einer die Arbeitskraft seines Körpers für Geld hin, so ist dieses sein Eigentum, denn die Arbeitskraft gehörte ihm und unterstand seinem freien Willen – vorausgesetzt, er sei nicht Sklave. Gott nämlich gab nicht nur den Fürsten die Freiheit zur Beherrschung der Dinge, sondern den gesamten Nachkommenschaften der ersten Eltern, wie die Genesis erzählt. Somit gehört das Geld nicht allein dem Fürsten. In dem Sinne spricht auch Christus ›gebt dem Kaiser was des Kaisers ist‹ nicht dem Kaiser den Besitz der Münze zu, sondern allein die Steuerschuld.«7 Das klang zwar nach Innozenz, ging aber weit über die päpstliche Position hinaus, denn d’Oresme entzog dem König nicht nur die Gewalt über sein Regal, sondern erklärte das Geld zu einer eigenen Gesetzen gehorchenden Materie, die auf Vertrauen und Zustimmung angewiesen sei. Damit positionierte er sich über Aristoteles hinaus als Überwinder von dessen Funktionskontingenz, indem er sie durch eine Art selbstreferenzieller Kontingenz ersetzte. So konstatiert er, dass die Gold-Silber-Relation der Münzwerte von den tatsächlich vorhandenen Mengen an Gold und Silber abhängt und nicht von der Festlegung der Fürsten, die diese Relation in der Regel für sich benutzten. Denn durch die Preismanipulation insbesondere am Gold erzielten sie günstige Einkaufsmöglichkeiten für das begehrte Metall, um über den von ihnen nach oben erneut höher festgelegten Preis neue Einkünfte zu gewinnen. Aber nicht nur die gegebenen Marktquantitäten bestimmen nach d’Oresme die Geldwerte, sondern auch das Vertrauen der Gesellschaft. Erst die Münze, der man vertraut, vermag ihren Wert zu verteidigen und als Geld im Umlauf die ihm eigene Funktion, Tauschmittel zu sein, zu erfüllen.8

7 8

D’Oresme, Traktat über Geldabwertungen, 43 f. Vgl zu d’Oresme auch Schofeld (2004b). Vgl. Schefold (2004b), 93 f.

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Nicolas d’Oresme transformiert somit die traditionelle christlich-legitimistische Autonomie des Geldes zu einer gänzlich neuen, selbstreferenziellen Autonomie der Quantitäten und des Vertrauens. Zugleich aber verwandelt er die funktionale Kontingenz des Geldes, wie sie Aristoteles herausgearbeitet hatte, in eine selbstreferentielle, denn die essentielle Substanz des Geldes erweist sich zugleich als abhängig von wechselnden Warenwerten und dem »soft skill« allgemeinen Vertrauens. Damit hatte sich d’Oresme der keynesianischen Definition des Geldes, nichts anderes als Kredit zu sein, mit anderen Worten Kontingenz, schon sehr weit angenähert. Von nun an war der problematische Charakter des Geldes, sich in einem Spannungsverhältnis zwischen theologischer und politischer Legitimation einerseits und andererseits essentieller Zufälligkeit – abhängig von Waren, Quantitäten und Stimmungen – zu bewegen, fester Bestandteil der allgemeinen Reflexion über seine sittlichen, ökonomischen und politischen Funktionen. So sinniert der Humanist Leon Battista Alberti (1404–1472) über die Differenz zwischen Haus- und Landbesitz und Geldbesitz. Die beiden Gesprächspartner in seinem wichtigen postaristotelischen Traktat »Della Famiglia« beziehen entsprechend der allgemeinen Dialektik natürlich antipodische Positionen, der eine konservativ, der andere der neuen Ökonomie zugewandt. Die Position des Adovardo, Vertreter des Monetarismus, geht in die Offensive: »Niemand zweifelt, dass das Geld der Nerv in allen Gewerben ist, dass, wer eine Menge Geld hat, mit Leichtigkeit jeder Not entgehen und die meisten seiner Wünsche befriedigen kann. Mit Geld kann man Haus- und Landbesitz haben und alle Gewerbe, alle Künste. Wer kein Geld hat, dem fehlt alles.«9 Sein Gegner, Gianozzo, Vertreter der neuen aristokratischen Landbesitzer, entgegnet mit deutlichem Entsetzen: »Was kann denn überhaupt dem Verlust mehr ausgesetzt, schwieriger zu bewahren sein, was mehr Gefahr bringen, wenn man damit umgeht, mehr Zank, wenn man es wiederhaben will, leichter sich auflösen, verschwinden, in Rauch aufgehen? Was, frage ich, ist allen diesen Arten des Verlustes so ausgesetzt wie doch offenbar das Geld? Es gibt nichts unsichereres, mit geringerer Widerstandsfähigkeit als das Geld. Eine unglaubliche Plage ist es, Geld zu bewahren. Eine Plage vor allem, die Verdacht, Gefahren, eine Überfülle von Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Auf keine Weise kann man das Geld einschließen. Denn wenn du es versteckst, so nützt es weder dir noch den deinen. Warum? Weil es dir nichts nützt, wenn du es nicht gebrauchst. Und damit nicht genug. Es lauern weitere Gefahren: Diebshände, Untreue, schlechter Rat, Missgeschick und zahllose andere, schlimme Zufälle verschlingen auf einen Schluck die größten Summen Geldes, verzehren alles, so dass nichts davon übrig bleibt, nicht einmal Asche.«10 Die Vorstellung, Alberti habe hier 9 Alberti, Über das Hauswesen, 320. 10 Ebd., 322.

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Protagonisten der älteren und der neueren Ökonomie – Landwirtschaft gegen Geldwirtschaft – antreten lassen, wird durch die Rationalität beider Positionen nicht bestätigt. Tatsächlich handelt es sich bei Albertis Gespräch über die Ökonomie nicht um das platonische Konzept der dialektischen Überzeugung des »Dummen« durch den »Klugen«, sondern um dialektische Verschränkung und damit Beschreibung eines diskursiven Problems der ökonomischen Entwicklung im Kontext der Renaissance. Die Wahrheit der Dinge und der Positionen ist nicht mehr eindeutig fixierbar, sie ist vieldeutig und »perspektivisch«. Erwin Panofskys Definition der Perspektivtheorie der Renaissance – und Leon Battista Alberti war einer der Gladiatoren dieser Theorie – als symbolische Repräsentation und eben nicht »Wiedergabe von Wirklichkeit« erfasst diesen Zusammenhang genau. Die Dinge ändern sich je nach unserer Betrachtung.11 Schon die Scholastik hatte von der Funktionsweise der doppelten Wahrheit gewusst. Nun aber wird die Wahrheit zu einer Funktion der Wahrnehmung, und die Gewissheiten schwinden. Albertis Positionen gegenüber dem Geld verraten somit keineswegs die Überwindung der älteren aristotelischen Theorie durch das monetäre System der neuen Weltwirtschaft, sondern bedeuten das reale Nebeneinander zweier Wirtschaftsweisen mit ihren vermeintlichen Stärken und sicheren Schwächen. Ohne Kontingenz – so weiß Alberti – ist Geld nicht zu haben, aber ohne Geld auch keine flexible, über feste Orte hinausweisende Ökonomie und deren Griff in die Zukunft. Bekanntlich hat die humanistische Geldtheorie insbesondere durch Nikolaus Kopernikus und Bernardo Davanzati entscheidende Einblicke in die Funktionsweise des Geldes gewonnen. An erster Stelle steht dabei die Vorwegnahme des sogenannten Gresham’schen Gesetzes – die Verdrängung des guten Geldes durch das schlechte, oder abstrakter die Sparzwänge der Inflation – durch Kopernikus.12 Aber auch ihm war dabei die Unwägbarkeit und grundsätzliche Unfassbarkeit des Geldes, seine Autonomie und Kontingenz Wegweiser. Für Bernardo Davanzati gilt mehr noch als für Kopernikus nicht nur der auch bei ihm erkenntnisleitende Blick in den Charakter der Inflation als Folge der Kontingenz und ihrer Nichtbeachtung durch Politik und Gesellschaft, sondern die Unfassbarkeit des Geldes und seiner Mutationsdynamik: »Ogni di legge, moneta, uficio, e costume mutare«.13 Somit enthält die Dynamik des Geldes einen paradigmatischen, erkenntnisleitenden Charakter für die Dynamik kontingenter Beziehungen. Diese sind keineswegs bloßer Zufall, sondern erweisen sich als Zusammenhänge polyvalenter Faktoren, deren Widersprüchlichkeit zur Signifikanz ihres Zusammenhangs gehört. Kontingenz ist in solchen Systemen unaufhebbar. Sie ist Teil der Ordnung und der Vitalität von Gesellschaften. 11 Panofsky (1964), 99–167. 12 Sommerfeld (1978). 13 Davanzati (1638), 118. Davanzatis Traktat entstand 1580.

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Literatur Quellen Alberti, Leon Battista, Über das Hauswesen, hg. v. W. Kraus, Zürich 1962. Antoninus von Florenz, Summa Theologica, Leon 1542. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. v. O. Gigon, München 1972. Aristoteles, »Politik«, in: Hauptwerke, hg. v. W. Nestle, Stuttgart 1953. d’Oresme, Nicolas, Traktat über Geldabwertungen, hg. v. E. Schorer, Jena 1937. Thomas von Aquin, Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre (Summa Theologica), hg. v. F. Schreyvogl, Jena 1923. Thomas von Aquin, Summa Theologica, Wirtschaftsethik, hg. v. H. G. Reckenwald, Düsseldorf 1995.

Forschungsliteratur Davanzati, Bernardo, »Lezione delle Monete«, in: Operette del sig. Bernaro Davanzati, Florenz 1638, 106–123. Kantorowicz, Ernst, »Christus-Fiscus«, in: Synopsis. Festgabe für Alfred Weber, hg. v. E. Salin, Heidelberg (1949), 223–235. Le Goff, Jacques, Wucherzins und Höllenqualen, Stuttgart 1988. Le Goff, Jacques, Geld im Mittelalter, Stuttgart 2011. Money and Beauty. Bankers, Botticelli and the Bonfire of Vanities, Ausstellungskatalog, Milano/Firenze 2012. Panofsky, Erwin, »Perspektive als ›symbolische Form‹ «, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. H. Oberer/E. Verheyen, Berlin 1964 de Roover, Raymond, San Bernardino of Siena and Sant’Antonino of Florence: the two great economic thinkers of the Middle Ages, Boston 1967 de Roover, Raymond, Business, Banking and Economic Thought in Late Medieval and Early Modern Europe, ed. by J. Kirshner, Chicago/London 1974. Schefold, Bertram, »Aristoteles: Der Klassiker des antiken Wirtschaftsdenkens«, in: Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte, hg. v. V. Caspari, Düsseldorf 2004, 21–44. (= 2004a) Schefold, Bertram, »Nikolaus Oresmius: Die Geldlehre des Spätmittelalters«, in: Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte, hg. v. V. Caspari, Düsseldorf 2004, 67–99. (= 2004b) Sommerfeld, Erich, Die Geldlehre des Nicolaus Copernicus, Vaduz 1978.

Gewalthandeln, Rückzug ins Private oder Kalkülrationalität? Über den Umgang mit Kontingenz im Denken der Frühen Neuzeit Herfried Münkler

Fortuna in der Renaissance: eine neue Wahrnehmung von Kontingenz »Fortuna ist ein Weib; um es unterzukriegen, muß man es schlagen und stoßen.«1 Wie ein Emblem steht dieser Satz Machiavellis aus dem Principe über einem bestimmten Strang des politischen Denkens der Neuzeit. Die Kontingenz des Geschehens legitimiert die Gewalt, könnte man ihn umformulieren. Wenn nicht gilt, dass, wer die Geschichte vernünftig anschaut, auch von ihr vernünftig angeschaut wird, dann muss eben mit Zwang und Gewalt in den Strom der Ereignisse hineingebracht werden, was ihm an Zielgerichtetheit und Entgegenkommen im Hinblick auf politische Zwecksetzungen abgeht. Um sich im Meer der Kontingenzen zu behaupten, ist ein politischer Verband nach Machiavellis Auffassung freilich auf einen bestimmten Politikertyp angewiesen, und dementsprechend präzisiert er das über das »Weib Fortuna« Gesagte: Man sieht auch, daß es sich leichter von Draufgängern bezwingen läßt als von denen, die kühl abwägend vorgehen. Daher ist Fortuna immer, wie jedes Weib, den jungen Menschen hold; denn diese sind weniger bedächtig und draufgängerischer und befehlen ihr mit größerer Kühnheit.2

Wo wir es mit dem unvernünftigen Zufall zu tun haben, sollen, ja müssen uns alle Mittel recht sein, um uns gegen die Macht des Zufalls behaupten zu können. – So jedenfalls ist Machiavelli verstanden worden, von einigen affirmativ, von anderen als Beispiel für eine verfehlte Art des Denkens, und seit den 1970er Jahren hat bei der kritischen Rezeption dieser und ähnlicher Passagen obendrein eine Rolle gespielt, dass in Machiavellis Formulierung die Weiblichkeit Fortunas den Gewaltgebrauch nicht bloß rechtfertigt, sondern geradezu erzwingt. 1 Machiavelli, Der Fürst, 106. 2 Ebd.

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Hier soll nun weder den Spuren einer gendertheoretisch angeleiteten Interpretation Machiavellis nachgegangen werden,3 noch ist das Ziel, die Machiavelli-Rezeption bei Apologeten der Gewalt von Georges Sorel bis zu den Autoren des italienischen Faschismus im Hinblick auf bei Machiavelli gemachte Anleihen zu überprüfen, und es geht auch nicht um die Frage, ob Hermann Rauschnings Behauptung zutrifft, Hitler sei ein eifriger Leser von Machiavellis Principe gewesen.4 Statt dessen soll es um die Frage gehen, ob und, wenn ja, wie das Betonen der Kontingenz politischer Ereignisse die Voraussetzungen menschlicher Selbstbehauptung in der politischen Reflexion grundlegend verändert hat und wie Machiavellis Formel der Kontingenzbearbeitung in der Gestalt der Fortuna, die man schlagen und stoßen müsse, in Diskurskontexte eingebettet ist, in denen auch andere, im einen Fall eher kalkulierende, im anderen stärker resignative Antworten gegeben worden sind. Zunächst nämlich ist Machiavellis Formel gegen das Reaktionsmodell einer Resignation gerichtet, die vor der Macht des Zufalls kapituliert und sich angesichts eines ebenso unbeherrschbaren wie unberechenbaren Schicksals in die Sphäre des Privaten zurückzieht, wo der Einzelne nach einer verbreiteten Vorstellung der Macht des Zufalls weniger ausgesetzt ist als im öffentlichen Leben. Während sich die vita activa, die im öffentlichen Raum stattfindet, der Macht des Zufalls in gesteigertem Maße aussetze, vermindere der Rückzug ins Private die Angriffsflächen für Fortuna und entziehe den Betreffenden so ihren Launen. Fast alle unter dem Titel De varietate fortunae verfassten humanistischen Traktate laufen darum auf den Ratschlag hinaus, wer sich der Macht des unvernünftigen Zufalls entziehen wolle, solle sich in die vita contemplativa procul negotiis, in ein beschauliches und zurückgezogenes Leben fern der Pflichten und Geschäfte zurückziehen. Wer sich das materiell wie mental leisten konnte, mochte dem folgen. Machiavelli jedoch konnte das nicht, weder von seiner materiellen Lage her noch in Anbetracht seiner umtriebigen Geschäftigkeit. Ihn trieb die Sorge um Florenz und Italien um. Wenn alle Wohlmeinenden, schreibt er in den Discorsi, sich aus den Händeln der Welt zurückzögen, würden sie die Welt den Bösewichten ausliefern: Unsere Religion hat mehr die demütigen und in Betrachtungen versunkenen Menschen verherrlicht als die tatkräftigen. Sie sieht das höchste Gut in Demut, Selbstverleugnung und in der Geringschätzung der weltlichen Dinge. […] Wenn auch unsere Religion fordert, daß man stark sei, so will sie damit mehr die Stärke des Duldens als die der Tat. Diese Regel hat, wie mir scheint, die Weltgeschichte den 3 4

So etwa Pitkin (1984), insbes. 109–168. Rauschning hat diese Behauptung in zwei Büchern (Rausching [1938], Rauschning [1940]) aufgestellt. Inzwischen ist jedoch nachgewiesen, dass es sich bei den meisten der Gespräche um Fälschungen bzw. freie Erfindungen handelt. Für eine zeitgenössische, 1938 entstandene Auseinandersetzung mit Rauschnings Hitlerbild und dessen Nähen zu Machiavelli vgl. Marcu (1937), 361 ff.

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Bösewichten ausgeliefert, die ungehindert ihr Unwesen treiben können, denn sie sehen, daß die große Mehrheit der Menschen, um ins Paradies einzugehen, mehr darauf bedacht ist, Schläge zu ertragen als zu rächen.5

Wer jedoch in der politischen Welt standhalten wolle, müsse bereit sein, dem Spiel des Zufalls immer wieder mit Gewalt nachzuhelfen. Wer Politik treibe und vor Gewalt zurückschrecke, liefere sich und andere dem Unheil, der fortuna adversa, aus, aber nicht nur das: Er mache den Weg geradezu frei für das Unheil. Machiavelli bezweifelt freilich, dass der resignative Rückzug aus der politischen Welt eine zwingende Konsequenz des Christentums sei, sondern sieht dies vor allem als Folge der vorherrschenden Auslegung des Christentums an, in der nur »Grundsätze müßiger Verweichlichung und nicht solche heldischer Tapferkeit« herausgestellt würden.6 Für einen kurzen Augenblick verfolgt er die Vorstellung, es könne sich eine alternative Lesart der christlichen Ethik durchsetzen lassen, bei der deutlich wird, »daß unsere Religion den Kampf für die Größe und Verteidigung des Vaterlandes erlaubt,« um darüber die Vorstellung prominent zu machen, »daß wir nach deren [der christlichen Religion] Willen das Vaterland auch lieben und ehren und uns zu Männern heranbilden sollen, die es verteidigen können«.7 Damit eröffnete sich für Machiavelli die Denkmöglichkeit, eine von ihm mehrfach formulierte Alternative zu überwinden, wonach man sich zwischen dem Seelenheil und dem Vaterland entscheiden müsse. Dementsprechend hat er über die acht Florentiner Kriegskapitäne, die im Krieg gegen Papst Gregor XI. trotz päpstlichen Interdikts den Klerus zum Lesen der Messe gezwungen hatten, geschrieben, sie hätten »das Wohl des Vaterlandes« höher gestellt »als ihr Seelenheil«.8 Hier hat Machiavelli Vaterland und Seelenheil alternativ gestellt und diejenigen gerühmt, deren Präferenzen ersterem galten. Dasselbe hat Machiavelli für sich selbst in Anspruch genommen, als er am 16. April 1527 an seinen Freund Francesco Vettori schrieb: »Ich liebe mein Vaterland mehr als mich selbst«, und erläuternd hinzufügte, man lebe eben in Zeiten, »wo der Frieden notwendig ist und vom Weg nicht abgelassen werden kann«.9 Es war für Machiavelli also nicht nur eine Frage der christlichen Ethik, dass die Resignation gegenüber den Unwägbarkeiten des öffentlichen Lebens und des politischen Machtkampfs die Oberhand gewonnen hatte, sondern dies entsprach auch dem Geist der Zeit, der mehr den persönlichen Frieden als den öffentlichen Ruhm bevorzugte. Für Machiavelli war das ein Unglück, weil es die Chancen auf die Selbständigkeit von Florenz wie die Optionen einer republikanischen Ordnung 5 Machiavelli, Discorsi, 171 f. 6 Ebd., 172. 7 Ebd. 8 Machiavelli, Geschichte von Florenz, 170. 9 Machiavelli, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 550; zur Formel von Vorrang des Vaterlands gegenüber dem Seelenheil vgl. Viroli (2000), 314 ff.

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verminderte: »Es ist also eine Folge unserer Erziehung und der so falschen Auslegung unserer Religion, daß es in der Welt nicht mehr so viele Freistaaten [= Republiken] gibt wie in der Antike und daß die Völker infolgedessen nicht mehr von solcher Liebe zur Freiheit beseelt sind wie ehemals.«10 Es ist Machiavelli aber nicht nur um die freiheitliche Verfassung gegangen, die darauf angewiesen war, dass sich die in ihr Lebenden nicht samt und sonders aus dem politischen Leben zurückzogen, weil dann fast zwangsläufig ein Einzelner oder eine Clique von Herrschsüchtigen die Macht im Staate an sich rissen, sondern er ist auch davon ausgegangen, dass durch den Versuch, Fortuna notorisch aus dem Weg zu gehen, deren Macht über die Menschen wie die Geschicke eines Staates noch weiterwachsen würde. Seine eindeutige Präferenz für die jungen Männer, die es mit Fortuna aufnahmen und mit Gewalt ihr Glück erzwingen wollten, war letzten Endes an der Vorstellung orientiert, dass sich in der Gesamtbilanz nur auf diesem Weg die Macht des Zufalls begrenzen lasse. Mehr als mit der Gruppe jener, die sich resignativ ins Private zurückzogen, hat sich Machiavelli jedoch mit denen kritisch auseinandergesetzt, die glaubten, sie könnten mit Bedächtigkeit und Kalkül gegen Fortuna bestehen: Nicht den kühl Abwägenden, sondern den Draufgängern sei Fortuna hold. In seinen Istorie Fiorentine hat er das am Beispiel des unglücklichen Niccolò Soderini erläutert, der 1466 als Gonfaloniere della giustizia die Chance hatte, die Medici-Herrschaft in Florenz zu stürzen, diese Gelegenheit aber aus Scheu vor der dazu erforderlichen Gewaltanwendung verstreichen ließ. Bald darauf musste er aus Florenz fliehen und unternahm danach einige vergebliche Versuche, mit Hilfe des venezianischen Militärs die Machtverhältnisse in Florenz umzustürzen. »Er war ein gerechter und beherzter Mann«, schreibt Machiavelli über ihn, »aber schwankend und langsam im Entschließen, woher es kam, dass er als Gonfaloniere della giustizia die Gelegenheit des Sieges verstreichen ließ, die er später als Privatmann vergebens wiederzuerlangen sich bestrebte.«11

10 Machiavelli, Discorsi, 171. 11 Machiavelli, Geschichte von Florenz, 454. Die zentrale Bedeutung, die Machiavelli der Fortuna beimisst, zeigt sich auch darin, dass er einen der Mitverschwörer des Niccolò Soderini gegen die Medici-Herrschaft, den ins neapolitanische Exil gegangenen Agnolo Acciaiuoli, an Piero de’ Medici als Oberhaupt der siegreichen Partei in Florenz schreiben ließ: »Ich lache über die Launen der Fortuna und die Art und Weise, wie es Freunde zu Feinden und Feinde zu Freunden macht.« (Ebd., 449) Eigentlich nämlich sei er stets ein Anhänger der Medici gewesen und nur die Unsicherheiten nach dem Tod Cosimos hätten ihn dazu gebracht, sich auf die Gegenseite zu schlagen. Piero de’ Medici antwortete darauf in großer Kühle, gerade auch im Hinblick auf die gespielte Gelassenheit im Umgang mit Fortuna. In dem Scheitern der Zauderer des Jahres 1466 wiederholt sich das Schicksal von Messer Lapo di Castiglionchio und Piero degli Albizzi aus dem Jahre 1378, von denen ersterer für sofortiges Losschlagen gegen die Familie Medici war, während letzterer dafür plädiert hatte, auf eine spätere günstige Gelegenheit zu warten. Aber während der Zeit des Wartens verschlechterten sich die Konstellationen derart zu ungunsten der Medicifeinde, dass sie aus der Stadt vertrieben und ihres Eigentums beraubt wurden (Machiavelli, Geschichte von Florenz, 171 ff.).

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Von der Spätantike bis in die Renaissance war die Macht der Fortuna ideenpolitisch gezähmt gewesen. Sie wurde, wie etwa in Dantes Divina Comedia, als Schaffnerin Gottes begriffen, agierte also nicht aus eigenem Antrieb und Wollen, sondern setzte um, was ihr aus göttlichem Ratschluss aufgetragen war.12 Theologie und christliche Geschichtsbetrachtung ließen der Kontingenz wenig Raum. Kontingenz war, mit anderen Worten, ein ontologisch eingezäuntes Problem der Erkenntnistheorie: Was den Menschen als kontingent erschien, war im Hinblick auf Gottes Ratschluss keineswegs kontingent. Die Erfahrung von Kontingenz war eine Folge der eingeschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit; ja, die Wahrnehmung von Kontingenz wurde geradezu als Beleg für die Beschränktheit des menschlichen Erkennens begriffen. Wer hingegen auf Gottes Wirken in der Welt vertraute und seinen eigenen, unmittelbaren Eindrücken misstraute, den konnte der Eindruck des Kontingenten nicht erschüttern, denn in diesem und durch es hindurch vollzog sich die providentia Dei, die Vorsorge Gottes für die Welt und den Menschen. Der mittelalterliche Mensch konnte gelassen bleiben und musste nicht die ganze Last, die mit der Sorge für die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit des politischen Geschehens verbunden war, auf sich nehmen. Er konnte im Vertrauen auf Gott hinnehmen, was eintrat, und musste nicht ständig korrigierend in den Fluss der Ereignisse eingreifen. Dass die onto-epistemologische Restgröße des Kontingenten im Bild einer ausgesprochen zweifelhaften und unzuverlässigen Gottheit der heidnischen Welt symbolisiert wurde, war aus christlicher Sicht unschwer zu akzeptieren; verlässlich wurde Fortuna erst, wenn sie nicht mehr als Gottheit eigenen Willens angesehen wurde, sondern als eine Erscheinung, hinter der sich die Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses verbarg. Natürlich haben sich während des Mittelalters keineswegs alle einer solchen theologisch organisierten Sorglosigkeit in Sachen temporalia, der weltlichen Angelegenheiten, hingegeben und sich allein auf die Sorge um die spiritualia konzentriert. Die politische Geschichte weiß durchaus von Machtkämpfen und Kriegen, Intrigen und Nachstellungen zu berichten, und gerade Machiavellis Blick hat, wenn er die Geschichte des mittelalterlichen Florenz durchmusterte, immer wieder das Wirken der Fortuna entdeckt. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht um eine wie auch immer geartete Faktizität der Welt, denn die stellte sich in der Retrospektive zu Beginn des 16. Jahrhunderts völlig anders dar als den Zeitgenossen des 11. oder 12. Jahrhunderts. Worum es hier geht, ist die reflexive Verarbeitung der Geschichte und die Deutung des Geschehens, und dabei war die Beobachtung von Kontingenz während des Zeitraums, den wir als Mittelalter bezeichnen, an eine Providenz Gottes gebunden, die man vielleicht nicht sofort einsehen, auf die man aber vertrauen konnte. Dieses kontingenzentschärfende Vertrauen in das Wirken Gottes in der Welt erodierte in den 12 Vgl. dazu nach wie vor Doren (1922–1923); weiter Meyer-Landrut (1997) und Brunold (2011), 65 ff.

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großen Kontroversen zwischen Nominalisten und Realisten,13 und die Zweifel an der Providenz Gottes, die darüber entstanden, griffen schließlich auf immer breitere Kreise der Gesellschaft über. Die Emanzipation der Kontingenz aus den Fesseln der Providenz hatte weitreichende Folgen: An die Stelle des Vertrauens in den Gang der Dinge trat das Erfordernis, korrigierend oder regulierend einzugreifen oder zumindest das Spiel der Kontingenz so berechenbar zu machen, dass man von der Macht des Zufalls nicht mehr voll getroffen wurde. Nachfolgend sollen drei Strategien im Umgang mit einer entfesselten bzw. weder theologisch noch geschichtsphilosophisch domestizierten Kontingenz vorgestellt werden: erstens das neostoische Reaktionsmodell, das eine deutliche Abständigkeit gegenüber den Händeln der Welt empfahl, dabei aber nicht, wie die Theologie des Mittelalters, die spiritualia gegen die temporalia ausspielte, sondern die Seelenruhe und innere Gelassenheit pries, die sich aus der Distanzierung gegenüber dem politischen Geschehen ergab. Diese Strategie griff zurück auf den spätantiken Philosophen Boëthius und dessen Schrift De Consolatione Philosophiae.14 Man könnte auch von einer Selbstmarginalisierung als Strategie der Kontingenzbewältigung sprechen. Dazu alternativ ist das auf Wahrscheinlichkeitskalküle gestützte Reaktionsmodell der Bankiers und Kaufleute, das der Kontingenz mit versicherungsmathematischen Modellen beizukommen suchte; man könnte auch sagen, dass durch die kalkülrationale Verwandlung von Gefahr in Risiko der Kontingenz ein Schnippchen geschlagen werden sollte, um aus der fortuna adversa, dem Pech oder Unglück, in der Summe der Fälle eine fortuna secunda, ein wohlgesonnenes Spiel des Zufalls, zu machen. Schließlich das dritte Reaktionsmodell, das der Macht des Kontingenten den Gebrauch der Gewalt gegenüberstellte, um den Zufall in den Griff zu bekommen: »Corriger la fortune«, lautete die Formel des 18. Jahrhunderts dafür, hier nicht im übertragenen Sinn als »falsch spielen« verstanden, sondern im ganz wörtlichen Sinn als ein entschlossenes Hineingreifen in das Rad der Fortuna, um dessen Umdrehungen anzuhalten oder auch zu beschleunigen, jedenfalls im Sinne des Eingreifenden zu beeinflussen. Diesen drei Strategien im Umgang mit Kontingenz entsprechen drei »Modelle« oder Assoziationsfelder des Zufalls, unter denen das Bild der Frau, bei der man nicht weiß, ob sie einem nun freundlich zugewandt ist oder aber die kalte Schulter zeigt, am bekanntesten, weil eindrücklichsten ist. Von ihm zu unterscheiden ist die Vorstellung von Fortuna als der Göttin mit dem Rad, das sich mit einer gewissen Notwendigkeit dreht, so dass einer, der eben den Höhepunkt seines Glücks erreicht hat, nunmehr im Begriff steht, von der Höhe, in die ihn das Rad der Fortuna emporgetragen hat, allmählich wieder herabzustei13 Vgl. dazu die paradigmatische Darstellung bei Blumenberg (1966), 75 ff. 14 Boëthius, Trost der Philosophie.

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gen oder auch infolge einer plötzlichen und heftigen Drehung des Rades herunterzustürzen. Fortuna ist hier nicht das launenhafte Weib, das auf einer Kugel als Symbol der Unbeständigkeit daherkommt, ein Füllhorn in Händen, bei dem man nicht weiß, ob das darin Befindliche einem zum Glück oder Unglück ausschlagen wird, sondern sie hat sich, sobald sie mit dem Rad erscheint, in eine Verwalterin sequenzialisierter Geschehensabfolgen in der Biographie eines Menschen oder der Geschichte eines Herrschaftsverbands verwandelt. Nicht Launenhaftigkeit oder Willkür ist ihr Hauptmerkmal, sondern diese Fortuna steht für die allgemeine Beobachtung, dass nichts so bleibt, wie es jetzt ist, dass die jetzt Mächtigen schwach und die augenblicklich Schwachen einmal mächtig werden können, man aber nicht sagen kann, in welchen Zeitsequenzen und aufgrund welcher Faktoren sich diese Veränderungen abspielen werden. Fortuna als die Hüterin des Rades, das für Auf- und Abstieg, Reichtum und Macht, aber auch Elend und Ausgeliefertsein steht, symbolisiert die Vergeblichkeit der menschlichen Bemühungen, die Bewegungsgesetze des Glücksrads herauszubekommen, um ihm dann in die Speichen zu greifen und seine Bewegungen anzuhalten oder zu beschleunigen. Die Macht des Zufalls zeigt sich hier in der Fülle derer, die sich verkalkuliert haben. Die Symbolisierung der Kontingenz in der Gestalt der Fortuna ist an sich bereits eine spezifische Fokussierung dessen, wie man sich das Ungewisse und Unkontrollierbare vorstellen kann – in Konkurrenz zu anderen Symbolisierungen von Kontingenz, etwa in Gestalt von Würfeln –, aber auch in dieser Spezifikation von Kontingenz zeigen sich zwei Varianten, in deren jeweiliger Präferenz die Entscheidung über die Art des Umgangs mit dem Kontingenten bereits angelegt ist: die Figuration des absolut Willkürlichen und Unberechenbaren, des unbekannten Unbekannten, dem sich mit keinerlei Kalkül begegnen lässt, und daneben die Figuration eines prinzipiell Vorherbestimmten und darum auch Erkennbaren, das wir aber nicht zu spezifizieren vermögen und in dem wir uns deswegen immer wieder täuschen, wenn wir es dennoch versuchen. Fortuna steht hier für das unbekannte Bekannte, das uns weniger qua Nichtwissen als an der Illusion des Wissens scheitern lässt. Beide Typen des Denkens von Kontingenz und des strategischen Umgangs damit sind zu unterscheiden von der früheren Vorstellung der Fortuna als »Schaffnerin Gottes«, die dessen Pläne auf eine den Menschen unerkennbare Weise in der Welt besorgte. Gegen diese ältere Fortuna anzukämpfen war ebenso sinnlos wie vergeblich; es war nichts als ein Ausdruck menschlicher Selbsttäuschung. Ganz anders war das bei einer Fortuna, die nicht länger eine Vorfeldgröße göttlichen Willens war, sondern ihr Spiel mit den Menschen auf eigene Rechnung trieb, wie dies nach dem Übergang von den Vorstellungswelten des Mittelalters zu denen der Renaissance der Fall war: Jetzt musste sich der Mensch gegenüber der Fortuna behaupten, und die Frage, um die es nun ging, zielte auf die Mittel und Methoden, die dabei den größten Erfolg versprachen. Aber dazu bedurfte

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es sowohl eines Ethos als auch einer Ethik der Gewalt, und Machiavellis Principe war ein erster Versuch in dieser Richtung.

Die Präferenz der vita contemplativa als Strategie der Kontingenzreduktion Mit der Wiederentdeckung von großen Teilen der antiken Literatur im italienischen und europäischen Humanismus15 hatte die Unterscheidung zwischen einem tätigen Leben, der vita activa, das den privaten Geschäften, aber auch öffentlichen Aufgaben gewidmet war, und dem Rückzug von solchen Tätigkeiten in die vita contemplativa neue Aufmerksamkeit gefunden.16 Das der Betrachtung gewidmete Leben wurde nun nicht mehr als klösterliches Dasein oder Eremitenexistenz begriffen, sondern als ein der Wissenschaft und Literatur, dem Gespräch mit Freunden und dem einsamen Nachdenken gewidmetes Leben. Sein Ort war nicht mehr die Klosterzelle, sondern die Villa auf dem Lande.17 Man hielt sich so heraus aus den Händeln und Konflikten des urbanen Raumes, verzichtete auf jedwede Beteiligung am Kampf um die Macht und am Streben nach großem Reichtum, sondern richtete sich in einer gemäßigten Wohlhabenheit ein. Vita contemplativa war gleichbedeutend mit einer Absage an die beiden großen Antriebsmomente, die von den politischen Theoretikern als das Geschehen des öffentlichen Raumes bestimmend identifiziert worden waren: der Herrschsucht und dem Streben nach Reichtum. Der Rückzug aufs Land stellte die beiden anthropologischen Faktoren ruhig, die das Leben der Menschen sonst prägten. Am Besten war obendrein, wenn diejenigen, die sich der vita contemplativa widmeten, sich um die bescheidene Wohlhabenheit des Landlebens auch nicht selbst bekümmern mussten, sondern von einem Freund und Förderer, einem Mäzen, alimentiert wurden. Unter diesen Umständen – und nur dann –, so der Ratschlag vieler Humanisten, war man vor den Launen der Fortuna relativ sicher. Diese Sicherung gegen die Kontingenz ließ sich so15 Vgl. die Lemmata »Antikenrezeption« und »Bibliotheken« in Münkler/Münkler (2000), 14 ff. und 35 ff. 16 Während die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen bios politikos und bios theoretikos eng an die Polisvorstellung der Griechen gebunden war und der geschäftlichen Tätigkeit jenseits einer politischen oder aber philosophischen Existenz keine Bedeutung beimaß, veränderte sich das bereits mit der Rezeption dieser Dichotomie in Rom: Das als vita activa bezeichnete Leben war sehr viel inklusiver als das exklusive Existenzmodell des bios theoretikos. Parallel dazu machte die vita contemplativa mit der Durchsetzung des Christentums eine Bedeutungsverengung durch, insofern sie nun weithin als identisch mit einer klösterlichen Existenz begriffen wurde. 17 Hinter dem Begriff der ›Villa‹ verbergen sich unterschiedliche Bauten wie Lebensformen auf dem Lande; ihnen allen gemeinsam ist eine forcierte Distanz gegenüber dem städtischen Leben; vgl. Bentmann/Müller (1992), 60 ff.

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zialgeographisch präzisieren: Sie lag außerhalb der Städte auf dem Lande, dort freilich nicht bei den Bauern und Landarbeitern, die sehr wohl mit den Wechselfällen des Lebens zu kämpfen hatten, sondern in der Villa, wo man all dies aus sicherer Distanz beobachten konnte. Die Villa war die säkulare Variante des Klosters. Die neue Debatte über die beste Form des Lebens, die sich seit dem 14. Jahrhundert in Europa und vor allem in Italien entwickelte, ist immer auch eine über die jeweiligen Vorzüge des städtischen und des ländlichen Lebens, wobei die Macht des Zufalls überwiegend mit der Stadt verbunden wurde. Dabei war ursprünglich die Stadt infolge ihrer Mauern und ihrer Rechtssprechung ein Ort erhöhter Sicherheit gegenüber der Unsicherheit des Landes, wo man der Willkür des Grundherrn und dem Treiben von Räuberbanden in sehr viel höherem Maße ausgeliefert war als in der Stadt. Zunächst also war die Stadt der Ort von Kontingenzbegrenzung gegenüber dem Leben auf dem Lande, und das erst recht, wenn man noch die witterungsbedingte Abhängigkeit von Ernten in Betracht zieht, während auf den städtischen Märkten lokale Ernteausfälle durch eine Variation der Handelsbeziehungen ausgeglichen werden konnten. So wurde die Stadt mit ihren Mauern und Türmen sowie dem regen Treiben in ihren Gassen über längere Zeit zum Symbol für die Widerständigkeit auch gegen die Macht des Zufalls, und die Stadtveduten nördlich der Alpen brachten dieses Versprechen noch bis weit ins 17. Jahrhundert zum Ausdruck. Das begann sich in einigen Teilen Italiens seit dem 14./15. Jahrhundert zu ändern, und dabei spielten Seuchen, wie die große Pest von 1348/49, sowie die vor allem in den Städten ausgetragenen Faktionskämpfe der großen Familien eine wichtige Rolle. Der urbane Raum war hier nicht länger ein Raum gesteigerter Sicherheit, sondern geriet in den Verdacht, ein Ort gesteigerter Kontingenz zu sein, gegen den das Land, konkret: die Villa auf dem Lande, als ein Ort der Ruhe, der Ungestörtheit und des Zuverlässigen konturiert werden konnte. Selbstverständlich war das erst plausibel, seitdem die Stadt ihre Rechtsordnung und ihr Sicherheitsversprechen auf das Land ausgedehnt hatte, so dass man in der Villa die Vorzüge der städtischen Ordnung ohne deren Nachteile genießen konnte. So konnte die Villa zum irdischen Paradies avancieren.18 Natürlich war den ästhetisch-literarischen Humanisten klar, dass sich diese Lebensweise nicht verallgemeinern ließ, sondern auf die Privilegierung einer kleinen Gruppe hinauslief. Die Frage, wer dazugehörte, war selbst kontingent. Doch diese Kontingenz von erhöhter und verminderter Kontingenz bei der Führung des Lebens ist in der humanistischen Literatur wenig bis gar nicht reflektiert, sondern als das Ergebnis einer bewussten Entscheidung dargestellt worden. Entweder man führte das Glück der vita contemplativa auf die herausragenden kognitiven und literarischen Fähigkeiten zurück, die einige Dichter 18 Vgl. ebd., 80 ff.

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und Schriftsteller für sich in Anspruch nahmen, oder man unterstellte schlichtweg Konstellationen, in denen jeder sich aufs Land zurückziehen könnte, wenn er denn wollte – aber die wenigsten waren in der Lage, sich von ihren Geschäften oder von den politischen Ämtern zu trennen. Hier dienten also Mentalitätsdispositive als Rechtfertigung der Privilegierung. Man genoss die Kontingenzreduktion der humanistischen Villenexistenz, indem man über die Kontingenz des Zugangs zu ihr nicht weiter nachdachte, sondern sich ausführlich darüber ausließ, welchen Launen des Schicksals diejenigen ausgesetzt waren, die sich draußen im geschäftlichen wie politischen Leben behaupten wollten. Das Wohlbehagen der Sicherheit, wie wir es aus zahllosen humanistischen Traktaten herauslesen können, war in der Regel ein Vergnügen von Künstlern und Intellektuellen, die einen Mäzen gefunden hatten. Dass sich die humanistischen Intellektuellen nicht weiter mit dieser Metakontingenz beschäftigten, sondern ihr Ausweichen vor den Launen des Schicksals bzw. der Macht des Zufalls auf eine Präferenzentscheidung zurückführten, war selbst eine Form der Kontingenzbewältigung, in der sich das gesteigerte Selbstvertrauen dieses Typs von Intellektuellen zeigte. Hätten sie die Dimension von Metakontingenzen in ihre Überlegungen einbezogen und diese womöglich zum Gedanken eines regressus ad infinitum zugespitzt, dann wären sie wohl zwangsläufig wieder bei Gott als »Kontingenzformel« im Sinne Niklas Luhmanns gelandet, wie dies bei den Reformatoren nördlich der Alpen der Fall war, die das Kontingenzproblem entweder in der Vorstellung einer göttlichen Gnade oder aber einer mehr oder weniger absoluten Prädestination auflösten. In epistemischer Hinsicht zumindest läuft die Differenz zwischen Renaissance und Reformation ganz wesentlich auf einen Unterschied im Denken von Kontingenz hinaus. Für die italienischen Humanisten jedenfalls ergab sich die Chance, die Treppe der Metakontingenzen zu vermeiden, durch die Spaltung in zwei Gruppen, von denen man die erste als literarisch-ästhetischen Strang des Humanismus und die zweite als Bürger-Humanismus bezeichnen kann.19 Nicht alle Humanisten sind eindeutig der einen oder der anderen Gruppierung zuzurechnen; es gibt Grenzgänger und Seitenwechsler, aber über allem stand die in der bevorzugten literarischen Abhandlungsform des Dialogs immer wieder erörterte Frage, welche Form des Lebens und damit auch des Umgangs mit Kontingenz zu bevorzugen sei: das tätige Leben und dabei vor allem das Engagement für die Gemeinschaft oder der Rückzug aus den zufallsverseuchten Feldern und statt dessen die Beschäftigung mit Philosophie und Literatur. Diese Alternative war so dominant, dass sie wie ein Magnet die Denker unter Präferenzzwang stellte, dementsprechend sortierte und die Frage nach den Metakontingenzen gar nicht aufkommen ließ. Auch wenn der Rückzug in die vita contemplativa keineswegs allen Menschen offenstand, sondern es sich dabei nur um die Option einer winzigen 19 Für einen Überblick hierzu vgl. Böhme (1986) sowie Baron (1992).

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Mi­no­ri­tät handelte, so mussten zumindest deren Angehörige sich doch entscheiden, welches Leben sie führen wollten: eines, bei dem sie sich für das Gemeinwesen engagierten, wie die zumeist republikanisch orientierten Bürgerhumanisten forderten, dabei aber das Risiko eingingen, in die Streitigkeiten der Parteien verwickelt zu werden und sich damit den Launen der Fortuna auszusetzen – die Ermordung Ciceros in den Wirren des römischen Bürgerkriegs ist seit Petrarca das immer wieder bemühte Beispiel dafür –, oder eines, das auf politischen Ruhm und Ehre verzichtete und sich in die Sicherheit der Villa auf dem Lande zurückzog – wenn man denn einen Mäzen fand, der diesen Rückzug finanzierte und dafür bloß erwartete, in den Texten des Humanisten gelobt und gerühmt zu werden. Aber gelegentlich wurde die literarisch fingierte Entscheidung zwischen beiden Optionen auch zur bloßen Flucht aus dem politischen Leben, und das nicht um des persönlichen Glücks, sondern des nackten Überlebens willen: Der Neostoiker Justus Lipsius, ein politischer Theoretiker des Späthumanismus bzw. Frühbarock, hat in De constantia argumentiert,20 im Bürgerkrieg sei es für die Intellektuellen angezeigt, auf weitere Parteinahmen zu verzichten und sich in die Marginalität des Danebenstehens zurückzuziehen, wenn sie ihr Leben erhalten und innerlich wieder zur Ruhe kommen wollten. Wer Partei ergriff und sich in den politischen Kampf begab, lieferte sich dem Zugriff des Kontingenten aus; wer darauf verzichtete, bot den Launen der Fortuna eine reduzierte Angriffsfläche. Das war zwar keine Rückkehr in die Geborgenheit der göttlichen Providenz, aber doch eine Selbstsicherung durch den Verzicht, sich geleitet von Neugier oder Ehrgeiz in Situationen zu begeben, die gefährlich waren und tödlich enden konnten. Den Tenor seiner Überlegungen hat Justus Lipsius in einem am 17. Mai 1588 verfassten Brief umrissen: Wenn ich auch nicht die Gefahr fürchte und fliehe, so bin ich doch nicht so leichtsinnig, sie heraufzubeschwören und ihr zu trotzen. Ich leugne nicht, wie leicht es ist, sich mit den besten Absichten zu täuschen in einer Zeit, die durch Ungestüm, nicht durch ruhige Überlegung bestimmt wird.21

Lipsius bezieht sich hier auf ein Buch über Politik, zu dem er schreibt, er »lese Ähren auf dem Feld der Alten dafür«, zögere aber immer wieder, sie angesichts

20 Von der Schrift De constantia gibt es eine 1599 in erster und 1601 in zweiter Auflage erschienene deutsche Übersetzung (Von der Bestendigkeit), die als Faksimileausgabe (1965) verfügbar ist; zu Justus Lipsius vgl. Oestreich (1989); zu De constantia in publicis malis vgl. insbes. 69 ff., sowie Oestreich (1969a). Zu einem einflussreichen Politiktheoretiker ist Lipsius freilich nicht durch seine Thematisierung der prekären Rolle des Intellektuellen in Zeiten des Bürgerkriegs, sondern durch seine Arbeiten zum Machtstaat und zur Heeresreform geworden; dazu neben den Arbeiten von Oestreich, insbes. Oestreich (1969b) und Oestreich (1969c), auch Siegschlag (1978). 21 Zit. nach Oestreich (1969a), 83.

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der Entwicklungen seiner Zeit auf sie anzuwenden.22 Die Entwicklungen, von denen Lipsius hier spricht, gipfelten in dem Krieg, der seit langem in den Niederlanden tobte, und der in mancher Hinsicht ein Separationskrieg und in anderer ein Bürgerkrieg war. Wer hier eine klare Position bezog, setzte sich den Launen der Fortuna aus, wobei Lipsius diese nicht explizit erwähnt, sondern sich der Komplementärvorstellung von Meer und Stürmen bedient: Wir werden nun etliche Jhar herdurch an und ablauff des Inheimischen Krieges gleichsam als in einem ungestümmen Meer von den Winden der mancherley Aufflauff unnd Auffruhr hie und dorthin geworffen unnd getrieben, also das man nirgend sicher oder ruhsam sein oder wohnen mag.23

Unter Rekurs auf den römischen Philosophen Seneca evaluiert Lipsius nun die Möglichkeiten, diesem Auf und Ab zu entgehen und kommt zu dem Ergebnis, dass Flucht oder Ortswechsel nicht helfen, weil man doch die innere Unruhe und Erregung mit sich nimmt. Die einzige Abhilfe – und das ist das spezifisch Neostoische an Lipsius’ Ratschlag für die Bewältigung einer solchen Situation – ist die Beherrschung der Affekte durch die Vernunft: Wenn man diese Haltung »einmal auff guten Glauben eingenommen« habe, so mag dein Vatterlande nicht allein Unruhe anrichten, sondern nur gantz unnd gar in einander fallen und zu grunde gehen, und wirstu gleichwol unbewegt bestehe bleiben. Es mag umb dich her regnen, donnern und blitzen, so wirstu dennoch mit warhafftiger starcker Stimme ruffen können: Mitten unter allen grössesten Wellen bin ich ohn sorgen und sicher.24

Fortuna, so Lipsius’ neostoischer Ratschlag, hatte nur Macht über diejenigen, die sich von ihren Begierden und Affekten treiben ließen, während diejenigen, die sich davon frei gemacht hatten, auch den Verlockungen des Glücks widerstehen konnten und ihnen nicht zum Opfer fielen. Mehr als ein Jahrhundert vor Lipsius hat der Maler Andrea Mantegna diese neostoische Verhaltensdisposition ins Bild gesetzt: Ein junger Mann, stürmisch und draufgängerisch, will occasione, die kleine Schwester der fortuna, ergreifen, wird aber von einem älteren, einem bedächtigen und offenbar lebenserfahrenen Mann zurückgehalten:25 Das Glück und seine Erscheinungsformen sind trügerisch, und wer, seinen unmittelbaren Antrieben und Affekten folgend, nach ihnen greift, wird schnell in den Abgrund gerissen. Kein anderer als Machiavelli hat in seinem Capitolo dell’occasione die eigentümliche Frauengestalt, die Gelegenheit, occasione, die auf der rechten Seite zu sehen ist, genau beschrieben.

22 Ebd. 23 Lipsius, Von der Bestendigkeit, 2r. 24 Ebd., 16r. 25 Mantegnas Fresko aus dem Palazzo Ducale in Mantua, um 1495 entstanden, ist abgebildet in Münkler (1987), 57.

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Nach vorn gewandt ist mein zerzaustes Haar, Damit bedeck ich Brust und Angesicht, Auf daß mich niemand kennt, wenn ich ihm nahe komme. Am Hinterhaupte aber bin ich kahl, Darum bemühst Du Dich vergebens, Wenn ich entfloh – und dir den Rücken wandte.26

In sprachlichen Wendungen, wie ›Die Gelegenheit beim Schopfe greifen‹, sind uns die Implikationen dieser im 15. und 16. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung nach wie vor geläufig. Machiavelli hat die Konstellationen der Szene dahingehend präzisiert, dass die Gelegenheit im Prinzip günstig, aber schwer zu identifizieren ist. In der Kombination des Bekannten mit dem Unbekannten steht Occasione für das prinzipiell Bekannte, das in der konkreten Situation aber nur schwer zu erkennen ist, weil ihr die Haare ins Gesicht hängen. Deswegen lassen viele die günstige Gelegenheit auch achtlos verstreichen. Im Umgang mit der Kontingenz kommt es also darauf an, das Bekannte zu identifizieren und dann entschlossen zuzupacken. Mantegna und der Neostoizismus dagegen misstrauen der Selbstdarstellung der Gelegenheit: Es könnte eine bloße Täuschung oder, schlimmer noch, eine Falle sein. Den Simulacra der Kontingenz sei nicht zu trauen. Die Neostoiker bezweifeln, dass es sich um eine Kombination des unbekannten Bekannten handelt und ziehen die Bekanntheit der zweiten Position in Zweifel. Es könnte sich auch um eine bloße Verwechslung handeln, also um eine bekannte Unbekannte, und wir greifen ins Nichts oder ins Verderben, wenn wir uns auf sie einlassen. Am besten sei, man halte sich von solchen Gelegenheiten fern. Demgemäß wird von den Neostoikern das Verführerische der occasione herausgestellt, und es ist die Reflexivität des Intellektuellen, die solcher Augenlust zu widerstehen hat. Der kluge Ältere hält den in seiner Unvernunft losstürmenden jungen Mann zurück. Für Machiavelli, den Kritiker der Bedächtigen und Zögerlichen, stellen sich die Konstellationen um occasione genau entgegengesetzt dar; er hat jemanden im Auge, den Mantegna nicht ins Bild gesetzt – Machiavelli würde sagen: übersehen – hat: Bei Machiavelli nämlich wird die Gelegenheit gefragt, wer das denn sei, der ihr beständig auf dem Fuße folge, worauf sie antwortet: Die Reue ist’s – darum merke und begreife: Wer mich nicht halten kann, Bleibt ihr verfallen! Und während redend du die Zeit verschwendest; Beschäftigt mit viel müßigen Gedanken, Begreifst du Armer nicht, dass ich schon floh!27

26 Machiavelli, Capitolo dell’occasione. 27 Ebd.

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Mantegna und Machiavelli dissentieren hinsichtlich des angemessenen Umgangs mit der Kontingenz. Mantegna und Lipsius haben darin vor allem Gefahren gesehen, Machiavelli dagegen vor allem Chancen. Dementsprechend unterschiedlich sind ihre politischen Ratschläge ausgefallen.

Kaufmannsmentalität als kalkulatorisches Kontingenzmanagement Die im Risikobegriff miteinander verbundenen Gefahren und Chancen, Verluste und Gewinne gegeneinander abzuwägen und entsprechende Entscheidungen zu treffen, war Sache einer Kaufmannsrationalität, wie sie sich seit dem 13./14. Jahrhundert in Italien allmählich herauszubildete. Hier war es nicht möglich, prinzipiell nur Gefahren oder überall Chancen zu sehen, sondern hier mussten Strategien entwickelt werden, mit denen man Risiken einschätzen und Chancen identifizieren konnte bzw. sich, da das nicht immer möglich war, gegen gar zu große Risiken absicherte. Der kaufmännische Imperativ lautete darum: Je besser die Gefahr des Totalverlustes abgefedert war, desto entschiedener konnte man sich an die Wahrnehmung von Chancen wagen. Im Prinzip ging es um die Entwicklung einer Form von Kontingenzmanagement, in dem die göttliche Providenz keine Rolle spielte oder in einen Faktor neben anderen bei der Bewertung von Risiken verwandelt wurde. Man suchte die Kontingenz im Wirtschaftsleben unter Kontrolle zu bringen, indem man sie kalkulierbar machte, und das war am ehesten dort möglich, wo man es nicht mit einem Einzelfall oder einer willkürlichen Entscheidung zu tun hatte, sondern mit großen Fallzahlen, die sich jeder äußeren Beeinflussung entzogen und auch von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe menschlicher Einflussnahme gegenüber immun waren.28 Es kommt darum nicht von ungefähr, dass die Versicherung als institutionelles Arrangement des Kontingenzmanagements sich in Seefahrt und Seehandel entwickelte, wo Stürme und Untiefen, Windflauten und andere Unglücksfälle für eine menschlichem Handeln entzogene Kontingenz sorgten und mit der Verdichtung des Seehandels eine hinreichend große Fallzahl ins Spiel kam, so dass man mit Wahrscheinlichkeiten rechnen konnte. Die Wahrscheinlichkeitskalküle, die das Versicherungswesen aus einem bloßen Spiel mit dem Zufall in ein solides Verfahren der Berechnung von Kontingenz verwandelten, sind damals vor allem aus Spielen mit Würfeln entwickelt worden.29 Würfel haben nämlich weder Willen noch Gedächtnis und sind darum Verkörperungen reiner Kontingenz.

28 Das ist die bis heute gültige Definition von Risiko; vgl. Rammstedt (1992), 1046 f. 29 Dazu ausführlich Bernstein (2004), 55 ff.

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Seit jeher ist der Weg aufs Meer als Grenzverletzung und der dabei riskierte Schiffbruch als Folge einer Grenzüberschreitung begriffen worden.30 Auf See gibt es nichts, worauf man sich wirklich verlassen kann, weswegen der Stoiker Epikur die Metaphorik des Nautischen benutzt hat, um dem Ungewissen und Unberechenbaren einen Platz im Denken zuzuweisen. Im antiken und mittelalterlichen Denken ist Seefahrt der Inbegriff von Kontingenz: Sie ist Glückssache, weil hier sehr viel höhere Gewinne zu erzielen sind als im Landhandel, und sie ist Glückssache, weil die Gefahren des Seehandels viel größer sind als bei allen anderen wirtschaftlichen Aktivitäten.31 Das hatte nicht nur mit Stürmen, sondern auch mit Riffen und Untiefen zu tun. Damit kommt die etymologische Herkunft des Risikobegriffs ins Spiel, die auf das griechische Wort ›rhiza‹ für Klippe zurückgeht, so dass das italienische Wort ›rischiare‹ wohl ursprünglich ›Klippe umsegeln, sich den Klippen aussetzen‹ bedeutete. Im Seehandel tritt der Geist der Rechenhaftigkeit dem Wagnis der Gefahr gegenüber und sucht es auf der Basis zunächst bloß erfahrungsgestützter Kalküle handhabbar zu machen. Dazu gehören als erstes eine gründliche Ausbildung der Seeleute und die Anfertigung zuverlässiger Seekarten, also Fertigkeiten und Wissen. Wie die Kaufleute beim Landhandel von der Obrigkeit erwarteten, dass sie für eine relative Sicherheit sorgte, indem sie gegen Räuber und Wegelagerer vorging, so erwarteten die Seekaufleute, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten die grassierende Piraterie bekämpfte und für eine gewisse Sicherheit der Seewege sorgte. Der europäische Fernhandel gewann in dem Maße an Volumen, wie die Seerepubliken Venedig und Genua entsprechende Maßnahmen umsetzten. Gänzlich verschwand die Piraterie freilich nie gänzlich, zumal sie in einigen Fällen eine Liaison mit dem Seehandel einging. Sie war ein Problem für das entstehende Versicherungswesen, da Verluste durch Piraten nicht immer die Folge von Kontingenzen waren, sondern es verschiedentlich zu Absprachen zwischen Händlern und Piraten kam. Auch dagegen musste die Obrigkeit vorgehen. Was durch obrigkeitliche Maßnahmen aber in keinem Fall zurückgedrängt werden konnte, waren Stürme, Klippen und Untiefen. Die mit ihnen verbundenen Risiken sind der Raum des Kontingenten, in dem sich die Fernhandelskaufleute bewegten. Um Kontingenz in Form von Wahrscheinlichkeitskalkülen handhabbar zu machen, muss sie zunächst in eine Residualkategorie verwandelt werden, und das geschieht, indem der Raum ihrer Wirksamkeit beschränkt, also definiert wird. Kontingenz umfasst das, was als »Natur« zielgerichtetem und zweckdienlichem Handeln unzugänglich ist und was sich auch nicht durch entsprechende Vorsorgemaßnahmen beseitigen lässt. Der Raum der Kontingenz ist gleichsam die »Restnatur«, also das, was übrigbleibt, nachdem man die Sicherheits- und Vorsorgemaßnahmen getroffen 30 Vgl. dazu Blumenberg (1979) sowie Wolf (2013), 257 ff. 31 Vgl. Makropoulos (1990).

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hat, die bei dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik möglich sind. Erst dann und nur unter diesen Voraussetzungen wird Kontingenz kalkulierbar, und sie wird das um so mehr, je kleiner der Bereich ist, den sie umfasst, und je höher die Fallzahlen sind, auf die sie sich bezieht. Es kommt darum nicht von ungefähr, dass die »Entdeckung der Kontingenz« und die Entwicklung eines auf Stochastik und Wahrscheinlichkeitskalküle gestützten Versicherungswesen ungefähr in demselben Zeitraum erfolgen, in dem der europäische Fernhandel ein gewisses Volumen angenommen und das Stadium vereinzelten Abenteurertums hinter sich gelassen hat. Aus den Darlehen in fortunas maris, wie es zunächst hieß, wird die kalkulatorisch entwickelte Seeversicherung.32 Dabei kollidierte die Seeversicherung zunächst jedoch mit dem kanonischen Wucherverbot, das jede Form des Zinsnehmens unter Strafe stellte und mit ewiger Verdammnis bedrohte. In einem von dem Glauben an Gottes Wirken bestimmten Weltbild galten Vorsorgetechniken, die auf Zins und Versicherung setzen, als frevelhaft und als Versuchung Gottes. Providenz und Kontingenz kollidierten miteinander, und dieser Konflikt war, wie die Höllenqualen der Wucherer auf zahllosen Fresken italienischer Kirchen zeigen, zunächst unauflösbar. Erst als das sich aus der antiken Rechts- und Handelstradition herleitende foenus nauticum, bei dem die Risiken der Seefahrt auf einen Darlehensgeber übertragen wurden, der dafür einen Zinssatz von 25 bis 30 Prozent erhob,33 durch einen Seeversicherungsvertrag ersetzt wurde, der allein der Risikoübernahme ohne eigene Gewinnabsicht diente, konnte das Wucherverbot gelockert werden. Als erste hoben die Genuesen um 1360 das Verbot von Seeversicherungen auf, und im 15. Jahrhundert hatte jeder das Recht, Handelsware zu versichern. Das auf den einzelnen entfallende Risiko wurde dadurch gemindert, und infolge dieser Risikominderung sank der Kapitalzins, und es wuchs die unternehmerische Initiative.34 Die zuvor erfolgte Umstellung der Seeversicherung von einem Darlehensgeschäft auf bloßes Risikomanagement war freilich davon abhängig, dass nicht einige Wenige gelegentlich Seehandel betrieben, sondern dass es sich um einen florierenden Geschäftszweig handelte, bei dem individuelle Gefahren versicherungstechnisch vergemeinschaftet und dadurch in Risiken transformiert werden konnten. Das war nur möglich durch die sukzessive Überlagerung einer providentiellen Weltsicht durch Modelle der Kontingenz. Kontingenz ist im Falle der Kaufleute nicht das, wogegen sie sich versichern, sondern sie ist die epistemische Voraussetzung für die Entwicklung solider Versicherungsformen. Dem Unvorhersehbaren wird mit 32 Vgl. Kellenbenz (1986), 303 ff., sowie Wolf (2013), 89 ff. 33 Vgl. Schuster (2005), weiterhin Perdikas (1966) sowie Nehlsenvan Stryk (1989). 34 Raymond de Roover hat die Entwicklung der Seeversicherung neben der Entstehung von Sozietäten, der Einführung des Wechsels, der Geschäftsführung aus dem Kontor und der Kontokorrentbuchführung als eine der fünf wesentlichen Veränderungen im merkantilen Geschäftswesen aufgeführt, die er als »commerial revolution« bezeichnet hat; Roover (1942), 35 f.

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Hilfe der großen Zahlen ein Schnippchen geschlagen. Die Gefahr des Verlustes verschwindet damit nicht, aber sie wird kalkulierbar.35

Politische Kontingenzbegrenzung als Voraussetzung für die Überwältigung der Fortuna Solch große Fallzahlen gibt es in der Politik nicht, und deswegen kann die Politik auch kein vergleichbares Kontingenzmanagement betreiben, wie es den Großkaufleuten und Bankiers im Handelsgeschäft möglich ist. Aber die Beschränkung des Zufalls auf artifiziell limitierte Räume, wie sie im Seehandel durch die sorgfältige Ausbildung der Seeleute und die Zurückdrängung der Piraterie erfolgte, gibt es auch in der Politik. Wer alles dem Zufall überlässt, ist ihm hoffnungslos ausgeliefert. Also muss der Raum des Kontingenten auch hier zunächst eingeschränkt und begrenzt werden, bevor man es wagen kann, sich mit Fortuna einzulassen. »Es ist mir nicht unbekannt«, beginnt Machiavelli seine Überlegungen im 25. Principe-Kapitel,36 daß viele der Meinung waren und noch immer sind, daß die Dinge dieser Welt so sehr vom Glück (Fortuna) und von Gott gelenkt werden, daß die Menschen mit all ihrer Klugheit nichts gegen ihren Ablauf ausrichten können, ja, daß es überhaupt kein Mittel dagegen gibt.

Das ist im Prinzip die Sicht derer, die als Reaktion auf die Launen der Fortuna nur den Rückzug in die Villa und ein Leben procul negotiis kennen. Davon will Machiavelli nichts hören, denn das ist zu dem Zeitpunkt, da er diese Sätze schreibt, seine eigene Situation, in die er sich als der aus Florenz in sein Albergaccio nahe San Casciano Verbannte nicht freiwillig begeben hat, sondern in die er hineingezwungen worden ist.37 Der Rückzug aus der Politik, so seine Vorstellung, begrenzt die Macht der Fortuna nicht, sondern lässt ihr im Gegenteil freien Lauf. Aus einem Gefühl äußerster Machtlosigkeit heraus schreibt Machiavelli am 10. Dezember 1513 an seinen Freund Francesco Vettori, den er zuvor bereits mehrfach um ein gutes Wort bei einflussreichen Leuten in Florenz und Rom gebeten hat: Da Fortuna alles selber tun will, muß man sie machen lassen, ruhig bleiben, ihr nicht lästig werden und abwarten, bis sie uns Menschen etwas tun läßt. Dann ist

35 Vgl. hierzu auch meinen Vorschlag, im Umgang mit einem kontingenzgestützten Risiko drei Typen sozialer Reaktionsmuster voneinander zu unterscheiden: den Helden, den Kaufmann und den Bürger; Münkler (2010). 36 Machiavelli, Der Fürst, 102. 37 Vgl. Viroli (2000), 168 ff.; für eine historisch-biographische Darstellung vgl. Reinhardt (2012), 212 ff.

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es an der Zeit, mehr Mühe aufzuwenden und stärker in den Lauf der Dinge einzugreifen – und an mir, mein Landhaus zu verlassen und zu sagen: Hier bin ich.38

Der Rückzug aufs Land und erst recht die Verbannung dorthin lässt Fortuna übermächtig werden. Erst mit der Rückkehr in den politischen Betrieb, so Machiavellis Überzeugung, hat man eine Chance, die Macht des Zufalls zu begrenzen. Dementsprechend fährt er im Anschluss an die Überlegungen zur Macht Gottes und der Fortuna in dem etwa zu derselben Zeit wie der Brief an Vettori verfassten Principe fort: Daraus könnte man folgern, man solle sich nicht so viel mit den Dingen abquälen, sondern sich vom Zufall leiten lassen. Diese Anschauung ist in unserer Zeit wegen der großen Umwälzungen, die wir erlebt haben und täglich erleben und die außerhalb jeder menschlichen Berechnung liegen, weit verbreitet.39

Aber das kaufmännische Kalkül hilft hier nicht weiter. Das ist die Herausforderung, auf die Machiavelli mit seinem Gewaltvorschlag antwortet: Der Rückzug einzelner aufs Land mag zwar individuell eine Lösung sein, hat aber für das Gemeinwesen katastrophale Folgen, und die kaufmännische Strategie, die Kontingenz mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitskalkülen aus einem Problem in die Lösung zu verwandeln, greift nicht, weil die Fallzahlen in der Politik nicht hoch genug sind und die Ereignisse im Unterschied zum Fall der Würfel nicht gänzlich intentionslos gedacht werden können. Machiavellis Lösungsvorschlag ist ebenso kühn wie radikal: Er ersetzt Gott durch den Menschen und macht diesen zum Gegenspieler der Fortuna: »Ich halte es für möglich«, schreibt er, »daß Fortuna zur Hälfte Herrin unserer Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder beinahe so viel uns selbst überläßt.«40 Wo Gott der Macht der Fortuna keinen Einhalt gebietet, muss der Mensch es tun, und nur dort, wo er es nicht tut, wird Fortuna übermächtig. Gegen das undurchsichtige Amalgam aus Providenz und Kontingenz, mit dessen Beschreibung Machiavelli seine Überlegungen begonnen hat, stellt er den Gegensatz von purer Kontingenz und einem auf Kontingenzbegrenzung abzielenden menschlichen Tun. Mit Hilfe von Artefakten soll Fortunas Einfluss beschränkt werden, und demgemäß taucht bei Machiavelli eine Naturmetaphorik auf, mittels deren er Fortunas Reich darstellt: Ich vergleiche sie [ fortuna] mit einem reißenden Strom, der bei Hochwasser das Land überschwemmt, Bäume und Häuser niederreißt, hier Land fortträgt und dort anschwemmt; alles ergreift vor ihm die Flucht, jeder weicht seinem Ungestüm aus, ohne nur den geringsten Widerstand leisten zu können.41

Das ist eine Beschreibung des Ausgeliefertseins. Machiavelli fährt fort: 38 Zit. nach Hausmann (1987), 82 f. 39 Machiavelli, Der Fürst, 102. 40 Ebd., 103. 41 Ebd., 103.

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Obwohl die Dinge so liegen, bleibt doch nichts anderes übrig, als daß die Menschen in ruhigen Zeiten durch den Bau von Deichen und Dämmen Vorkehrungen treffen, und zwar derart, daß die steigenden Fluten entweder durch einen Kanal abgeleitet werden oder ihre Wucht gehemmt wird, damit sie nicht so rasend und verheerend wird.42

Durch eine kleine semantische Operation hat Machiavelli die Providenz-Kontingenz-Beziehung in eine Gegenüberstellung von unbeherrschter Natur und artifiziellen Sicherungssystemen verwandelt und damit eine Programmatik zur Begrenzung von Fortunas Macht entworfen. Man muss Vorsorge treffen, indem man antizipiert, wo Fortuna zuschlagen könnte, und dort sind entsprechende Vorkehrungen zutreffen. Sie müssen so beschaffen sein, dass sie das Wirken der Fortuna nicht blockieren, denn das würde ihre Macht nur noch unberechenbarer machen, sondern sie kanalisieren, die Kontingenzeffekte also im je gewünschten Sinn steuern. Es ist klar, was Machiavelli damit meint: den Ausbau von Staatlichkeit. Die institutionelle Ordnung des Staates ist das System, das die Macht der Kontingenz in Bahnen leitet und ihr die gewünschte Richtung verleiht. Also fährt er fort: Ähnlich steht es mit Fortuna; sie zeigt ihre Macht dort, wo es an der Kraft des Widerstands fehlt, und sie richtet dorthin ihren Angriff, wo sie weiß, daß sie nicht durch Dämme und Deiche gehemmt wird. Wenn man Italien betrachtet […], so sieht man, daß es ein Land ohne Dämme und ohne den geringsten Schutz ist. Hätte es die Kraft zu einer entsprechenden Rüstung aufgebracht wie Deutschland, Spanien und Frankreich, so hätten diese Überschwemmungen keine so großen Verheerungen gehabt oder sie wären überhaupt nicht eingetreten.43

Damit ist auch klar, dass Machiavellis Empfehlung, gegen Fortuna Gewalt anzuwenden und das launische Weib zu schlagen und zu stoßen, bloß die Rückfalloption für den Fall ist, dass man deren Macht nicht in kluger Vorsicht eingedämmt und gelenkt hat. Wenn die alten Männer versagt haben, so könnte man sagen, sind die jungen Männer gefordert, und sie müssen dann unter erhöhtem Zeitdruck und viel riskanteren Umständen bewerkstelligen, wofür die alten, wenn sie umsichtig und vorsichtig gewesen wären, sehr viel mehr Zeit gehabt hätten. Die Gewaltoption ist für Machiavelli kein Allheilmittel, sondern die letzte Chance, der Fortuna doch noch etwas Gunst abzuringen, nachdem man ihren Machtbereich artifiziell einzugrenzen verabsäumt hatte. Es wäre aber besser, rechtzeitige Vorsorge zu treffen, als sich auf die Gewalt als letzte Option gegen die Kontingenz verlassen zu müssen.

42 Ebd., 103. 43 Ebd., 103.

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Gewalthandeln, Rückzug ins Private oder Kalkülrationalität?

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Kontingenz, Stabilisierung und Aneignung historischen Wissens. Humanistische Editionen von Geschichtsdarstellungen als Bewältigungsstrategien gegen das Vergessen Ronny K aiser

I. Einleitende Überlegungen Buchtrucken erfunden. Nach Christi gepurt tausent, vierhundert, viertzig jar. Hat sich erstmalig ereygt undter Keiser Friderich dem dritten, die nimmer genügsam gelobte kunst des Büchdruckens inn Teütschen landen von Johanne Genßfleisch zü Mentz, wiewol etlich die erfindung diser kunst züschreiben Johan. Güttenberg von unnd zü Straßburg. Dadurch die kostbaren schätz schrifftlicher kunst, in dem grab der unwissenheit lang zeit verborgen gelegen, eröffnet seind und herfür an das liecht gelangt, also das viel treffenlich und zu menschlichem brauch notturfftige bücher, so etwa nit on klein kostung zu zeügen waren, nun mitt leüchtem schatz gezeügt mögen werden. Wolt Gott die kunst were auß vergunst zeitlicher erfunden, so weren on zweyfel ettwa vil bücher, und die besten Plinij, Titi Livij etc. nit also verdruckt und verloren worden. Durch dise kunst der Truckerey wirt der lang verschlossen brunn göttlicher und unaußsprechlicher weißheit unnd kunst in die gmeyn außgeteylt. Darumb die Teütschen, besunder der erfinder diser kunst alles lobs werdt ist, Ja Gott in jhm, durch den uns Gott dise kunst geben hat.1

In seiner 1531 in Straßburg veröffentlichten Chronica weist Sebastian Franck (1499–1542/1542)2 auch auf die kulturelle Bedeutung des Buchdrucks hin, der es nun erstmals ermögliche, sogar antike Texte kostengünstig und schnell zu verbreiten.3 Sein Hinweis, dass der Buchdruck, sofern er früher erfunden wor-

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Franck, Chronica, Fol. 206v–207r. Zu Sebastian Franck sei grundlegend und weiterführend verwiesen auf: Weinkauff (1877); Bautz (1990); Müller (1993); Knape (1993). Einen sehr pointierten Überblick zu Franck als Buchdrucker und seinem Verhältnis zum Buchdruck bietet Dellsperger (2005). Zu einigen sehr aufschlussreichen Beobachtungen zu Francks Geschichts- und Religionsverständnis sei insbesondere verwiesen auf Wagner (2007), 371–518 (=Kap. 7: Die »Geschichtsbibel«. Das erste Hauptwerk Francks). Vgl. dazu insbes. Neddermeyer (1998), der im zweiten Teilband auch den quantitativen Anstieg ausgewählter Werke infolge des Buchdrucks statistisch erfasst. Vgl. dazu auch Braun (2005),

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den wäre, viele Bücher, die nur unvollständig oder gar nicht überliefert seien,4 vor ihrem verhängnisvollen Schicksal bewahrt hätte, fokussiert das prekäre Verhältnis von Text und Überlieferung. Mit dieser Problematik sahen sich allerdings nicht nur frühneuzeitliche Buchdrucker konfrontiert, sondern auch humanistische Gelehrte, die Handschriften antiker wie auch mittelalterlicher Texte sammelten5 und edierten6, um die jeweiligen Texte und die durch sie konservierten Wissensbestände dauerhaft zu erhalten. In diesen Horizont sind auch Sebastian Francks Überlegungen einzuordnen, der dem Buchdruck die Möglichkeit zuschreibt, Texte einem bis dahin sehr kontingenten Überlieferungsprozess zu entziehen und in einen kontrollierten zu überführen. Der nicht nur in nationaler, sondern auch in europäischer Perspektive zu beobachtende Erfolg humanistischer Gelehrtenpraxis beruht ganz wesentlich auf der Errungenschaft des Buchdrucks, so wie dieser vice versa auch von der hohen editorischen und schriftstellerischen Produktivität der humanistischen Gelehrtenkultur profitiert.7 Insbesondere die schnelle und mit Blick auf die Materialität des Beschreibstoffs auch kostengünstigere Diffusion von Wissensbeständen sowie die Zusammenarbeit ganz spezifischer Fachkräfte innerhalb einer Druckerei, in der technische, ökonomische wie auch humanistisch-philologische Kompetenzen gebündelt werden, ermöglichen nicht nur den quantitativen Erfolg der gedruckten Bücher, der ja immer auch von der Nachfrage bestimmt wird, sondern auch dass die durch sie zugänglich gemachten und aufbereiteten Wissensbestände in breiteren Kreisen zirkulieren und dabei diskutiert und appropriiert werden. In diesem Zusammenhang entwickelt gerade die transformationstheoretisch relevante Frage nach der Überlieferung antiker und mittelalterlicher Geschichtsdarstellungen eine besondere Brisanz, die im Grunde bereits bei Sebastian Franck anklingt, wenn er auf die unvollständig überlieferten Werke der

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der »die Überlagerungsphase von Handschriftlichkeit und Buchdruck« (236) sehr anschaulich skizziert. Zum diesem Phänomen vgl. auch Rautenberg (2003), die das an Köln exemplifiziert. Einblicke in die Überlieferungsprozesse vor allem antiker Texte bieten Hunger (1975) und Pöhl­ mann (2008). Zu den Humanisten als ›Jäger und Sammler‹ von Handschriften antiker und mittelalterlicher Werke gibt es bisher keine umfassenden Studien, sondern nur kurze Überblicksdarstellungen und Einzelstudien, die bestimmte und wichtige Kernaspekte erfassen. Daher sei exemplarisch verwiesen auf Mout (1998), 93–96 (= Kap. IV: Bücher und Bibliotheken. Einleitung) sowie auf Stork (2012). Die Forschungsliteratur zu humanistischen Editionen ist noch sehr dünn: Überblicksartig sei verwiesen auf den demnächst erscheinenden Band Humanisten edieren. Gelehrte Praxis im Südwesten in Renaissance und Gegenwart: vgl. Holtz/Schirrmeister/Schlelein (2013). Zur humanistischen Edition als kultureller Praktik sowie als Transformationsprodukt vgl. darin Kaiser (2014a). Zum Zusammenhang von Buchdruck und Humanismus sowie Reformation vgl. Widmann (1977); Füssel (1997); Neddermeyer (1998), 389–536 (= Kapit. IV: Die mechanische Buchproduktion); Rhein (1997); Eisermann (2009). Einen knappen sozialgeschichtlichen Überblick bietet Dopsch (1991).

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beiden Plinii und des Livius rekurriert: Solche Texte können nämlich einem humanistisch gebildeten und interessierten Publikum ganz bestimmte Informationen über wichtige Personen, antike Völker und geschichtliche Ereignisse zur Verfügung stellen und bilden insofern ein Geschichtsarsenal, das – sei es unter Bezugnahme auf das ciceronische Postulat der historia magistra vitae (Cic. de orat. II, 9), sei es, um personelle, regionale oder nationale Genealogien bzw. Kontinuitäten ›nachzuweisen‹ – angezapft und entsprechend appliziert werden kann.8 Insofern stellen gerade Editionen und Kommentare von Geschichtsdarstellungen und solchen Texten, die unter einem historischen Fokus gelesen werden, nicht nur eine ganz wesentliche kulturelle Praktik humanistischer Gelehrsamkeit dar, sondern berühren den Renaissance-Humanismus als intellektuelle Strömung des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit gerade in seinen Grundfesten, da sie auch und vor allem darauf abzielen, antike und mittelalterliche als jeweils originäre Wissensbestände zu reaktivieren und zeitgenössisch anwendbar zu machen.9 Vor allem die Editionen bilden dabei einen ganz wesentlichen Grundstock humanistischer Gelehrsamkeit, da sie die unmittelbare Arbeit an einer bestimmten Textsubstanz dokumentieren und zugleich demonstrativ ins Zentrum stellen, um die von der Edition erfassten Wissensbestände einem anvisierten Aufnahmebereich zugänglich zu machen. Die Texte werden dabei erst im Akt der Edition und durch die sie flankierenden Paratexte10 als antike oder mittelalterliche, d. h. als Textzeugnisse eines bestimmten Zeitalters konstituiert. Dabei kommt den Paratexten eine entscheidende Funktion zu, denn in ihnen wird ein vor allem zeitgenössisch Vgl. Cic. de orat. II, 9, 36: »Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur?« Zu diesem Topos in der frühen Neuzeit sei verwiesen auf Völkel (2010). 9 Solche Transformationsprozesse antiker und mittelalterlicher Texte manifestieren sich vor allem in humanistischen Editionen, Kommentaren und Übersetzungen sowie in den zugehörigen (gewöhnlich voran- oder nachgestellten) Paratexten, in denen das Erkenntnisinteresse sowie der zeitgenössische Mehrwert des jeweiligen Textes herausgearbeitet wird (vgl. Völkel [2003]), was von der bisherigen Forschung allerdings weitestgehend unberücksichtigt blieb. Einige meiner demnächst erscheinenden Artikel, die im Rahmen des von mir betreuten Unterprojektes 3 »Appropriation antiker Historiker in Editionen, Kommentaren und Übersetzungen (ca. 1480 bis 1550)«, im SFB 644 »Transformation in der Antike« im Teilprojekt A4 »Historiographie des Humanismus. Soziale Praxis, Narrativität, historische Semantik« von 2009 bis 2012 entstanden sind, beschäftigen sich insbesondere mit humanistischen Editionen und Kommentaren zu Tacitus’ Germania, Caesar und Cicero und versuchen vor allem spezifische Transformationsmechanismen dieser Textsorten sowie der sie begleitenden Paratexte zu konturieren: Vgl. Kaiser (2013), (2014a), (2014b). 10 Gérard Genette entwickelt 1989 in seinem gleichnamigen Buch das Konzept von ›Paratexten‹: Vgl. Genette (1989). Ich verwende hier den Begriff in Anlehnung an Markus Völkel: »Paratext soll all das sein, was nicht überlieferter Primärtext ist und doch tatsächlich im Buche steht, also auch die Texte, die potentiell eigenständige Texte bzw. Ausgaben, wie ganze Kommentare, sein könnten, die sich aber genetisch vom Urtext herschreiben. Paratext ist, was sich, in welcher Weise auch immer, nach der Schwerkraft eines Ursprungstextes organisiert und mit diesem in einer Ausgabe steht« (Völkel [2003], 245). 8

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geprägtes Erkenntnisinteresse an den jeweiligen Texten formuliert, wodurch diese den aktuellen Bedürfnissen des Aufnahmebereichs angepasst werden. Insofern lassen sich Editionen als Produkt wie auch als Motor von Transformationsprozessen beschreiben. Darüber hinaus stehen sie immer auch in einem prekären Verhältnis zur Überlieferung ihrer eigenen Textbestände und sind insofern das temporäre Ergebnis kontingenter Ereignisse und Entwicklungen, durch die sie ermöglicht und gesteuert, aber ebenso auch unterbunden und gehemmt werden, wie sich gerade in der spärlichen Überlieferungsgeschichte antiker Texte besonders deutlich manifestiert, unter der klassische Philologen auch heutzutage noch zu leiden haben. Durch Überlieferungslücken, die sich aus solchen kontingenten Überlieferungsprozessen ergeben und die daher nicht selten auch das Erscheinungsbild moderner Texteditionen prägen, werden jedoch auch neue Transformationen notwendig oder ermöglicht, etwa textphilologische Eingriffe des Editors oder gar Fälschungen ganzer Texte oder Textpassagen. Die beiden grundsätzlichen Effekte von Kontingenz im Zusammenhang mit Transformationsprozessen – also das Kreative sowie das Prohibitive – kulminieren v. a. in humanistischen Texteditionen: Durch sie werden mediale Strategien entwickelt, um die – so lässt sich die eingangs zitierte Passage von Sebastian Franck vielleicht knapp resümieren – geradezu als kulturelles Trauma empfundenen hohen Handschriftenverluste antiker und mittelalterlicher Schriften zu verarbeiten und sich künftig gegen solche kontingenten Prozesse abzusichern, indem die aufgefundenen Handschriften ediert und einem breiteren Rezipientenkreis zugänglich gemacht werden.

II. Kontingenz und Stabilisierung Ihrem Selbstverständnis nach ›befreien‹ Humanisten mithilfe ihrer Editionen wiedergefundene Texte vom Zufall der Überlieferung, bewahren sie so vor ihrem Untergang und stabilisieren sie für die Nachwelt: Dabei wird die Unberechenbarkeit von Überlieferungsprozessen in metaphorischen Sinnbildern wie ›Dunkelheit‹, ›Tod‹, ›Vergessen‹, ›Unwissenheit‹ und ›Unbedachtsamkeit‹ artikuliert, die mit entsprechenden Gegenbildern, vor allem aus dem Bereich der Lichtmetaphorik, konterkariert werden, um so die hohe Leistung und Bedeutung einer Edition hervorzuheben.11 Für die Anfertigung von Editionen 11 Das zeigen bereits die Titelblätter solcher Editionen deutlich an. Vgl. etwa Rhenanus, P. Vellei Paterculi Historiae Romanae duo volumina, ad M. Vicinium Cos. Progenerum Tiberii Caesaris, per Beatum Rhenanum Selestadiensem ab interitu utcunque vindicata (1520), A1r; Erasmus von Roterdam, Widmungsbrief zu Livius (1531) a2v: »[…] uisus sum mihi non incongrue facturus, si hi quinque libri, tibi proprie dicati prodirent in lucem.« – »Ich schien mir nicht unangemessen in meinem Vorhaben, wenn diese ausschließlich dir gewidmeten fünf Bücher ins Licht schrit-

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spielen mittelalterliche Handschriften und Codices zweifellos die wichtigste Rolle, da sie die Textgrundlage darstellen: Die Bewertung solcher Codices chan­giert zwischen respektvoller Anerkennung dafür, dass die Texte immerhin überliefert wurden, und tiefer Verachtung für die sprachliche Unfähigkeit der Abschreiber, durch die die jeweiligen Texte erst in einen so korrupten Zustand geraten sind. Besonders deutlich bringt dieses ambivalente Verhältnis gegenüber den mittelalterlichen Abschreibern der deutsche Humanist Beatus Rhe­ na­nus (1485–1547) in der Vorrede an den Leser zum Ausdruck, die er seiner 1520 in Basel erschienenen editio princeps des römischen Historikers Velleius Paterculus (20 v. Chr. – 30 n. Chr.) voranstellt: Mors etiam saxis nominibusque uenit, nos dicere possimus, Mors etiam scriptis, carminibusque uenit. Quamquam puto magis hominum incuriam accusandam, quam ipsam uetustatem. Poterant exemplaria aetatis uitio obsolescentia describi, poterant uitis instar ob senium iamiam emoriturae per nouas propagines restitui, si fuissent quos huius rei cura tetigisset. Et certe fuerunt, qui tametsi parum docti, praestituerunt tamen quod potuerunt: quibus habendam gratiam censeo, quod horum saltem opera qualicunque miseras bonorum autorum reliquas licet mendosissime exceptas, conseruatas uideamus, si modo conseruari est, tam deprauate esse descriptum. Vtinam uero quidam autores extarent, quamlibet mendose scripti. Possent in illis multa restitui per uiros eruditos, ac iudicio praeditos.12 ten.« Conrad Celtis, Widmungsrede zu Hrosvita (1501), a iir: »Difficili & longa peregrinatione non sine peculii & prospere ualitudinis iactura princeps Illustrissime germanie nostrae fines & eius interiora quae tu: germanusque tuus Magdeburgensis Archiepiscopus & germanie primas longe lateque possidetis perlustraui. Eu[m]que laborem & itinerum pericula libens semper & hilari animo subii: ut antiquos & nondum impressos inquirerem codices & si quos in hercinia silua, alpibus, obnobiisque montibus & uastis germanie solitudinibus paludibus etiam in monasteriis & cenobiis druidarum locupletissime a nostris imperatoribus & ducibus fundatis inuenissem, nostrorum seculorum foelicitate per impressoriam artem a nostris hominibus inuentam in lucem proferrem. Ad quam rem multae sane & honestae causae me impulerant.« – »Auf einer schwierigen und langen Reise habe ich nicht ohne Verlust an Vermögen und Gesundheit, erlauchtester Fürst, unseres Germaniens Grenzen und sein Inland, welches Du und dein deutscher Erzbischof von Magdeburg sowie der Vornehmste Deutschlands weit und breit besitzt, durchwandert. Die Strapaze und die Gefahren der Reise nahm ich stets gern und mit heiterem Gemüt auf mich, um die die alten und noch nicht gedruckten Codices zu suchen, und wenn ich einige im Herkynischen Wald, in den Alpen, in entlegenen Bergen und in den weiten Einöden Germaniens, den Sümpfen, sogar in Klöstern und Heimstätten der Druiden, die von unseren Feldherren und militärischen Führern außerordentlich reich gegründet wurden, durch die Glück unseres Zeitalters mithilfe der von unseren Leuten erfundenen Druckkunst ans Licht zu bringen. Dazu hatten mich in der Tat viele und ehrenwerte Gründe veranlasst.« (Herv. R. K.) 12 Rhenanus, Vorrede an den Leser (1520), ar: »Der Tod kommt sogar den Steinen und Namen, wir könnten sagen, der Tod kommt sogar dem Niedergeschriebenen und den Liedern. Indessen glaube ich, dass man mehr die Sorglosigkeit der Menschen anklagen sollte, als das Altertum selbst. Exemplare, die aufgrund der Widrigkeit der Zeit nach und nach vergehen, hätten abgeschrieben werden können, sie hätten aufgrund der Widrigkeiten, gleichsam wegen ihrer Altersschwäche geradezu im Sterben begriffen, durch neue Ableger wiederhergestellt werden können, wenn es denn Leute gegeben hätte, die die Sorge darum berührt hätte. Und fürwahr, es gab sie, die, wenngleich zu wenig gebildet, dennoch das leisteten, was sie vermochten. Ich bin der Meinung, dass man diesen dafür danken muss, weil wir sehen, dass wenigstens durch

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Die desaströse Überlieferungssituation vor allem antiker Texte wird von Rhe­ na­nus auf die incuria hominum, die Sorglosigkeit der Menschen, zurückgeführt. Das Edieren von Texten hat das Ziel, einen bisweilen sehr korrupten Text seiner dürftigen, fast sterbensgleichen Überlieferungslage zu entziehen, zu reanimieren und seine Wissensbestände dadurch zu sichern und zugleich zu diffundieren. Während der korrupte Zustand der überlieferten Texte vor allem auf nicht näher bezeichnete Personen zurückgeführt wird, die kein adäquates Bewusstsein für die Überlieferung von Texten haben, so gebührt doch zumindest den Abschreibern die Ehre, so Rhenanus, ihr Bestmögliches getan und die Texte nicht völlig der incuria anheimfallen gelassen zu haben. Sein Wunsch, dass doch wenigstens mehr Autoren – wenn auch nur fehlerhaft – überliefert sein sollten, korrespondiert mit dem humanistischen Bemühen, die Texte, die ediert werden sollen, philologisch weitestgehend wiederherzustellen. Dabei spielt vor allem der Rückgriff auf die möglichst ältesten codices eine wichtige Rolle, die dem humanistischen Verständnis nach offenbar dem jeweiligen antiken oder mittelalterlichen Original am nächsten stehen und dadurch die Edition qualitativ aufwerten.13 Humanistische Texteditionen sind auch als work in progress angelegt, wie sich gerade an den verwendeten Komparativen zeigt, die sich auf den textuellen Zustand der jeweils neu aufgelegten Autoren und Texte beziehen: Im Rahmen des Edierens als humanistisches Großprojekt zur Bewältigung kontingenter Überlieferungsprozesse wird die philologische Restauration eines Textes, deren Resultat mit der jeweiligen Edition vorliegt, als nicht vollständeren Mühe, wie ausgiebig sie auch immer war, klägliche Überreste guter Autoren, wenngleich außerordentlich fehlerhaft abgeschrieben, bewahrt wurden, wenn es denn überhaupt die Bezeichnung ›aufbewahrt werden‹ verdient, wenn etwas so verkehrt abgeschrieben wurde. Ach wenn es doch nur einige Autoren noch geben würde, mögen sie auch noch so falsch abgeschrieben worden sein. Bei ihnen könnte vieles wiederhergestellt werden durch wohlausgebildete und über ein rechtes Urteil verfügende Männer.« 13 Vgl. Rhenanus, Widmungsbrief zu Velleius Paterculus (1520), A 2v: »Equidem abhinc annos ut puto quinque, cum primum hunc in Murbacensi bibliotheca reperissem, & uiderem tam prodigiose corruptum, ut omnia restituere non foret humani ingenij, properanter ac infeliciter ab amico quodam descriptum, premendum plane censebam donec melioris nobis codicis fieret copia, quem acceperam haberi Mediolani inuentum olim a Georgio Merula.« – »Ich jedenfalls, bevor nun, wie ich glaube, fünf Jahre, nachdem ich zunächst diesen [sc. Codex] in der Bibliothek von Murbach gefunden hatte und sah, dass er so ungeheuerlich korrupt ist, dass es dem menschlichen Talent nicht möglich sein wird, alles wiederherzustellen, glaubte ich entschieden, dass er, nachdem er in Eile und unglücklich von einem Freund abgeschrieben worden war, zu drucken sei, bis uns die Kopie eines besseren Codex erstellt wird, von dem ich erfahren hatte, dass ein solcher in Mailand aufbewahrt werde, der längst von Giorgio Merula gefunden wurde.« Vgl. auch das Titelblatt der von Erasmus von Rotterdam 1531 vorgelegten Livius-Edition: En magnis impendiis, summisque laboribus damus amice lector T. Livii Patavini Latinae Historiae Principis quicquid hactenus fuit aeditum, sed aliquanto quam antea, tum magnificentius, tum emaculatius, accesserunt autem Quintae Decadis Libri quinque nunquam antehac aediti, quos adiecimus ex uetustissimo codice, cuius copiam nobis fecit celebre Monasterium Lorsense (1531), α. (Herv. R. K.)

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dig abgeschlossen gedacht. Der Zustand eines neuaufgelegten Textes wird im impliziten Vergleich mit der Vorgängeredition als graduell verbessert herausgestellt. Solche möglicherweise auch einer gewissen humanistischen Rhetorik und Selbstinszenierung der jeweiligen Editoren geschuldeten Formulierungen, die die sukzessive Restauration und Stabilisierung eines Textbestandes annoncieren, zeigen zugleich an, dass Editionen dennoch in einem permanenten Spannungsverhältnis zu kontingenten Ereignissen stehen, wie etwa Handschriftenfunde, die die Überlieferungssituation und damit auch die Gestalt des jeweiligen Textbestandes ganz entscheidend beeinflussen. Der edierte und weiterhin auch zu bearbeitende Textbestand ist daher immer wieder mit Codices zu konfrontieren, neu zu kollationieren und anschließend wieder zu edieren. Insofern können humanistische Editionen auch als eine sich selbst in Gang setzende und haltende kulturelle Praktik humanistischer Gelehrsamkeit gedacht werden. Ihr vornehmliches Ziel besteht somit darin, die zur Verfügung stehenden Textbestände zu stabilisieren und zu konservieren, sie dem Rezipientenkreis zugänglich zu machen und insofern auch dem aktuellen desiderium des Lesers nachzugeben.14 Damit zusammen hängt auch der implizite Anspruch der Editionen, erst durch das Edieren die jeweiligen Texte von einem kontingenten und damit unkontrollierbaren in einen kontrollierten und somit sichereren Überlieferungsprozess zu überführen. Gerade in der kulturellen Praktik der Textedition manifestiert sich zugleich die Ambivalenz, die das humanistische Gelehrtenfeld grundsätzlich prägt: Nämlich auf der einen Seite die Konstituierung und das Selbstverständnis als elitäre Gruppe, das sich nicht zuletzt aus einer ganz bestimmten Bildung und gemeinsamen Praktiken ergibt, und auf der anderen Seite das permanente Bestreben, sich innerhalb dieses Gelehrtenfeldes zu profilieren, indem die eigenen Kompetenzen und Leistungen demonstrativ herausgestellt werden.15 Humanistische Editionen selbst sind demnach auch Ausdruck integrativer, aber ebenso auch distinktiver, d. h. kompetitiver Strategien von Akteuren innerhalb von Transformationsprozessen, die insofern auch die Stabilisierung der edierten Textbestände mit beeinflussen, als ein zu edierender Text – sowohl im Sinne eines elitären Gruppenprojektes als auch als performativer Akt der Selbstinszenierung innerhalb der Gruppe – zunächst fixiert und zur weiteren Rekonstruktion ausgeschrieben wird. Auch die weitere Textrestauration lässt beide Funktionsweisen deutlich werden: die Selbstvergewisserung, zur 14 Vgl. Rhenanus, Widmungsbrief zu Velleius Paterculus (1520), A 2v. 15 Zum elitären Selbstanspruch humanistischer Gelehrter vgl. Stein (2006), 76. Auch Albert Schirrmeister weist in seiner Dissertation auf dieses ambivalente Grundverhältnis von Gruppenkonstituierung und -verständnis auf der einen Seite und Profilierung und Selbstinszenierung auf der anderen Seite hin und zeigt, dass humanistische Editionen antiker Autoren das kulturelle Kapital innerhalb des Gelehrtenfeldes steigern und damit auch der eigenen Profilierung dienen: Vgl. Schirrmeister (2003), 90–124 (= Kap. II. B 2: Philologische Abgrenzung und Gruppenbildung), 96 f. Vgl. dazu auch Kaiser (2014a).

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entsprechenden Gruppe zu gehören, wie auch Profilierungsbemühungen des Editors. Vor allem Letzteres ist ein Motiv dafür, die in einer Edition bereits vorliegende Textgestalt weiter zu verbessern und ihr dadurch eine eigene Note zu geben. Das lässt sich besonders gut an der von Erasmus von Rotterdam (1466/67/69–1536) 1531 vorgelegten Ausgabe des römischen Historikers Livius (59 v. Chr. – 17 n. Chr.) beobachten.16 Wie auf dem Titelblatt bereits angekündigt und im Widmungsbrief ausgeführt, zeichnet sich die Edition auch dadurch aus, dass zu der durch diese Edition emendierten Textversion des fragmentarischen Livius-Werkes auch die editio princeps der fünften Dekade hinzutritt, was nicht nur die Bedeutung der Edition, sondern auch Erasmus’ Ansehen im humanistischen Gelehrtenfeld unausgesprochen unterstreicht. Editionen als verbindendes Element der sich als elitäre Gruppe verstehenden Humanisten fungieren daher immer auch als Instrument soziokultureller Distinktion, verbunden mit dem Anspruch, zugleich an den gemeinsamen Werten und Zielen dieser Gruppe mitzuarbeiten und sie voranzutreiben. Durch Editionen werden die eigenen philologischen Kompetenzen demonstriert und die eigene Einge16 Vgl. Erasmus, Widmungsbrief zu Livius (1531), a2r–v, hier a2r: »Verum ne tibi […] nihil aliud quam hortator applausorque videar, sed ut nonnihil etiam opis adferam, uisum est tuo nomini dicare TITVM LIVIVM, Latinae historiae principem, iam quidem frequenter excusum, sed nunquam antehac uel magnificentius uel emendatius, & si hoc parum est, quinque libris modo repertis auctum, quos bono quodam genio in bibliotheca monasterij LAVRISSENI, aut ut uulgo, Lorensis repperit Simon GRYNAEVS, uir ut in omni genere litterarum citra supercilium eruditus, ita prouehendis liberalibus studijs natus.« – »Aber damit ich dir […] nicht nur als ein Ermahner und Befallklatscher erscheine, sondern um dir auch einige Hilfe zu bieten, schien es [mir sinnvoll], deinem Namen Titus Livius zu widmen, den Princeps der lateinischen Geschichtsschreibung, der zwar schon zahlreich gedruckt wurde, aber niemals zuvor entweder großartiger oder in überarbeiteter Version, und, wenn dies zu wenig ist, um fünf Bücher, die kürzlich erst gefunden wurden, vergrößert, die durch einen bestimmten guten Gönner in der Bibliothek des Klosters Laurissenum, oder wie allgemein bekannt Lorense, Simon Grynaeus fand, ein Mann, der ebenso in jeglicher Literaturgattung bis unter die Augenbrauen gebildet ist wie dazu geboren, die freien Studien voranzutragen.« Ähnlich formuliert er seine eigenen Fähigkeiten auch in der auf 1517 datierten Vorrede zu einer von ihm vorlegten Sueton-Ausgabe: Vgl. Erasmus, Widmungsbrief zu Sueton (1517), A2r/3– A7v/14, hier A3r/5–A3v/6: »Ac Suetonium quidem nescio quo Deo propitio, & antehac non ita paßim deprauatum, nunc eruditorum, meaque opera purum, ni fallor, & integrum habemus, suffragante mihi ad hoc negotij, peruetusto quodam codice, quem e bibliotheca monasterij, apud Neruios olim, nunc Tornacenses uulgato cognomine diui Martini nobis exhibuit nobilißimus ille Guilielmus Montioius, qui id temporis regias uices in ea urbe gerebat.« – »Und Sueton jedenfalls, ich weiß nicht, durch welchen gewogenen Gott auch vorher nicht so überall verderbt, haben wir nun durch der Gebildeten und meine Mühe als reinen, wenn ich mich nicht täusche, und unversehrten, wobei mir zu dieser Arbeit ein bestimmter sehr alter Codex half, den uns aus der Bibliothek des Klosters mit dem verbreiteten Namen ›heiliger Martin‹, einst im Gebiet der Nervier, nun im Gebiet der Tormacer, jener sehr adlige William Mountjoy verschaffte, der zu dieser Zeit die königliche Position in dieser Stadt übernahm.« Der Widmungsbrief ist datiert auf 1517. Mangels einer zugänglichen Edition von 1517 zitiere ich hier und im Folgenden aus einer Neuauflage, die posthum 1539 in Köln erschien. Zu dem hier erwähnten William Blount, fourth Lord Mountjoy vgl. Lee (1886).

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bundenheit in das kulturelle Feld artikuliert, um den edierten Text seiner bisherigen lückenhaften Überlieferung weiter zu entziehen. Was durch kontingente Überlieferungsprozesse nur unvollständig erhalten und dem kulturellen Gedächtnis entzogen ist, wird vom humanistischen Editor dem eigenen Anspruch nach bestmöglich wiederhergestellt und durch das Medium der Edition konserviert. Damit korreliert auch das Bild, durch die Edition einem Text zu seinem Recht, dem postlimium,17 zu verhelfen und so vor der weiteren Willkür der Überlieferung zu bewahren. Die Stabilisierung von Texten durch Edieren berührt zudem auch die Frage nach der weiteren Archivierung der edierten Wissensbestände. Auffinden und Edieren allein garantieren im humanistischen Selbstverständnis offenbar nicht die dauerhafte Konservierung antiker und mittelalterlicher Text- und Wissensbestände, sondern stellen zunächst einmal eine erste und grundlegende Bewältigungsstrategie dar, um kontingenter Überlieferungsprozesse überhaupt Herr zu werden und sie nachhaltig zu kontrollieren. Eine Möglichkeit, die von humanistischen Gelehrten dazu ins Feld geführt wird, sind Bibliotheken herrschaftspolitischer Akteure: Accessit etiam alia ratio, quod Georgius Spalatinus uir eximie literatus & candidus, quo tua sublimitas ministro sacro & a consiliis utitur, abhinc quatuor annos, cum intellexisset me quaedam historiarum fragmenta reperisse, statim per literas rogauit, ut illas descriptas istuc mitterem, quo possent in bibliotheca tua reponi, quam ut audio paras insignem bonis autoribus undecumque conuectis refertienda. In qua re tua celsitudo ueterum quorundam Principum laudem aemulatur, qui non minorem gloriam instructis bibliothecis sunt consecuti, quam alii conditis urbibus. […] At quanto melius est bibliothecas optimis impletas libris, Musis dedicare, quibus nullum certius praesidium abigendae procul inscitiae teterrimi illius mortalium hostis?18

17 Vgl. dazu das Titelblatt des von Conrad Celtis in der Editio princeps 1507 vorgelegten Ligurinus: Ligurini de gestis Imp. Caesaris Friderici primi Augusti libri decem carmine Heroico conscripti nuper apud Francones in silua Hercynia & druydarum Eberacensi coenobio A Chunrado Celte reperti postlimio restituti (MGH 63, Einleitung, 2; Herv. R. K.). Der Ligurinus liegt samt Vorrede an den Leser bereits in einer modernen Edition vor (vgl. MGH 63), nach der hier zitiert wird. 18 Rhenanus, Widmungsbrief zu Velleius Paterculus (1520), A 2r–v: »Hinzu kam auch eine andere Überlegung, dass Georg Spalatin, ein außerordentlich gebildeter und schlauer Mann, den eure Erhabenheit als kirchlichen und politischen Ratgeber nutzt, vor nun vier Jahren, nachdem er erfahren hatte, dass ich bestimmte Fragmente von Geschichtswerken gefunden habe, mich sofort brieflich darum bat, dass ich das in einer Abschrift zu ihm schicke, damit es in deiner Bibliothek aufbewahrt werden könne, die Du, wie ich höre, zu einer sehr ansehnlichen machst, indem du sie mit wunderbaren Autoren, die Du von überall her zusammen geschafft hast, voll stopfst. Darin übertrifft deine Erhabenheit den Ruhm einiger alter Fürsten, die keinen geringeren Ruhm erreicht haben, indem sie Bibliotheken haben bauen lassen, als andere, die Städte gründeten. […] Aber um wie viel besser ist es, Bibliotheken, die mit ausgezeichneten Büchern angefüllt sind, den Musen zu weihen, denen kein sichererer Schutz ist, um die Unwissenheit, jenen schändlichsten Feind der Sterblichen, in weite Ferne zu verjagen?«

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Die fürstliche Bibliothek dient – wenngleich die ihr zugeschriebene Bedeutung sicher auch einer gewissen humanistischen Rhetorik geschuldet sein wird, um herrschaftspolitischen Akteuren Möglichkeiten aufzuzeigen, dadurch das eigene kulturelle Kapital und Ansehen zu steigern – der endgültigen Sicherung und Konservierung edierter und handschriftlicher Textbestände, gleichsam einer Bastion gegen die Unwissenheit. Die bibliothekarische Archivierung, die auch das Ansehen und die Ehre ihrer Besitzer, der herrschaftspolitischen Eliten, steigern soll, avanciert bei der Sicherung antiker und mittelalterlicher Texte durch Editionen zum finalen Element der Bewältigungsstrategie gegenüber dem Vergessen als Resultat kontingenter Überlieferungsprozesse. Sie schließt einen Prozess ab, in dem durch die infolge der Editionen zunehmende Vermehrung der verfügbaren Exemplare, die philologischen Restaurationsarbeiten und die Konservierung durch die Editionen selbst bereits ein durchaus hohes Maß an Qualität und Dauerhaftigkeit der Textbestände erreicht wird. Die Bedeutung jedenfalls, die diesen Bibliotheken von humanistischer Seite her zugewiesen wird, ist in Anbetracht der klösterlichen Bibliotheken, in denen die Gelehrten mittelalterliche Codices zwar mit zum Teil bisher völlig unbekannten Texten, dafür aber in einem desaströsen Zustand finden, auch nur wenig überraschend.19 So sind Bemerkungen humanistischer Gelehrter über die hohe Bedeutung neu eingerichteter Bibliotheken wohl auch als programmatisches Statement gegenüber mittelalterlichen Klosterbibliotheken zu verstehen, denen damit die Funktion eines künftigen Wissenshortes abgesprochen wird. Zwar sind sie die Grundlage dafür, dass verschwunden geglaubte und in Vergessenheit geratene Texte sowie neue Handschriften wiedergefunden werden, sie sind allerdings auch gerade der Ort, der symbolisch für eine Kultur steht, die aus der humanistischen Perspektive kein ausgeprägtes Bewusstsein hat für die adäquate Sicherung von Texten, und die daher auch für den miserablen Zustand entdeckter Handschriften verantwortlich gemacht wird. Erasmus weist in seiner Livius-Ausgabe den machtpolitischen Eliten darüber hinaus auch die Aufgabe zu, sowohl die Drucklegung als auch die Su-

19 Besonders gut bringt das Cincius Romanus in einem auf 1416 datierten Brief an Francesco da Fiano zum Ausdruck, in dem es um Handschriftenfunde in St. Gallen geht: »[…] Doch als wir den Turm neben der St. Galluskirche besichtigten, in dem unzählige Bücher wie Gefangene eingesperrt sind, und wie wir diese von Staub, Schmutz, Würmern und allen sonstigen Begleiterscheinungen des Bücherzerfalls jammervoll zugerichtete Bibliothek sahen, brachen wir alle in Tränen aus, und unser Gedanke war, dass auf diese Weise die lateinische Sprache ihren einstigen großen Glanz und Ruhm verloren habe. Wahrlich, könnte diese Bibliothek für sich selber sprechen, sie würde laut rufen: ›Ihr Männer, die ihr die lateinische Sprache so liebt, lasst mich nicht in solch sträflicher Vernachlässigung völlig zu Grunde gehen! Entreißt mich diesem Kerker, in dessen Finsternis das Licht dieser Bücher nicht zu leuchten vermag!‹ « (vgl. Bertalot, Cincius Romanus und seine Briefe, 222–227; zitiert nach Mout [1998], 97; die Übersetzung stammt von P. Mortzfeld).

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che nach Handschriften finanziell zu unterstützen.20 So wird auch das Feld der Macht dezidiert in die kulturelle Praktik des Edierens miteinbezogen und insofern als wichtiger Bestandteil der Konservierung von Wissensbeständen mittels Edition herausgestellt: Im Gegenzug dafür widmen Humanisten ihre Editionen vor allem solchen herrschaftspolitischen Akteuren und bemühen sich in ihren Widmungsschreiben, die unmittelbare Relevanz sowie den Mehrwert des edierten Textes für den jeweiligen Widmungsempfänger herauszuarbeiten. Grundsätzlich allerdings ist mit der Widmung der Editionen der Anspruch verbunden, der Ehre des Widmungsempfängers Genüge zu leisten und sein kulturelles Kapital zu vergrößern.21

III. Kontingenz und Aneignung Auf der Grundlage dieser Stabilisierung und Konservierung antiker und mittelalterlicher Textbestände werden in den Paratexten der Editionen argumentative Aneignungsstrategien entwickelt, die den jeweiligen Textbestand in einen zeitgenössischen Diskurs überführen und auf diese Weise seinen zeitgenössischen Mehrwert herausarbeiten. Eine wichtige Rolle spielen dabei vor allem solche 20 Vgl. Erasmus, Widmungsbrief zu Livius (1531), a2r: »Atque utinam faxit deus Opt. Max., ut hic autor totus & integer nobis restituatur. Eius rei spem nonnullam praebent rumores per ora quorundam uolitantes: dum hic apud Danos, ille apud Polonos, alius apud Germanos, haberi Liuiana quaedam nondum aedita iactitat. Certe posteaquam hasce reliquas praeter omnium spem obiecit fortuna, non uideo quur desperemus & plura posse contingere. Atque hic mea quidem sententia principes uiri rem se dignam facerent, si praemijs propositis, eruditos ad peruestigandum tantum thesaurum sollicitarent, aut etiam ad aeditionem perpellerent, si qui forte sunt, qui rem publicae utilitati paratam, graui studiorum iactura premunt abduntque.« – »Und hoffentlich macht Gott, der Erhabenste und Größte, dass dieser Autor uns vollständig und unversehrt wiederhergestellt wird. Einige Hoffnung darauf gewähren Gerüchte, die von einigen mündlich verbreitet werden, indem dieser verkündet, dass einiges Livianisches, das noch nicht ediert sei, bei den Dänen, jener, dass es bei den Polen, ein anderer, dass es bei den Deutschen liege. Sicher, nachdem fortuna diese Überreste hier schneller als erwartet preisgegeben hat, sehe ich nicht, warum wir daran zweifeln sollten, dass auch mehr gelingen kann. Und hier würden zumindest meiner Meinung nach die fürstlichen Männer eine ihrer selbst würdige Sache machen, wenn sie mit ausgesetzten Belohnungen die Gebildeten dazu reizten, einen solchen großen Schatz aufzuspüren, oder sogar zur Edition anzustoßen, wenn es denn welche gibt, die eine Sache, die für den öffentlichen Nutzen geeignet ist, mit schweren Verlust für diejenigen, die sich damit intensiv auseinandersetzen, unterdrücken und verstecken.« 21 Vgl. dazu Locher, Widmungsbrief zu Plinius’ Panegyricus (1520), A ii r – A iiijr, hier A iiir: »Panegyricam orationem: quam nostra cura recognitam: & quibusdam annotamentis vestitam tuae paternitati destinamus: nomini tuo dedicamus: & ad honorem tuum emittimus.« – »Die panegyrische Rede, die durch unsere Mühe wiederhergestellt und mit einigen Anmerkungen eingekleidet wurde, bestimmen wir für deine väterliche Gesinnung und widmen sie deinem Namen und geben sie zu deiner Ehre heraus.« Dem produktiven Verhältnis zwischen dem kulturellen Feld und dem Feld der Macht, das sich in der Gelehrtenkultur des Renaissance-Humanismus sehr vielfältig gestalten kann, widmet sich Albert Schirrmeister seiner Dissertation exemplarisch anhand humanistischer Dichterkrönungen. Vgl. Schirrmeister (2003).

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edierten Texte, die sich als Geschichtsdarstellungen lesen lassen. Im Umgang mit solchen Texten werden ganz unterschiedliche Strategien entwickelt, die das Anwendungspotenzial der edierten Wissensbestände in Form zeitgenössischer Produktivität retroaktiv kreieren und aufgrund der spezifischen Widerständigkeit des Referenzobjekts zugleich aufzeigen, um sie im Sinne des spätestens seit Cicero topischen Postulats von einer historia magistra vitae nach dem Nutzen historischer Wissensbestände für die eigene Gegenwart zu befragen.22 In seinem Widmungsbrief, den Erasmus von Rotterdam seiner Sueton-Ausgabe voranstellt, skizziert er das topische Bild der wandelbaren und unsteten Fortuna: Dabei entwickelt er ein Geschichtsbild von der kaiserzeitlichen Antike und Spätantike, das zuvorderst von der Unfähigkeit kaiserlicher Machthaber zur Stabilisierung und endgültigen Durchsetzung ihrer Macht sowie ihrer Kurzlebigkeit geprägt ist.23 Diese politische Unstetigkeit habe ihre Ursachen, so Erasmus, in der Willkür und der Macht der Soldaten und ihrem unersättlichen Hunger nach Besitztümern (insatiablis habendi fames), der immer wieder dazu veranlasste, neue Verhältnisse zu schaffen (ad res nouandas incitabat).24 Im Grunde lotet er anhand kaiserzeitlicher Beispiele, die er nicht nur aus Sue­ ton entnimmt, die Grenzen menschlichen Handelns sowie die Möglichkeiten zur Ausbildung politischer Stabilität aus und verweist für die menschlichen Geschicke immer wieder auf die Unberechenbarkeit der fortuna25 und den tumultus rerum.26 Dazu hebt Erasmus die zahlreichen Exempla aus der römischen Kaiserzeit hervor und weist darauf hin, dass die Zahl der negativen Beispiele die der positiven bei Weitem übersteige: Et tamen in tanta malorum principum turba, reperias licet dignas sancto principe cogitationes, audias voces absoluto principe dignas, comperias exempla, in quidbus nihil desyderes. Inter ethnicos inuenies, qui Christiano animo reipub. gererent imperium, non sibi, qui tam laboriosae administrationis non aliud spectarent praemium, quam ut de rebus humanis bene mererentur, qui publicam utilitatem liberis affectibus, im suae, suorumque incolumitati preaferrent. O nos felices, si Christiani principes suae quisque ditioni preastarent animum, quem Traianus, quem Antonini duo, quem Aurelius Alexander orbi terrarum praestiterunt.27 22 Zur transformativen Potentialität des Referenzbereichs sei auf die immer wieder sehr anregenden Überlegungen von Hartmut Böhme in der Einleitung zum kürzlich erst erschienenen Transformationsband verwiesen: Vgl. Böhme (2011), v. a. 15–17. 23 Vgl. Erasmus, Widmungsbrief zu Sueton (1517), A5v/10. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd. A5r/9: »Quid non potest fortunae libido in rebus humanis?« – »Was vermag die Laune des Schicksals nicht in den menschlichen Angelenheiten?« 26 Vgl. ebd. A7r/13. 27 Ebd. A4v/8–A5r/9: »Und dennoch ist es möglich, dass du in einer so gewaltigen Menge schlechter Fürsten Überlegungen findest, die eines heiligen Fürsten würdig sind, dass du Worte vernimmst, die eines absoluten Fürsten würdig sind, dass du Beispiele findest, in denen du nichts vermissen würdest. Unter den Heiden wirst du welche finden, die für die christliche Gesinnung des Staates ihre Herrschaft ausübten, nicht für sich, die für die so mühevolle Verwaltung der

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Erasmus konzentriert sich nicht nur auf die römischen Kaiser, über die Sueton berichtet, sondern bezieht sich vielmehr auf die gesamte kaiserzeitliche Spätantike. Sein vornehmliches Ziel besteht darin, die produktive Anwendbarkeit von Wissensbeständen aus antiken und spätantiken Geschichtsdarstellungen herauszuarbeiten. In diesem Rahmen ist auch die von ihm vorgelegte Edition der Kaiserviten Suetons einzuordnen, die insofern der Idee Rechnung trägt, biographische Geschichtsdarstellungen aus der Antike und Spätantike im Sinne der historia magistra vitae als Fürstenspiegel28 zu lesen. Hierbei zeigt sich besonders deutlich die durch die Edition erzeugte Nähe zwischen den Text­sor­ten der Biographie und des Fürstenspiegels. Die Edition selbst wird dadurch offenbar weniger als eigenständige als vielmehr als vermittelnde Text­ sor­te wahrgenommen und verwendet: Durch sie wird der biographische Text gewissermaßen eingekapselt und mithilfe des Paratextes zeitgenössisch funktionalisiert. Durch diese transformativen Strategien der Aneignung wird die Edition in den historiographischen Diskurs der eigenen Zeit eingeschrieben, an dem der Editor dadurch zugleich teilnimmt. Humanistische Editionen von Geschichtsdarstellungen zielen im Zuge ihrer Stabilisierung und Konservierung demnach immer auch auf die inhaltliche Vergegenwärtigung und Aneignung der durch sie edierten Wissensbestände ab. Dabei wird das Referenzobjekt in der Retrospektive selektiv fokussiert und in ein produktives Verhältnis zum Aufnahmebereich gerückt. Die prospektive Funktion dieses allelopoietischen Wechselverhältnisses von Referenz- und Aufnahmebereich äußert sich gerade darin, wenn Erasmus darauf verweist, dass die Fürsten selbst, wie es ja nun an den überlieferten Biographien zu sehen sei, künftig zum Gegenstand von Geschichtsdarstellungen würden und Regierungsgeschäfte auf keinen anderen Lohn zielten, als sich um die menschlichen Geschicke verdient zu machen, die den öffentlichen Nutzen ihrem Wohlwollen gegenüber ihren Kindern, ja sogar ihrer eigenen Unversehrtheit und der der Ihrigen vorangestellten. Ach wie glücklich wären wir, wenn die christlichen Fürsten allesamt ihrer eigenen Herrschaft die Gesinnung voranstellten, die Trajan, die beiden Antonini und Aurelius Alexander dem Erdkreis voranstellten.« Ähnlich auch A3v/6–A4r/7: »Quin & illud subit admirari, in tanto principum numero uix paucos extitisse tolerabiles, paucißimos probos, plerosque non improbos modo, uerumetiam ostenta mera, merasque pestes humani generis, multos etiam mentem captos.« – »Ja sogar jenes nimmt man auf sich zu bewundern, dass unter einer so großen Anzahl von Fürsten kaum wenige gelebt haben, die erträglich waren, sehr wenige, die rechtschaffen waren, sehr viele allerdings, die nicht nur unredlich, sondern sogar wahre Ungeheuer und das reine Verderben des menschlichen Geschlechtes, viele sogar geistesgestört waren.« 28 Auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Textsorte des Fürstenspiegels, dessen Wurzeln bis in die Antike zurückreichen (etwas Senecas de clementia und Plinius des Jüngeren Panegyricus auf Trajan) soll hier nicht weiter eingegangen werden. Da die Forschungsliteratur zum Fürstenspiegel im Mittelalter und der Frühen Neuzeit (in Detailstudien und Überblickdarstellungen) recht umfangreich ist, sei für einen ersten Überblick zunächst verwiesen auf den Artikel aus dem Lexikon des Mittelalters zum Fürstenspiegel im lateinischen Mittelalter (dort finden sich kurze Artikel zum Fürstenspiegel in der volkssprachlichen Literatur sowie im byzantinischen und slawischen Bereich): Anton (1989). Zur vertiefenden Lektüre sei auf folgende Detail- und Überblicksstudien verwiesen: Singer (1981); Anton (2006); Reinle (2011).

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dadurch dem Urteil der Nachwelt ungeschützt ausgesetzt seien.29 Die sichere Kenntnis, selbst zum Darstellungsobjekt zu werden, soll den Fürsten dazu anhalten, sich an den durch die Edition konservierten Wissensbeständen und ihren, zumindest für Sueton vorwiegend negativen exempla zu orientieren. Jakob Locher (1471–1528) wählt in seiner 1520 in Nürnberg veröffentlichten Ausgabe zum Panegyricus aus der Feder Plinius des Jüngeren (61/62 n. Chr. – 113/115 n. Chr.) eine an sich sehr ähnliche Argumentation, verweist allerdings für das von ihm edierte Werk auf die positiven exempla, wenn er gerade die Tugenden Trajans hervorhebt, die von Plinius exzellent herausgearbeitet worden seien und gegenwärtig jedem christlichen Fürsten zum Vorbild gereichen sollten.30 Zwar wird Plinius’ Panegyricus an keiner Stelle der Editi29 Vgl. Erasmus, Widmungsbrief zu Sueton (1517), A2v/4: »Caeterum ex bonae fidei scriptoribus super alias innumeras, haec praecipua capitur utilitas, quod non alia res aeque, uel bonorum regum animos ad res cum laude gerendas accendit, uel tyrannorum cupiditates cohibet, ac refrenat, dum utrique cernunt horum literis suam uitam omnem, mox in totius orbis, imo seculorum omnium theatrum producendam, & quicquid nunc uel in abdito patrant, uel ascito fuco praetexunt, uel metu dißimulari cogunt uerius quam ignorari, paulo post clarißima in luce sub oculis omnium traducendum, cum iam metu pariter ac spe libera posteritas, nec ullo corrupta studio, magno consensu recte factis applaudet, parique libertate his diuersa explodet, exibilabitque.« – »Im Übrigen wird aus besonders zuverlässigen Schriftstellern, abgesehen von unzähligen anderen, vor allem dieser Nutzen gezogen, dass keine andere Sache gleichermaßen entweder die Gemüter guter Könige dazu angeregt, Dinge mit Lob zu vollbringen, oder die Begierden von Tyrannen im Zaum hält und zügelt, solange jeweils beide erkennen, dass ihr gesamtes Leben durch deren Schriften bald in den Blickpunkt des gesamten Erstkreises, ja aller Zeitalter voran getragen werden muss, und das alles, was auch immer sie nun entweder im Verborgenen vollbringen, oder mit herbeigeholtem Schleier bedecken, oder von dem sie zwingen, dass es mit Furcht wahrhaftiger verheimlicht als nicht gekannt wird, ein wenig später in hellstem Licht unter den Augen aller bekannt gemacht werden muss, weil die Nachwelt, bereits ebenso von der Furcht wie von der Hoffnung befreit und durch keinerlei Ehrgeiz verdorben, mit großer Zustimmung den richtigen Taten Applaus spenden wird und mit gleicher Freiheit davon abweichende Taten missbilligen und auspfeifen wird.« 30 Vgl. Locher, Intentio Oratoris Plinii (1520), Br: »Hunc proinde optimum ac iustissimum Traianum, veluti perfectissimam imaginem: Christiani nostri principes intueantur: hunc cogitent, hunc aemulari studeant, ut eodem virtutis tenore / ad vitae finem laudabiliter perueniant.« – »Diesen ferner besten und gerechtesten Trajan mögen, wie das vollendetste Abbild, unsere christlichen Fürsten betrachten, sie mögen an ihn denken, sie mögen sich bemühen, ihn zu übertreffen, um durch denselben Verlauf der Tugendhaftigkeit in lobenwerter Weise bis zum Ende ihres Lebens zu gelangen.« Ebenso in seinem Widmungsbrief: Vgl. Locher, Widmungsbrief zu Plinius (1520), A iiiv: »Laudauit eloquentissimus Consul Caesarem Traianum ab altissimis virtutibus sine fuco sine adulatione quod vitium penitus abhorruit, quod tamen hoc temporis multorum pectora obsedit: laudauit inquam ab illis quidem virtutibus: quae in uno quoque principe Christiano cumulatissime splendere debent. Non in generis: ut est communis mortalium opinio: qui praesenti fortuna ducuntur: non in pecuniae / amicorum / opum / valetudinis / formae / virium / caeterarumque rerum quae sunt corporis aut fortunae: commemoratione acres eloquii fraenos relaxauit.« – »Der sehr beredte Konsul lobte Kaiser Trajan von den höchsten Tugenden ohne Verstellung, ohne Schmeichelei – dieses Laster verabscheute er ganz und gar, welches dennoch zu dieser Zeit die Gemüter vieler anfiel – er lobte, sage ich, jedenfalls von jenen Tugenden her, die in einem jeden christlichen Fürsten in allerhöchster Weise aufleuchten müssen. Nicht in der Erwähnung des Geschlechts, wie es die gängige Meinung der Menschen ist, welche durch das gegenwärtige Glück geführt werden, nicht in der Erwähnung des Geldes,

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on explizit als Form der Geschichtsdarstellung artikuliert, doch weist gerade die von Locher herausgestrichene Funktionalisierung und Fokussierung auf Trajans virtutes auf eine historisch-faktische Lesart des Panegyricus hin, die das Ziel hat, Wissensbestände als machtpolitisch relevante exempla zeitgenössisch zu reaktivieren. Locher präsentiert Trajan seinem fürstlichen Leser als normativen Bezugspunkt für gegenwärtige herrschaftspolitische virtutes. Darüber hinaus hebt er auch das rhetorische Geschick des edierten Autors, also Plinius’, hervor, das allein deshalb schon höchste Anerkennung verdiene, weil gegenwärtig niemand über solche rhetorischen Fähigkeiten verfüge.31 Er präsentiert den edierten Autor als Vorbild, den es sprachlich zu imitieren gilt, und legitimiert insofern seine Textedition sowohl unter inhaltlichen als auch unter formal-sprachlichen Gesichtspunkten. Humanistische Editionen von Geschichtsdarstellungen lassen sich auch, wenn die edierten Wissensbestände eine solche Lesart ermöglichen, unter spezifisch nationalen Vorzeichen lesen. Solch eine nationale Inanspruchnahme finden wir etwa auch in der von Conrad Celtis (1459–1508) besorgten und 1507 in Augsburg erschienenen Ausgabe des Ligurinus, eines panegyrischen Epos, das in 10 Büchern von den Taten und Kämpfen Kaiser Friedrich Barbarossas (1122–1190) gegen die oberitalienischen Städte berichtet und dessen Verfasser nicht mit letzter Gewissheit ermittelt werden kann.32 In der von der sodalitas litteraria Augustana, dem Augsburger Humanistenkreis um Konrad Peutinger

der Freunde, der Reichtümer, der Gesundheit, der Schönheit, der Kräfte und der anderen Dingen, die zum Körper oder dem Glück gehören, ließ er die kräftigen Zügel seiner Beredsamkeit locker.« 31 Vgl. Locher, Widmungsbrief zu Plinius (1520), A iiir: »Nemo hac aetate se Rhetorem bonum: aut laudatum versificatorem agnoscit: nisi dicendi artem, vel fingendi licentiam maledictis contaminet. […] Longe alia mens fuit nostro Plinio: humanissime Princeps: qui laetas ingenii dotes: ac facundiae largam supellectilem non conuitiis mancipauit: uerum rei publicae / patriae / cognatis / affinibus & propinquis communicauit: immo potius omnem dicendi vim, scribendique promptam elegantiam Traniano principi optimo: imperatori iustissimo: parenti publico dedicauit.« – »Niemand in diesem Zeitalter nimmt sich als guten Rhetor oder gelobten Verseschmied wahr, wenn er nicht die Kunst der Rede oder die Erlaubnis zum Fingieren mit Schmähungen verunreinigt. Ein weitaus anderer Sinn war unserem Plinius zuteil, mein außerordentlich hochgebildeter Fürst, der die freundlichen Vorzüge seiner Sinnesart sowie das ausgiebige Rüstzeug der Redegewandtheit auch nicht den Streitigkeiten überließ, sondern sie mit dem Staat, seinem Vaterland, seinen Blutsverwandten, Anverwandten und Verwandten teilte, ja sogar alle Redekraft und verfügbare Schreibeleganz seinem Princeps Trajan, dem gerechtesten Imperator und öffentlichen Vater widmete.« 32 Die Literatur zum Ligurinus und seinem vermeintlichen Verfasser Gunther von Pairis (ca. 1150 – ca. 1220) ist recht umfangreich. Der Frage nach der Verfasserschaft des Werkes soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Zum Ligurinus, zur Verfasserfrage sowie zu Gunther von Pairis vgl. Wattenbach (1879); Brunhölzl (1966); Berschin (1995); Häuptli (2003); Bernhard (2003); Mastandrea (2005); Malm (2012).

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(1465–1547),33 der Edition vorangestellten Vorrede an den Leser wird vor allem die Absicht kundgetan, mit der vorliegenden Edition des Ligurinus dem Leser einen Tatenbericht Friedrich Barbarossas vorzulegen, um dessen labores et egregia facinora vor dem Vergessen zu bewahren. Barbarossa als Protagonist des Werkes wird dabei gleichsam als Galionsfigur der ruhmreichen nationalen Vergangenheit stilisiert. Zugleich wird die Edition des Ligurinus als Ausdruck eines amor patriae präsentiert34 und insofern unter dezidiert nationalen Vorzeichen reaktiviert. Das mittellateinische Epos wird dadurch geradezu zu einem biographischen Text transformiert und zugleich in eine assoziative Nähe zur national ausgerichteten Historiographie gerückt. Die Edition wird daher nicht nur als Text präsentiert, in dem der Leser Informationen über die nationale Vergangenheit nachlesen und sie dann verwerten kann, sondern auch als Werk, das am nationalen Geschichtsdiskurs gewissermaßen selbst mitwirkt. Der Editor selbst übernimmt hierbei geradezu die 33 Vgl. dazu Heinrich (1984). Zur Bedeutung und Funktion humanistischer Sodalitäten vgl. insbes. Schirrmeister (2003), 169–194 (= Kap. III. C Sodalitäten zwischen poetischer Vision und sozialer Praxis). 34 Vgl. MGH 63, Einleitung, 7: »Cumque post aliquos tractatus sibi cum artifice parum conveniret atque hinc abire decrevisset, verebamur, cum unicum solum exemplar extaret, ne aliquo iniquo sidere iacturam aut periculum aliquod pateretur. Nostra itaque opera et aere tandem effecimus, ut artifex ille onus subierit, partim ne vigiliae et lugubraciones Ligurini perirent, partim eciam ne incliti Caesaris nostri Friderici primi labores et egregia facinora oblivioni traderentur. Accessit hiis peculiaris amor patriae: Cum enim origo nobis et quidem omnibus ex Suevia foret, pulchrum admodum videbatur Fridericum, qui et ipse ex gente Sueva originem duxit, Suevorum potissimum auxilio ex tetro carcere et post aliqua secula iterum in lucem prodire. Multa quidem inclito nostro Friderico propter innumeros labores, quos pro Romani imperii decore ac maiestate conservanda pertulit, Germania nostra debet, sed longe plura universa christiana res publica, pro qua insignem ac sanctissimam illam expedicionem ad res christianorum in Asia restituendas suscepit et in qua, postquam Armenios feliciter devicerat, ut pium et religionis christianae devotum caesarem decebat, vitam quoque cum maxima christiani populi iactura amisit.« – »Als ihm nach einigen Verträgen mit dem Drucker zu wenig gelang und er beschlossen hatte, von hier hinwegzugehen, fürchteten wir, weil es allein ein Exemplar davon gab, dass es aufgrund irgendeines ungünstigen Gestirns einen Schaden oder irgendeine Gefahr erleide. Daher erreichten wir es schließlich durch unsere Mühe und unser Geld, dass jener Drucker die Last auf sich nahm, teils damit die unermüdlichen Nachtarbeiten des Ligurinus nicht untergehen, teils sogar damit die Strapazen und ausgezeichneten Taten unseres berühmten Kaisers, Friedrich I., nicht der Vergessenheit anheimfallen. Dazu kommt die eigene Liebe zum Vaterland: Weil wir nämlich, und zwar allesamt, aus Schwaben stammen, schien es uns in hohem Maße ruhmvoll, Friedrich, der selbst auch seine Herkunft in einem schwäbischen Geschlecht hatte, besonders mithilfe der Schwaben aus dem hässlichen Kerker und nach einigen Jahrhunderten wieder ans Licht zu bringen. Vieles zwar schuldet unser Deutschland unserem durchlauchten Friedrich wegen seiner zahllosen Bemühungen, die er für das Bewahren der Ehre und Erhabenheit des römischen Reiches auf sich nahm, aber bei weitem mehr die universa christiana res publica, für die er eine herausragende und sehr heilige Expedition unternommen hat, um die Angelegenheiten der Christen in Asien wiederherzustellen und in der er, nachdem er die Armenier erfolgreich besiegt hatte, wie es sich für einen frommen und sich der christlichen Religion ganz ergebenden Kaiser geziemte, mit dem größten Verlust für das christliche Volk auch sein Leben verlor.«

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Rolle eines vermittelnden Historiographen. Humanistische Editionen von Geschichtsdarstellungen sind daher nicht allein als Medien zu verstehen, die den Textbestand stabilisieren und einem zeitgenössischen Rezipientenkreis präsentieren, sondern sie werden auch selbst als historiographische Werke verstanden und vermitteln insofern historische Wissensbestände und sprachlich-formale Vorbilder mit Blick auf ihre produktive Anwendbarkeit. Die Stabilisierung der Textbestände erfährt in deren inhaltlicher Aneignung, durch die die Edition im Aufnahmebereich fest verankert wird, eine komplementäre Strategie zur Sicherung der Wissensbestände und ihre zeitgenössisch notwendige Legitimation. Insofern lassen sich solche appropriativen Transformationsmechanismen auch als konkrete Strategien begreifen, die die Prozesse des Vergessens historischer Wissensbestände mit dem Ziel ihrer steten Vergegenwärtigung und produktiven Anwendbarkeit gezielt unterlaufen sollen.

IV. Ergebnisse Dass Transformationsprozesse sich stets in einer prekären Abhängigkeit von kontingenten Ereignissen und Entwicklungen befinden, da sie durch diese nicht nur provoziert und ermöglicht, sondern ebenso auch gehemmt und begrenzt werden können, wird gerade mit Blick auf die Editionen antiker und mittelalterlicher Texte besonders deutlich. Diese bilden einerseits selbst das Produkt solcher zum Teil sehr kontingenten Transformationsprozesse, weil ihre Textgestalt immer auch von der Überlieferungslage des jeweils edierten Textes abhängig ist, und geben andererseits eigene Impulse für künftige Transformationsprozesse, die sich aus den edierten Wissensbeständen ergeben. In Hinsicht auf die (handschriftliche) Überlieferung antiker und mittelalterlicher Texte verfolgen Editionen zunächst grundsätzlich das Anliegen, der mitunter sehr diffusen Überlieferungslage Herr zu werden, sie zu bündeln und den infolge seiner Überlieferungssituation in Mitleidenschaft gezogenen Text weitestgehend wiederherzustellen, indem etwa voneinander abweichende Lesarten kollationiert werden. Editionen lassen sich demnach als spezifische Strategien verstehen, die darauf abzielen, Textbestände ihren kontingenten Überlieferungsprozessen zu entziehen und sie zu stabilisieren. Das trifft auch und vor allem auf humanistische Editionen zu, da sie ihren Fokus nicht allein auf das Überliefern eines bestimmten Textbestandes richten, sondern als Bewältigungsstrategien selbst auf die desolate Überlieferungssituation antiker und mittelalterlicher Texte reagieren und kontrollierbare Rahmenbedingungen zur künftig erfolgreichen Überlieferung schaffen. Sie stellen eine wesentliche kulturelle Praktik humanistischer Gelehrsamkeit dar, über die die Editoren ihre Zugehörigkeit zu diesem Gelehrtenfeld selbst definieren und zugleich Strategien kompetitiver Selbstinszenierung

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anwenden. Diese integrativen und distinktiven Funktionsweisen sind spezifische Kennzeichen humanistischer Editionen und haben ihrerseits unmittelbare Konsequenzen für die Stabilisierung der edierten Textbestände: So wird durch einen Akteur der Gruppe ein edierter Text gruppenprogrammatisch zunächst fixiert und zur weiteren Rekonstruktion ausgeschrieben, deren endgültig abgeschlossener Zustand allerdings als nicht erreichbar gedacht wird. Sowohl über eine Edition selbst als auch über das sukzessive Überarbeiten eines edierten Textbestandes können die Gruppenzugehörigkeit, aber auch die eigenen gruppenspezifischen Kompetenzen herausgestellt werden. Editionen antiker und mittelalterlicher Texte als großangelegtes Projekt zur graduellen Rückgewinnung und Vergegenwärtigung von bestimmten Wissensbeständen zielen somit darauf ab, eine neue Form des Überlieferungsprozesses zu generieren, durch den ein Textbestand einerseits stabil gehalten und weitestgehend vor kontingenten Ereignissen bewahrt, und andererseits eine weitere sukzessive Restauration eines Textbestandes ermöglicht wird. Insofern können sie auch als Versuch verstanden werden, sowohl den edierten Text – und davon ausgehend auch seine Wissensbestände sowie mögliche Aneignungen derselben – als auch seinen künftigen Überlieferungsprozess selbst zu kontrollieren. In diesem Zusammenhang setzen humanistische Gelehrte auch auf die Einrichtung neuer, zumeist fürstlicher Bibliotheken, die als programmatischer und kultureller Kontrapunkt zu mittelalterlichen Überlieferungsprozessen und klösterlichen Bibliotheken begriffen werden, sowie auf die – vor allem in Form finanzieller Unterstüzung auftretende – Einbindung von herrschaftspolitischen Akteuren: Diese extratextuellen Faktoren ermöglichen es erst, Texte zu edieren und sie dann möglichst dauerhaft zu konservieren. Komplementär zu diesem Bündel an Strategien gegen kontingente Überlieferungsprozesse diffundieren humanistische Editionen die jeweiligen Wissensbestände und unterziehen sie dabei mithilfe von Paratexten, die die jeweiligen Textbestände geradezu einkapseln, einer inhaltlichen Aneignung, die von einem vor allem zeitgenössischen Erkenntnisinteresse geprägt ist. Dadurch passen sie den edierten Text den Lesegewohnheiten ihres jeweils anvisierten Rezipientenkreises an. Das Spektrum der inhaltlich-funktionalen Aneignungsstrategien biographischer und nicht-biographischer Geschichtsdarstellungen ist breit gefächert, hängt allerdings grundsätzlich von den werkspezifischen Eigenheiten und ihren Inhalten ab. Im Zuge solcher Appropriationen werden die edierten Wissensbestände zeitgenössisch aufgeladen und dadurch im eigenen Aufnahmebereich verankert. Gerade im Bemühen um die produktive Applizierbarkeit v. a. der unter historischen Vorzeichen lesbaren Texte manifestiert sich das spezifisch Humanistische solcher Editionen: Denn Humanisten verstehen die durch ihre Editionen einem breiteren Leserkreis zugänglich gemachten Texte als historisch-faktisches Abbild des durch sie Dargestellten, das entweder im Sinne der historia magistra vitae einen Lernprozess anstoßen oder –

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etwa unter nationalen Vorzeichen – reaktiviert werden soll, um das Wissen um die eigene Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Infolge solcher Aneignungen nehmen humanistische Editionen solcher Texte immer auch am gegenwärtigen historiographischen Diskurs ihrer Zeit teil. Darüber hinaus werden die edierten Texte auch im Zuge ihrer funktionalen Neujustierung der Gefahr des Vergessens als Konsequenz kontingenter Überlieferungsprozesse entzogen, weil ihre Wissensbestände dadurch als zeitgenössisch relevant ausgewiesen werden. Unter diesem Blickwinkel gerieren sich Transformationen der Antike und des Mittelalters in und durch humanistische Editionen als kreative Bewältigungsstrategien gegenüber kontingenten Überlieferungsmechanismen und damit zusammenhängend auch gegenüber dem Vergessen von Geschichte, da sie dezidiert darauf abzielen, die entsprechenden, historisch aufladbaren Wissensbestände inhaltlich zu reanimieren, um sie dem kulturellen Gedächtnis einzuverleiben.

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[Rotterdam, Erasmus von,] En magnis impendiis, summisque laboribus damus amice lector T. Livii Patavini Latinae Historiae Principis quicquid hactenus fuit aeditum, sed aliquanto quam antea, tum magnificentius, tum emaculatius, accesserunt autem Quintae Decadis Libri quinque nunquam antehac aediti, quos adiecimus ex uetustissimo codice, cuius copiam nobis fecit celebre Monasterium Lorsense, Basel 1531. [Rotterdam, Erasmus von,] »Des. Erasmus Roterodamus Generoso Adolescenti Carolo Montioio S. D.«, in: ebd., a2r–v. [Rotterdam, Erasmus von,] »Illustrissimis Saxoniae Ducibus, Federico sacri Imperij electori, &cae. eiusque patrueli Georgio, Erasmus Roterodamus S. D.«, in: C. Suetonii Tranquilli XII Caesares, Köln 1539, A2r/3–A7v/14. [Stein, Marquard von/Matthäus von Pappenheim/Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden/Konrad Adelmann von Adelmannsfelden/Konrad Peutinger/Georg Herwart,] »Marquardus de Stain, ecclesie Bambergensis praepositus, Matheus Marschalck, Bernhardus et Chunradus Adelman de Adelmansfelden, canonici, Chunradus Peutinger ac Georgius Herbart Augustani, lectori salutem«, in: Monumenta Germaniae Historica LXIII, ed. Erwin Assmann, Hannover 1987, 5–8.

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Zufall, Selektion und die Lektüre der Antike: Johann Friedrich von Brandt, Carl Eduard von Eichwald und die Debatte um die ausgerotteten Tiere an der Akademie von Sankt Petersburg1 Bernd Roling

I. Einleitung Als Malcolm Laing zu Beginn des 19. Jahrhunderts endgültig James MacPherson als Ghostwriter Ossians enttarnen konnte und den schottischen Dichter zum alleinigen Verfasser der in ganz Europa kursierenden Gedichte erklärte, konnte er eine große Zahl von Argumenten vorbringen: die große Nähe Ossians zu den übrigen Gedichten MacPhersons, die vielen Zitate aus der klassischen Literatur und die fehlenden Handschriften, die das Alter Ossians hätten belegen können. Ein weiteres Argument fand sich in den Gedichten selbst. Nie war in ihnen von der spätantiken Fauna Schottlands die Rede gewesen. Ossian hatte sich weder mit Wölfen oder Bären, noch mit Elchen oder Wildrindern auseinandersetzen müssen, seine Verse konnten nicht authentisch sein2. Literaturkritik und Zoologie waren im 19. Jahrhundert also noch enger verschwistert als heute. Auch die umgekehrte Stoßrichtung, eine Allianz von wissenschaftlicher Zoologie und alter Literatur, war als Option schon vorgegeben. Seit der Zeit eines Gesner oder Aldrovandi hatten die großen Zoologen der Frühen Neuzeit die Werke der Klassiker durchforstet und herangezogen. Ein Beispiel einer solchen fruchtbaren, allelopoietischen Aufarbeitung der Antike soll hier gegeben werden, die Debatte um das Aussterben der großen Säugetiere, wie sie vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wurde. Zwei Aspekte, die diese Studie in zwei Hälften gliedern werden, machen diese Diskussion bemerkenswert. Zu einem sehr großen Teil wurde die Kontroverse 1

Mein Dank bei der Ausarbeitung dieser Studie gilt der alten Abteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, deren Schätze ich tagelang nutzen konnte, der Staatsbibliothek in Berlin, meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Caecilia Désirée Hein, Stefan Bauhaus, Ramune Markeviciute und Helena Winterhager und außerdem den Mitgliedern des SFB ›Transformationen der Antike‹ Hartmut Böhme, Verena Lobsien und Michael Weichenhan (alle HU Berlin), die mir in ihren Diskussionen sehr weitergeholfen haben. 2 MacPherson, The Poems of Ossian (1805), Bd. 2, Appendix, S. 394–400, 409–431.

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über das Verschwinden der Eiszeitfauna von der Lektüre der klassischen Literatur getragen und initiiert; sie sollte zugleich zu einem substantiellen Argument dieser Debatte werden. Zum anderen war es diese klassische Literatur, die ins Feld geführt wurde, um dem Zufall in der Naturordnung eine Abfuhr zu erteilen, einem Zufall, der sich vor allem in der Herausforderung der neuen Lehren Charles Darwins artikuliert hatte.

II. Eduard von Eichwald, Johann von Brandt und der Streit um die Stellersche Seekuh In den Jahren 1866 bis 1868 gelang es zwei deutschen Gelehrten, Paläontologen, die beide an der Akademie von St. Petersburg tätig waren, sich im Gewirr einer Detailfrage zu verstricken, die aus heutiger Perspektive wenig bedeutsam anmutet. Dennoch konnte sie fast ein Dutzend von Veröffentlichungen nach sich ziehen. Beide, Johann Friedrich von Brandt (1802–1879) und Carl Eduard von Eichwald (1795–1876), waren über den möglichen Fortbestand der Stellerschen Seekuh, der rhytina borealis, in Streit geraten. Der berühmte Polarreisende Georg Steller hatte diese größte unter den Seekühen, die mehr als acht Meter lang werden konnte, auf der großen Kamtschatka-Expedition vor der Küste der Bering-Insel 1741 entdeckt und im Anschluss ausführlich beschrieben3. Ein Vierteljahrhundert lang machten Pelzhändler und Matrosen erfolgreich Jagd auf die langsamen und friedlichen Pflanzenfresser; im Jahre 1768, so hatte im Jahre 1838 schon der große Zoologe Karl von Baer (1792–1876), dem wir noch wiederbegegnen werden, in einer eigenen Abhandlung festgestellt, war die letzte der Stellerschen Seekühe von einem Pelzjäger getötet worden4. Doch hatte man wirklich alle Seekühe von der Erde vertilgt? Von Baer wollte es nicht mit letzter Sicherheit behaupten, denn vielleicht hatte man noch nicht alle Küsten der Kurilen und der Tschutschtken ausreichend besegelt. Dennoch sah er bereits 1840 keine wirkliche Möglichkeit mehr, die Seekuh noch irgendwo anzutreffen5. Von Eichwald hatte in seiner ›Lethaea rossica‹, seiner französischen Fossilienkunde Russlands, die nicht nur auf den Vorarbeiten des großen Peter Simon Pallas beruhte, sondern vor allem auf eigenen ausgedehnten Reisen durch die Weiten Sibiriens, der Ostseeprovinzen des Imperiums und 3

Ein schönes Panorama der Polarreise Georg Stellers gibt Ford (1992), dort zu den Meerestieren S. 152–166. Steller beschreibt die Seekühe in Steller, Ausführliche Beschreibung von sonderbaren Meerthieren (1753), 48–106. Seine Berichte repetierte und verbreitete Krasheninnikov, Opisanie zemli Kamtschatki (1994) (zuerst St. Petersburg 1755), und in englischer Übersetzung Krasheninnikov, The History of Kamtschatka (1764). 4 Baer, Untersuchung über die ehemalige Verbreitung (1840), 4 f. Ähnlich auch schon vorher kurz Baer, Anatomische und zoologische Untersuchungen über das Walroß (1836), hier S. 119–121. 5 Baer, Untersuchung über die ehemalige Verbreitung (1840), 5 f.

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des Kaukasus, eher beiläufig eine These aufgestellt, die er lange vorher schon in russischer Sprache geäußert hatte6. Vielleicht existiere die Seekuh noch und ihre letzten Artgenossen seien lediglich in unzugängliche Gebiete des Nordens, vielleicht noch jenseits der Aleuteninseln vor Alaska, weitergezogen7. Unglücklicherweise fand von Eichwald sehr rasch einen prominenten Leser, den großen Paläontologen Richard Owen, der von Eichwalds These in seinem damaligen Standardwerk zügig verbreitete8. Von Brandt, der dem ›Borkentier‹, wie man es genannt hatte, schon Jahre zuvor erste Arbeiten gewidmet hatte9, bedachte die Vermutung von Eichwalds auch aus diesem Grund mit einer harschen Replik. Schon 1863 erscheint von seiner Seite eine zunächst nur an Owen gerichtete Analyse der Verbreitung der Stellerschen Seekuh, die zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt: Die Seekuh war in all ihren früheren Habitaten, ob vor Kamtschatka, der Bering- oder der Kupferinsel, mit völliger Sicherheit und allein durch Menschenhand ausgerottet worden10. Dann gerät der Kollege selbst ins Visier: Von Eichwald, der von Brandt anscheinend aus Gründen, die sich nicht ermitteln lassen, zutiefst zuwider war, hatte die vorhandenen Zeugnisse nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und sich als Dilettant erwiesen11. Tatsächlich antwortet von Eichwald und beginnt Argumente für den möglichen Fortbestand der Art zu sammeln. Natürlich wusste man, dass zahlreiche Tierarten durch den Einfluss des Menschen verschwunden waren, nicht zuletzt der bekannte Riesenalk, den man vor wenigen Jahren noch an der Küste Islands antreffen konnte. Dennoch ließ sich das Verschwinden von Seetieren, wie von Eichwald betont, weniger leicht bestimmen als im Fall von Landtieren. Waren an der Küste der Aleuten nicht noch jüngere Knochen der Seekuh gefunden worden? War das Skelett, das man im Naturkundemuseum von Helsinki verwahrte, nicht noch recht frisch gewesen? Vielleicht waren die schweren Seekühe also wirklich weiter ins Polargebiet gezogen und auf diese Weise dem Mordeisen ihrer Jäger entronnen12. Von Brandt lässt diese Einwände nicht gelten. Acht Jahre, so von Brandt, hatte Ilya Wosnessenski, der spätere Kurator des Sankt Petersburger Naturkundemuseums, an den Küsten Alaskas zugebracht, ohne dass er das schwer zu übersehende Tier vorgefun6 Eichwald, Paleontologija Rossii (1850–61), Bd. 2, Novyj period, S. 173. 7 Eichwald, Lethaea rossica (1853–68), Bd. 3, Ordo II, Genre IV, Esp. 4, S. 342 f. 8 Owen, Palaeontology (1861) (zuerst 1860), 437 f. 9 Hauptwerk von Brandts zu den Seekühen war Brandt, Symbolae Sirenologicae (1849–1869), dort zur Ausrottung der Tiere schon Fasciculum I (1849), Pars II, Liber I, c. 7, S. 112–120. Erster Beitrag zum Thema war Brandt, Über den Zahnbau der Stellerschen Seekuh (1833), 103–118. Dutzende sollten folgen. 10 Brandt, Bemerkungen über die Verbreitung und Vertilgung der Rhytina (1863), 558–564. 11 Brandt, Noch einige Worte über die Vertilgung der Rhytina (1866), Sp. 279–282, und im Anschluss Brandt, Nochmaliger Nachweis der Vertilgung der nordischen oder Stellerschen Seekuh (1866), 5 f., 8 f., 22–24. 12 Eichwald, Die Rhytina borealis und der Homocrinus dipentas (1866), 136–162, bes. 140–146.

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den hätte. Die Stellersche Seekuh war kein intelligentes Tier gewesen, jedes Gespür für Gefahr hatte ihr gefehlt. Ihre spärliche und einzige Population an der Bering-Insel hatte die Konfrontation mit dem Menschen keine zwanzig Jahre überlebt. Weitere Habitate hatte es nicht gegeben13. Wieder kontert von Eichwald: Hatten die Zoologen des 18. Jahrhunderts nicht noch einen Schädel dieser Art vor der Küste Grönlands ausgraben können? Waren diese Relikte nicht vielleicht aus dem Norden angespült worden und gaben einen Hinweis auf eine Population, die sich im Polargebiet finden ließ? Wenn die Tiere sich, wie Steller gezeigt hatte, nur von Algen ernährten, hätten sie sicher auch weiter im Norden noch ausreichend Nahrung finden können und waren der, wie von Eichwald betont, »Vertilgungswut des Menschen« vielleicht doch noch entronnen14. Der Schlagabtausch ging noch länger hin und her und sollte sich noch um etliche Argumente bereichern. Existierte die Algenart, von der sich die Seekühe hätten ernähren können, wirklich vor den Aleuten? Hatte nicht schon Steller die Seekuh als Standthier charakterisiert, das zu ausgreifenden Wanderungen nicht in der Lage war15? Waren nicht schon die russischen Reisenden, die vor 1755 die letzten Seekühe vor der Kupferinsel angetroffen hatten, empört darüber gewesen, mit welcher Brutalität die Pelzhändler die bedauernswerten Kreaturen durch bloßes Anstechen verenden ließen? In seinem zumindest nominell letzten Papier, überschrieben mit dem sprechenden Titel ›Einige Schlußworte zur Seekuh‹ erinnert von Brandt daran, dass die russischen Nordmeerfahrer schon im Jahre 1755 einen Ukas beim Zaren erwirkt hatten, um die letzten bedauernswerten Seekühe zu schützen. Schon zu diesem Zeitpunkt also waren diese Tiere, die man als Musterbeispiel der menschlichen »Ausrottungswut« betrachten konnte, eigentlich, wie von Brandt betont, verloren gewesen16. Der Streit um die Seekuh mochte von Eitelkeiten und persönlichen Idiosynkrasien getragen worden sein, dennoch hatte er zwei selbstbewusste Gelehrte miteinander kollidieren lassen, deren Hintergründe, Viten, Forschungsfelder und Interessen fast deckungsgleich waren. Von Eichwald war von baltischem Adel und hatte in Berlin Naturkunde und Medizin studiert17. 1819 hatte er im litauischen Vilnius, einer Region, der er zeit seines Lebens verbunden blieb, 13 Brandt, Ergänzende Mitteilungen zur Erläuterung der ehemaligen Verbreitung (1867), 223– 232. 14 Eichwald, Die Lethaea rossica und ihre Gegner. Erster Nachtrag (1868), 30–35, und sehr weitläufig Eichwald, Die Lethaea rossica und ihre Gegner. Zweiter Nachtrag (1868). 311–373, hier S. 326–344. 15 Brandt, Wenige Worte in Bezug auf die Erwiderungen (1868), 9–14. 16 Brandt, Einige Schlußworte zum Nachweis der Vertilgung (1867), 7–9, 13 f. Die letzte Stellungnahme findet sich bei Brandt, Symbolae Sirenologicae (1849–1869), Fasciculum III (1869), Liber IV, §§ 11–13, S. 291–299. Eine Zusammenfassung des Streits aus seiner Sicht gibt Brandt, Bericht über die Fortschritte (1879), § 16, S. 85–89. 17 Eine allgemeine Würdigung seines Zeitgenossen gibt Lindemann, Das fünfzigjährige Doktorjubiläum (1870), 278–358.

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mit einer Arbeit zu den Haifischen bei Aristoteles promoviert18, zwei Jahre später in Dorpat die Venia legendi erhalten. Während seiner ersten Professur in Kazan, in der er noch Gynäkologie betreiben musste19, entdeckte er seine Leidenschaft für die Geologie und Paläontologie20, die er in der Folge während seiner Unterrichtstätigkeit in Vilnius, seiner zweiten Professur, weiter ausleben konnte. Im Jahre 1838 war von Eichwald an die Akademie von Sankt Petersburg gekommen. Sein Spezialgebiet wurde hier nun endgültig die Fossilienkunde, die er in den folgenden Jahren als Folge ausgedehnter und von ihm protokollierter Reisen durch das Imperium des Zaren um eine Fülle von Funden bereichern sollte21. Sein Oeuvre umfasst Dutzende von Monographien, deren Gegenstände von Gesteinsformationen und Erdschichten bis zu den Wirbeltieren reichen22, von den Einzellern, denen er mehrere Arbeiten widmete23, über die Botanik bis hin zu Sauriern, und die vor allem die polaren Regionen des russischen Reiches, das damals auch Alaska noch miteinschloss, ins Blickfeld nahmen24. Auch an Seekuhfossilien hatte sich von Eichwald, vielleicht zu seinem Unglück, schon im Jahre 1849 versucht25. 18 Eichwald, De selachis Aristotelis (1819). Die Arbeit, bes. S. 3–15, war zuvorderst zoologiegeschichtlich angelegt. 19 Eichwald, In ovum humanum disquisitio (1824). Eichwald, §§ 3–4, S. 3 f., stützt sich vor allem auf seinen Landsmann Christian Heinrich Pander, mit dem er die Begeisterung für die Paläontologie teilte. 20 Eichwald, Geographicae-Zoologicae per Ingriam marisque Baltici provincias Observationes (1825). 21 Reiseberichte waren z. B. Eichwald, Reise auf dem Caspischen Meere (1834–37); aber auch Eichwald, Naturhistorische Bemerkungen, als Beitrag zur vergleichenden Geognosie: auf einer Reise durch die Eifel (1851). 22 Zur Geologie z. B. Eichwald, Discours sur les richesses minérals (1835), oder Eichwald, Kurze genognostische Bemerkungen über Lithauen (1830), Eichwald, Einige vergleichende Bemerkungen zur Geognosie Scandinaviens (1846). 23 Zu den Kleinstlebewesen z. B. Eichwald, Beitrag zur Infusorienkunde Rußlands (1844), Eichwald, Erster Nachtrag zur Infusorienkunde (1847), Eichwald, Zweiter Nachtrag zur Infusorienkunde (1849), Eichwald, Dritter Nachtrag zur Infusorienkunde (1852). Zur Pflanzenwelt des Kaukasus Eichwald, Plantarum novarum vel minus cognitarum, quas in itinere caspico-caucasico observavit, fasciculi duo (1831–33). 24 Eichwald, Beiträge zur geographischen Verbreitung der fossilen Thiere Rußlands (1857), oder z. B. Eichwald, Über die Saurier des kupferführenden Zechsteins Rußlands (1848). Hier waren baltendeutsche Paläontologen wie von Pander, aber auch von Schlotheim und von Fischer zu Waldheim, der langjährige Rektor der Moskauer Akademie, die ersten Autoritäten von Eichwalds. Dass von Eichwald auch in diesem Terrain streitbar war, zeigt eine Kontroverse, die er in sehr hartem Tonfall mit dem jungen Louis Agassiz über Fischfossilien austragen konnte, dazu Eichwald, Über die Fische des devonschen Systems (1844), und Eichwald, Nachtrag zu der Beschreibung der Fische des devonschen Systems (1846). 25 Eichwald, Die Urwelt Rußlands, durch Abbildungen erläutert (1849), dort die Beschreibung des Ziphius priscus S. 25–53. Dieser Band erschien schon vorher auf russisch als Eichwald, Perwobytny mir Rossii (1840). Eine weitere russische ›Oriktognozia‹ von Eichwald erschien 1844, doch war mir nicht zugänglich. Ein letztes Mal bemüht sich von Eichwald um die Cetaceen in Eichwald, Analecten aus der Paleontologie (1871), § 3, Halichorus grypus, S. 20–23.

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Auch Johann Friedrich von Brandt, geboren in Jüterbog in Brandenburg, absolvierte ein Medizinstudium in Berlin, promovierte über die Stimmbänder der Säugetiere26, doch sollte er sich nach der Promotion zunächst auf die Botanik und die vergleichende Anatomie verlegen. Foliantenschwere Studien zur Berliner Pflanzenwelt und zur medizinischen Zoologie brachten ihm in Deutschland keine Festanstellung ein 27. Von Brandt suchte wie von Eichwald daher sein Glück in Russland und trat eine Stelle an der Akademie von Sankt Petersburg an, die seit dem 18. Jahrhundert und der Generation eines Peter Simon Pallas zu einem Auffangbecken deutscher Gelehrter geworden war. 1833 wurde er in Sankt Petersburg Ordinarius, wo seltsamerweise die Entomologie zu seinem ersten Arbeitsfeld wurde28. Von Brandt blieb bis zu seinem Tod im Jahre 1879 in Russland. Stärker als im Falle von Eichwalds, der sich mehr als Generalist verstanden hatte, konzentrieren sich von Brandts Schriften ab 1840 allein auf die Zoologie, doch umfassen sie mehr als dreihundert Titel, viele davon sehr umfangreich29. Von Brandt und von Eichwald verband nicht nur der gleiche Lebensweg und die Fähigkeit, erschlagende Monographien im Jahrestakt in sehr lebendiger deutscher, lateinischer, russischer, französischer und im Fall von Eichwalds auch schwedischer Sprache zu verfassen30. Beide hatten, wie die Seekühe gezeigt haben, ein besonderes Forschungsgebiet, die prähistorische Fauna, vor allem die Säugetiere, und ihr Verhältnis zum Menschen, das sich vor allem in Gestalt ihrer Ausrottung manifestieren musste. Von Eichwald und von Brandt betrieben zugleich, was man im 19. Jahrhundert Zoogeographie nannte, und was man in ihrem Fall heute als historische Habitatforschung umschreiben würde, nämlich die Rekonstruktion vergangener Verbreitungsgebiete. Beide besaßen eine nahezu erschöpfende Sprachkompetenz und verfügten, was die klassische und mittelalterliche Literatur betraf, über eine bemerkenswerte Belesenheit, die sich eher dem Antiquarismus des 18. Jahrhunderts verdankte als der Wissenschaft ihrer eigenen Epoche. Beide nutzten dieses enzyklopädische literarische Wissen, um die Topographie vergangener Populationen nachzuzeichnen.

26 Brandt, Observationes anatomicae de mammalium vocis instrumento (1826). 27 Brandt, Flora Berolinensis (1825); noch einmal als Brandt/Ratzeburg, Abbildung und Beschreibung der Giftgewächse (1838), Brandt/Ratzeburg, Medizinische Zoologie (1829–32). 28 Dazu z. B. Brandt, Conspectus monographiae Crustaceorum (1833), Brandt, Tentaminum quorundam monographicorum insecta Prodromus (1833). 29 Ein vorläufiges Publikationsverzeichnis erschien zum fünfzigjährigen Jubiläum der Promotion von Brandts als Brandt, Ioannis Friderici Brandtii index (1876). 30 Von Eichwald verantwortete zahlreiche russische Abhandlungen. Als umfangreichste russische Arbeit von Brandts existiert scheinbar Brandt, Kratkoe ocertanie sravnitelnoj anatomii (1858), doch ist dieser Band, vielleicht eine geschlossene Vorlesungsreihe, in der Berliner Staatsbibliothek leider als Kriegsverlust verbucht.

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III. Naturgeschichte als Geschichte des Verlustes Schon in seiner ›Medizinischen Zoologie‹ des Jahres 1829 fällt auf, dass von Brandt ohne Hemmungen in einem Atemzug Albertus Magnus, Isidor von Sevilla, Strabon, Al-Qazwini und Al-Damiri heranziehen konnte31. Zur griechischen, lateinischen, arabischen und diversen mittelalterlichen volkssprachlichen Literaturen sollten später auch Sanskrit und diverse finno-ugrische und paläosibirische Kleinsprachen kommen, mit der sich die besondere Rolle einer Spezies in einem Kulturkreis rekonstruieren ließ. Dass die Akademie später für fast jedes Idiom einen Experten besitzen sollte, kam gerade von Brandts Interessen sehr entgegen. Von Anfang an musste die historische Zoologie für von Eichwald wie von Brandt auf diese Weise zu einer Verlustgeschichte werden und die Lektüre der Antike zu einer von Melancholie getragen Summe des vergangenen Reichtums, mit der die Gegenwart in der Vielfalt der Tierarten und vor allem der Menge an Kreaturen nicht konkurrieren konnte. Wir werden sehen, dass diese Lektüre von Eichwald und vor allem von Brandt zu weitreichenden Konsequenzen veranlasste. Bereits in der erwähnten ›Medizinischen Zoologie‹ stellt von Brandt fest, dass die Bestände des amerikanischen Bibers sich, allen Schutzbemühungen zum Trotz, als Folge der ständigen Bejagung auf ein Minimum reduziert hatten, während die Indianer oder die indigenen Völker Russlands in der Lage gewesen waren, noch maßvoll in die Naturordnung einzugreifen32. In seiner ebenfalls noch frühen Arbeit zur Dronte, dem Dodo ineptus, einem flugunfähigen Großvogel, der auf Mauritius gelebt hatte, konstatiert von Brandt im Jahre 1848 die endgültige Vertilgung des Tiers im Jahre 1638, rekonstruiert deren Verlauf und Vorgeschichte minutiös und verzeichnet dabei jedes Gemälde, auf dem man den bedauernswerten Vogel verewigt hatte, darunter auch jene Darstellung Roeland Savarys, die den Dodo im Paradies hatte ablichten können33. Vor allem jedoch stellt von Brandt mit Nachdruck fest: Keine hundert Jahre hatte der zutrauliche Vogel die Begegnung mit dem Menschen ertragen; 31 Brandt/Ratzeburg, Medizinische Zoologie (1829–32), z. B. Bd. 1, S. 13, 22, 108 f. Schon im Titel aussagekräftige weitere Beispiele dieser antiquarischen Belesenheit sind Brandt, Untersuchungen über das Kaninchen (1876), oder Brandt, Ist der Nabus des Plinius (1860). Auch scheinbar gegen Zeitgenossen wie Huxley oder Owen gerichtete Arbeiten begann von Brandt meist mit einem historischen Überblick, der bei Aristoteles und Albertus Magnus einsetzte, z. B. Brandt, Bemerkungen über die Classification der kaltblütigen Rückenmarkthiere (1865), dort S. 2–5. 32 Brandt/Ratzeburg, Medizinische Zoologie (1829–32), Bd. 1, S. 27. Noch einmal zum Verschwinden der Flussbiber Brandt, Beiträge zur näheren Kenntnis der Säugethiere Europas (1855), 6. Abteilung, S. 339 f., 344 f. 33 Brandt, Versuch einer kurzen Naturgeschichte des Dodo (1848), passim, später noch einmal Brandt, Neue Untersuchungen über die systematische Stellung und die Verwandtschaften des Dodo (1867), 233–253. Das gleiche Schicksal war dem Riesenalk zuteil geworden, wie von Baer, von Brandt und von Eichwald beharrlich wiederholten, dazu z. B. Brandt, Ergänzungen und Berichtigungen zur Naturgeschichte der Familie der Alciden (1870), dort Sp. 496 f.

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die Dronte dokumentierte, welchen Einfluss der Mensch an sich auf die große Fauna nehmen musste. Tier und Mensch standen in einer Relation zueinander, die sich auf die Tiere nur verhängnisvoll auswirken konnte34. Auch auf die Paläontologie durfte diese Feststellung, wie von Brandt zum Ende betont, nicht ohne Wirkung bleiben. Etwas ab 1830 beginnen von Eichwald und von Brandt, unabhängig voneinander, mit ihrem Projekt der historischen Habitatforschung und der mit ihr verbundenen Durchforstung der klassischen Literatur. In mehreren Arbeiten der Jahre 1830 bis 1840 nimmt sich von Eichwald der prähistorischen Verbreitung der Wildpferde und Wisente an, die wie der Auerochse vor allem in seiner litauisch-baltischen Heimat eine große Rolle gespielt hatten35. Glaubte man Strabon36, musste es in der Antike noch gewaltige Herden wilder Pferde im Schwarzmeergebiet gegeben haben, die sich durch Knochenfunde vor Ort in ihrer Existenz bis in die prähistorische Zeit zurückverfolgen ließen37. Ihre Gestalt hatten diese Unpaarhufer, wie von Eichwald bemerkt, über die Epochen hinweg dabei kaum verändert38. Noch im Jahre 1096 hatte der Großfürst Vladimir Monomachos im Fürstentum Tschernigoff zwanzig Pferde dieser Art erlegt, wie die altrussischen Chroniken wussten39. Welche Unmenge an Tieren musste man in der Zwischenzeit vernichtet haben? Das gleiche Schicksal war dem Wisent widerfahren, der die eurasischen Tiefebenen in prähistorischer Zeit ebenfalls in großer Zahl bevölkert hatte40. Caesar hatte den bos urus, den europäischen Bison, im hercynischen Wald gesichtet41, Seneca ihn in seiner ›Phaedra‹ erwähnt42, und Oppian hatte das Tier in seiner ›Cynegetica‹ noch in den Wäldern Thraziens angesiedelt43. Glaubte man Nicetas Choniates, einem byzantinischen Historiker, hatte Kaiser Andronicus 1132 ein Exemplar im Schwarzmeerraum erlegt44, Thomas von Cantimpré zählte ihn 1244 zur Fauna 34 Brandt, Versuch einer kurzen Naturgeschichte des Dodo (1848), 3 f. 35 Dass von Eichwald die Erforschung dieser Tiere nahezu für eine patriotische Pflicht hielt, zeigt z. B. Eichwald, Memoria Bojani (1835), 51–53. 36 Strabon, The Geography (1960–70), Bd. 3, Liber VII, c. 4, § 8, griechisch und englisch, S. 248 f. 37 Eichwald, Lethaea rossica (1853–68), Bd. 3, Ordo II, Genre XII, S. 362 f., Eichwald, Über die Säugethierfauna der neueren Molasse (1860), 389 f., und Eichwald, De pecorum et pachydermorum reliquiis fossilibus (1834), §§ 3–6, S. 679–684. 38 Eichwald, Naturhistorische Skizze von Lithauen (1830), 3. Abschnitt, S. 238 f., und Eichwald, Catalogus Musaei Vilnensis (1835), 26. 39 The Russian Primary Chronicle (1953), Appendix, The Testament of Vladimir Monomakh, S. 214 f. 40 Eichwald, Lethaea rossica (1853–68), Bd. 3, Ordo III, Genre XVII, Esp. 25, S. 377–381, Eichwald, Naturhistorische Skizze von Lithauen (1830), 3. Abschnitt, S. 241–253, und auch Eichwald, Einige Berichtigungen der von Herrn Münzmeister Pusch bestimmten Schalthiere (1840), Sp. 1–25, hier Sp. 23–25. 41 Caesar, Bellum gallicum (1997), Liber VI, § 28. 42 L. Annaeus Seneca, Tragoediae (1986), Phaedra, V. 64. 43 Oppian von Apamaea, Cynegetica (2003), Liber II, V. 293 f., V. 300 f. 44 Nicetas Choniates, De Andronico Comneno libri II, Liber II, Sp. 691 f., B.

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Böhmens45. In allen Fällen konnten Knochenfunde die Anwesenheit dieser Tiere in ganz Eurasien untermauern, zeitgleich mit den großen Wirbeltieren der prähistorischen Zeit. Im Nibelungenlied hatte Siegfried den wisent noch gemeinsam mit dem Halbwolf, dem halpwuolf, den Georg August Goldfuß einst als Höhlenhyäne bestimmt hatte, zur Strecke bringen können46. Im Kaukasus und an der Küste des Kaspischen Meeres waren sie gemeinsam mit anderen wilden Rindern bis weit in die jüngere Gegenwart noch beheimatet gewesen47. Heute jedoch war von dieser gewaltigen Population, deren Spuren sich bis ins Spätmittelalter verfolgen ließen, wie von Eichwald betont, nur die verschwindend kleine Zahl an Tieren zurückgeblieben, jene 696 Exemplare, die man im Wald von Bialowesha auf Geheiß des Fürsten hin bewachte. Fast hätte die ärgerliche polnische Revolte, so von Eichwald, im Jahre 1830 auch diese Tiere, das erste Schutzprojekt der Moderne, noch in Gefahr gebracht48. Noch deutlicher ließ sich die bis in die historische Zeit reichende Präsenz eines verschwundenen Säugetiers, das zum Opfer des menschen Jagdtriebes geworden war, an einem anderen Beispiel dokumentieren, dem cervus eurycerus, dem europäischen Riesenhirsch, dem von Eichwald eine eigene Monographie schenkt49. Diese Tiere waren enger mit den Rothirschen verwandt gewesen als mit den Elchen, doch hatte sie die Natur mit einem monumentalen Gehörn ausgestattet. Durch Funde vor allem in den Höhlen von Tscharkoff waren sie als Zeitgenossen der Mammute und Höhlenbären ausgewiesen worden; ihre Überreste hatte man gemeinsam mit menschlichen Pfeilen und Artefakten gefunden50. Zugleich ließ sich die Anwesenheit dieser Könige des Waldes auch durch historische Quellen belegen. Oppian hatte den Hirsch in seiner ›Cynegetica‹ beschrieben51, Gerald von Wales ihn noch in seiner ›Topographia hibernica‹, seiner Ethnographie Irlands52, als festen, wenn auch seltenen und exklusiven Bestandteil der irischen Fauna benannt53. Der Erde der gleichen 45 Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum (1973), Liber V, c. 5, § 111, S. 172. 46 Das Nibelungenlied (1963), 16. Aventiure, Str. 936–937. Einige Handschriften haben statt des Halbwolfs ein halpful, ein halberwachsenes Wildschwein. 47 Eichwald, Introductio in Historiam naturalem Caspii Maris (1824), § 5, S. 52 f., Eichwald, Fauna Caspio-Caucasica nonnullis observationibus (1840), 33 f., und Eichwald, Alte Geographie des Caspischen Meeres (1838), 381. 48 Eichwald, Zoologia specialis (1829–31), Bd. 3, § 232, S. 341 f. 49 Eichwald, Über den Riesenhirsch (1845). Parallel hierzu erschien Eichwald, Über den Riesenhirsch (Cervus euryceros) (1845). Zum Riesenhirsch außerdem Eichwald, Lethaea rossica (1853–68), Bd. 3, Ordo III, Genre XIV, Esp. 17, S. 366 f., Eichwald, Zoologia specialis (1829– 31), Bd. 3, § 233, S. 348, Eichwald, Über die Säugethierfauna der neueren Molasse (1860), 390 f., 393, und Eichwald, Paleontologija Rossii (1850–61), Bd. 2, S. 193–195. 50 Eichwald, Über den Riesenhirsch (1845), 6–20. 51 Oppian von Apamaea, Cynegetica (2003), Liber II, V. 300. 52 Giraldus Cambrensis, Topographia Hibernica (1964), Distinctio I, c. 24, S. 57. 53 Eine ausführliche Darstellung der Funde fand von Eichwald bei Hibbert, Additional Contributions (1830), 301–317.

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Insel hatte man auch die meisten ihrer Fossilien entrissen. Das naturkundliche Museum zu Böhmen verwahrte ein historisches Geweihfragment, auf dem in glagolitischer Schrift des 13. Jahrhunderts geschrieben stand ›u potopy pogubisia‹, ›in der Sintflut umgekommen‹54. Das Nibelungenlied hatte den Riesenhirsch als ›grimmen Schelch‹ apostrophiert und ebenfalls unter die Jagdbeute Siegfrieds eingereiht55. Irgendwann im Hochmittelalter mussten die letzten Exemplare umgekommen sein56. Der Mensch war dafür verantwortlich gewesen, so wie er zuvor schon die Höhlenbären und -hyänen ausgerottet hatte. Fügte es sich nicht in diese Feststellung, so von Eichwald schon im Jahre 1845, dass die Ausgräber neben den Mastodon-Skeletten, die man zeitgleich am Ufer des Missouri gefunden hatte, auch auf menschliche Pfeilspitzen gestoßen war57? Im Jahre 1860 gewinnt diese Annahme für von Eichwald weitere Plausibilität. Hatte man nicht auch in der Nähe der Mammute Jagdwerkzeuge gefunden? Waren die Menschen vielleicht auch an der Vertilgung dieser Tiere, der Mastodonten wie der Mammute, beteiligt gewesen und für ihr Verschwinden mitverantwortlich58? Johann von Brandt sollte den Faden von Eichwalds etwa ab 1860 aufnehmen und sich ebenfalls, wie andere deutsche Gelehrte im Zarenreich, den halbfossilen Säugetieren in Russland widmen, wenn auch mit mehr Energie als alle seine Vorgänger. Welches Echo war diesen Kreaturen in der alten Literatur zuteil geworden? Einen ganzen Katalog von Studien schenkt von Brandt dem Rentier, dem Elch und dem berühmten Auerochsen, den Blumenbach einst bos primigenius getauft hatte. Im Fall des Rentiers liefert die Sichtung der antiken und mittelalterlichen Quellen einen deprimierenden Befund. Fossile Knochen dieser Tiere hatte man in England, Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Italien und Belgien entdeckt und bis weit in das innere Eurasien59. Die ältesten Überreste des Rentiers waren gemeinsam mit den Resten von Wollnashorn, prähistorischem Flusspferd und Elefant gefunden worden, jüngere schon früh mit menschlichen Artefakten, vor allem mit Messern, Beilen und Jagdwerkzeugen60. Man hatte die Tiere schon intensiv in ganz Europa und in Teilen des russischen Asien bejagt, lange bevor die finno-ugrischen Völker sie hatten 54 Das seltsame Exponat findet sich beschrieben bei Sternberg, Rede des Präsidenten (1834), hier S. 48–50. 55 Das Nibelungenlied (1963), 16. Aventiure, Str. 937: Dar nâch sluoc er schiere einen wisent und einen elch, / starker ûre viere, und einen grimmen schelch. / sîn ros truoc in sô balde, daz ir im niht entran. / hirze oder hinden kunde im wenic engân. 56 Eichwald, Über den Riesenhirsch (1845), 24–28. 57 Ebd., 28–30. 58 Eichwald, Über die Säugethierfauna der neueren Molasse (1860), 403–405, 408 f., 481–483. 59 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Erste Abteilung, c. 1, S. 6–39. Zeitgleich mit der Arbeit von Brandts entstand die etwa zwanzigseitige Monographie von Grewingk, Über die frühere Existenz des Renthieres (1867). 60 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Erste Abteilung, c. 1, S. 9–13, 23 f.

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domestizieren können. In der Eiszeit waren sie bis nach Spanien und Großbritannien gewandert61. Die literarischen Zeugnisse konnten dokumentieren, wie groß die Verbreitungsgebiete des Rentiers noch bis zum Mittelalter gewesen waren62. Theophrast hatte es als tarandus in Europa zum ersten Mal skizzieren können63, Herodot es bei den vielleicht finno-ugrischen Budinen im Gebiet der Don-Kosaken lokalisiert64. Vier Exemplare hatten, wie Flavius Vopiscus berichtet, einst zur Zeit des Kaisers Aurelian den Wagen des Gotenkönigs Cannaba gezogen65. Auch im Mittelalter waren sie nicht auf ihren heutigen Lebensraum beschränkt geblieben66. Gaston Foix in seinem berühmten mittelfranzösischen ›Traité du Chasse‹, seinem Jagdtraktat, wollte noch Rentiere in den Pyrenäen gesehen haben67; die altnordische Orkney-Saga konnte bezeugen, dass die normannischen Jarls den Tieren auch in Schottland noch nachstellten68. Noch im 16. Jahrhundert hatte man sie, wie die Historiker des polnischen Raums gezeigt hatten, in Polen erlegen können69. Um 1200 mussten die Rentiere, die einst als ›polyklinische‹ Spezies auch in wärmeren Breitengraden beheimatet waren, also, wie von Brandt folgert, in Mitteleuropa ausgestorben sein. Albertus Magnus hatte sie bereits im 12. Jahrhundert ausschließlich in Skandinavien angesiedelt70. Verschwunden waren die Rentiere als Folge einer in allen Teilen Europas ausgeübten jahrhundertelangen Bejagung, die lediglich in Skandinavien, wie man von den Bewohnern Lapplands wusste, in eine Bewirtschaftung übergangen war. Die Vernichtung der Wälder in Mitteleuropa hatte ihrem Verschwinden vorgearbeitet, die Erfindung der Metallwaffen hatte das Ende ihrer großen Herden bedeutet71.

61 Ebd., Erste Abteilung, c. 1, S. 39–41. 62 Ebd., Erste Abteilung, c. 2, S. 42–58. 63 Theophrastus Eresus, Opera (1862), Bd. 3, S. 218, fragm. 172. 64 Herodot, Historiae (1960), Bd. 2, Liber IV, §§ 21–22, griechisch und englisch, S. 220 f. 65 Historia augusta (1992–2001), Bd. 5/1, Divus Aurelianus, c. 33, § 3, lateinisch und französisch, S. 44. 66 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Erste Abteilung, c. 3, S. 59– 64. 67 Gaston Phoebus, Le livre de la chasse (1976), Bd. 1, Handschrift, Livre III, c. 46, fol. 85rf., Bd. 2, Kommentar, Livre III, c. 46, S. 41. 68 Thormudus Torfaeus, Orcades (1697), Liber I, c. 36, S. 140, und in einer modernen Ausgabe zu den rauðdýri die Orkneyinga saga (1955), c. 102, S. 275. 69 Brincken, Memoire descriptif sur la forêt imperiale (1828), 50 f. Die älteren Quellen sammelt Conrad Gesner, De quadrupedibus viviparis (1551), De rangifero, S. 950–952. 70 Albertus Magnus, De animalibus libri XXVI (1920), Bd. 2, Liber XXII, tract. 2, c. 1, § 98, S. 1421 f. 71 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Erste Abteilung, c. 5–6, S. 75–99.

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Das gleiche Bild ergibt sich mit Blick auf den Auerochsen72. Fossil findet er sich im ganzen westlichen Eurasien bis nach Mitteleuropa73. Erwähnt wird er nicht nur bei Caesar oder Plinius74, sondern auch bei Pausanias oder bei Martial75, wo er als bubalus in Erscheinung tritt76. Servius berichtet in seinem Kommentar zur ›Georgica‹ Vergils von großen Herden, die noch die Pyrenäen bevölkern77. Das Frühmittelalter begegnet ihm allerorten. In den ›Gesta Caroli‹, in welchen laut Notker Karl gegen einen Ur antreten darf 78, bei Gregor von Tours, der Gunthram von Burgund einen Ur erlegen lässt79, oder bei Venantius Fortunatus sehen sich die merowingischen oder karolingischen Regenten mit ihnen konfrontiert80. Agathias Scholasticus lässt König Theudibert von Austrasien während der Jagd selbst zum Opfer eines marodierenden Wildrindes werden81. Getötet boten die Auerochsen den Fürsten eine gute Gelegenheit, ihren heroischen Charakter unter Beweis zu stellen. Der mittellateinische Dichter Ekkehard von Sankt Gallen kann den Auerochsen in seine Tischgebete, den ›Liber benedictionum‹, miteinschließen82. Adam von Bremen spricht von schwedischen Herden83, Fitzstephen in seiner Beschreibung Londons, der ›Descriptio Londini‹84, berichtet ebenso wie der Naturkundler Robert Sibbald zum Ende des 17. Jahrhunderts von den großen Wildrinderpopulationen Kaledoniens85, die vielleicht noch in den Ochsen des Chillingham Parks ihre letzten halbdomestizierten Erben besaßen. Bis zum frühen 16. Jahrhundert hatten sich die letzten ihrer Art noch in Polen und Litauen verzeichnet gefunden, wie man aus Sigismund Herberstein erfahren konnte86. Die großen Herden des Wildrindes waren als Folge der ununterbrochenen Jagd, wie von Brandt betont, aus

72 Vorarbeit hatte auch hier Karl von Baer geleistet, dazu Baer, Nochmalige Untersuchung der Frage, ob in Europa zwei Arten von wilden Stieren lebten (1840), Sp. 113–128. 73 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Dritte Abteilung, c. 1, S. 153–167, und auch Brandt, Über den vermeintlichen Unterschied (1866). 74 Caesar, Bellum gallicum (1997), Liber VI, § 26, Plinius, Naturalis historiae libri XXXVII (1976–2004), Bd. 8, Liber VIII, c. 15, § 38, lateinisch und deutsch, S. 40 f. 75 Pausanias, Description of Greece (1978–80), Bd. 4, Phocis, c. 13, § 1, griechisch und englisch, S. 436–439. 76 Valerius Martialis, Epigrammaton libri (1961), Liber I (De spectaculis), Nr. 23. 77 Servius Grammaticus, In Vergilii Carmina commentarii (1887), Bd. 3, In Vergili Georgicam, Liber II, V. 374. 78 Notker Balbulus, Gesta Caroli Magni (1959), S. 60, Z. 13 f. 79 Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten (1972), Liber X, § 10, lateinisch und deutsch S. 346 f. 80 Venantius Fortunatus, Opera poetica (1891), Liber VII, c. 4, V. 21 f. 81 Agathias Myrinaeus, Historiarum libri quinque (1969), Liber I, § 4, S. 20 f. 82 Ekkehard IV. von Sankt Gallen, Der Liber Benedictionum (1909), Ad menses, V. 124, S. 295. 83 Adam von Bremen, Bischofsgeschichte (1978), Liber IV. § 32, lateinisch und deutsch, S. 480 f. 84 William Fitzstephen, Description of the City of London (1772), 39 f. 85 Robert Sibbald, Scotia illustrata (1696), Pars II, S. 7 f. 86 Sigismund de Herberstein, Rerum Moscoviticarum commentaria (1557), Lithuania, fol. 117vf.

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Mitteleuropa verschwunden87. Als er im weiteren auf den europäischen Bison zu sprechen kommt, kann von Brandt die Ergebnisse von Eichwalds noch einmal bestätigen. Fossil verteilten sich die Überreste dieser Wildrinder über England, die Schweiz bis hinaus nach Schweden88. Jesuitische Reisende hatten Wisente an den Küsten des Schwarzen Meers gesehen oder sie89, wie Paulus Iovius, noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Russland vorgefunden90, Erasmus Stella, der erste moderne Historiograph Preußens91, und Nicolaus Husovianus, der ihnen ein berühmtes Gedicht widmen konnte, hatten sie als besondere Wildtiere Ostpreußens und Litauens verzeichnet92, Dimitrie Cantemir sie schließlich noch im 18. Jahrhundert im heimatlichen Rumänien verortet93. Alle diese Populationen waren vernichtet worden94. Auch die Elche waren wie die Urstiere in ihrem Anfang nicht auf Skandinavien beschränkt gewesen. Von Nordamerika war dieser Großhirsch nach Europa gewandert und hatte sich weiträumig dem Klima assimiliert, ohne dabei über die Erdepochen hinweg seine anfängliche Gestalt und Urform zu verändern95. Polybios hatte Elche in den Alpen gesichtet96, die Edlen des Karolingers Pippin hatten sich gerühmt, im Jahre 764 ein gewaltiges Elchtier in Schwaben erlegt zu haben, und auch andere mittelalterliche Regenten wie Otto I. hatten die Jagd auf ihn noch in ihre Regalien aufgenommen. Erst im 16. Jahrhundert waren, wie von Brandt in Erfahrung bringt, die Herzöge von Bayern genötigt gewesen, ihre Amtsgenossen in Preußen um jagdbare Exemplare zu bitten97. Fossil waren die Tiere in Frankreich und England gefunden worden98.

IV. Der letale Faktor Mensch Schritt für Schritt entsteht aus den alten Quellen für von Brandt wie vor ihm für von Eichwald das Bild einer europäischen Megafauna, deren Existenz der 87 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Dritte Abteilung, c. 2, S. 167–195. 88 Ebd., Zweite Abteilung, c. 1, S. 107–121. 89 Archangelo Lamberti, Relazione della Cholchide (1652), c. 33, S. 227. 90 Paulus Iovius, Libellus de legatione Basilii (1527), 12. 91 Erasmus Stella, De antiquitatibus Borussiae libri II (1518), Liber I, S. 20 f. 92 Mikalojus Husovianus, Raštai (2007), Carmen de statura bisontis, lateinisch, S. 11–64, litauisch, S. 111–155. 93 Dimitrie Cantemir, Historisch-geographische Beschreibung der Moldau (1973), Theil I, c. 7, S. 95. 94 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Dritte Abteilung, c. 2, S. 121–144. 95 Brandt, Beiträge zur Naturgeschichte des Elens (1870), c. 2–4, S. 8–21. 96 Zitiert bei Strabon, The Geography, Bd. 2, Liber IV, c. 6, § 10, griechisch und englisch, S. 145 f. 97 Brandt, Beiträge zur Naturgeschichte des Elens (1870), c. 8, S. 50–54, c. 10, S. 64–69. 98 Ebd., c. 5, S. 21–30.

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Ausbreitung der mitteleuropäischen Völkerschaften scheinbar im Wege stand und die ihrem Jagdtrieb, ja Vernichtungstrieb, wie von Brandt es formuliert, zum Opfer fallen musste. Der Weltschöpfer, so von Brandt schon im Jahre 1856, hatte die Großkatzen wie den Tiger einst in seiner überlegenen Vernunft den Pflanzenfressern zur Seite gestellt, um die Flora vor der Vernichtung zu schützen99. Mit dem letzten Zeitalter war der Mensch an ihre Stelle getreten, hatte die einst in ganz Europa vertretenen Raubtiere marginalisiert und an ihrer Stelle den Kampf gegen die Säugetierfauna aufgenommen. Das alte Gleichgewicht war verlorengegangen100. Ebenfalls schon im Jahre 1861 hatte sich von Brandts Kollege, Karl von Baer, in einem längeren Beitrag die Frage gestellt, auf welche Weise sich Großtierarten vollständig vom Erdboden tilgen ließen. Fast alle Ursachen, so von Baer, die man vorbringen konnte, mussten ins Leere greifen. Die natürliche Generationenfolge ließ zwar Individuen verschwinden, doch niemals eine Art, solange der Mensch nicht durch falsche Züchtungen eingriff. Anders als Rassisten wie Gobineau behaupteten, so von Baer, war Inzucht im Tierreich keine Ursache, die für das Aussterben einer ganzen Population verantwortlich sein konnte101. Auch Temperaturschwankungen und andere Umwälzungen, die dem Erdkörper zuzuschreiben waren, mochten Tierarten zwar zur Anpassung nötigen, doch konnten eine Spezies in der jüngeren Zeit nicht zur Gänze verschwinden lassen. Keine Tierart verfügte, wie von Baer betont, über eine Präformation, die ihre eigene Auslöschung miteinschloss102. Der einzige Faktor, der zur Vernichtung einer gesamten Spezies in der Lage war, war damit der Mensch selbst, wie er im Fall der Stellerschen Seekuh und des Auerochsen unter Beweis gestellt hatte103. Mit gleicher Kaltblütigkeit hatte der Mensch auch zahllose der Naturvölker unter seinen eigenen Artgenossen durch Brandtwein, Pocken und Lustseuche von der Erde tilgen können und sie veranlasst, Schnapps gegen Thierhäute einzutauschen104. Wichtig ist, dass von Brandt diese Erkenntnis von Baers, ähnlich wie vor ihm schon von Eichwald, immer weiter verallgemeinern konnte. Die Schlussfolgerung, zu der man in historischer Zeit aus den alten Zeugnissen gelangen musste und zu deren Bekräftigung man sich auf hunderte von Fossilien stützen konnte, die systematische Auslöschung der Säugetiere, sie ließ sich weiter generalisieren und auch auf andere Perioden der Erdgeschichte übertragen. Das Mammut mochte zwar in der klassischen Literatur keinen Widerhall gefunden haben – auch der odontotyrannus der antiken Zoologie konnte diese Lücke 99 Brandt, Untersuchungen über die Verbreitung des Tigers (1856), Vierter Abschnitt, S. 37 f. 100 Ebd., Dritter Abschnitt, S. 35 f. 101 Baer, Über das Aussterben der Thierarten (1861), hier Sp. 371 f., Sp. 374 f. 102 Ebd., Sp. 375 f. 103 Ebd., Sp. 382–396. 104 Ebd., Sp. 373 f.

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nicht füllen105 – doch war für von Brandt Mitte der sechziger Jahre offenkundig geworden, dass die Wollriesen, die man oft fast vollständig aus dem sibirischen Eis gezogen hatte, schon zur Jagdbeute der Frühmenschen geworden waren106. In den Mythen der Jukagiren, eines vielleicht noch mit den Samojeden entfernt verwandten Volkes, war nicht nur, wie von Brandt im Jahre 1866 deutlich macht, von ihnen als gewaltigen und bedrohlichen Kreaturen die Rede gewesen107, sondern auch von den Wollnashörnern, ihren Zeitgenossen, deren Echo man in ihren Mythen ebenfalls noch spüren konnte108. In Frankreich waren beide Säugetiere in Höhlen in deutlich erkennbaren Zeichnungen dargestellt worden. Auf einem Rentiergeweih, das man in den gleichen Erdschichten gefunden hatte, waren auch die eingeritzten Umrisse eines Mammuts erkennbar gewesen. Man wusste, wie die Einwohner Ceylons oder Südafrikas Elefanten oder Nashörner mit den einfachsten Mitteln, durch Speere, Netze oder Fallgruben, erlegen konnten; man musste sich nur in Erinnerung rufen, wie die alten Germanen in der Lage gewesen waren, große Wildrinder in Gruben zu fangen. Die Mammute mussten also die ersten Opfer des Menschen gewesen sein109. An ihre Vernichtung hätte sich, wie von Brandt betont, in einem zweiten Schritt die Auslöschung der Säugetierfauna des späteren Quartärs geschlossen, darunter der Höhlenhyänen und Großkatzen, dann bis in die geschichtliche Zeit das Verschwinden der Riesenhirsche, Bisone, Elche und Auerochsen, schließlich der Rentiere, Saigaantilopen, Wölfe, Biber, der europäischen Zobel, Eisfüchse und anderer Arten110. Wer die Reiseberichte Stellers oder Ilya Wossnessenskis konsultierte, so die Klage von Brandts, konnte auch von zahllosen weißen, tiefbraunen und dunkelschwarzen Seeottern an den Küsten der Kuri105 Brandt, Untersuchungen über die zoologische Bedeutung des odontotyrannos (1861), Sp. 335– 346. 106 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Vierte Abteilung, S. 220– 223. 107 Eine Zusammenfassung der mythologischen Reflektionen liefert Olfers, Die Überreste vorweltlicher Riesenthiere (1840), dort zu den Nashörnern S. 12 f. 108 Zu den Wollnashörnern schon Brandt, De Rhinocerotis antiquitatis structura (1849), hier zu den Mythen der Jukagiren bes. Appendix 3, S. 398–400. Allgemein auch noch zum späten Verschwinden der Wollnashörner Brandt, Über das Haarkleid des ausgestorbenen nordischen Nashorns (1870), Brandt, Observationes de Elasmotherii reliquiis (1864), § 13, S. 27 f., Brandt, Einige Bemerkungen über die Reste ausgestorbener Nashörner (1876), Sp. 81–84, Brandt, Nachträgliche Bemerkungen zur Monographie der tichorhinen Nashörner (1879), Sp. 260–265. 109 Brandt, Zur Lebensgeschichte des Mammuth (1866), hier bes. 602–604. Zum Mammut allgemein auch Brandt, Mitteilungen über die Gestalt und die Unterscheidungsmerkmale des Mammuth oder Mamont (1866), und Brandt, Einige Worte über die Haardecke des Mammuth (1870), 516–522. 110 Brandt, Diluviale europäisch-nordasiatische Säugethierfauna (1887) (aus dem Nachlass herausgegeben), 6–10, Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Vierte Abteilung, S. 220–227, 248–256, ebenso auch Brandt, Neue Untersuchungen über die in den altaischen Höhlen aufgefundenen Säugethierreste (1871), dort zu den Höhlenbären und ihrem Ende Sp. 155–157, zu den Wildpferden Sp. 182–189, und bes. das allgemeine Fazit Sp. 200–202.

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len, Kamtschatkas oder Nordjapans lesen. Wo waren diese Varianten des Mardertiers heute noch zu anzutreffen? Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts waren alle Otter der Pelzjagd zum Opfer gefallen111. Die Erfindung des Gewehrs und die fortschreitende Industrialisierung hatten zum Ende das langsame, doch für die Zukunft absehbare Verschwinden aller weiteren freilebenden Säugetiere eingeleitet112. In der letzten Dekade seines Lebens, in dem sich der Mut des Akademikers, der keinen Lehrstuhl mehr verlieren konnte, vielleicht mit der Frustration des Menschen vereinigte, der die Wildnis und ihre Bewohner mehr liebte als viele seiner Kollegen, wagt von Brandt die große Verallgemeinerung. Warum sollte sich im nemeischen Löwen des Herakles nicht ein Echo der felis spelea, des europäischen Höhlenlöwen, oder gar des Säbelzahntigers oder einer anderen prähistorischen Raubkatze finden lassen113? Hatte der Höhlenmensch in der Zeit des Pliozän vielleicht die Raubtiere jener Epoche, gemeinsam mit den Ur­ ele­fan­ten und den europäischen Flusspferden, ebenso schon auf dem Gewissen gehabt, wie sein Nachfahre die Mammute und Wollnashörner ausgerottet hatte114? Waren die antiken Mythen, in denen von Meermenschen und Sirenen die Rede war, nicht vielleicht als Hinweis auf frühe Seekuhpopulationen zu lesen, die der Mensch in alter Zeit ebenso vernichtet hatte wie im 18. Jahrhundert die Stellersche Seekuh115? Die Existenz der Menschheit war der Natur vielleicht zur beharrlichen Katastrophe geworden. Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sollten sich wieder Gelehrte finden, die die These der Petersburger Zoologen mit der gleichen Konsequenz vertreten. Der amerikanische Paläontologe Paul Martin hat für sie in diversen Sammelbänden den Terminus Overkill-Hypothese entworfen. 80 % der Tierarten mit einem Grundgewicht von mehr als hundert Kilogramm waren bis zum Jahr 12000 vor Christus in Europa und Asien ausgestorben, in Aus­tra­ lien sogar alle Kreaturen dieser Art; allein in Afrika blieben sie in größerem Umfang erhalten. War der Mensch für dieses Massensterben verantwortlich116? Die Frage wird auch heute noch eifrig diskutiert, wenn auch inzwischen mit großer Skepsis, und sie soll hier nicht beantwortet werden117. Von Eichwald und von Brandt hatten, ohne dass die moderne Literatur ihnen Rechnung getragen 111 Schon aus dem Nachlass Brandt, Beobachtungen über die verschiedenen Kleider der Seeotter (1881), bes. Sp. 21 f. 112 Brandt, Zoogeographische und paläontologische Beiträge (1867), Vierte Abteilung, S. 256. 113 Brandt, Diluviale europäisch-nordasiatische Säugethierfauna (1887), 23–26, 101 f. 114 Ebd., 146–148. 115 Brandt, Symbolae Sirenologicae (1849–49), Fasciculum III, Liber IV, § 14, S. 299 f. 116 Martin (1967), passim, und Martin (1984), passim. 117 Einen rezenten Forschungüberblick liefert Russel (2012), 176–206, unter jüngeren Arbeiten z. B. Brook/Bowman (2004), passim, und MacPhee/Flemming (1999), passim. Zum europäischen Raum und dem Verschwinden der Riesenhirsche und Wildpferde z. B. Stuart (1999) und Stuart/Konsintsev (2004), passim.

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hätte, eine eindeutige Antwort gegeben, die man erst hundert Jahre später wiederholen sollte. Durchmisst man die vorausgegangenen Hypothesen, die Paläontologen für das Verschwinden der zahllosen Tierarten entwickelt hatten, erkennt man rasch, wie allein die Sankt Petersburger Gelehrten mit ihrer These geblieben waren und wie sie es zunächst auch bleiben sollten118. Niemand hätte, vereinfacht gesprochen, im Unterschied noch zum 18. Jahrhundert in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Aussterben vieler Spezies noch geleugnet, doch hatten Großgelehrte wie William Buckland oder Louis Agassiz katastrophale Ereignisse, gewaltige Überschwemmungen, die man noch der biblischen Sintflut zur Seite stellen konnte, oder periodische Vereisungen als Erklärung vorgebracht119. Andere Geologen und Paläontologen wie Charles Lyell oder Edward Lartet wollten bis in die sechziger Jahre die Ursache vor allem in klimatischen Veränderungen sehen120. Keine dieser Hypothesen jedoch hätte von Brandt genügt, auch wenn er die Dynamik der Eiszeit und ihre Auswirkung auf die ›diluviale Fauna‹ nicht geleugnet hätte. Ein Zoologe wie John Fleming hatte schon in den achtzehnhundertzwanziger Jahren auf die fatalen Konsequenzen aufmerksam gemacht, die der Jagdtrieb des Menschen für das Ökosystem einzelner Regionen haben musste. Fast alle größeren Greifvögel waren in England in der Frühen Neuzeit ausgerottet worden, auch ein erheblicher Teil der größeren Raubtiere war auf den Britischen Inseln nicht mehr anzutreffen. Vielleicht, so Fleming, war auch das Verschwinden der früheren Großsäuger den weapons of the huntsmen zuzuschreiben121. Flemings Thesen waren jedoch ohne Echo geblieben und auch der schottische Gelehrte selbst war später nicht bereit gewesen, sie mit Blick auf frühere Erdperioden zu generalisieren, auch wenn sich Sintfluttheorien auf diese Weise, wie er glaubte, leicht widerlegen ließen122. Jacques Boucher de Perthes sollte in Abbeville im Verbund mit Tierknochen, die eindeutig menschliche Spuren aufwiesen, die berühmten ersten Faust­kei­le ausgraben123. Charles Lyell war im Anschluss, als er im Jahre 1863 mit den Ergebnissen Bouchers konfrontiert wurde, immerhin bereit gewesen, 118 Eine Skizze früher Hypothesen, die das Verschwinden der Arten erklären sollten, geben, wenn auch ohne die meisten der in dieser Studie genannten Autoren, die exzellenten Beiträge von Grayson (1984), 8–30, und Grayson (1980), 357–382, außerdem z. B. kurz Taylor (2004), 3–7. 119 Buckland, Reliquiae diluvianae (1824), 183 f., und passim, Agassiz, Études sur les glaciers (1840), c. 18, S. 306–314, programmatisch Agassiz, Über die Aufeinanderfolge (1843), 9–12, und passim, und Agassiz, Geological sketches (1867) c. 8, S. 208–212, und öfter. 120 Charles Lyell, Principles of Geology (1835), Bd. 1, c. 6, S. 141–159, oder noch Lartet/Christie, Notes on the reindeer (1875), passim. Hierzu auch Grayson (1984), 13–15, und Grayson (1980), 363–369. 121 Fleming, Remarks illustrative of the influence of society (1824), passim, Zitat S. 304. Hierzu auch Grayson (1984), 23, und Grayson (1980), 369–371. 122 Fleming, The geological deluge (1826), 233–239. 123 Boucher de Perthes, Antiquités celtiques (1847–64), dort z. B. zu Faustkeilen Bd. 1, c. 23, S. 475–500.

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angesichts der Fülle der Artefakte, die gemeinsam mit Tierknochen gefunden worden waren und der überwältigenden Gleichzeitigkeit von Mensch und frühen Säugetieren, dem Menschen zumindest eine Mitschuld an der Dezimierung der prähistorischen Fauna zuzuschreiben, doch konnte sich Lyells These unter seinen Kollegen keine weitere Geltung verschaffen124. Noch ein weiterer Anthropologe, John Lubbock, summierte die Artefakte, die man vor allem in England neben den frühen Säugetieren gefunden hatte, und nahm sie im Jahre 1865 zum Anlass, der Menschheit, wie zu erwarten, ein gewaltiges Alter zuzugestehen. Dass der frühe Mensch für das Verschwinden so zahlreicher Tierarten allerdings eine Mitverantwortung tragen könnte, erscheint Lubbock keiner weiteren Debatte wert125. Nur wenige Jahre später untersuchte Japetus Steenstrup in Dänemark die Kökkenmöddigar, die Abfallhaufen, die der skandinavische Frühmensch hinterlassen hatte, auf ihre Fauna und damit auf die Ernährungsgewohnheiten der alten Dänen hin126. Rigide Fleischfresser waren diese ersten menschlichen Bewohner des Nordens, wie Steenstrup folgert, sicherlich gewesen, doch ohne dabei ganze Tierarten in Gefahr zu bringen. Schon die Gleichzeitigkeit von jagendem Urmensch und Mammut war für den dänischen Paläontologen kaum noch zu beweisen; ein Einfluss des Menschen auf die Verbreitung von Mammuten oder Wollnashörnern daher ausgeschlossen. Fanden sich Überreste von Mammuten in den Höhlen des Frühmenschen, wie man in Tschechien geglaubt hatte, so handelte es sich in Wirklichkeit um Skelette, die der Urmensch älteren Erdschichten entnommen hatte, um sie, wie die Jukagiren Sibiriens, zu bearbeiten, doch nicht um Beutetiere127. Mammute und Wollnashörner mussten der Erde aus klimatischen Gründen abhanden gekommen sein. Ebenfalls in den siebziger Jahren hatte sich der Schweizer Ludwig Rütimeyer, ein Freund von Brandts, in seinen Untersuchungen der Schweizer Pfahlbautenkulturen daran gemacht, das Verhältnis von Frühmensch und alteuropäischer Fauna zu bestimmen. Anders als Steenstrup ist sich Rütimeyer sicher, dass die Urmenschen nicht nur mit Moschusochsen, Rentieren, Auerochsen und Eisfüchsen zu tun hatte, deren Populationen in Mitteleuropa längst verschwunden waren, sondern auch mit Mammuten und eiszeitlichen Löwen, diese Tiere auch bejagten und zu ihrer Verteidigung oder ihrem Lebensunterhalt zu töten wussten128. Bearbeitete Überreste ließen sich in den Schweizer Höhlen 124 Lyell, Geological evidences on the antiquity of man (1863), c. 9–12, S. 150–228. Hierzu auch Grayson (1984), 27 f., und Grayson (1980), 372–376. 125 Lubbock, Pre-historic times (1865), c. 8–10, S. 237–334. 126 Dazu z. B. Steenstrup, Les kjøkkenmøddings (1871), passim, Steenstrup, Kjøkken-Møddinger (1886), passim. 127 Steenstrup, Die Mammuthjänger-Station bei Předmost (1890), §§ 3–4, S. 9–21, auch schon dänisch als Steenstrup, Mammuthjaeger-Stationen ved Předmost (1889), dort §§ 3–4, S. 19–46. 128 Rütimeyer, Die Veränderungen in der Thierwelt (1876), 12–20, 44–46, 51–55, Rütimeyer, Über die Herkunft unserer Thierwelt (1867), 23–41, Rütimeyer, Untersuchung der Thierreste aus den

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und in der Umgebung der Pfahlbauten leicht entdecken. Verschwunden waren Rentiere oder Eisfüchse jedoch nicht, weil der Frühmensch seinen Jagdtrieb ausgelebt hatte, sondern aufgrund des mitteleuropäischen Klimawandels, als dessen Folge sich die ›circumpolare Fauna‹ nach Norden verlagern musste129. Andere Tierarten, Wildpferde und vor allem die Auerochsen, hatten sich durch Domestikation verändert und sich den neuen Bedingungen angepasst, die der Mensch diktiert hatte. Aus dem Ur waren die ›Primigenius-Race‹ und ihre Varianten entstanden, die archäologisch fassbaren Vorfahren der heutigen Hausrinder, die das Wildrind verdrängt hatten130.

V. Die Kontingenz der Selektion und die Notwendigkeit der Jagd: Darwin in Russland Um die Konsequenz, mit der die Sankt Petersburger aus der Lektüre der Antike heraus ihre Overkill-Hypothese vorbringen konnten, besser zu verstehen, sollte man jedoch noch genauer hinsehen. Rufen wir uns die intellektuellen Gräben in Erinnerung, die Mitte der sechziger Jahre, als von Brandt seine Thesen weitgehend unbeachtet vorbrachte, nicht nur an der Akademie zwischen den verschiedenen Fraktionen der Zoologie verliefen. Kommen wir zum Faktor der Kontingenz, oder vielleicht eher zum Versuch, ihn so weit als möglich aus dem Naturgeschehen zu verbannen. Auch an der Akademie von Sankt Petersburg hatten in den sechziger Jahren die Gedanken Charles Darwins Einzug gehalten; Schritt für Schritt sollte sich Darwins Lesart der Evolutionslehre auch in Russland verbreiten. 1867 war der Engländer von der Akademie zum korrespondierenden Mitglied ernannt worden131. In Charkov und Sankt Petersburg hatten Elija Mentschnikov und Alexander Kovalevsky begonnen, Darwins Lehren in der Embryologie zu etablieren, ohne dabei allerdings in der Akademie auf große Gegenliebe zu stoßen. Dem Bruder Alexanders, Vladimir Kovalevsky, einem der vielen tragischen Helden der russischen Wissenschaftsgeschichte, gelang es, die Evolutionstheorie auf die Fossilienkunde, das Kerngeschäft der deutsch-russischen Zoologen, anzuwenden. Ausgerechnet an den pferdeartigen Säugetieren, denen von Eichwald wenige Jahre vorher noch fast jede historische Veränderung abgesprochen hatte, konnte Kovalevsky Darwins Thesen exemplifizieren, in einer Serie von Veröffentlichungen in den gleichen Organen der Akademie, die auch von Brandts

Pfahlbauten (1860), hier bes. S. 44, 46, 60–62, Rütimeyer, Die Fauna der Pfahlbauten (1862), dort zu den Elchen S. 63–67, zu Bisonen und Uren S. 70–113. 129 Rütimeyer, Die Veränderungen in der Thierwelt (1876), 56–63, 78–88. 130 Ebd., 63–72, und Rütimeyer, Versuch einer natürlichen Geschichte des Rindes (1867), 130–154. 131 Vucinich (1988), 32 f.

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Arbeiten gedruckt hatten132. Über eine lange Entwicklungskette hinweg offenbarten die Skelettstruktur des Pferdes, wie Kovalevsky mit beeindruckendem Detailreichtum deutlich macht, seine Kiefer und seine Hufe, wie sich das Pferd immer neu seiner Umwelt adaptiert hatte und dabei dem Gesetz der Selektion unterworfen war. Frühere Spielarten des Pferdes waren verschwunden, weil sie sich im Lebenskampf nicht hatten bewähren können. Eine übergreifend zweckhafte, über den Zufall und seine selektive Falsifikation hinausgehende Ordnung in der Ausformulierung einer Spezies ließ sich nicht feststellen; die Art unterlag der kontingenten und graduellen Transformation, der ständigen Adaptation und war selbst wiederum aus anderen Arten hervorgegangen133. Gerade die Paläontologie, wie Kovalevsky betont, musste der neuen Evolutionstheorie die entscheidenden Beweissegmente liefern; für den Fossilienkundler besaß Darwin einen charme irrésistible, eine fast erotische Ausstrahlung134. Kovalevsky blieb im Kreise der Akademiker keine Einzelstimme; schon wenige Jahre später sollte Georg Seidlitz seine Gedanken zur Deszendenztheorie auch an die Universität Dorpat und damit ins Stammland der baltendeutschen Zoologen tragen135. Wie jedoch standen von Eichwald und von Brandt zur Evolutionslehre? Waren sie womöglich selbst in der zweiten Hälfte ihrer Karriere zu Anhängern Darwins geworden? Natürlich nicht; und beide konnten es aufgrund ihrer Enkulturation und ihrer fachlichen Interessen auch nicht mehr werden. Von Eichwald war in jungen Jahren Anhänger einer weitgehend lamarckistischen Transformationstheorie gewesen, doch in einem streng zweckorientierten Verständnis, das jeden Zufall ausschloss. Seine Habilitationsschrift, ›De regni animalis limititibus atque evolutionis gradibus‹ hat schon die russischsprachige Forschung, vor allem Boris Raikov und Semjon Mikulinskij, in die Tradition der harmonisierenden, zum Ende völlig notwendigen Transformationstheorien gestellt, wie sie gerade im russisch-deutschen Milieu des frühen 19. Jahrhunderts so beliebt waren136. August Michael Tauscher oder Afanasij Kawersniew

132 Die Bedeutung der Gebrüder Kovalevsky in der Etablierung der Lehren Darwins in Russland unterstreichen Vucinich (1988), 34–43, 64–67, Vucinich (1963–70), Bd. 2, S. 108–113, 115– 119, und Mikulinskij (1961), 97 f., 165, 364 f., 393. Zu Vladimir Kovalevsky im besonderen ist grundlegend Todes (1978), 99–165. 133 Kovalevsky, Sur l’anchitherium aurelianense (1873), passim, und Kovalevsky, Monographie der Gattung Anthracotherium (1876), passim, ND in: Kovalevsky, Complete Works (1980), dort Nr. 1 und 3. 134 Kovalevsky, Monographie der Gattung Anthracotherium (1876), 134–139. 135 Seidlitz, Die Darwin’sche Theorie (1871), und Seidlitz, Beiträge zur Deszendenz-Theorie (1876). 136 Raikov (1952–59), Bd. 2, S. 321–389, dort zur Schrift ›De regni animalis limitibus‹ S. 335–346, Mikulinskij (1961), 300–320, bes. 308–318, und kurz auch Mikulinskij (1972), 275–277, und Mikulinskij/Juskevica (1977), 230–233. Von Eichwald war gewiss kein ›early converted‹ des Darwinismus, wie Corsi (2005), 72, behauptet.

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hatten in diesen Jahren durchaus vergleichbare Ansätze vertreten137. Kontinuierlich musste sich die Schöpfung, so der Konsens unter den russischen Evolutionisten, in einer Abfolge von Stufen ausformen, um zum Ende im Menschen zur Vollendung zu gelangen138. Im Umfeld und im Gefolge Ludwig Okens waren ab 1830 darüber hinaus Zoologen wie Jakob Kaydanow und Pavel Gorjaninow aufgetreten, die sich für ein dynamisches System elementarer Vierheiten stark gemacht hatten139. Auch in vergleichbaren Entwürfen hatte eine in sich fluktuierende und sich stufenweise entfaltende Schöpfung im Zentrum der Spekulation gestanden140. Auch wenn nicht alle Naturwissenschaftler im Zarenreich diese Thesen billigen konnten, hatten sie doch gerade unter den Zoologen viele Vertreter gutgeheißen141. Für von Eichwald entsprang das Leben einem elementaren Urchaos, einem chaos animale, und hatte sich in zehn Stufen, wie er im Jahre 1821 schreiben konnte, über Einzeller, die Infusorien, Polypen und Strahlentiere bis hin zu den Säugetieren entwickelt142. Der ganze Prozess der Ausfaltung des Lebens war von einer fortschreitenden Festigung der Spezies und ihrer zunehmenden Komplexität gekennzeichnet. Ein Übergang zwischen den Naturreichen war für von Eichwald nicht ausgeschlossen; auch die Tierarten mussten am Anfang nicht deutlich voneinander getrennt existieren, denn eine fortschreitende Entfaltung des Lebens konnte auch einen transitus der species miteinschließen, wie von Eichwald deutlich macht143. Alle Entwicklung jedoch war dem festen Ziel einer vollkommenen Naturordnung unterworfen, die sich in den letzten Phasen der Erdgeschichte verfestigt haben musste. Kontingente Sprünge waren nicht vorgesehen, auch wenn es von Eichwald im Unterschied zu Lamarck durchaus für möglich hielt, dass einzelne Tierarten aussterben oder untergeordnete Zweige der Naturordnung ins Leere führten, anstatt eine höhere Spezies hervorzubringen144. In seiner ›Zoologia specialis‹, erschienen in Vilnius im 137 Zu Afanasij Kawersniew Raikov (1956), 32–42, und Raikov (1952–59), Bd. 1, S. 194–272, dort zur ›Abartung der Thiere‹ im besonderen S. 232–251. 138 Tauscher, Versuch, die Idee einer fortgeschrittenen Schöpfung (1818), dort bes. § 3, S. 5–10, oder schon Kawersniew, Von der Abartung der Thiere (1775), passim. 139 Zu Jakob Kaydanow Raikov (1952–59), Bd. 1, S. 315–364, zu Pavel Goraninow Raikov (1952– 59), Bd. 2, S. 390–479, dort zur Fortschrittsidee vor allem S. 406–438. 140 Kaydanow, Tetractys vitae (1813), passim; Goraninow, Primae lineae systematis naturae (1834), dort zum naturae progressus schon S. 1–9, und Goraninow, Tetractys naturae (1843), dort zum progressus § 8, S. 7–9. Noch einmal diskutiert vergleichbare Thesen unter den Balten z. B. Weisse, Ob Thier, ob Pflanze? (1868), passim, bes. S. 55–57. 141 Opposition zur Transformationstheorie kam von Seiten der konservativen Anhänger Linnés, so z. B. von Kutorga, Einige Worte gegen die Theorie (1839), 5 f., und passim. Ein Gegenmodell im Sinne Kutorgas, der als Zensor des Zaren fungierte, entwirft z. B. Trautvetter, Novum Systema Theriologicum (1843), hier bes. S. 453–456, und auch Trautvetter, Linné und die neueren Pflanzengelehrten (1853), 117 f. 142 Eichwald, De regni animalis (1821), Sectio I, §§ 1–5, S. 1–7, und passim. 143 Ebd., Sectio I, §§ 8–9, S. 10–12, § 14, S. 17 f. 144 Eichwald, Zoologia specialis (1829–31), Bd. 1, c. 1, §§ 37–38, S. 20–22.

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Jahre 1831, kann von Eichwald dieses System noch einmal vereinfachen und konzentriert es auf sechs grundlegende Evolutionsstufen, die sich wie die Äste eines Baumes bis zu den diversen Arten der Gegenwart ausfalten konnten145. Im Menschen, dem vollkommenen Schlusspunkt der Naturordnung, musste diese Entfaltung, deren Parameter wenig mit der Lehre Darwins gemeinsam hatten, ihr endgültiges Ende finden146. Vor allem Georg August Goldfuß, von Eichwalds Kollege unter den Paläontologen, dem er auch sonst viel verdankte, hatte diesem System Pate gestanden. Der Mensch, so Goldfuß in seinen ›Entwicklungstufen des Thieres‹ im Jahre 1817, war die Blüte geworden, die der Baum des Lebens an den Zweigen des Thierreiches getrieben hatte147. Welchen erkenntnistheoretische Funktion hatten dann die Fossilienkunde und ihre historischen Ausläufer? Eine nähere Bestimmung liefert von Eichwald in seiner Programmschrift aus dem Jahre 1821, dem ›Entwurf einer systematischen Oryktozoologie‹148. Hauptaufgabe der Paläontologie war es, die zweck­ orien­tier­te Ausrichtung der Naturordnung nachzuweisen und die zeitübergreifende Manifestation der Arten, der Urbilder und Urformen, in den Epochen der Erdgeschichte zu untermauern, von den Radiarien und Mollusken bis zu den Wirbeltieren149. Die letzte Periode der Erdgeschichte, die mit dem Auftreten des Menschen ihren Anfang nahm, war von Kontinuität bestimmt und ließ, wie von Eichwald deutlich macht, keine weiteren Veränderungen mehr zu150. Die Spezies waren in ihrer anfänglichen Genese zwar noch flexibel gewesen, doch hatten sie sich in ihrem Ausfaltungsprozess immer an einem festen Ziel orientiert. Zum Ende mussten die Arten ihren natürlichen Zweck erreicht haben, blieben in sich geschlossen und veränderten sich nicht mehr. Der Reichtum der Fossilien konnte diesen Prozess, der in einer unbeweglichen Vollkommenheit münden musste, plausibel machen151. Für eine zufällige Selektion und die mit ihr verbundene immer neue Anpassung an die Lebensumstände ließ dieser Ansatz keinen Raum. Dass die Knochenstruktur der Trilobiten, wie von Eichwald in den sechziger Jahren sarkastisch bemerkt, über eine Kette von kontingenten

145 Ebd., Bd. 1, c. 1, §§ 53–54, S. 32–34, c. 2, §§ 62–67, S. 39–45. Parallel dazu erschien von Eichwald, Über eine neue Eintheilung der Thiere (1833), ein Beitrag, der noch einmal die sechs Stufen der Naturordnung deutlich voneinander abgrenzen sollte. Zu diesem Werk Raikov (1952– 59), Bd. 2, S. 356–367, zu von Eichwalds Baumdiagrammen jetzt auch noch einmal Pietsch (2012), 40, 45 f. 146 Eichwald, Zoologia specialis (1829–31), Bd. 1, c. 2, § 66, S. 44, und auch schon Eichwald, De regni animalis limitibus (1821), Sectio II, S. 121. 147 Goldfuß, Ueber die Entwicklungsstufen des Thieres (1817), 56 f. 148 Zur ›Oryctozoologie‹ von Eichwalds Raikov (1952–59), Bd. 2, S. 330–332, und Mikulinskij (1961), 301–308. 149 Eichwald, Ideen zu einer systematischen Oryctozoologie (1821), Erste Abtheilung, § 1, S. 3 f. 150 Ebd., Erste Abtheilung, § 3, S. 5 f. 151 Ebd., § 4, S. 6 f.

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Adaptationen und Glücksfällen zum Skelett der Affen hätte führen sollen, wie Darwin alludierte, musste daher völlig absurd erscheinen152. Auch von Eichwalds Kontrahent von Brandt konnte der Evolutionslehre nur wenig abgewinnen. Ab 1865 begegnen wir Darwin, aber auch Erich Heckel oder August Weismann in seinen Werken mehrfach, doch nie in einem positiven Kontext. Zufällige Transformationen, wie seine Opponenten vorgebracht hatten, konnten, so von Brandt, eine Spezies nicht nachhaltig verändern und hinterließen keine dauerhafte Wirkung; sie mussten sich, wie von Brandt betont, in der Abfolge der Generationen wieder neutralisieren. Der Typus einer Spezies, die einmal eine vollkommene Gestalt erreicht hatte, sorgte für ihre eigenen Wiederherstellung. Aus einer Devianz konnte sich keine neue Art hervorbringen. Eine Kreatur wie der hydrax, der Klippschliefer, der die divergenten Merkmale eines Huftiers und eines Nagers in sich vereinigen konnte, ließ sich in seiner Urform in keine Deszendenztheorie integrieren. Übergangsvariationen, die eine Evolutionstheorie nahelegen müsste, waren nicht gefunden worden; Kategorien wie Zuchtwahl oder der Kampf ums Dasein mussten ins Leere greifen153. Andere Lebewesen, nicht zuletzt auch die geliebten Seekühe, konnten zeigen, so von Brandt, dass diese elementaren Urformen trotz der Abfolge der Erdepochen bestehen bleiben mussten und keiner weiteren Veränderung oder Adaptation unterlagen. Seit dem Miocän war sich die See­ kuh als existentia peculiaris gleichgeblieben154. Die Cetaceen, die walartigen Säugetiere, ließen sich nicht, wie Heckel postuliert hatte, in eine evolutionäre Kette einordnen, die mit den Zeuglodonten, dem Brachiosaurus, ihren Anfang genommen hätte, um in den heutigen Walen zu enden. Es fehlte zur Gänze, wie von Brandt deutlich macht, an fossilen Zeugnissen, die als Übergangsformen hätten dienen können155. Von Anfang an hatte es also vollständig ausdifferenzierte Urformen oder Urtypen der Zoologie gegeben, die in einzelnen Fällen über die Zeit hinweg eine weitere Ausdifferenzierung im Artensystem erhalten hatten. Eine übergreifende, graduelle und auf Selektion und Adaptation beruhende Evolution war aus der Natur nicht zu beweisen, sondern blieb, wie von Brandt betont, eine Theorie, um nicht zu sagen, ein bloßes Hirngespinst156. 152 Eichwald, Beitrag zur näheren Erkenntnis der in meiner Lethaea rossica beschriebenen Illaenen (1864), 52 f. 153 Brandt, Untersuchung über die Gattung der Klippschliefer (1869), Anhang, S. 121 f. 154 Brandt, Symbolae Sirenologicae (1849–69), Fasciculum III, Liber VII, c. 3, S. 368–371. Ähnlich, wenn auch weniger kategorisch mit Blick auf Elche Brandt, Beiträge zur Naturgeschichte des Elens (1870), c. 2, S. 8 f., auf Störe Brandt, Bericht über den ersten Theil meiner Beiträge zur Kenntnis der ganoiden Fischformen (1865), oder Variationen des Elefanten Brandt, De Dinotheriorum genere (1869), 34. 155 Brandt, Untersuchungen über die fossilen und subfossilen Cetaceen (1873), 10 f., und vorher Brandt, Über die Gruppierung der Gattungen der Ordnung der Sirenien (1869), passim, und Brandt, Über eine neue Classification der Bartenwale (1872), bes. Sp. 120–124. 156 Brandt, Untersuchungen über die fossilen und subfossilen Cetaceen (1873), 12, Brandt, Über eine neue Classification der Bartenwale (1872), Sp. 124.

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Zum Ende seines Lebens hatte von Brandt, wie sein Freund Ludwig Rütimeyer der Akademie berichtet, ein großes Projekt in Angriff genommen, eine umfassende Widerlegung Darwins157. Ergebnisse dieses Projektes, das ihn seit der Mitte der sechziger Jahre umgetrieben hatte, waren zwei Schriften, die beide unveröffentlicht blieben, mit den sprechenden Titeln ›Zur Vermittlung der Extreme der Transformationstheorie‹ und ›Kurzer Versuch einer Widerlegung der von Darwin zur Erklärung des Ursprungs der organischen Wesen aufgestellten Theorie‹. Nie war es Darwin gelungen, so von Brandt laut seinem Nachlassverwalter Rütimeyer, die »Abstammung der Arten und Familien aus den wenigen Urformen wirklich stichhaltig zu beweisen und nachzuvollziehen, wie aus dem Kampf ums Dasein und der natürlichen Zuchtwahl« aus einer Kette von Zufällen heraus das heutige Artenspektrum entstehen konnte. Es musste ein »allgemeines Entwicklungsgesetz für organische Wesen« existieren, das »aus dem Erdkörper durch eine zweck- und planmäßig wirkende Grundursache alles Seins mittels Praedestination« die Kreaturen hervorbrachte und in ihnen als »inhaerirende Befähigung« wirksam war. Anders als Darwin behauptet hatte, »entwickelten sich alle Körper planmäßig und als für einen gewissen Zweck bestimmte Wesen aus organischer Ursubstanz«, begonnen bei den »Gebilden, die den Protozoen ähnlich« waren. Viele verharrten auf dieser frühen Entwicklungsstufe, andere entwickelten sich durch die ihnen »innewohnende Bildungsfähigkeit« zu »höheren und höchsten Wesen«158. Von Eichwald hatte, wie wir gesehen haben, als Anhänger eines fast noch romantischen Lamarckismus begonnen; distanzieren sollte sich der baltische Adelige von diesen universalistischen Ansätzen auch später nie. Von Brandts deskriptiv-empirischer Fossilienkunde lag eine übergreifende Theorie im Sinne Darwins noch ferner; er blieb einer weitgehend statischen Weltbetrachtung verpflichtet, die er erst zum Ende seines Lebens systematisieren wollte. Auch wenn es von Brandts Rede von den Urformen vielleicht nahelegt, bündelten sich die antidarwinistischen Überzeugungen von Brandts und auch von Eichwalds nicht in der Archetypik Richard Owens, die in Russland kaum eine Rolle gespielt hatte. Auf den bekanntesten unter den englischen Opponenten Darwins und großen Fossilienkundler hatten sich die Akademiker allenfalls bezogen, um ihre Überlegungen um weitere Funde zu bereichern. Ebensowenig war von Brandt mit seinem Glauben an einen Kernbestand unveränderlicher Typen unter den russischen Paläontologen allein geblieben. Auch Her157 Auch Ludwig Rütimeyer konnte der darwinschen Lehre wenig abgewinnen und vertrat eine teleologische Transformationstheorie, dazu Rütimeyer, Die Grenzen der Thierwelt (1868), 27 f., 68–72, Rütimeyer, Beiträge zu einer natürlichen Geschichte der Hirsche (1880–83), 100. 158 Rütimeyer, Bericht über einen Theil des im Manuscript vorhandenen Nachlasses von Herrn Geheimrath Johann Friedrich Brandt (1881), hier Sp. 395–400, dort auch die Zitate aus dem Manuskript. Zu den weiteren handschriftlich hinterlassenen Werken gehörten laut Rütimeyer, Sp. 394–396, auch ›Bemerkungen über die Entwicklungsstufen der Hufthiere‹, die Rütimeyer allerdings aufgrund jüngerer Forschungen bereits für überholt hielt.

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mann Trautschold, ein weiterer langjähriger Mitstreiter von Eichwalds und von Brandts, macht sich fast zeitgleich zum Fürsprecher dieser Hypothese. Gewiss war der Artenbestand nie eine statische Größe gewesen, wie viele Gelehrte noch immer behaupten wollten, so Trautschold, doch musste eine völlig kontingente Fluktuation der Spezies, wie sie Darwin lehrte, für den Paläontologen ebenso unbeweisbar bleiben159. Zu groß waren die Lücken innerhalb der Kette der fixierbaren Funde, zu gering der Bestand an eindeutigen Übergangs- und Zwischengliedern, um einen auf Zufall beruhenden Artwandel beweisen zu können. Die Organismen mussten einem festen und inhärenten Zweckzusammenhang unterworfen sein und nicht allein äußeren Einflüssen. Gewisse Spezies konnten eine Transformation miteinschließen, andere jedoch blieben über die Epochen hinweg unveränderlich160. Doch wie war der Glaube an eine Versöhnung von Transformation und Kontinuität in den Kreis der deutsch-russischen Zoologen gelangt? Gemeinsamer Stichwortgeber von Eichwalds und von Brandts, aber auch Trautscholds war ein anderer Erbe des frühen 19. Jahrhunderts gewesen, Karl von Baer, wie auch Rütimeyer sofort deutlich wird, als er die posthumen Schriften von Brandts sichtet. Wie seine Landsleute hatte von Baer als Baltendeutscher eine Professur für Zoologie an der Akademie von Sankt Petersburg inne und war schon lange vorher in vielen Bereichen der theoretischen und praktischen Zoologie, in Sankt Petersburg, aber auch in Dorpat und Königsberg zur leitenden Figur seines Milieus geworden. Grob gefasst hatte von Baer, wie Boris Raikov und vor allem Thomas Schmuck in ihren Arbeiten gezeigt haben, folgende Meinung vertreten161: Ein Artenwechsel war bis zu einer gewissen Reichweite durchaus denkbar, doch konnte er nicht als generelles Gesetz postuliert werden. Die allgemeine Deszendenz aller Spezies blieb unbeweisbar. Vor allem die Selektionshypothese Darwins widersprach, wie von Baer deutlich macht, aller Erfahrung und durfte keine Gültigkeit beanspruchen. Zufällige Modifikationen konnten kein Erfolgsgarant im Überlebenskampf der Arten sein, denn die Natur agierte nach einem festen Plan, der zum Höheren streben musste162. Dem Zufall Darwins gegenüber stand, wie von Baer in vielen Beiträgen betont, die allgemeine Zweckhaftigkeit der Naturordnung, eine in allen Bereichen der 159 Trautschold, Die Trilobiten (1871), 298 f., 302. 160 Trautschold, Die langlebigen und die unsterblichen Formen (1874), 166 f., 170 f. Freilich konnten andere Mitglieder der Akademie in Moskau die Mitglieder zeitgleich auffordern, nun endlich der darwinistischen Theorie die noch fehlenden empirischen Belege zu verschaffen, dazu Kawall, Zur Abstammungslehre (1873), passim. 161 Zur Darwinkritik Karl von Baers allgemein und zu von Baers Reetablierung der Teleologie in den Naturwissenschaften und der Zoologie im besonderen ist grundlegend Raikov (1952–59), Bd. 2, S. 145–150, Raikov (1956), 68–71, Raikov (1968), 364–382, 404–409, und jetzt Riha/ Schmuck (2011), 180–211, 230–254, außerdem weitgehend aus Raikov (1952–59) Mikulinskij (1961), 331–391, bes. 385–390. 162 Am ausführlichsten kritisiert von Baer Darwin in Baer, Über Darwin’s Lehre (1876), ND (2003), Bd. 2, dort vor allem die Zusammenfassung c. 6, S. 455–480.

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Wirklichkeit anzutreffende Teleologie, für die von Baer sich direkt auf Aristoteles berufen konnte. In seinen Augen musste sie mit einer fortschreitenden Vergeistigung aller Kreaturen zusammenfallen163. In seiner Genese, wenn auch nicht in seiner Zweckhaftigkeit formte der Mensch die entscheidende Ausnahme der ganzen organischen Wirklichkeit und ließ sich nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Spezies bringen. Übergangskreaturen zwischen Mensch und Tier hatten sich nicht finden lassen und selbst eine spontane Generation, die dem Geistigen in der Natur entgegenarbeitete, war für von Baer im Fall des Menschen nicht ausgeschlossen. Von Baer sollte diese Kernthesen, die sich für ihn schon in den fünfziger Jahren abgezeichnet hatten, als auch von Brandt und von Eichwald sich vermehrt der Fossilienkunde zuwandten, wieder und wieder repetieren, mit weiterem empirischem Material absichern und in den siebziger Jahren schließlich zu einer fast dreihundertseitigen, gegen Darwin gerichteten Programmschrift bündeln. Dass in diesem Werk auch die Thesen von Brandts zu den Cetaceen und ihren unveränderlichen Urformen dankbare Verwendung finden konnten, wundert sicher nicht weiter164.

VI. Fazit Die historische Zoographie der Akademiker von Sankt Petersburg und die mit ihr verflochtene Rekonstruktion und Erklärung der Massenextinktionen, vor allem aber die Entscheidung, im Auftreten des Menschen den wichtigsten letalen Faktor aller anderen mit ihm konkurrierenden Spezies zu sehen, erscheint vor diesem Hintergrund, der Philosophie von Baers, wie man zum Abschluss sagen kann, in einem besonderen Licht. Die aus heutiger Perspektive so moderne, wenn auch diskussionswürdige Overkill-Hypothese, wie sie von Brandt formuliert hatte, entsprang einer konservativen wissenschaftlichen Haltung; sie verselbständigte sich vor allem, weil sie eine Möglichkeit bot, der Evolutionstheorie argumentativ zu begegnen. Der eichwaldsche Riesenhirsch und sein monumentales, stoffwechselintensives Geweih galt lange Zeit als das Paradigma einer evolutionären Sackgasse und konnte für das Aussterben der Kreatur vielleicht verantwortlich gemacht werden165. Ursachen wie eine missglückte oder sich nach anfänglichem Erfolg in ihr Gegenteil verkehrende Adaptation konnten in einem zweckorientierten System der Urformen jedoch 163 Allgemein Baer, Über den Zweck in den Vorgängen der Natur, ND (2003), Bd. 2, S. 49–105, und noch einmal Baer, Über Zielstrebigkeit, ND (2003) Bd. 2, S. 170–234. Eine ausführliche Kritik dieser Wiedereinführung der universalen Zweckzusammenhänge von Seiten von Baers liefert z. B. Seidlitz, Beiträge zur Deszendenz-Theorie (1876), 40–60. 164 Baer, Über Darwin’s Lehre (1876), 303 f. Direkt gegen diese Vermutung von Brandts wendet sich daher Seidlitz, Beiträge zur Deszendenz-Theorie (1876), 83–85. 165 Zur evolutionären Beurteilung des Riesenhirsches klassisch Gould (1973).

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keine Rolle spielen. Wo keine natürliche Selektion stattfinden durfte, Artensprünge sich minimierten und auch klimatische Gründe, die auch von Brandt oder von Eichwald für sich genommen nicht geleugnet hätten166, keine ausreichende Erklärung boten, blieb der Mensch als wesentlicher Garant der Veränderung zurück. Ein zweckorientiertes System, das auf ihn als letzten notwendigen Gegenstand ausgerichtet war und evolutionäre Zufälle ausschloss, musste den Menschen auch im Schlechten zur Hauptfigur des globalen Dramas erklären. Die in ihrem Kern zweckhafte Schöpfungsordnung blieb gerade dadurch gewahrt, dass allein der freie Wille des Menschen sie mit Füßen treten konnte. Dass der Mensch heute, unabhängig davon, ob man Darwin zu seinem Schutzheiligen erklärt oder es mit älteren Göttern hält, tatsächlich zu jener Katastrophe geworden ist, zu der ihn die Akademiker schon im 19. Jahrhundert erklärt hatten, und der Welt in seinem Vertilgungswahn und seinen Fleischfabriken zur klimatischen Nemesis wird, scheint die konservativen Theoretiker heute gleichsam empirisch zu bestätigen, auch wenn es ihre Hypothese mit Blick auf die Vergangenheit nicht beglaubigt. Eine strukturkonservative, in ihrem Kern noch der Romantik verpflichtete Naturphilosophie war auf diese Weise dennoch zum Urheber einer modernen Hypothese geworden, nicht zuletzt weil ihre Vertreter im Unterschied zu heutigen Zoologen bereit gewesen waren, sich auf die Literatur der Antike und des frühen Mittelalters einzulassen und keine Freunde des Zufalls waren. Im Fall der Akademiker von Sankt Petersburg gehörte zu den weiteren Effekten der proklamierten menschlichen Katastrophe auch eine schon postmoderne Forderung: Dem Vernichtungstrieb des Menschen musste durch Naturschutzgebiete, Fangquoten oder strikte Jagdgesetze zumindest Aufschub gegeben werden167. Man darf dies zu den weiteren Paradoxien zählen, Zufall war es sicher nicht.

166 Zu klimatischen Veränderungen als Faktor des Artwandels noch posthum Brandt, Über die Vogelfauna (1891), hier S. 242–245. Dass auch völlig kontingente Faktoren wie eine plötzliche Kohlendioxidfreisetzung in einem See die Fauna eines ganzen Ökosystems vernichten konnten, erfährt von Brandt selbst, dazu Brandt, Zweiter Bericht der südrussischen zoologisch-paläontologischen Expedition (1861), Sp. 74–88. 167 Auch von Baer war sich bewusst, dass Fische zum Laien ihre festen Biotope benötigten, wenn der Fang nicht zum Erliegen kommen sollte, so Baer, Über Flüsse (1876) ND (2003), 148 f., und auch Riha/Schmuck (2011), 50–53.

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von Brandt, Johann Friedrich, »Über den Zahnbau der Stellerschen Seekuh (Rytina Stelleri), nebst Bemerkungen der in zwey Unterfamilien zu zerfällenden Familie der Pflanzenfressenden Cetaceen«, in: Mémoire de l’Académie des Sciences de St. Petersbourg 2 (1833), 103–118. von Brandt, Johann Friedrich, »Conspectus monographiae Crustaceorum oniscostorum Latreillii«, in: Bulletin de la Societé imperiale des naturalistes de Moscou 6 (1833), 171–193. von Brandt, Johann Friedrich, »Tentaminum quorundam monographicorum insecta myriopoda Chilognatha Latr. Spectantium Prodromus«, in: Bulletin de la Societé imperiale des naturalistes de Moscou 6 (1833), 194–209. von Brandt, Johann Friedrich/Julius Theodor von Ratzeburg, Abbildung und Beschreibung der in Deutschland wild wachsenden und in Gärten im Freien ausdauernden Giftgewächse, nach natürlichen Familien erläutert, Berlin 1838. von Brandt, Johann Friedrich, Versuch einer kurzen Naturgeschichte des Dodo, Sankt Petersburg 1848. von Brandt, Johann Friedrich, De Rhinocerotis antiquitatis, seu thichorhini, seu Pallasii structura externa et osteologia observationes (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIe série 7, 2), Sankt Petersburg 1849. von Brandt, Johann Friedrich, Symbolae Sirenologicae quibus praecipue Rhytinae historia naturalis illustrantur (3 Fasc.), Sankt Petersburg 1849–1869. von Brandt, Johann Friedrich, Beiträge zur näheren Kenntnis der Säugethiere Europas, Sankt Petersburg 1855. von Brandt, Johann Friedrich, Untersuchungen über die Verbreitung des Tigers (Felis tigris) und seine Beziehungen zur Menschheit, Sankt Petersburg 1856. von Brandt, Johann Friedrich, Kratkoe ocertanie sravnitelnoj anatomii s prisoedineniem istorii razvitija zivotney Lekcij Akademika F. F. Brandta citanyja im v. Med.-Chir. Akademii, Sankt Petersburg 1858. von Brandt, Johann Friedrich, »Ist der Nabus des Plinius identisch mit seinem Camelopardalis?«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 3 (1860), Sp. 353–357. von Brandt, Johann Friedrich, »Untersuchungen über die zoologische Bedeutung des odontotyrannos und des skolex der alten griechischen und römischen Schriftsteller«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 4 (1861), Sp. 335–346. von Brandt, Johann Friedrich, »Zweiter Bericht der südrussischen zoologisch-paläontologischen Expedition«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 4 (1861), Sp. 74–88. von Brandt, Johann Friedrich, »Bemerkungen über die Verbreitung und Vertilgung der Rhytina«, in: Mélanges biologiques tirés du Bulletin de l’Académie impériale de Sciences de Saint-Petersbourg 4 (1863), 558–564. von Brandt, Johann Friedrich, Observationes de Elasmotherii reliquiis (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIIe série 8, 4), Sankt Petersburg 1864. von Brandt, Johann Friedrich, Bemerkungen über die Classification der kaltblütigen Rückenmarkthiere zur Beantwortung der Frage Was ist ein Fisch? (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIIe série 9, 3), Sankt Petersburg 1865.

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von Brandt, Johann Friedrich, »Bericht über den ersten Theil meiner Beiträge zur Kenntnis der ganoiden Fischformen«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 8 (1865), Sp. 536–538. von Brandt, Johann Friedrich, »Noch einige Worte über die Vertilgung der Rhytina«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 9 (1866), Sp. 279–282. von Brandt, Johann Friedrich, Nochmaliger Nachweis der Vertilgung der nordischen oder Stellerschen Seekuh (Rhytina borealis), Moskau 1866, Sonderdruck aus: Bulletin de la Societé imperiale des naturalistes de Moscou 39 (1866), 572–597. von Brandt, Johann Friedrich, »Zur Lebensgeschichte des Mammuth«, in: Mélanges biologique tirés du Bulletin de l’Académie de Saint-Petersbourg 5 (1866), 595–605. von Brandt, Johann Friedrich, »Mitteilungen über die Gestalt und die Unterscheidungsmerkmale des Mammuth oder Mamont (Elephas primigenius)«, in: Mélanges biologique tirés du Bulletin de l’Académie de Saint-Petersbourg 5 (1866), 567–595. von Brandt, Johann Friedrich, »Über den vermeintlichen Unterschied des caucasischen Bison, Zubr, oder sogenannten Auerochsen vom lithauischen (Bos bison seu Bonasus)«, in: Bulletin de la Societé imperiale des naturalistes des Moscou 39 (1866), 252–259. von Brandt, Johann Friedrich, »Einige Schlussworte zum Nachweis der Vertilgung der Rhytina«, in: Bulletin de la Societé imperiale des naturalistes de Moscou 40 (1867), 23–38. von Brandt, Johann Friedrich, »Neue Untersuchungen über die systematische Stellung und die Verwandtschaften des Dodo (Didus ineptus)«, in: Mélanges biologiques tirés du Bulletin de l’Académie impériale des Sciences de St. Pétersbourg 6 (1867), 233–253. von Brandt, Johann Friedrich, »Ergänzende Mitteilungen zur Erläuterung der ehemaligen Verbreitung und Vertilgung der Stellerschen Seekuh«, in: Mélanges biologiques tirés du Bulletin de l’Académie impériale des Sciences de St. Pétersbourg 6 (1867), 223–232. von Brandt, Johann Friedrich, Zoogeographische und paläontologische Beiträge, Sankt Petersburg 1867. von Brandt, Johann Friedrich, Wenige Worte in Bezug auf die Erwiderungen in Betreff der Vertilgung der nordischen Seekuh, Moskau 1868, Sonderdruck aus: Bulletin de la Societé imperiale des naturalistes des Moscou 40 (1867), 508–524. von Brandt, Johann Friedrich, Untersuchung über die Gattung der Klippschliefer in anatomischer und verwandtschaftlicher Beziehung, nebst Bemerkungen über ihre Verbreitung und Lebensweise (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIIe série, 14, 2), Sankt Petersburg 1869. von Brandt, Johann Friedrich, De Dinotheriorum genere elephantidorum familiae adjungendo necnon de elephantidorum generium craniologia comparata (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIIe série 14, 1), Sankt Petersburg 1869. von Brandt, Johann Friedrich, »Über die Gruppierung der Gattungen der Ordnung der Sirenien«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 13 (1869), Sp. 21–23. von Brandt, Johann Friedrich, »Ergänzungen und Berichtigungen zur Naturgeschichte der Familie der Alciden«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 14 (1870) Sp. 449–497. von Brandt, Johann Friedrich, Beiträge zur Naturgeschichte des Elens, in Bezug auf seine morphologischen und paläontologischen Verhältnisse, so wie seine geographische Verbreitung, nebst Bemerkungen über die miocäne Fauna und Insectenfauna des

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Hochnordens (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIIe série 16, 5), Sankt Petersburg 1870. von Brandt, Johann Friedrich, »Über das Haarkleid des ausgestorbenen nordischen (büschelhaarigen) Nashorns (Rhinoceros tichorhinus)«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 14 (1870), Sp. 353–355. von Brandt, Johann Friedrich, »Einige Worte über die Haardecke des Mammuth in Bezug auf gefällige schriftliche Mitteilungen des Herrn Professors O. Fraas über die im Stuttgarter Königlichen Naturalienkabinett aufbewahrten Haut- und Haarreste des fraglichen Thiers«, in: Mélanges biologique tirés du Bulletin de l’Académie de Saint-Petersbourg 7 (1870), 516–522. von Brandt, Johann Friedrich, »Neue Untersuchungen über die in den altaischen Höhlen aufgefundenen Säugethierreste, ein Beitrag zur quaternären Fauna des Russischen Reiches«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 15 (1871), Sp. 147–202. von Brandt, Johann Friedrich, »Über eine neue Classification der Bartenwale (Balaenoidea) mit Berücksichtigung der untergegangenen Gattungen derselben«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 17 (1872), Sp. 113–124. von Brandt, Johann Friedrich, Untersuchungen über die fossilen und subfossilen Cetaceen Europas (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIIe série 20, 1), Sankt Petersburg 1873. von Brandt, Johann Friedrich, Ioannis Friderici Brandtii index operum omnium, Sankt Petersburg 1876. von Brandt, Johann Friedrich, »Untersuchungen über das Kaninchen (Lepus cuniculus) in antiquarisch-linguistischer, zoogeographischer und paläontologischer Beziehung«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 21 (1876), Sp. 1–21. von Brandt, Johann Friedrich, »Einige Bemerkungen über die bisher in Rußland aufgefundenen, drei verschiedenen Arten angehörenden Reste ausgestorbener Nashörner«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 21 (1876), Sp. 81–84. von Brandt, Johann Friedrich, Bericht über die Fortschritte, welche die Zoologischen Wissenschaften den von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg von 1831 bis 1879 herausgegebenen Schriften verdanken, Sankt Petersburg 1879. von Brandt, Johann Friedrich, »Nachträgliche Bemerkungen zur Monographie der tichorhinen Nashörner«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 25 (1879), Sp. 260–265. von Brandt, Johann Friedrich, »Beobachtungen über die verschiedenen Kleider der Seeotter (Enhydra marina), nebst einigen Bemerkungen über ihre geographische Verbreitung«, in: Bulletin de l’Académie impériale des sciences de Saint-Petersbourg 27 (1881), Sp. 15–22. von Brandt, Johann Friedrich, Diluviale europäisch-nordasiatische Säuegethierfauna und ihre Beziehungen zum Menschen (Mémoires de l’Académie impériale des sciences de St. Pétersbourg – VIIe série 35, 10), Sankt Petersburg 1887. von Brandt, Johann Friedrich, »Über die Vogelfauna der Aleuten, Kurilen und der russisch-amerikanischen Kolonien«, in: Journal für Ornithologie 39 (1891), 235–271. Baron von Brincken, Julian, Memoire descriptif sur la forêt imperiale de Białowieża en Lithuanie, Warschau 1828.

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Bernd Roling

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Zufall und Teleologie. Von Darwin zu Spinoza und zurück Francesca Michelini

1. Zufall und Notwendigkeit: Ende einer »alten philosophischen Streitfrage«? Zufall und Notwendigkeit. Das ist der Titel des berühmten Buches von Jacques Monod aus dem Jahr 1970, das Buch, das die vielleicht größte Debatte in der wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Welt seit 1859, das heißt also seit der Veröffentlichung von Darwins Entstehung der Arten ausgelöst hat. Mit größerem Recht wird die Natur für Monod nach der modernen Synthese von Darwinismus und Genetik durch die Kombination dieser beiden Faktoren erklärbar: Zufall und Notwendigkeit. Das anfängliche Ereignis, die Mutation, ist ein Zufall: Wenn es einmal in die Lebewesen überschrieben wird, wird es wiederholt und in Milliarden Kopien übertragen, wobei es in den Bereich der natürlichen Selektion übergeht, in den Bereich der Notwendigkeit. Die natürliche Selektion wirkt bei zufälligen Mutationen einer Struktur, die sich durch Invarianz – die Fähigkeit, die eigene Strukturnorm (die eigene DNS) von einer Generation zur nächsten zu bewahren – und durch Teleonomie – die Fähigkeit, diesen Invarianzinhalt an die nachfolgenden Generationen zu vererben – auszeichnet.1 Die Neuheit findet also in der Natur dank dem Zufall statt oder, besser gesagt, dank einem Zufall, der zur Ordnung »gezähmt« wird. Der Zufall hat die Aufgabe, zu erneuern, die Notwendigkeit die Funktion, die Neuigkeit zu bewahren. Obwohl in der Absicht Monods beide – sowohl der Zufall als auch die Notwendigkeit – dazu beitragen, die Selektion zu erklären,2 bestand dennoch einer der Hauptvorwürfe, die ihm gemacht wurden – und man könnte lange darüber diskutieren, inwiefern er gerechtfertigt ist – darin, dass er dem Zufall eine wahre Allmächtigkeit eingeräumt und daraus eine Art pessi­mis­tisch-exis­ten­

1 2

Vgl. Monod (1971), 107: »der Zufall wird durch den Invarianzmechanismus eingefangen, konserviert und reproduziert und so in Ordnung, Regel, Notwendigkeit verwandelt«. Am Anfang seines Werkes zitiert Monod das berühmte Fragment von Demokritos, nach dem »alles, was existiert, das Ergebnis von Zufall und Notwendigkeit ist«. Monod (1971).

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zia­lis­ti­scher Philosophie abgeleitet habe, formuliert in Sätzen wie die folgenden: Einzig und allein der Zufall [liegt] jeglicher Neuerung, jeglicher Schöpfung in der belebten Natur zugrunde […]. Der reine Zufall, nichts als Zufall die absolute, blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution.3

Gegen die Erweiterung der dem Zufall zugeschriebenen Rolle wollten einige der Begründer der modernen Evolutionstheorie, wie zum Beispiel Theodosius Dobzhansky, Ernst Mayr und kürzlich Francisco Ayala unterstreichen, dass in der Selektionstheorie Zufall und Notwendigkeit eine absolut paritätische Funktion innehaben. Gerade aus diesem Grund, so schreibt Mayr nicht ohne eine gewisse Rhetorik, habe die Evolution ein für allemal die alte (schon griechische) Streitfrage beendet, ob der Zufall oder die Notwendigkeit in den Ereignissen vorherrschen: [N]atural selection, unexpectedly, provided the solution to an old philosophical problem. An argument had been raging since the days of the Greek philosophers as to whether the events of this world are due to chance or to necessity. As far as evolution is concerned, Darwin put an end to this controversy. In short, owing to the two steps nature of natural selection, evolution is the result of both, chance and necessity. There is indeed a great deal of randomness (›chance‹) in evolution, particularly in the production of genetic variations, but the second step of the natural selection, whether selection or elimination, is an antichance process. The eye, for instance, is not a chance product, as so often claimed by anti-darwinian, but the result of the favored survival of those individuals, generation after generation, who had the most efficient structures for vision. [Hervorh. F. M.]4

Die evolutionäre Neuigkeit und die Kreativität des gesamten Prozesses können nur ausgehend von diesen »two steps« der Evolution verstanden, wie auch anhand der folgenden Zitate von Dobzhansky und Ayala gezeigt wird: Evolution is neither necessary, in the sense of being predestined, nor is a matter of chance or accident. It is governed by natural selection, in which ingredients of chance, and antichance are blended in a way which makes the dichotomy meaningless, and which renders evolution to be a creative process […] Mankind appeared neither by chance nor by predestination. It is a product of the creative process of evolution.5 Mutation and selection have jointly driven the marvelous process that, starting from microscopic organism, has yielded orchids, birds and human. The theory of evolution conveys chance and necessity, randomness and determinism, jointly 3

4 5

Monod (1971), 106. Vgl. auch Monod (1971), 112, wo der Mensch – mit Akzenten die fast an den Pessimismus von Giacomo Leopardi erinnern – mit einem »Zigeuner am Rande des Universums […] das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden und Verbrechen« verglichen wird. Zur »tragischen« Philosophie Jaques Monods vgl. insbesondere Amery/Prigogine (1971). Mayr (2001), 120. Dobzhansky (1974), 136.

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enmeshed in the stuff of life. This was Darwin’s fundamental discovery, that there is a process that is creative, although not conscious.6

Wenn es heute also einerseits ganz selbstverständlich erscheint, dass die Evolution nicht ausschließlich als ein zufälliger Prozess zu verstehen ist, so stößt man doch auf größere Schwierigkeiten, wenn man nicht nur bestimmen will, welche Rolle der Zufall spielt, sondern auch was eigentlich unter diesem Begriff verstanden werden soll. Man könnte hier aufgreifen und erweitern, was der Schriftsteller Hans Meyer (alias Jean Améry) in einer Diskussion mit seinem Freund, dem Physiker Ilya Prigogine, über Monods Buch bemerkte: Es finde sich in den Schriften der meisten Wissenschaftler keine »logische Definition«7 des Zufalls. In der wissenschaftlichen Literatur werden im Gegenteil unterschiedliche Bedeutungen des Wortes benutzt und häufig ungewollt übereinander geschoben, ja sogar innerhalb der Überlegungen desselben Wissenschaftlers, wie zum Beispiel »zufällig«, »unabsichtlich«, »unberechenbar«, »ungeordnet«, »ungesteuert«, »wahrscheinlich«, »stochastisch«, »unwahrscheinlich«, »nicht-geplant«, »nicht-gemeint«, »unsicher«, »unbestimmt«, »unvorhersehbar« usw.8 Beschränkt man sich auf die oben genannten Autoren und Zitate, dann finden wir bei Monod als Synonym von Zufall »blinde Freiheit«, Mayr und Ayala »randomness«, Dobzhansky »accident«. Ohne hier eine komplexe und kontroverse Frage vereinfachen zu wollen, möchten wir versuchen, im nächsten Abschnitt die Aufmerksamkeit auf zwei allgemeinere Bedeutungen von Zufall zu lenken, die unter den Interpreten am weitesten verbreitet sind, d. h. fast auf eine Art von Grundkategorien, in denen die unterschiedlichen Bedeutungen, die gerade erwähnt wurden, zurückverfolgt werden können.

2. Zufall als »das Nicht-Gekannte« und Zufall als »das Unorientierte« (1) Die erste Bestimmung meint, dass der Begriff ›Zufall‹ etwas bezeichnet, das zweifellos Ursachen hat, dessen Verursachung jedoch so komplex ist, dass sie nicht analysiert werden kann. Das heißt: Ein Ereignis wird zufällig genannt, nicht weil es nicht kausal ist, sondern weil wir nicht in der Lage sind, die Ursachen, die es hervorgerufen haben, zu erkennen. Der so aufgefasste Zufall, der als ›das Nicht-Gekannte‹ bezeichnet werden könnte, bringt nicht unbedingt deterministische Implikationen mit sich, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Die deterministische Variante (A) – nach der man, vorausgesetzt, dass 6 7 8

Ayala (2007), 8567. Amery/Prigogine (1971), 1110. Vgl. Soontiëns (1991), 135.

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man in der Lage wäre, die Reihe der Ursachen, die ein bestimmtes Ereignis erzeugt haben, rekonstruieren zu können, nicht mehr von ›Zufall‹ reden könnte, sondern vielmehr von einem Ereignis, das notwendigerweise geschieht – ist meiner Meinung nach nur eine der Implikationen dieser Bedeutung von Zufall. Diese Implikation tritt zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Naturalisten in Erscheinung, die ein festes Vertrauen in die Naturgesetze haben, wie Darwins »Bulldog«, Thomas Henry Huxley9 und, wie wir sehen werden, auch zum Teil bei Darwin selbst. Sie hat aber auch heute noch besonders unter den Physikern Anhänger,10 obwohl Heisenbergs Entdeckung des Indeterminationsprinzips und die Chaostheorien das Kausalitätsprinzip definitiv ausgehöhlt zu haben scheinen. Dennoch gibt es auch eine zweite Variante des Zufalls als »das Nicht-Gekannte«, bei der ganz im Gegenteil die Zufälligkeit des ganzen Prozesses hervorgehoben wird: Das, was geschieht, ist so unwiederholbar komplex, so von seinen tausend vorhergehenden Stadien abhängig, von denen jedes sich auf andere Weise hätte gestalten können, dass es unmöglich ist, das Ergebnis auf der Grundlage von unveränderlichen Naturgesetzen vorherzusehen. Man kann das Ergebnis nur aus der tatsächlichen Reihe der vorhergehenden Stadien kennen. Mit anderen Worten ist es etwas, das man versuchen kann, zu erklären, aber es ist nicht vorherzusehen. Diese Variante (B) könnte man den Zufall als »das Unvorhersehbare« nennen. Dieser Variante hat heutzutage unter anderen Stephen Jay Gould besondere Aufmerksamkeit geschenkt, zumindest seit er mit seinem Buch Wonderful life. The Burgess Shale and the Nature of History (1989) die Zufälligkeit der Evolutionsgeschichte zu einem Leitmotiv seiner Reflexion gemacht hat.11 (2) Es gibt jedoch noch eine zweite, praktisch einstimmig angenommene Bedeutung des Zufalls. Gemeint ist das Wort, das sich der Vorstellung widersetzt, dass die Evolution einen Zweck hat. Das heißt, der Zufall wäre vor allem ein Synonym für nicht-zweckbestimmt und für nicht-orientiert. Hier könnten viele Beispiele genannt und viele Zitate angeführt werden: »The meaning of ›random‹ that is most significant for understanding the evolutionary process is

9

Vgl. Huxley (1905), 554: »[the fundamental proposition of evolution ] is that the whole world, living or not living, is the result of the mutual interaction, according to definite laws, of the forces possessed by the molecules of which the primitive nebulosity of the universe was composed. If this be true, it is no less certain that the existing world lay potentially in the cosmic vapour, and that a sufficient intelligence could, from a knowledge of the properties of the molecules of that vapour, have predicted, say the state of the fauna of Britain in 1869, with as much certainty as one can say what will happen to the vapour of the breath on a cold winter’s day«. 10 Vgl. zum Beispiel, Rensch (1981). Auch ein klassisches Beispiel der Zufälligkeit wie das Würfelspiel kann in einer deterministischen Weise erklärt werden. Vgl. Rensch (1981), 198. 11 »…spule das Band des Lebens bis in die Frühzeit des Burgess Shale zurück und lasse es noch einmal vom gleichen Ausgangspunkt ablaufen: die Chance, dass sich bei der Wiederholung so etwas wie menschliche Intelligenz als höchste Zierde ergeben könnte, ist dabei verschwindend gering«. Gould (1994), 12.

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[…] that mutations are unoriented with respect to adaptation«;12 die Evolution zeigt keine »persistence towards a predetermined goal«.13 Diese Zurückweisung des Finalismus vereinigt auch die Anhänger des Zufalls als »der Nicht-Gekannte« in beiden Varianten. Die Vertreter der Variante A suchen bestenfalls eine Vereinbarung zwischen Selektion und Teleologie, indem sie diese letzte nur als eine Form mechanistischer Kausalität interpretieren. Man könnte hier erneut an Thomas Huxley denken, der in der darwinschen Theorie eine »wider teleology« erblickte, zusammenfallend mit »der Rationalität der Gesetze, die das Universum ununterbrochen beherrscht haben«,14 aber auch – um zeitlich nähere Beispiele zu erwähnen – an alle Versuche der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Teleologie zu einer Teleonomie zu machen.15 Die Vertreter der Variante B unterstreichen vor allem, dass die Vorstellung, die Evolution strebe ein bestimmtes Ziel an, der »grundlegenden Unvorhersehbarkeit und Kreativität der Evolutionsneuheiten« widerspricht, um wieder Dobzhanskys Sprache zu gebrauchen16 – damit zeigen sie, dass sie »den Zweck« als etwas schon Festgelegtes, Vorbestimmtes auffassen. Auch über die Bedeutung des Stichwortes »Zweckmäßigkeit«, wie bei der »Zufälligkeit«, herrscht mitnichten Einigkeit unter den Wissenschaftlern. Gerade diese beiden Bedeutungen des Zufalls – der Zufall als das Nicht-Gekannte, aber vor allem der Zufall als das Unorientierte – kennzeichneten schon die Reflexionen Darwins zu diesem Thema und sein damit verbundenes Dilemma: Wie ist es möglich, dass der Zufall eine Ordnung erzeugt? Und ist es möglich, den Zufall mit einer Zweckbestimmtheit zu verbinden? Auf diesen Punkt, vor allem aber auf die Frage, ob es eine Form der Zweckbestimmtheit gibt, die mit der natürlichen Selektion vereinbar ist, und die dennoch weder auf eine mechanische Kausalität noch auf die einfache Notwendigkeit eines vorher bestimmten Prozesses zurück geführt werden kann, möchte ich mich in diesem Beitrag konzentrieren. Ich werde im nächsten Abschnitt (3) zuerst einen Schritt zurückgehen, eben zu Darwin, um insbesondere hervorzuheben, wie er in seinem Bezug auf den Begriff des Zufalls als Gegenteil des Orientierten – und des Finalistischen – immer ein bestimmtes Modell der Teleologie vor Augen hatte: 12 Ayala (2007), 8573. Vgl. auch Dobzhansky (1970), 65: »Mutation is a random process with respect to the adaptive needs of the species«. 13 Huxley (1974), 497. 14 Vgl. Huxley (1905), 554: »Nevertheless, it is necessary to remember that there is a wider teleology which is not touched by the doctrine of Evolution, but is actually based upon the fundamental proposition of Evolution«. 15 Ernst Mayr: »a teleonomic process or behavior is one that owes its goal-directedness to the influence of an evolved program« Mayr (2004), 51, und deswegen sind die teleonomische Erklärungen »strictly causal and mechanistic«. Mayr (1976), 403. Gemäß der Deutung von Löw und Spaemann wird mit »Teleonomie« eine effektive Zweckmäßigkeit in einer vollständig a-teleologischen Welt indiziert. Spaemann/Löw (1981), 218. 16 Dobzhansky wird bei Soontiëns (1991), 135, zitiert.

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Das geradlinige Modell der Absichtlichkeit eines Agenten, der mit einem Zweck vor Augen plant und handelt. Das heißt genauer die Teleologie des »Designs«, die er der Lektüre eines der damals am weitesten verbreiteten Werke über die Naturtheologie entnahm, nämlich Paleys Arbeit von 1809. Danach werde ich noch einen weiteren Schritt zurückgehen (4), bis hin zur Philosophie Spinozas, in der als ›Krönung‹ der modernen wissenschaftlichen Revolution der Ausschluss des Zufalls aus der Natur zu Gunsten des Begriffs von »Gesetz« mit der Zurückweisung der Finalursachen gleichgesetzt wird. Es ist bekannt, dass für Spinoza die Finalursachen »menschliche Fiktionen« sind. Zu diesem Punkt scheint es eine entschiedene Kontinuität zwischen dem von der modernen wissenschaftlichen Revolution eröffneten Weltbild und der post-darwinistischen Welt zu geben. Nach der Veröffentlichung der Entstehung der Arten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten einige Physiologen die »auffallende Ähnlichkeit« zwischen den Forschungsergebnissen Spinozas und Darwins fest und gingen sogar so weit zu behaupten, dass Spinoza immer mehr »der Philosoph der Naturwissenschaftler« zu werden scheine.17 In Der alte und der neue Glaube von 1872 schlägt David Friedrich Strauss vor, nach Darwin auch zu Spinozas Kritik an den Finalursachen zurückzukehren, nämlich zur Kritik an jener Zweckmäßigkeit, die durch die Verwandlung der Wirkung in Ursache sogar den Begriff von Natur zerstören würde.18 Wir werden jedoch sehen, wie sich auch Spinozas Kritik gegen ein bestimmtes Modell der teleologischen Erklärung richtet – und zwar gegen das Modell, das wir unter Verwendung eines kantischen Ausdrucks die »äußere Teleologie« nennen könnten19 –, und wie also dementsprechend in unserer Interpretation die »Nähe« zwischen Spinoza und Darwin nicht so sehr im völligen Ausschluss jeder Teleologie liegt, sondern vielmehr in der Zurückweisung einer besonderen Form von ihr. Schließlich werden wir versuchen, einen Schritt nach vorne zu tun (5), in dem Sinne, dass sich in der Philosophie Spinozas ein Widerstand gegenüber der Vorstellung der Teleologie als »Design« befindet, und dies nicht nur in Form einer ausdrücklichen Kritik an ihr, sondern vor allem in der Thematisierung einer ›alternativen‹ Form von Finalität, die durch den grundlegenden Begriff des conatus sui conservandi ausgedrückt wird. In diesem Beitrag wird der co17 Die erste Behauptung ist von Johannes Müller, die zweite von Frederick Pollock, beide werden bei Damasio (2005), 299–300, wieder gegeben. 18 Strauss (1872), 216. 19 Kant (1790/93), 367. Kant unterscheidet, um genau zu sein, zunächst innerhalb der sogenannten objektiven Zweckmäßigkeit zwischen »formaler« und »materialer« Zweckmäßigkeit (§62), um anschließend innerhalb der letzteren, der allein die Kritik der teleologischen Urteilskraft gewidmet ist, zwischen »äußerer« und »innerer« zu differenzieren (§ 63). Unter äußerer Zweckmäßigkeit wird dabei diejenige verstanden, »da ein Ding der Natur einem anderen als Mittel zum Zwecke dient« Kant (1790/93), § 82, 425. Eine solche Zweckmäßigkeit wird einem Naturding also nur zugesprochen, insofern es ein nützliches Mittel zur Erreichung eines ihm äußeren Zieles ist. Sie dient daher nicht eigentlich seiner eigenen Bestimmung, sondern einem anderen Naturding.

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natus jedoch nicht einfach nur als Selbsterhaltungsprinzip aufgefasst, wie auch die Teleologie nicht auf die Selbsterhaltung eines schon existierenden Zustandes reduziert wird, wozu man unter Umständen verleitet werden könnte, wenn man an einige Interpretationen der Moderne denkt.20 Wir werden versuchen zu argumentieren, dass der conatus sich als ein ›sprengendes‹ Element erweist, sowohl im Vergleich zur Idee der einfachen Selbsterhaltung als auch zu einer schlicht mechanistischen Auffassung der Natur und des Lebewesens; darüber hinaus wollen wir zeigen, dass der conatus ganz im Gegenteil den Schlüsselbegriff darstellt, um das Interesse des Lebewesens für sich selbst in einem weiteren Sinn zu verstehen. Obwohl dieser Begriff innerhalb einer deterministischen Auffassung wie der von Spinoza geprägt wird, kann er nicht, wie oft angenommen, auf eine Form der mechanistischen Kausalität reduziert werden; quasi paradoxerweise ist er zudem vereinbar mit der Variante B des Zufalls, mit dem Zufall also, der als das »Nicht-Vorhersehbare« aufgefasst wird, mit der »Contingentia« der Geschichte des Lebens. Ob eine solche Form der natürlichen Teleologie heute noch innerhalb der Evolutionstheorie akzeptiert werden kann, ist die Frage, die wir am Ende unseres Beitrags stellen werden.

3. Zufall, Gesetz und Teleologie bei Darwin Dass Darwin selbst Schwierigkeiten hatte, den Zufall zu verstehen, geht offensichtlich schon aus der Tatsache hervor, dass er, wenn er dieses Wort benutzt, Ausdrücke vorausschickt, die seine Unsicherheit oder Unbestimmtheit zeigen, wie zum Beispiel »we may call« oder »so-called«. Diese vorsichtigen Ausdrücke werden auch häufig in Bezug auf einen anderen grundlegenden Begriff angewandt, nämlich das Naturgesetz. In einigen berühmten Briefen und einigen Stellen seiner Notebooks scheint Darwin auf der Suche nach einem Einklang zwischen letzterem, der Zweckmäßigkeit und dem Zufall zu sein, den er jedoch nicht zu finden vermag, so dass sich seine Äußerungen meistens im Horizont des Zweifels und der Skepsis bewegen. Es ist bekannt, dass Darwin sich zunehmend von einer Position der Nähe zur Naturtheologie im Sinne Paleys entfernte; dies hatte seinen Grund in der Entdeckung von Naturphänomenen, welche die Vorstellung einer prinzipiell geglückten Anpassung erschütterten, so dass die letzten Jahre von Darwins Leben von einem wachsenden »Agnostizismus« gekennzeichnet waren, um den in eben jenen Jahren von Thomas Huxley geprägten Ausdruck zu benutzen.21 Der Agnostizismus aber ist eine Einstellung, die nicht nur ausschließlich den Glauben der Offenbarungsreligion betrifft, die bei den viktorianischen zeitgenössischen Naturalisten sehr verbreitet war, son20 Vgl. § 5. 21 Die fortschreitende Emanzipation Darwins von der Naturtheologie wird am besten bei Ospovat (1981) beschrieben.

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dern auch besonders die Idee eines göttlichen Entwurfs der Natur, die durchaus nicht mit dem der natürlichen Selektion zugrunde liegenden Begriff des Zufalls und des Gesetzes übereinstimmt, wie man aus einer oft zitierten Stelle ersehen kann: The old argument of design in nature, as given by Paley, which formerly seemed to me so conclusive, fails, now that the law of natural selection has been discovered. We can not longer argue that, for instance, the beautiful hinge of a bivalve shell must have been made by an intelligent being, like a hinge of a door by man. There seems to be no more design in the variability of organic beings and in the action of natural selection, than in the course which the wind blows. Everything in nature is the result of fixed laws.22

Die natürliche Selektion, so Darwin, liefere den unzweideutigen Beweis, dass ein Design im Sinne Paleys, d. h. ein von einem (göttlichen) Geist gesetzter Zweck in der Natur, inzwischen als ein Ding der Unmöglichkeit angesehen werden müsse (ein solcher Glaube würde im Übrigen ein Handwerksprodukt, das hier von einer »hinge of a door« verkörpert werde, und den lebendigen Organismus auf dieselbe Stufe stellen). Eine der Folgen des neuen Naturbildes scheint im Gegenteil gerade die zu sein, dass »alles, was in der Natur existiert, das Resultat unwandelbarer Gesetze (fixed laws) ist«. Das Konzept des Naturgesetzes nimmt nun die zentrale Rolle ein, und es scheint das Gegenteil von dem des Designs zu sein. Und der Zufall? Er wird in einem Brief von 1881 an William Graham erwähnt, den Autor, der mit The Creed of Science ein Werk verfasst hatte, das Darwin bewunderte. Graham, der die gegensätzliche These zu der Darwins vertreten hatte, nämlich, dass die Existenz der Naturgesetze die der Teleologie implizieren würde, antwortet Darwin, dass er damit nicht einverstanden sei (»I cannot see this«).23 Dennoch schreibt er zugleich, dass er vollständig mit ihm in Bezug auf die grundlegende Tatsache übereinstimme, dass das Universum kein Produkt des Zufalls sei (was auch immer hier unter »Zufall« verstanden werden soll – Darwin erklärt es in diesem Zusammenhang nicht näher).24 Am Ende dieses Briefes jedoch macht er ein Geständnis, nämlich, dass er nicht viel davon verstehe: »But I have had no practice in abstract reasoning, and I may be all astray«.25 Es gelang Darwin nicht, dieser Frage auf den Grund zu kommen. Dies geht daraus hervor, dass sie schon mehr oder weniger mit denselben Worten zwanzig Jahre zuvor im Jahr 1860 von ihm gestellt worden war. In einem anderen, sehr berühmten Brief an Asya Grey versuchte er das Dreigestirn Zu-

22 Darwin (1887/1903), 50. 23 Charles Darwin an William Graham, 3. Juli 1881, in Darwin (1905), 285. 24 Darwin (1905), 285. »Nevertheless you have expressed my inward conviction though far more vividly and clearly than I could have done, that the Universe is not the result of chance«. 25 Darwin (1905), 285.

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fall – Gesetz – Design zu thematisieren und auch einen Lösungsvorschlag zu skizzieren: With respect to the theological view of the question; this is always painful to me. – I am bewildered. – I had no intention to write atheistically. But I own that I cannot see, as plainly as others do, […] evidence of design and beneficence on all sides of us. There seems to me too much misery in the world. I cannot persuade myself that a beneficent and omnipotent God would have designedly created the Ichneumonidae with the express intention of their feeding within the living bodies of caterpillars, or that a cat should play with mice. Not believing this, I see not necessity in the belief that the eye was expressly designed. On the other hand I cannot anyhow be contented to view this wonderful universe and especially the nature of man, and to conclude that everything is the result of brute force. I am inclined to look at everything as resulting from designed laws, with the details, whether good or bad, left to the working out what we may call chance. Not that this notion at all satisfies me.26

Die Lösung, die Darwin nicht im Mindesten zufrieden stellte (eine Art möglicher Kompromiss zwischen dem Design und der »blinden Kraft«), muss hier in einer Form von Determinismus gesucht werden, der auf natürliche »Gesetze« gründet, die diesmal nicht als »unwandelbar ( fixed)«, sondern als »geplant (designed)« bezeichnet werden; dies ist jedoch offensichtlich ein zweideutiger Ausdruck, da das Adjektiv »geplant« eben an die Vorstellung von jemandem erinnert, der plant, und vielleicht ändert Darwin diesen Ausdruck später aus diesem Grund.27 Dem Zufall würde somit einfach die Sorge um die »Details« überlassen, aber auch in diesem Fall wird nicht gesagt, was (we may call) »chance« ist. Wenn Darwin jedoch nicht aufgefordert wird, widerwillig Antworten zu geben, welche die Philosophie und die Religion einbeziehen, fühlt er sich entschieden wohler und scheint auch viel selbstsicherer zu sein. So können wir zum Zufall noch in der dritten Ausgabe der Entstehung der Arten lesen: I have hitherto sometimes spoken as if the variations – so common and multiform in organic beings under domestication, and in a lesser degree in those in a state of nature – had been due to chance. This, of course, is a wholly incorrect expression, but it serves to acknowledge plainly our ignorance of the cause of each particular variation.28

26 Charles Darwin an Asya Grey, 22. Mai 1860, in Burkhardt et al. (1993), 224. 27 Wer wäre der Planer? Gott? Die natürliche Selektion? David Hull zu Folge sei er für Darwin noch Gott. Darwin habe geglaubt, dass Gott die allgemeinen Gesetze eingerichtet hat, auch wenn er ihn nicht für deren spezielle Anwendungen oder für Details verantwortlich gemacht habe, auf Grund ihrer geringen Bedeutung in manchen Fällen und ihrer Grausamkeit in anderen. Darwins Lösung liege, laut Hull, in einer etwas verzerrten Form von Determinismus. Vgl. Hull (1973), 66. 28 Darwin (1876), 136.

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Hier scheint Darwin wenige Zweifel darüber zu haben, dass ›Zufall‹ ein Ausdruck ist, der unsere Unkenntnis der Ursachen offenbart. Er hat also sicherlich keinen Begriff des Zufalls im Sinn, der ›auf völliger Gesetzlosigkeit‹ beruht, der Zufall ist kein Mangel an kausalem Determinismus, sondern ein Mangel an einem dem Ergebnis angemessenen Zweck. Der Zufall hat dementsprechend mit einer epistemischen Lücke zu tun, die von der Situation des Beobachters im Verhältnis zu dem Beobachteten abhängt. Aus den bisher angestellten Untersuchungen kann man vorläufig mindestens Folgendes schließen: Einerseits steht Darwin an der Schwelle zwischen einer Welt, in der die Natur durch Gesetz und Notwendigkeit erklärt werden kann – wie es die noch zu seinen Zeiten moderne Physik wollte –, und der Neuheit seines Begriffs vom Zufall, dessen er sich nicht bis zum Äußersten bewusst zu sein scheint und den er versucht, indem er ihn als »Unwissenheit der Ursachen« interpretiert, irgendwie mit dem Determinismus der »fixed laws« oder der »designed laws« zu verbinden. Andererseits findet sich bei ihm eine klare Zurückweisung der Teleologie, die als das Ergebnis der Absichtlichkeit aufgefasst wird, die in einem außernatürlichen Verstand vorhanden ist, der als Planer handelt. In diesem Sinne war Darwin noch stark vom Modell der Naturtheologie beeinflusst, demzufolge die Naturzweckmäßigkeit einen göttlichen »purposer« voraussetzt (ein klassisches Beispiel hierfür: das Auge ist für den Zweck des Sehens gemacht worden), ein Fall, den wir unter Gebrauch der kantischen Sprache als »äußere« Teleologie bezeichnet haben.29 Schließt die ausdrückliche Zurückweisung des Designs jedoch in toto die Möglichkeit aus, bei Darwin irgendeine Form der Teleologie, die mit der natürlichen Selektion vereinbar wäre, wieder zu finden? Die Debatte darüber ist lang gewesen und natürlich noch nicht beendet. Einige Beispiele wurden schon genannt. Nach James Lennox ist der springende Punkt bei Darwin der folgende: Darwin habe im Wesentlichen die Teleologie auf der Grundlage der natürlichen Selektion »neu erfunden«, indem er sie aus den zu seiner Zeit populären teleologischen Erklärungen wie dem Design oder dem Vitalismus herausgelöst habe. Der Begriff der Selektion habe ihm somit erlaubt, die Teleologie von dem Bereich der Zucht auf das Naturreich auszudehnen, ohne auf ein bewusstes Design zurück greifen zu müssen. Es sei kein Zufall, dass Darwin, obwohl er von seinen Anhängern aufgefordert worden sei, den Ausdruck »natürliche Selektion« fallen zu lassen, diesen weiterhin benutzt habe.30 Stellen wie die folgenden aus Darwins Werken scheinen eine solche Interpretation zu stützen: »Man selects only for his own good; Nature only for that of the being which she tends«; »It may be said that natural selection is daily and hourly scrutinizing,

29 Vgl. Anm. 19. 30 Vgl. Lennox (1993), 417.

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throughout the world, every variation, even the slightest; rejecting that which is bad, preserving that which is good«.31 Lennox’ Position scheint also nicht weit von dem entfernt, was Étienne Gilson in seinem Band D’Aristote a Darwin et Retour (auf dessen Titel auch unser Beitrag anspielt) in Bezug auf die Anwesenheit der Teleologie in Darwins System behauptet hat: »Darwin wollte eine Natur, in der alles wie infolge freier Wahl geschieht, obgleich es nichts und niemanden gibt, der wählt«.32 Der Planer – der in Wahrheit gar kein echter Planer ist – sei eben die Selektion. Gilson hat vorgeschlagen, die neue, vom Darwinismus eingeführte Anschauung der Natur im Sinne einer »Teleologie ohne Finalursachen« zu interpretieren, die wie folgt erläutert wird: Allein durch das Spiel der Naturkräfte, wie die Neigung zur spontanen Variation, der von der Knappheit der Nahrungsmittel ausgelöste Überlebenskampf und die daraus entstehende Beseitigung der weniger Fitten, beseitigen sich die schlechter angepassten Organismen selbst und werden durch besser angepasste ersetzt: Es gibt also eine Veränderung der alten Arten und eine immer befriedigendere Anpassung der neuen an ihre Existenzumstände, ohne dass es nötig wäre, auf die Hypothese einer Kausalität besonderer Art zurückzugreifen, die die Aufgabe hätte, diese Tätigkeit zu leiten.33 »Teleologie ohne Finalursachen« steht also für das Vorhandensein eines Zweckes – die immer befriedigendere Anpassung der neuen Arten an die Lebensbedingungen –, der jedoch weder von einem Plan noch von einer Absicht 31 Die Stellen von Darwin werden bei Lennox (1993), 419–420, zitiert. Laut Michael Ghiselin hingegen, der eine lebhafte Diskussion mit Lennox geführt hat, gibt es keine »wirklichen« Formen der Teleologie außerhalb des göttlichen Designs und des Vitalismus, die beide jedoch nicht mit Darwins Anschauung vereinbar sind. Jede andere Form – und somit auch die von Lennox vertretene Identifizierung mit der natürlichen Selektion – bedeutet nach Ghiselin in Wahrheit eine »Trivialität«. Vgl. Ghiselin (1994). Auf ähnliche Weise hat David Hull behauptet, dass die Teleologie, wenn sie »realistisch« interpretiert wird (das heißt als »Teleologie des Plans«), in Darwins Anschauung keinen Platz mehr habe. Wenn man sie hingegen anspruchsvoller (als Naturgesetz) interpretieren will, habe sie letztlich keinerlei Bedeutung für die Wissenschaft. Hull (1973), 66. Andererseits hat Darwin für Ayala nicht die Idee des »Designs« zurückgewiesen; seine »große Entdeckung« sei die Idee eines »Designs ohne Planer« gewesen. Vgl. Ayala (2007). Eine in gewissem Sinne ähnliche Position nimmt Daniel Dennett ein. Für Dennett ist die natürliche Teleologie die Wirkung eines Design Stance; dieser sei vergleichbar mit der Zweckmäßigkeit, die für Artefakte gültig ist, aber das Produkt einer nicht intentionellen Handlung darstelle. Im Fall von Organismen sei die Teleologie dann der absichtslosen Aktion einer natürlichen Auslese zuzuschreiben. Vgl. Dennett (1996), 19. 32 Gilson (1971), 138: »Darwin […] voulait au contraire une nature où tout se passerait comme s’il y avait eu choix, bien que personne ni rien ne fût là pour choisir«. 33 Gilson (1971), 138: »Par le seul jeu des forces naturelles, telles que la tendance à la variation spontanée, la concurrence vitale causée par la rareté des moyens de subsistance et l’élimination des mois aptes qui en résulte, les formes mal adaptées s’éliminent comme d’elles-mêmes, de mieux adaptées les remplacent, il y a donc transformation des espèces anciennes et adaptation des nouvelles à leur condition d’existence de plus en plus satisfaisante sans qui il soit besoin de recourir a l’hypothèse d’une causalité de type particulier chargée de diriger l’opération«.

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ausgeführt wird (die in einem göttlichen Intellekt oder Geist gegenwärtig wären). Das kann paradox erscheinen: Wenn es nämlich einerseits ganz sinnvoll erscheint, eine Kausalität ohne Teleologie zu begreifen, scheint andererseits die Möglichkeit einer Teleologie ohne Kausalität wesentlich problematischer. Aber das geschieht eben, weil die Teleologie in untrennbarer Verknüpfung mit dem ›Plan‹ verstanden wird: Es gibt in der Tat keine teleologischen Begriffe ohne kausale Regeln, insofern die Zweckmäßigkeit ausschließlich ausgehend von den Modalitäten der Absichtlichkeit, die in einem außernatürlichen Verstand vorhanden ist, aufgefasst wird. Nichtsdestotrotz bleibt das zu Recht erhobene Problem34 bestehen, welchen Wert und welches Interesse im Allgemeinen ein teleologisches Modell dieser Art haben kann. Stellt denn nicht der Versuch, die Zweckmäßigkeit mit dem Rückgriff auf rein natürliche Prinzipien, d. h. allein mit Hilfe von Variationen und Selektion erklären zu wollen, eine Trivialisierung des Begriffs dar, insofern dieser sich am Ende gar nicht vom schlichten Mechanismus unterscheidet? Eine solche Teleologie, wenn man sie lediglich als mit den Naturgesetzen zusammenfallend betrachtet, scheint weit entfernt von einem »weiteren« Begriff zu sein, wie Thomas Huxley ihn gewollt hätte, und darüber hinaus zur ›Entleerung‹ des Begriffes selbst beizutragen: »Die eifrigsten Mechanisten erkennen sie auf ihre Weise an, d. h. sie leugnen die Zweckmäßigkeit keineswegs, sondern versuchen ihr eine mechanistische Erklärung zu geben«,35 wie schon in Bezug auf die Teleonomie bemerkt worden ist. Es bleibt also noch die Möglichkeit eines ›dritten Weges‹ zu untersuchen, über den die Natur, nachdem die Anschauung des Designs fragwürdig geworden ist, auf etwas ›mehr‹ zurückzuführen sein soll als auf die kombinierte Handlung und das Ergebnis zahlreicher Naturgesetze, auf etwas, das in der Lage ist, insbesondere von der Spezifizität und der Besonderheit des Lebewesens Rechenschaft abzulegen – ein Weg, der in Wirklichkeit von Darwin nie begrifflich erfasst worden ist. Die Konstanten in seinen Reflexionen bleiben in jedem Fall der Zweifel und die Unsicherheit: »My theology is a simple muddle; I cannot look at the universe as the result of blind chance, yet I can see no evidence of beneficent design, or indeed of design of any kind, in the details«.36

4. Spinoza und die Kritik an den Finalursachen Es ist interessant zu bemerken, wie ein Begriff der natürlichen, unabsichtlichen Zweckmäßigkeit Spinoza von niemand anderem als Kant zugeschrieben 34 Vgl. Anm. 31. 35 Gilson (1971), 175: »Les mécanistes les plus attentifs le reconnaissent à leur manière, qui est, non de nier la finalité, mais d’essayer d’en donner des explications mécanistes«. 36 Charles Darwin an Hooker, 12. Juli 1870, in Darwin/Seward (1903), 321.

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wird. So werden der Untersuchung einer »unabsichtlichen Technik der Natur« einige berühmte Seiten der Kritik der Urteilskraft gewidmet. Kant behauptet dort, dass der Spinozismus mitnichten die zweckmäßige Verbindung der Dinge der Natur leugnen würde,37 da im Inneren der einzigen, alles enthaltenden Substanz »alle Dinge, wegen der Einheit des Subjekts, von dem sie bloß Bestimmungen sind, auch ohne Zweck und Absicht notwendig sich auf einander zweckmäßig beziehen mussten«.38 Die ganze Natur sei eine nach zweckmäßigen Verbindungen organisierte Totalität, ohne dass es jedoch zu ihrer Führung ein absichtlich organisierendes Prinzip geben müsse. Indem sie Kants Vorgabe gefolgt sind, haben einige Interpreten Spinozas die Implikation einer inneren Zweckmäßigkeit in der Auffassung des Deus sive natura unterstrichen, da sich Spinozas Totalität wie ein strukturiertes Ganzes präsentiere, in dem vom Ganzen zu den Teilen fortgeschritten wird: »Nun aber bedeutet auf diese Weise vorzugehen, einen dem Mechanismus gegensätzlichen Standpunkt einzunehmen […], der von den Teilen zu den Teilen und von den Teilen zum Ganzen fortschreitet«.39 Ein solches Ergebnis könnte für den Philosophen, der vielleicht mehr als alle anderen in der Neuzeit die Finalursachen kritisierte, paradox erscheinen. Dennoch sind die berühmten und beißenden Kritiken Spinozas an den Finalursachen, wenn sie im Detail untersucht werden, gegen einen Begriff des Finalismus gerichtet, zu dem nur das, was wir in Bezug auf Kant die »äußere Teleologie« genannt haben, gerechnet werden kann. Darin – und nicht in einer allgemeinen Kritik an der Teleologie – liegt eine grundlegende Gemeinsamkeit mit Darwin. Es sei uns gestattet, sie kurz zu betrachten. Im Anhang an Teil I der Ethik, dem maßgeblichen Text in diesem Zusammenhang, gliedert sich Spinozas Kritik an den Finalursachen in ein allgemeines Vorurteil und zwei darauf folgende Punkte. Das allgemeine Vorurteil besteht in der Annahme der Menschen, dass die Natur – für Spinoza gleich Gott – handelt, wie sie selbst handeln, das heißt im Hinblick auf ein Ziel: Mehr noch, die Menschen behaupten fest, »daß Gott selbst alles zu einem gewissen bestimmten Zwecke lenke (denn sie sagen, Gott habe alles des Menschen wegen gemacht, den Menschen aber, damit dieser

37 Kant (1790/93), §73, 343–344. Zu Kants Interpretation von Spinoza vgl. insbesondere Bartuschat (1994). 38 Kant (1790/93), § 85, 399. 39 Zac (1963), 15. Die Interpretation von Spinozas Substanz als eine vom inneren Finalismus durchdrungene, die während der Romantik weit verbreitet war, hat sich in Verbindung mit der Vorstellung weiter entwickelt, dass Spinoza in seinem innersten Kern dem Mechanismus Descartes’ feindlich gegenüberstand. Ein Beispiel für eine nicht mechanische Verbindung zwischen den Teilen und dem Ganzen wurde sowohl von Schelling als auch von Hegel in Spinozas Begriff der causa sui wieder entdeckt. Eine vergleichbare Auffassung ist auch Darwin selbst zugeschrieben worden. »Darwin never referred to or conceived natural selection as operating in mechanical fashion, and the nature to which selection gave rise was perceived in its parts and in the whole as a teleologically self-organizing structure«. Vgl. Richards (2002), 534.

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ihn verehre)«.40 Daraus ist schon ersichtlich, dass Spinozas Kritik um die Art kreist, in der die Menschen sich selbst verstehen, eine Art also, die sie dazu verleitet, ihr absichtliches Handeln im Hinblick auf ein Ziel (besser noch: ein Handeln, das sie als solches erfassen) auf die Natur zu übertragen, die dann gleichermaßen im Hinblick auf einen für sie »äußeren« Zweck handeln soll. Da die Menschen weiterhin auf verschiedene Naturwesen treffen, die zu ihrem Nutzen beizutragen scheinen (die Augen zum Sehen, die Zähne zum Kauen usw.), Naturwesen, von denen sie wissen, dass sie nicht deren Erzeuger sind, schließen sie daraus fälschlich, dass diese von »einem oder mehreren Lenkern der Natur« erzeugt und geplant worden seien.41 Anders gesagt: Das Vorurteil, das Spinoza untersucht, besteht darin, dass Gott – das heißt der Natur selbst – eine Tätigkeitsform zugeschrieben wird, die für die Menschen typisch ist: Die wahren »menschlichen Fiktionen« sind die Finalursachen, die wir Gott oder der Natur zuschreiben. Es handelt sich um eine der heute noch gängigsten Kritiken an der Teleologie. Diese sei das Ergebnis eines Anthropomorphismus, auf Grund dessen Begriffe in Bezug auf die Naturwesen angewandt werden, die in Wirklichkeit nur den menschlichen Handlungen und Erzeugnissen, den Kunstwerken und Handwerksprodukten, zugeschrieben werden können. Aber dass sich Spinozas Kritik gegen die Äußerlichkeit der Zwecke wendet, geht vor allem aus den beiden folgenden Einwänden hervor: 1) Die Rede von Finalursachen stellt die Ordnung der Natur »auf den Kopf«: Was eigentlich Ursache ist, betrachtet sie als Wirkung und umgekehrt; ferner macht sie das, was von Natur früher ist, zum Späteren.42 So macht sie etwa aus dem auf die Lebewesen gestrahlten Licht die Ursache der Sonne, wohingegen die Sonne in Wirklichkeit die Ursache des Lichts ist. Das ist eines der klassischen Argumente gegen einen äußeren Zweck, das heißt gegen eine Teleologie, auf Grund deren »ein Ding der Natur zu einem anderen steht wie das Mittel zum Zweck«, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft behaupten wird.43 Noch heute wird dieses Argument als backward causation kritisiert, insofern durch finalistische Überlegungen eine Umkehrung des Ursache-Wirkung-Verhältnisses vorgenommen und das zeitlich Spätere zur Ursache des Früheren gemacht werde. 2) Das zweite Argument betrifft direkt den Spinozianischen Monismus. Die Lehre von der Finalität nimmt Spinoza zufolge Gott seine Vollkommenheit. Wenn man nämlich eine göttliche Handlung im Hinblick auf ein Ziel akzeptiert, dann müsste man einen Gott voraussetzen, der notwendigerweise etwas begehrt, das ihm fehlt, also einen Gott (oder eine Natur), der mitnichten vollkommen oder ›perfekt‹ ist.44 Das was Gott begehren würde, wäre also 40 41 42 43 44

Spinoza (1677), 81. Spinoza (1677), 83. Spinoza (1677), 87. Vgl. Anm. 19. Spinoza (1677), 87.

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etwas ihm Außenstehendes; man kann folglich behaupten, dass sich Spinoza auch in diesem zweiten Fall gegen einen äußeren Zweck wendet.45 Geht man also davon aus, dass Spinozas Angriff auf die Finalursachen gegen einen »äußeren« Begriff der Teleologie gerichtet ist, dann bleibt die Frage offen, ob und wie man in Spinozas Natur auf einen »inneren« Finalismus treffen kann. Aber wie würde sich dieser bei Spinoza realisieren? Ein Finalismus, wie schon angedeutet, im Sinne einer natürlichen Ordnung? Oder in der Form eines universellen Dynamismus? Kant selbst – indem er fast die Schwierigkeiten vorweg nahm, die wir in Bezug auf Huxleys »wider teleology« haben entstehen sehen – fragte sich, wodurch sich in Wahrheit die »unabsichtliche Technik der Natur« vom Mechanismus unterscheide: Sie sei nämlich einfach ein Anschein von Finalität oder – was für Kant gleichwertig ist – eine Form von »Idealismus der Endursachen«.46 Trotz ihrer Neigung, in der Substanz einen Finalismus wieder zu finden, haben sich auch andere Philosophen gefragt, welchen Sinn es habe, einen Zweck, der sich vollständig in der unendlichen »Selbstoffenbarung« der Natur befindet, noch »Zweck« zu nennen: Er sollte in der Tat gar nicht mehr als solcher definiert werden, da er ausschließlich Ausdruck der Notwendigkeit der Substanz ist.47 Mechanismus und Notwendigkeit: Darauf scheint sich, wie schon in einem gewissen Sinne bei Darwin, auch die natürliche Finalität bei Spinoza zu reduzieren, wenngleich auch mit einem beachtlichen Unterschied. Während es nicht möglich ist, im Deus sive natura die perfekte »Ökonomie« aller Dinge zu leugnen, und das Hauptproblem vielmehr darin liegt, wie diese Ökonomie ohne den Eingriff eines göttlichen Verstandes oder Geistes hatte entstehen können, bricht Darwins Naturalismus definitiv mit einem »einheitlichen und beruhigenden« Bild der Natur, indem er ihm ein »verworrenes und sogar zweideutiges Bild« gegenüber stellt: Darwin »hat die Haube, die die Interpretation der Natur innerhalb der starren und jahrhundertealten Begriffe des unangefochtenen Gleichgewichts unterdrückte und entscheidend beeinflusste, zerrissen«.48

45 Im Übrigen ist behauptet worden, dass gerade Spinoza – und nicht Leibniz, wie gemeinhin angenommen wird – in der Neuzeit den Aristoteles nahestehenden Begriff der Teleologie und der teleologischen Erklärung wieder vorgeschlagen habe. Vgl. insbesondere Garrett (1999). Darüber hinaus wende sich Spinozas Kritik an den Finalursachen nicht so sehr gegen die echte aristotelische Lehre als vielmehr gegen die Art und Weise, wie die natürlichen Phänomene im 17. Jahrhundert von einigen Anhängern des Aristoteles interpretiert wurden. Vgl. zum Beispiel Curley (1990), 45. 46 Kant (1790/93), § 85, 399. 47 Jonas (1965), 46. 48 La Vergata (1990), 11.

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5. Jenseits der reinen Selbsterhaltung: Conatus und Organismus Es gibt jedoch noch einen anderen Begriff, der, wie wir bereits angedeutet haben, in Betracht gezogen werden muss, um die Präsenz der Zweckmäßigkeit in Spinozas Auffassung zu verstehen, und der heute noch eine wichtige Anregung darstellt, um einen »nicht trivialen« Sinn der Teleologie in der Natur zu überdenken: der conatus in esse perseverandi. Im dritten Teil der Ethik, einer der »anthropologischen« Sektionen des Werkes, wird der conatus in zwei grundlegenden Sätzen präsentiert: »Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur in seinem Sein zu verharren«, und: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges«.49 Davor, dass im conatus, in der Anstrengung eines jeden Dinges, sich selbst zu erhalten, ein teleologischer Begriff wiederzufinden wäre, hatte uns allerdings schon Friedrich Nietzsche gewarnt. Für Nietzsche war dies aber Grund zu einer brennenden Enttäuschung: »Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inkonsequenz Spinozas –)«.50 Der conatus stelle, so Nietzsche, das Wiederauferstehen jenes Finalismus dar, den Spinoza auf jede Weise loszuwerden versuchte, und zu alledem noch auf eine extrem peinliche Art, nämlich in der Weise der einfachen Selbsterhaltung. Eine solche Form der Teleologie sah Nietzsche auch im Selbsterhaltungsdrang, der seiner Meinung nach die Grundlage des Darwin’schen Überlebenskampfes darstellte, und sie wurde scharf kritisiert.51 Spinoza und Darwin ständen sich somit in einem gewissen Sinne nahe, nicht nur auf Grund ihrer Kritik an der Zweckmäßigkeit, sondern auch weil sie diese in Form einer »Teleologie der Selbsterhaltung« neu vorgeschlagen haben. Diese Teleologie der »Selbsterhaltung« wurde unter anderen von Robert Spaemann als eine »umgekehrte Teleologie« definiert, und zu einem der Grundpfeiler seiner Interpretation der der Moderne gemacht. Für Spaemann finde seit der Moderne der folgende Prozess statt: Der Zweck – das telos – bestehe nicht aus etwas Transzendentem, das außerhalb des ihn begehrenden 49 Spinoza (1677), III. Teil, Lehrsatz 6–7, 239. 50 Nietzsche (1886–87), 21–22. 51 »Man nehme es als symptomatisch, wenn einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das Entscheidende sahen, sehen mußten – es waren eben Menschen in Notlagen. Daß unsre modernen Naturwissenschaften sich dermaßen mit dem Spinozistischen Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und am gröbsten im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre vom ›Kampf ums Dasein‹), das liegt wahrscheinlich an der Herkunft der meisten Naturforscher: sie gehören in dieser Hinsicht zum ›Volk‹, ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe kannten«. Nietzsche (1882), Aphorismus 349, 267.

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Wesens gesetzt sei, sondern aus demselben Sein des begehrenden Wesens. Das Gute sei nicht mehr der Zweck des Lebens (wie in einer Tradition aristotelischer Prägung), sondern ganz im Gegenteil sei die Erhaltung des Lebens das höchste Gut. In dieser »umgekehrten Teleologie« bestehe das Sein eines jeden Lebewesens also in nichts anderem als in der Anstrengung der Selbsterhaltung, die – und das ist der Kernpunkt – als »bloße einfache Selbsterhaltung dessen, was schon ist«, aufgefasst werde.52 Die Auslegung des conatus – für Spinoza der Grundpfeiler der menschlichen Affektivität (und nicht nur der menschlichen) – ist in der Tat einer der Punkte, die von Spinozas Interpreten am längsten erörtert worden sind. Das am häufigsten diskutierte Problem besteht darin, ob es sich um ein Element handelt, das mit einer mechanistischen Auffassung nach kartesianischem Vorbild in Einklang gebracht werden kann oder nicht. Einerseits gibt es diejenigen, die es als eine Art Selbstorganisation der Natur auffassen und aus ihm das wesentliche Element einer alternativen Auffassung zu der kartesianischen machen, und andererseits gibt es die, für die es absolut in das theoretische Bild des Mechanismus zu passen scheint. Wer Spinozas Philosophie auf einer Linie mit der kartesianischen Mechanik interpretiert, fasst den conatus nach dem Modell des Trägheitsgesetzes auf und versteht ihn mehr oder weniger so: Jedes Individuum strengt sich an, sich in dem Zustand zu erhalten, in dem es sich befindet, das heißt sich selbst zu erhalten. In dieser im Grunde ›statischen‹ Auffassung drückt der conatus die abstrakte Persistenz des Wesens kraft seiner eigenen Definition aus. In der Tat hatte Descartes selbst, um die träge Bewegung zu erklären, von einer »Tendenz« gesprochen: Jeder Körper habe eine »Tendenz« dazu, seine eigene Bewegung auf beständige Weise fortzuführen.53 Wenn jedoch der II. Teil der Ethik wenigstens teilweise eine träge Auffassung der Körper zu bestätigen scheint, so liegt, anders dazu, im III. (und auch im V.) Teil ein Verständnis der Körper als Wesen zu Grunde, die versuchen, ihre »potentia (Macht)« zu maximieren. Der Interpretation dieser Textteile kann man nun entnehmen, dass der Begriff des conatus eben nicht in einem ›statischen‹ Sinne verstanden werden darf, d. h. als Erhaltung eines rein gegenwärtigen Zustandes, wie es sowohl die Interpretation der »umgekehrten Teleologie« als auch die mechanistische Auslegung, nach der der conatus nach dem Modell des Trägheitsgesetzes erklärt werden kann, nahelegen.54 Eine solche Persistenz im eigenen Sein ist kein untätiges Fortdauern, sondern impliziert

52 Spaemann/Löw (1981), 105. 53 Vgl. Carriero (2005). 54 Auf dieser Linie scheint sich auch Hans Blumenberg zu bewegen, wenn er bemerkt: »Spinozas Satz, […] ist doch gerade trotz des Audrucks conatus die Leugnung eines besonderen Antriebs von der Art einer inclinatio, indem er feststellt, es sei nichts anderes als die sich überlassene Sache selbst, was sich im Zustand der Beharrung oder als Beharrung eines Zustandes darstelle«. Blumenberg (1976), 186.

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eben einen conatus, eine vis, eine potentia (das sind für Spinoza Synonyme). Es handelt sich vor allem um die einer dynamischen Struktur eigene Aktivität. Das, was sich erhält, ist nämlich nicht etwas bloß Vorhandenes, sondern vielmehr ist es gerade dieses Streben sich zu erhalten, welches das Sein des Individuums konstituiert, sich in dessen Lebensprozess vollzieht und fortschreitend formt. Es ist eben nicht die bloße Bestätigung des reinen Strebens, sondern die progressive Bildung einer Form, die dieses Streben übersteigt, in der jedes Individuum aus sich selbst eine Aktivität hervorbringt, die es immer mehr von den äußeren Einschränkungen befreit. Die Anstrengung zur Selbsterhaltung könnte in einem gewissen Sinne – um einen Ausdruck zu verwenden, der missverstanden werden könnte – als eine Tendenz zur ›Selbstperfektionierung‹ aufgefasst werden: »Jedes Ding [hat] in sich selbst ein Streben […], sich selbst in seinem Zustand zu bewahren und zu steigern«, – schreibt Spinoza.55 Nun darf dieses »Steigern« nicht missverstanden werden: Es darf weder als eine Art Vorläufer von Nietzsches Willen zur Macht noch gar – etwas letztlich Undenkbares in einer Ansicht wie der von Spinoza – als die Vorstellung, dass es bestimmte Klassen des Seins gebe, die einem kosmischen Projekt entsprechen, aufgefasst werden. Es muss hingegen in dem Sinne verstanden werden, dass jedes Individuum kraft seines conatus nicht nur nach der bloßen Bewahrung seines eigenen Lebens strebt, sondern auch nach der Erlangung dessen, was man »Wohlbefinden« nennen kann, nach einem »guten Leben« also, das sich auf der Ebene der komplexeren Formen des conatus wie eine Suche nach dem Glück gestaltet. In dieser Richtung ist der conatus beispielsweise kürzlich in der neurobiologischen Lektüre von Antonio Damasio aufgefasst worden: Nach Damasio stellt der conatus eine angeborene Ausrüstung zur Lebenssteuerung dar, die nicht auf das einfache Überleben zielt, nicht darauf, »den neutralen Weder-Fisch-noch-Fleisch-Zustand auf halbem Wege zwischen Leben und Tod« zu erreichen.56 Vielmehr, und dies sei schon Ziel der Homöostase, gehe es darum, einen besseren als bloß neutralen Lebenszustand zu erreichen, einen positiv regulierten Lebenszustand, also einen Zustand, den wir Menschen »Wohlergehen« oder »Wohlbefinden« nennen.57 Den conatus könnte man – unter Verwendung der Worte des zeitgenössischen Philosophen Hans Jonas – als die Eigenschaft des lebendigen Organismus auffassen, »das eigene Sein, wie es jetzt ist, gehen zu lassen, um es zurückzuholen, wie es sein wird«, in dem Sinne, dass Organismen nicht dazu 55 Spinoza (1862), I, 5, 43. 56 Damasio (2005), 46. 57 Ebd. Im Nachhinein, mit dem Vorsprung gegenwärtiger Erkenntnis interpretiert, impliziert daher die Konzeption Spinozas für Damasio, dass der Organismus auf eine solche Weise konstituiert ist, dass er »den Zusammenhalt seiner Strukturen und seiner Funktionen in zahlreichen lebensbedrohlichen Situationen aufrecht erhält« Damasio (2005), 47.

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neigen, den gegenwärtigen Zustand zu erhalten, sondern dass sie Wesen sind, deren Existenz ihr Handeln selbst ist, sie also nur kraft dessen existieren, was sie tun und sich in ihren Aktivitäten vervollständigen.58 Der conatus könnte vielleicht auch mit dem verbunden werden, was wiederum Damasio unter dem »Proto-Selbst« versteht: Ein anfängliches Phänomen der Selbst-Identifizierung, das sich seiner selbst nicht bewusst ist und das Schritt für Schritt lernt, sich als von der äußeren Welt getrennten Teil zu erkennen. Es handelt sich also um eine Art Organisationsprinzip, auf das sich alle Aktivitäten des Organismus stützen und das den Ursprung seiner Identität und seiner Individualität bildet.59 Unter diesem Gesichtspunkt könnte man die Organismen als Zwecke betrachten: Die Organismen sind Zwecke, weil ihr Zweck, kraft ihres conatus, nicht nur in der Fortsetzung ihrer Existenz besteht, sondern weil sie auch durch ihre unaufhörliche Selbstorganisierung materiell ihre Identität ausbilden. Ein Zweck liegt in der Eigenschaft des Individuums, wesentlich conatus zu sein, und eben gerade nicht in etwas, das dem Streben transzendent wäre, worauf es sich richtete und wo es seine Erfüllung fände. Es handelt sich um eine Bewegung, die von etwas ausgeht, aber nicht explizit auf ein externes Ziel ausgerichtet ist. Es ist eine »deflationistische«, dem Lebewesen innere Form der Teleologie, die weder mit der Vorstellung einer universellen Richtung aller Ereignisse oder der natürlichen Dinge auf einen Zweck zu tun hat, noch meint sie eine Aufprägung durch einen Planer;60 gleichzeitig kann sie jedoch auch nicht, wie im Fall der Teleonomie, auf eine mechanische Kausalität oder auf eine schlichte »methodologische Fiktion« reduziert werden.61 Sie ist mit dem Zufall als »das Unorientierte« vereinbar und, da diese Teleologie keine Vorhersehbarkeit voraussetzt, mit dem Zufall als »das Nicht-Vorhersehbare«, also mit der »Contingentia«. 58 »What, in its total effect, appears to be the maintaining of the given condition, is in fact achieved by way of a continuous moving beyond the given condition«. Jonas (1968), 197. Jonas’ Urteil über Spinoza ist differenziert. Jonas zu Folge habe Spinoza jedoch auf Grund der mit den Kenntnissen seiner Zeit verbundenen Grenzen nicht vollständig erfasst, dass der conatus nur wie eine Bewegung wirken kann, die beständig den gegenwärtigen Zustand der Dinge überschreitet. Vgl. Jonas (1968), 197. Aber zur gleichen Zeit meint Jonas, dass – obwohl das Organische nicht im Zentrum der Philosophie Spinozas stand –, mit Spinoza zum ersten Mal in der Geschichte des spekulativen Denkens der Moderne ein organisches Individuum als eine »Ganzheit« betrachtet wurde und nicht als ein »mechanisches Zusammenspiel der Teile«. Jonas (1965), 50. 59 Damasio (2005). 60 Für Dieter Henrich ist »der Selbsterhaltungstrieb […] die extreme Gegeninstanz zu aller anthropologischen Teleologie. Denn er ist der einzige subjektive Bewegungsimpuls, der kraft seiner Definition auf kein Ziel aus ist«. Vgl. Henrich (1960), 91. Dennoch könnte es sich meiner Meinung nach um eine viel ursprünglichere Form der Teleologie als die anthropologische handeln. 61 Einige zeitgenössische Interpreten von Spinoza haben, vielleicht in der Absicht, Spinozas Denken zu ›aktualisieren‹, den conatus näher an die Teleonomie gerückt, vgl. zum Beispiel Bartuschat (1994), 103. Aber es gibt triftige Argumente, um einen solchen Vergleich zurückzuweisen. Vgl. Michelini (2011), 64.

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Kann die Theorie der Selektion es also vermeiden, eine Teleologie in dieser Form, d. h. in der Form von bedürftigen Organismen die kraft ihres conatus unaufhörlich sich selbst organisieren, vorauszusetzen? Und bringt nicht gerade diese Eigenschaft der Bedürftigkeit des Lebens neben ihrer Sorge um sich selbst auch ihren Eintritt in den Überlebenskampf mit sich? Diese Sorge des Lebens um sich selbst wurde von Spinoza in der Kurzen Abhandlung vom Gott, dem Menschen und dessen Glück mit einem seiner schönsten Ausdrücke definiert: »die natürliche Liebe der Dinge für ihre eigene Beschaffenheit«.62 Das verleitete Goethe dazu, in der Philosophie von Spinoza ein Paradox zu sehen, das man vielleicht auch auf Darwin beziehen könnte: einen Hass auf die absurden Finalursachen, der sich nicht der Liebe der organischen Naturen zu ihrem Inneren widersetzt.

Literatur Quellen Burkhardt, Frederick/Janet Browne/Duncan M. Porter/Marsha Richmond (ed.), The correspondence of Charles Darwin, vol. 8, Cambridge 1993. Darwin, Charles, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1876), 6th ed., with additions and corrections to 1872, in: The Works of Charles Darwin, vol. 16, London 1988. Darwin, Charles, Autobiographies (1887/1903), ed. by Michael Neve/Sharon Messenger, London 2002. Darwin, Francis (ed), The Life and Letters of Charles Darwin, vol. 1, New York 1905. Darwin, Francis/Albert Charles Seward (ed.), More letters of Charles Darwin, vol. 1, New York 1903. Spinoza, Baruch de, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück (1862), in: Sämtliche Werke Bd. 1, 3. Aufl., hg. v. Wofgang Bartuschat, Hamburg 1991. Spinoza, Baruch de, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (1677). Lateinisch-Deutsch, in: Sämtliche Werke Bd. 2, 3. Aufl. hg. v. Wofgang Bartuschat, Hamburg 2010.

Forschungsliteratur Amery, Jean/Ilya Prigogine, »Die tragische Philosophie Jaques Monods. Gespräch über das Werk Zufall und Notwendigkeit«, in: Merkur 238 (1971), 1108–1115. Ayala, Francisco J., »Darwin’s greatest discovery: Design without designer«, in: Proceeding of the National Academy of Sciences of the United States of America 104 (2007), 8567–8573.

62 Spinoza (1862), Anhang, 6, 125.

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The (Re)turn to What? Anmerkungen zur Kontingenz der Platon-Referenz in der Philosophie Alain Badious Andreas Lotz

Einleitung Der französische Philosoph Alain Badiou identifiziert den theoretischen An­ti­ pla­to­nis­mus als das gemeinsame Merkmal der unterschiedlichsten und zerstrittensten zeitgenössischen philosophischen Strömungen. Er führt die Ablehnung der Philosophie Platons auf Friedrich Nietzsche zurück, der mit seinem Aufruf zur ›Heilung vom Platonismus‹ nicht zuletzt die Verabschiedung des Wahrheitsbegriffes anstrebte.1 Badiou leugnet nicht, dass Nietzsches ›antiplatonische Therapie‹ einiges bewirkte. Er hinterfragt jedoch deren Effekte, indem er herausstellt, dass die Bekämpfung des Platonismus sich überwiegend als schädlich erwiesen habe, und verkündet sodann emphatisch, dass Nietzsches Diagnose umzukehren sei: »Das Jahrhundert und Europa müssen zwingend vom Antiplatonismus genesen«2. In Anbetracht dieser Proklamation verblüfft es kaum, dass er Platon zu einer eminent wichtigen, wenn nicht gar zu seiner bedeutendsten Referenz erklärt3. Es ist vielmehr überraschend, dass, obwohl er die Relevanz Platons für sein Denken fortlaufend betont, dieses Thema in der Literatur zu Badiou verhältnismäßig wenig und oberflächlich behandelt wird: Die Platon-Referenz bleibt entweder ungenannt4 oder taucht lediglich in Hinweisen ohne Erläuterungen auf5 oder wird allzu rasch, das heißt ohne eingehende Begründung, als 1 2 3 4 5

Siehe dazu vor allem Nietzsche (1886) sowie die entsprechenden Äußerungen in Nietzsche (1887), 150 f. und Nietzsche (1888), 624–626. Badiou (2001), 98. Vgl. Badiou/Tarby (2012), 135, Brankel (2003), 153. So ist Badious Bezugnahme auf Platon weder den Autoren des Sammelbandes Ereignis und Institution (Kamecke/Teschke [2008]) noch Bruno Bosteels (2012) in seiner Monographie eine Erwähnung wert. Wie etwa in Nick Hewletts (2007) Darstellung, die sich mit oberflächlichen und verstreuten Bemerkungen über die Bedeutung Platons für die Philosophie Badious begnügt. Ähnliches lässt sich über das Buch von Oliver Feltham (2008) sagen.

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›strategische Koketterie‹ abgetan.6 Die meisten Darstellungen folgen aber den Selbsterklärungen Badious und verlegen sich auf das weitgehend unkritische Kommentieren.7 Die folgenden Ausführungen stellen den Versuch dar, die Platon-Referenz Badious mittels des Transformationskonzeptes detaillierter zu untersuchen. Dessen zentrales Konzept wird mit dem Begriff »Allelopoiese« bezeichnet und besagt, dass Akte der Aneignung von Referenzobjekten komplexe Wandlungsprozesse sind, die keineswegs unidirektional verlaufen. Das bedeutet, dass es eine transformierende Wechselwirkung zwischen Aufnahme- und Referenzbereich gibt; dass beim Aneignungsakt nicht nur der erste modifiziert, sondern auch der zweite konstruiert wird8. So möchte ich im Weiteren zeigen, dass Badiou den antiken Philosophen als einen Denker der Kontingenz konstruiert, und mit den nachfolgenden Zeilen zudem einen Beitrag sowohl zur Weiterentwicklung des Transformationskonzepts als auch zur Badiou-Forschung leisten. Ich werde im ersten Schritt mithilfe der Feldtheorie Pierre Bourdieus zeigen, dass die Wahl Platons zum Referenzobjekt angesichts der Struktur des philosophischen Feldes, die Badiou beim Entwurf seines Systems vorfand, keinesfalls kontingent war. Ich werde hierfür die Beschaffenheit des philosophischen Feldes, wie Badiou sie seinerzeit wahrnahm, skizzieren und seine Positionierung darin darstellen. Daran anknüpfend werde ich Badious politische Position ausführlich analysieren und deren Hauptmerkmale herausarbeiten. Ich werde sodann an einem dieser Punkte demonstrieren, wie Badiou auf den antiken Denker konstruierend referenziert. Anschließend werde ich nachweisen, dass es in diesem, aber auch in den anderen Punkten erhebliche Differenzen zwischen Badiou und Platon gibt. Schließlich werde ich zeigen, wie die Philo-

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Oliver Marchart schreibt am Anfang eines Kapitels zu Badiou, dass es sich bei dessen Bezugnahme auf den antiken Denker, »um eine, gelinde gesagt, sehr eigentümliche Form des Platonismus handelt. Das Ausmaß an Provokation in Badious Statements sollte nicht unterschätzt werden. Oft sind diese im Geiste strategischer Koketterie verfasst« (Marchart [2010], 154). Er erläutert jedoch im Weiteren überhaupt nicht, was das Eigentümliche an Badious Platonismus ist bzw. worin die Besonderheit der Lesart Badious von Platon besteht. So behandeln Jason Barker (2002) und Ed Pluth (2012) in kurzen Kapiteln Badious ›Rückkehr zu Platon‹, wobei sie vor allem die zweite Meditation in Das Sein und das Ereignis erläutern. Sie zeigen, wie und wozu Badiou auf den antiken Philosophen Bezug nimmt, problematisieren aber seine Lesart von Platon nur in rudimentärer Weise. Der Beitrag von Simon Duffy mit dem Titel Badiou’s Platonism (2012) ist überwiegend eine Auseinandersetzung mit mengentheoretische Fragen. Frank Meier (2010) kommentiert in erster Linie Badious »platonische[.] Geste«, ohne sie auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Ähnliches lässt sich über Adam John Bartlett (2010) sagen, der sich vor allem darum bemüht, die Gemeinsamkeiten zwischen Badiou und Platon herauszuarbeiten, obwohl er am Schluss seines Artikels betont, dass die Treue Badious zu Platon keine Wiederholung oder Nachahmung darstellt. Bartletts Monographie Badiou and Plato: An Education by Truths (2011) ist ebenfalls ein, euphemistisch ausgedrückt, wohlwollender Versuch, die Beziehung zwischen Badiou und Platon auszuloten. Vgl. Bergemann et al. (2011), 39; siehe ferner Böhme (2011).

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sophie Badious durch die Wahl Platons zum Referenzobjekt modifiziert wird, wobei diese Wahl letztlich als kontingent erscheint.

Warum Platon? Weshalb positioniert sich Badiou derart in Bezug auf Platon? Die Antworten lauten im Hinblick auf seine ontologischen Überlegungen, dass er deshalb auf Platon referiert, weil dieser einen Bezug zwischen Mathematik und Ontologie herstellt – ein Vorgehen, das der französische Philosoph erklärtermaßen wiederholen möchte9, und weil er ferner in dessen Dialog Parmenides die erstmalige Ausformulierung dialektischer Logik erblickt10. Allgemeiner betrachtet, wird Badious Platon-Referenz primär als eine Provokation verstanden11. Dieser Verdacht drängt sich angesichts des Umstandes, dass Platon der Antipode des Gegenwartsdenkens schlechthin zu sein und all das zu repräsentieren scheint, was darin augenscheinlich keinen Platz hat, nicht ohne Grund auf. Badiou referiert aber auf Platon keineswegs nur, um zu provozieren. Und auch nicht bloß deshalb, weil der antike Denker »may have been the last thing left to postmodern theory that hadn’t already been recycled«12, sondern vor allem, weil seine eigene Philosophie durch eine derartige Stellungnahme an Distinktionswert gewinnt. Mit anderen Worten, Badiou wählt sein Referenzobjekt mit Blick auf die vorgefundene Struktur des philosophischen Feldes. Zunächst: Was besagt der Feldbegriff? Das Feld ist ein in sich relativ geschlossener und dynamischer Bereich,13 in dem sich eine spezifische Konfiguration von objektiven Beziehungen zwischen Positionen feststellen lässt, die von den sich in permanenter Auseinandersetzung befindenden Akteuren eingenommen werden.14 Die Position eines Akteurs in einem Feld hat nicht zuletzt mit seiner Beziehung zum Feld der Macht zu tun.

9 Vgl. Duffy (2012), 59; Pluth (2012), 44. 10 Barker (2002), 49–52. 11 Vgl. dazu Thumfahrt (2008). 12 Ebd. 13 Obzwar jedes Feld eine eigene Logik hat sowie über jeweils besondere Eigenschaften verfügt (Bourdieu [1998b], 19), lassen sich zwischen allen Feldern funktionale und strukturale Homologien beobachten und demzufolge einige für die Gesamtheit der Felder gültige Sätze formulieren: Bourdieu (1992), 155 f.; Bourdieu (1999), 291–294, 340 f.; Bourdieu (2006), 137. 14 Bei den Kämpfen der Akteure geht es nicht nur um Hierarchien, sondern auch um die Grenzen und den Nomos eines Feldes: »Grenzen festlegen, sie verteidigen, den Zugang kontrollieren heißt die in einem Feld bestehende Ordnung verteidigen« (Bourdieu [1999], 357, vgl. ferner Bourdieu [2006], 130–133). Es sind Auseinandersetzungen um die Definition eines Feldes sowie nicht zuletzt um das Ausmaß seiner Autonomie, das am Brechungs- bzw. Übersetzungseffekt gemessen werden kann, den die feldspezifische Logik äußeren Anforderungen oder Einflüssen zufügt (Bourdieu [1998a], 62; Bourdieu [1999], 349).

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Ein heteronomer Akteur ist z. B. jemand, der nicht nur innerhalb des Feldes anerkannt wird, sondern auch weltlichen, das heißt in erster Linie finanziellen Erfolg hat.15 Die Position eines Akteurs sagt jedoch nicht zwangsläufig etwas über seine Positionierung bzw. Stellungnahme im Feld aus. Die aktuelle und potentielle Situation innerhalb eines Feldes bestimmt die objektive Beziehung zwischen unterschiedlichen Positionen. Die relevanten Eigenschaften einer Position lassen sich mithin nur in Relation zu anderen Positionen beobachten.16 Dasselbe gilt für Stellungnahmen, deren distinktive Werte sich erst durch den Bezug auf andere Stellungnahmen erkennen lassen,17 wobei sie in bestimmten Fällen »reine Kundgebungen der Differenz«18 sind: das heißt, Gesten des Bruchs, der Herausforderung oder Verweigerung. Die Homologie zwischen dieser oder jener Position und dieser oder jener Positionierung besteht nicht automatisch, denn dazwischen schiebt sich gewissermaßen der Raum des Möglichen. Das ist der Raum, der von vollzogenen Positionierungen ausgefüllt und strukturiert wird.19 Ein bestimmter Habitus ermöglicht es, in diesem »Universum aus bedingten Freiheiten und objektiven Potentialitäten«20 strukturelle Lücken wahrzunehmen und sie auf ihr Potential hin zu bewerten. Zu jenem Habitus gehört notwendig das Wissen um die spezifische Geschichte des Feldes, die kumulative Züge trägt.21 Alles Hinterfragen ist nicht zuletzt – meist implizites – Besinnen auf die feldspezifische Tradition und setzt daher einen bestimmten Umfang an Wissen der in der Struktur des Feldes objektivierten Geschichte voraus. So kann Subversion gerade »im Gewand der Rückkehr zu den Ursprüngen« auftreten.22 Die Wahl Platons als Referenzobjekt durch Badiou ist mithin aus der Sicht der Feldtheorie in zweifacher Hinsicht keineswegs kontingent: 1) Der französische Philosoph kann durch den Bezug auf Platon eine strukturelle Lücke effektiv besetzen, 2) Falls Alfred North Whiteheads Behauptung23, dass die philosophische Tradition Europas aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht, auch nur ansatzweise berechtigt sein sollte, dann ermöglicht die Referenz auf den antiken Denker eine Inszenierung der Rückkehr, wenn nicht zu den Ursprüngen der Philosophie, so doch zu einem überaus bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte der Disziplin, und mithin eine effektive Stellungnahme im philosophischen Feld. Wie lässt sich dessen Beschaffenheit in der Zeit beschreiben, als Badiou begann, sein eigenes System zu entwickeln? 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Bourdieu (1999), 342, 344–346. Ebd., 365 Ebd., 368, 379. Ebd., 380. Bourdieu (1998a), 65 f.; Bourdieu (1999), 368, 371 Bourdieu (1999), 372. Vgl. Bourdieu (1998a), 55. Ebd., 64. Whitehead (1987), 91.

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Das philosophische Feld und die Positionierung Badious Der Zustand des philosophischen Feldes in Frankreich seit den 1970er Jahren, in dem und gegen das Badiou seine Philosophie entwickelte, zeichnete sich zum einen durch die mediale Aufmerksamkeit für die sogenannten ›Nouveaux philosophes‹ aus, die insbesondere gegen den Marxismus anschrieben.24 Zum anderen gewann die postmoderne Philosophie an intellektueller Dominanz. Diese philosophische Strömung trug – spätestens mit dem Erscheinen des Postmodernen Wissens von Jean-François Lyotard (1986) – nicht unerheblich zur Entradikalisierung25 des französischen politiktheoretischen Diskurses bei. Weder die postmoderne Philosophie noch die analytische oder die hermeneutische Strömung, merkt Badiou diesbezüglich an, begegnen in angemessener Weise den Herausforderungen der gegenwärtigen Welt, deren Zustand durch stetig zunehmende Spezialisierung und Fragmentierung, das allgegenwärtige Sicherheitskalkül, die Herrschaft einer inkohärenten Kommunikation, des Geldallgemeinen und der Waren gekennzeichnet ist.26 Das Gemeinsame dieser unterschiedlichen Haupttendenzen der zeitgenössischen Philosophie drücke sich in zwei Axiomen aus: 1) »Die Metaphysik der Wahrheit ist unmöglich geworden« und 2) »Die Sprache ist der entscheidende Ort des Denkens«.27 Badious wendet dagegen ein, dass die Sprache nicht den absoluten Sinnhorizont des Denkens darstellt. Er stellt heraus, dass, obgleich die Sprachspiele das Gesetz der Welt sind, die Philosophie in ihnen nicht ihren Imperativ zu suchen braucht, weil sie als Denken nicht unmittelbar von der sprachlichen Regel abhängt, innerhalb deren sie wirkt. Die Philosophie als Denken wendet sich vielmehr an alle. Sie »durchquert die sprachlichen Gemeinschaften und das Heterogene der Sprachspiele, ohne irgendeines zu privilegieren« und ist mithin allgemein übertragbar.28 Wenn die philosophische Disziplin sich nur mit der Vielfalt der Sprachspiele sowie ihrer grammatikalischen Regeln auseinandersetzt und dergestalt zur Meditation über die Sprache verkommt, dann vermag sie der Logik der produktiven Spezialisierung und wissenschaftlichen 24 Siehe beispielsweise Glucksmann (1976), Glucksmann (1978); Lévy (1978). 25 »One sub-theme of postmodernism is that social critique – which depends on the possibility of transcendence, since it thematizes the limitations of existing social relations and therefore if only implicitly adverts to the necessity of surpassing these relations – is no longer possible« (Callinicos [2006], 4). Obzwar jede Zeile seiner Interventionen von Radikalität geradezu durchtränkt ist, bricht Badiou gleichwohl aufgrund seiner Suspendierung der Bedeutung der Ökonomie nicht vollkommen aus dem postmodernen Theoriehorizont heraus (vgl. Žižek [2005], 96–100). 26 Vgl. Badiou (1997a). 27 Ebd., 19. 28 Ebd., 23. »Das rein menschliche Vermögen ist aber das Denken, und das Denken ist nichts anderes als das, wodurch die Bahn einer Wahrheit das menschliche Tier ergreift und durchdringt« (Badiou [1997c], 55, ähnlich ebd., 58; siehe ferner Badiou [2003a], 24; Badiou [2003b], 110, 113; Badiou [2005b], 33–35).

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Fragmentierung nichts Allgemeingültiges entgegenzusetzen. Badious Kritik der Preisgabe der Wahrheitskategorie weist in die gleiche Richtung. So erklärt er nachdrücklich, dass der flexiblen Vielheit der zirkulierenden Objekte, Geld und Bilder, das heißt der Ubiquität der Kommodifizierung und der Inkonsistenz der Kommunikation, ein unbedingter Fixpunkt entgegenzustellen ist.29 An solch einer festen Position gilt es festzuhalten und sie als wahr zu verteidigen.30

Badious politische Position Die Kritik, die Badiou an der Aufgabe des Wahrheitsbegriffs übt, lässt erkennen, wo er innerhalb des politischen Spektrums zu verorten ist. Doch wie sehen seine politische Diagnose und die entsprechende Position genau aus? Ein Fixpunkt, dessen eminente Bedeutung Badiou betont, ist das Axiom: »Es gibt eine einzige Welt«31. Er stellt zunächst den paradoxen Umstand fest, dass nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes in der sogenannten ›freien Welt‹ primär das Geld und die Waren frei zirkulieren, während die Bewegungsfreiheit der Menschen beschränkt bleibt. Anschließend kehrt er dieses Missverhältnis gewissermaßen um, indem er darauf insistiert, dass die Einheit der Welt nicht in der wirtschaftlichen Globalisierung besteht, sondern in der »der lebendigen und aktiven Körper, hier und jetzt«32. Seine performative Forderung besagt konkret, dass kommunitäre Abschließungen und kulturelle Spezifika nicht zum sozio-politischen Ausschlusskriterium erhoben werden sollen. Dass Gesetze von allen zu befolgen sind, bestreitet er keinesfalls, doch weist er die Integrationsansprüche bzw. die über den Bereich der Legalität hinausgehenden, »kulturellen« Forderungen an Ausländer zurück: Wenn es eine einzige Welt gibt, existieren alle, die in ihr leben, wie ich, aber sie sind nicht wie ich, sie sind anders. Die einzige Welt ist eben der Ort, an dem die Unendlichkeit der Unterschiede existiert. […] Wenn man dagegen von denen, die in der Welt leben, verlangt, dieselben zu sein, dann ist es die Welt, die sich schließt und als Welt von einer anderen Welt verschieden wird 33.

Badiou besteht demnach auf der Gleichwertigkeit der verschiedenen Identitäten, ohne deren Differenzen zu leugnen. Darüber hinaus betont er, dass die Unterschiede angesichts gemeinsamer Projekte an Bedeutung verlieren: »Die Politik ist ein Operator für die Konsolidierung des Universalen in den Identitäten«34. 29 Siehe ebd. 30 Vgl. Badiou (2008), 36, 49. 31 Ebd., 22, 56. 32 Ebd., 65. 33 Ebd. 34 Ebd., 71.

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Welche Bedingungen sind für das Errichten eines Fixpunktes notwendig? Badiou schreibt, dass das Sich-heraus-Quälen aus dem Konsens eine diesbezüglich unabdingbare Voraussetzung darstellt.35 Zum nicht-konsensualen Denken gehört nicht zuletzt der Bruch mit der Vorstellung, es gäbe Debatten, Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten – also Gegner, jedoch streng genommen keine Feinde.36 Die Errichtung eines Fixpunktes geht demnach mit der Einnahme einer radikal polemischen, nicht bloß eristischen, Position einher gegenüber denjenigen, die als politische Feinde identifiziert werden. Badiou weist in diesem Zusammenhang darauf hin, »daß man mit einer wirklich anderen Meinung nicht diskutiert; man kann sie allenfalls bekämpfen«37. Er wendet sich gegen die gegenwärtig dominierende »Doktrin des Konsenses«38, deren theoretische Kristallisierung er in einer bestimmten Ausformung der politischen Philosophie erblickt, deren Kennzeichen die Privilegierung der öffentlichen Meinung und Leugnung von Wahrheiten im politischen Leben ist. Er schreibt, dass dieser Philosophie zufolge die Ausübung der Politik mit der Diskussion reflektierender Urteile quasi gleichgesetzt wird. Weder werden dabei Maximen des Handelns festgelegt noch objektive Konfigurationen analysiert.39 Badiou betont hingegen, dass es ohne Bezug zur Wahrheit kein sinnvolles Streitgespräch geben kann.40 Denn die Debattierenden bemühen sich in der Regel darum, möglichst gut zu begründen, warum ihre Aussagen keine Lügen sind, das heißt warum ihre Position wahr und keinesfalls falsch ist.41 Die Entgegensetzung von Meinung und Wahrheit bezeichnet er als sophistisch und erklärt, dass nicht jede verbale oder schriftliche Auseinandersetzung über Politik es verdient, politisch genannt zu werden, sondern nur diejenige, die sich in einer Entscheidung niederschlägt.42 Die antimarxistische Kritik, die sowohl die ›Nouvelle philosophie‹ als auch das postmoderne Denken kennzeichnet, war nicht zuletzt ein Symptom der Krise des Marxismus, die auch Badiou konstatiert. Er stellt die historische Zerstörung der Glaubwürdigkeit des Marxismus anhand des Zusammenbruchs des Dispositivs dreier Referenzen dar: a) Bezug zur Arbeiterbewegung, b)

35 Badiou (2003b), 38; Badiou/Tarby (2012), 10. 36 Badiou/Tarby 2012, 10. »[G]ibt es einen wahrhaften Feind oder nicht? Man muss bei dieser Frage beginnen. In der Politik ist das eine ganz wichtige Frage und man hat sich zu sehr daran gewöhnt, sie zu vernachlässigen. […] In der Politik ist der Kampf gegen den Feind grundlegend für die Aktion. Der Feind ist wesentlicher Bestandteil der Politik« (Badiou [2011b], 52). 37 Badiou (2003b), 33, Hervorhebung im Original; siehe zudem Badiou (2005b), 17. 38 Badiou (2003b), 33, Hervorhebung im Original. 39 Ebd., 31. 40 Ebd., 29. 41 Vgl. Wolf (2008). 42 Badiou (2003b), 28–30.

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Bezug zu den nationalen Befreiungsbewegungen, c) Bezug zum Staat.43 Aus diesem historischen Scheitern zieht Badiou die Konsequenz, dass (emanzipatorische) Politik sich nunmehr nicht am staatlichen Funktionieren orientieren sollte. Sie ist aus seiner Sicht nicht mehr auf Programme angewiesen, die sich in irgendeiner Form mit der Frage des Staates auseinandersetzen, weil sie fortan in »der Dimension einer kollektiven, sich dem normativen Staatskonsens entziehenden Freiheit« auftritt.44 Die Distanznahme zum Staat impliziert für Badiou die Ablehnung der hergebrachten Parteipolitik im Allgemeinen45 sowie die vehemente Kritik des Parlamentarismus im Besonderen46. So begreift er die Wahlen als »die Inszenierung eines numerischen Elements«, die sich um »die wiederholende Stupidität der Zahl« dreht.47 Er erklärt, dass die Stimmabgabe nichts weiter als »organisierte Desorientierung« ist48, in deren Rahmen die Illusion einer genuinen Entscheidung geschaffen wird. Denn falls es sich beim Votum tatsächlich um eine Mehrheitsentscheidung in einem demokratischen Prozess handelt, dann ist eigentlich zu erwarten, dass der »Volkswille« respektiert wird. Jedoch, so Badious Kritik, werden nicht alle Wahlergebnisse in der gleichen Weise akzeptiert (z. B. der Erfolg der Islamischen Heilsfront bei den Wahlen in Algerien 1991, die Nationalratswahlen in Österreich 1999 mit der anschließenden Regierungsbeteiligung der FPÖ, der Sieg der Hamas 2006 etc.). Die parlamentarische Demokratie basiert mithin auf der Illusion, dass mit der Stimmabgabe tatsächlich etwas Neues innerhalb der bestehenden politischen Ordnung entstehen kann: »Der Parlamentarismus ist […] eine politische Form, die Brüche ausschließt, er ist eine Form, welche die Kontinuität vorschreibt«49. Die Wahlen sind etwas Regelmäßiges und keine Ausnahmen. Es handelt sich um eine Institution, um ein normiertes Verhältnis zwischen denjenigen, die die Stimmenmehrheit erlangt haben, und den Wahlverlierern. Das Votum ist für Badiou bloß »eine Entschei-

43 Badiou (2010), 31–38, 51–67; siehe ferner Bosteels (2012), 157 f.; Pluth (2012), 197–200; Völker (2012), 177–184. 44 Badiou (1997b), 36. »Die Geschichte der Politik, die aus Denkentscheidungen und gewagten kollektiven Engagements besteht, ist, […], völlig von der Geschichte des Staates verschieden« (Badiou [2005a], 86). Siehe außerdem Badiou (1997c), 61 f.; Badiou (2003b), 116 f.; Badiou (2005a), 68–70; Badiou (2008), 15, 23; Badiou/Tarby (2012), 50 f. 45 Badiou (2003b), 81–90. Damit bricht er seiner früheren Ansicht, die er in Théorie du sujet (1982) noch vertreten hat, der zufolge die Partei die effektivste Organisationsstruktur darstellt (siehe dazu Bosteels [2012], 83–85; Pluth [2012], 197; Völker [2012], 176). Aus der Zurückweisung der Parteilogik folgt für Badiou jedoch nicht, dass politische Organisationen grundsätzlich abzulehnen sind (Badiou [2010], 129). 46 Badiou (2003a), 48; Badiou (2003b), 30 f.; Badiou (2005a), 72, 75 f.; Badiou (2005b), 26–28; Badiou (2008), 35–38, 63 f.; Badiou (2012). 47 Badiou (2008), 36 f. 48 Ebd., 22. 49 Badiou (2012), 9.

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dung der Nuance, des feinen Unterschiedes«50. Zusammenfassend gesagt, lässt sich seine politische Position als anti-etatistisch und egalitär charakterisieren. Weitere Merkmale sind die Ablehnung des Primats der öffentlichen Meinungen, das Insistieren auf der Unausweichlichkeit der politischen Feindschaft sowie die Affirmation der Kontingenz.

Ereignis, Treue, Wahrheit, Idee Der letztgenannte Punkt verweist unmittelbar auf einen der zentralsten Begriffe Badious: das Ereignis. Denn er zielt mit seiner Philosophie darauf ab, darzulegen, »dass sich eine andere Möglichkeit als das, was es gibt, ereignen kann«51. Das Ereignis zeigt an, dass eine Möglichkeit existiert, welche das Bekannt-Bestehende transzendiert. Das Ereignis ist dasjenige, das gegenüber den gewöhnlichen Gesetzen der Situation kontingent ist, da es nicht auf diese zurückgeführt werden kann. Das Ereignis schafft wohlgemerkt keine neue Realität, sondern eröffnet lediglich eine Möglichkeit zur Realisierung. Damit sich eine Möglichkeit verwirklichen, sich etappenweise in die Welt einschreiben kann, bedarf es der Treue zum Ereignis. Dem Ereignis treu sein, bedeutet zum einen, entschieden mit der existierenden Ordnung zu brechen. Die Treue zum Ereignis ist zum anderen die Entscheidung, sich bezüglich der existierenden Meinungen und etablierten Kenntnisse heterogen zu verhalten, indem man »neue Seins- und Handelnsweise[n] in der Situation« erfindet.52 Das Entfalten der Konsequenzen aus dem Ereignis bringt eine Wahrheit hervor, die sozusagen dessen materielle Spur in der Situation darstellt. Das Ereignis, das im Hinblick auf die vorhandenen Gesetze der Situation hors-la-loi ist, ist an eine IDEE geknüpft. Die IDEE ist der allgemeine Name einer Möglichkeit, die das Ereignis schafft.

Die IDEE und das Reale Die Verwendung des Begriffs ›Idee‹ ist der offensichtlichste Bezug auf die Philosophie Platons durch Badiou. Der französische Philosoph beginnt die Erläuterung seines Verständnisses des Mutes in Wofür steht der Name Sarkozy? mit dem Verweis auf Platons entsprechenden Dialog Laches.53 Er schreibt, der Mut sei keine Haltung, sondern eine Tugend, die sich in Handlungen manifestiert. 50 51 52 53

Badiou (2005b), 27. Badiou/Tarby (2012), 22. Badiou (2003a), 62. Vgl. Badiou (2008), 77.

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Der Mut eines Subjekts zeige sich zunächst in der Zuwendung zu einem Fixpunkt, an dem es dauerhaft festhält. Diese Wende sei das, was bei Platon unter dem Begriff periagôgê figuriert. Darunter habe der antike Denker eine dialektische Umwendung verstanden, bei der das Individuum sich »von der Realität ab und dem Realen zu[wendet], das Platon ›Idee‹ nennt«54. Dieser Vergleich dürfte jeden, der sowohl mit der Philosophie Platons als auch mit der Psychoanalyse Jacques Lacans vertraut ist, fraglos verdutzen. Platons positive Bestimmung der Eigenschaften der Idee – immer mit sich identisch und unvergänglich – weist auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeit mit den basalen Merkmalen des Realen bei Lacan auf. So bestimmt der französische Psychoanalytiker das Reale in seinem ersten Seminar als das, »was der Symbolisierung absolut widersteht«55. In einem späteren Text über Edgar Allan Poes Geschichte Der entwendete Brief schreibt er im Hinblick auf das Reale, dass es sich stets und in jedem Fall, »in welche Unordnung man es auch bringt«, an seinem Platz befindet.56 Der Eindruck einer Analogie zwischen den beiden Konzepten gerät jedoch durch Lacans Emphase der Unfassbarkeit des Realen rasch ins Wanken. Der französische Psychoanalytiker betont, dass das Reale unmöglich zu erreichen ist, weil es sich den potentiellen Zugriffsweisen nicht nur entzieht, sondern sie außerdem aktiv unterminiert.57 »Wenn Lacan vom Realen spricht, kommt es ihm vor allem darauf an, es als eines erfahrbar zu machen, das von der Logik ausgegrenzt wird«58. Wie Platon aber Sokrates anhand des Liniengleichnisses ausführen lässt, ist dem Bereich der Ideen als Erkenntnisform die Vernunft zugeordnet. Das Vordringen zum Bereich der Ideen erfolgt mittels der Dialektik, eines logischen Verfahrens. Wenn Badiou ferner die platonische Idee mit dem Realen unmittelbar in Verbindung bringt, dann impliziert er, dass jene etwas Kontingentes sei. Denn das Reale wird von Lacan in der fünften Sitzung des XI. Seminars ausdrücklich mit der Tyche gleichgesetzt.59 Badiou stellt somit implizit den antiken Philosophen als einen Denker dar, der den Faktor Kontingenz positiv besetzt hätte. Diese Lesart ist mehr als gewagt. Platon behandelt die Tyche zwar nirgends systematisch60, doch bedeutet dies nicht, dass er sich ihrer Bedeutung nicht bewusst war. Er schenkte ihr im Zuge seiner Bemühungen, den Zusammenhang zwischen der Erfahrungswelt, das heißt dem Bereich der wahrnehmbaren Dinge, und der Ideenwelt zu klären, zweifelsohne Beachtung. Er konnte gleich-

54 55 56 57 58 59 60

Ebd., 80. Lacan (1990), 89. Lacan (1991), 24. Vgl. dazu Hammermeister (2008), 61. Widmer (1997), 58. Lacan (1996), 58–70, bes. 61. Herter (1962), 1; Zimmermann (1966), 11, 103.

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wohl in einer durch die Teilhabe an den Ideen geordneten Welt der Kontingenz keine weitgreifende Wirkmächtigkeit zusprechen.61 Platon schildert in seinem berühmten 7. Brief, wie die politischen Umwälzungen in Athen und im restlichen Griechenland ihn vom politischen Handeln abgeschreckt haben. Er legt dar, wie seine Beobachtung des Sittenverfalls ihn zu der Einsicht gebracht haben, dass gerechte und nicht zuletzt stabile62 Gesetze sowie vernünftige Regierung nur auf der Grundlage der Philosophie möglich sind. Die Erfahrungen der politischen Instabilität haben dazu beigetragen, dass Platon in seinem Entwurf des politischen Gemeinwesens bestrebt war, die Kontingenz zu minimieren bzw. auszuschalten. Den kontingenten Abweichungsmöglichkeiten von der vorgestellten Ordnung wird in der Politeia sogar mittels eines inszenierten Zufalls begegnet.63 Nachdem Glaukon und Sokrates ausgiebig die Frage nach der Stellung und Aufgabe der Frau innerhalb des imaginierten Gemeinwesens besprochen haben, befassen sich beide mit den biopolitischen, den Wächterstand betreffenden Maßnahmen. Sokrates zieht den Vergleich zwischen der kontrollierten Zucht von Jagdtieren und geregelten Fortpflanzung der Angehörigen des Wächterstandes. So wie nur die besten Tiere sich fortpflanzen dürfen, so soll vor allem der Geschlechtsakt zwischen den tüchtigsten Männern und Frauen gefördert werden. Um dies zu gewährleisten und zugleich die schlechten Wächter an der Fortpflanzung zu hindern, sollen die Philosophenkönige manipulierte Verlosungen einführen, damit die Besten zum Geschlechtsverkehr zugelassen werden. Der Zufall wird in dieser fingierten Sex-Lotterie aber nicht nur einfach ausradiert, sondern gleichsam domestiziert. Nichts wird dem Zufall überlassen, die Schuld an der eigenen sexuellen Misere sollen die Betroffenen jedoch gerade ihm zuweisen. Diese Maßnahme soll einerseits die genetische Perfektionierung des Wächterstandes sicherstellen, andererseits gilt es potentiellen Konflikten innerhalb des imaginierten Gemeinwesens vorzubauen. Das ist ein weiterer Punkt, an dem erkennbar wird, dass Badiou und Platon im Hinblick auf grundlegende Sichtweisen stark voneinander abweichen. Der Gegenwartsphilosoph stellt angesichts der von ihm diagnostizierten Konsensdoktrin nicht nur das Primat der politischen Feindschaft heraus, sondern befürwortet darüber hinaus – zumindest implizit – deren Intensivierung. Platon ist dagegen bestrebt, die innenpolitische, aber auch innergriechische Feindschaft zu hegen und zu minimieren. So spricht er im fünften Buch der Politeia ausdrücklich davon, dass die Griechen in einer Weise untereinander verfeindet sind, wie sie eigentlich mit den Barbaren sein sollten. Die Griechen sollten 61 Vgl. dazu Zimmermann (1966), 104. 62 Die Bedeutung von Stabilität zeigt sich am Lob für Dareios I., der laut Platon dauerhafte Gesetze für das persische Reich erließ und von ihm deshalb zum Musterbeispiel eines Gesetzgebers deklariert wird (vgl. Plat. Ep. 7, 332b). 63 Plat. Rep. 459a–460a.

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nicht mehr bis zur völligen Unterjochung bzw. Versklavung oder gar Ausrottung ihrer Gegner kämpfen, sondern ihnen in Strafexpeditionen bloß die Ernte wegnehmen.64 Die Brutalität, die sich im Peloponnesischen Krieg gezeigt hat, soll nach Platons Auffassung nach außen verlagert werden. Derartige Gewalt ist nur gegen Barbaren anzuwenden.65 Dieser Gedanke bringt noch einen Punkt der Differenz zwischen Badiou und Platon zum Vorschein. Es zeigt sich nämlich, dass Platon nichts von einer Welt im Sinne Badious hielt. Während dieser die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erneut behauptete Dichotomie zwischen Barbarei und Zivilisation vehement kritisiert, zweifelt jener keineswegs am fundamentalen und unüberbrückbaren Unterschied zwischen der Welt der Griechen, in der das Gesetz regiert, und der Welt der Barbaren, die von Despoten beherrscht wird. Vielleicht lässt sich aber eine Übereinstimmung zwischen dem antiken Denker und dem Gegenwartsphilosophen in der Kritik der öffentlichen Meinung entdecken, deren Wert beide kritisch beurteilen? So lässt Platon den Sophisten Gorgias im gleichnamigen Dialog über die Macht der Rhetorik schwadronieren und weist damit auf das Problem der Bildung öffentlicher Meinung hin: »Eben so im Streit gegen jeden andern Sachverständigen würde der Redner eher als irgend einer überreden, ihn selbst zu wählen. Denn es gibt nichts, worüber nicht ein Redner überredender spräche als irgend ein Sachverständiger vor dem Volke. Die Kraft dieser Kunst ist also in der Tat eine solche und so große«66. In der anschließenden Debatte mit Polos gibt Sokrates ganz ausdrücklich zu verstehen, dass er der öffentlichen Meinung hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit skeptisch gegenüber steht. Auf die Frage Polos’, ob er nicht merke, dass seine Ansichten bereits dadurch widerlegt sind, dass niemand mit ihm darüber einer Meinung sein wird, und dessen anschließende Aufforderung: »Doch frage einen von diesen hier«, entgegnet Sokrates, dass er politisch unerfahren ist, und führt sodann aus: [Z]u Jahre als es mich traf im Rat zu sitzen, […], und ich die Stimmen einsammeln sollte, bereitete ich mir Gelächter, und verstand gar nicht die Stimmen zu sammeln. Also mute mir auch jetzt nicht an Stimmen zu sammeln von den Anwesenden. […] Nämlich ich verstehe für das was ich sage nur Einen Zeugen aufzustellen, den mit dem ich jedesmal rede; die Andern laß ich gehen, und nur von dem Einen weiß ich die Stimme einzufordern, mit den Andern aber rede ich nicht einmal67.

Sokrates’ Antwort bringt sicherlich Platons Skepsis hinsichtlich öffentlicher Meinung zum Ausdruck. Die schlichte Gegenüberstellung zwischen Meinung (doxa) und Wahrheit (alêtheia) bzw. Wissen (epistêmê), wie Badiou sie vor64 65 66 67

Plat. Rep. 471a Ebd., 469c. Plat. Gorg. 456c. Ebd., 473e–474a.

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nimmt, entspricht jedoch eher der rigiden Auffassung Parmenides’ als der differenzierten Sichtweise Platons: Für jenen gibt es keine bloßen Meinungen, die objektiv wahr sind, während dieser eine solche Möglichkeit nicht ausschließt.68 Platon unterscheidet ferner innerhalb der doxa zwischen eikasia (Mutmaßung, die bloß geringfügigen Wahrheitsgehalt hat) und pistis (Überzeugung, die zwar nicht zum Wissen gehört, dennoch eine verlässlichere Form der Kognition ist, da sie einen hinreichenden Wahrheitsgehalt haben kann)69. Und obwohl er betont, dass doxa im Hinblick auf wahre und endgültige Erkenntnis wenig von Belang ist70, spricht er ihr in praktischer Hinsicht keinen geringen Wert zu.71

Schlussbetrachtung Es lässt sich eine transformatorische Spannung in Badious Schriften beobachten: Einerseits war die Wahl Platons zum Referenzobjekt aus seiner Sicht in Anbetracht der vorgefundenen Beschaffenheit des philosophischen Feldes keineswegs kontingent, weil er sich darin auf diese Weise effektiv positionieren und seinen distinktiven Wert erhöhen konnte. Andererseits verfolgt Badiou – als ein Denker, der sich selbst ausdrücklich im linken Spektrum verortet – bestimmte Ziele bzw. vertritt Ansichten, die mit dem Referenzobjekt Platon, wie ich gezeigt habe, wenig kompatibel sind, und gerät so unter Transformationsdruck. Seine Platon-Referenz erscheint aus dieser Perspektive als kontingent. Es ist eine Ironie der Allelopoiese, dass Badious Bezug auf Platon modifizierende Wirkung auf seine politische Position hat. Wie Michael Hirsch72 richtig erkannt hat, geht Badiou letztlich vom Primat des Ethischen aus. Er weist nach, dass dieser die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die ethische Transformation der Subjekte lenkt und letztlich nicht viel zu einer politischen Transformation im engeren Sinne zu sagen hat. Hirsch stellt heraus, dass Badious ethisch fundierter Haltung eine Verachtung für die profane Wirklichkeit der konkreten gesellschaftlichen Bedingungen inhärent ist. Daran anknüpfend legt er dar, dass Badious Augenmerk stets auf den Bewusstseinszustand der betreffenden Subjekte gerichtet ist, und fügt kritisch hinzu: »Nie geht es darum, einer fortschrittlichen Politik eine Dauer in der Zeit durch eine politische und staatliche Festlegung von Zwecken und Mitteln zugleich zu sichern«73. Badiou betone nicht nur die Seltenheit von Ereignissen, so Hirsch weiter, sondern konzentriere sich »auch auf die Handlungen und Einstellungen weniger 68 69 70 71 72 73

Vgl. Meixner (2007), 201 Siehe dazu Plat. Rep. 509d–511e, 534a. Ebd., 506 c. Plat. Men. 96e–97b. Hirsch (2010). Ebd., 80, Hervorhebung im Original.

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Personen und Personengruppen«74. Damit macht er auf den (potenziell) elitären Charakter der Träger von Wahrheitsprozessen aufmerksam; derjenigen, die »neue Seins- und Handelnsweise[n]« erfinden und erproben.75 Die rigorose Verachtung Badious für die öffentlichen Meinung und die damit verbundene Ablehnung der massendemokratischen Wirklichkeit führen dazu, dass er die Wenigen privilegiert, die der Treue zum Ereignis fähig sind. Damit bekräftigt er aber nur die sophistische Kritik. Denn Kallikles wirft Sokrates nicht zuletzt vor, dass dieser lediglich sektiererisch und an der politischen Wirklichkeit vorbei wirken könne.76

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Personenregister d’Abano, Pietro 253 Adam von Bremen 360 Aeneas, Eneas 189, 192–196, 203 Agassiz, Louis 365 Agathias Scholasticus 360 Agrippa von Nettesheim, Cornelius 134 Albedacus 199, 200, 203 Alberti, Leon Battista 90, 91, 302, 303 Albertus Magnus 258, 355, 359 Albumasar 252, 254–258 Alchian, Armen A. 176 Alciatus, Andreas 13, 14, 20 Al-Damiri 355 Aldrovandi, Ulisse 349 Alexander der Große 22, 23 Alfons von Aragon 91 Al-Qazwini 355 Alyphius 43, 44, 47 Ambrosius 41 Améry, Jean 389 Amulius 211, 214 Ancus 217 Andronicus 356 Anselm von Canterbury 64 Antonino von Florenz 299, 300 Apollonius von Tyrland 189–210 passim von Archenholz, Johann Wilhelm 2 Archimedes 26, 116–118, 120, 121, 131, 138 Ariadne 143 Aristarchos von Samos 120, 121 Aristoteles 2, 4, 22–26, 55, 59–67, 70, 80, 116, 117, 120, 125, 127, 128, 139, 152, 229, 239, 240, 243, 244, 297–303, 353, 374, 397, 403 Arnus 216, 217, 220 Aron, Raymond 1

Artus 22 Auerbach, Erich 75, 76 Augustinus von Hippo 21, 24, 39–49 passim, 84–90, 108, 240, 297, 299 Aurelian 359 Ayala, Francisco 388, 389 Ayrer, Jacob 211–224 passim Bachelard, Gaston 31 Bachtin, Michail 197 Bacon, Francis 15–17, 134 Badiou, Alain 409–423 passim von Baer, Karl 350, 362, 373, 374 Baldi, Bernardino 135 Emir Baligant 272 Beatus Rhenanus 331 Bedau, Mark 166 Bellanti, Lucio 250, 251 Benedetti, Giovanni Battista 117, 118, 139, 142 Ben-Menahem, Yemima 156, 159 von Berenhorst, Georg Heinrich 2 Berlin, Isaiah 165 Bessarion 118, 119 Binabel 287 Blanscandiz 275 Blumenbach, Johann Friedrich 358 Blumenberg, Hans 239 Boccaccio, Giovanni 25 den Boeft, Jan 39, 47 Boethius 23–25, 85–87, 89, 90, 92, 101, 103, 108, 267, 310 Boucher de Perthes, Jacques 365 Bouillau, Ismael 120 Bourdieu, Pierre 410 Bouwsma, William J. 78 de Bovelles, Charles 8, 14 Bowler, Peter 162

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Register

von Brandt, Johann Friedrich 349–386 passim Brant, Sebastian 21 Bruno, Giordano 121, 136 Buckland, William 365 Burckhardt, Jacob 87, 88 Burdach, Konrad 88 Burton, Robert 21 Caesar 81, 356, 360 Calvin, Johannes 108, 109 Campbell, Donald T. 174–176 Freiherr von Campenhausen, Hans 40 Cannaba 359 Cantemir, Dimitrie 361 Cardano, Girolamo 133, 136, 226, 259, 260 Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 6, 7, 10, 11 Cassirer, Ernst 8 Cecco d’Ascoli 259 Celtis, Conrad 341 de Cervantes, Miguel 23 Chaucer, Geoffrey 102 Cicero, Marcus Tullius 7, 24, 41, 42, 48, 78–82, 89, 243, 245, 315, 329, 338 Cicero, Quintus Tullius 80 Clarke, Samuel 132 von Clausewitz, Carl 1 Clemens VII. 98 Clemens von Alexandrien 41 Commandino, Federico 116–118, 135 Conway Morris, Simon 159 Copernicus → Kopernikus Coronelli, Vincenzo Maria 16 Cozens, Alexander 28, 29 Crick, Francis 151 Cusanus → Nikolaus von Kues Daedalus 143, 144 Damasio, Antonio 404, 405 Daniel, Ute 157 Dante Alighieri 15, 25, 87, 88, 309

Darwin, Charles 27, 160, 162, 350, 367, 368, 370–375, 387–408 passim Davanzati, Bernardo 303 David 287 Del Monte, Guidobaldo 117, 118, 122, 133, 138, 139, 143 Demandt, Alexander 155 Demokrit 22 Descartes, René 403 Dido 192, 194 Dilthey, Wilhelm 51 Diogenes Laertius 41 Diomena 199–204 Dobzhansky, Theodosius 388, 389, 391 Doren, Alfred 80, 83, 211 Dorotheos von Sidon 242 Duchamp, Marcel 152, 153, 167 Dürer, Albrecht 19, 20 Du Vair, Guillaume 100–102, 105, 106 von Eichwald, Carl Eduard 349–386 passim Einstein, Albert 161 Ekkehard von Sankt Gallen 360 Elias 197, 204 Elisabeth von Russland 2 Elizabeth I. 102 Eneas → Aeneas Epiktet 106 Epikur, Epikureer 129, 130, 232, 319 Erasmus von Rotterdam 7, 45, 334, 336, 338, 339 Ettinghausen, Henry 106 Falsaron 284 Farnham, Willard 102 Farwick, Leo 106 Fermi, Enrico 161 Firmicus Maternus 242 Fitzstephen, William 360 Flach, Werner 164 Flasch, Kurt 39, 45, 48 Flavius Vopiscus 359 Fleck, Ludwik 162

Register

Fleming, John 365 Fleming, Paul 107 Foix, Gaston 359 Forster, Leonard 108, 109 Franck, Sebastian 21, 327, 328, 330 Friedrich Barbarossa 341, 342 Friedrich II. (der Große) 1–3, 5 Friedrich, Udo 212 Fuhrer, Therese 44 Füssli, Johann Heinrich 6 Gadamer, Hans Georg 52 Galen 125 Galilei, Galileo 118, 120, 122, 123, 127, 131, 132, 135, 137–144 Ganelon 271 Garin, Eugenio 77, 78, 91 Gassendi, Pierre 120 Gerald von Wales 357 Gerok-Reiter, Annette 192 Gesner, Conrad 349 Giddens, Anthony 28 Gilbert, Felix 98, 99 Gilson, Étienne 397 von Goethe, Johann Wolfgang 5–12, 20, 23, 225, 231, 251, 406 Gog und Magog 197 Goldfuß, Georg August 357, 370 Goliath 287 Gorgias 420 Gorjaninow 369 Gottfried von Straßburg 287 Gould, Stephen Jay 157–160, 390 de Gracián y Morales, Baltasar 99, 104, 105 Graham, William 394 Gregor von Tours 360 Gregor XI. 307 Gresham, Thomas 303 Grey, Asya 394 Gryphius, Andreas 107–109 Guicciardini, Francesco 78, 93, 96–98, 103

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Hacking, Ian 163 Hahn, Otto 161 Haly Ibn Rodan 252, 253 Hamlet 104 Heckel, Erich 371 Heckscher, William S. 7, 8, 12 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 51 Heinrich von Neustadt 189–210 passim Heinrich von Veldeke 189–210 passim Heisenberg, Werner 161, 390 Heitmann, Klaus 88 Henoch 197, 204 Herakles, Hercules 15, 16, 364 Herberstein, Sigismund 360 Herder, Johann Gottfried 240 Hermann von Carinthia 257, 258, 260 Hermes 14, 15, 20 Herodot 3, 359 Heron 116, 135 Hesiod 23 Heuß, Alfred 168 Hildebert von Lavardin 15 Hitler, Adolf 306 Hodge, Jonathan 161 Hoffmann, Arnd 2, 156 d’Holbach, Paul Henri Thiry 27 Homer 23 Husovianus, Nicolaus 361 Husserl, Edmund 153 Huxley, Thomas Henry 390, 391, 393, 398, 401 Hyde, Thomas 237 Ibn Ḫallikān 237 Innozenz III. 301 Iovius, Paulus 361 Isidor von Sevilla 355 Isis 23 Iuvenal 10 Jahnn 213, 214, 220, 221 Jansen, Hellmut 105 Jesus 181, 275 Joachimsen, Paul 76–78

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Register

Jobs, Steve 180 Jodel → Jahnn Johannes von Sevilla 254, 255, 257 Joliot-Curie, Jean Frédéric 161 Jordanus Nemorarius 117 Judas 280, 281, 297 Jünger, Ernst 235, 236, 239 Juno 192, 199, 204 Kajanto, Iiro 80 Kant, Immanuel 32, 51, 53, 164, 165, 392, 396, 398–401 Karl der Große 271–276, 278, 280, 284– 287, 360 Karl V. von Spanien 16 Kawersniew, Afanasij 368 Kaydanow, Jakob 369 Keith, James 2 Kepler, Johannes 120, 140, 239 Kiefer, Frederick 102 Kierkegaard, Søren 71 Kirchner, Gottfried 106 Kittsteiner, Heinz Dieter 110 von Kleist, Heinrich 287 Kluxen, Kurt 166 Konrad 267–293 passim Kopernikus, Nikolaus 120, 121, 303 Koselleck, Reinhart 1, 2, 89 Kovalevsky, Alexander 367 Kovalevsky, Vladimir 367, 368 Koyré, Alexandre 122, 132 Krauss, Werner 99 Kristeller, Paul Oskar 77, 78 Lacan, Jacques 418 Laing, Malcolm 349 Laktanz 84 de Lamarck, Jean-Baptiste 368, 369, 372 de La Mettrie, Julien Offray 27 Laplace, Pierre-Simon 227, 228, 240, 245 Lartet, Edward 365 de La Tour, Georges 20, 21 Lavater, Johann Caspar 6

Lavinia 192–195 Lefèvre, Wolfgang 122 Leibniz, Gottfried Wilhelm 126, 127, 132, 145, 228, 248 Lennox, James 396, 397 Lenski, Richard 158 Leonardo da Vinci 138, 139 Leo X. 98 Lessing, Theodor 167 Leudolt 216 von Linné, Carl 152, 153 Lipsius, Justus 100–102, 105, 106, 315, 316, 318 Livius 76, 81, 212, 215, 216, 218, 220, 222, 223, 329, 334, 336 Lloyd, Geoffrey E. R. 125 Locher, Jakob 340, 341 von Lohenstein, Daniel Caspar 108, 109 Lorentz, Hendrik Antoon 161 Lorini, Bonaiuto 123, 124, 127 Losos, Jonathan 158 Lübbe, Hermann 40, 81 Lubbock, John 366 Lucius Tarquinius 220 Lucretia 218, 221 Luhmann, Niklas 4, 27, 30, 40–42, 51, 54, 175, 176, 179, 180, 314 Lukács, Georg 28, 115 Lukrez 128, 129 Luther, Martin 45 Lydgate, John 102 Lyell, Charles 365, 366 Mach, Ernst 229 Machiavelli 3, 78, 93, 94–98, 103, 126, 305–309, 312, 316–318, 321–323 MacPherson, James 349 Maimonides, Moses 240 Manilius 243 Mantegna, Andrea 16, 316–318 Mantovano, Battista 10 Marcus 217 Maria Theresia von Österreich 2

Register

Marlowe, Christopher 102, 103 Marsilie 273–275 Martial 360 Martin, Paul 364 de Maupertuis, Pierre-Louis Moreau 27 Mayr, Ernst 388, 389 Medici 92, 98, 308 Mentschnikov, Elija 367 Mersenne, Marin 120, 121 Merton, Robert 162, 176 Mikulinskij, Semjon 368 Moiren 22, 23 Monod, Jacques 27, 387, 389 Monomachos, Vladimir 356 Montesquieu 2 Moses 181 Musil, Robert 25, 225 Neander 214 Nemesis 19, 20, 22, 23, 375 Newton, Isaac 132, 239, 240 Nicaner 216 Nicetas Choniates 356 Nietzsche, Friedrich 2, 26, 229, 402, 404, 409 Nikolaus von Kues 15, 130, 131 Notker 360 Novalis 153 Numitorius 214 Ocrisia 215, 217, 220 Oeser, Adam Friedrich 11 Ogburn, William 162 Okeanos 23 Oken, Ludwig 369 Olivier 276, 284 Olschki, Leonhard 122 Opitz, Martin 107 Oppian 356, 357 d’Oresme, Nicolas 240, 300–302 Origenes 45, 48 Ossian 349 Otto I. 361 Ovid 22, 79

429

Owen, Richard 351, 372 Paley, William 392–394 Paligan 285, 287 Pallas 199 Pallas, Peter Simon 350, 354 Palmarocchi, Roberto 97 Palmina 199, 203, 204 Panaitios 243 Panofsky, Erwin 303 Pappos von Alexandria 116 Parmenides 7, 55, 56, 58, 411, 421 van de Passe, Crispijn 7, 12 Patch, Howard Rollin 79, 83, 212 Pausanias 360 Peirce, Charles Sanders 53 Petrarca, Francesco 25, 78, 87–89, 300, 315 Peutinger, Konrad 341 Philo von Alexandria 41 Piccolomini, Enea Silvio 91 Pickering, Andrew 163 Pickering, Frederick P. 86, 87 Pico della Mirandola, Giovanni 240, 250, 251 Pigafetta, Filippo 133, 143 Pikulik, Lothar 106 Pindar 15, 23, 24 Pippin 361 Pius II. → Piccolomini, Enea Silvio Planck, Max 115 Platon 7, 24, 51, 55, 57–60, 122, 127–129, 243, 303, 409–412, 417–421 Plinius Maior 24, 79, 360 Plinius Minor 340, 341 Plutarch 18, 133 Poe, Edgar Allan 28, 418 Poincaré, Henri 161 Polanyi, Karl 28 Poliziano, Angelo 20 Polybios 361 Pompeius Magnus 18 Popper, Karl 160, 175

430

Register

Porphyrius 43 Poseidonios 243, 245 Prigogine, Ilya 389 Procus 214 Ptolemäus, Claudius 119, 142, 232, 239, 242–244, 246, 249, 251–253, 255, 259 Pythagoras, Pythagoreer 120–122 de Quevedo, Francisco 105, 106 Rabb, Theodore 109, 110 Rabelais, François 23 Radick, Gregory 162 Raikov, Boris 368, 373 Ramelli, Agostino 136 Rauschning, Hermann 306 Rea Silvia 214 Regiomontanus, Johannes 118–120 Rescher, Nicholas 104 Rheinberger, Hans-Jörg 31 Rhetorios 242 Ritter, Hermann 155 de Roberval, Gilles Personne 120, 121 Roland 271, 272, 276, 278, 281–286 Rollenhagen, Gabriel 12 Romanianus 41 Rossi, Paolo 134 Rucellai, Giovanni 14, 18 Rudberg, Daniel 152 Rütimeyer, Ludwig 366, 372, 373 von Salisbury, Johannes 63 Sallust 81 Sassetti, Filippo 18 Sassetti, Francesco 14, 92 Saumaise, Claude 241 Savary, Roeland 355 Savonarola, Girolamo 240 Schings, Hans-Jürgen 107 Schlapbach, Karin 41, 43 Schmuck, Thomas 373 Schöfferlin, Bernhard 212, 216, 220, 222 Schumpeter, Joseph 180

Scotus, Johannes Duns 51, 54, 55, 64, 66–72 Seidlitz, Georg 368 Selbmann, Rolf 11 Seneca 24, 81, 82, 106, 316, 356 Serpanta 201 Servia 215, 217, 219, 220 Servius 360 Servius Tullius 23, 214–221 Sextus 221 Shakespeare 14, 102–104 Sibbald, Robert 360 Simplicianus 45, 46 Skinner, Quentin 80, 89, 98–100 Soderini, Giovan Battista 94 Soderini, Niccolò 308 Söder, Joachim 64, 67 Soellner, Rolf 103 Sokrates 418–420, 422 Solon 181 Sorel, Georges 306 Spaemann, Robert 402 Spinoza 145, 232, 387, 392, 393, 398– 404, 406 Steenstrup, Japetus 366 von Stein, Charlotte 6, 10 Stella, Erasmus 361 Steller, Georg 350, 352, 363 Sterne, Laurence 12, 23 Strabon 355, 356 Strauss, David Friedrich 392 Strohschneider, Peter 277 Sueton 338–340 Tanaquilla 215–217 Tarquinius Priscus 215–218, 221 Tarquinius Superbus 215, 218, 220, 221 Tartaglia, Niccolò 117, 136, 139 Tauscher, August Michael 368 Terenz 81 Terminus (Gott) 6, 7 Themis 23 Theophrast 359

Register

Thetys 23 Thomas, Dorothy 162 Thomas von Aquin 87, 298–300 Thomas von Cantimpré 356 Thukydides 3, 76 Tirrich 287 Trajan 338, 340, 341 Trautschold, Hermann 373 Trizio, Emiliano 163 Tullia 218–221 Turnus 193 Turpin 282 Vaenius, Otto 7, 8 Valens, Vettius 235–237, 242, 243, 246 Varchi, Benedetto 134 Vegetius 3 Velleius Paterculus 331 Venantius Fortunatus 360

Vergil 81, 189, 190, 192, 360 Vettori, Francesco 98, 307, 321, 322 Vitruv 20 Voltaire 1, 12, 109 Vosskamp, Wilhelm 107–109 Warburg, Aby 8, 14, 18, 92 Weber, Max 155 Weinberg, Steven 162, 164 Weismann, August 371 Weldon, Raphael 162 Whitehead, Alfred North 412 Winter, Carla 222 Wittgenstein, Ludwig 152, 239 Wossnessenski, Ilya 363 Ydrogant 201 Yppocras 197 Zeus 23, 24 Zilsel, Edgar 122

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Sachregister Abenteuer 197, 198, 200 Absicht 6, 28, 95, 97, 100, 126, 131, 151, 155, 315, 387, 392, 396–400 Aeneis 81, 189, 192, 196 Affekt 24, 25, 282, 316, 403 Affirmation, affirmativ 179, 183, 305, 417 Agent 23, 392 Agnostizismus 393 Ägypten 234, 252 Alchemie 134 Allegorese 194, 275 Allegorie, allegorisch 6, 7, 12, 79, 194, 196 Allelopoiese 52, 118, 120, 167, 168, 339, 349, 410, 421 Ambivalenz 20, 23, 24, 88, 104, 107, 125, 215, 234, 331, 333 ananke / ἀνάγκη 127 Aneignung 26, 116, 118, 195, 241, 327, 337, 339, 343–345, 410 Anthropologie, anthropologisch 45, 95, 126, 268, 280, 312, 366, 402 Anthropomorphie, -morphismus 126– 129, 400 Antikenroman 189–191, 196, 198–200 Apathie 24 Appropriation 241, 328, 343, 344 Archivierung 23, 335, 336 Assimilation 240, 361 Astrologie 199, 225–266 passim Astronomie 115, 118–120, 137, 142, 225, 242, 243 Ataraxie 24 Auerochse 356, 358, 360, 362, 363, 366, 367

Aufnahmebereich, -kultur 52, 329, 330, 339, 343, 344, 410 Ausrottung, ausrotten 349, 351, 352, 354, 358, 364, 365, 420 Aussterben, ausgestorben 349, 359, 362, 364, 365, 369, 374 aventiure 197, 198, 201, 203, 205 Babylon 197, 233, 241, 242 Begriffsgeschichte 54, 64 Beliebigkeit, beliebig 71, 136, 181, 227, 228, 245, 270 Bewältigung 4, 5, 26, 30, 32, 40, 41, 44, 46, 47, 81, 82, 104, 105, 108, 126, 191, 194, 199, 204, 211, 213, 221– 223, 267–269, 271, 310, 314, 316, 327, 332, 335, 336, 343, 345 Bibliothek 335, 336, 344 Biographie 12, 23, 26–28, 46, 226, 251, 311, 339, 342, 344 Buchdruck 162, 327, 328, 336 casus 41, 43–45, 87 causa accidens 2 causa efficiens, finalis, formalis, materialis 60, 125, 279 chance 3, 20, 22, 28, 79, 161, 388, 395, 398 Chance 20, 27, 28, 196, 227, 228, 249, 307, 308, 314, 318, 322, 323 Chanson de Roland 271–273, 275, 280, 284 Chaostheorie 390 chora / χώρα 128 Christentum, christlich 23, 25, 27, 42, 43, 45, 64, 65, 83–85, 88, 96, 106, 179, 189, 190, 196, 200, 203–206, 211, 222, 240, 271, 273–277, 282– 288, 297, 298, 302, 307, 309, 340

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Register

civitas Dei 46, 84 Codex 331–333, 336 conatus 392, 393, 402–406 constantia 100, 101, 106, 107 cornu copiae → Füllhorn Darwinismus 173, 174, 372, 387, 388, 392, 397 Demiurgos 127, 129 desengaño 106 Design 66, 161, 180, 392, 394–396, 398 Deszendenz 156, 159, 160, 168, 368, 371, 373 Determinismus, deterministisch, determiniert 5, 10, 22, 27, 28, 42, 45, 61, 66, 98, 115, 130, 133, 139, 141, 142, 144, 145, 151, 153, 157, 162, 165, 178, 190, 228, 232, 238, 239, 245, 246, 248, 252, 256, 278, 279, 388–391, 393, 395, 396 deus / dea ex machina 141, 205 Deutung 2, 25, 27, 51–55, 66, 92, 129, 178, 180, 192, 199, 226, 236, 267, 270–279, 282–288, 309 Dialektik 11, 57, 58, 302, 303, 411, 418 dilatatio materiae 198 diligentia 24 Diskurs 54, 55, 76–78, 87, 89, 90, 96, 99–104, 107–110, 118, 122, 126, 189, 191, 193, 203, 213, 217, 268, 269, 280, 298, 303, 306, 337, 339, 342, 345, 413 Distinktion, distinktiv 333, 334, 344, 411, 412, 421 divinatio 79, 80, 243 Doppelentdeckung 162 dynamis / δύναμις 22, 59, 61, 70 Edition 120, 241, 327, 329, 330, 332–345 Ehedidaxe 219 Einkapselung 344 Eiszeit 350, 359, 365, 366 Elch 349, 357, 358, 361, 363

Emblem, emblematisch 7–12, 14, 16, 18, 305 Emendation 334 Emergenz 166 endechomenon / ἐνδεχόμενον 3, 4, 22, 23, 59, 62 energeia / ἐνέργεια 59, 61 Entwicklung 4, 6, 25–27, 45, 48, 59, 61, 72, 76, 85, 87, 94, 98, 104, 115, 116, 118, 121–125, 132, 133, 139, 144, 150, 151, 154, 156–166, 182, 191, 193, 194, 198, 227, 230, 231, 241, 248, 249, 257, 303, 313, 316, 318, 320, 330, 337, 338, 343, 365, 368–370, 372, 412, 413 Epistemologie 25, 57–59, 115, 122, 137, 139, 145, 150, 309 Erbsünde 48 Ereignis 2, 4, 25, 27, 28, 39, 43, 53, 59, 61, 62, 66, 68, 75, 115, 150–156, 161, 166, 173, 176, 177, 197, 200, 204, 206, 225–229, 231, 237, 238, 244, 246, 248, 249, 251, 253, 255, 257, 260, 268–270, 273, 280, 305, 306, 309, 322, 329, 330, 333, 343, 344, 365, 387–390, 405, 417, 421, 422 Erkenntnis(theorie) 8, 24, 31, 51, 59, 106, 122, 134, 144, 145, 150, 162, 247, 255, 267, 288, 303, 309, 330, 344, 370, 418, 421 Ethik, ethisch 22, 24, 145, 297, 298, 307, 312, 399, 402, 403, 421 eudaimonia / εὐδαιμονία 21, 22 Europa 14, 45, 109, 110, 116, 232, 298, 313, 349, 358–362, 364, 366, 409, 412 Evolution 27, 157–162, 164, 173–175, 367–371, 374, 375, 388–393 exemplum 101, 297, 338, 340, 341 Experiment 28, 31, 134, 137, 139, 140, 154, 158, 162, 163, 180, 183

Register

Externalismus 82, 150, 163 Fälschung 31, 119–121, 330 Fastnacht 212, 213 Fatalismus 243, 244, 248, 253, 258 fatum 24, 100–102, 189, 192, 196, 200, 248 Faustinianlegende 276 Feldtheorie 410, 412 Finalismus 391, 399–402 Fixstern 231, 234, 235 Fokussierung 60, 311, 328, 339, 341 Form 8, 12, 60, 125, 128, 130, 131, 139 fortitudo 24, 81, 82, 89, 91 Fortuna 1, 3, 4, 6–12, 14–16, 18, 20–25, 30–32, 39–48, 75–114 passim, 211–215, 221–223, 305–312, 315, 316, 320–323, 338 Fossilien 157, 350, 353, 358, 362, 367, 368, 370, 372, 374 Franziskaner 258 Freiheit (s. auch Willensfreiheit) 42, 54, 65, 66, 71, 72, 133, 144, 161, 165, 195, 196, 258, 301, 308, 388, 389, 412, 414, 416 Füllhorn 14, 23, 81, 311 Fürstenspiegel 339 Gefahr 4, 10, 18, 27, 28, 31, 71, 105, 211, 220, 227, 232, 248, 251, 256, 258, 300, 302, 310, 315, 318–321, 345, 352, 357, 366 Geld 44, 119, 297–304 passim, 413, 414 Geltung 53, 55, 64, 237, 238, 271, 278, 284, 286, 288, 366 gelucke 191 Gemeinnutz 213, 217, 222, 301 Geologie 353, 365 Geometrie 123, 124, 136, 138, 139, 143– 145 Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit 85, 308, 309, 419 Geschichtsphilosophie 121, 164, 167, 310

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Geschichtsschreibung → Historiographie Geschick, Missgeschick 46, 47, 88, 91, 96, 108, 218, 267, 302, 308, 338 Gesellschaft 5, 26–32, 133, 173–185 passim, 189, 190, 211, 213, 222, 299–301, 303, 310, 421 Gesetz 5, 18, 28, 61, 107, 115, 135, 138, 140, 153, 155, 162, 164, 183, 211, 231, 259, 298, 301, 303, 311, 368, 372, 373, 375, 390–396, 398, 403, 413, 414, 417, 419, 420 Gewalt, gewaltsam 12, 20, 136, 139, 280, 301, 305–308, 310, 312, 322, 323, 420 Gewicht 117, 118, 135, 138, 364 Gewichtung 89, 93, 195, 288 Gewinn 14, 24, 300, 301, 318–320 Gleichgewicht 117, 118, 138, 156, 280, 401 Globalisierung 414 Glück 2, 3, 5, 6, 10, 15, 18–25, 39, 41, 75, 76, 79, 81, 90, 99, 160, 161, 211–217, 221–223, 298, 308, 310, 311, 313, 315, 316, 319, 321, 371, 404, 406 Glücksrad → Rad Gnade 42, 45, 48, 84, 89, 126, 127, 285, 314 Handel 14, 18, 122, 313, 318–321 Handschrift 119, 328, 330, 331, 333, 336, 337, 343, 349 Handwerker 124–133, 135, 136, 138, 141, 144 Haushaltung 219 heimarmene / εἱμαρμένη 22, 23, 246 Hellenismus 23, 76, 118, 129, 232 Hermeneutik 7, 52–54, 135, 413 Himmelsmechanik 239 Hirsch 357, 358, 361, 363, 374 Historia Apollonii Regis Tyri 197

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Historiographie 2, 149–155, 165, 166, 212, 339, 342, 343, 345, 361 höfischer Roman 106, 190, 198, 267 Homologie 159, 160, 168, 412 Homöostase 404 Humanismus 10, 20, 76, 77, 89, 92, 118, 121, 212, 300, 302, 303, 306, 312– 315, 327–348 passim Hybridisierung 116, 190, 191, 198, 240 Hylemorphismus 125, 127 Idealisierung 32, 72, 132 Idealismus 51, 52, 70, 115, 129, 401 Idee, Ideengeschichte 11, 57–60, 76–78, 83, 87, 89, 90, 100, 120–122, 127, 129, 135, 165, 196, 268, 309, 339, 393, 394, 417–419 Identität 405, 414 Imagination 155, 166, 269, 419 imitatio 126, 135, 275 Indeterminismus → Determinismus Individuum, individuell 26, 27, 30, 72, 90, 97, 150, 153, 154, 156, 158, 161, 162, 165, 175, 177, 180, 181, 183, 184, 200, 226–229, 231, 236– 239, 248, 249, 251–253, 256, 320, 322, 362, 388, 403–405, 418 Inflation 300, 301, 303 Integration 24, 65, 153, 160, 217, 333, 344, 371, 414 Intention 4, 6, 11, 32, 86, 144, 205, 322, 395 Interdependenz 175, 271, 286, 288 inventio 133 kairos / ĸαιρός 15 Kaiserchronik 276 Kalkül, Kalkulation 2, 11, 14, 16, 25, 79, 80, 107, 108, 195, 227, 228, 305, 306, 308, 310, 311, 318–322, 413 Kapital 15, 18, 25, 180, 299, 300, 320, 336, 337 Kardinaltugend 41, 81, 82, 89, 94

Kaufmann, merchant 18, 25, 26, 300, 310, 318–321 Kaukasus 351, 357 Kausalität 2, 135, 279, 282, 390, 391, 393, 397, 398, 405 Klippschliefer 371 Klugheit 24, 104, 105, 321 Kolin, Schlacht bei 2 Komplexität, komplex 26, 30, 31, 145, 203, 212, 236, 369, 389, 390, 404, 410 Konsens 163, 369, 415, 416, 419 Konservierung 32, 167, 328, 333, 335– 340, 344 Konstruktion, Konstruktivismus 12, 20, 28, 46, 52, 53, 131, 155, 167, 168, 197, 235, 410 Kontingenzbewältigung → Bewältigung Kontingenzdeutung 271, 278, 286, 288 Kontingenzerfahrung 20, 211, 213 Kontingenzinszenierung 206 Kontingenzreduktion 312, 314 Kontingenzvermeidung 190, 205, 206 kontrafaktisch 150, 154, 155 Konvergenz 151, 158–160, 164–168, 239 Kreativität 30, 31, 70, 116, 135, 136, 166, 192, 330, 345, 388, 391 Kredit 299, 300, 302 Kultur 15, 23, 25, 26, 32, 51–53, 76, 78, 83, 85, 87, 109, 118, 119, 149, 150, 164–166, 173, 174, 189, 190, 211–213, 232, 233, 241, 327–330, 333–337, 343, 344, 355, 366, 368, 414 Kulturgeschichte 149–152, 157, 164, 166, 178 Kunersdorf, Schlacht von 1 Labyrinth 143, 144 Legitimation 155, 167, 173, 174, 176– 178, 180, 184, 189, 272, 286, 288, 297, 299, 300, 302, 305, 341, 343 libertas 71, 222

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Liebesroman 197, 198 Logik 45, 54–58, 61–64, 68–71, 131, 152, 153, 160, 180, 211, 213, 270, 279, 298, 389, 411, 413, 418 lucrum 300 Macht 10, 12, 18, 24, 40, 41, 90, 91, 93, 97, 99, 103, 105, 107, 136, 189, 193, 194, 196, 203–205, 216, 222, 225, 231, 232, 237, 257, 258, 267, 271, 276, 280, 283, 284, 305–314, 316, 321–323, 336–338, 341, 403, 404, 411, 420 Magie 134 Makroebene 177, 196 Makrokosmos 10 Makrosystem 173 Mammut 357, 358, 362–364, 366 Manuskript → Handschrift Markt 301 Marxismus 413, 415 Materie, materiell 5, 25, 42, 44, 56, 60– 62, 66, 122–131, 136, 138, 139, 152, 153, 235, 280, 301, 306, 405, 417 Mathematik 3, 11, 115, 116, 118, 121– 124, 133, 136–145, 229, 231, 232, 252, 300, 310, 411 Mechanik 26, 115–118, 120, 122–125, 127, 132–137, 139, 142–144, 239, 240, 391, 403, 405 Mechanismus 27, 30, 127, 160, 343, 345, 398, 399, 401, 403 Mechanizismus, mechanistisch 126, 130, 133, 144, 145, 391, 393, 398, 403 merchant → Kaufmann Metakontingenz 314 Metapher, Metaphorik 42, 44, 104, 105, 126, 128, 133, 319, 322, 330 Metaphysik 15, 25–27, 30, 31, 51, 53, 60, 65, 66, 69, 70, 122, 230, 258, 280, 413

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Mikroebene 177 Mikrokosmos 10 Minne 192–196, 198, 201, 203, 205 Missgeschick → Geschick Modell 40, 42, 48, 52, 53, 59, 60, 65–67, 75, 76, 82, 93, 101, 115, 120, 124– 135, 140, 141, 144, 159, 174, 214, 219, 220, 227, 236–239, 245, 258, 268, 278, 306, 310, 320, 391, 392, 396, 398, 403 Modifikation 150, 373, 410, 411, 421 Monismus 400 Monotheismus 25, 83, 232 Moralistik, Moralisierung 88, 104, 165, 167, 212 Motivation, finale 278, 279, 281 Mutation 152, 153, 158, 161, 303, 387, 388, 391 Muʿtazila 237 Nachahmung 120, 126, 127 Narr 21, 220, 221 Natur 5, 13–15, 27, 42, 47, 67, 68, 78, 94, 96, 115, 122, 123, 125–146, 149, 153, 161, 163, 228, 239, 244, 247, 249, 253, 259, 260, 280, 297–299, 319, 322, 323, 357, 362, 364, 367, 369, 371, 373, 374, 387, 388, 392– 403, 406 Naturalismus, naturalisieren 136, 390, 393, 401 natura naturans 144 Naturgeschichte 149, 151, 152, 157, 163, 165, 355 Naturgesetz 390, 393, 394, 398 Naturkunde, Naturforscher 154, 155, 351, 352, 358, 360 Naturordnung 141, 350, 355, 369, 370, 373 Naturphilosophie 122, 125, 127, 128, 132, 137, 139, 144, 146, 242, 243, 375 Naturschutz 375

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Naturtheologie 392, 393, 396 Naturtheorie 116, 122 Naturwissenschaft 3, 31, 115–118, 126, 128, 131–133, 137, 139, 142, 144– 146, 150, 155, 161–164, 166, 279, 369, 392 necessitas 42, 61, 63, 131, 142 Negation 7, 11, 28, 54, 59, 61, 62, 178, 179, 181–184, 200, 241 Neostoizismus 100–102, 105, 106, 108, 310, 315–317 Nerdiludium 237 Neuheit 174, 175, 387, 391, 396 Neuplatonismus 42–44, 48, 240, 257 Nezessitarismus 64, 66, 67, 69, 276, 283 Nibelungenlied 357, 358 Nihilismus 27 Nominalismus 310 normativ 167, 173, 174, 181–184, 341, 416 Notwendigkeit 4, 18, 22, 23, 30, 32, 39– 42, 53, 54, 57–71, 100, 124–131, 139, 142, 145, 150, 152–161, 168, 174, 176–183, 191, 192, 196, 211, 230, 231, 245–255, 268, 270, 271, 273, 280–282, 297–299, 307, 310, 330, 343, 367, 368, 375, 387–391, 396, 399–401, 412, 415 Nouvelle philosophie 415 occasio 3, 15, 16, 23, 24, 26, 92, 94, 213, 217, 221, 223, 316, 317 Ökonomie 18, 25–27, 86, 92, 109, 176, 180, 297–300, 302, 303, 328, 401 Ontologie 31, 51–73 passim, 80, 115, 131, 145, 150, 176, 282, 297, 298, 309, 411 Orakel 104, 231 Ordnung 4, 5, 10, 24, 26, 28, 31, 32, 43, 69, 78, 89, 99, 130, 141–143, 145, 150, 156, 173, 176, 182, 197, 204–206, 212, 213, 219, 225, 246, 268–271, 277, 278, 282, 288, 299, 301, 303, 307, 313, 323, 350, 355,

368–370, 373, 375, 387, 389, 391, 400, 401, 416, 417, 419 ordo 24 Orientalistik 241 Orientierung 4, 10, 64, 72, 96, 123, 133, 166, 228, 268, 340, 368, 370, 374, 375, 389–391, 405, 416 Orkney-Saga 359 ousia / οὐσία 23, 59–61 Overkill-Hypothese 364, 367, 374 Paläontologie 159, 350, 351, 353, 356, 364–366, 368, 370, 372, 373 Panbabylonismus 241 Panegyrik 340, 341 Paratext 329, 337, 339, 344 paupertas Christi 297 Persistenz 391, 403 Perspektive 2, 26, 51, 52, 54, 61, 62, 65, 68, 72, 87, 100, 105, 119, 121, 122, 128, 130, 133, 136–138, 151, 163, 166–168, 173, 182, 196, 217, 232, 269, 270, 272, 282, 285, 288, 303, 328, 350, 374, 421 Pfadabhängigkeit 156, 162 Pferd 221, 356, 367, 368 Philosophie 1, 3, 4, 8, 21–25, 39, 42–44, 46, 48, 51, 52, 54, 64, 67, 79, 81, 83–85, 87, 104, 106, 115, 116, 121– 128, 130, 132–137, 139, 141, 143, 144, 146, 162–167, 191, 232, 240– 243, 245, 250, 257, 258, 267, 269, 276, 282, 288, 310, 314, 316, 374, 375, 387, 388, 392, 395, 399, 401, 403, 404, 406, 409–423 passim Phlogiston 235 Physik 65, 115, 117, 120, 122, 123, 127, 128, 134, 153, 162, 234, 240, 245, 389, 390, 396 Pirat 197, 319, 321 plus ultra 16, 18 Politik 4, 6, 16, 25, 26, 30, 85, 90, 92, 93, 98–100, 102, 109, 119, 125, 126,

Register

156, 174, 182–184, 189, 192, 195, 198, 222, 268, 271, 280, 281, 298– 310, 312, 314, 315, 318, 321, 322, 335–338, 341, 344, 410, 413–417, 419–422 Polytheismus 84, 277 Postmoderne, postmodern 375, 411, 413, 415 Prädestination 39, 40, 314, 372, 388 prästabilierte Harmonie 126, 140 Privatheit, privat 10, 23, 199, 219, 305, 306, 308, 312 Prognose 80, 227, 236–239, 244, 246– 253 providentia, Providenz 25, 27, 39, 41, 42, 47, 48, 82, 84, 85, 87–90, 93, 100–106, 108, 141, 191, 196, 200, 203–206, 211, 213, 216, 222, 223, 267–293 passim, 309, 310, 315, 318, 320, 322, 323 prudentia 24, 81, 82, 89, 91, 93, 104, 105, 142 Rad, Glücksrad, rota fortunae 8, 23, 25, 95, 211, 213, 218, 310, 311 ratio 24, 300 Realismus 30, 53, 150, 161, 163, 166, 167, 288, 310 Realität, real, Realisierung 7, 26, 39, 53, 57, 60, 70, 89, 101, 115, 124, 125, 128, 130, 131, 133, 135, 138, 140– 145, 149, 156, 173, 180, 181, 228, 239, 248, 268, 303, 401, 417, 418 Referenzbereich, -kultur 52, 118, 339, 410 Reformation 108, 109, 314 Reiseroman 197, 198 Rekonstruktion 8, 32, 85, 121, 158, 239, 240, 246, 260, 333, 344, 354, 355, 374, 390 Renaissance 8, 10, 14, 76–78, 83, 85, 87–90, 98–100, 102, 104, 109, 110, 115–117, 120–128, 132–135,

439

138, 139, 141, 144, 145, 303, 305, 309, 311, 314, 329 Repräsentation 6, 14, 85, 90, 120, 143, 166, 168, 282, 303, 411 Republik, republikanisch 78, 92, 98, 99, 307, 308, 315, 319 Resignation 96, 221, 306–308 Restauration 219, 222, 240, 332, 333, 336, 344 Rhetorik 2, 3, 15, 40, 41, 45, 79, 118, 194, 270, 283, 285, 333, 336, 341, 388, 420 Risiko 4, 14–16, 18, 20, 25, 26, 30, 31, 104, 180–182, 202, 227, 228, 230, 300, 310, 315, 318–320, 323 Rolandslied 267–293 passim rota → Rad saelde 191 sapientia 8, 9, 12, 24, 44, 84, 133 Schach 235–237, 239 Schicksal 10, 20, 22–24, 39, 41–44, 47, 48, 75, 76, 81, 82, 86, 192, 195, 196, 199, 200, 203, 212, 213, 215, 222, 229, 235–237, 244, 246, 306, 314, 328, 356 Schiffbruch 14, 15, 18, 119, 319 Scholastik 25, 87, 230, 297–301, 303 Selbstinszenierung 333, 343 Selektion 25, 30, 31, 51, 159–162, 167, 175, 176, 339, 349, 367–371, 373, 375, 387, 388, 391, 394, 396–398, 406 Semiotik, Semiose, semiotisch 11, 52– 54, 240, 258 Serendipität 160, 176, 179 Sibirien 350, 355, 363, 366 Sicherheit, Unsicherheit 20, 26, 30, 31, 104, 231, 246, 275, 298, 300, 313– 315, 319, 350, 351, 393, 398, 413 Sintflut 358, 365 Sirenen 199, 364

440

Register

Skepsis, skeptisch 44, 96, 123, 232, 364, 393, 420 sodalitas 341 Spiel 1, 11, 18, 23, 104, 105, 198, 212, 213, 227–229, 235–239, 244, 307, 310, 311, 318, 397 Sprachspiel 413 Staat 23, 28, 30, 92, 98, 126, 184, 297, 298, 299, 308, 323, 416, 421 Stabilisation 110, 150, 161, 166, 174, 327, 330, 333, 335, 337–339, 343, 344 Stellersche Seekuh 350–352, 362, 364 Sterndeutung 226, 229, 231, 232, 236– 241, 243, 247–249, 250, 252 Stoa, Stoizismus (s. auch Neostoizismus) 22, 24, 43, 81, 82, 96, 105–108, 129, 243, 319 Stochastik 320, 389 Strategie 1, 26, 81, 82, 176, 180, 191, 194, 198, 199, 204, 213, 310–312, 318, 322, 327, 330, 333, 335–339, 343–345, 410 Struktur 10, 26, 28, 30, 52–54, 56, 58, 59, 69, 71, 85, 100, 106, 137, 140, 150, 151, 156, 159, 161, 164–166, 168, 173–179, 181, 183, 184, 196– 200, 271, 275, 276, 285, 299, 368, 370, 375, 387, 399, 404, 410–412 Subjektivität 51, 54, 55, 72, 105, 107, 145 Substanz 23, 30, 59–61, 65, 77, 105, 299, 302, 329, 372, 399, 401 Symbol 5, 6, 8, 14–16, 20, 25, 83, 174, 203, 274, 275, 303, 309, 311, 313, 336, 418 System 2, 27, 28, 30, 31, 51, 59, 65, 76, 100, 118, 120, 121, 126, 128, 136, 156, 157, 165–167, 173–185 passim, 196, 212, 232, 235, 238, 239, 268, 303, 323, 362, 365, 369–375, 397, 410, 412, 418

Technik, Technologie 18, 26, 28, 30, 31, 122–125, 133–139, 144, 163, 191, 273, 320, 328, 399, 401 Teleologie 24, 32, 60, 76, 127, 129, 164, 191, 192, 196, 198, 199, 203, 374, 387, 391–406 Teleonomie 387, 391, 398, 405 Tempel 78, 79, 202 Theater 102 Theologie 55, 64, 67, 70, 237, 240, 260, 286, 297, 298, 302, 309, 310 topos / τόπος 75, 77–79, 83, 89, 90, 92, 98, 99, 118, 128 translatio 190 transzendentale Obdachlosigkeit 28 Tugend 10, 14, 22, 25, 41, 81–84, 89, 94, 97, 102, 119, 200–202, 206, 213, 216, 220, 221, 298, 340, 417 tyche / τυχή 3–12, 20–24, 30, 39, 40, 76, 418 Überlieferung 23, 26, 41, 116, 118–121, 198, 241, 270, 328, 330–333, 335, 339, 343, 345 Überlieferungsgeschichte 330 Überlieferungslücke 116, 330 Überlieferungsprozess 328, 330, 332– 336, 343–345 Übersetzung 22, 39, 41, 106, 116, 119– 121, 133, 135, 254–258 unabsichtlich 389, 398, 399, 401 Unausweichlichkeit 161, 163, 164, 168, 284, 417 Ungerechtigkeit → Gerechtigkeit Ungewissheit 22, 24, 27, 30, 82, 109, 110, 228, 311, 319 Unglück 1, 28, 79, 100, 182, 192, 213, 228, 237, 249, 307–311, 318, 351, 353 Unschärfe 145 Unsicherheit → Sicherheit unvorhersehbar 2, 4, 20, 75, 130, 320, 389–391, 393, 405

Register

Vergegenwärtigung 237, 339, 343–345 Verlust 2, 14, 24, 26, 99, 119, 153, 213, 222, 240, 284, 302, 318, 319, 321, 330, 355 Versicherung 3, 14, 227, 228, 259, 310, 318–320 virtus, virtù 3, 7, 8, 10, 12, 24, 41, 42, 75–114 passim, 119, 222, 341 vita activa / vita contemplativa 306, 312–314 Vitalismus 396 Vorhersehbarkeit 80, 405 Vorsehung → Providenz Vorsicht 93, 98, 120, 123, 129, 227, 272, 323, 393, 402 Waage 25, 117, 118, 138, 139 Wahrheit 11, 58, 61, 72, 121, 141, 142, 174, 183, 190, 226, 235, 255, 283, 303, 397, 401, 409, 413–415, 417, 420–422 Wahrscheinlichkeit 23, 25, 26, 31, 43, 95, 122, 151, 153, 184, 227–229, 231, 235, 259, 279, 300, 310, 318– 320, 322, 389 Widerständigkeit 123, 313, 338 Willensfreiheit (s. auch Freiheit) 25, 55, 71, 237, 254 Willkür 22, 28, 81, 86, 92, 100, 101, 104, 141, 142, 212, 223, 269, 311, 313, 318, 335, 338

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Wisent 356, 357, 361 Wissensbestände 26, 328, 329, 332, 335, 337–345 Wissenschaftsgeschichte 25, 115, 149, 150, 152, 160–166, 177, 367 Wucher 298, 299, 320 Würfel 227, 228, 237, 238, 311, 318, 322 Zensur 32, 120 Zins 297–300, 320 Zoologie 349, 350, 352, 354, 355, 362, 364–371, 373, 375 Züchtung, Zucht 162, 362, 371, 372, 396, 419 Zufall 1–5, 10–16, 18, 20, 22–28, 31, 32, 39, 41, 43, 46–48, 51, 61, 63, 66, 68, 71, 79, 80, 87, 100, 105, 124, 128–130, 138, 141, 142, 144, 150–161, 165–167, 173–185 passim, 196–199, 201, 205, 206, 214, 227, 228, 231, 237, 238, 252, 267, 302, 303, 305–308, 310, 311, 313, 314, 318, 321, 322, 330, 349, 350, 368, 370, 371, 373, 375, 387–408 passim, 419 Zweck, Zweckmäßigkeit 61, 87, 89, 99, 126, 127, 129, 133, 236, 239, 279, 305, 319, 368, 370, 372–375, 390– 403, 405