Imperien verstehen. Theorien, Typen, Transformationen 9783848747535, 9783845291185


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German Pages 276 Year 2019

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Imperien verstehen. Theorien, Typen, Transformationen
 9783848747535, 9783845291185

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Ordnungen globaler Macht herausgegeben von Eva Marlene Hausteiner Sebastian Huhnholz Wissenschaftlicher Beirat: Regina Kreide Herfried Münkler Andreas Niederberger Benedikt Stuchtey

Band 1

Eva Marlene Hausteiner Sebastian Huhnholz [Hrsg.]

Imperien verstehen Theorien, Typen, Transformationen

Title page for Novum organum scientiarum, 1645, by Francis Bacon (1561–1626). *EC.B1328.620ib, Houghton Library, Harvard University: Francis Bacon of Verulam / High Chancellor of England / New Organon (Beneath the galleon) „Many will travel and knowledge will be increased.“ Leiden, Holland: at the shop of Wyngaerden and Moiardum, 1645. Dieser Band entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4753-5 (Print) ISBN 978-3-8452-9118-5 (ePDF)

1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort zur Schriftenreihe

Im Fokus der Reihe „Ordnungen globaler Macht“ stehen Fragen inter- und transnationaler sowie imperialer Herrschaft – breit verstanden und multidisziplinär erforscht. Dies umfasst Fragen nach konkurrierenden Herrschaftsmodellen und ihren politischen Manifestationen in Geschichte und Gegenwart ebenso wie die mit ihnen verbundenen Ideen, Begriffe und Reflexionen. Damit reagieren wir auf ein Defizit der insbesondere deutschsprachigen Publikationslandschaft: Zwar steht die Wirkmächtigkeit solcher Modelle und Ideen von der Antike bis in die Politik des 21. Jahrhunderts dank Forschungsfortschritten in den letzten zwei Jahrzehnten außer Frage, doch werden viele Debatten weiterhin isoliert voneinander ausgetragen. Potentiale im Austausch nützlicher Begriffsrepertoires, analytisch wertvoller Vergleichsfälle und ineinandergreifender methodischer Zugriffe bleiben so oft ungenutzt. Mit thematisch fokussierten Sammelbänden und Monographien in deutscher und englischer Sprache will die Reihe „Ordnungen globaler Macht“ diese Lücke schließen. Nicht allein die Politische Theorie und Ideengeschichte, sondern auch die Internationalen Beziehungen sowie die Geschichts- und Kulturwissenschaften wirken als Leitdisziplinen der Reihe zusammen, um die Erforschung machtgeprägter, asymmetrischer und imperialer Ordnungen, Ideen und Praktiken voranzutreiben. Ein Beirat renommierter ExpertInnen zu diesen Fragen aus mehreren (Teil-)Disziplinen wird uns bei dem Anliegen einer methodischen Offenheit bei gleichzeitigem programmatischen Fokus unterstützen. Der vorliegende interdisziplinäre Band „Imperien verstehen. Theorien, Typen, Transformationen“ bildet den programmatischen Auftakt der Reihe. Das Buch eröffnet die Diskussion über globale Machtordnungen mit einer Bestandsaufnahme und Perspektivierung der aktuellen Erforschungen von Imperialität. Nach nunmehr einem Jahrzehnt intensiver Imperienforschung fragt er nach dem Nutzen, dem Innovationspotential, aber auch nach den Grenzen des Imperiumsbegriffs – und bringt konkurrierende und komplementäre methodisch-fachspezifische Zugriffe auf das Themenfeld Imperium und Internationale Ordnung miteinander ins Gespräch.

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Vorwort zur Schriftenreihe

Wir möchten also mit der Reihe „Ordnungen globaler Macht“ wie auch dem Auftaktband ein neues Forum für Fragen globaler Machtordnungen über etablierte Fach- und Methodengrenzen hinweg eröffnen – und freuen uns auf künftige Debatten. Eva Marlene Hausteiner und Sebastian Huhnholz

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Inhalt

Ordnungen imperialer Macht. Eine Bestandsaufnahme

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Eva Marlene Hausteiner & Sebastian Huhnholz Die internationale Wende in der Ideengeschichte

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David Armitage Imperiale Ordnung. Die Governance-Leistung von Imperien

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Herfried Münkler Europa als postsouveräner Raum. Über Imperialität, Großraumkonzepte und postsouveräne Herrschaft

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Ulrike Jureit Fixing Missions: Überlegungen zu einem Typus des demokratischen Krieges zwischen liberalem Interventionismus und demokratischer Imperialität

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Andreas Vasilache Imperialismus, Selbstbestimmung und der Aufstieg der Menschenrechte

169

Samuel Moyn Imperiale Metropolen und antiimperiale Politik im 20. Jahrhundert

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Andreas Eckert Empires und Mobilität: Pandita Ramabai (1858-1922) und Blaise Diagne (1872-1934)

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Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard Das Imperium schlägt (immer wieder) zurück: Imperien, Kolonialismus und Postkolonialismus im politischen System der Weltgesellschaft

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Stephan Stetter

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Ordnungen imperialer Macht. Eine Bestandsaufnahme Eva Marlene Hausteiner1 & Sebastian Huhnholz2

I. After Empire? Ein Blick auf die im deutschsprachigen Raum aktuellen Modelle der politischen Theorie und Philosophie globaler Ordnung lässt kaum mehr erkennen,3 dass auch hierzulande noch vor einem Jahrzehnt ein politikwissenschaftlicher Leistungsvergleich über den deskriptiven, analytischen und theoretischen Gehalt von „Imperium“ als einer gegenwartsrelevanten Kategorie stattfand.4 Zwar ist auch für andere seit der Jahrtausendwende neu diskutierte theoretische Analysekategorien des Internationalen – von Global Governance bis zum überstaatlichen Konstitutionalismus – derzeit kaum abzuschätzen, ob und inwiefern und wie dauerhaft sie sich werden etablieren können.5 Speziell für die systematische und kritische Analyse

1 Dr. phil., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie. Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte (Prof. Dr. Grit Straßenberger). URL: https://www.pol itik-soziologie.uni-bonn.de/de/institut/lehrkoerper/prof.-dr.-grit-strassenberger/dr.eva-marlene-hausteiner. 2 Dr. phil., Leibniz-Universität Hannover, Institut für Politikwissenschaft. Akad. Rat a.Z. am Lehrstuhl für Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik (Prof. Dr. Rainer Schmalz-Bruns). URL: https://www.ipw.uni-hannover.de/14189.html. 3 Kreide/Niederberger, Internationale Politische Theorie; Niesen, Constituent Power in Global Constitutionalism; Albert, Ordnung und Regieren in der Weltgesellschaft; Zürn, A Theory of Global Governance; Ottmann/Barisic, Kosmopolitische Demokratie; Patberg, Usurpation und Autorisierung, sowie die von Christan Volk und Thorsten Thiel seit 2014 hrsg. Reihe Internationale Politische Theorie (derzeit 6 Bde.). 4 Vgl. exemplarisch Herfried Münklers (für den hiesigen Band überarbeiteten) Beitrag Die Governance-Leistung von Imperien in komparativer Perspektive; Zürn, Institutionalisierte Ungleichheit in der Weltpolitik; Brunkhorst, Legitimationskrisen. 2015 legte zudem Ulrich Menzel eine in besagter Zeitspanne sukzessive erstellte Arbeit vor, die sich als finale Mischung aus Modellheuristik und Fallstudien begriff (Menzel, Die Ordnung der Welt). 5 Zumal im Vergleich zu völkerrechtlichen, soziologischen und philosophischen Bestandsaufnahmen politikwissenschaftliche Modelle, Typologien und Traditionen weniger tatsächliche Vielfalt widerspiegeln als sie zu Theorie verdichten. Vgl. für

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imperialer Ordnungen in ihren unterschiedlichen Variationen, um die es hier gehen soll, ist die neuerliche konjunkturelle Flaute aber besonders erstaunlich. Denn da der asymmetrische Machtmodus der Imperialität andere Herrschaftsstrukturen und Identitätsräume oftmals dauerhaft überlagert oder sie integriert und ein Ende dieser Dynamik nicht abzusehen ist,6 bleibt es erklärungsbedürftig, warum kürzlich noch umfassend diskutierte Imperialitätsstrukturen mittlerweile weniger Aufmerksamkeit erhalten. Die Verzahnung von Zeit-, Ideen-, Globalisierungs-, Kapitalismus- und avancierter Imperiumsgeschichtsschreibung schließlich würde ganz andere Schlussfolgerungen nahe legen.7 Ähnliches gilt für die im Zuge von Flucht-, Arbeits- und Massenmigration evidente Bedeutung imperialer Grenzregimes.8 Und auch dass den jüngeren Klassikerinnen und Klassikern politischen Denkens gewichtige imperiumstheoretische Dimensionen abzugewinnen sind, ließe eine intensivere Aufmerksamkeit für die Imperialitätskategorie vermuten.9 Stattdessen jedoch werden verschiedentlich wieder Mahnungen laut, längst nicht überholte Imperialitätskategorien endlich ernster zu nehmen.10 Mit Blick auf die im akademischen Sinne „Internationalen Beziehungen“– jener Disziplin westlicher Prägung, die im Rahmen politologischer Arbeitsteilung für die Analyse und Reflexion zwischen- und überstaatlicher Verhältnisse zuständig ist – stellt sich die derzeitige Lage vermutlich auch als eine Rückkehr zu ihrem im 20. Jahrhundert gepflegten Standardmodell „westfälischer“ Bauart dar.11 Die westfälische Konstruktion war, bei allen historischen Widersprüchen, vom territorialen „Wabenmodell“ sou-

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verschiedene Fachperspektiven Fassbender/Peters, The Oxford Handbook of International Law; Steinmetz, Empires, Imperial States, and Colonial Societies; Reder, Global Governance; Volk, Konzeptualisierungen der Weltordnung. Benton, The Space of Political Community and the Space of Authority. Osterhammel, Globalifizierung; Moyn/Sartori, Global Intellectual History. Alejandro Colás unterschied die Zugriffe treffend in „empires in history“, „empire as space“, „empire as market“ und „empire as culture“ (Colás, Empire). Maier, Once within Borders; Brown, Mauern. Siehe bspw. Jurkevic, Arendt liest Schmitts Der Nomos der Erde; Legg, Spatiality, Sovereignty and Carl Schmitt; nebst Kommentierung der Hrsg. die Neuveröffentlichung von Schumpeter, Zur Soziologie der Imperialismen; Eberl, Naturzustand und Barbarei. Go, Taking Empire Seriously. Ein paralleles Schema der „externen“ Realgeschichte und der „internen“ Fachgeschichte der Internationalen Beziehungen bis zur nach Ende des Kalten Krieges sicher nicht zufällig parallelen Entstehung von Globalisierungs- und Governanceparadigma liefern Daase/Junk, Problemorientierung und Methodenpluralismus in den IB.

Ordnungen imperialer Macht. Eine Bestandsaufnahme

veräner Staatlichkeit ausgegangen:12 Globale Politik ist demnach von Beziehungen zwischen vergleichbaren Akteuren geprägt, die entweder durch hobbesianische, lockeanische oder kantianische Prämissen beschreibbar waren: Staaten sind dann einander entweder Feinde, Konkurrenten oder Freunde.13 Aus Perspektive der neueren politischen Theorie, Ideengeschichte und Philosophie stellen sich zumindest die aktuellen Theorien internationalen Denkens ähnlich dar,14 wenngleich ideenpolitisch offenkundig ist, dass die Stilisierung kanonischer Denker von Hobbes bis Kant mit Großmachtambitionen durchaus auch instrumentalisiert werden kann.15 Das akademische Themenpendel jedenfalls scheint derzeit von weltpolitischer Hierarchie, geordneter Konkurrenz oder globaler Kooperation auf die Thematisierung internationaler Anarchie zurückzuschwingen.16 Und die gegenwärtig vielerorts populistische Renationalisierung der „postnationalen Konstellation“ sowie die Rückkehr mittlerweile unverhohlener Geopolitik sind gleichermaßen Ausdruck wie Triebkraft dieses scheinbaren Neohobbesianismus.17 Diese jüngere Flaute der Imperienforschung sollte aber nicht ihre anhaltendende Relevanz verdecken. Für das Gros der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung ist – jedenfalls dort, wo sie sich für Argumente, Ideen und Motive handelnder Akteure und diskursiver Konstellationen interessiert – niemals strittig gewesen, dass die Geschichte politischer Macht und Herrschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein maßgeblich durch Groß- und Kolonialreiche geprägt und aus der Perspektive imperialer Intellektueller dokumentiert und interpretiert worden ist. Und nicht allein die postkoloniale Forschung belegt immer wieder eine komplexe Fortwirkung

12 Für eine um Ideologiekritik bemühte Fachgeschichte siehe Ashworth, A History of International Thought; flankierend Steinmetz, Empire and Sociology. 13 Wendt, Social Theory of International Politics. Siehe zu entsprechenden Achsen Brock, Zwischen Staatenanarchie und Weltstaatlichkeit. 14 Vgl. Bell, Political Thought and International Relations; Armitage, Foundations of Modern International Thought; Schmelzle, Politische Legitimität und zerfallene Staatlichkeit; Prokhovnik/Slomp, International Political Theory after Hobbes. Eine längere Perspektive bietet klassisch Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. 15 Siehe Christov, The Invention of Hobbesian Anarchy; Eberl, Demokratie und Frieden. 16 Cerny/Prichard, The New Anarchy. Aktuelle Bestandsaufnahmen bei Daase et al., Herrschaft in den Internationalen Beziehungen. 17 Siehe mit spezifisch imperiumsreflektiertem Zuschnitt bspw. Toal, Putin, the West and the Contest over Ukraine and the Caucasus.

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imperialer Dominanz.18 Das hat nicht nur Gründe in historischen Pfadabhängigkeiten, also etwa darin, dass eine Vielzahl der Konflikte unseres Zeitalters durch die realen und die fiktionalen Landkarten früherer Großund Weltmächte und die „Imperialität“ ihrer Ausgrenzungs-, Verdrängungs- und Aneignungsnormen vorstrukturiert worden sind.19 Gegenüber imperialen Diskursen und Ideenwelten bilden republikanische, humanistisch-universalistische und partikularistisch-isolationistische Ordnungsmodelle politischer Herrschaft vermutlich eine historische Minderheit oder waren selbst unter (gelegentlich anti-)imperialen Prämissen erdacht worden. Dies wird besonders deutlich, wenn man auf das „Nachleben“ großer Reiche blickt. Für die Gründung, Begründung und symbolische Reproduktion späterer Herrschaftsordnungen kann die Berufung auf imaginierte oder reale Vorgänger unter den Imperien und Imperiumsaspiranten legitimierend wirken.20 Insbesondere das antike Rom hat sich dabei in seiner dreifachen Gestalt – der republikanischen, der imperialen wie der heilsgeschichtlichen – als kollektive Sinnstiftungsreserve bewährt, denn bis in die jüngste Vergangenheit hinein wissen sich unterschiedlichste Mächte entsprechend selektiv als Erbinnen römischer Allmacht zu inszenieren.21 Dass demgegenüber non-, anti- und postimperiale Weltordnungsideen in der Moderne immer stärker – trotz diverser Rückschläge – an Überzeugungskraft gewinnen konnten, hat auch damit zu tun, dass weltanschauliche Zentralperspektiven an Einfluss verloren haben.22 Ohne sakrale oder

18 Siehe Randeira/Eckert, Vom Imperialismus zum Empire; Said, Culture and Imperialism; Grandin, Empire’s Workshop. 19 Siehe dazu Stoler, Duress; Jureit, Umkämpfte Räume; Reinhard, Die Unterwerfung der Welt; Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas; Luedtke/Strutynski, Neue Kriege in Sicht; Halperin/Palan, Legacies of Empire; Berger/Miller, Nationalizing Empires; Jureit, Das Ordnen von Räumen; Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law; Gehler, Europa. Auch ideenhistorische Arbeiten über gedachte Alternativen sind lehrreich, etwa Thumfart, Die Begründung der globalpolitischen Philosophie; Fitzmaurice, Sovereignty, Property and Empire; Mueser, The Nation and Property in Vattel’s Theory of Territory. 20 Münkler, Translation, Filiation und Analogiebildung; Stuchtey, Der Charakter, die Herrschaft, das Wissen. 21 Siehe, auch zum diesbezüglichen Literaturstand, Hausteiner, Greater than Rome; Huhnholz, Krisenimperialität; Adler, Post-9/11 Views of Rome, und jüngst Wouter et al., Renovatio, inventio, absentia imperii; Hell, The Third Reich and the Fall of Rome; Poe, Moscow, the Third Rome; MacCormack, Cuzco, another Rome? 22 An der Transformationsphase des „liberalen Imperialismus“ lässt sich das besonders eingängig veranschaulichen, siehe Pitts, A Turn to Empire; Bell, Reordering the World; Jureit, Liberaler Imperialismus?

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Ordnungen imperialer Macht. Eine Bestandsaufnahme

quasi-religiöse Einheitsvisionen und ihre Rechtfertigungsmuster sind die zunehmend liberal fundierten Machtformationen der Moderne darauf angewiesen, ihren Legitimitätsglauben im Sinne Max Webers selbsttätig zu reproduzieren – also ohne den Verweis auf ältere Traditionsbestände. Das mag einerseits zu erklären helfen, warum die besonders berüchtigten Großreiche der Moderne, die sich von Napoleon bis Hitler und Stalin über Charismakulte strukturierten, entsprechend rasch implodierten.23 Andererseits weist es auch darauf hin, warum deren (kaum minder kurzlebigen)imperialen Gegenkräfte sich weltanschaulich über den „Antiimperialismus“ begründeten – denken wir nur an die bipolaren Großmächte im Kalten Krieg.24 Schließlich haben aus diesem Grund spezifisch moderne Großmächte Schwierigkeiten, ihren Anspruch normativer Rationalität und prozeduraler Transparenz – bis hin zu demokratischen Selbstverpflichtungen – mit der Installation dauerhaft asymmetrischer Herrschaftsgefüge zu vereinbaren. Insbesondere im zivilisatorischen Selbstverständnis der USA und der EU sind imperiale oder gar imperialistische Beherrschungs- und Fremdherrschaftsprojekte mittlerweile nur noch als „empire lite“ (M. Ignatieff) denkbar: als entweder temporärer Protektionismus oder aber exzeptionelle Präventionsmaßnahme, sei es als Demokratieförderung, state und nation building, Entwicklungshilfe oder Terrorismusbekämpfung.25 Das demokratische Ideal der Herrschaft auf Zeit hat den Globus erobert – und unseren Blick auf Imperialität und unseren Sprachhaushalt des Imperialen verändert.26 II. Imperial turns Die Anfänge des imperial turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften liegen rund zwei Jahrzehnte zurück. Folgt man gängigen Periodisierungen,27 so wenden sich Forscherinnen und Forscher seit den 1990er Jahren Imperien unter neuen methodischen Vorzeichen zu – also jenseits der bestehen-

23 Baberowski, Ordnung durch Terror. 24 Isaac/Bell, Uncertain Empire; Aust, Globalisierung imperial und sozialistisch. 25 Ignatieff, Empire lite; Huhnholz, Krisenimperialität, S. 359-398; Schmelzle, Politische Legitimität und zerfallene Staatlichkeit; Jacob, Justice and Foreign Rule. 26 Leonhard, The Longue Durée of Empire; Jureit/Tietze, Postsouveräne Territorialität; Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen?; Jordheim et al., Empire, Imperialism and Conceptual History. 27 Vgl. Semyonov, Empire as a Context-Setting Category; Burton, After the Imperial Turn.

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den staatszentrierten Methodenstränge der Politikwissenschaft und Politikgeschichte einerseits und der älteren postkolonialen Studien andererseits. Die Analyse imperialer Ordnungen, Dynamiken und Praktiken hat sich bedeutend ausdifferenziert und methodisch wie in ihren Gegenständen weiterentwickelt. Umso mehr wäre zu vermuten, dass die beachtliche Bilanz der letzten zwei Jahrzehnte Imperiumsforschung bestens dokumentiert ist. Welche inhaltlichen und methodischen Fortschritte seit dem imperial turn gemacht wurden – und welche weiter ausstehen –, liegt aber insbesondere in den Politikwissenschaften immer noch im Ungefähren: Trotz der großen Zahl an Einzelstudien, die sich mit Imperien aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigen, steht eine umfassendere Bestandsaufnahme darüber, was Begriff und Kategorie des Imperiums politikwissenschaftlich zu leisten vermögen und was die Politikwissenschaften ihrerseits in der Erforschung von Imperialität anzubieten haben, weiter aus.28 Insbesondere in den deutschsprachigen Politikwissenschaften sind bleibende Spuren der Imperiumsforschung schwer auszumachen.29 Das ist umso verwunderlicher, als auch in den Nachbardisziplinen Einigkeit darüber zu herrschen scheint, dass Imperialität ein in erheblichem Maße politisches Phänomen ist – gerade dann, wenn man Politik nicht übermäßig eng als kollektive Problemlösung durch Verfassungsinstitutionen versteht, sondern breiter als jene Prozesse des Politischen, durch die kollektives Handeln und kollektive Identitäten erst konstituiert und konstruiert und in denen Machtfragen entschieden werden. Obwohl sich imperiale Institutionen, Akteure und Dynamiken aus politikwissenschaftlicher und gerade politiktheoretischer Perspektive de facto als hochrelevante Forschungsgegenstände erwiesen haben, werden sie mit Ausnahme einer kurzzeitigen Konjunktur nach 9/11 kaum als eigenständiger Gegenstandsbereich des Faches wahrgenommen.

28 Jennifer Pitts’ Standortbestimmung politiktheoretischer Imperiumsforschung etwa liegt bald ein Jahrzehnt zurück (Pitts, Political Theory of Empire and Imperialism). 29 Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden. Eine Ursache liegt aber möglicherweise in der extrem späten Auseinandersetzung der deutschen Forschung mit der Kolonialgeschichte des Kaiserreiches: Im Unterschied zu britischen, französischen und selbst US-amerikanischen Fachkulturen ist Imperialität über lange Zeit als externes Phänomen betrachtet worden. Erst jüngst ist die spätestens seit 1871 vorherrschende Affinität deutscher Eliten zu imperialen Deutungs- und Handlungsmustern wieder in den Fokus geraten. Vgl. Zimmerer, Kein Platz an der Sonne.

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Ordnungen imperialer Macht. Eine Bestandsaufnahme

Ein völlig anderes Bild ergibt dagegen ein Blick auf die Geschichtswissenschaften. Die anhaltend – gerade unter der subdisziplinären Verortung „Globalgeschichte“ bzw. global history und new imperial history – florierende Forschungstätigkeit zu unterschiedlichsten Imperien, ihren Verknüpfungen und fundierenden politisch-kulturellen Praktiken ist zuletzt auch in der deutschsprachigen Publikationslandschaft mehrfach vermessen worden.30 Die Erforschung von imperialen Ordnungen und Praktiken ist in diesen Darstellungen ein alle Epochen der Geschichte betreffendes Projekt, das von neuen methodischen Impulsen entscheidend profitiert hat und derzeit alles andere als abgeschlossen ist. Diese Asymmetrie des jeweiligen innerfachlichen Status ist vermutlich auch auf Wahrnehmungen dessen zurückzuführen, was das vermeintliche ‚Kerngeschäft‘ der Disziplinen ausmacht – und dessen, was als Imperium zu verstehen sei. Sofern Imperien als primär historische Phänomene wahrgenommen werden, die allenfalls in ihren Nachwirkungen – z.B. anhand von ‚Phantomschmerzen‘ ehemals imperialer Metropolen oder als postkoloniale Narben – politisch relevant sind, und sofern sich die Politikwissenschaften maßgeblich als gegenwartsanalytische und prognostizierende Disziplin verstehen, ist verständlich, weshalb Interessen an einer Beteiligung an Imperiumsforschung niedrigschwellig bleiben und Imperiumsanalysen primär den Geschichts- und anderen traditionell historisch arbeitenden Geisteswissenschaften überlassen werden. Begreift man aber einerseits Imperien als transhistorisches, sich unter anderen Vorzeichen auch in der Gegenwart fortsetzendes Ordnungsmodell, und versteht sich die Politikwissenschaft andererseits als Fach, das auch historische Empirie gewinnbringend analysieren kann, dann fällt die Beschäftigung mit Imperien als politisch weitreichende Phänomene durchaus in den Aufgabenbereich des Faches. Ausgehend von dieser Diagnose sollen im Folgenden überblicksartig Stand und Agenda der Imperiumsforschung in den Geschichts- und Politikwissenschaften wie auch in den Grauzonen zwischen beiden Feldern bilanziert werden: Welche politischen Konstellationen, Praktiken und konkreten politischen Phänomene sind seit dem imperial turn in den Blick genommen worden? Welche methodischen Schwerpunkte haben jüngere Beiträge gesetzt – und wie unterscheiden sich diese von der früheren Erforschung von Imperien und Großreichen? Und schließlich: Welche weiterge-

30 Stuchtey, Zeitgeschichte und vergleichende Imperiengeschichte; von Hirschhausen, A New Imperial History?; dies., Zwischen Historisierung und Globalisierung; Tölle, Early Modern Empires.

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henden Desiderate wurden in der jüngsten Welle der Imperiumsforschung formuliert, welche Forschungstendenzen sind hier in den kommenden Jahren zu erwarten? Folgt man den Bilanzierungsversuchen der geschichtswissenschaftlichen Imperiumsforschung, so haben insbesondere zwei internationale Forschungstrends bleibende Spuren hinterlassen, nämlich die new imperial history sowie die Globalgeschichte. Standen dabei anfänglich das 18. und 19. Jahrhundert – als klassische Hochphase der Kolonialimperien – im Fokus des Forschungsinteresses, so bearbeitet die geschichtswissenschaftliche Imperiumsforschung mittlerweile alle Epochen von der Antike bis in die Zeitgeschichte.31 Die new imperial history steht in besonderer Weise für den imperial turn und seine Schwerpunkte. Leitend ist hier die Frage nach den imperial konstitutiven Praktiken jenseits der klassischen Politik- und Institutionengeschichte: Wie etwa Ulrike von Hirschhausen und Benedikt Stuchtey in ihren Bestandsaufnahmen festgestellt haben, sind kulturgeschichtliche Perspektiven, die Beschäftigung mit Repräsentation, die Aufmerksamkeit für Geschlechterverhältnisse sowie in methodischer Hinsicht, biographische Zugriffe charakteristisch.32 Autorinnen wie Catherine Hall – mit Arbeiten über englische Zivilisierungsimaginationen – oder Ann Stoler – mit Analysen über koloniale Wissens- und Geschlechterregimes – haben nicht nur die Bedeutung sprachlich-symbolischer Aspekte imperialer Machtasymmetrie herausgearbeitet, sondern auch gezeigt, dass imperiale Herrschaft nicht allein von politischen Eliten ausgeübt wird, sondern räumlich und gesellschaftlich komplexe Akteursnetzwerke umfasst.33 Darin ist die new imperial history teilweise zwar durchaus den älteren postkolonialen Studien verwandt, die als erste „nicht mehr vorrangig politische und ökonomische, sondern primär kulturelle Dimensionen des Kolonialismus in den Blick nehmen und eurozentrische Wissensordnungen und Repräsentationen radikal infrage stellen“ konnten.34 Die new imperial history geht, auf dieser kritischen Perspektive aufbauend, allerdings weniger von einer Dichotomie zwischen Herrschern und Beherrschten in getrennten politischen Räumen aus als von einen komplexen Herrschaftsgewebe, aus dem sich Imperien konstituieren. 31 Vgl. etwa Iriye/Osterhammel, Geschichte der Welt. 32 Von Hirschhausen, A New Imperial History?; Stuchtey, Zeitgeschichte und vergleichende Imperiengeschichte. Ein wegweisendes Überblickswerk ist hier sicherlich Wilson, A New Imperial History. 33 Hall, Macaulay and Son; dies., Civilizing Subjects; Stoler, Duress. 34 Von Hirschhausen, A New Imperial History?, S. 723.

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Wie der new imperial history geht es auch der seit den 1990er Jahren boomenden Globalgeschichte – anders etwa als der traditionellen Weltreichsund Universalgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Autoren wie Oswald Spengler oder Arnold Toynbee –35 um die Analyse globaler Dynamiken anhand von Studien, die über einen eurozentrischen Blick hinausgehen. Spezifisch für die Globalgeschichte ist dabei der Versuch, den Zusammenhang zwischen vermeintlich isolierten historischen Phänomenen durch Vergleiche und Transferbeobachtungen nachzuweisen – ob in mikrogeschichtlichen Studien oder in groß angelegten Vergleichen und Transformationsanalysen in der longue durée. Imperien sind daher ein zentraler globalgeschichtlicher Forschungsgegenstand:36 Geographisch weitreichende und globale Austausch- und Vernetzungsprozesse37 haben einerseits häufig innerhalb von Imperien stattgefunden und diese andererseits mit hervorgebracht und transformiert; dies gilt insbesondere für jene „klassischen“ Imperien wie das Imperium Romanum, das British Empire und teilweise auch das American Empire, deren großräumige (wenn nicht globale) Modellfunktion ausführlich nachgewiesen wurde.38 Das globalgeschichtliche Erkenntnisinteresse betrifft dabei gerade auch interimperiale, und nicht nur intraimperiale Dynamiken: Global wird die globalgeschichtliche Perspektive nicht zuletzt dadurch, dass unterschiedliche Ereignisse, Praktiken, Biographien und Debatten aus unterschiedlichen imperialen Kontexten zueinander in Beziehung gesetzt werden.39 Insbesondere Prakti-

35 Spengler, Der Untergang des Abendlandes [1918 u. 1922]; Toynbee, A Study of History [1934-1954]. Vgl. auch Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. 36 Vgl. als Überblick Conrad et al., Globalgeschichte; ders., Globalgeschichte. Eine Einführung, S. 219-225, sowie als zentrale Werke u.a. Bayly, The Birth of the Modern World; Benjamin, A World with States, Empires and Networks; Darwin, The Rise and Fall of Global Empires; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt; Lieven, The Russian Empire and its Rivals; Maier, Among Empires; Gehler/Rollinger, Imperien und Reiche in der Weltgeschichte; Nolte, Imperien: Eine vergleichende Studie. 37 Hier stellt die komparative Geschichte von Expansionsbewegungen (und dem Widerstand dagegen) einen zentralen Forschungsstrang dar, so etwa bei Abernethy, The Dynamics of Global Dominance; Stuchtey, Die europäische Expansion und ihre Feinde; Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Auch Dynamiken imperialer Kooperation an der Peripherie wurden zuletzt in globalhistorischer Perspektive thematisiert, siehe Bührer et al., Cooperation and Empire. 38 Eich, Der Wechsel zu einer neuen grand strategy unter Augustus; Louis, The Oxford History of the British Empire; Hopkins, American Empire. 39 Pagden, The Burdens of Empire; Neitzel, Weltmacht oder Untergang; Gusejnova, European Elites and Ideas of Empire; Aust, Globalisierung imperial und sozialis-

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ken der Raumerschließung40 sind als Scharniere großräumiger Integration innerhalb und zwischen Imperien analysiert worden – und zwar, anders als in den klassischen Imperialismustheorien, nicht allein als hierarchische Intervention vom Zentrum in die Peripherie verstanden, sondern auch als Praxis verschiedener Akteure und Intermediäre41 in imperialen Grenzräumen.42 Die Politikwissenschaften haben sich demgegenüber, wie Jennifer Pitts 2010 feststellte, der Erforschung von Imperien erst relativ spät und unzureichend zugewandt. Neben der oben formulierten These, wonach die Erforschung oft als historisch begriffener politischer Gebilde dem Selbstverständnis vieler eher gegenwartsfokussierter Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler zuwiderläuft und darum in deutlich geringerem Maße als in den Geschichtswissenschaften wegweisend werden konnte, sind hierfür weitere Gründe maßgeblich – von einer analytischen Orientierung am Staatsparadigma bis hin zu einer normativ begründeten Ausblendung der mit Zwang und Gewalt assoziierten imperialen Herrschaftsform. Vor allem aber liegt es vermutlich am Charakter der Politikwissenschaften als heterogenes Kompositfach bisweilen recht unterschiedlicher Teildisziplinen, dass sich fachübergreifende Trends kaum und wenn dann nur langsam durchsetzen konnten: Die Imperiumsforschung floriert bis heute eher in Nischen der Politikwissenschaften, während sie ganze Teile der Disziplin völlig unberührt ließ. Im Besonderen gilt dies für die (obendrein jeweils länderspezifisch ausgerichtete) Regierungslehre, die allerdings in den USA unter dem Rubrum American Politics durchaus auch imperiumsinteressierte Forscherinnen und Forscher beheimatet.43 Hieraus ergab sich schon für Pitts vor knapp einem Jahrzehnt der Befund sehr unterschiedlicher Forschungsfelder und -gegenstände. Seitdem hat sich die Segmentierung eher verstärkt als aufgehoben, und es ist im eingangs ausgeführten Kontext unklar, ob das Interesse für die weltpolitische und womöglich imperiale Rolle der USA, die nach dem 11. September 2001 intensive Auf-

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tisch; Armitage, Theories of Empire; Leonhard/von Hirschhausen, Beyond Rise, Decline and Fall; Barth/Cvetkovski, Imperial Co-operation and Transfer. Jureit, Das Ordnen von Räumen; exemplarisch aus der russischen und britischen Imperialgeschichte Schenk, Das Zarenreich als Transitraum zwischen Europa und Asien; Hausteiner, Rasse, Raum und Rom. Vgl. Burbank/Cooper, Empires in World History. Snyder, Bloodlands; Huhnholz, Deutschsowjetische Bloodlands? Vgl. Frymer, Building an American Empire.

Ordnungen imperialer Macht. Eine Bestandsaufnahme

merksamkeit erfuhr,44 sich langfristig wirklich in eine kontinuierliche politikwissenschaftliche Erforschung von Imperien und in standardmäßige Reflexionen imperialer Politikstile und Herrschaftsstrukturen übersetzen wird. Mit zwischen- und überstaatlichen Ordnungen befasst sich innerhalb der Politikwissenschaften traditionell das eingangs schon kurz erwähnte Feld der Internationalen Beziehungen (IB). Vielfach wurde jedoch diagnostiziert, dass die IB sich oft zwischen den Polen eines (mit dem Realismus assoziierten) Festhaltens an der Analyseeinheit des Staates und der These einer weitgehenden Transnationalisierung bewegen und sich zur Vermittlung dieser Pole an zentralen Verhältnisbegriffen wie beispielsweise dem der Hegemonie orientieren, wodurch Drittoptionen politischer Ordnung und Hierarchie nur mit wenigen Ausnahmen in den Forschungsfokus geraten sind.45 Auch ein eher transhistorischer Imperiumsbegriff, der die Gegenwartsrelevanz entsprechender Dynamiken anerkennt, hat sich innerhalb der IB nicht durchgesetzt; Arbeiten wie Michael Doyles umfassende Vergleichsstudie Empires aus dem Jahr 1986 haben sich nicht als stilbildend erwiesen,46 und seltsamerweise bleibt auch die seit Jahrzehnten in den Politikwissenschaften eher periphere Kategorie räumlicher Herrschaft in imperiumstheoretischer Hinsicht wenig reflektiert.47 Allenfalls an den Rändern der IB hat sich in den vergangenen Jahren das Interesse an Imperien intensiviert. Dies gilt zumal für Arbeiten an der Schwelle zu den (vergleichenden) Regionalstudien. Insbesondere die Amerikanistik und die Ostasien- und Chinaforschung, aber auch die EU-Integrationsforschung haben dabei die jeweiligen Ordnungen unter dem

44 Siehe exemplarisch Cox, Empires, Systems and States; Calhoun/Cooper, Lessons of Empire; Bacevich, The Imperial Tense; Ferguson, Empire; Ikenberry, Liberal Order and Imperial Ambition; Go, Patterns of Empire; Huhnholz, Krisenimperialität; Parchami, Hegemonic Peace and Empire. 45 Zürn, Institutionalisierte Ungleichheit in der Weltpolitik; Menzel, Die Ordnung der Welt. 46 Doyle, Empires; vgl. Barkawi, Empire and Order in International Relations and Security Studies. 47 Siehe Maier, Among Empires, S. 99ff.; Hildebrand, Imperialismus der Ströme statt Imperialismus der Räume? Das dürfte auch mit fachlichen Abgrenzungen zur politischen Geographie zu tun haben, dazu Huhnholz, Dschihadistische Raumpraxis, S. 8-32; Münkler, Herrscher der Räume; ders., Kriegssplitter, S. 301-330; Colás, Empire.

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Blickwinkel des Imperialitätsverdachts analysiert.48 Vor allem aber sind es Forscherinnen und Forscher aus der Grauzone zwischen den IB und der Politischen Theorie und Ideengeschichte, die – unter dem Rubrum der Internationalen Politischen Theorie wie auch der Geschichte internationalen politischen Denkens – die Entstehung und Wirkungsmacht imperialer und internationaler Ordnungskonzeptionen seit der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart sowohl deskriptiv wie auch normativ geprüft haben und so Konventionen internationalen politischen Denkens zu einer kritischen Selbstreflexion ermuntern.49 Es ist die Politische Theorie und Ideengeschichte – in ihren Kernzonen und in ihren Übergangsbereichen zu benachbarten Feldern –, die das Gros der Forschungsproduktion zu Imperien innerhalb der Politikwissenschaften leistet, wobei sich auch hier die für die Teildisziplin charakteristische Methodenvielfalt bemerkbar macht. Erstens hat eine deskriptiv-systematisierende Politische Theorie seit den frühen 2000er Jahren verstärkt Imperien aus komparativer und transhistorischer Perspektive untersucht. Dieser Suche nach der „Logik der Weltherrschaft“50 liegt die These eines eigenständigen imperialen Ordnungstypus zugrunde. Erhärtet wird sie durch die vergleichende Evaluation von Imperien unterschiedlicher Epochen bis in die unmittelbare Gegenwart, wobei der Idealtyp Imperium immer wieder Gegenbegriffen gegenübergestellt wird, vornehmlich dem des (National-)Staates, aber auch von verwandten Begriffen wie „Hegemonie“ und „Imperialismus“ unterschieden wird.51 Durch die Differenzierung unterschiedlicher Imperiumstypen – etwa: Land- versus Seeimperien, zwischen Kriegsimperien oder informellen Imperien, die ihrerseits teilweise auch für eine bestimmte Epoche kennzeichnend sein können –, wird der breite Imperiumsbegriff und damit die Annahme transhistorischer Imperialität plausibilisiert, denn als kennzeichnend für imperiale Ordnungen gelten demnach wenige Merkmale wie Heterogenität, Hierarchie sowie Großräumigkeit und Langlebigkeit.52 Neben 48 Hochgeschwender, Die USA – ein Imperium im Widerspruch; Beck/Grande, Das kosmopolitische Europa; Zielonka, Europe as Empire; Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas; Pines, The Everlasting Empire. 49 Steffek/Holthaus, Jenseits der Anarchie; Bell, Victorian Visions of Global Order; Morefield, Empires without Imperialism. 50 Münkler, Imperien. 51 In diesem Versuch der Typologisierung ist die deskriptiv-systematisierende Imperiumstheorie durchaus mit der historischen Soziologie verwandt, die ihrerseits entscheidende Beiträge zur Imperiumsforschung geleistet hat. Siehe Mann, Geschichte der Macht. 52 Münkler, Imperien; Leitner, Imperium.

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solchen strukturellen wie auch funktionalen Merkmalen ist aber auch verstärkt das Selbstverständnis imperialer Akteure und Gegenakteure wie auch ihre Legitimationstechniken und -narrative in den Fokus genommen worden.53 Dieser Schwerpunkt auf Selbstreflexion und Legitimation teilt nicht nur eine gewisse Nähe zur new imperial history, sondern hat auch einen beträchtlichen ideengeschichtlichen Gehalt, indem hier nicht allein die institutionelle, militärische oder ökonomische Struktur von Imperien im Mittelpunkt steht, sondern Imperien ihrerseits als diskursive Konstruktionen betrachtet werden. Zweitens also hat dementsprechend eine ideengeschichtlich interessierte Politische Theorie in den vergangenen Jahren vermehrt danach gefragt, wie Imperien in politischen und theoretischen Debatten gedeutet wurden und umkämpft waren – und inwieweit imperiale Denkfiguren, etwa von Zivilisierungsmissionen oder Interventionszwängen, das politische Denken in Europa und darüber hinaus geprägt haben oder weiterhin prägen.54 Zentrale Gegenstände sind hier die westliche Rechtsgeschichte und ihrem imperialen Gehalt,55 aber auch imperiale Verstrickungen und Annahmen im Werk kanonischer politischer Denker wie Thomas Hobbes, John Locke, Edmund Burke, Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill.56 Vergleicht man die hier als zentral benannten Disziplinen der Imperiumsforschung – also die Politik- und Geschichtswissenschaft –, so wird einerseits deutlich, inwieweit die einzelnen Fachkulturen sehr unterschiedliche methodische Zuschnitte und thematische Interessen an das Phänomen des Imperiums herangetragen haben. Andererseits fallen bemerkenswerte interdisziplinäre Wechselbewegungen auf. Dies betrifft nicht allein geteilte

53 Bspw. Hausteiner, Greater than Rome; Huhnholz, Krisenimperialität; Münkler/Hausteiner, Die Legitimation von Imperien; Osterhammel, Symbolpolitik und imperiale Integration; Toye/Thomas, Rhetorics of Empire. 54 Barth/Osterhammel, Zivilisierungsmissionen; Bell, The Idea of Greater Britain; Pitts, A Turn to Empire; Morefield, Empires without Imperialism; Mantena, Alibis of Empire; Livingston, Damn Great Empires! 55 Pitts, Boundaries of the International; Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law; Benton, A Search for Sovereignty; Cohen, Whose Sovereignty? 56 Mehta, Liberalism and Empire; Armitage, John Locke: Theorist of Empire?; Muthu, Empire and Modern Political Thought; Därmann, Damnatio ad bestias in Nordamerika; Kahl/Bluhm, Verfassung, Ökonomie und Staatsfinanzierung im Denken von Edmund Burke; Bohlender, Demokratie und Imperium.

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Begriffsreflexionen –57 also die fächerübergreifenden und voneinander profitierenden Versuche, den Begriff des Imperiums von verwandten Begriffen wie Imperialismus, Kolonialismus und Hegemonie sinnvoll und operationalisierbar abzugrenzen. Insbesondere haben eine Reihe von AutorInnen aus beiden Fächern – von Michael Doyle über Herfried Münkler und Jürgen Osterhammel bis hin zu Antonio Negri und Michael Hardt – das Imperium als politisches Struktur- und Ordnungsmodell verstanden, das im Englischen schlicht im Kollektivsingular als empire, in der deutschsprachigen Literatur dagegen gelegentlich (und schon der Abgrenzung vom bis zur Unkenntlichkeit überfrachteten Terminus Imperialismus“)58 als „Imperialität“ bezeichnet wird.59 Neben diesem gemeinsamen konzeptionellen Interesse sind auch eine Reihe von Gegenstandsbereichen in enger Kooperation zwischen Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern mit Historikerinnen und Historikern bearbeitet worden – von den Grauzonen zwischen Imperien und internationalen Regimen60 über die Dynamiken imperialen Niedergangs und Zerfalls61 bis hin zum lange unterschätzten Gegenstandsbereich des Siedlungskolonialismus.62 III. Perspektiven der Imperiumsforschung Ein zentrales Desiderat der Imperiumsforschung ergibt sich direkt aus dem bisherigen Überblick: Angesichts der fortlaufenden Relevanz imperialer Handlungs- und Deutungsmuster gilt es, an die beachtlichen Forschungsfortschritte der vergangenen zwei Jahrzehnte anzuschließen anstatt sie im Sande verlaufen zu lassen. Ein zentrales Anliegen dieses Bandes ist es darum, exemplarische Anschlusspunkte aufzuzeigen und ein Resümee bisheriger Forschungspfade und methodischer Zugriffe aus den Politik- und Geschichtswissenschaften zu bieten.

57 Vgl. etwa die systematisch verwandten Begriffsarbeiten von Herfried Münkler und Jürgen Osterhammel (Münkler, Imperien; Osterhammel, Imperien im 20. Jahrhundert). 58 Fisch et al., Imperialismus; Münkler, Imperien, S. 35-59; klassisch Mommsen, Imperialismustheorien. 59 Münkler, Imperien; Hausteiner, Greater than Rome; Huhnholz, Krisenimperialität. 60 Z.B. Pedersen, The Guardians. 61 Motyl, Imperial Ends; Altrichter/Neuhaus, Das Ende von Großreichen; Demandt, Das Ende der Weltreiche; Howe, When – If Ever – Did Empire End? 62 Ford, Settler Sovereignty; Veracini, Settler Colonialism.

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Doch auch andere, konkretere Forschungslücken lassen sich ausmachen; und auch hier ist ein Blick auf etablierte Forschungsgebiete innerhalb der Politik- und Geschichtswissenschaften aufschlussreich. Weithin unberührt vom imperial turn bleibt etwa weiterhin die Politische Ökonomie. Für zurückliegende Epochen sind Zusammenhänge auch jenseits sozialistischer Imperialismustheorien häufig sehr gut untersucht,63 selten indes in politikwissenschaftliche Blickwinkel überführt.64 Das ist keineswegs selbstverständlich, betrachtet man etwa den Phänomenzusammenhang zwischen der antiimperialistischen Selbstrechtfertigung des Dschihadismus, der im Nachgang von 9/11 von den USA geförderten Niedrigzinspolitik, der infolge einbrechender Immobilienkreditmärkte 2008 ausbrechenden Weltwirtschaftskrise und ihren strukturell unbewältigten Folgen – einschließlich des Niedergangs eines von nicht wenigen noch vor einem Jahrzehnt hoffnungsvoll begrüßten europäischen Einigungsprojekts. Manche Eigenheiten dieser Koninzidenzen erinnern an die vom Politikwissenschaftler Chalmers Johnson vor beinahe zwei Jahrzehnten unter dem Titel blowback skizzierte Vorstellung sich kumulierender Pfadabhängigkeiten: Sein „Begriff Rückstoß“, so Johnson zur Jahrtausendwende, meine, „dass ein Land eben das erntet, was es gesät hat, selbst wenn es nicht genau weiß oder versteht, was es da ausgesät hat. In Anbetracht ihres Reichtums und ihrer Macht werden die Vereinigten Staaten in absehbarer Zukunft ein primäres Objekt der offenkundigeren Formen des Rückstoß es sein, womit ich hier insbesondere terroristische Angriffe auf uniformierte und zivile amerikanische Staatsbürger überall auf der Erde einschließlich der USA selbst meine. […] Das Festhalten an der imperialistischen Politik wird vor allem eines erzeugen: noch mehr Rückstoß.“65 Einer Refigurierung bedürfte vermutlich auch der theoretische Postkolonialismus, und zwar in politologisch ganz prinzipieller Hinsicht: An

63 Ein frühes Beispiel ist Albion, Forests and Sea Power; jüngere Spezialstudien wären etwa Beckert, Empire of Cotton; Johnson, River of Dark Dreams; Cooper, Africa in the World; Bender/Lipman, Making the Empire Work; Donoghue/Jennings, Building the Atlantic Empires; aber auch Aly, Hitlers Volksstaat, und dadurch angeregte Arbeiten. Zum Händlerkolonialismus mit umfassenden Belegen Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. 64 Ikenberry, American Power and the Empire of Capitalist Democracy; Nederveen Pieterse, Neoliberal Empire; Colás, Open Doors and Closed Frontiers; und mit teils dezidiert sozialistischen Perspektiven Hardt/Negri, Empire; Rilling, Risse im Empire; Panitch/Konings, American Empire and the Political Economy of Global Finance; Gindin/Panitch, The Making of Global Capitalism, und das Forum dies., American Empire or Empire of Global Capitalism? 65 Johnson, Ein Imperium verfällt, S. 288f.

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Antworten auf die Frage nämlich, wie den seit Jahren lauter werdenden Forderungen nach Berücksichtigung „nicht-westlicher“ Politiktraditionen, -erfahrungen und -praktiken Rechnung getragen werden kann, dürfte sich die Überzeugungskraft und mithin die Dauerhaftigkeit derzeit führender Politiktheorien festmachen.66 In Kombination mit Imperiums- als Herrschaftstheorien können „postkoloniale“ politische Theorien wie beispielsweise die Achille Mbembes nicht auf emanzipatorische kritische Anliegen reduziert werden.67 Denn sind nicht nur „westliche“ Formen von ökonomischer, ökologischer, sexueller, psychosozialer und kultureller Ausbeutung, Aneignung und Unterwerfung tatsächlich fortwährend konstitutiv für das Fortbestehen derzeitig auch normativ hegemonialer Ordnungen, dann bleibt die Einbettung postkolonialer Perspektiven in umfassendere Sozial- und Gesellschaftstheorien eine Aufgabe für die Politologie insgesamt.68 Eine weitere, gerade im ökonomisch-ökologischen Zusammenhang kapitalistischer Lebensstile politologisch womöglich revisionsbedürftige Dimension dürfte ist die Kategorie des „Kulturimperialismus“. In den älteren Imperialismustheorien diente die Rede vom „Kulturimperialismus“ zumeist lediglich als ein Anker zur Propagierung antikapitalistischer und essentialistischer Positionen diente. Es bedarf gegebenenfalls neben Konsumstildiagnostik einer gesellschaftstheoretisch avancierten Dialektik der Aufklärung,69 um die mit der Kommodifizierung des Erdballs einhergehenden sozialen, ökologischen und kulturellen Destruktivkräfte zu beschreiben. Hier wäre der Begriff des „Kulturimperialismus“ womöglich produktiv und gegenwartsrelevant neu besetzbar. Und schließlich ist zu fragen, ob eine Öffnung der Integrations- (und Desintegrations-)forschung für die Analyse imperialer Dynamiken nicht überfällig ist. Als Feld zur Erforschung der Formierung und des Zerfalls großräumiger, komplexer politischer Gebilde ist sie prädestiniert dafür, imperiale Integration mindestens als historische Vorläufer- und Vergleichs-

66 Das Feld der Vergleichenden Politischen Theorie hat sich diese Öffnung und Berücksichtigung zum Ziel gesetzt. Vgl. Schubert/Weiß, „Demokratie“ jenseits des Westens. 67 Mbembe, Postkolonie. 68 Einen Katalog einschlägiger Beispiele von ökonomischer Plünderung über klimatologischen Imperialismus bis hin zu diversen nach Südostasien ausgelagerten Bestandsvoraussetzungen der Digitalisierung westlicher Lebenswelten bieten publizistisch aufbereitet Lessenich, Neben uns die Sintflut; siehe auch Brand/Wissen, Imperiale Lebensweise. 69 De Grazia, Irresistible Empire; Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung.

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größe, möglicherweise aber auch als weiterhin wirkmächtige Dynamik zu berücksichtigen. Der oben erwähnte gelegentliche, oft eher metaphorische Abgleich der EU-Forschung mit dem Imperienbegriff ist hier noch nicht hinreichend. Vielmehr müsste grundsätzlicheren Fragen nachgegangen werden, etwa inwieweit die traditionsreiche Forschung zu Expansion und Raumerschließung Beobachtungen mit der Analyse politischer Integration teilen kann; inwiefern ideengeschichtliche Positionen zum imperialen decline and fall mit jüngeren Einsichten zu Desintegrationsdynamiken in Verbindung gebracht werden könnten; und welchen prägenden Einfluss bestehende oder vergangene imperiale Ordnungen auf jüngere geopolitische Integrationsversuche haben oder quer zu ihnen verlaufen – von der Silk Route bis zur Eurasischen Union.70 Die Liste möglicher disziplinärer Anwendungsfelder für die Analysekategorie des Imperiums wäre leicht weiter zu ergänzen – von den Föderalismusstudien71 zur politischen Ikonographie. Deutlich wird dabei, dass „Imperium“, „Imperialität“ und „Imperialismus“, sofern man sie als denkbare Ordnungsbegriffe ernstnimmt, in vielfältiger Weise für die Geistes- und Sozialwissenschaften in ihrer ganzen Breite produktiv zu machen – oder wenigstens auf ihre Produktivität hin prüfbar – sind. IV. Konzeption und Überblick Der vorliegende Band schlägt eine Brücke zwischen der bestehenden Forschungslandschaft und den neueren Trends in der Analyse von Imperien und imperialen Beziehungen: Einerseits bringt eine Reihe von Beiträgen etablierte Erkenntnisse und Methoden des imperial turn (wieder) ins Gespräch, vom Ansatz einer imperialen Ideengeschichte über die Analyse von Governance-Logiken in imperialen Räumen bis hin zur strategischen Analyse imperialer Außenpolitiken der Gegenwart. Andere Beiträge exemplifizieren dagegen neuere Zugriffsmöglichkeiten auf imperiumsbezogenene Phänomene, vom biographischen Ansatz bis hin zu einer Öffnung der Internationalen Beziehungen für die Kategorie des Imperiums. Beide Aspekte sind insbesondere für die deutschsprachige Forschungslandschaft von Bedeutung, insofern als hier die Welle der angloamerikanischen Imperiumsforschung zunächst mit Verzögerung und im Weiteren mit begrenzter Wucht aufschlug – wodurch wiederum das eingangs beschriebene Abklin-

70 Vgl. Hausteiner, Imperium Eurasien? 71 Dies., Föderalismen.

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gen des wissenschaftlichen Interesses an Imperien weniger auffällig, dafür aber umso problematischer ist. David Armitage plädiert zum Auftakt für eine Perspektiverweiterung der politischen Ideengeschichte – hin zu Imperien und damit zu internationalen Fragestellungen. Diesen Aufruf zu einer internationalen Wende in der Ideengeschichte bringt er gegen den „methodischen Nationalismus“ der Geschichtswissenschaften in Stellung – wobei es sich streng genommen um eine Rückbesinnung handelt: Die internationalistischen, aber auch imperialen Wurzeln der Ideengeschichte wirken, wie Armitage nachweist, bis heute nach – und eröffnen breite Möglichkeiten für die Erforschung raumpolitischer und sogar globaler Ideenkonjunkturen und -transfers. An diesem Punkt setzt Herfried Münkler an. Denn eine solche Geschichte politischer Ideen als Feld, das seit spätestens Dante stark von Referenzen auf die ordnungsstiftende Macht von Imperien und Universalmonarchien geprägt ist, könne den Blick auf die „spezifische Governance-Leistung“ von Imperien aus transhistorisch-vergleichender Perspektive eröffnen. Diese Governance-Perspektive – also die Analyse der Wohlstands-, Friedensund Ordnungsleistungen und -versprechen imperialer Herrschaft, aber auch der damit einhergehenden oft hohen Kosten – kann, wie Münkler zeigt, der jüngeren „Imperiumsblindheit“ der Politik- und Geschichtswissenschaft entgegenwirken, indem sie einen politikwissenschaftlich-analytischen Vergleichsmaßstab an die longue durée der imperialen Geschichte anlegt. Dem Anliegen einer transhistorischen Systematisierung geht Ulrike Jureit nach, wenn sie als Prüfstein imperialer Begrifflichkeiten die Europäische Union in den Blick nimmt: Hier erweise sich, so Jureit, exemplarisch die Problematik des Imperiumsbegriffs zwischen „begrifflicher Kontinuität“ und „kategorialer Unschärfe“. So lange schon über die Frage nach dem politischen Charakter der Union debattiert werde, so unaufschiebbar sei nach der Osterweiterung eine Antwort auf diese Frage. Die postsouveräne europäische Ordnung als Raum geteilter Souveränität habe einen einschneidenden Heterogenitäts- und Ausdehnungsschub erfahren, der nach einer Klärung der „Logiken [der] eigenen territorialen Verfasstheit“ verlange. Inwieweit die Interpretation des zunehmend asymmetrischen und abgestuften Ordnungsmodells als imperial zum Erkenntnisgewinn betrage, ist zwar umstritten – doch genau dieser nun verschärfte Streit trage zur Weiterentwicklung politikhistorischer Kategorienbildung bei. Dass aus politikwissenschaftlicher Perspektive imperiale Ordnungen, transhistorisch verstanden, spezifischen Herausforderungen in Konflikten gegenüberstehen, diskutiert Andreas Vasilache. Die Legitimationserfordernisse insbesondere im Zentrum demokratisch verfasster Imperien seien 26

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spezifisch – und angesichts dessen, dass dem Selbstverständnis nach demokratische Imperien wie die USA in militärischer Hinsicht lange eine Strategie des liberalen Interventionismus verfolgt haben, identifiziert Vasilache eine besondere Problemkonstellation: Wie nämlich können liberale Imperien im Nachgang militärischer Interventionen mit der normativen Notwendigkeit umgehen, an den imperialen Rändern tatsächlich als Ordnungsgarant zu wirken? In solchen fixing missions tritt die Spannung zwischen demokratischem Krieg und imperialem Missionsverständnis hervor – aber auch die Frage nach den Rhythmen und Zeithorizonten imperialer Expansion. Auf die Verstrickungen zwischen Liberalismus und Imperialität verweist auch Samuel Moyn, wenn er die Verbindung zwischen Menschenrechtsdiskursen und Antikolonialismus historisch-kritisch seziert. Zwar seien Menschenrechte, insbesondere in ihrer nachdrücklichen politischen Verfechtung im 20. Jahrhundert, durchaus postkolonial – doch ihre Zurückhaltung in Fragen der Verteilungsgerechtigkeit erstrecke sich auch auf eine Kernfrage des Kolonialismus und Imperialismus: das „Hierarchiegefälle zwischen Starken und Schwachen“. Moyn zweifelt, aus systematischer wie historischer Sicht, die Allianz zwischen Menschenrechten und Antikolonialismus an und fordert damit als Forschungsagenda eine Neuevaluation solcher Narrative, die beide Entwicklungen als verknüpfte liberale Errungenschaften missverstehen. Konkrete antikoloniale Dynamiken stehen im Mittelpunkt des Beitrages von Andreas Eckert, der imperiale Metropolen als Zentren antiimperialer Mobilität in den Blick nimmt: Im Berlin, Paris und London der Zwischenkriegszeit formierten sich, teilweise gefördert von der Sowjetunion und ausgehend von Kolonisierten wie Georges Padmore und Joseph Bilé, Aktionen „antiimperialer Solidarität“ und eines „schwarzen Internationalismus“, wenngleich diese Aktionen nicht immer erfolgreich waren. Was sich aus diesem teils biographischen, teils milieuhistorischen Zugriff ergibt, ist ein komplexeres und damit realistischeres Bild der Globalität von Imperien und vor allem der interimperialen Vernetzung. Die Rolle der Akteursmobilität in den inter- und transimperialen Beziehungen betont auch der Beitrag von Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard: Gaben bislang, so die AutorInnen, „die staatlichen Grenzen historischer Großreiche meist auch die Grenzen der analytischen Beschäftigung vor“, so macht der Fokus auf die Biographien „mobiler Akteure“ die andauernde Überschreitung kolonialer Herrschafträume greifbar und unterminiert die „überkommene Vorstellung von Zentrum und Peripherie“ als Grundfesten imperialer Relation. Die Handlungsmacht von Pandita Ramabai und Blaise Diagne, einer indischen Feministin und eines senegalesi27

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schen Politikers im frühen 20. Jahrhundert, entfaltete sich, wie Hirschhausen und Leonhard zeigen, aus der geschickten Nutzung kolonialer Mobilität; sie war aber auch durch imperiale und indigene Strukturen begrenzt. Stephan Stetter fordert zum Abschluss des Bandes eine Hinwendung der politikwissenschaftlichen Internationalen Beziehungen zur Kategorie des Imperiums. Ohne die Beachtung von Imperien und Imperialismus sei eine „gehaltvolle Theorie internationaler Politik im 21. Jahrhundert“ demnach kaum möglich: Asymmetrische Herrschaftsbeziehungen als – ausgehend von einem weiten Imperienbegriff – imperiale Beziehungen prägten, so Stetter, nicht allein das 19. Jahrhundert in Form einer „Ausdifferenzierung imperialer Herrschaftsmuster in der globalen Moderne“, sondern wirkten in der internationalen Gegenwart weiter – durch das postkoloniale Erbe, aber etwa auch durch aktualisierte Zivilisierungsnarrative, die die internationale Politik nicht nur der USA als roter Faden durchziehen. Damit schließt sich der Kreis zu Armitages Eingangsplädoyer: Entgegen der dominierenden Rolle des staatlichen Paradigmas tue die IB, ähnlich der politischen Ideengeschichte, gut daran, den Imperiumsbegriff ernstzunehmen und tragfähig zu machen – und damit den eigenen disziplinären Horizont zu weiten. Literatur Abernethy, David: The Dynamics of Global Dominance. European Overseas Empires 1415-1980, New Haven: Yale UP 2000. Adler, Eric: Post-9/11 Views of Rome and the Nature of „Defensive Imperialism“, in: International Journal of the Classical Tradition, 15(4), 2008, S. 587-610. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main: Fischer 1969 [Orig. 1941]. Albert, Mathias et al. (Hrsg.): Ordnung und Regieren in der Weltgesellschaft, Wiesbaden: Springer VS 2018. Albion, Robert G.: Forests and Sea Power: The Timber Problem of the Royal Navy, 1652-1862, Cambridge: Harvard UP 1926. Altrichter, Helmut/Neuhaus, Helmut (Hrsg.): Das Ende von Großreichen, Erlangen: Palm & Enke 1996. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/Main: S. Fischer 2005. Anghie, Antony: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law, Cambridge: Cambridge UP 2004. Armitage, David: Foundations of Modern International Thought, Cambridge u. New York: Cambridge UP 2013.

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Die internationale Wende in der Ideengeschichte David Armitage1

I. Seit es historische Aufzeichnungen gibt, lebte der größte Teil der Weltbevölkerung die meiste Zeit nicht in Nationalstaaten, sondern in Imperien – jenen weit gespannten, mehrschichtigen politischen Gebilden, die auf verschiedene Weise eine universale Ordnung entwarfen, um die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen abzubauen, ohne dabei eine Uniformität zwischen ihnen anzustreben. Für eine vergleichsweise kurze Zeit, die sich vom frühen sechzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert erstreckt, waren einige dieser Reiche das Ergebnis selbstbewusster nationaler Kulturen, besonders in Europa und Asien; die meisten wiesen jedoch einen vor- oder übernationalen Aufbau auf. In der Neuzeit verbanden ozeanische Räume die Bestandteile dieser Reiche, zugleich zergliederten Schauplätze wie das Mittelmeer, der Indische Ozean, der Atlantik und der Pazifik die jeweiligen Herrschaftsbereiche und wurden zum Ausgangspunkt von Rivalitäten zwischen den Imperien.2 Indem sie zur gleichen Zeit Einigung und Teilung hervorbrachten, trugen Imperien zu einem Wettbewerb der Ideen bei – und dazu, dass sich gewisse Vorstellungen zwischen verstreuten Bevölkerungsgruppen sowie über Handelsrouten hinweg ausbreiteten.3 Diese Zusammenstöße und Übertragungen ließen ‚konkurrierende Universalismen‘ beispielsweise von Imperien, 1 David Armitage, Lloyd C. Blankfein Professor of History an der Universität Harvard, und ehemals Vorsitzender des Department of History der Universität Harvard. Derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. URL: https://scholar.harvar d.edu/armitage/home. Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete und von Volker Manz ins Deutsche übersetzte Version eines Essays, der ursprünglich in McMahon/ Moyn, Rethinking Modern European Intellectual History erschienen ist; der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press. 2 Benton, Law and Colonial Cultures; dies., A Search for Sovereignty; dies./Ford, Rage for Order. 3 Zur Ideengeschichte der Imperien vgl. insbesondere Pagden, Lords of all the World; Armitage, Theories of Empire; Ben-Ghiat, Gli imperi; Pitts, Political Theory of Empire and Imperialism; Muthu, Empire and Modern Political Thought; Fitzmaurice, Sovereignty, Property and Empire.

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David Armitage

Religionen und politischer Ökonomie entstehen, zugleich führten sie aber auch zu einer Ausdehnung von Ideologien, die sich ihnen entgegenstellten oder sie sich unterordneten, wie etwa der Panislamismus, der Panafrikanismus, der Nationalismus, der Antikolonialismus und andere Arten des ‚farbigen Kosmopolitismus‘.4 Die meisten dieser Bewegungen blieben so lange unsichtbar, wie die Geschichte aus einer nationalen Perspektive gesehen wurde. Sie gerieten erst wieder in den Blick, als ältere Raumerfahrungen, die eher ausgreifend und fließend und somit weniger von territorialen Grenzziehungen beschränkt waren, erneut den Rahmen für Fragen zur Vergangenheit bildeten. Im Licht der langen Geschichte der Imperien erscheint die ‚ewige‘ Staatenwelt, wie sie moderne Konzeptionen der internationalen Beziehungen voraussetzen, als eine flüchtige, ja randständige Erscheinung. Und tatsächlich, wenn eine Welt wirklicher, von Imperien losgelöster Nationalstaaten in gewisser Hinsicht erst mit dem Höhepunkt der Dekolonisierung entstand, um schon bald wieder von der Welle des Transnationalismus hinweggespült zu werden, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges rasch ausbreitete, so hielt die Blütezeit des Staates weniger als eine Generation an: von etwa 1975 bis 1989.5 Davor wie danach war die Geschichte stets entweder prä- oder postnational. Betrachtet man jedoch die Zeitspanne, seit es eine professionelle Geschichtswissenschaft gibt, so waren Historiker fast überall auf der Welt seit dem späten neunzehnten Jahrhundert einem methodischen Nationalismus verpflichtet. Wie die meisten anderen Sozialwissenschaftler gingen sie davon aus, dass Nationen, die sich selbst als solche verstanden und sich politisch in Staaten organisierten, der hauptsächliche Gegenstand historischer Forschung waren.6 Ihre vorzügliche Aufgabe bestand entsprechend darin, zu erzählen, wie Nationalstaaten entstanden, sich entwickelten und miteinander umgingen. Selbst jene Historiker, deren Werk bewusst die Grenzen der nationalen Geschichte überschritt, gingen von ähnlichen Annahmen aus. Im Bereich der Diplomatiegeschichte nutzten sie die nationalen Archive zur Rekonstruktion der zwischenstaatlichen Beziehungen. Histori-

4 Bose, A Hundred Horizons; ders./Manjapra, Cosmopolitan Thought Zones; Aydin, The Politics of Anti-Westernism in Asia; Manela, The Wilsonian Moment; Slate, Colored Cosmopolitanism. 5 Cooper, Colonialism in Question; ders./Burbank, Empires in World History; Kumar, Visions of Empire. 6 Eine Nation „ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervorzutreiben“ (Weber, Kommentar zu P. Barth, S. 484).

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Die internationale Wende in der Ideengeschichte

ker, die zur Geschichte der Einwanderung arbeiteten, folgten deren Spur, indem sie die Ankunft und Assimilation neuer Bevölkerungsgruppen in bestehenden Staaten betrachteten.7 Und Geschichtswissenschaftler, die sich mit Imperien befassten, untersuchten diese als eine Ausdehnung der nationalen Geschichte über ihre eigenen Grenzen hinaus, wobei sie strikt auf eine Trennung der Geschichte des jeweiligen (meist europäischen) Zentrums und jener ihrer (meist außereuropäischen) Kolonien achteten. Der Geschichtsschreibung ging es entsprechend um Stabilität, nicht um Beweglichkeit und Veränderung; um das, was festgelegt, nicht um das, was vermischt war.8 Bis vor Kurzem bemerkten nur die selbstkritischsten Historiker die Ironie, die darin liegt, dass erst dank der weltweiten Verbreitung der Vorstellungen von Nationalität und dank der nationale Grenzen überschreitenden Rezeption linearer Geschichtskonzepte der „evolutionäre nationale Historizismus“ zu „der vorherrschenden Form historischen Verstehens in weiten Teilen der Welt“ wurde.9 Postkoloniale Theoretiker gehörten zu den ersten und schärfsten Kritikern des nationalen Narrativs, sie blieben aber nicht die Einzigen, die den Vorrang der Nation als ein Behältnis, das Geschichte widerspruchsfrei zu fassen vermag, infrage stellten.10 Als Antwort auf diese Herausforderungen wandten sich Historiker auf allen Gebieten der Geschichtswissenschaft Forschungsvorhaben zu, die sie wahlweise als ‚international‘, ‚transnational‘, ‚komparativ‘ oder ‚global‘ bezeichneten. Ihre Bestrebungen waren dabei, was Ausmaß, Gegenstand oder Motivation betraf, nicht identisch, und es hat sich auch kein Konsens darüber herausgebildet, wie die unterschiedlichen nicht nationalen Zugangsweisen zur Geschichte klar auseinandergehalten werden können. Historiker, die sich mit internationaler Geschichte befassen, setzen oft als selbstverständlich voraus, dass es eine Gesellschaft von Staaten gibt, richten dann aber den Blick über die nationalen Grenzen hinaus auf die verschiedenen Beziehungen, die sich zwischen diesen Staaten ergeben und die von der Diplomatie und dem Finanzwesen bis zur Migration und den kulturellen Beziehungen reichen. Transnationale Historiker untersuchen Prozesse, Bewegungen und Organisationen, die diese Grenzen überschreiten, beispielsweise die Um-

7 Wimmer/Glick Schiller, An Essay in Historical Epistemology. 8 Für eine wichtige Überarbeitung dieses Ansatzes in jüngerer Zeit vgl. Adelman, What is Global History Now? 9 Bayly, History and World History, S. 13; vgl. auch Hill, National History and the World of Nations. 10 So zum Beispiel Chakrabarty, Provincializing Europe; Duara, Rescuing History from the Nation.

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welt, das organisierte Verbrechen, Epidemien, Unternehmen, Religionen oder internationale Körperschaften wie die Vereinten Nationen. Komparativ arbeitende Historiker befassen sich mit unterschiedlichen geschichtlichen Themen, die oft, wenngleich nicht immer, national definiert sind, und betrachten sie im Zusammenhang, ohne dass ihnen stets eine tatsächliche historische Verbindung zugrunde liegt. Vertreter der Globalgeschichte schließlich untersuchen die Geschichte der Globalisierung und der Bedingungen, die ihr vorausgehen, die Geschichte von Dingen, die einen universalen Charakter angenommen haben, und die Verbindungen zwischen Schauplätzen unterhalb der globalen Ebene wie dem Atlantik, dem Indischen und dem Pazifischen Ozean. Gemeinsam ist all diesen Projekten der Wunsch, über die Geschichte von national definierten Staaten und von an Staaten gebundenen Nationen hinauszugehen und jenseits von ihnen eine ‚internationale Wende‘ einzuleiten.11 Diese internationale Wende in der Geschichtsschreibung stellt möglicherweise die am weitesten gehende Umgestaltung der Geschichtswissenschaft durch eine historiografische Strömung seit dem Aufstieg der Sozialgeschichte in den 1960er-Jahren dar.12 Warum sie auf so vielen Gebieten der historischen Forschung gleichzeitig stattgefunden hat, ist eine Frage, der sich gerade die Ideengeschichte annehmen könnte; dass dies der Fall ist, führt aber auch zu Problemen in der Praxis. Vertreter der Ideengeschichte selbst haben nicht besonders viel zu der Internationalisierung ihres Gebietes geschrieben. Die Ursache dafür kann teilweise in dem Materialismus gesehen werden, der in vielen Untergebieten der Geschichtswissenschaft, von denen die internationale Wende ausgeht, herrscht. Historiker, die sich mit der Geschichte des Kapitals, der Imperien und der Migration befassen, haben neben global ambitionierten Soziologen und Archäologen eine Debatte über diese Wendung zum Internationalen geführt und viele der großen Gesamtdarstellungen verfasst. Für diese Historiker „bekommt jedes Zeitalter das Denken, das es braucht“ – gleich, ob damit nun der Buddhismus, das Christentum oder der Islam erklärt wird.13 Die Ideengeschichte schien ‚immateriell‘ im doppelten Wortsinn: eine Art zerebraler Geschichtsschreibung, die sich mit substanzlosen Vorstellungen über körperlose Wesenheiten, die allein dem Geistesleben entspringen, befasst. Eine hauptsächliche Herausforderung für ihre Vertreter besteht darin her11 Clavin, Defining Transnationalism; Bayly et al., On Transnational History; Iriye, Global and Transnational History. 12 Armitage, The Fifty Years’ Rift; ders., Foundations of Modern International Thought, S. 1–13; ders. et al., Special Issue: David Armitage’s Foundations. 13 Morris, Why the West Rules – For Now, S. 420, 476, 568, 621.

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auszufinden, wie diese Skepsis ihr gegenüber bekämpft werden kann, ohne einem Reduktionismus anheimzufallen oder die Identität des eigenen Forschungsgebiets aufzugeben. Insofern mag das beste Vorgehen darin bestehen, einen Blick zurückzuwerfen auf die internationalistischen Wurzeln der Ideengeschichte selbst – also geraume Zeit bevor die Geschichtsschreibung als Gehilfin der Nationalstaaten institutionalisiert wurde. II. Vertreter der Ideengeschichte können mit Recht für sich in Anspruch nehmen, internationale Historiker avant la lettre gewesen zu sein. Von dem Engländer Thomas Stanley Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bis zu Victor Cousin im postnapoleonischen Frankreich brachten die ersten Ideenhistoriker Werke hervor, die von ihrem Charakter und Inhalt her in erstaunlichem Maße kosmopolitisch waren. Ihre historiografischen Beiträge entsprangen den Traditionen des philosophischen Eklektizismus, die bis zu Diogenes Laertius zurückreichen. Den unmittelbarsten Ausgangspunkt bildeten aber die frühneuzeitlichen Debatten im Bereich der Epistemologie, in denen Ideen als unabhängig von ihren nationalen oder sonstigen Ursprüngen angesehen wurden.14 Diese frühen Formen der Ideengeschichte waren typische Erzeugnisse einer Gelehrtenrepublik, die, was die Zugehörigkeit zu ihr und die Natur des gelehrten Austauschs, der in ihr stattfand, betraf, übernational war. Die Respublica litterarum „umfasst die ganze Welt und setzt sich aus allen Nationalitäten zusammen, aus allen sozialen Klassen, allen Altersstufen und aus beiden Geschlechtern“, schrieb einer ihrer ‚Bürger‘, der französische Gelehrte und Literat Bonaventure d’Argonne im Jahr 1699. „Alle Sprachen, alte wie neue, werden gesprochen.“ Diese kosmopolitische Gemeinschaft erstreckte sich von China bis nach Peru; in ihr „waren die Ideen ohne Hautfarbe, ohne Alter, Rasse und Geschlecht“ und, wie sich ergänzen lässt, ohne Ort und staatenlos.15 In diesem Sinne war die Ideengeschichte bereits als eine internationale zur Welt gekommen, und sie blieb es auch nach dem Aufstieg des Nationalismus in und außerhalb der Geschichtswissenschaft. Da die Logik der territorialen Staatlichkeit die Ideengeschichte weit weniger geprägt hat als andere Gebiete der historischen Forschung, waren

14 Kelley, The Descent of Ideas, Kapitel 1 und 2. 15 Bonaventure d’Argonne, zitiert nach Grafton, A Sketch Map of a Lost Continent, S. 9; Kelley, The Descent of Ideas, S. 117.

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ihre Vertreter fest davon überzeugt, dass ihre Untersuchungsgegenstände der nationalen Grenzziehung entgingen. So stellte die ‚New History‘, der Frederick Jackson Turner und James Harvey Robinson im späten neunzehnten Jahrhundert in den USA den Weg bahnten, schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung die nationalistische Geschichtsschreibung infrage und ließ sich stattdessen von jenen historischen Phänomenen inspirieren, die deren Zugriff entgingen. 1891, zwei Jahre bevor er seine berühmte Frontierthese präsentierte, um die Entwicklung der Vereinigten Staaten zu erklären, schrieb Turner: „Ideen, selbst Handelsgüter lehnen nationale Schranken ab. […] Das trifft insbesondere für unsere moderne Welt zu mit ihrem komplexen Handel und den vielschichtigen Mitteln der geistigen Verbindung.“16 Ein halbes Jahrhundert später hätte Arthur O. Lovejoy, der die Ideengeschichte als moderne Disziplin begründete, Turners Formulierung wieder aufgreifen können, als er 1938 feststellte, dass „Ideen die Güter sind, die in den zwischenstaatlichen Handel eingehen.“ Wie diese Ideen hervorgebracht wurden und welchen Weg sie zurücklegten, wer sie in Verkehr brachte und wer ihre Abnehmer waren, all dies waren keine Fragen, die zu stellen die Vertreter der klassischen Ideengeschichte vorausschauend genug waren; es blieb vielmehr die Aufgabe jener, die sich auf vergleichende Literaturwissenschaften, „verstanden als das Studium der internationalen Beziehungen auf dem Gebiet des Geistes“, spezialisiert hatten.17 Erst das Aufkommen einer Sozialgeschichte der Ideen und der Buchgeschichte sollte diejenigen, die zur Ideengeschichte arbeiteten, über die materiellen Grundlagen ihres Gebiets in Kenntnis setzen. Diese neue Art der Ideengeschichte verkündete zudem ihre internationalistische Ausrichtung, als sich die Geschichte der livres sans frontières mit der Geschichte der Ideen ohne Grenzen verband.18 „Von ihrer Natur her lassen sich Bücher nicht in eine einzelne Fachdisziplin bannen“, behauptete Robert Darnton 1994, um sich dann auf Turner und Lovejoy zu berufen: „Auch sie lehnten es ab, sich an nationale Grenzen zu halten.“19 Der Widerstand gegen den Nationalismus, welcher der Ideengeschichte eigen ist, könnte letztlich paradoxerweise zu deren Schwierigkeiten geführt haben, eine selbstbewusste internationale Wende zu nehmen. Da die Vertreter der Ideengeschichte nicht explizit nationale Kategorien verwerfen oder kosmopolitische Alternativen ergreifen mussten, waren sie in metho16 Turner, The Significance of History [1891], S. 57; Novick, That Noble Dream, S. 89-95. 17 Lovejoy, The Historiography of Ideas [1938], S. 3, 1. 18 Howsam/Raven, Introduction, S. 1. 19 Darnton/Daskalova, Interview with Robert Darnton, S. 2.

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discher Hinsicht schlecht auf einen solchen Schritt vorbereitet. Tatsächlich erfolgte die internationale Wende auf diesem Gebiet in einer Art akademischem Bockspringen, indem das Gebiet von einem vor- oder nicht-nationalen zu einem übernationalen wurde, ohne sich jemals ganz in dem nationalen Rahmen, der den größten Teil der professionellen Geschichtsschreibung strukturierte, befunden zu haben. Dieser Sprung machte es erforderlich, sich einigen Mängeln der Ideengeschichte stellen, die sich aus ihrer Praxis ergaben. Dies betraf besonders ihre Ablehnung, die räumlichen Dimensionen des jeweiligen Kontextes zu berücksichtigen. Auch war es notwendig, stärker auf den besonderen Beitrag zur internationalen Wende zu beharren, den die Ideengeschichte in einem allgemeineren Sinne zu leisten vermochte. Dabei verfügen ihre Vertreter über einige der besten Instrumente, die genutzt werden können, um Kategorien wie das Internationale und das Globale zu historisieren, der internationalen Verbreitung von Ideen nachzuspüren und die Herausforderungen in Angriff zu nehmen, die im Hinblick auf den Idealismus, den Präsentismus und die Neudefinition dessen, was der jeweils relevante Kontext ist, mit der internationalen Wende ins Spiel kommen. Insofern vermag die Ideengeschichte der internationalen Wende ebenso viel zu bieten wie diese der Ideengeschichte. Diese internationale Wende hat das Interesse an Raumkonzepten wieder aufleben lassen, indem sie die Aufmerksamkeit auf historische Schauplätze lenkte, die, ohne Beschränkung durch die politischen Grenzen der staatlichen Gebilde, größer als die nationalen Arenen waren und über transnationale Verknüpfungen und Kreisläufe miteinander in Verbindung standen. Der Raum ist vielleicht die letzte Grenze für die Ideengeschichte, ein Forschungsfeld, das der räumlichen Lokalisierung recht wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht hat, möglicherweise aus Furcht, in einen Materialismus und Determinismus zu verfallen.20 Michel Foucault sprach einmal in einem Interview davon, dass „der Raum das war, was tot war, festgelegt, nicht dialektisch, unbeweglich. Die Zeit hingegen war reich, fruchtbar, lebendig, dialektisch“ – damit könnte er eher für die Vertreter der Ideengeschichte im Besonderen als für die Historiker im Allgemeinen gesprochen haben.21 Der Raum lässt sich sowohl als etwas Intensives als auch als etwas Extensives verstehen. Hier können die internationalen Historiker wie auch die

20 Vgl. Randolph, The Space of Intellect and the Intellect of Space. 21 „L’espace, c’est ce qui était mort, figé, non dialectique, immobile. En revanche, le temps, c’était riche, fécond, vivant, dialectique“ (Foucault, Questions à Michel Foucault sur la géographie, S. 78).

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Vertreter der Ideengeschichte viel von den Wissenschaftshistorikern lernen. Eine ‚räumliche Wende‘ in der Wissenschaftsgeschichte zieht die Universalität von Wahrheit in Zweifel und beharrt auf einem örtlichen Wissen: Es kann keine Betrachtung aus einem Nirgendwo geben, wenn jeder Blick irgendwo seinen Ausgangspunkt hat. Ideen entstanden also in eng begrenzten Räumen und konnten ihren Ausgang von Küstenufern oder von Labortischen, von Wirtshäusern ebenso wie von königlichen Akademien nehmen. Auf diese Weise schärfer in den Blick genommen, erweist sich das nahtlose Netz des abstrakten Wissens als ein brüchiges Mosaik kontingenter Angelegenheiten.22 War ein Ziel dieser Forschungsliteratur, die unterstellte Universalität der wissenschaftlichen Vernunft zu entlarven, so bestand ein anderes darin zu zeigen, wie Wissensfragmente akkumuliert und gesammelt wurden und wie ihre Glaubwürdigkeit sichergestellt wurde. „Es geht nicht nur darum zu verstehen, wie Wissen an spezifischen Orten hervorgebracht wird, sondern auch, wie Transaktionen zwischen diesen Orten stattfinden“ – das heißt, wie die Reise der Ideen aussieht, wer sie befördert, welches Gepäck sie auf ihrer Reise mit sich führen und wie sie bei ihrer Ankunft ‚gezähmt‘ und eingebürgert werden.23 Auf diese Weise werden die verwickelten Mechanismen ersichtlich, durch die Informationen gesammelt wurden und so wissenschaftliches Wissen nicht nur möglich, sondern auch plausibel wurde. Selbst ein Denker wie Isaac Newton, der, physisch isoliert wie kaum ein anderer, stets von Land umgeben war und in seinem ganzen Leben niemals das Meer gesehen hat, konnte auf dem Gebiet der mathematischen Berechnungen zu so etwas wie einem globalen Zentrum werden, weil er über ein weltweites Netz an Briefpartnern verfügte, das vom Golf von Tonkin bis zur Magellanstraße reichte.24 Körperschaften wie der Jesuitenorden oder die englische und die niederländische Ostindienkompanie waren der großen Wissenschaft insofern zuträglich, als sie die Herstellung von Wissen über lange Distanzen ermöglichten.25 Später ebneten dann die ‚Netze der Imperien‘ die Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie ein, insofern jede vermeintliche Peri-

22 Ophir/Shapin, The Place of Knowledge; Finnegan, The Spatial Turn; Withers, Place and the “Spatial Turn” in Geography and in History; Stock, Uses of Space in Early Modern History. 23 Shapin, Placing the View from Nowhere, S. 6f.; Tresch, Cosmologies Materialized. 24 Schaffer, Newton on the Beach. 25 Harris, Long-Distance Corporations; Cook, Matters of Exchange; Clossey, Salvation and Globalization; Winterbottom, Hybrid Knowledge.

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pherie eine zentrale Rolle spielte, wenn es darum ging, imperiale Archive zu erstellen, Hypothesen zu testen und durch den Austausch zwischen den Kolonien Ideologien zu entwickeln.26 Auf diese Weise verknüpften extensiv ausgerichtete Verbindungen das, was vor Ort intensiv kultiviert war, um durch die Verbreitung von Ideen und Informationen über Kontinente und Weltmeere hinweg eine neue Karte des Wissens zu schaffen. Solche Untersuchungen zu dem, was Pierre Bourdieu die „Wissenschaft der internationalen Beziehungen in Fragen der Kultur“ genannt hat, bieten auf einer allgemeineren Ebene replizierbare Modelle für die Ideengeschichte.27 Wenn Raumkonzepte sich ausbreiten, verzweigen sich die Bedeutungsnetze und vermehren sich die Netzwerke des Austausches erheblich, um neue Kontexte und unerwartete Verbindungen zwischen ihnen zu schaffen. Sich verändernde Muster der Soziabilität und des Schriftverkehrs, der Verbreitung von Büchern und der räumlichen Organisation des Wissens – in einzelnen Räumen und Gebäuden, in den Straßen und auf den Plätzen, in den Städten und den Regionen, den Ländern und Kontinenten, den Reichen und auf den Weltmeeren – zwingen Denker neu zu bewerten, von welcher Art ihr Publikum ist, welchen potenziellen Einfluss ihre Argumente haben und wie weit sich ihr Wirkungsbereich erstreckt. Wollen zum Beispiel Vertreter der Ideengeschichte, die sich den räumlichen Aspekt zu eigen gemacht haben, klären, was die Aufklärung war, so müssen sie nun auch auf die Frage antworten, wo die Aufklärung stattgefunden hat.28 Sich verändernde Raumkonzepte haben zu einer Ausweitung der Kontexte für die Ideen geführt und damit die Möglichkeiten des Denkens selbst erweitert. Am vertrautesten dürfte europäischen Vertretern der Ideengeschichte das Beispiel der weiteren Kontexte sein, die sich mit den überseeischen Entdeckungen und der Kolonisierung für die frühmodernen europäischen Denker herausgebildet haben, als interkulturelle Begegnungen und die Ausbreitung der Imperien im Indischen Ozean, in der atlantischen Welt und später im Pazifik Konzepte unter anderem von Natur, Zivilisation, politischer Gemeinschaft, Eigentum, religiöser Vielfalt und Toleranz auf die Probe gestellt haben.29

26 Ballantyne, Orientalism and Race, S. 1-17. 27 „… une science des relations internationales en matière de culture“ (Bourdieu, Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, S. 1). 28 Withers, Placing the Enlightenment; Manning/Cogliano, The Atlantic Enlightenment; Conrad, Enlightenment in Global History. 29 Pagden, The Fall of Natural Man; Brett, Changes of State; Douglas, Science, Voyages, and Encounters in Oceania.

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John Locke etwa, der Reiseliteratur geradezu verschlang, stellte einzelne Beispiele von Vielfalt, Glaube und Praxis einander gegenüber, die er Schilderungen von fünf Kontinenten entnahm.30 Thomas Hobbes, der ‚Americana‘ eher zurückhaltend konsumierte, bildete sein Verständnis der internationalen Beziehungen aus, indem er sich auf ethnografische Beschreibungen des Naturzustands bezog.31 Und David Humes politische Ökonomie verdankte viel seinen atlantischen Verbindungen.32 Als die ‚Große Karte der Menschheit‘, wie Edmund Burke sie eindrucksvoll nannte, ausgebreitet war, eröffneten sich wahrhaft globale Möglichkeiten für das Denken jener Generationen, die nach der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts schrieben, unter ihnen Smith, Kant, Herder, Burke und Bentham, und dies wirkte sich auf ihre Konstruktionen des Universalismus und Kosmopolitismus ebenso aus wie auf ihre Konzeptionen von Kultur und Differenz.33 Im späten neunzehnten Jahrhundert sollte dann die Verdichtung des Raums durch technologische Neuerungen – vor allem durch die Dampfmaschine, die Eisenbahn und die Telegrafie – neue Formen der politischen Gemeinschaft über die ausgedehnten Weltreiche und über die ganze Erde hinweg vorstellbar machen. Ohne Foucault zu nahe treten zu wollen – der Raum war dynamisch, nicht statisch. Die Kontexte für das Denken expandierten, um den ganzen Globus zu umfassen. Entsprechend müssen moderne Vertreter der Ideengeschichte den Ideen in immer größeren Maßstäben nachspüren: im kontinentalen oder interregionalen Rahmen, über Ozeane hinweg und schließlich auf dem ganzen Planeten. Heidegger, Schmitt und Arendt zählten zu den Ersten, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bemerkten, dass nun wohl das Weltall die wirklich endgültige Grenze für die Ideengeschichte war.34

30 Carey, Locke, Shaftesbury, and Hutcheson; Talbot, The Influence of Travel Literature on the Work of John Locke. 31 Malcolm, Hobbes, Sandys, and the Virginia Company; Moloney, Hobbes, Savagery, and International Anarchy. 32 Rothschild, The Atlantic Worlds of David Hume. 33 Marshall/Williams, The Great Map of Mankind; Muthu, Enlightenment Against Empire; Pitts, A Turn to Empire; Noyes, Herder. 34 Bell, The Idea of Greater Britain, S. 63-91; ders., Making and Taking Worlds; Lang, Mapping Globalization or Globalizing the Map; Lazier, Earthrise.

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III. Der Übergang vom Nationalen zum Transnationalen durchschreitet das Internationale, jenen Raum des menschlichen Lebens, der politisch in verschiedene Staaten und Nationen gegliedert ist. Vor einigen Jahren sprach ich von dem Beginn einer „Renaissance in der Geschichte des internationalen Denkens“, die „neue Gespräche zwischen Historikern, Vertretern der politischen Ideengeschichte, Wissenschaftlern der Internationalen Beziehungen und internationalen Juristen eröffnen“ könne.35 Diese Renaissance ist heute in vollem Gange und hat erste Früchte der internationalen Wende in der Ideengeschichte getragen. Zwar gehen Nationalisten davon aus, dass ihre Gemeinschaften von Natur aus bestehen, aber Nationen haben, wie Ernest Gellner schreibt, ‚keinen Bauchnabel‘, der auf eine natürliche Geburt hinwiese; vielmehr basiert ihre Konstruktion auf einer historischen Entwicklung, die selbst recht jung ist.36 In den vergangenen zweihundert Jahren brachten Staaten mindestens ebenso oft Nationen hervor, wie Nationen zu Staaten führten. Wie diese Staaten eine internationale Gemeinschaft gebildet, welche Regeln ihr Verhalten bestimmt und welche Traditionen philosophischen Fragens und politischen Denkens diese Regeln hervorgebracht haben, all dies sind Fragen für eine Ideengeschichte des Internationalen.37 Das Wiederaufleben der Geschichte des internationalen Denkens markiert die jüngste von drei Phasen in den Beziehungen zwischen der Ideengeschichte und der internationalen Geschichte: eine Zeit, in der sich beide wechselseitig miteinander befassten und die grob vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1950er-Jahre reichte, eine Zeit der Entfremdung von den frühen 1960er- bis Mitte der 1990er-Jahre und eine Zeit der Wiederannäherung, in der wir uns heute noch befinden. In der ersten dieser drei Phasen waren die Vertreter der Ideengeschichte in methodischer Hinsicht oft kosmopolitisch und in politischer Hinsicht internationalistisch eingestellt; historisch orientierte Forscher der Internationalen Beziehungen beschäftigten sich eher mit Ideen als mit abstrakten Modellen oder Theorien. Sonst so unterschiedliche Denker wie Hannah Arendt, Raymond Aron, Herbert Butterfield, Hans Morgenthau, Carl Schmitt, Kenneth Waltz und Martin Wight schöpften aus einem gemeinsamen historischen Kanon, auch wenn sie über Fragen wie das Gleichge-

35 Armitage, The Fifty Years’ Rift, S. 108-109. 36 Gellner, Do Nations Have Navels? 37 Armitage, Foundations of Modern International Thought.

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wicht zwischen nationaler Souveränität und der Autorität internationaler Institutionen oder die Ethik von Krieg und Frieden zutiefst gespalten waren. In der folgenden Zeit der Entfremdung wichen die Vertreter der Ideengeschichte und die internationalen Historiker wieder stärker voneinander ab. Die Grenzen zwischen den Fachgebieten verfestigten sich und wurden mit größerem Eifer verteidigt. Die Verfeinerung der Methoden und die beschleunigte Spezialisierung in der Geschichtswissenschaft machten den Austausch zwischen den Disziplinen schwieriger. Die Trennung zwischen der Binnen- und der internationalen Perspektive verschärfte sich. Theoretische Ansätze – ob im Bereich der politischen oder der internationalen Theorie – verloren an Boden gegenüber den positivistischen Modellen, die, insbesondere in den Vereinigten Staaten, Ideen und ethische Fragen aus den Bereichen der Politik und der Internationalen Beziehungen bannten. Rückblickend erscheint die im Mai 1954 von der Rockefeller Foundation in New York ausgerichtete Konferenz über Internationale Politik, an der unter anderen Morgenthau und Niebuhr teilnahmen, wie der Höhepunkt einer ethischen Herangehensweise an internationale Angelegenheiten vor dem Triumph des Realismus und der behavioristischen Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten.38 Die Vertreter der Ideengeschichte rückten noch weiter von den Vertretern einer internationalen Geschichte ab, als eine wieder auflebende Sozialgeschichte beide Gebiete an die Ränder der professionellen Geschichtswissenschaft drängte. Was ein Büroangestellter zum anderen sagte, war nunmehr genauso wenig von Interesse wie das, was der eine Philosoph über den anderen schrieb. Wie Robert Darnton 1980 in einem im Auftrag der American Historical Association veröffentlichten Sammelband niedergeschlagen bemerkte, „breitet sich ein Unwohlsein unter den Vertretern der Ideengeschichte aus […] nach einer Neuausrichtung der Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten zählt sie nun eher zum Fußvolk der Geschichtswissenschaft.“ In demselben Band äußerte Charles Maier mit Blick auf die internationale Geschichte eine ähnlich pessimistische Einschätzung: „Die Geschichte der internationalen Beziehungen [(…) zeigt] wenig Gespür für einen kollektiven Unternehmungsgeist, dafür, innerhalb der Geschichtswissenschaft an vorderster Front zu stehen.“39

38 Hoffman, An American Social Science; Guilhot, The Invention of International Relations Theory; ders., Political Realism and International Relations. 39 Darnton, Intellectual History and Cultural History, S. 327; Maier, Marking Time, S. 355.

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Wie so oft erwiesen sich die Warnzeichen dafür, überflüssig zu werden, als Antrieb für eine Erneuerung. In der Zeit der Wiederannäherung, die in den 1990er-Jahren begann, zeigten sich eine Neubelebung sowohl in der Geistes- als auch in der internationalen Geschichte sowie eine zunehmende wechselseitige Verknüpfung der beiden Fachgebiete. Zumindest einige Gelehrte aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen fanden sich in einer ‚post-positivistischen‘ Phase wieder und erneuerten ihr Interesse an theoretischen Ansätzen, an der Geschichte der internationalen Angelegenheiten und auch an der Geschichte des eigenen Fachgebiets. Internationale Historiker entwickelten ein wachsendes Interesse an Kultur, Ideologie und Institutionen und wurden damit zu „Verfechtern der internationalen Wende ebenso wie zu energischen Befürwortern der Geistes- und Kulturgeschichte.“ Zugleich begannen Vertreter der Ideengeschichte die Regeln und Interaktionen zwischen Völkern, Staaten und anderen juristischen Personen in der Welt jenseits der innerstaatlichen Sphäre unter der Überschrift einer ‚Geschichte des internationalen Denkens‘ in einer historischen Herangehensweise zu untersuchen.40 Der Begriff des ‚internationalen Denkens‘ geht auf britische Publizisten und Literaten zurück, die in der Zwischenkriegszeit mit dem Völkerbund und anderen internationalen Institutionen, die damals entstanden, sympathisierten. In diesem Sinne hatte Thomas Hardy seinem Schriftstellerkollegen John Galsworthy geschrieben: „Allein der Austausch des internationalen Denkens kann die Welt retten.“ Ursprünglich sollte der Begriff eher eine nutzbare Vergangenheit kennzeichnen als eine kritische Geschichtswissenschaft begründen.41 Unterstützung fand er durch gleichfalls bekennende Internationalisten jenseits des Atlantiks, etwa durch den amerikanischen internationalen Juristen James Brown Scott, der den Grundstein für den frühesten Kanon historischer Werke des internationalen Denkens von Balthazar Ayala bis Richard Zouche legte, erschienen von 1911 bis 1950 als Klassiker des internationalen Rechts des Carnegie Endowment for International Peace.42 In der jüngeren Vergangenheit lebte die Geschichte des internationalen Denkens als ein starkes Gebiet eigenen Typs wieder auf, das einen umfas-

40 Ashworth, Interdisciplinarity and International Relations, S. 16-25; Bell, Writing the World; das Zitat von Zeiler, The Diplomatic History Bandwagon, S. 1053. 41 Brief vom 20. April 1923, in: Hardy, Collected Letters of Thomas Hardy, S. 192; Galsworthy, International Thought [1923]; Stawell, The Growth of International Thought [1929]. 42 Hepp, James Brown Scott and the Rise of Public International Law; Coates, Legalist Empire, S. 96-98.

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senderen, weniger teleologisch eingegrenzten Kanon an Autoren, Fragestellungen und Strömungen umfasst, und nicht als ein Untergebiet der Geschichte des politischen Denkens.43 Internationales Denken meint nun weniger ein Korpus an Werken, das eine verbindliche Doktrin formuliert und entsprechend für gegenwärtige Zwecke eingesetzt wird, sondern vielmehr das internationale Denken in der Vergangenheit als die Tätigkeit des theoretischen Reflektierens über internationale Angelegenheiten. Darin gleicht es der die jeweiligen Kontexte berücksichtigenden Geschichte des politischen Denkens, wie sie in den vergangenen fünfzig Jahren praktiziert wurde. In einer humanistischen Umkehr zu den Quellen des internationalen Denkens offenbart sich die Distanz zwischen dem, was Denker wie Grotius, Hobbes und Kant taten oder, ebenso häufig, gerade nicht in Angriff nahmen, und dem Gebrauch, der in den späteren Fachbereichen der Geschichtswissenschaft davon gemacht wurde. Grotius dürfte nicht beabsichtigt haben, ein internationales Recht zu ‚begründen‘. Hobbes war kein ‚Hobbesianer‘, zumindest nicht in dem Sinne, in dem der Begriff als Fachbegriff in den Debatten zu den Internationalen Beziehungen verwendet wird. Und Kant war weit mehr als der Theoretiker des ‚Demokratischen Friedens‘, auf den ihn die teleologischen Internationalisten seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert reduziert haben.44 Mit Blick auf das zwanzigste Jahrhundert verfügen wir nun über historische Untersuchungen zu internationalen Denkern jeglicher Couleur, von Norman Angell und Hannah Arendt bis zu Leonard Woolf und Alfred Zimmern, wobei besonders viel Mühe auf das Werk Carl Schmitts verwendet wird.45 Zugleich haben selbstkritische Fachhistoriker der Internationalen Beziehungen und des internationalen Rechts dargelegt, wie ein ‚Diskurs der Anarchie‘, der sich in der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte, für die spätere Realistische Schule der Internationalen Beziehungen zu einer Art zeitloser Wahrheit wurde, andererseits aber auch gezeigt, wie idealisti43 Keene, International Political Thought; Jahn, Classical Theory in International Relations; Bell, Victorian Visions of Global Order; ders., Political Thought and International Relations; Hall/Hill, British International Thinkers from Hobbes to Namier. 44 Tuck, The Rights of War and Peace; van Ittersum, Profit and Principle; Malcolm, Hobbes’s Theory of International Relations; Muthu, Enlightenment Against Empire; Easley, The War over Perpetual Peace. 45 Long/Wilson, Thinkers of the Twenty Years’ Crisis; Owens, International Relations and the Thought of Hannah Arendt; Morefield, Covenants without Swords; Odysseos/Petito, The International Political Thought of Carl Schmitt; Hooker, Carl Schmitt’s International Thought.

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sche Vertreter des internationalen Rechts sich zu Komplizen imperialer Unternehmungen von Belgisch-Kongo bis zur Schweinebucht machten.46 Vertreter der Ideengeschichte haben eine gute Ausgangsposition, um solche selbstkritischen Historiker aus dem Bereich der internationalen Geschichte dabei zu unterstützen, einige der fundamentalen Bausteine ihrer Disziplin infrage zu stellen. Beispielsweise wird nichts als grundlegender für das Fach der Internationalen Beziehungen angesehen als das Jahr 1648 und der Westfälische Frieden. Den ‚Mythos von 1648‘ als Ursprung einer Welt sich wechselseitig anerkennender Staaten, die sich nicht in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen einmischen, zu zerstören, war noch relativ leicht. Dazu galt es lediglich, die Verträge von Münster und Osnabrück zu lesen, anzuerkennen, dass Reiche, Föderationen und andere Formen abgestufter oder geteilter Souveränität die politische Autorität weit mehr prägten als eine angebliche ‚westfälische‘ Souveränität, und die Welt jenseits des nördlichen Europas in den Blick zu nehmen, um zu sehen, wie wenig Respekt der vermeintlichen Souveränität vieler Völker dieser Erde im Herrschaftsbereich der Imperien entgegengebracht wurde.47 Der westfälische Mythos hatte jedoch einige Annahmen untermauert, die das moderne internationale Denken bestimmt haben: dass Staaten und nicht Individuen die maßgeblichen Akteure in den internationalen Angelegenheiten waren; dass sich der innerstaatliche und der außerstaatliche Bereich, das Innen und Außen aus staatlicher Sicht klar unterschieden und beide voneinander getrennt waren; dass das positive Recht über das Naturgesetz triumphierte; dass eine hierarchische Idee von Zivilisation weltweite Gültigkeit besaß; schließlich dass der Bereich des Internationalen anarchisch und daher von den Maximen der Staatsräson bestimmt war. Zwar waren diese grundlegenden Annahmen weder einheitlich, noch blieben sie unwidersprochen, aber sie bildeten die Bedingungen, unter denen die Debatte zumindest in den letzten hundertfünfzig Jahren geführt wurde. Die Ideengeschichte des Internationalen strotzt geradezu vor Möglichkeiten für die weitere Forschung. So stellt sich etwa die Frage, welches die Medien des internationalen Denkens waren und wie sie sich mit den Methoden der historischen Buchforschung verstehen lassen.48 Vom späten

46 Schmidt, The Political Discourse of Anarchy; Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. 47 Osiander, Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth; Teschke, The Myth of 1648; Straumann, The Peace of Westphalia as a Secular Constitution; Piirimäe, The Westphalian Myth of Sovereignty. 48 Für eine beispielgebende Untersuchung zur Übersetzung und Verbreitung ökonomischer Texte, die sich auf dieser Linie bewegt, siehe Reinert, Translating Empire.

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siebzehnten Jahrhundert an bis heute fanden neue und dauerhafte Formen des Schreibens und Veröffentlichens, darunter Sammlungen von Verträgen, diplomatische Handbücher oder Geschichtswerke über die internationalen Beziehungen und das Völkerrecht, unter Klerikern, Gelehrten und Humanisten Verbreitung, also in einem Personenkreis, der häufig Überschneidungen mit transnationalen diplomatischen und militärischen Gemeinschaften aufwies. Eine eingehende Untersuchung solcher Genres könnte uns unter anderem dabei helfen zu verstehen, warum Kant seine Schrift Zum ewigen Frieden 1795 in Form eines Vertrags verfasst hat.49 Welche neueren philosophischen Persönlichkeiten rezipierten die kasuistischen Gesandten, die literarisch gesinnten Verwaltungsbeamten und die Intellektuellen, die in den aufkommenden internationalen Institutionen des achtzehnten Jahrhunderts und danach Ämter innehatten?50 Wie wurde das internationale Denken selbst internationalisiert? Dass Henry Wheatons Elements of International Law von 1836, ein maßgebliches Werk des internationalen Denkens in Europa und Amerika, übersetzt und in Asien verbreitet wurde, weist darauf hin, dass die Annahmen, die dem modernen internationalen Denken unterlagen, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend die regionalen Grenzen überschritten, wenn nicht sogar global wurden.51 Insofern gilt es immer noch zu erklären, warum große Teile der Welt sich von dem Konzept der Souveränität ‚anstecken‘ ließen, das sie in nahezu allen Bereichen betraf. Insbesondere sind hierbei die jeweiligen Bestimmungsfaktoren und Bedingungen zu beachten, unter denen es rezipiert und in den eigenen Bereich eingepasst wurde.52 Erst dann lässt sich umfassend verstehen, mit welcher Dynamik das Nationale und das Internationale gemeinsam im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert über die ganze Welt hinweg hervorgebracht wurden.53 Einen Zugang zur Internationalisierung des Internationalen bietet auch die Ideengeschichte der internationalen Institutionen. Befürworter der

49 Weiterführend sei zu diesen Fragen verwiesen auf Ménager, Diplomatie et théologie à la Renaissance; McClure, Sunspots and the Sun King; Hampton, Fictions of Embassy; Welch, A Theater of Diplomacy. 50 Vgl. Hunter, Vattel’s Law of Nations. 51 Liu, The Clash of Empires, S. 108-139; dies., Tokens of Exchange; Gluck/Tsing, Words in Motion. 52 Armitage, The Declaration of Independence, S. 107-112; Bayly, European Political Thought and the Wider World. 53 Ders./Biagini, Globalization of Democratic Nationalism; Sluga, Internationalism in the Age of Nationalism; dies./Clavin, Internationalisms.

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neuen internationalen Geschichte drängen ihre Kollegen schon seit Langem dazu, die ‚Geschichte des Internationalen zu internationalisieren‘, indem nicht-staatliche Akteure auf dem internationalen Feld untersucht werden: Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, transnationale soziale Bewegungen und Organisationen wie der Völkerbund, die Weltgesundheitsorganisation oder die Vereinten Nationen.54 Dieser Ruf hat in jüngster Zeit dazu geführt, dass sich neue Möglichkeiten für archivgestützte ideengeschichtliche Untersuchungen eröffnet haben, etwa mit Blick auf das Institut de Droit international, das Carnegie Endowment for International Peace, den Völkerbund, die Vereinten Nationen, die UNESCO oder die Europäische Union, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Einige der Arbeiten, die sich daraus ergaben, fanden innerhalb der jeweiligen Organisation statt und dienten eher dazu, diese zu feiern; das gilt insbesondere für jene, die im Rahmen des United Nations Intellectual History Project entstanden. Vieles aber hat dazu beigetragen, die Bandbreite an Akteuren, Archiven und Institutionen zu erweitern, die der geistesgeschichtlichen Forschung nun offenstehen.55 Ein Ergebnis dieser Ausweitung war die neue Geschichte der Menschenrechte, ein Gebiet, das einen zweiten Aufschwung erlebt und auf dem sich eine eher teleologisch geprägte Darstellung, die Menschenrechte als gegeben ansieht, zu einer kritischeren, Kontexte und Diskontinuitäten berücksichtigenden Forschungsliteratur weitergebildet hat.56 Auch die Forschung zu weiteren Gegenständen der Ideengeschichte – zu der Geschichte des ökonomischen Denkens, den Konzepten von Krieg und Regierung, der öffentlichen Gesundheit und der Geschichte der Wissenschaft – kann auf die Archive internationaler Institutionen, Unternehmen und Organisationen zurückgreifen. In dieser Hinsicht kann die moderne Ideengeschichte von jenen frühen Modernisierern lernen, die den

54 Iriye, Internationalizing International History; ders., Global Community; Pedersen, Back to the League of Nations. 55 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations; Droit, L’histoire intellectuelle de l’UNESCO; Sluga/Amrith, New Histories of the United Nations; Rothschild, The Archives of Universal History; Mazower, The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations; Jolly/Emmerij/Weiss, UN Ideas that Changed the World sowie weitere Werke aus dem United Nations Intellectual History Project; Pedersen, The League of Nations and the Crisis of Empire. 56 Für die erstgenannte Gruppe siehe z.B. Borgwardt, A New Deal for the World; Hunt, Inventing Human Rights; Martinez, The Slave Trade and the Origins of International Humanitarian Law; für die zweite Gruppe Moyn, The Last Utopia; Hoffmann, Human Rights in the Twentieth Century; Iriye/Goedde/Hitchcock, The Human Rights Revolution; Moyn, Human Rights and the Uses of History.

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Wissenschaftshistorikern folgten und eine Ideengeschichte der englischen und niederländischen Handelskompanien im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert entwarfen.57 Das plötzliche Interesse der Forscher im Bereich der politischen Theorie und der Ethik an den internationalen und globalen Dimensionen ihrer Forschungsgegenstände hat zur Beschleunigung all dieser Entwicklungen beigetragen, die sich inmitten eines stets wachsenden Bewusstseins der transnationalen Dimensionen der menschlichen Angelegenheiten vollzogen haben, welche mit dem Kunstwort ‚Globalisierung‘ erfasst werden. All diese Strömungen haben wiederum die inneren Tendenzen der Ideengeschichte verstärkt und sie dazu ermutigt, ihre Begründungen, die sich mit über die Nation oder den Staat hinausgehenden Fragen befassen, neu zu formulieren – ein Vorgang, den ich als internationale Wende innerhalb der Ideengeschichte bezeichnet habe. IV. Bis zu diesem Punkt war meine Darstellung der internationalen Wende in der Ideengeschichte überwiegend optimistisch geprägt, war eine Tour d’horizon zu den bisherigen Errungenschaften und auch zu den Versprechungen, die es noch einzulösen gilt. Aber auf Sonnenschein folgt Regen: Es stellt sich die Frage, inwiefern sich die internationale Wende auch als eine Wende zum Schlechteren erweisen könnte. Einige Vorwürfe sind bereits gegen sie erhoben worden, darunter jene, sie würde eine Verdinglichung vornehmen, einem Präsentismus oder ‚Klassismus‘ frönen oder die Konzeptionen dessen, was ein Kontext ist, verändern.58 Keiner dieser Kritikpunkte gilt ausschließlich der internationalen Ideengeschichte, sie sind alle aus den Debatten bekannt, die seit mindestens einem halben Jahrhundert zur Ideengeschichte geführt werden. Allerdings wird die Kritik hier in jedem der genannten Punkte schärfer, wenn die Ideengeschichte sich über größere räumliche Ausdehnungen erstreckt, da nun neue Formen einer Kluft zwischen Ideen und den neuen analytischen Anforderungen in den Blick geraten. Der Vorwurf der Verdinglichung ist vertraut und reicht mindestens bis zu der Kritik der Cambridge School an Arthur Lovejoys Ideengeschichte zu-

57 Van Ittersum, Profit and Principle; Stern, The Company-State; Armitage et al., Corporate Constitutionalism. 58 Rothschild, Arcs of Ideas.

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rück: Was als Wiederholungen ein und derselben Idee erscheint, erweist sich als unterschiedliche Konzepte, und dies verlangt eher nach einer Zergliederung und Begriffsklärung, anstatt breiteren Narrativen einverleibt zu werden, die sich über Raum und Zeit erstrecken.59 Beispielsweise war der Liberalismus in Großbritannien nicht derselbe wie jener in Indien: Jeder von ihnen entwickelte sich innerhalb seines eigenen Lebensraums; dabei entstanden sie aber nicht in Unkenntnis voneinander, sondern in einem Dialog, der allerdings von den jeweiligen örtlichen Bedingungen der Rezeption, Verbreitung und hybriden Umformung der Argumente vermittelt wurde.60 Zumindest seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entspannten sich die Bedingungen einer solchen Rezeption zwischen den Regionen, und sie waren in zunehmendem Maße global: Indische ‚Liberale‘ wie Rammohan Roy verstanden ihren Kampf gegen Despotismus als Teil weltweiter Bewegungen, die sich auf die britischen und portugiesischen Kolonien in Asien, die spanische Monarchie in der atlantischen Welt und Großbritannien selbst erstreckten. Schriften transportierten Ideen, taten dies jedoch stets inmitten von Paratexten, und es ließ sich nicht vorhersagen, in welchem Kontext ihre Übersetzung und Wiederaneignung stattfanden. Diese Bedingungen führten dazu, dass aus Gleichartigem Ungleiches wurde, wenngleich es selten etwas gänzlich anderes war und sich nicht mehr vergleichen ließ. Hält man sich dies vor Augen, scheint die Gefahr, in eine Verdinglichung zu verfallen, übertrieben. Wird, wo erforderlich, methodische Unterstützung seitens der digitalen Geschichtswissenschaft, der Rezeptionsgeschichte, der Buchgeschichte und der postkolonialen Theorie in Anspruch genommen, sollte es möglich sein, den Gefahren einer älteren, weniger ausgefeilten und überzeitlichen Ideengeschichte aus dem Weg zu gehen.61 Der Präsentismus stellt möglicherweise eine ernsthaftere Gefahr für die internationale Wende dar. „Das ganze Unterfangen „ist in sich selbst in dem Sinne präsentistisch, als die transnationale Wende in mehrerer Hinsicht ganz offenkundig von den öffentlichen Kontroversen des späten zwanzigsten und des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts über die ‚Globalisierung‘ beeinflusst ist.“62

59 Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas. 60 Bayly, Recovering Liberties; siehe auch Kapila, An Intellectual History for India; dies./Devji, The Bhagavad Gita and Modern Thought. 61 Armitage, What’s the Big Idea?; McMahon, The Return of the History of Ideas? 62 Rothschild, Arcs of Ideas, S. 221.

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Nun können wir jedoch ebenso wenig die Augen vor den gegenwärtigen Auseinandersetzungen verschließen, wie wir leugnen können, dass es in der Vergangenheit Debatten über kosmopolitische, universale oder globale Zusammenhänge und Konzeptionen gegeben hat. Es ist eine Binsenweisheit – und, wie der Begriff schon sagt, zumindest teilweise wahr –, dass unsere sich stets wandelnde Gegenwart unablässig Aspekte der Vergangenheit offenbart, die übersehen oder vernachlässigt worden sind. In diesem Fall gibt es wie auch bei anderen Aspekten der transnationalen Geschichtsschreibung zwei Möglichkeiten, sich der Sache anzunähern: „Die eine würde nahelegen, dass Verbindungen bestanden haben und den damaligen Akteuren auch bekannt waren, aber aus irgendeinem Grund in Vergessenheit gerieten oder beiseitegeschoben wurden. Aufgabe des Historikers wäre es dann, diese verloren gegangenen Spuren wieder aufzudecken. Eine zweite Perspektive hingegen würde behaupten, dass Historiker wie Elektriker vorgehen, indem sie den ‚Schaltkreis‘ eher auf einfallsreiche Weise wieder schließen, als dass sie ihn einfach nur wiederherstellen.“63 Den ersten dieser Zugänge – der eher verknüpft als vergleicht, eher rekonstitutiv als restitutiv ist – würden möglicherweise die meisten Vertreter der Ideengeschichte bevorzugen, aber ohne Zweifel ist auch der zweite erforderlich, um die nötige historische Distanz zwischen den Imperativen der Vergangenheit und den Anliegen der Gegenwart zu schaffen. Wir machen uns gewiss etwas vor, wenn wir uns einbilden, dass wir diese Anliegen mehr als nur schemenhaft sehen – wir werden sie nur dann klarer erkennen können, wenn wir sie in eine langfristige Perspektive stellen. ‚Klassismus‘, also die Vorstellung, dass „im Allgemeinen nur das Hochstehende, das Große oder Hochgelehrte Gegenstand der Geschichten des individuellen Geistes oder des individuellen Selbst war“, ist ein bekannter Vorwurf gegen die Ideengeschichte im Allgemeinen, weniger eine besondere Schwäche der international ausgerichteten Ideengeschichte.64 John Stuart Mill hat diesen Vorwurf bereits 1838 zurückgewiesen, als er Bentham und Coleridge verteidigte: „[D]ie spekulative Philosophie, die dem oberflächlich Denkenden als eine Sache erscheint, die weitab vom Geschäft des Lebens und von den nach außen gerichteten Interessen des Menschen steht, ist tatsächlich 63 Armitage/Subrahmanyam, The Age of Revolutions, S. xxxi. 64 Rothschild, Arcs of Ideas, S. 222.

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das auf Erden, was am meisten Einfluss auf sie ausübt und auf lange Sicht alle anderen Einflüsse überwältigt außer jenen, denen sie selbst unterworfen ist. Die Autoren, von denen wir hier sprechen, wurden nicht von der Menge gelesen; abgesehen von einem geringen Teil ihres Werkes fanden sie nur wenige Leser. Aber sie waren die Lehrer der Lehrer.“65 Zwischen den spekulativen Philosophen und der breiten Masse standen jene Denker, die Emma Rothschild im Blick hatte, als sie von ‚intermediären‘ oder ‚mittleren Gedanken‘ sprach. Ihre Gedankengänge ragten zu wenig heraus, als dass man ihnen eine eigene Biografie im Rahmen der Ideengeschichte widmen würde, waren aber doch zu reichhaltig, als dass sich ihre Denkspuren einfach einer Mentalitätsgeschichte einordnen ließen. Das trifft besonders, wenn auch nicht ausschließlich, auf jene zu, die in verschiedener Weise in der öffentlichen Politik tätig waren.66 Diese Personen waren oft Globetrotter und Vermittler, ein Teil der gewaltigen asiatischen, europäischen und afrikanischen Migrationsbewegungen, die den Atlantik und Pazifik über- und weite Steppen durchquerten (und dies auch in umgekehrter Richtung), es handelte sich aber auch um interkulturelle Akteure, die sich sowohl am Wissen vor Ort als auch an der Schaffung einer ‚globalen Intelligenz‘ beteiligten.67 Rekonstruieren Historiker die Formen, in denen diese Personen ihr Verstehen entwickelten, und zeichnen sie die Geschichten ihrer Vorstellungen nach, so können wir erwarten, mehr und vielfältigere Belege für die Formen des transnationalen Denkens zu erhalten als jemals zuvor.68 Verlangt die transnationale Geschichtsschreibung zunehmend dehnbare Definitionen von Kontext, so sollten sich die Forschenden in der Ideengeschichte nicht davon abschrecken lassen. Manche beginnen sich zu fragen, wie präzise sich eine Idee in ihrem Kontext noch verstehen lässt, wenn ‚Kontext‘ nun von seiner Definition her interkontinentale Kommunikation, multilinguale Gemeinschaften oder die Ausdehnung des Weltsystems umfasst.69 Aber auch hier dürften die Chancen größer sein als die Gefah65 66 67 68

Mill, Bentham, S. 467. Rothschild, Language and Empire, S. 210; dies., Political Economy. Schaffer et al., The Brokered World. Vgl. z.B. Bose/Manjapra, Cosmopolitan Thought Zones; Colley, Gendering the Globe; Rothschild, The Inner Life of Empires. 69 Goto-Jones, The Kyoto School, the Cambridge School, and the History of the Political Philosophy in Wartime Japan, S. 14 („[D]er historische Kontext scheint nicht mit dem räumlich-kulturellen Kontext zu überlappen“); Baring, Context in Transnational Intellectual History.

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ren. Grundregeln, was relevant ist, müssen festgelegt, die wirklichen (oder zumindest plausiblen) Wege der Übermittlung kartiert und Skalen der Bezugnahme abgeglichen werden gemäß den Vorstellungen, die die damaligen Zeitgenossen vom Internationalen oder Globalen hatten. Mit diesen Begrenzungen dürfte es machbar sein, bedeutsame räumliche Kontexte für die Ideen zu rekonstruieren, denen wir über Grenzlinien und abgegrenzte Diskursgemeinschaften hinweg nachspüren. Nach der internationalen Wende mag somit tatsächlich eine Historisierung von Raumkonzepten – sei es des Nationalen, des Internationalen, des Transnationalen oder des Globalen – auf der Agenda der Ideengeschichte stehen, ganz so wie die Historisierung der Zeit ein wichtiges Vorhaben für die Ideengeschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts war. Dies führt unausweichlich zu der Frage, was es für die Ideengeschichte bedeuten könnte, eine globale Wende zu nehmen. Eine intensive Debatte über die Reichweite, die Ziele und die Versprechen einer globalen Ideengeschichte hat bereits begonnen.70 Ob die globale Wende nur der nächste logische Schritt nach der internationalen Wende oder eine ganz andere Aufgabe eigenen Rechts ist, wird sich noch zeigen müssen; beide aber leisten einen notwendigen Beitrag zu dem weiter gefassten Bemühen, die Ideengeschichte zu ‚entprovinzialisieren‘.71Angesichts einer solchen Horizonterweiterung und der verlockenden Aussichten wird es kaum voreilig sein, beide, die internationale wie die globale, als eine Wende zum Besseren für die Ideengeschichte zu begrüßen, wie sie es schon für die Geschichtsschreibung im Allgemeinen war. Literatur Adelman, Jeremy: What is Global History Now?, in: Aeon Magazine, 2.3.2017, unter: https://aeon.co/essays/is-global-history-still-possible-or-has-it-had-its-moment [Zugriff 4. Juli 2017]. Armitage, David et al.: Corporate Constitutionalism, in: Itinerario, 39(3), 2015, S. 487-525.

70 Kelley et al., Intellectual History in a Global Age; Black, Toward a Global History of Political Thought; Moyn/Sartori, Global Intellectual History; Kapila, Global Intellectual History and the Indian Political; Fillafer/McClure, Contextualism, Global Intellectual History, and Neoliberalism; Dunn, Why We Need a Global History of Political Thought. 71 Specter, Deprovincializing the Study of European Ideas.

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Imperiale Ordnung. Die Governance-Leistung von Imperien Herfried Münkler1

I. Das vergessene Imperium In der deutschen Politikwissenschaft herrscht nach wie vor eine bemerkenswerte Imperiumsblindheit. Diese zeigt sich unter anderem darin, dass in den einschlägigen Lexika des Fachs selten ein entsprechender Eintrag zu finden ist. So kommen in dem von Volker Rittberger herausgegebenen Band Weltpolitik heute, wo man Einschlägiges erwarten dürfte, Imperien überhaupt nicht vor; statt dessen ist gelegentlich vom Welthegemon die Rede, ohne dass auf die Unterschiede zwischen Hegemon und Imperium eingegangen würde.2 Dass sich das Fach in den letzten Jahren in keiner Weise darum bemüht hat, die Differenz zwischen Hegemonie und Imperialität zu klären, ist umso bemerkenswerter, als die USA in der Publizistik, aber auch in politikwissenschaftlichen Texten als „wohlwollender Hegemon“ apostrophiert worden sind – seit dem Irakkrieg von 2003 im Übrigen in positiver Absetzung gegen die Bezeichnung als Imperium.3 Auf eine begriffliche Präzisierung dessen, was damit gemeint war, hat man sich je1 Herfried Münkler, Prof. em. Dr. phil., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Sozialwissenschaften. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. URL: https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/theorie-der-polit ik/mitarbeiter-innen/2507. Der vorliegende Artikel ist die überarbeitete Version des Beitrags zu Beisheim/Schuppert, Staatszerfall und Governance. 2 Einschlägige Klärungen wären hier zu erwarten gewesen in den Beiträgen von Klaus Dieter Wolf (Wolf, Von der Bipolarität zur Unipolarität?) sowie Volker Rittberger und Fariborz Zelli (Rittberger/Zelli, Europa in der Weltpolitik). Der dazugehörige Sammelbandtitel Weltpolitik heute hätte eine Klärung des Imperiumsbegriffs auch darum erwarten lassen, weil „Weltpolitik“ im Deutschen lange Zeit als Synonym für „imperiale Politik“ gebraucht worden ist; vgl. dazu Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Als Ausnahme ist zu nennen Leitner, Imperium. 3 Als Beispiel für viele Czempiel, Pax Americana oder Imperium Americanum? Dagegen verzichtet Bender, Vom Nutzen und Nachteil des Imperiums, auf eine Differenzierung zwischen Imperium und Hegemonie bei der Darlegung der Vor- und Nachteile imperialer Ordnung. Möglicher Bezug einer solchen Debatte in das monumentale Werk von Heinrich Triepel, Die Hegemonie [1938]. Einige Überlegungen zur Unterscheidung von Imperium und Hegemonie finden sich bei Münkler, Imperien, S. 16ff.; daran anschließend, freilich mit einer anderen Beurteilung der

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doch nicht eingelassen. Die politikwissenschaftliche Subdisziplin der Internationalen Beziehungen hat in den letzten beiden Jahrzehnten auf mithin hypertrophe Weise Theorien produziert; die Governance-Konzeptionen gehören dazu.4 Um die Klärung zentraler Begriffe hat sie sich jedoch nicht oder nur beiläufig gekümmert. Einer der Gründe für die Imperiumsblindheit der Politikwissenschaft dürfte die Trennung der Subdisziplinen Politische Theorie und Ideengeschichte auf der einen und Außenpolitik bzw. Internationale Beziehungen auf der anderen Seite sein.5 Tatsächlich finden sich in der Geschichte des politischen Denkens eine Reihe von imperialen Ordnungsentwürfen, in denen es auch um das geht, was nachfolgend als Governance-Leistung von Imperien behandelt wird. Als eine der wichtigsten Schriften dazu ist das Buch De monarchia des Florentiners Dante Alighieri zu nennen, das, zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstanden, eine Reaktion auf den Verlust politischer Stabilität in den oberitalienischen Städten infolge der sich verschärfenden Faktionskämpfe innerhalb der Städte wie zwischen ihnen darstellt. Als wichtigste Aufgabe der Universalmonarchie – so die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Bezeichnung für das Imperium –6 sieht Dante die Herstellung und Sicherung des Friedens, und der wiederum ist in seiner Sicht die Voraussetzung dafür, dass Gerechtigkeit herrschen kann. Seinen politischen Gegnern, der in ihren Selbstbekundungen dem Papst anhängenden guelfischen Partei, die gegen die Oberhoheit des Kaisers zu Felde zog, hielt er vor: „Sie heucheln Gerechtigkeit, wollen aber keinen haben, der die Gerechtigkeit zur Durchführung bringt.“7 Eine jede Ordnung

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USA, Menzel, Imperium oder Hegemonie?, sowie dessen große historische Darstellung Die Ordnung der Welt, insb. S. 29-64. Vgl. auch das jüngst erschienene Buch von Perry Anderson, Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs, , das sich freilich weniger mit dem Begriff als mit Ungleichgewichten im Machtgefüge der Staaten beschäftigt und den Unterschieden zwischen Imperium und Hegemon keine Beachtung schenkt. Dabei ist freilich festzuhalten, dass es sich bei den Governance-Konzeptionen um ein klassisches Querschnittsprojekt handelt, für das die Theorie der Internationalen Beziehungen nur ein Segment darstellt; vgl. Zürn, Global Governance. Als eines der wenigen Beispiele ist für eine Kooperation zwischen den Subdisziplinen Geis, Den Krieg überdenken, zu nennen. Vgl. Bosbach, Monarchia Universalis, S. 19ff. Dante Alighieri, Monarchia, S. 153. Für Dante ist die Verwirklichung von Gerechtigkeit nur vorstellbar, wenn die Menschheit bzw. die westliche Christenheit als Einheit betrachtet und behandelt wird: „So ist denn auch das menschliche Geschlecht vor allem dann eine Einheit, wenn es sich als Gesamtheit in einem Einzigen vereinigt. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn es als Ganzes einem einzigen Herrscher

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brauchte nach Dantes Vorstellung einen „Hüter“, und dieser „Hüter“ konnte in Europa nur der Kaiser sein. Dante entfaltete eine Ordnungsvorstellung, in der politische Konflikte nicht durch Krieg entschieden werden sollten, sondern der Kaiser als oberste Instanz die Konflikte schlichtete und gegen Friedensbrecher vorging. Die Ordnung des Imperiums rechtfertigt sich für Dante an erster Stelle durch Kriegsvermeidung und Konfliktschlichtung – was in Zeiten um sich greifender Kriege sehr viel ist und im Italien Dantes von erheblicher Bedeutung gewesen wäre. Dabei dient der Kaiser als eine oberste Instanz, deren Entscheidung inappellabel sind; er ist aber keineswegs für alle Einzelfragen innerhalb des Imperiums zuständig. Den Fürsten und Kommunen bleibt somit ein erheblicher politischer Gestaltungsspielraum. Das Dantesche Imperium ist nach dem Prinzip der Subsidiarität8 organisiert: Was auf den unteren Ebenen geklärt und entschieden werden kann, soll auch dort entschieden werden; zur nächsthöheren Ebene sind nur die auf den unteren Ebenen unlösbaren Probleme weiterzureichen, so dass die imperiale Spitze allein mit jenen Problemen befasst wird. Die imperiale Superstruktur ist bei Dante die Alternative zur Entscheidung strittiger Fragen durch Krieg, zwischenstaatlichem wie innergesellschaftlichem Krieg. Sie allein ist dieser Vorstellung nach fähig, den Vorrang des Rechts gegenüber der Gewalt zu sichern. Eine sehr viel stärkere Durchgriffsbefugnis der imperialen Spitze findet sich in Tommaso Campanellas Schrift Monarchia hispanica, wo einer Ausweitung der spanischen Herrschaft auf ganz Europa das Wort geredet wird. Diese hatte während der Niederschrift des Werks zu Beginn des 17. Jahrhunderts gerade den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung erreicht. Das Gold und Silber aus der „Neuen Welt“ und die überaus leistungsfähige spanische Infanterie waren die Stützen der Machtstellung Spaniens, die in den Kriegen des frühen 17. Jahrhunderts in Oberitalien erkämpft worden war. Campanella geht es bei der Errichtung einer imperialen Ordnung um die

unterworfen ist“ (S. 98). Das aber ist seit langem nicht mehr der Fall, und das „Gewand ohne Naht“, wie Dante die politisch ungeteilte Menschheit in Anspielung auf das Gewand Christi vor der Kreuzigung apostrophiert, ist zerteilt und zerrissen worden. „Wie weit es aber mit der Welt gekommen ist, seit jenes Gewand ohne Naht zum erstenmal durch die Krallen der Habgier zerrissen wurde, können wir nachlesen und leider auch mitansehen. O Menschengeschlecht, wie viele Stürme und Schicksalsschläge, wie viele Schiffsbrüche müssen dich heimsuchen, da du, zu einem vielköpfigen Ungeheuer geworden, nach allen Richtungen hin und her treibst“ (S. 117). 8 Vgl. Riklin/Batliner, Subsidiarität.

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Verhinderung innerchristlicher Kriege, weil von diesen Kriegen nur die Türken profitieren würden, die er als den säkularen Feind der Christenheit begreift. Im Unterschied zu Dante kommt Campanella nicht ohne äußeren Feind aus, und außerdem spricht er dem Imperium eine sehr viel größere Durchgriffsbefugnis und Regelungskompetenz zu. So verbindet er mit der imperialen Ordnung die Einführung einer einheitlichen Sprache und eines einheitlichen Geldes, und er begründet das damit, dass dann bei geringerem Steueraufkommen effektivere Leistungen der politischen Institutionen zu erwarten seien.9 Der Blick auf Dante und Campanella, denen sich weitere Autoren zur Seite stellen ließen, macht deutlich, dass es in der Geschichte des politischen Denkens unabhängig von den Imperialismustheorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen vielleicht nicht sonderlich breiten, aber gut identifizierbaren Strang gibt, in dem die Ordnungs- und GovernanceLeistungen von Imperien thematisiert worden sind – im übrigen keineswegs immer pro-, sondern häufig auch antiimperial.10 Damit wird deutlich, dass sich bei einer entsprechenden Beschäftigung mit der politischen Ideengeschichte eine Reihe von Modellentwürfen finden lassen, die für die Evaluation imperialer Ordnungen fruchtbar zu machen sind. Während Campanella die imperiale Ordnung unter der Führung Spaniens eher als Government entworfen hat, hat Dante auf eine weitergehende Gouvernementalisierung der Universalmonarchie verzichtet und an ihr jene Leistungen herausgestellt, die man heute eher mit dem Begriff Governance bezeichnen würde. Aber auch bei den Historikern findet sich überraschend wenig zum Stichwort Imperium bzw. Weltreich, jedenfalls dann, wenn man darunter ein politisches Ordnungsmodell versteht, das in diachroner Perspektive komparativ zu betrachten ist. Die Ursache dafür dürfte unter anderem darin liegen, dass sich die jeweiligen Fachvertreter nur für die eigene Epoche zuständig fühlen, also für das Frühe oder das Späte Mittelalter, für die Frühe Neuzeit oder die Neuzeit, was dann durch regionale Parzellierung noch gesteigert wird: Wer für Europa zuständig ist, hält Distanz zu Ost- und Südostasien usw.11 Die Folge ist, dass es zwar eine Fülle von sehr guten und überaus informativen Arbeiten zu einzelnen Imperien gibt, aber kaum 9 Dazu Pagden, Spanish Imperialism, S. 37-63. 10 Vgl. Münkler, Neues vom Imperium. 11 Zu einer unter den Begriffen Universal-, Welt- oder Globalgeschichte sich entwickelnden Überwindung dieser Parzellierung und den Vertretern dieses Konzepts vgl. Grandner et al., Globalisierung und Globalgeschichte. Jürgen Osterhammel und Akira Iriye haben in ihrer sechsbändigen Geschichte der Welt darauf reagiert,

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komparative Untersuchungen zu den Leistungen von Imperien,12 insbesondere nicht im Vergleich mit den Ordnungsleistungen einer polyzentrisch-pluriversen Staatenwelt. Ein solcher Vergleich muss, wenn er ertragreich sein soll, über die Jahrhunderte hinweg erfolgen und außerdem räumeübergreifend angelegt sein. Er darf sich also nicht auf Europa beschränken, sondern muss andere Imperiumsbildungen, etwa die im Indischen Ozean13 oder auch solche in der zentralasiatischen Steppe, in die Überlegungen miteinbeziehen. Die US-Amerikaner sowie einige dort geschulte Wissenschaftler schreiben solche Bücher, wie etwa Paul Kennedys Aufstieg und Fall der großen Mächte, Michael Doyles Empires oder auch Eisenstadts The Political Systems of Empires zeigen.14 In Deutschland ist derlei trotz der starken Orientierung an der amerikanischen Sozialwissenschaft unüblich. Die Imperiumsvergessenheit der deutschen Wissenschaft ist ein Ausdruck ihres intellektuellen Kleinmuts, wenn es um weltpolitische Fragen und Probleme geht. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Blick auf die politische Ordnung von Imperien hierzulande durch eine Reihe von Umständen verstellt ist. Da ist zunächst die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die beiden verlorenen Weltkriege und der in ihnen gescheiterte Versuch zur Errichtung einer von Deutschland kontrollierten Ordnung in Europa. Wer sich vorurteilslos mit der Ordnungsleistung von Imperien beschäftigt, gerät leicht in den Verdacht, er halte zur ersten Hälfte der deutschen Geschichte nicht den erforderlichen Abstand. Das Thema „Imperium“ ist als Analysekategorie mit einer Fülle von Warn- und Verbotsschildern umstellt, und die intellektuellen Zugänge sind normativ blockiert. Zu dieser Blockade haben neben der eigenen Geschichte auch die in Deutschland politisch nachhaltig rezipierten Imperialismustheorien beigetragen. Diese Imperialismustheorien sind in der Regel regionenübergreifend angelegt, was sie ihrer marxistischen Grundierung verdanken; hingeund diese Lücke durch eine moderne Darstellung zu schließen versucht. Der die Zeit von 1350-1750 behandelnde Band hat den Titel Weltreiche und Weltmeere. Als eine der wenigen komparativen Studien, die räumeübergreifend angelegt sind, ist Leonhard/von Hirschhausen, Comparing Empires zu nennen. 12 Menzel, Die Ordnung der Welt, ist hier eine der wenigen deutschsprachigen Ausnahmen; weiterhin Nolte, Kurze Geschichte der Imperien. 13 Zum Indischen Ozean als einem zum Atlantischen Raum parallelen Wirtschaftsraum und politischen Ordnungssystem vgl. Rothermund/Weigelin-Schwiedrzik, Der Indische Ozean. 14 Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte; Doyle, Empires; Eisenstadt, The Political System of Empires. Vgl. weiterhin Cipolla, The Economic Decline of Empires; Snyder, Myths of Empire, sowie Kautsky, Aristocratic Empires.

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gen ist ihre diachrone Reichweite eher kurz: Sie beschränkt sich auf das späte 19. und das 20. Jahrhundert. Ich will mich hier mit den spezifischen Erkenntnisinteressen dieser Theorien nicht weiter beschäftigen, sondern nur darauf hinweisen, dass sich die politischen Imperialismustheorien auf die europäischen Hegemonialrivalitäten konzentrieren, während die ökonomischen Imperialismustheorien der Frage nach der Überlebensfähigkeit des Kapitalismus nachgehen.15 Über Imperienbildung und die Funktionsmechanismen der Imperien ist darin freilich wenig zu finden. Vor allem aber fokussieren sie den Blick auf das Zentrum der Imperien und lassen deren äußere Teile und die imperiale Peripherie weitgehend außer Betracht. Bei der Evaluation der Governance-Leistung von Imperien sind indes die Randgebiete und die Peripherie ebenso wichtig wie das Zentrum. Die Imperialismustheorien, die nach wie vor einen erheblichen Einfluss auf die Grundgestimmtheit der politischen Debatte in Deutschland haben, können zu unserer Fragestellung somit nur wenig beitragen. Sie bleiben darum nachfolgend außer Betracht. Bei der Nichtthematisierung von Imperien hat aber auch das antiimperiale Selbstverständnis der USA eine Rolle gespielt.16 Es handelt sich dabei um ein politisch überaus produktives Selbstmissverständnis, das man jedoch nicht als Beleg dafür aufrufen sollte, dass es sich bei den USA um keine imperiale Macht handelt. Davor hätte schon warnen müssen, dass auch die Sowjetunion ein antiimperiales Selbstverständnis kultiviert hat, während sie gleichzeitig offen imperial agierte. Wie auch immer: Das antiimperiale Selbstverständnis der USA hat für lange Zeit eine gehaltvolle Auseinandersetzung mit dem Imperium blockiert und den USA schon früh ein imperiales Agieren in antiimperialem Gestus ermöglicht.17 Das hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts dann geändert, wobei diese Veränderung nicht von Wissenschaftlern ausging, sondern eine Folge dessen war, dass die publizistische Begleitmusik der amerikanischen Politik die Melodie gewechselt hat: Von einer Reihe republikanischer und neokonservativer, aber auch liberaler Intellektuellen ist der Imperiumsbegriff als Be-

15 Für eine kritische Darstellung vgl. Schröder, Sozialistische Imperialismusdeutung; Mommsen, Imperialismustheorien. Ein Überblick; mit dem Ziel politischer Reaktualisierung hingegen Bollinger, Imperialismustheorien. Historische Grundlagen. 16 Howard, Grundlegung der amerikanischen Demokratie, S. 135ff. 17 Dazu Wehler, Aufstieg des amerikanischen Imperialismus, insbes. S. 74ff.

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zeichnung für die weltpolitische Position der USA offen ins Spiel gebracht worden.18 Die Imperialität der USA wurde zum Thema. II. Imperium und Hegemonie Die Feier oder auch Kritik des amerikanischen Empires19 ist freilich etwas anderes als die diachronisch-komparative Evaluierung der Ordnungsleistung von Imperien, für die man einen sehr viel längeren Atem und größere Sorgfalt braucht, als er in den publizistischen Bemühungen einiger Politiksoufleure und ihrer Denkfabriken möglich ist. Was vielen Historikern ein Grauen ist, nämlich der epochenübergreifende Vergleich von Imperien, ihres Aufstiegs und Niedergangs, vor allem aber ihrer Ordnungsleistungen auf dem Höhepunkt der Macht, soll gerade vor jener intellektuellen und politischen Kurzatmigkeit schützen, wie man sie vor allem in Publikationen findet, die um die These einer historischen Einmaligkeit des US-Imperiums zentriert sind. Paul Kennedys Aufstieg und Fall der großen Mächte ist ein in diachronkomparativer Perspektive geschriebenes Werk. Bei Kennedy findet sich auch der in jüngster Zeit häufig gebrauchte Begriff eines ‚imperial overstretch‘, der von der Sache her auf Edward Gibbon zurückgeht. In dessen monumentalem Werk Verfall und Untergang des Römischen Imperiums sind gleich zu Beginn einschlägige Überlegungen zu finden: als Lob auf Octavian/Augustus, dessen vorausschauende Politik eine imperiale Überdehnung Roms verhindert habe.20 Doch Kennedys Buch beschäftigt sich eher mit der Politik von Großmächten als mit der von Imperien, und die Betrachtung von Großmachtpolitik führt zur Beobachtung von Hegemonialkon-

18 Vgl. exemplarisch für viele andere Bacevich, American Empire; Ferguson, Chancen und Risiken amerikanischer Macht; Ignatieff, Empire Lite; einen Überblick bietet Speck/Sznaider, Empire Amerika. Mit komparativem Blick Maier, Among Empires. 19 Parallel zur affirmativen Darstellung der Ordnungsleistungen eines amerikanischen Imperiums hat sich auch eine scharfe Kritik entwickelt, die nicht selten aus dem Rückgriff auf die alten Imperialismustheorien gespeist wird. In dieser Kritik verbindet sich die Prognose des bevorstehenden Niedergangs der USA mit einer normativ-egalitären Kritik an ihrer weltpolitischen Dominanz. Vgl. hierzu, ebenfalls in exemplarischer Auswahl, Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf; Johnson, Ein Imperium verfällt; ders., Selbstmord der amerikanischen Demokratie; Mann, Die ohnmächtige Supermacht; Barber, Imperium der Angst; Kupchan, Vom Ende der Vorherrschaft Amerikas; Wallerstein, Absturz oder Sinkflug des Adlers? Der Niedergang der amerikanischen Macht; Harvey, Der neue Imperialismus. 20 Gibbon, Verfall und Untergang des Römischen Imperiums, S. 11ff.

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kurrenz, jedoch nicht zu der von Imperialität. Der Kampf um die Hegemonie innerhalb einer Staatengemeinschaft ist oft beschrieben worden; er steht im Zentrum jener Theorien über Außenpolitik, die üblicherweise als Realismus oder Neorealismus bezeichnet werden.21 Das Agieren von Weltreichen folgt hingegen anderen Prinzipien und ist davon sehr genau zu unterscheiden. Die analytische Unterscheidung zwischen Imperium und Hegemonie ist ebenso wichtig wie schwierig. Imperium und Hegemonie sind nicht dasselbe, wiewohl beide Begriffe häufig synonym verwendet werden. Bei Heinrich Triepel lassen sich einige Überlegungen zu dieser Unterscheidung finden,22 aber die haben in den Debatten der letzten Jahre keine Rolle gespielt, zumal Triepel in den Theorien der Internationalen Beziehungen so gut wie nicht rezipiert worden ist. Erst jüngst, als die US-Regierung von europäischen Politikern und Intellektuellen geradezu beschworen wurde, sich mit der Rolle eines Hegemons zu bescheiden und nicht die eines Imperiums anzusteuern, hat man Triepels Buch etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Mit der Unterscheidung zwischen Hegemonie und Imperium wurden gegenüber den USA machtpolitische Selbstbeschränkung und die Respektierung internationaler Normen angemahnt, also die Selbstbindung der Supermacht, nicht all das zu tun, wozu sie aufgrund ihrer Fähigkeiten imstande wäre. Vereinfachend kann man sagen, dass Hegemonie für die Vorherrschaft einer Macht über formal Gleiche steht, Imperium dagegen für eine Form von Herrschaft, in der alle anderen politischen Akteure als nachgeordnete Ungleiche behandelt werden. Diese Unterscheidung lässt sich modelltheoretisch klar und mit scharfen Begrenzungslinien ausarbeiten: Mit einer Hegemonie haben wir es dann zu tun, wenn in einer Aggregation prinzipiell gleichartiger politischer Akteure einer die anderen an Macht und Stärke, Einfluss und Autorität überragt und diese herausragende Stellung nicht auf eine kurze Zeitspanne begrenzt bleibt, sondern auf längere Dauer angelegt ist. Mit einem Imperium haben wir es hingegen dann zu tun, wenn die in „seinem“ Raum auftretenden politischen Akteure wesentlich ungleichartig sind und auch von ihren Kräften und Fähigkeiten her weit hinter der imperialen Vormacht zurückbleiben.23 Politiktheoretisch am auf21 Einer der Grundtexte hierzu ist nach wie vor Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie; zur Analyse von Hegemonialkonkurrenz vgl. Gilpin, War and Change in World Politics, S. 186ff., sowie Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, S. 29ff. 22 Triepel, Die Hegemonie, S. 147f., 185ff. und 343f. 23 Dazu ausführlich Münkler, Imperien, S. 67ff.

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schlussreichsten sind dabei die Übergänge zwischen Hegemonie und Imperium und vor allem die häufig zu beobachtenden Hybridbildungen. Weltreiche – und um die geht es, wenn von Imperien die Rede ist – nehmen an ihren Grenzen eine unterschiedliche Gestalt an: an der einen treten sie als Hegemon auf, an der anderen agieren sie imperial. Wo es um die Evaluation der Governance-Leistungen von Imperien geht, ist dies von erheblicher Bedeutung. Ein Beispiel für den Gestaltwandel imperialer Ordnung ist das antike Rom, das bei seiner Expansion in den hellenistischen Raum hinein als Hegemon auftrat, vor allem dort, wo es sich als Beschützer der Freiheit griechischer Städte feiern ließ, während es nach Westen, auf der spanischen Halbinsel, in Gallien und Germanien, imperial agierte.24 Dieser Unterschied erwuchs nicht etwa aus einer grand strategy der Römer, die, wenn davon überhaupt die Rede sein kann, erst nach der augusteischen Reichskonsolidierung entwickelt wurde,25 sondern resultierte aus der politischen Verfasstheit und zivilisatorischen Entwicklung der jeweiligen Peripherie, in die Rom hineinstieß: Im Osten hatte man es mit hochentwickelten politischen Strukturen und einer Zivilisation zu tun, die der römischen in vieler Hinsicht überlegen war; im Westen dagegen stieß man auf tribale Strukturen und befand sich in der Rolle einer zivilisatorisch weit überlegenen Macht. Das gilt auch für das zarische Russland, das im Westen, wo es mit ausgebildeten Staaten konfrontiert war, als Hegemon agierte, während die Expansion in Zentralasien imperialen Mustern folgte. Ähnliches lässt sich auch am unterschiedlichen Auftreten der USA in Europa und im mittelamerikanisch-karibischen Raum beobachten. Das aber heißt: Ob ein Imperium hegemonial oder imperial agiert, entscheidet sich weniger im Zentrum als an den Herausforderungen der jeweiligen Peripherie. Man muss darum, wenn man die Art imperialer Expansion verstehen will, mindestens genauso aufmerksam auf die Peripherie wie auf das Zentrum schauen. Bei der Analyse des Übergangs von der Hegemonie in ein Imperium kann die politische Ideengeschichte abermals Hilfestellung leisten. Paradigmatisch dafür ist die Beschreibung, die Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges der Verwandlung der athenischen hegemonía in eine arché, der Vorherrschaft Athens in die Herrschaft Athens, gewidmet hat. Dieser Wandel erfolgte keineswegs nur durch die Drohung mit Gewalt, sondern vor allem durch die Vergabe von Schutzgarantien gegen die Expansion der Perser, weiterhin durch das Angebot, kleinere Bündnerstädte

24 Vgl. Heuss, Römische Geschichte, S. 98ff., 120ff. 25 Vgl. Luttwak, The Grand Strategy of the Roman Empire.

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müssten nicht länger eigene Kriegsschiffe stellen, sondern könnten ihre Verpflichtungen durch Geldzahlung ersetzen usw. Unmerklich verschob sich dadurch der Akzent von der formellen Gleichheit innerhalb des Bündnisses auf die faktische Ungleichheit, und aus dem Delisch-Attischen Seebund wurde die athenische Thalassokratie. Deutlichster Ausdruck dessen war der Übergang der Entscheidungsbefugnisse von der auf Delos tagenden Bundesversammlung auf die athenische Volksversammlung. Parallel dazu mehrten sich die Einmischungen Athens in „die inneren Angelegenheiten“ der Verbündeten. Das zeigte sich vor allem in der aggressiven „Demokratisierungspolitik“, die Athen in seinem Herrschaftsbereich betrieb, indem es die Aristokraten, wo diese noch an der Macht waren, stürzte und an ihrer Stelle die demokratische Partei zur Herrschaft brachte. Um diesen Machtwechsel abzusichern, wurden athenische Garnisonen in den Bündnerstädten eingerichtet, und man griff in die örtlichen Eigentumsverhältnisse ein, um die Aristokraten weiter zu schwächen und die Anhänger Athens zu belohnen. 26 Athen nutzte die inneren Konflikte der griechischen Städte aus, um seine Machtstellung immer weiter auszudehnen. Gegen diese Entwicklung erhoben die Korinther auf der Bundesversammlung der Lakedämonier Klage, und aus dieser Klage entwickelte sich der große Krieg zwischen Athen und Sparta. Auch in diesem Krieg gab es Übergänge zwischen imperialer und hegemonialer Kriegführung, so dass sich der Krieg nicht eindeutig als imperialer oder hegemonialer Krieg klassifizieren lässt: Die Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta drehte sich um die Hegemonie in Griechenland, hier war der Krieg ein Hegemonialkrieg; unterhalb dieser Hegemonialkonfrontation führten die Athener aber auch einige imperiale Kriege gegen abtrünnige oder wankelmütige Städte ihres Bündnissystems, wie etwa den gegen Melos, das sich dem athenischen Bündnissystem nicht anschließen wollte, sondern auf seiner Neutralität im Machtkampf zwischen Athen und Sparta bestand. Auch der athenische Kriegszug gegen Syrakus, der die Ausdehnung der Thalassokratie vom östlichen aufs westliche Mittelmeer zum Ziel hatte, war ein imperialer Krieg. Man sollte also, wenn man mit der Unterscheidung von Hegemonie und Imperium operiert, nicht davon ausgehen, dass man in der politischen Wirklichkeit exakt das vorfindet, was man als Modell ausgearbeitet hat. Dennoch bedarf man dieser modelltheoretischen Konturierung, um die Übergänge und Hybridisierungen in der politischen Realität identifizieren

26 Vgl. Schuller, Die Herrschaft der Athener, S. 153ff. u. 179ff., sowie Welwei, Das klassische Athen, S. 126ff.

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zu können. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, dass die vorgenommene Unterscheidung zwischen hegemonialer und imperialer Auseinandersetzung sich im Peloponnesischen Krieg an der Behandlung der jeweils unterlegenen Seite beobachten lässt: Die Kapitulationsbedingungen für den Verlierer eines Hegemonialkrieges waren hart, zielten aber nicht auf dessen Vernichtung. Das war in den als imperial zu bezeichnenden Kriegen innerhalb des Peloponnesischen Krieges anders: Hier wurden die abtrünnigen oder nicht willfährigen Städte oder deren Herrschaftseliten buchstäblich ausgerottet. Ein weiterer Grund für die Imperiumsblindheit von Politik- und Geschichtswissenschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten sollte nicht unerwähnt bleiben: die zeitweilige Vorstellung, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei die Geschichte der Imperien definitiv zu Ende gegangen. Diese Idee stützte sich nicht nur auf das Ende der Sowjetunion, sondern sah dieses Ende in Kontinuität zum Zusammenbruch der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Althistoriker Alexander Demandt hat beides zu der These zugespitzt, dass damit die mehrtausendjährige Geschichte der Imperien definitiv zu Ende sei.27 Aber was ist an ihre Stelle getreten? Die Weltgesellschaft, lautete der Bescheid. Sieht man von der politischen Konturlosigkeit dieses Begriffs einmal ab, so ist zumindest zu fragen, ob diese Weltgesellschaft vielleicht imperiale Binnenstrukturen hat. Michael Hardt und Antoni Negri sind in ihrem Buch Empire dieser Spur gefolgt, aber sie haben dabei wenig Interesse für die politischen Strukturen des Imperiums gezeigt.28 Darum soll es anschließend gehen. III. Staatenwelt versus imperiale Ordnung Theoriebildungen sind um so erfolgreicher, je sparsamer sie ihre Grundbegriffe oder modelltheoretischen Annahmen handhaben. In der Geschichte der politischen Theorie haben sich vor allem antithetische Begriffspaare bzw. symmetrische Gegenbegriffe29 als erfolgreich erwiesen. Diese erfassen Problemlagen durch eine Begrifflichkeit, die klare Entscheidungs- und 27 Demandt, Die Weltreiche in der Geschichte, S. 223f. 28 Hardt/Negri, Empire. 29 Die intellektuelle Ordnungsleistung symmetrischer Gegenbegriffe, die dem Prinzip der Binarität verpflichtet ist, ist bislang nicht eigens untersucht worden, sehr wohl aber die asymmetrischer Gegenbegriffe; vgl. Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe.

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Handlungsalternativen schafft, indem sie Komplexität auf ein EntwederOder reduziert. Nun ist es sicherlich nicht leicht, den Erfolg von Theorien zu messen, aber wenn diese die Rationalitätsstandards und Risikoperzeptionen politischer Akteure definieren und prägen, wird man zumindest von einer folgenreichen Theoriebildung sprechen können, jedenfalls dann, wenn die Theoriebildung nicht auf Kontemplation, sondern praktisches Handeln abzielt. Das ist bei politischer Theoriebildung in der Regel der Fall. Zu nennen sind hier die antithetischen Begriffspaare Krieg und Frieden, Staat und Gesellschaft, Staaten- und Bürgerkrieg, Natur- und Gesellschaftszustand usw. Die Kraft solcher Gegenbegrifflichkeit liegt im Anspruch des tertium non datur.30 Nun ist es freilich einer der Effekte solcher Begriffspaare, dass sie das tertium geradezu hervortreiben und sichtbar machen. Theoriebildung kann darauf reagieren, indem sie sich von einer antithetischen Gegenbegrifflichkeit auf dialektische Dreierpaarungen umstellt und das zunächst nicht vorgesehene tertium in die Denkfigur der Synthese einbindet, wie dies etwa bei Hegel im Begriff des „Aufhebens“ der Fall ist. Der Erfolg dieser Theorien erwächst letzten Endes aus der Übersichtlichkeit ihrer Grundbegriffe: Antithetik oder Dialektik erheben den Anspruch, das Feld der Möglichkeiten erschöpfend zu erfassen, und so versprechen sie Klarheit im Denken wie im Handeln. Dagegen ist eine Hypertrophie der Grundbegriffe Ausdruck von Theorieverwahrlosung. Die Begriffskaskaden, denen wir dann begegnen, zeigen eher Ratlosigkeit und Unbeholfenheit, als dass in ihnen eine gesteigerte Präzision der Problemerfassung zum Ausdruck kommt. Ein schönes Beispiel dafür ist die Bezeichnung des verfassten Europa als „Gebilde sui generis“, wie man sie in der einschlägigen Literatur immer wieder findet.31 Die Inanspruchnahme eines genus, das sich allen Klassifikationen entzieht, ist in der Regel nichts anderes als verweigerte Begriffsarbeit. Aber, so ließe sich einwenden, Komplexität sei doch das Signum der modernen Welt. Es könnte freilich sein, dass die Beobachtung von Komplexität gar nicht die Ursache, sondern vielmehr die Folge begrifflicher bzw. modelltheoretischer Ratlosigkeit ist. Frei nach Hegel: Wer die Welt unvernünftig anschaut, den sieht sie auch unvernünftig an. Wir reden von Komplexität und bringen damit häufig nur unsere fehlende gedankliche Disziplin und begriffliche Klarheit zum Ausdruck. Die Governance-Theorien, die sich wesentlich auf

30 Dazu Münkler, Ordnung. 31 Zu der Europäischen Union als imperiumsähnlichem Gebilde vgl. Zielonka, Europe as Empire.

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die Beobachtung von etwas Neuem konzentrieren und darauf den Anspruch auf innovative Theoriebildung stützen, müssen sich die Frage vorlegen, ob sie nur darum etwas Neues zu sehen glauben, weil sie das Alte nicht kennen. Ich will mich bei der Inspektion politischer Ordnungsmodelle darum zunächst auf zwei Grundtypen beschränken, die ich als Ordnung der Staatenwelt und Ordnung des Imperiums bezeichne. Das schließt nicht aus, dass es zwischen beiden Ordnungen Übergangsformen oder Hybridbildungen gibt, und es schließt auf jeden Fall ein, dass man innerhalb beider Modelle von einer gewissen Varianz ausgehen muss, um deren historisch unterschiedliche Ausprägungen erfassen zu können. So gibt es Steppenimperien und Seeimperien; Imperien, die vor allem durch die militärische Überlegenheit des Zentrums zusammengehalten werden, und solche, die durch wirtschaftliche Verflechtung bis in die äußeren Ränder hinein integriert sind; Imperien, die ihre Randgebiete nur ausbeuten, und solche, die in sie investieren; Imperien, die administrativ stark zentralisiert sind, und solche, die mehrere Subzentren mit großer Selbständigkeit besitzen.32 In all diesen unterschiedlichen Weltreichsbildungen zeigt sich freilich durchgängig ein imperiales Ordnungsmodell, das durch den Unterschied von Zentrum und Peripherie strukturiert ist und in dem Integrationsdichte und Partizipationschancen in vom Zentrum zur Peripherie hin strukturierten Kreisen und Ellipsen abnehmen. Dem steht das Staaten- bzw. Poleismodell gegenüber, das polyzentrisch-plurivers strukturiert ist, also kein Zentrum und eigentlich auch keine Peripherie kennt. Die polyzentrischpluriverse Ordnung kann anarchisch sein, wie dies die realistische Schule der Internationalen Politik annimmt, sie kann in ihrer dynamischen Interessenkonkurrenz aber auch durch gemeinsame Werte und Normen sowie vertragliche Vereinbarungen domestiziert sein, wie dies vom Konstruktivismus und vom Neoinstitutionalismus herausgestellt wird. Nicht selten lässt sich beides, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, gleichzeitig beobachten. Die Ordnung der Staaten und die des Imperiums sollten nachfolgend anhand von acht Merkmalen gegeneinander konturiert werden. Diese modelltheoretische Kontrastierung ist zunächst transhistorischer Art, kann aber immer wieder anhand historisch-konkreter Fälle exemplifiziert werden. 1. Imperien gibt es ihrem Selbstverständnis nach nur im Singular, während Staaten immer im Plural vorkommen. Imperien dominieren ihre Welt, während Staaten diese Welt untereinander aufteilen. Von großer Be-

32 Dazu ausführlich Münkler, Imperien, S. 79ff.

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deutung ist dabei der Weltbegriff, der nicht eo ipso global zu fassen ist, sondern von geographischen Kenntnissen, wirtschaftlichem Austausch und technologischen Fähigkeiten abhängt. Die imperiale Welt ist die längste Zeit nicht global gewesen. Mit der Zeit sind die „Welten“, die von Imperien zu ordnen oder in Staaten aufzuteilen sind, immer größer geworden. Rom hat seine „Welt“ dominiert, aber weil diese „Welt“ nicht global, sondern auf einen Großraum beschränkt war, konnte es gleichzeitig mit dem chinesischen Weltreich bestehen, ohne dass beide Reiche gegeneinander in einen Entscheidungskampf um ihre Singularität eintreten mussten. Sie haben sich gegenseitig nicht einmal zur Kenntnis genommen.33 Das war im OstWest-Gegensatz nicht der Fall: Die USA und die Sowjetunion schlossen sich von ihren Prinzipien her aus, und wenn sie auch keinen direkten Krieg gegeneinander führten, so war für ihr Selbstverständnis doch entscheidend, dass das je konkurrierende Imperium irgendwann kollabieren und das eigene danach allein dominieren werde. Die friedliche Koexistenz war ein modus vivendi, der durch die beiderseitige Verfügung über Atombomben erzwungen war. 2. Staaten haben klare und scharf markierte Grenzen, während Imperien Grenzräume haben, an denen sie sich in der Weite des Raumes verlieren. Zwischenstaatliche Grenzen haben entsprechend den Reziprozitätsprinzipen der Staatenwelt für beide Seiten gleiche Verbindlichkeit und müssen in gleicher Weise respektiert werden, während imperiale Grenzen semipermeabel sind: Für das Imperium spielen sie, wenn es in den außerimperialen Raum eingreift, so gut wie keine Rolle, während diejenigen, die diese Grenzen in umgekehrter Richtung überschreiten wollen, sich der ganzen Aufmerksamkeit eines hochwirksamen Grenzregimes unterwerfen müssen. Staaten, zumal die Nationalstaaten europäischen Zuschnitts, haben eine systematische Grenzbündelung betrieben, indem sie politische und wirtschaftliche, sprachliche und kulturelle Grenzen zusammengefasst haben; Imperien dagegen setzen auch die Diversifizierung von Grenzen. Der Grad an innerer Homogenität, aber auch das Erfordernis einer inneren Homogenisierung sind in Imperien demgemäß deutlich niedriger als in Staaten. 3. Die Staatenwelt ist nach den Grundsätzen der Symmetrie organisiert, und weil die Staaten tendenziell gleichartig sind, sind die zwischenstaatlichen Beziehungen reziproker Art sein. Die Staatenwelt beruht auf dem

33 Im Anschluss an Ernst Kapp (Kapp, Vergleichende Allgemeine Erdkunde) kann man zwischen potamischen, thalassischen und ozeanischen Imperiumsbildungen unterscheiden.

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Prinzip gegenseitiger Anerkennung als Gleiche: Durch diese Anerkennung wird der Staat zum Staat. Deswegen kann es im strikten Sinn auch keinen Weltstaat geben, denn der hätte keinen Gegenüber mehr, der ihn anerkennen könnte. Dagegen ist ein globales Imperium sehr wohl denkbar. Die Beziehung des Imperiums zu seiner Umwelt ist nämlich nach dem Grundsatz der Asymmetrie strukturiert. Von Reziprozität zwischen den Akteuren kann im Falle eines Imperiums keine Rede sein, was – in unserer Zeit – wiederum Folgen für die Perzeption internationaler Organisationen und Vereinbarungen durch die Politiker an der Spitze des Imperiums hat. Internationale Organisationen sind für sie Instrumente zur Durchsetzung der vom Imperium verkörperten Werte und Normen. Wo sie sich dem verweigern, kommt es zwangsläufig zum Konflikt. 4. Staaten integrieren ihre Bevölkerung, jedenfalls ihre Staatsbürger, tendenziell gleich; keiner hat geringere Partizipationsmöglichkeiten, weil er in größerer Entfernung vom politischen Zentrum lebt. Imperien dagegen integrieren den politischen Raum in Abstufungen: dichter und stärker im Zentrum, sich immer weiter abschwächend zu den Rändern hin. Im Falle der europäischen Kolonialimperien lässt sich diese unterschiedliche Form der Zugestehung bzw. Verweigerung von Rechten am deutlichsten aufzeigen: Während es in den Zentren seit dem 18. Jahrhundert zur Konstitutionalisierung, Parlamentarisierung und schließlich Demokratisierung der politischen Ordnung kam, konnte in den äußeren Teilen der Imperien davon nicht die Rede sein. In einigen Fällen, insbesondere in den europäischen Siedlungskolonien, hat der Anspruch auf gleiche Teilhabe an den Rechten der Bevölkerung im Zentrum zu Aufstands- und Abfallbewegungen geführt: Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ist dafür ein Beispiel. Dagegen ist die Geschichte der römischen Kaiserzeit durch die schrittweise Ausdehnung des zunächst allein der Zentrumsbevölkerung vorbehaltenen Bürgerrechts auf Italien und schließlich auf die Provinzen gekennzeichnet. 5. Die politische Welt der Staaten zeichnet sich, jedenfalls in Europa nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, durch die Neutralisierung religiöser Energien im politischen Prozess aus, während Imperien für sich „heilsgeschichtliche“ Bedeutsamkeit reklamieren. Imperien sind fast immer sakral aufgeladen, sie haben eine Mission. Die kann in der Ausbreitung des christlichen Glaubens bestehen, wie im Falle der Spanier, in der Verbreitung von Fortschritt und Zivilisation, wie bei den Briten im 19. Jahrhundert, oder aber in der Durchsetzung von Menschenrechten, Marktwirtschaft und Demokratie, wie dies gegenwärtig bei den USA der Fall ist

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– jedenfalls in legitimatorischer Hinsicht.34 In der Mission wird die weltgeschichtliche Bedeutsamkeit eines Imperiums zum Ausdruck gebracht, sein Anspruch auf Singularität und nichtreziproke Beziehungen. Die Mission ist die zentrale Legitimitätsressource des Imperiums. Die Ordnung der Staaten ist wesentlich raumbezogen, während imperiale Ordnungen durch ihre „heilsgeschichtliche“ Aufladung einen starken Zeitbezug aufweisen. Charakteristisch hierfür ist Vergils Bezeichnung Roms als „imperium sine fine“, ein Reich ohne zeitliches Ende. Damit ist vor allem gesagt, dass das Ende eines Imperiums einem „Weltuntergang“ in dem von ihm georderten Bereich gleichkommt. Darin steckt die herrschaftsideologische Vorstellung, dass die Bevölkerung des imperialen Raums im Falle des Zusammenbruchs der imperialen Ordnung mehr zu verlieren als zu gewinnen hat. Unbestreitbar ist indes in jedem Fall, dass der Zusammenbruch von Imperien Zentren und Peripherien verschoben und damit zum Ende von „Welt“-Ordnungen geführt hat. Vor allem ist mit dem Zusammenbruch von Imperien die Entstehung postimperialer Räume verbunden, in denen Kriege und Bürgerkriege endemisch sind.35 6. In ganz anderer Weise als Staaten verfügen Imperien über die Rhythmen der Zeit; sie definieren deren Ligaturen und Interpunktionen. In imperialen Räumen ist auch die Zeit imperial rhythmisiert. Das ist so in der polyzentrisch-pluriversen Staatenwelt unmöglich, wo Zeitrhythmen durch die Konkurrenz der Staaten bestimmt werden. Es ist dieser Mechanismus der Staatenkonkurrenz, der eine ähnliche Kontrolle der Zeitrhythmen wie im imperialen Raum unmöglich macht. Das korrespondiert dem, was zuvor über den differenten Raumbezug von Imperien und Staatenordnungen gesagt wurde. 7. Nur in der Staatenwelt gibt es eine völkerrechtlich fixierte Neutralitätsoption: Im Konflikt zweier Staaten bzw. Staatenbündnisse können Dritte in der Position politisch-militärischer Äquidistanz verbleiben. Vergleichbares kennen imperiale Ordnungen nicht. Neutralität wird hier allenfalls aus politischen Opportunitätserwägungen des imperialen Zentrums zugestanden, aber dieses Zugeständnis kann jederzeit zurückgenommen werden. Die Distanz imperialer Ordnungen gegenüber der Idee der Neutralität ist nicht zuletzt eine Folge der imperialen Mission, die eine indifferente Zurückhaltung gegenüber ihren Ansprüchen als verdeckte Feinderklärung wahrnimmt. Es kommt darum nicht von ungefähr, dass die völkerrechtli-

34 Dazu Junker, Power and Mission. 35 Dazu ausführlich Münkler, Die neuen Kriege.

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che Fixierung von Neutralität erst im europäischen Staatensystem erfolgt ist. 8. Im Kriegsrecht der Staatenwelt spielt die Figur des iustus hostis, des rechtmäßigen Feindes eine zentrale Rolle. Sie ist die kriegsrechtliche Konkretion der symmetrisch-reziproken Beziehungen von Staaten untereinander. Imperiale Ordnungen dagegen tun sich mit der Rechtsfigur des iustus hostis schwer,36 würde ihre Anerkennung doch darauf hinauslaufen, dass es neben dem Imperium ein politisches Gebilde von gleicher Legitimität gäbe. Imperiales Kriegsrecht ist dagegen durch die Denkfigur des bellum iustum bestimmt, die Idee des gerechten Krieges, in deren Folge es zu einer Verpolizeilichung der Kriegsvorstellungen kommt. Das imperiale Zentrum begreift seine Streitkräfte als eine Art constabulary force des imperialen Raums. Wer dem imperialen Raum angehört, kann gegenüber dieser constabulary force für sich keine Neutralität reklamieren.37 IV. Die Governance-Leistungen von Imperien Für die Evaluierung der Governance-Leistungen von Imperien ist der Begriff der „augusteischen Schwelle“ entscheidend, der sich in den Arbeiten von Michael Doyle findet und von Herfried Münkler weiter ausgefaltet worden ist. 38 Gemeint ist damit der Übergang einer imperialen Macht von einer wesentlich exploitiven zu einer investiven Beziehung gegenüber den äußeren Teilen des Reichs. Steppenimperien, wie etwa das der Hunnen oder vor allem das der Mongolen, aber auch reine Handelsimperien, wie das der Portugiesen oder anschließend der Holländer im Indischen Ozean, sind von ihren Fähigkeiten und Ressourcen her nicht in der Lage, diese Schwelle zu überschreiten. Steppenimperien betreiben eine gewaltsame Mehrproduktabschöpfung an den Rändern und der Peripherie; ein anderer Beherrschungsmodus kommt für sie schon darum nicht in Frage, weil sie ihrer Umgebung nur an militärischer Macht, nicht jedoch an wirtschaftlicher Potenz oder kultureller Attraktivität bzw. zivilisatorischer Ent-

36 Zur Ablösung des bellum iustum durch den iustus hostis in der europäischen Völkerrechtsgeschichte vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 240ff. 37 Zur Debatte um die Verpolizeilichung des Militärs und die damit verbundene Folge, dass die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden aufgelöst würde, vgl. Janowitz, The Professional Soldier, S. 419ff. 38 Doyle, Empires, S. 93-97; Münkler, Imperien, S. 105ff.; zum Rom-Bezug in der Selbstverständigung und Legitimation des britischen und des US-amerikanischen Imperiums vgl. Hausteiner, Greater than Rome, und Huhnholz, Krisenimperialität.

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wicklung überlegen sind. Sie beuten ihre Ränder und Peripherien aus, um die imperiale Aristokratie des Zentrums und ihren militärischen Apparat zu alimentieren. Etwas anders stellt sich dies im Falle von Handelsimperien dar, die den Handel mit bestimmten Produkten in begrenzten Räumen unter ihre Kontrolle bringen, um Monopolpreise erzielen zu können. Sie sind an dem von ihnen handelstechnisch kontrollierten Raum jedoch nur in dem Maße interessiert, wie sie das Eindringen von Konkurrenten verhindern bzw. diese mit entsprechenden Abgaben und Lizenzgebühren belasten. Die große Debatte, die zwischen John Selden und Hugo Grotius über die Frage mare liberum oder mare clausum geführt wurde, hat sich um die völkerrechtliche Absicherung solcher Handelsimperien bzw. deren Aufbrechen gedreht.39 Aber selbst Großreiche, die nicht die „augusteische Schwelle“ überschritten haben, haben Leistungen erbracht, die im weiteren Sinn der Governance zugerechnet werden können. So war die pax mongolica, die im Gefolge der mongolischen Expansion in Zentralasien entstand, die Voraussetzung dafür, dass die Seidenstraße zum Verbindungsglied zwischen China und Europa wurde – mit der Folge eines wachsenden Austauschs zwischen Ost und West. In ähnlicher Weise haben auch das portugiesische und das niederländische seaborn empire zu einem wachsenden Austausch zwischen Asien und Europa mit einem zunächst deutlichen Handelsbilanzüberschuss des Ostens geführt. Rechnet man noch das spanische Reich und den von ihm in Gang gesetzten Zufluss lateinamerikanischen Silbers und Goldes nach Europa dazu, der im Übrigen die Voraussetzung dafür war, dass die Europäer trotz ihres notorischen Handelsbilanzdefizits gegenüber Asien zahlungsfähig blieben, so entstand dadurch die erste Weltwirtschaft mit entsprechenden Folgen für die regionalen Wirtschaften.40 Während sich die Ordnung des spanischen Reichs durch eine stärkere Ausbildung administrativer Strukturen auszeichnete, waren die Portugiesen und insbesondere die Niederländer darum bemüht, die Verwaltungskosten ihrer Handelsreiche so gering wie möglich zu halten: Sie verzichteten demgemäß auf eine administrative Überformung der Räume, beschränkten die Herrschaftsausübung auf die Küstenlinien (und auch hierbei nur auf einige Knotenpunkte des Handels) und konzentrierten sich auf die Beherrschung der See. Das war ihnen aufgrund der nautischen Überle-

39 Vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 300ff. 40 Zur Bedeutung des Silberzuflusses aus Lateinamerika vgl. Cipolla, Die Odyssee des spanischen Silbers, S. 105ff., zur ersten Weltwirtschaft vgl. Braudel, Aufbruch zur Weltwirtschaft.

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genheit ihrer Schiffe im Vergleich zu denen der Chinesen und Araber leicht möglich, zumal in Folge der metallurgischen Fortschritte Europas ihre Schiffsgeschütze bei einer direkten Konfrontation sicherstellten, dass auch kleinere portugiesische und danach niederländische Geschwader arabischen oder indischen Widersachern deutlich überlegen waren. Die Governance-Leistung der beiden seaborn empires bestand also ebenso wie die des Mongolenreichs in der Ermöglichung wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs zwischen Europa und Süd- bzw. Südostasien, den es zuvor in vergleichbarer Form nicht gegeben hatte. Neben der Herstellung relativ sicherer Handelswege gehört dazu die Senkung der Transportkosten durch die Eröffnung neuer Land- und Seerouten und die Erhöhung der Transportvolumina. Dabei haben die Imperien diesen Handel teilweise reguliert und kontrolliert, nicht selten haben sie ihn aber auch bloß ermöglicht und, wie insbesondere die Niederländer, der Initiative von Kaufleuten und Handelskompanien überlassen. Durchweg haben sie auf die Ausbildung von Government verzichtet. Zurück zur „augusteischen Schwelle“: Was hat Octavian bzw. Augustus geleistet, das uns, überhaupt von einer „augusteischen Schwelle“ in der römischen Imperialgeschichte sprechen lässt? Er überführte das prokonsularische Ausbeutungsregime in den Provinzen in eine geordnete Administration, bei der die Provinzen zwar nach wie vor ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung des Imperiums und zur Alimentierung des Zentrums zu leisten hatten, aber von der römischen Aristokratie nicht länger zügellos ausgeplündert wurden. Weiterhin reduzierte er die Zahl der Legionen auf etwa ein Drittel der vormaligen Stärke und senkte so die Beherrschungskosten des imperialen Raumes: Es musste weniger Mehrprodukt abgeschöpft werden, um den Sicherheitsapparat zu finanzieren, und in dementsprechend höherem Maße kamen die Bürger in den Genuss von Frieden und Sicherheit innerhalb des imperialen Raumes. Außerdem sorgte er durch die Zurückdrängung der Piraterie im Mittelmeer dafür, dass die Preise für Brot und andere Nahrungsmittel in Rom deutlich sanken. Insgesamt stellte Octavian/Augustus den Integrationsmodus des Imperiums von militärischer Kontrolle auf zivilisatorisch-kulturelle Attraktivität um: Das begann beim Ausbau Roms zu einer Metropole mit Ausstrahlung auf das gesamte Reichsgebiet, zu einer Stadt, in der gewesen zu sein und von der berichten zu können für jeden Besucher prestigesteigernd war, und reichte bis zur Herausbildung einer Reichsideologie im Dichterkreis um Maecenas, in der vor allem der Frieden als die große imperiale Aufgabe und Leistung gefei-

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ert wurde.41 In der Begrifflichkeit Joseph Nyes könnte man sagen, das Überschreiten der „augusteischen Schwelle“ sei gleichbedeutend mit einer Umstellung der zentralen imperialen Herrschaftsressource von hard power auf soft power.42 Diese Umstellung läuft darauf hinaus, dass die imperiale Macht nicht mehr nur Mehrprodukt abschöpft, um den Lebensstandard einer imperialen Aristokratie zu finanzieren, sondern auch kollektive Güter bereitstellt, die in dieser Form nur von ihr bereitgestellt werden können. Hier ist dann auch ein unmittelbarer Leistungsvergleich zwischen den Governance-Leistungen einer imperialen und einer polyzentrisch-pluriversen Welt möglich, und wenn die überwiegende Mehrheit der innerhalb des imperialen Raumes lebenden Menschen davon überzeugt ist, dass die imperiale Ordnung öffentlicher Güter, wie Frieden, Sicherheit, Recht usw., in höherem Maße und zuverlässiger bereitstellt als eine polyzentrisch-pluriverse Welt, so wird sie die imperiale Ordnung unterstützen. In der Folge kann die imperiale Ordnung ihre Gewaltandrohung nach innen zurücknehmen und sich zunehmend zivilisieren. Man wird sich dies als eine sich selbst verstärkende Entwicklung vorzustellen haben, gleichsam als eine Spirale, in der die Mehrung der öffentlichen Güter das Erfordernis von Zwang reduziert, und der abnehmende Zwang die Möglichkeit zur Mehrung und Verbreitung öffentlichen Güter erhöht.43 Das alles findet freilich erst nach dem Überschreiten der „augusteischen Schwelle“ statt. Beim Zerfall von Imperien kommt es zu einem umgekehrten Prozess: Der Zentrumsbevölkerung wird die Bereitstellung öffentlicher Güter mit der Zeit zu lästig und zu teuer, zumal sich die Anzahl der Trittbrettfahrer, die von der Mitnutzung nicht ausgeschlossen werden kann, ständig erhöht. Die spezifischen Governance-Leistungen von Imperien lassen sich in vier Punkten zusammenfassen: 1. Herstellung und Sicherung eines dauerhaften, großräumlichen Friedens, was dann seinen Niederschlag imperialen Eponymen für lange Friedensepochen findet. So sprechen wir von der pax romana, der pax britannica, der pax americana, auch von der pax sovietica, deren Ende im kaukasischen Raum von einiger Relevanz gewesen ist. Die Leistung des Imperiums besteht also darin, die permanente Konflikthaftigkeit einer polyzentri-

41 Dazu Heuss, Römische Geschichte, S. 272ff. 42 Nye, Das Paradox der amerikanischen Macht, S. 254f. 43 Vgl. dazu auch die von Heinrich Triepel angestellten Überlegungen zum „Gesetz der abnehmenden Gewalt“; Triepel, Die Hegemonie, S. 283f.

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schen Ordnung zu beseitigen, die das Thema von Realismus bzw. Neorealismus als Theorieschulen der internationalen Politik ist.44 Nun hat der Neoinstitutionalismus in jüngster Zeit zu zeigen versucht, dass die notorische Anarchie der Staatenwelt auch anders als durch die Errichtung einer imperialen Ordnung gebändigt werden kann, etwa durch gemeinsame Werte und Normen oder durch den Aufbau eines institutionellen Gerüsts, das die Ordnung der Staaten umspannt und überwölbt. Das in diesem Zusammenhang immer wieder herausgestellte Beispiel ist die Entwicklung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei lässt sich freilich fragen, was auf diesem Weg die Europäer aus eigener Kraft geschafft und wo sie sich auf die Leistungen der imperialen Ordnungsmacht USA als Organisator und „Hüters“ des „Westens“ gestützt haben. Was aber auch bleibt, wenn man die europäische Entwicklung ohne US-amerikanische Hilfe erklärt, ist das Problem der Peripherie, wo die gemeinsamen Werte und Normen der europäischen Ordnung nicht gelten oder gar offen bestritten werden und wo auch deren institutionelle Regelungen nicht greifen. Europa hat diese Erfahrung in den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre auf dem Balkan machen müssen und macht sie zurzeit im Nahen Osten und an der gegenüberliegenden Mittelmeerküste. Diese Peripherie hat in der politischen Welt unserer Gegenwart einen Namen, und der heißt prekäre Staatlichkeit bzw. Staatszerfall. Robert Cooper hat deswegen vorgeschlagen, von einem Nebeneinander prämoderner, moderner und postmoderner Politikwelten zu sprechen,45 wobei die nichtimperiale Selbstdomestikation der Staatenwelt allein im postmodernen Raum zu beobachten ist. Das Problem besteht freilich darin, dass diese Räume nicht voneinander apart sind, sondern ineinandergreifen: Akteure der modernen und postmodernen Welt greifen nicht nur in Form wirtschaftlichen Austauschs, sondern auch durch humanitäre (militärische) Interventionen in die prämoderne Welt ein, und in den Räumen dieser prämodernen Welt haben sich Formen eines transnationalen Terrorismus entwickelt, der seinerseits die moderne und postmoderne Welt attackiert. Die Konflikte und Strategien, mit denen wir es hier zu tun haben, sind wesentlich asymmetrischer Art, und damit kommt das Imperium nicht nur als selbst asymmetrischer Akteur, sondern auch als Administrator von Asymmetrie wieder ins Spiel. Die gegenwärtige Weltordnung lässt sich dahingehend beschreiben, dass sich eine imperiale Superstruktur über die Ordnung der Staaten gelegt hat,

44 Vgl. Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, S. 29-54. 45 Cooper, The Breaking of Nations, S. 16ff., 54ff.

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die die Staatenordnung im Zaum hält, den Ausbruch von Hegemonialkriegen verhindert und sie gegen Einbrüche aus den Räumen prekärer Staatlichkeit sichert. Eine der wichtigsten Leistungen imperialer Superstrukturen ist die Verhinderung nuklearer Rüstungswettläufe: Dafür sorgt weniger die Unterzeichnung von Atomwaffensperrverträgen als viel mehr die Vergabe von Sicherheitsgarantien, bei denen ganze Regionen unter den nuklearen Schutzschirm einer imperialen Macht genommen werden, um sie gegen die Drohungen regionaler Hegemonialmächte zu sichern und gleichzeitig vom Aufbau eigener Nuklearbewaffnung abzuhalten. So wird die Asymmetrie festgeschrieben, weil die Folgen einer Resymmetrierung selbstzerstörerisch sind. Was wir gegenwärtig im Nahen und im Fernen Osten beobachten, ist das Gegenteil des hier als imperiale Ordnung Beschriebenen: der partielle Rückzug der USA bzw. der Verlust ihrer früheren Dominanz führt zu Hegemonialkriegen im Nahen und zu forcierter Aufrüstung im Fernen Osten. Letzteres hat mit der neuerlichen Relevanz des Sicherheitsdilemmas zu tun, das in einer imperialen Ordnung außer Kraft gesetzt wird. 2. Eine weitere Governance-Leistung imperialer Ordnungen ist die Herstellung einer Rechtsordnung und der auf ihr begründeten Rechtssicherheit innerhalb von Großräumen. Rechtssicherheit erhöht die Planbarkeit von Entwicklungen und die Erwartbarkeit von Entscheidungen. Sie ist die Voraussetzung für gesteigerte Wirtschaftstätigkeit und begünstigt dadurch die Entstehung imperialer Wohlstandszonen. Die großräumlich hergestellte Rechtssicherheit erhöht die Austauschhäufigkeit und -geschwindigkeit innerhalb des gesamten imperialen Raumes und senkt gleichzeitig die Transaktionskosten. Die Folge dessen ist, dass sich der imperiale Raum von seiner Umwelt durch eine erhöhte Prosperität abhebt. Das hat bereits die imperialen Ordnungen des Vorderen Orients ausgezeichnet und seinen vorläufigen Abschluss im Römischen Reich gefunden. Dabei ist freilich zuzugestehen, dass die Sicherung des Rechts im Zentrum imperialer Ordnungen vorwiegend auf governement beruht. Aber je weiter man sich vom Zentrum entfernt und in die Randbereiche des imperial geordneten Raumes kommt, um schließlich bis in dessen Peripherie zu gelangen, desto stärker wird die Ordnungsleistung in Form von governance erbracht. Das Recht des imperialen Zentrums hat hier keine staatlich abgesicherte Geltung mehr; es strahlt jedoch aus und ermöglicht die Klärung von Streitfragen, insbesondere im wirtschaftlichen Austausch. Die Welthandelsordnung, aber auch die Regularien der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds – allesamt Institutionen, die wesentlich durch die USA gestützt werde –, haben in einer globalen Weltordnung heute (noch) diese Funktion. 92

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3. Die durch Frieden und Rechtssicherheit ermöglichte Zunahme der wirtschaftlichen Verflechtung innerhalb des imperialen Raumes und die Verdichtung der Informations- und Kommunikationsbeziehungen führen zu gesteigertem Wohlstand innerhalb dieses Raumes. In der Regel wird diese Prosperität durch die technologischen Fähigkeiten des Zentrums gestützt, die schrittweise innerhalb des imperialen Raumes verbreitet und angewandt werden. Das gilt für den römischen Straßenbau, durch den breite und gerade, mit Wagen befahrbare Straßen an die Stelle der in Serpentinen verlaufenden und nur mit Lasttieren benutzbaren Handelswege traten,46 es gilt aber ebenso für die Entwicklung der Internetkommunikation in unseren Tagen, die von den USA, speziell von Kalifornien, ihren Ausgang genommen hat. Die Kontrolle und Sicherheit des Internets ist eine Aufgabe im besonderen Zuständigkeitsbereich des Imperiums. 4. Imperien haben aufgrund ihrer Struktur eine höhere Fähigkeit als Staaten, territorienübergreifende Ströme, etwa Ströme von Kapital, Informationen und Dienstleistungen, zu lenken und zu kontrollieren und mit nichtterritorialen Akteuren umzugehen. Staaten verregeln gesellschaftliche Akteure hingegen territoriumsbezogen. So lange die soziale und politische Welt territorial fixiert war, war dies hinreichend. Die technologische Revolution aber hat zu einer Entterritorialisierung der Vergesellschaftungsformen geführt, und transnationale Politikakteure, von NGOs bis Terrornetzwerken, sind entstanden.47 Im Hinblick darauf besitzen Imperien eine größere Flexibilität als Staaten. Was wir über mehrere Jahrzehnte beobachtet haben, war ein Sog zum imperialen Ordnungsmodell. Das hat sich in den letzten Jahren geändert: Es gibt eine politische Tendenz zur Rückkehr in kleinräumigere Ordnungen, die mit der Wiederkehr des Nationalstaates koinzidiert. Damit ist das Ende der amerikanischen Weltordnung eingeleitet worden. V. Die Kosten imperialer Governance-Leistungen Man kann die Governance-Leistungen von Imperium und Staatenwelt freilich auch hinsichtlich ihrer Kosten, und zwar der Gestehungs- wie der Unterhaltskosten, miteinander vergleichen. Dazu würde etwa die Kontrastierung des imperialen Friedens und des Staatenbundfriedens gehören, also die Gegenüberstellung von Dante bzw. Campanella mit Kant, und zwar so-

46 Vgl. Potter, Das römische Italien, S. 162ff. 47 Dazu Behr, Entterritoriale Politik, S. 179ff.

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wohl im Hinblick auf die normativen Implikationen als auch auf die Implementierungschancen und Scheiternsrisiken.48 Zunächst ist da das für alle imperialen Ordnungen elementare Zentrum-Peripherie-Gefälle: Der mit ihm verbundene Flexibilitätsgewinn hat erhebliche normative Kosten, stellt er doch eine massive Beschädigung des universalen Gerechtigkeitsempfindens dar. Imperiale Ordnungen arbeiten notorisch mit unterschiedlichen Standards, und auch wenn sie deren Angleichung auf längere Sicht in Aussicht stellen, so ist doch erkennbar, dass sie dies gemäß der ihnen eigenen Funktionsprinzipien gar nicht können. Ein Ausdruck dieser unterschiedlichen Standards ist die politische Privilegierung der im Zentrum lebenden Bevölkerung: Die Zentrumsbürger haben einen erheblich größeren Einfluss auf weltpolitisch relevante Entscheidungen als die Bevölkerung der äußeren Teile und Ränder des imperialen Raumes: Wer den amerikanischen Präsidenten wählt, hat weltpolitisch mehr Macht als etwa die Wähler des Europaparlaments. Demgemäß gibt es in Europa eine notorische Unzufriedenheit mit der Politik der USA, durch die man sich überspielt und an die Wand gedrückt fühlt. Umgekehrt haben die Bürger im Zentrum einer imperialen Ordnung aber auch höhere Kosten und Lasten für deren Aufrechterhaltung zu tragen. Imperiale Ordnungen kollabieren, wenn sie dazu nicht mehr bereit sind. Ein weiterer Kostenfaktor sind die zentrifugalen Tendenzen, die mit imperialen Ordnungen grundsätzlich verbunden sind, sich aber nicht immer in gleicher Weise äußern. Einige Imperien haben der Zentrifugalität durch Reichsteilung Herr zu werden versucht, doch haben Teilungen des imperialen Gesamtraums häufig zu Reichszerfall geführt und damit die Gefahr des Auseinanderbrechens eher gesteigert als gebannt. Das spätkaiserzeitliche Rom, das Mongolenreich und wohl auch das spanische Weltreich sind Beispiele dafür. Genauso wenig ist eine intensivierte Zentralisierung geeignet, der zentrifugalen Tendenzen Herr zu werden, die ein steter Begleiter der politisch-wirtschaftlichen Integration von Großräumen sind. Sie sind als permanenter Kostenfaktor in Rechnung zu stellen. Es ist die zentrale Herausforderung der imperialen Ordnung, das für sie typische ZentrumsPeripherie-Gefälle so auszutarieren, dass seine politischen Kosten beherrschbar bleiben. Ein zusätzlicher Kostenfaktor ist der auf imperialen Ordnungen lastende Zwang, für die Nichtproliferation militärischer Spitzentechnologie Sorge zu tragen bzw. sie durch aktive Counterproliferation wieder rückgängig zu machen. Diese Sorge um die Nichtproliferation, die im Zeitalter von

48 Dazu ausführlich Münkler, Der Wandel des Krieges, S. 112-136.

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Nuklearwaffen dramatisch geworden ist, sich im Prinzip aber bis in die alten Imperien zurückverfolgen lässt, resultiert aus dem Zwang zur Asymmetrie, der imperialen Ordnungen inhärent ist. Proliferation von Spitzentechnologie gefährdet asymmetrische Überlegenheit und ist insofern eine lebensbedrohliche Herausforderung des Imperiums. Die Folge dessen ist ein permanenter politischer und militärischer Druck des imperialen Zentrums auf die Peripherie, einen deutlichen technologischen Abstand zu akzeptieren, vor allem dann, wenn dies Technologien auch militärisch nutzbar sind. Damit aber wird eine Form des strategischen Gegenhandelns antiimperialer Akteure provoziert, die gegen die asymmetrische Überlegenheit der imperialen Macht die systematische Asymmetrierung aus Schwäche stellt, bei der es darum geht, auf der Basis einer gesteigerten Opferbereitschaft der Bevölkerung an der imperialen Peripherie die technologische und organisatorische Überlegenheit der imperialen Streitkräfte zu kompensieren und diese in einen Abnutzungskrieg zu verwickeln, in dem sie sich mit der Zeit erschöpfen und verbrauchen.49 Dabei ist der strategische Zweck des Krieges das Zurücktreiben des Imperiums über die „augusteische Schwelle“, die Konversion von soft power in hard power, kurzum: die dauerhafte Erhöhung der Beherrschungskosten des imperialen Raumes mit dem Ziel, die vom Imperium hergestellte Ordnung und die in ihr enthaltenen Governance-Leistungen unbezahlbar zu machen. An diesem Punkt treffen die angestellten modelltheoretischen Überlegungen auf die politische Realität unserer Gegenwart. Literatur Alighieri, Dante: Monarchia. Übers. u. erklärt m. e. Einl. v. Constantin Sauter, Aalen: Scientia-Verlag 1974. Anderson, Perry: Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs, Berlin: Suhrkamp 2018. Bacevich, Andrew J.: American Empire. The Realities and Consequences of U.S. Diplomacy, Cambridge: Harvard UP 2002. Barber, Benjamin: Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt, München: C.H. Beck 2003. Behr, Hartmut: Entterritoriale Politik. Von den Internationalen Beziehungen zur Netzwerkanalyse, Wiesbaden: Springer VS 2004.

49 Vgl. Münkler, Der Wandel des Krieges, S. 137ff.

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Europa als postsouveräner Raum. Über Imperialität, Großraumkonzepte und postsouveräne Herrschaft Ulrike Jureit1

Der Historiker Wolfgang Reinhard sieht Europa vor allem durch seine Expansivität geprägt. Von Anfang an sei Europa mit dem Prozess der eigenen Ausdehnung identisch gewesen, nicht nur zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert, sondern bereits lange zuvor und bis in die Gegenwart.2 Dass Europa allerdings aufgrund eines fehlenden „klar umgrenzten geographischen, ethnischen oder politischen Substrats“3 gar nichts anderes übrig geblieben sei, als sich durch kontingente Expansionsprozesse zu formieren, darf wohl bezweifelt werden. Grundsätzlich stellt jedes politische Raumbild ein „reales Konstrukt mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten“4 dar, so wie sich territoriale Einheitskonzepte stets auf narrativ hergestellte und kulturell tradierte Vorstellungen der eigenen geographischen Herkunft beziehen. Gleichwohl ist Reinhards Expansionsthese bemerkenswert, denn dass ein Ende der europäischen Ausdehnung nicht abzusehen sei, unterstreicht er mit dem Hinweis, dass die Europäische Union „die Herausforderung Russlands 2014 ohne Bedenken in Kauf“ genommen habe.5 Mit diesem ebenso kühnen wie provokanten Gegenwartsbezug sieht einer der wohl sachkundigsten Experten des Kolonialismus die Europäische Union in einer langen Tradition europäischer Imperialität. Zwar gesteht Reinhard zu, dass Europa mittlerweile nicht mehr durch militärische Gewalt, sondern durch wirtschaftliche Attraktivität wachse, diese Unterscheidung veranlasst ihn aber nicht dazu, auch begrifflich zu differenzieren. Während in Reinhards Studie die territoriale Expansion europäischer Großreiche und weniger der Begriff Imperium im Zentrum seiner Global-

1 Ulrike Jureit, Dr. phil., Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Assoz. Mitglied am Hamburger Institut für Sozialforschung. URL: https:// www.his-online.de/personen/personen-detail/person/ulrike-jureit/. 2 Vgl. Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. 3 Ebd., S. 17. 4 Ebd. 5 Ebd.

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geschichte steht, öffnet sich die Forschung seit geraumer Zeit unter dem Label einer New Imperial History gegenüber kulturgeschichtlichen und poststrukturalistischen Forschungsansätzen, verortet sich damit zugleich in transnationalen, transepochalen und transdisziplinären Wissenschaftskontexten und verbindet diese ebenso großflächige wie manchmal auch beliebige Vielfalt der Perspektiven mit der Grundannahme, dass imperiale Geschichte „bis in die Gegenwart auf die europäischen Gesellschaften einen außerordentlich nachhaltigen Einfluss“ besitze.6 Ob sich eine in dieser Weise erweiterte Imperiumsforschung nicht mindestens ebenso intensiv dem außerordentlich nachhaltigen Einfluss des Kolonialismus auf die ehemaligen Kolonien wie auch deren vorkolonialer Geschichte widmen sollte, sei hier dahingestellt; als Gegengewicht zur klassischen Diplomatie-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte schaut sich die New Imperial History jedenfalls nach Belieben bei Homi Bhabha, Quentin Skinner oder auch Michel Foucault um, während sie ihr eigenes theoretisches Angebot bisher eher zurückhaltend systematisiert. Neben den üblichen kulturgeschichtlichen Erweiterungen, mit denen nun nicht nur native leaders und colonial identies in den Blick rücken, sondern auch Kategorien wie race, gender und agency mit großem Eifer inter- wie transimperial vermessen werden, liegt die spezifische Herausforderung eines imperial turn darüber hinaus ja darin, die Begrifflichkeiten mit den vorgenommenen zeitlichen wie räumlichen Neujustierungen in Einklang zu bringen. Oder um es anders zu formulieren: Will man Imperiengeschichte über das klassische Zeitalter des Kolonialismus hinaus betreiben, dann stellt sich unter anderem die Frage, wie sich ihr zentraler Gegenstand einer in diesem Sinne – wenn man denn unbedingt möchte – globalgeschichtlich erweiterten Imperial History begrifflich fassen lässt. Neben den im weitesten Sinne wirkungsgeschichtlichen Forschungsfragen, die sich in erster Linie den politischen, wirtschaftlichen wie auch kulturellen Folgen und Wechselwirkungen imperialer Ordnungen bis in die Gegenwart zuwenden, hat die zuweilen leidenschaftliche Debatte über die USA als nicht nur modernes, sondern auch demokratisches New Empire gezeigt,7 dass die begriffliche Kontinuität nur um den Preis einer gewissen kategorialen Unschärfe zu haben

6 Stuchtey, Zeitgeschichte und vergleichende Imperiengeschichte, S. 310. Zur New Imperial History hier nur der Hinweis auf Louis, The Oxford History of the British Empire; Stockwell, The British Empire; Magee/Thompson, Empire and Globalisation; Barth/Cvetkovski, Imperial Co-operation and Transfer. 7 Vgl. Hardt/Negri, Empire; Ferguson, Colossus; Münkler, Imperien; Biskamp, Dramaturgie demokratischer Imperien; Huhnholz, Krisenimperialität.

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ist ‒ die Kunst also eher darin besteht, diese Unschärfe produktiv zu nutzen statt sie zu kaschieren.8 Dass die Vereinigten Staaten als eine neue „Form imperialer Herrschaft“ im postimperialen Zeitalter beschrieben werden, verdeutlicht bereits, wie differenziert die politischen, ökonomischen und militärischen Gesichtspunkte einer solchen Definitionsanstrengung abgewogen sein wollen, während es ungeachtet der mittlerweile eingetretenen Unübersichtlichkeit und den signifikanten Unterschieden zu historischen Weltreichen sachkundigen Wissenschaftlern/innen offenbar trotzdem sinnvoll zu sein scheint, für die Zeit nach 1989 und vor allem nach 9/11 von einem American Empire zu sprechen.9 Entscheidend und analytisch interessant an dieser Debatte ist vor allem das strittige Verhältnis von Imperialität und Demokratie wie auch die Frage, ob es sich bei den vermeintlich neuen Imperien weniger um größenwahnsinnige Weltherrschaftsambitionen handelt als vielmehr um marktradikal-neoliberale Ausbeutungssysteme, die als mehr oder weniger legitimatorisches Hintergrund- und Begleitnarrativ einen liberaldemokratischen Missionierungsdrang mit sich führen.10 Globalisierter Kapitalismus ist dabei in Anlehnung an das von Hardt/Negri postulierte Empire zum Schlagwort geworden. Die normative Aufladung dieses Diskurses mit seinen längst überwunden geglaubten politischen Konfliktlinien erweist sich nicht nur dann als wenig förderlich, wenn es um die US-amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik geht, sondern auch bei dem Versuch, die europäische Integration in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsdynamik begrifflich zu fassen. Dass auch die Europäische Union ein neues Imperium im postimperialen Zeitalter darstellt, gehört schon seit geraumer Zeit zu den zentralen Argumentationsfiguren dezidierter EU-Kritiker. Brüssel kaschiere zwar seine Expansionsbestrebungen durch eine maximal popularisierte Demokratisierungs- und Rechtstaatlichkeitsrhetorik, habe aber spätestens mit der sogenannten Osterweiterung 2004/2007 erkennen lassen, dass es vor allem um die Ausweitung und Optimierung neoliberaler, für manche in erster Linie deutscher Wirtschafts- und Handelsinteressen gehe. Der Soziologe Ulrich

8 So verstehe ich den Ansatz von Biskamp, Dramaturgie demokratischer Imperien, wie auch den theoretischen Zugriff bei Huhnholz, Krisenimperialität. Zum politisch engagierten und weniger analytischen Diskurs vgl. Ignatieff, Empire lite. 9 Vgl. Bacevich, The Imperial Tense; Speck/Sznaider, Empire Amerika; Rilling, Risse im Empire; Randeria/Eckert, Vom Imperialismus zum Empire; Leitner, Imperium; Menzel, Die Ordnung der Welt. 10 Vgl. Biskamp, Dramaturgie demokratischer Imperien, S. 45ff.; Rilling, Risse im Empire, S. 47ff.

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Beck stieß bereits 2003 eine Debatte über die Pax Europeana an,11 2007 beschwor dann der Publizist Alan Posener die Europäische Union als das Imperium der Zukunft12 und auch der an der Universität Oxford lehrende Politologe Jan Zielonka meinte 2011 feststellen zu können, dass „die Grundlage der heutigen europäischen Ordnung […] ein Imperium“ sei, welches er allerdings irritierenderweise aus dem Mittelalter herleitet und somit abendländisch-kulturell verstanden wissen will.13 Ob nun demokratisches, kosmopolitisches oder postmodernes Imperium – in den 2000er Jahren war die Debatte über die Imperialität der EU voll entbrannt.14 Der damalige Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, ließ sich sogar in einer Pressekonferenz zur Verwunderung der anwesenden Journalisten dazu hinreißen, die EU als „nonimperial Empire“ zu charakterisieren.15 Welches politische Gewicht dabei Deutschland zukommt, steht seit der Schulden- und Finanzkrise 2008 immer wieder zur Diskussion, dabei wird allerdings eher auf hegemoniale Bestrebungen Deutschlands abgehoben als auf imperiale Herrschaftskonzepte der Europäischen Union rekurriert. Der britische Historiker Timothy Garton Ash sprach 2012 sogar davon, dass das „europäische Deutschland wegen der Krise in der Eurozone unwillentlich im Zentrum des deutschen Europa“ gelandet sei.16 Je nach kategorialer Ausrichtung wird die Europäische Union daher wegen ihrer ökonomischen Prosperität, aufgrund ihrer territorialen Ausdehnung wie auch hinsichtlich ihrer seit 2002 verfolgten Nachbarschaftspolitik als Empire Europa17 bezeichnet, während sie von anderen aufgrund nahezu identischer Zuschreibungen gerade nicht als imperial, sondern als postnationaler Raum, als Staatenbund oder aber als postmoderner Groß-

11 Vgl. Beck, Pax Americana, Pax Europeana; kurze Zeit später spricht Beck vom „kosmopolitischen Imperium“, vgl. ders./Grande, Das kosmopolitische Europa, S. 112; zuletzt spitzte Beck seine Sicht auf die hegemoniale Stellung Deutschlands nochmals zu Beck, Das deutsche Europa. Zu diesem Kontext vgl. auch Osterhammel, Europamodelle und imperiale Kontexte; Marks, Europe and its Empires; Beck/Grande, Politische Herrschaft jenseits von Bundesstaat und Staatenbund. 12 Vgl. Posener, Imperium der Zukunft. 13 Zielonka, Die EU als Imperium; dazu die Debatte mit Wolfgang Merkel in den Blättern für deutsche und internationale Politik ders.,/Merkel, Europa als Empire. Ausführlicher Zielonka, Europe as Empire. 14 Vgl. Hoffmann, Empire Europe? 15 Barroso, Pressekonferenz. 16 Garton Ash, Allein kriegen sie es nicht hin. 17 Zu diesem Begriff Beck/Grande, Politische Herrschaft jenseits von Bundesstaat und Staatenbund.

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raum charakterisiert wird. Hinsichtlich der politischen Form Europas scheint also weiterhin ein gewisser Klärungsbedarf zu bestehen, daher soll im Folgenden dieser Herausforderung in vier Schritten nachgegangen werden. Zunächst wird es um den Nutzen und Nachteil des Begriffs Imperialität im Sinne supranationaler Herrschaftspraxis gehen (I.), bevor es anschließend abzuwägen gilt, ob mit Imperialität auch der europäische Integrations- und Erweiterungsprozess zutreffend beschrieben werden kann (II.) oder ob alternative Ordnungskonzepte, vor allem solche, die sich an Großraum-Vorstellungen ausrichten, hierfür besser geeignet sind (III.). Dass sich mit diesen und anderen, historisch gewachsenen Ordnungsmodellen in einer globalisierten Welt allenfalls noch Teilaspekte supranationaler Gefüge beschreiben lassen, leitet zu dem Versuch über, postsouveräne Herrschaftssysteme wie die Europäische Union als Ordnungen sui generis zu denken (IV.), ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, dass der bei weitem ja nicht nur nicht abgeschlossene, sondern zunehmend in Frage gestellte Prozess der europäischen Integration sich gegenwärtig in seiner wohl schwersten Krise befindet. I. Imperialität. Ein Ordnungsmodell globaler Macht Im Dickicht der internationalen Imperiumsforschung ist die begriffliche Unterscheidung von Michael Doyle immer noch insofern hilfreich, weil er Imperialismus als einen machtpolitischen Prozess definiert, der darauf zielt, ein Imperium zu errichten, es zu stabilisieren oder zu erhalten, einschließlich dem potentiellen Bestreben, die eigene imperiale Herrschaft sei es territorial, ökonomisch oder kulturell weiter auszudehnen.18 Dementsprechend bezeichnet der Begriff Imperium die politische Ordnungseinheit an sich, während Imperialität als analytischer Begriff bisher weniger reflektiert wird und wenn überhaupt, dann oft synonym mit einer der beiden anderen Bezeichnungen Verwendung findet. So versteht der Soziologe Floris Biskamp in seiner Studie über demokratische Imperien unter Imperialität abstrakt „eine Eigenschaft oder einen Zustand“19 von Herrschaft, ohne diesem Gedanken konkret nachzugehen,

18 Vgl. Doyle, Empires. 19 Biskamp, Dramaturgie demokratischer Imperien, S. 22. Zum Zyklenmodell vgl. Münkler, Imperien, S. 105-126; zu dem eher weit gefassten Imperialismusbegriff Münklers vgl. auch ders., Imperium und Imperialismus.

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wenn er – weitgehend Münklers imperialem Zyklenmodell folgend – die Entwicklungslinien des American Empire kritisch nachzeichnet.20 Der Soziologe Rainer Rilling hingegen greift zunächst auf die von Antonio Gramsci begründete Herrschaftstheorie zurück, in der Imperialität vor allem als Gewaltordnung verstanden wird. Im Unterschied zu hegemonialen Strukturen, die auf Legitimation von Herrschaft durch Führung und Konsensbildung zielten, sei Imperialität stärker mit Fragen des Raumes, der Expansivität und der Grenzen von Herrschaft assoziiert.21 Den Gedanken, dass Imperialität dazu dienen könnte, einen spezifischen Modus von Herrschaft begrifflich zu bündeln,22 verfolgt Rilling vor allem deswegen nicht weiter, weil es für ihn entscheidender ist, die neuen, durch globalisierten Kapitalismus geschaffenen Qualitäten imperialer Herrschaft kategorial zu erfassen. Imperialität als übergeordnete Beschreibungskategorie für supranationale Herrschaftsordnungen ermöglicht somit zum einen eine Herrschaftsstruktur zu identifizieren, steht zum anderen allerdings auch in der Gefahr, alle möglichen Formen asymmetrischer Herrschaft zu subsummieren und die signifikanten Unterschiede zu historischen wie auch gegenwärtigen Ordnungen globaler Macht zu verwischen. Rilling unterscheidet daher im Gegenzug zwei Grundtypen imperialer Herrschaft anhand ihrer divergierenden Raumbezüge. Territoriale Imperialität umfasst demnach vor allem die klassischen Landimperien wie das Römische Reich, schließt aber auch die frühen Kolonialreiche des 17. Jahrhunderts bis hin zu den modernen Formen des 19. und 20. Jahrhunderts ein und sieht auch in den expansionistischen Nationalstaaten wie der USA in der Phase ihrer kontinentalen Ausdehnung eine Imperialität verwirklicht, die zwar auf heterogenen Wirtschaftssystemen fuße, sich aber dadurch auszeichne, dass ökonomische und politisch-militärische Macht räumlich miteinander verflochten seien. Ökonomische Macht – so Rilling – hänge in diesen Fällen von der Effizienz territorialer Herrschaft ab und könne daher „deren Machtraum auch kaum überschreiten“.23 Postterritoriale Imperialität hingegen erwachse aus der von den USA seit Beginn des 20. Jahrhunderts betriebenen Open Door Politik, sei fixiert auf die Zugänglichkeit von globalen Märkten, ziele daher nicht auf die territoriale Einverleibung von Peripherien, sondern auf eine von der Logik des globalen Kapitalismus dominierte Raumhoheit. 20 Vgl. Biskamp, Dramaturgie demokratischer Imperien, S. 112-148. 21 Rilling, Risse im Empire, S. 17. 22 So verstehe ich auch die Begriffsverwendung bei Hausteiner, Greater than Rome, v.a. S. 9-18; ebenso Huhnholz, Krisenimperialität, S. 59-71. 23 Rilling, Risse im Empire, S. 27.

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Nach John Agnew beinhaltet diese neue Form von Imperialität eine Verlagerung „from a strictly absolute territoriality (bounded, absolute space) to a functional, relational spatiality involving command over the rules of spatial interaction (trade, capital flows, etc.). Intended or not, this fundamental alteration in the practice of foreign policy is what laid the foundation for later globalization“.24 Den Versuchen, Imperialität als komplexen Herrschaftsprozess beziehungsweise als spezifische Machtstruktur zu fassen, stehen weiterhin klassische Definitionen gegenüber, die mehr oder weniger dezidiert auf die Etablierung staatlicher Gebilde abheben. Für Jürgen Osterhammel beispielsweise ist ein Imperium idealtypisch „ein großräumiger, multiethnisch zusammengesetzter Herrschaftsverband mit einer asymmetrischen, in autoritärer Praxis realisierten Zentrum-Peripherie-Struktur, der durch den Zwangsapparat, die Symbolpolitik sowie die universalistische Ideologie des imperialen Staates und der ihn tragenden Eliten zusammengehalten wird“.25 Andere Definitionsversuche betonen darüber hinaus, dass imperiale Herrschaft ursächlich mit dem inneren, zumeist labilen Zustand der Metropole zusammenhänge, sich häufig in Gesellschaften mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen entwickele und aufgrund der dadurch greifenden Logiken zusätzliche Ressourcen, Absatzmärkte und Arbeitskräfte außerhalb des eigenen Machtbereichs einzuverleiben suche. Imperien sind also meistens nicht nur expansiv, sie haben auch eine ihrem Herrschaftsanspruch entsprechende räumliche Ausdehnung. Wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel, doch was tatsächlich für die meisten Imperien zuzutreffen scheint, sind ihre vom Nationalstaat signifikant zu unterscheidenden Grenzregime. Imperiale Herrschaft bedingt keine eindeutig fixierten Grenzen, ganz im Gegenteil: Weil Imperien an ihren Peripherien wachsen, sind die Übergänge zwischen Innen und Außen meistens fließend oder zumindest doch räumlich gegliedert. Derartige Übergangsräume, wie sie sich historisch unter anderem in den Frontiers Lateinamerikas, Australiens oder Nordamerikas ausgebildet haben, entstanden in einer kolonialen Phase, als die Erdoberfläche noch nicht im heuti-

24 Agnew, Hegemony, S. 16; davor bereits ders./Corbridge, Mastering Space. 25 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 615. Zur Begriffsgeschichte vgl. Fisch et al., Imperialismus. Eine Typologie bei Münkler, Imperium und Imperialismus, S. 3ff.; ebenso ders., Imperien, S. 79-126.

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gen Maße verstaatlicht war.26 Bis weit ins 19. Jahrhundert existierte noch die Vorstellung, Großreiche seien durch leere Räume, die wie neutralisierende Pufferzonen das unmittelbare Aufeinanderprallen mächtiger Systeme abfederten, voneinander getrennt. Seit es hingegen so gut wie keinen staatsfreien Raum mehr gibt, umgeben sich Imperien mit zumeist informell verbundenen, aber dadurch nicht weniger abhängigen Einflusszonen – in anderen Kontexten nannte man diese „Ergänzungsräume“.27 Problematisch sind solche Merkmalskataloge freilich allemal, wenn man bedenkt, dass bei strikter Anwendung wohl kaum ein Großreich übrig bliebe, das sich noch ohne Einschränkungen als imperial bezeichnen ließe. Insofern ist es sinnvoller, Imperialität vor allem als relationale Struktureigenschaft einer zusammengesetzten politischen Einheit zu denken,28 die zum einen durch eine asymmetrische, formell oder informell gestaltete Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie gekennzeichnet ist, und der zum anderen eine durch Übergangsräume geprägte Differenz zwischen Innen und Außen zugrunde liegt, mit der sie ihr Verhältnis zum Anderen (zum Nicht-Empire) ebenso herrschaftlich wie autoritär gestaltet. Verändert hat sich seit dem klassischen imperialen Zeitalter zweifellos die räumliche Durchdringung. Während die territoriale Einverleibung eroberter oder anderswie unterworfener Gebiete immer stärker in den Hintergrund tritt, gehört die Kontrolle der politischen wie auch vor allem der ökonomischen Ordnung mittlerweile zu den entscheidenden Strukturelementen postimperialer Imperialität. II. Die Europäische Union: Über wachsende Räume und wandernde Grenzen Historisch lässt sich Imperialität am schärfsten gegenüber dem Nationalstaat als dem im 19. Jahrhundert entstehenden und im 20. Jahrhundert dann dominierenden Ordnungssystem abgrenzen. Fixierte Grenzen, nationale wie kulturelle Homogenitätsansprüche, privilegierte Staatsbürgerschaft und politische Partizipationsversprechen kennzeichnen u.a. eine Herrschaftslogik, die sich signifikant von imperialen Formen unterschei-

26 Vgl. Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus; Riekenberg, Staatsferne Gewalt; Jureit, Umkämpfte Räume. 27 Kolonialpolitisch vor allem bei List, Der internationale Handel, die Handelspolitik und der deutsche Zollverein [1844]; später explizit bei Dietzel, Europas koloniale Ergänzungsräume [1941]. 28 Rilling, Risse im Empire, S. 29.

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det.29 Imperialität steht für asymmetrische, heterogene, großflächige und vor allem machtpolitische Herrschaftsgebilde, die gerade nicht auf die in Nationalstaaten angestrebte gesellschaftliche und soziale Integration zielen, sondern die auf hierarchischen Rechts- und Zugehörigkeitsverhältnissen beruhen und diese durch Zwangs- und Gewaltmaßnahmen herzustellen beziehungsweise aufrecht zu erhalten suchen.30 Dass die Europäische Union nach 1945 in den historischen Referenzrahmungen von Nationalstaatlichkeit und Imperialität entstanden ist, steht außer Frage.31 Jede Diskussion über ihre politische Form hat daher von einem spezifisch europäischen Ordnungs-, Staats- und Territorialverständnis auszugehen, mit dem gemeinhin soziale Prozesse fixiert, politische Zugehörigkeiten definiert sowie Herrschafts- und Gültigkeitsräume gerahmt werden. Dass die EU kein Nationalstaat ist, liegt auf der Hand, vor allem wenn man in Rechnung stellt, dass selbst ihre Mitgliedsstaaten aufgrund geteilter Souveränitäten mittlerweile keine Nationalstaaten im klassischen Sinne mehr sind. Aus den europäischen Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts sind spätestens mit dem Vertrag von Maastricht (1992) postsouveräne Mitgliedsstaaten geworden, was zugleich bedeutet, dass sich im Zuge der europäischen Integration Nationalstaatlichkeit als Modell politischer Ordnung gravierend verändert hat und immer noch verändert. Die Europäische Union ist heute ein aus (noch) 28 Mitgliedsstaaten bestehender Zusammenschluss, der sowohl auf der rechtlichen Verfasstheit seiner Einzelstaaten fußt als auch eine auf „geteilter Souveränität“ beruhende Ordnung darstellt.32 Ihre Herrschaftsarchitektur ist somit doppelt verankert: zum einen in der einzelstaatlichen Territorialität, die für bestimmte Politikfelder weiterhin den alleinigen Referenzrahmen bildet, zum anderen in einem supranationalen Gefüge, das sich durch vertraglich abgetretene Souveränitätsrechte und durch staatsübergreifende, regulatorische Verfahren konstituiert, das jedoch territorial über keinen anderen Raum als denjenigen verfügt, der sich aus der Summe nationaler Staatsgebiete ergibt. Faktisch konkretisiert sich europäische Integration in erster Linie als ein politisches Mehrebenensystem, das durch die Mitgliedsstaaten hindurch ins Werk gesetzt wird, während sich gleichzeitig auf supranationaler Ebene Formen europäischer Staatlichkeit ausbilden. Folglich ist es ein 29 Vgl. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 603ff. 30 Vgl. ebd., S. 612. 31 Vgl. dazu Münkler, Reich, Nation, Europa; Leonhard/von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. 32 MacCormick, Questioning Sovereignty; Barbato, Souveränität im neuen Europa; Lewicki, Souveränität im Wandel; Grimm, Souveränität.

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strukturelles Kernelement dieser europäischen Ordnung, dass sich in ihr nationalstaatlich wie supranational garantierte Herrschafts- und Souveränitäts- wie auch gewährleistete Rechts- und Solidaritätsansprüche überlagern.33 Ausgehend von einer solchen Konfiguration sind es insbesondere vier Gesichtspunkte, die eine Klassifikation der Europäischen Union als New Empire fraglich erscheinen lassen. Erstens untergliedert sich die Europäische Union nicht im räumlichen Sinne in ein autoritäres Zentrum und eine weder formell noch informell abhängige Peripherie. Ihre Herrschaftsordnung beruht auf der gleichberechtigten Teilhabe aller Mitgliedsstaaten, „in other words, all member states are part of both the core and of the periphery of the EU. Thus, there cannot be a geographical localization, since the core cannot be reduced to one state.“34 Eine imperiale Metropole, die untergeordnete Bevölkerungen beherrscht oder ausbeutet, kann schwerlich ausgemacht werden, wenn Zentrum und Peripherie nicht nur territorial, sondern auch rechtlich identisch sind. Das Prinzip der Einstimmigkeit erweist sich in der europäischen Politik zwar permanent als Handlungsblockade, markiert aber systemisch einen entscheidenden Unterschied zu imperialen Herrschaftsordnungen. Die EU hat weder ein hierarchisches Ordnungsprinzip noch installiert sie (bisher) asymmetrische Rechtsbeziehungen. Ganz im Gegenteil: Die Instanzen europäischer Zentralität sind auf mehrere Mitgliedsstaaten verteilt, ohne diese dabei in irgendeiner Form rechtlich, politisch oder ökonomisch gegenüber den anderen Mitgliedern zu privilegieren. Zwar ließe sich einwenden, durch das ökonomische Gefälle zwischen den Mitgliedsstaaten sei die EU zwar nicht durch formale, wohl aber faktische Ungleichheiten gekennzeichnet, doch daraus eine Zentrum-Peripherie-Struktur im imperialen Sinne abzuleiten, wäre schon deshalb wenig überzeugend, da ja gerade Binnenmarkt, Freizügigkeit und Kohäsionspolitik zu den Eckpfeilern der europäischen Integration zählen. Auch von einer EU-Zwangsherrschaft über abhängige Peripherien kann weder rechtlich noch politisch die Rede sein. Gerade das von Großbritannien am 29. März 2017 nach Artikel 50 des Lissabon Vertrages eingeleitete Austrittsverfahren verdeutlicht ja paradoxerweise, dass die Europäische Union ein Zusammenschluss ist, der auf dem Prinzip der freiwilligen Mitgliedschaft beruht. Mit dem Brexit wird zudem ein rechtliches Verfahren entstehen, wie und unter welchen Bedingungen ein Mitgliedsstaat die EU auch wie-

33 Vgl. Jureit/Tietze, Postsouveräne Territorialität. 34 Hierzu den hervorragenden Text von Gravier, The next European Empire?, S. 632.

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der verlassen kann. Ein solches Procedere wäre in imperialen Herrschaftszusammenhängen schlicht undenkbar. Ambivalenter scheint indes die Frage nach der Expansivität. Im Unterschied zum Nationalstaat ist der EU eine Dynamik eingeschrieben, die auf Bewegung, Vertiefung und Entwicklung zielt. Ob man die Römischen Verträge nimmt, sich die Übereinkünfte von Maastricht und Lissabon anschaut oder aber die Kopenhagener Kriterien zugrunde legt: Semantisch kreisen die Vorstellungen der eigenen territorialen Verfasstheit um den schillernden Begriff Wachstum. Programmatisch heißt es in einer 2003 verfassten Kommissionsbroschüre, dass „die Europäische Union (…) ihrem Wesen nach dazu bestimmt (ist), zu wachsen“.35 Sie stehe allen europäischen Staaten offen, die in der Lage seien, die wirtschaftlichen Herausforderungen der Mitgliedschaft zu bewältigen und das EU-Recht anzuwenden. Angesichts solcher und ähnlicher Selbstbeschreibungen lässt sich kaum gegen den Eindruck anlesen, hier äußere sich eine moderne imperiale Macht, die ihren Herrschaftsanspruch offensiv vertritt und es gleichzeitig geschickt versteht, die für imperiale Projekte unverzichtbaren Zivilisierungs- und Modernisierungsmissionen zeitgemäß in Szene zu setzen. Wachstum erweist sich dabei als ein zentrales Element europäischen Selbstverständnisses, und zwar auf drei Ebenen: Zum einen bezieht sich die Wachstumslogik auf die territoriale Ausdehnung der Europäischen Union, zum anderen auf erreichte oder angestrebte ökonomische Zuwächse und darüber hinaus auf die Vertiefung der politischen Integration unter den Mitgliedsstaaten.36 Während derartige Wachstumssemantiken auf historische Referenzen verweisen, die nicht nur im weitesten, sondern schon im engeren Sinne als geopolitisch bezeichnet werden müssen, konterkariert die Europäische Union ihren Selbstentwurf durch die gleichzeitige Behauptung, die eben noch als „natürlich“ ausgegebene Erweiterungsdynamik beruhe (zugleich oder trotz allem) auf dem freiwilligen Beitritt derjenigen demokratischen Staaten, die die Voraussetzungen im Sinne der Kopenhagener Kriterien uneingeschränkt erfüllen. Die Europäische Union „ist in erster Linie eine Wertegemeinschaft. Wir sind eine Familie demokratischer europäischer Länder, die sich gemeinsam für Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Wir verteidigen diese Werte.“37 Die Erweiterungspolitik der EU wird demnach an Bedingungen geknüpft, die hauptsächlich normativ, im Konkreten dann ökonomisch, rechtlich und politisch gefasst

35 Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt, S. 3 – meine Herv., U.J. 36 Vgl. Jureit, Wachsender Raum? 37 Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt, S. 3 – meine Herv., U.J.

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sind. Wie sind diese beiden widersprüchlichen Argumentationsfiguren miteinander zu vereinbaren? Empirisch zeigt sich, dass die Europäische Union immer dann, wenn es um allgemeine und grundlegende Identitätszuschreibungen geht, Semantiken verwendet, die in erster Linie auf „natürliche“ Gegebenheiten, auf naturgesetzliche Entwicklungen oder Voraussetzungen rekurrieren. In diesen Kontexten spricht sie von ihrem zum Wachstum neigenden „Wesen“, von „natürlichen“ Zugehörigkeiten in einem Europa, das sie meint geographisch herleiten zu können und das sie als eindeutig identifizierbar ausgibt. Gleichzeitig ist der Mechanismus der Erweiterung aber auch normativ beziehungsweise politisch-ökonomisch gefasst. Wachstum erweist sich dann nicht nur als Erlösungsformel für europäische Notlagen aller Art, Wachstum ist auch das begriffliche Bindeglied für die zwischen „natürlichen“ und politisch-kulturellen Mustern changierenden Selbstreflektionen. Das Narrativ der wachsenden Räume löst aufgrund seines historischen Referenzrahmens unweigerlich Irritationen aus, auch wenn Brüssel nicht müde wird zu betonen, dass es Wachstum hier nicht im Sinne kolonialer Eroberungen verstanden wissen will. Für die Europäische Union ist es gleichwohl konstitutiv, sowohl nationalstaatliche wie auch imperiale Strukturelemente aufzugreifen und für das eigene Selbstverständnis in Anspruch zu nehmen, sie gleichzeitig aber durchbrechen zu wollen, um sie mit anderen, postsouveränen Bedeutungsinhalten aufzuladen. Dabei hat es sich für die europäische Erweiterungs- und Integrationspolitik als grundlegend herausgestellt, dass die meisten zwischenstaatlichen Verträge, aus denen die EU nach 1945 als postsouveräne Herrschaftsordnung hervorgegangen ist, eine Logik der räumlichen Erweiterung wie auch eine Logik der politischen Vertiefung vorsahen und der gesamte Europäisierungs- und Institutionalisierungsprozess bis heute zwischen diesen beiden Herausforderungen hin- und herschwankt. Dieser komplexe und nicht widerspruchsfreie Mechanismus manifestiert sich vor allem an den europäischen Grenzen. Die Europäische Union unterhält weder Binnen- noch Außengrenzen, die sich im klassischen Sinne als nationalstaatlich bezeichnen lassen, vielmehr wird die Abgrenzung und Durchlässigkeit des Raumes jenseits der äußeren Markierungen durch institutionalisierte, regulatorische Verfahren gewährleistet, die in der konventionellen Vorstellung einer territorialen Umschließung nicht mehr aufgehen. Dazu passend bezieht die EU zunehmend strategisch wichtige Orte außerhalb ihres Territoriums zur Steue-

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rung von Migrationsströmen ein und führt auch exterritoriale Kontrollen durch.38 Die Interdependenz von garantierter Freizügigkeit im Inneren und einer immer rigider geforderten Abschottung gegenüber Drittstaaten gerät dabei mit einem demokratischen Staatsverständnis in Konflikt, das diesen Grundwiderspruch in Abgrenzung zu nationalstaatlichen und imperialen Ordnungskonzepten eigentlich zu überwinden hoffte, ihn aber letztlich auf supranationaler Ebene maßstabsgerecht reproduziert. An der Grenzpraxis zeigt sich seit einigen Jahren angesichts immenser Flüchtlingsbewegungen besonders eindringlich, wie wenig die EU bislang den Herausforderungen eines postsouveränen Grenzregimes gewachsen ist. Die EU-Außengrenzen sind zwar aufgrund geteilter Souveränitäten keine nationalstaatlichen Grenzen, sie werden aber paradoxerweise zum Teil weiterhin nach Prinzipien verwaltet und kontrolliert, die im Rahmen europäischer Nationalstaatsbildung entwickelt wurden und die den nationalstaatlich gefassten Homogenitätsvorstellungen Rechnung tragen. Nation war und ist ein Kollektivversprechen, das erst einmal hergestellt sein will und anschließend immer wieder reproduziert werden muss. Postsouveräne Systeme wie die Europäische Union stehen daher vor der Herausforderung, nicht nur ihre Hoheitsrechte zu teilen und hoheitsrechtliche Aufgaben gegebenenfalls an einzelne Mitgliedsstaaten zu delegieren, sondern gänzlich andere, eben postsouveräne Grenzregime zu entwickeln. Da reicht es nicht, die Vielfalt in Europa zu betonen, denn schließlich meint die EU damit ja auch nur eine bestimmte, gleichwohl europäisch definierte Pluralität, die ebenso wenig ohne Alteritäten auskommt wie der Nationalstaat. Die räumliche Differenzierung zwischen Hier und Dort lässt sich auf diese Weise jedenfalls nicht aushebeln. Die Europäische Union hat bis vor kurzem versucht, diesem Dilemma zu entkommen, indem sie eine aktive Expansions- und Erweiterungspolitik verfolgte. Wandernde Grenzen und wachsende Räume eröffneten die Möglichkeit, die realen Grenzschließungs- und Abschottungsmaßnahmen im Dickicht einer nicht näher erläuterten Postterritorialität verschwinden zu lassen. Wer offensiv behauptet, Europa stehe allen Ländern, die sich den Werten der Europäischen Union verpflichtet fühlen, grundsätzlich offen, der zielt territorial auf dynamische Grenzverhältnisse, wie sie eher für imperiale Herrschaftsformen charakteristisch sind. Die Bewegungsdynamik, die mit Vorstellungen wachsender Räume verbunden ist, suggeriert eine

38 Vgl. Eigmüller, Grenzsicherungspolitik; Hess/Kasparek, Grenzregime; Laube, Grenzkontrollen jenseits nationaler Territorien.

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territoriale Offenheit, die die faktischen Grenzziehungen als provisorisch erscheinen lässt und ihnen unter der Hand eine gewisse Vorläufigkeit attestiert. Die damit verbundene Strategie, die Containerisierung der Europäischen Union durch eine aktive und normativ aufgeladene Erweiterungspolitik zu durchkreuzen, war indes so erfolgreich, dass sie mit und nach der sogenannten Osterweiterung 2004/2007 ebenso rasant wie durchschlagend scheitern musste. III. Die Europäische Union als Großraum: Ordnungskonzept mit historischem Ballast Es sollte deutlich geworden sein, dass mit Imperialität allenfalls einige Strukturelemente der Europäischen Union als postsouveräne Herrschaftsordnung erfasst werden können.39 Historisch gesehen zeichnete sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg ab, dass Empire in seiner klassischen Ausformung kein zukunftsfähiges Herrschaftskonzept mehr darstellt. Bei aller Unterschiedlichkeit der zum Beispiel britischen, habsburgischen oder osmanischen Imperialarchitektur und ihrer zudem in Größe und Struktur erheblich divergierenden Kolonialreiche formierte sich am Ende des 19. Jahrhunderts ein Verständnis globaler Herrschaft, das jenseits oder in Erweiterung nationalstaatlicher und imperialer Verfasstheit europäische Herrschaft ordnete, strukturierte und hierarchisierte. International entwickelte sich ein weltpolitisches Ordnungsdenken, das im Großraum die effektivste Form territorialer Herrschaft identifizierte.40 Ob politisch, militärisch oder kulturell – in der Eroberung, Besiedlung oder zumindest doch ökonomischen Beherrschung von Großräumen lag fortan für diejenigen Staaten, die auf längere Sicht zu den weltpolitisch einflussreichsten Kräften zählen wollten, die politische Herausforderung. Während das 19. Jahrhundert ein Zeitalter der europäischen Großmächte mit spezifischen Diplomatie- und Bündnispolitiken darstellte und in erster Linie durch Imperialität geprägt war, wurde Weltpolitik nach dem Ersten Weltkrieg in allen politischen Lagern zunehmend in Großräumen gedacht und konzipiert. Während sich der Begriff Großraum einerseits zu einem Sammelbegriff für Ordnungskonzepte entwickelte, die in Abgrenzung zum westlichen Imperialismus multiethnische Großreiche mit rechtlich gestuften Herrschaftsverhältnissen konzipierten, zählt die von Carl Schmitt mit seinem

39 Vgl. Gravier, The next European Empire?, S. 631ff. 40 Vgl. Köster, Die Rede über den „Raum“; Voigt, Großraum-Denken.

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am 1. April 1939 in Kiel gehaltenen Vortrag Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot raumfremder Mächte erstmals vorgestellte und in den nachfolgenden Jahren erweiterte Großraumtheorie sicherlich zu den prominentesten Theorieangeboten, die in diesem Kontext entstanden sind.41 Schmitt vertrat angesichts eines eskalierenden Weltkrieges eine völkerrechtliche Raumtheorie, in der er im Kern das Ende souveräner Staatlichkeit diagnostizierte.42 Die Veränderungen staatlicher Verfasstheit meinte er vor allem an der Entstehung neuartiger Völkerrechtssubjekte, an der Veränderung des bisher völkerrechtlich gehegten Krieges sowie an der Erschütterung des überkommenen Staatsverständnisses durch den Volksbegriff feststellen zu können.43 In Anlehnung an die seit der Jahrhundertwende etablierte Großraumwirtschaft mit ihren Globalisierungseffekten analysierte Schmitt den zeitgenössischen Wandel der politischen Raumordnungen als ein großräumliches Verflechtungsgeschehen, dessen Folge es sein werde, dass souveräne Nationalstaaten zugunsten supranationaler Großräume an Bedeutung verlieren.44 Die Inanspruchnahme der amerikanischen Monroe-Doktrin für ein zukünftiges Europa bestand für ihn darin, in der „Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interventionen ausschließendem Großraum“ ein „echtes“ Raumprinzip verwirklicht zu sehen, auf dass sich deutsche Herrschaft in Europa berufen könne.45 Träger und Gestalter einer in Großräumen strukturierten Ordnung seien nicht mehr Staaten, sondern Reiche. Sie „sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen

41 Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte lautete dann der Titel des überarbeiteten und 1941 mit zwei zusätzlichen Kapiteln veröffentlichten Vortrags. 42 Vgl. Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung [1941]; für Vorarbeiten dazu ders., Raum und Großraum im Völkerrecht [1940]; ders., Die Auflösung der europäischen Ordnung [1940]; ders., Die Raumrevolution [1940]; ders., Großraum gegen Universalismus [1939]. 43 Die Forschung zu Schmitts Großraumtheorie ist mittlerweile umfangreich, vgl. zum Beispiel Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung; Schmoeckel, Die Großraumtheorie; Blindow, Carl Schmitts Reichsordnung; Kleinschmidt, Carl Schmitt als Theoretiker der internationalen Beziehungen; sowie den überaus instruktiven Sammelband von Voigt, Großraum-Denken; darin der Aufsatz von Mehring, „Raumrevolution“ als Rechtsproblem; Huhnholz, Vom Imperium zur Souveränität und zurück. 44 Vgl. Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 271. 45 Ebd., S. 283.

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bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen“.46 Schmitts Reichsbegriff lebte von der Abgrenzung gegenüber dem „individualistischen Westen“ wie auch dem „weltrevolutionären Osten“: Im Unterschied zu diesen „übervölkischen Gebilden“ müsse das Großdeutsche Reich nicht als Staat oder Staatenbund, sondern eben als Reich verstanden werden, das „wesentlich volkhaft“ sei. Schmitts Raumordnung basierte strukturell auf dem Souveränitätsverlust der innerhalb des Großraumes existierenden Einheiten. Denn die politische Idee, die Schmitts Reichsvision trug, bestand aus einem „Volksgruppenrecht“, das allen Assimilierungs-, Absorbierungs- und Schmelztiegelvorstellungen eine Absage erteilte und stattdessen „für den mittel- und osteuropäischen Raum, in dem viele, aber – von den Juden abgesehen – einander nicht artfremde Völker und Volksgruppen leben“, ein „ihrer völkischen Eigenart entsprechendes Dasein“ versprach.47 „Raumrevolution“ nannte Schmitt die zeitgenössischen Veränderungen, die er nicht nur als Resultat grassierender Modernisierung, sondern auch als Erschütterung des seit 1648 bestehenden Westfälischen Systems ansah. Die Zukunft liege in planetarischen Ordnungskonzepten. Die durch den Weltkrieg verschobenen Machtkonstellationen provozierten international eine intensive Auseinandersetzung mit alternativen Entwürfen der nationalstaatlichen, supranationalen und internationalen Verfasstheit. Das hatte mehrere Gründe: Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehenden Großraumtheorien waren zeitgenössische Antworten auf tiefgreifende Veränderungen globaler Machtbalancen. Hierzu zählte zum einen der Zerfall imperialer Systeme wie dem Habsburger und dem Osmanischen Reich. Hierzu zählte zum Zweiten der Aufstieg neuer Nationalstaaten mit globalen politischen, ökonomischen und/oder kulturellen Führungsansprüchen (wie zum Beispiel den USA). Und hierzu zählte drittens die Ausbildung globaler Wirtschaftsstrukturen, mit denen sich jenseits politischer Ordnungen ökonomische Herrschaft in großräumlichen Einheiten etablierte und der „Markt“, vor allem der „Weltmarkt“ als räumliche Ordnungsform wie auch als politische Bezugsgröße an Relevanz gewann, und hierzu zählte viertens der bis weit nach 1945 andauernde Dekolonisierungsprozess, der mit Verweis auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ weltweit eine enorme Durchschlagskraft erlangte. Großraumtheorien lebten in gewisser Weise von der Konkursmasse konkreter imperialer Herr-

46 Ebd., S. 295-296. 47 Ebd., S. 294.

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schaftsgefüge wie auch von der globalen Ökonomisierung internationaler Verflechtungen. Ihre sowohl wissenschaftlichen wie auch politischen Protagonisten verfolgten dabei vornehmlich das Ziel, das beginnende Zeitalter der Nationalstaaten mit supranationalen Ordnungsentwürfen zu flankieren, auch wenn Imperialität als Herrschaftsform keineswegs vollständig an Bedeutung verlor. Kann ein Ordnungskonzept, das im Kern auf einem autoritären Reichsgedanken, auf einer rassistischen Völkerrechtsordnung sowie auf einem dezidierten Antisemitismus beruht, überhaupt Modellcharakter für ein postsouveränes Europa des 21. Jahrhunderts haben? Der Streit über diese Frage hat nicht nur eine erneut intensive und wissenschaftlich produktive Beschäftigung mit Schmitts Großraumtheorie ausgelöst;48 er hat auch den Blick auf die strukturell entscheidende Frage gelenkt, wie denn die in Großräumen miteinander verbundenen Einheiten rechtlich, politisch, kulturell und ökonomisch zueinander in Beziehung stehen. Dass Schmitts abgestuftes und auf völkischer Hierarchisierung beruhendes Großraumkonzept die EU als politische Form nicht abbildet, liegt auf der Hand. Gleichzeitig öffnet die Auseinandersetzung mit Großraumtheorien aber den Blick dafür, dass mit der europäischen Integration ein tiefgreifender Wandel von Staatlichkeit, Souveränität und Territorialität einhergeht,49 der historisch zwar auf andere föderale und supranationale Herrschaftsordnungen verweist und sich darauf beziehen lässt, der aber gleichwohl postsouveräne Herrschafts-, Verflechtungs- und Handlungsstrukturen hervorgebracht hat, die trotz scheinbar chronischer Eurosklerose50 inzwischen eine einzigartige politische Ordnungsform darstellen.51

48 Vgl. Joerges, Europe a Großraum?; Anter, Die Europäische Union als Großraum. Die Großraumdiskussion aufgreifend vgl. den nicht nur für Juristen lesenswerten Text von Weber, Formen Europas. 49 Horst Dreier sieht die Bedeutung der Großraumtheorie vor allem darin, dass Schmitt damit „die Herausbildung einer den Nationalstaat transzendierenden Hoheitsgewalt“ (Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 64) auf den Begriff gebracht habe. Andreas Anter bezieht auch den von Schmitt in seiner Verfassungslehre reflektierten Bundesbegriff mit ein, vgl. Anter, Die Europäische Union als Großraum, S. 63. 50 Zu dieser Bezeichnung vgl. Schorkopf, Der Europäische Weg. 51 Vgl. Weber, Formen Europas, S. 173ff.

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IV. Postsouveränität: Die EU als ein System sui generis Die Europäische Union versteht sich selbst als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Elementar für ihr Ordnungsgefüge ist das Prinzip geteilter Souveränität. Während Territorialität weiterhin eine zentrale Strategie darstellt, mit der soziale Prozesse gerahmt, Zugehörigkeiten bestimmt sowie Herrschafts- und Gültigkeitsräume definiert werden, liegen die Zuständigkeiten hierfür nicht mehr nur bei einem, sondern bei einer Vielzahl von nunmehr eingeschränkten Souveränen.52 Postsouveränität ist gleichwohl weder Höhe- noch Endpunkt einer wie auch immer zu erzählenden Geschichte moderner Souveränitäten, sie stellt vielmehr eine historisch gewachsene, wenn auch bisher einzigartige Form supranationaler Herrschaftsordnung dar, die sich im Zuge der europäischen Integration ausgebildet hat und die sich gegenwärtig und mit durchaus offenem Ende weiter fortschreibt. Geht man davon aus, dass eindeutige oder gar absolute Souveränitätsverhältnisse historisch allenfalls Ausnahmeerscheinungen sind und sich Souveränitätsverhältnisse im Allgemeinen eher in der Professionalität ihres Defizitmanagements unterscheiden, dann ist Postsouveränität kein Verlustmodell, sondern eine komplexe Variante bereits eingeübter wie auch neuartiger Mechanismen geteilter Herrschaftsausübung. Für die politische Konstellation der Europäischen Union erweist sich die vertraglich vereinbarte Übertragung und Auffächerung staatlicher Souveränitätsrechte als ebenso konstitutiv wie die Verschränkung von lokalen, regionalen, nationalstaatlichen und supranationalen Herrschafts- und Handlungsebenen. Europäisches Ordnungshandeln entsteht vor allem dort, wo Souveränitäten geteilt, Hoheitsgewalten kombiniert und neue Akteure und Verfahren zur Durchsetzung europäischer Ordnungszusammenhänge institutionalisiert werden. In dieser Hinsicht vollzieht sich vor allem seit den 1990er Jahren eine Ausdifferenzierung europäischer Staatlichkeit. Sie stellt sich als umfassendes, sich früher oder später auf alle Ebenen staatlichen Handelns auswirkendes Transformationsgeschehen dar, das durch die Dichte seiner Austauschprozesse sowie durch die Angleichung politischer Verfahren vorangetrieben wird, und das durch die Institutionalisierung postterritorialer 52 Vgl. Jureit/Tietze, Die Europäische Union als supranationaler Raum. Die ältere Debatte insbesondere unter Juristen über Souveränität und Föderalismus in Europa wird derzeit aufgegriffen und konstruktiv erweitert u.a. von Bast, Entterritorialisierung des Rechts. Grundsätzlich zur Form Europas von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus; mit dezidiertem Bezug zur Raumtheorie ders., Von der technokratischen Rechtsgemeinschaft zum politisierten Rechtsraum.

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Handlungszusammenhänge ordnungspolitische Stabilitäten sowie neue Rechtsverhältnisse (wie das zwischen Unionsbürgern und supranationaler Ebene) erzeugt.53 Postsouveräne Territorialität erweist sich im Ergebnis als eine kontinentale Raumkonstellation, die europäische Ordnungszusammenhänge nicht nur rahmt, sondern neue Formen staatlichen Handelns innerhalb und jenseits lokaler und nationalstaatlicher Systeme konstituiert. Da die EU weder Nationalstaat, Imperium noch Staatenbund ist und auch nicht sein will, und ihre Erweiterungs-, Integrations- und Verflechtungspolitiken nach innen wie nach außen möglichst konfliktfrei und im gegenseitigen Einvernehmen um- und durchsetzen möchte, bleibt ihr Verhältnis zu dem, was man gemeinhin Großraumpolitik nennt, weitgehend diffus. Das hat vor allem historische Gründe. Die Europäische Union konstituierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als ökonomische und sicherheitspolitische, erst sehr viel später auch als politische Gemeinschaft. Der Integrationsprozess war in erster Linie durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, durch sicherheitspolitische Überlegungen (insbesondere gegenüber Deutschland) sowie durch die großräumliche Blockbildung des Kalten Krieges gekennzeichnet. In diesem Koordinatensystem konfigurierte sich ein Europa, das den Nationalstaat zwar einerseits durch eine vertraglich garantierte Zusammenarbeit überwinden, ihn andererseits jedoch als politisches und ökonomisches Kern- und Sicherungselement bewahren und in ein supranationales System integrieren wollte. Besonders günstig war die weltpolitische Lage dafür nicht. Im Kalten Krieg schien die Europäische Gemeinschaft als ein staatenübergreifendes Gefüge, das auf Kommunikation, Verfahren und politischen Konsens setzte, nicht in die Zeit imperialen Großraumdenkens zu passen. Ein gesamteuropäisches Projekt war an der Schnittstelle der beiden Großmachtblöcke jedenfalls vorerst nicht zu realisieren. Es ist daher kein Zufall, dass sich die EU erst seit den 1980er Jahren als dezidiert politischer Zusammenschluss zu formieren begann. Mit dem Übergang von einer primär ökonomisch-sicherheitspolitischen Gemeinschaft zu einem postsouveränen Herrschaftsgefüge, zumal in dieser Größenordnung, war und ist allerdings auch die Herausforderung verbunden, sich als globaler Akteur zu konstituieren. Damit tat und tut sich die

53 Zur Zurückdrängung der Mitgliedsstaaten als Völkerrechtssubjekte vgl. Schorkopf, Der Europäische Weg, S. 205ff. Zum Rechtsverhältnis der Unionsbürger zur supranationalen Ebene vgl. Buckel, Staatsprojekt Europa; Deger, Die Europäische Union als Gestaltungsraum.

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Europäische Union äußerst schwer. Sie distanzierte sich alsbald von Ordnungsmodellen, die historisch mit Mitteleuropa- und Großraumkonzepten assoziiert waren, und die wegen ihrer teils imperialen, teils hegemonialen Grundstruktur als ungeeignet galten. Gänzlich heraustreten konnte sie aus diesem Horizont indes aber nicht. Expansion durch Wachstum hieß die EUropäische Antwort auf die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, und das offenbar in der irrigen Annahme, Wachstumssemantiken könnten aus ihren historischen Referenzrahmungen einfach herausgelöst und im Sinne der auf Verständigung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit basierenden Europäisierungspolitik umgedeutet werden. Die langjährige Strategie, den fortschreitenden und letztlich unvermeidlichen Containerisierungsprozess in Europa mit einer zwar nicht explizit imperialen, wohl aber wertorientierten Expansionspolitik zu flankieren und damit die Schließungsmaßnahmen an den EU-Außengrenzen abzufedern, kann spätestens seit 2007 als gescheitert gelten. Denn mit der sogenannten Osterweiterung 2004/2007 vollzog die Europäische Union eine Erweiterungsrunde, deren Auswirkungen vorher vielleicht geahnt, aber in ihrer Tragweite nicht wirklich erkannt worden sind. Der Beitritt von insgesamt zehn neuen Mitgliedsstaaten hat die Gesamtbevölkerung der EU um mehr als zwanzig Prozent erhöht und die Außengrenzen der Union im Osten, Süden und Südosten signifikant verschoben. Doch vor allem stellte die Osterweiterung die Europäische Union als postsouveräne Ordnung vor völlig neue Aufgaben und Herausforderungen. Nicht nur waren die ökonomischen Unterschiede zwischen Beitritts- und Mitgliedsstaaten weitaus gravierender als bei den vorherigen Erweiterungsrunden, auch erreichte die Komplexität der politischen Entscheidungsund Handlungsprozesse ein ganz anderes Niveau. Georg Vobruba bezeichnet diesen tiefgreifenden Wandel zutreffend als „Erweiterung ohne Integration“ und verdeutlicht damit, dass seit 2004/2007 „Integration und Erweiterung zueinander in offenen Widerspruch geraten sind und das europäische Integrationsprojekt seitdem stagniert“.54 Relativ schnell nach dem Beitritt zeichnete sich ab, dass dieser Erweiterungsschritt nicht nur in Form von politischen und ökonomischen Anpassungs- und Angleichungsprozessen zu bewerkstelligen sein würde, sondern sich die Europäische Union als postsouveränes System insgesamt verändern musste, wenn sie nicht scheitern wollte. Territorial konkretisierte sich diese Anforderung mit der Frage, wie die bisherigen Expansions- und Erweiterungsbestrebungen zukünftig reguliert werden sollen, denn dass die EU

54 Vobruba, Der postnationale Raum, S. 65.

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nicht in gleichem Maße und mit gleichem Tempo weitere territoriale Zugewinne würde verkraften können, war ebenso offensichtlich wie unstrittig. Romano Prodi erklärte bereits 2002, dass jede Erweiterungsrunde neue Nachbarn mit sich gebracht habe und diese dann später häufig selbst Beitrittskandidaten geworden seien. Der Prozess der Selbstperpetuierung ließ auch 2004 nicht lange auf sich warten.55 Polen begann unverzüglich für den Beitritt der Ukraine zu werben, und Rumänien entdeckte sein Herz für Moldavien. Die neuen EU-Mitgliedsstaaten waren alsbald daran interessiert, ihre Nachbarn ohne EU-Mitgliedschaft in den Europäisierungsprozess einzubeziehen, nicht nur, weil es sich neben ökonomisch und politisch ähnlichen Verhältnissen besser leben lässt, sondern auch um die konfliktträchtige EU-Außengrenze perspektivisch an die Beitrittskandidaten abgeben zu können. Dieser Effekt der europäischen Erweiterungspolitik verdeutlicht, wie wenig sich die EU der Mechanismen, Dynamiken und Logiken ihrer eigenen territorialen Verfasstheit als postsouveränes Gefüge lange Zeit bewusst gewesen zu sein scheint. Die Tendenz, territoriale Offenheit als Kernelement der eigenen Ordnung zu propagieren, gleichzeitig aber über kein tragfähiges Grenz- und Migrationskonzept zu verfügen, verweist auf einen Grundwiderspruch europäischen Selbstverständnisses. Die bisherige Erweiterungseuphorie ist mittlerweile einer Territorialisierungslogik gewichen, die vor allem Schadensbegrenzung betreibt und die sich darum bemüht, die popularisierten Wachstumsdynamiken durch gezielte Nachbarschaftspolitiken halbwegs geräuschlos wieder still zu stellen. Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP), wie sie seit etwa 2002 entwickelt und fortgeschrieben worden ist, gehört zu den entscheidenden Neujustierungen, mit denen die europäische Expansions- und Erweiterungspolitik reguliert werden soll. Im Kern geht es dabei um die Installation einer „abgestuften Integration“56, was bedeutet, dass die EU „besondere Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft (entwickelt), um einen Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“.57 Das nunmehr abgestufte System der politischen Vergemeinschaftung konstituiert sich fortan in drei verschiedenen Raumeinheiten: zum einen im

55 Vgl. ebd., S. 74. 56 Vgl. ebd., S. 68. 57 Vertrag von Lissabon, Artikel 7a.

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Raum ohne Binnengrenzen (1986), zum anderen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (1999) sowie drittens im Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft (2007). Mit diesem letzten Schritt korrigiert die EU ihre bisherige Integrations- und Kohäsionspolitik elementar, denn sie etabliert mit der ENP erstmals einen Mechanismus abgestufter Integrationsund Rechtsverhältnisse und zwar sowohl mit wie auch ohne Beitrittsperspektive. Für die Ukraine, für Georgien oder für Marokko – um nur einige Beispiele zu nennen – ergeben sich daraus verschiedene Assoziierungsverhältnisse, deren Nutzen sich in jedem Einzelfall erst noch erweisen muss.58 Die Europäische Union gibt damit das Grundprinzip der einheitlichen Integration zugunsten eines gestuften und somit asymmetrischen Ordnungsmodells auf. Territorial vollzieht sie mit der ENP jedenfalls den Schritt zur postsouveränen Großraumpolitik, die politisch, ökonomisch wie auch rechtlich zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Kernländern und Ergänzungsräumen unterscheidet. Ob sie damit den territorialen Grundkonflikt, nämlich die Interdependenz zwischen garantierter Freizügigkeit nach Innen und effizienter Abgrenzung nach Außen, lösen kann, wird entscheidend davon abhängen, ob und wie sie Einwanderung, Asylrecht und Flüchtlingspolitik, wie sie also grenzüberschreitende Mobilität unter Wahrung ihres gemeinschaftlichen Besitzstandes reguliert. Postsouveräne Großraumpolitik ist angesichts ihrer historischen Referenzgrößen ein heikles politisches Unterfangen. Die Europäische Union sollte sich mit diesem Kapitel europäischer Geschichte intensiver auseinandersetzen als sie bisher zu erkennen gibt. Gerade weil sich nationalstaatliche, imperiale wie auch andere hegemoniale Prinzipien der territorialen Ordnung nicht einfach auf ein postsouveränes System übertragen lassen, bleibt der Europäisierungsprozess darauf verwiesen, eigene Formen staatlichen Handelns wie auch neue, sprich postsouveräne Grenzregime auszubilden. Ob und wie die EU diese Herausforderungen bewerkstelligen wird, lässt sich derzeit wohl kaum seriös prognostizieren.

58 Zu den Konstruktionsfehlern der ENP vgl. Jacobsen/Machowski, Dimensionen einer neuen Ostpolitik der EU; Marung, Die wandernde Grenze; Vobruba, Der postnationale Raum, S. 75-88.

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Fixing Missions: Überlegungen zu einem Typus des demokratischen Krieges zwischen liberalem Interventionismus und demokratischer Imperialität Andreas Vasilache1

I. Einleitung: Demokratisches Imperium, liberaler Interventionismus und demokratischer Krieg Die imperiumsbegriffliche und -theoretische Diskussion der letzten Jahre ist durch ein ausgeprägtes strukturelles und vergleichendes Interesse gekennzeichnet.2 So resultiert die für die aktuelle Imperiumsforschung maßgebliche – dabei zwar keineswegs absolute, aber doch kategoriale – Unterscheidung zwischen imperialem Ordnungsanspruch einerseits und dem davon begrifflich wie konzeptionell distinkten Ordnungsmuster staatlicher Gleichheit andererseits schon in Münklers Imperien3 wesentlich aus historisch weiten, weltregional inklusiven und strukturell fokussierten Vergleichen und Parallelisierungen imperialer Reichsbildungen. Durch historische und regionale Vergleichsperspektiven konnten wesentliche Gemeinsamkeiten imperialer Ordnungen hinsichtlich ihrer Herrschafts- und Ordnungsstrukturen sowie -rationalitäten, ihrer begünstigenden und hindernden Faktoren, ihrer Zyklen und ihrer Temporalität sowie ihrer Legitimationsstrategien ausgewiesen und Unterschiede zu nicht-imperialen Ordnungsmustern herausgestellt werden.4 Während in imperiumsbegriffli-

1 Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Arbeitsbereich Politik und Gesellschaft. Professur für Sozialwissenschaftliche Europaforschung. URL: http://w ww.uni-bielefeld.de/soz/personen/vasilache/. 2 Vgl. Doyle, Empires; Münkler, Imperien; ders., Imperium zu sein, S. 102f. u. 107; Leitner, Imperium; Münkler/Hausteiner, Die Legitimation von Imperien; Menzel, Die Ordnung der Welt; Burbank/Cooper, Empires in World History, S. 3ff. Münkler, Imperium zu sein, S. 107 weist darauf hin, dass komparatistische Zugänge in historischen Arbeiten zu Imperien dagegen selten zu finden und eher in der amerikanischen Forschung anzutreffen seien. 3 Vgl. ders., Imperien, S. 10, 16-18 u. 54. 4 Vgl. Doyle, Empires, Kap. 1; Münkler, Herrscher der Räumer; ders., Imperien, S. 10, 16-18, 54, 67-77 u. 101; ders., Imperium zu sein, S. 103f.; Leitner, Imperium, S. 47-53 u. 211-247; Menzel, Die Ordnung der Welt, S. 29-65.

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cher, -konzeptioneller und -theoretischer Perspektive die charakteristischen Gemeinsamkeiten von Imperien und imperialer Politik im Mittelpunkt des Interesses standen, sind in der konkreten Betrachtung historischer oder aktueller Imperien auch die Differenzen und die unterschiedlichen, im weitesten Sinne historisch-situativen Ausformungen in den Blick genommen worden.5 Insbesondere in der Diskussion imperialer Ansprüche und politischer Logiken der USA, aber bisweilen auch mit Blick auf die Europäische Union, ist im Imperiumsdiskurs der vergangenen Jahre darauf hingewiesen worden, dass imperiale Politik demokratischer politischer Systeme sich speziellen Herausforderungen gegenübergestellt sieht, die im Wesentlichen aus den Legitimierungsanforderungen und Zustimmungserfordernissen in Demokratien resultieren.6 Die Frage der Besonderheit demokratischer Imperialität ist dabei vornehmlich historisch und fallbezogen thematisiert und nur in geringerem Maße systematisch und theoretisch untersucht worden. Mir scheint dieser Aspekt – in diesem Beitrag mit einem sehr konkreten Blick auf den speziellen Kriegstypus der Fixing Missions – sowohl in konzeptioneller Absicht als auch mit Blick auf konkrete politische Implikationen einer systematischen Weiterverfolgung wert zu sein. Denn im Vergleich zu imperialen Bestrebungen von illiberalen und nichtdemokratisch verfassten Staaten steht imperiale Politik in liberalen, demokratischen Systemen unter einem weitergehenden und letztlich höheren Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck, um – spätestens rechtzeitig zu den nächsten Wahlen – die Mehrheit der Wahlbevölkerung hinter sich zu wissen. Zudem muss sich eine imperial ausgerichtete Regierungspolitik in Demokratien dem öffentlichen, medialen Diskurs stellen und sich in ihm behaupten sowie auch zwischen Wahlen (partei-)politische wie gesellschaftliche Mehrheiten organisieren und stabilisieren. Imperiales Handeln muss den erhöhten normativen Anforderungen an demokratische Politik und ihrem normativen Selbstverständnis (wenigstens scheinbar) gerecht werden, mit vielgestaltiger Kritik responsiv umgehen sowie schließlich eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure berücksichtigen und von der eige-

5 Vgl. Doyle, Empires; Münkler, Imperien; ders., Imperium zu sein, S. 102f.; Leitner, Imperium, S. 23-60 u. 211-247; Burbank/Cooper, Empires in World History, S. 3ff.; Darwin, After Tamerlane. 6 Vgl. Münkler, Imperien, S. 235-245; ders., Imperium zu sein, S. 105f.; Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen?, S. 195, 198f. u. 209ff.; Biskamp, Die Dramaturgie demokratischer Imperien.

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nen Politik überzeugen.7 Mit Blick auf die Gefahr einer Abwahl sieht sich imperiale Regierungspolitik in Demokratien überdies mit der Notwendigkeit konfrontiert, möglichst rasch Erfolge des eigenen imperialen Handelns vorweisen zu können.8 Folgt man einem anspruchsvollen Verständnis von Demokratie, das neben inklusiver, responsiver und funktionierender demokratischer Repräsentation, Verwaltung und Rechtsprechung auch einen breiten offenen Diskurs und zivilgesellschaftliche Beteiligung beinhaltet, dann stellt demokratische Imperialität eine Anomalie dar. So kann von demokratischen Imperien kaum im Plural gesprochen werden. Daher muss sich jede Betrachtung aktueller demokratischer Imperialität auf die USA konzentrieren9 sowie auf imperiale Rationalitäten, Politikmuster und Herausforderungen europäischer Staaten und gelegentlich der Europäischen Union,10 die allerdings meist in Bündnissen mit den USA zum Tragen kommen. In diesem Sinne konzentriert und beschränkt sich auch der vorliegende Beitrag auf den liberalen Interventionismus der USA und ihrer jeweiligen Verbündeten. Die Feststellung der Anomalie demokratischer Imperialität schmälert freilich weder ihre wissenschaftliche Relevanz, noch die politische Dring7 Es sei hier lediglich auf den demokratie- und legitimationstheoretisch bemerkenswerten Aspekt hingewiesen, dass imperiale Politik demokratischer Staaten ein im Vergleich mit nichtdemokratischen Imperien höheres Maß an politischer Ungleichheit aufweist. Denn wenngleich die Bewohner/innen eines nichtdemokratischen imperialen Zentrums von der imperialen Politik ihrer Regierung profitieren mögen, teilen sie mit den imperial kontrollierten Bevölkerungen außerhalb des Zentrums doch die Situation der Herrschaftsunterworfenheit. Wie die Bevölkerungen der Peripherie sind auch sie nicht an der Regierungsbildung oder an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Im Falle imperialer Politik durch einen demokratischen Staat dagegen herrscht – idealtypisch gesprochen – die an der Regierungs- und politischen Entscheidungsfindung maßgeblich beteiligte Bevölkerung der Zentralmacht über die imperial kontrollierten Räume und Bevölkerungen. 8 Vgl. hierzu insbes. Münkler, Imperien, S. 237f. u. 240; zur Output-Legitimation imperialer Politik vgl. Münkler/Hausteiner, Einleitung, S. 10f. 9 Vgl. prominent Speck/Sznaider, Empire Amerika; Unger, Demokratie und Imperium, S. 195-249 sowie für einen Überblick über die umfangreiche Literatur zum American Empire-Diskurs Behrends, Amerika als Imperium; Hochgeschwender, USA – ein Imperium im Widerspruch sowie aktueller und umfassend Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen?; ders., Krisenimperialität. 10 Vgl. Beck, Das kosmopolitische Empire; ders./Grande, Empire Europa; Münkler, Europas imperiale Herausforderung; ders., Imperien, S. 247 u. 253f.; ders., Imperium zu sein, S. 103-106; ders., Politische Führung; Bieling, Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der EU, Kap. 6. Siehe auch den Beitrag von Ulrike Jureit in diesem Band.

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lichkeit ihrer Thematisierung. Zudem verlangt die globale (Vor-)Machtstellung der USA geradezu ein systematisches Nachdenken über imperiale Politik von Demokratien.11 Mit Blick auf etwaige Besonderheiten des Einsatzes militärischer Gewalt durch ein demokratisches Imperium kann insbesondere die Theorie und Erforschung des demokratischen Krieges12 einen aufklärenden Beitrag leisten. In diesem Forschungsbereich wird diskutiert, welche Legitimationsund Rechtfertigungsanforderungen sich in demokratischen Systemen für Kriegsbeteiligungen stellen, wann, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen Demokratien in den Krieg ziehen und hierfür Zustimmung in ihren Gesellschaften generieren – und wann dies nicht der Fall ist.13 Die Forschungsrichtung des demokratischen Krieges ist aus dem sogenannten dyadic stream der Theorie des demokratischen Friedens hervorge-

11 In einem weiteren Sinne, das heißt auf der Grundlage eines weniger anspruchsvollen Demokratieverständnisses, wären auch spätere Phasen des britischen Empire sowie des französischen Kolonialreiches als (teilweise) demokratische Imperien zu bezeichnen. Dabei wären Abstriche hinsichtlich der politischen Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerungen und Gesellschaften der Mutterländer zu machen, so dass die Definition als „demokratisch“ letztlich auf dem Minimalstandard regelmäßiger nationaler Wahlen basieren würde. In diesem minimalistischen Sinne verstanden, wäre aktuell auch zu erwägen, inwieweit Russland als hybrides politisches System Aspekte eines demokratischen Imperiums aufweist. 12 Sowohl im Deutschen als auch im Englischen (democratic war oder liberal war) handelt es sich bei dieser Bezeichnung zweifellos um eine unglückliche attributive adjektivische Konstruktion. Dies gilt gleichermaßen für die Wendung des demokratischen oder liberalen Imperiums. In Ermangelung besserer sprachlicher Alternativen jenseits von Umschreibungen werden diese Formulierungen auch in diesem Beitrag verwendet. Sie bezeichnen dabei ausschließlich, dass ein Krieg oder eine imperiale Politik von einem demokratischen Akteur ausgeht – nicht aber, dass dem jeweiligen Kriege oder der jeweiligen imperialen Herrschaft ein höheres Maß an Legitimität zukäme oder die Form ihrer Ausführung eine demokratische oder liberale wäre. 13 Vgl. Schweitzer et al., Demokratien im Krieg; Reus-Smit, Liberal Hierarchy and the Licence to Use Force; Freedman, Iraq, Liberal Wars and Illiberal Containment; Dunne, Liberalism, International Terrorism, and Democratic Wars; Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg; dies./Wagner, How Far is it from Königsberg to Kandahar?; dies. et al., The Militant Face of Democracy.

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gangen.14 Sie nimmt ihren Ausgang aus der als „Doppelbefund“15 bezeichneten Beobachtung, dass demokratische Systeme ausschließlich gegenüber anderen demokratischen Staaten militärisch abstinent sind, während ihr Verhältnis zu nicht-demokratischen Staaten keineswegs von besonderer militärischer Zurückhaltung geprägt ist. Mit der Feststellung, dass Demokratien nicht per se als friedlicher gelten können, geht der dyadische Forschungsstrang über die Erforschung der Friedfertigkeit von Demokratien untereinander16 hinaus. Dabei wird vor allem in konstruktivistischen Ansätzen in den Internationalen Beziehungen (IB) auch die epistemische und politische Konstruktion von Zonen liberalen Friedens und Zonen liberalen Kriegs untersucht.17 Wenngleich nicht dezidiert auf imperiale Politik konzentriert, aber in ausgeprägter gegenständlicher Analogie zu den Diskussionen um demo14 Hayes betont, dass „research on the democratic peace has exploded to become one of the most active areas of research in International Relations” (Hayes, The Democratic Peace, S. 768) mit „[h]undreds of journal articles and more than a few books [that] have addressed the democratic peace in some way“ (ebd., S. 782). Angesichts der überwältigenden Anzahl an Studien und der sowohl disziplinären als auch methodischen Breite der Forschung zum Verhältnis von Demokratie und militärischer Gewalt, aber auch der konkreten theoretischen und konzeptuellen Ziele dieses Beitrags kann hier kein umfassender Überblick über die Literatur zur Theorie des demokratischen Friedens gegeben werden. Diese Einschränkung gilt ebenfalls für die imperiumstheoretische und -analytische Literatur. 15 Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg, S. 171; vgl. Risse-Kappen, Democratic Peace; Czempiel, Kants Theorem. 16 Vgl. Russett, Grasping the Democratic Peace; ders./Oneal, Triangulating Peace; Williams, The Discipline of the Democratic Peace; MacMillan, Beyond the Separate Democratic Peace. 17 Vgl. Barkawi/Laffey, The Imperial Peace; Hönke et al., The Hybridity of Liberal Peace. Neben der aus dem dyadischen Strang der Theorie des demokratischen Friedens hervorgegangenen Erforschung des demokratischen Krieges lässt sich insbesondere im poststrukturalistisch inspirierten Diskurs in den IB ein ausgeprägtes Interesse an liberaler Sicherheitspolitik und Gewalt feststellen. Vgl. hierfür z.B. Jabri, War, Security and the Liberal State; Dillon/Neal, Foucault on Politics, Security and War; Dillon/Reid, The Liberal Way of War; Duffield, Development, Security and Unending War; de Larringa/Doucet, Governmentality, Sovereign Power and Intervention; Evans, Foucault’s Legacy; Vasilache, Exekutive Gouvernementalität; ders., Great Power Governmentality? Trotz einer starken gegenständlichen Überschneidung sind diese beiden Forschungsrichtungen bislang kaum aufeinander bezogen worden. Für eine Bestandsaufnahme und einen Vorschlag zur Verbindung dieser beiden Perspektiven zum Zwecke gegenseitiger Ergänzung vgl. Herrmann/Vasilache, Democratic War and Liberal Violence. Vgl. dagegen Jabri, War, Government, Politics, die einer Verbindung kritisch gegenübersteht.

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kratische Imperialität beziehungsweise liberal empires,18 bilden die USamerikanische Außenpolitik sowie Politiken des liberal interventionism als „dark side of democratic peace“19 einen Interessensschwerpunkt dieses Forschungsansatzes.20 Empirische und vergleichende Untersuchungen von Kriegsbeteiligungen von Demokratien haben dabei – neben zahlreichen Unterschieden – die hervorgehobene Bedeutung normativer Rechtfertigungs- und Legitimierungsstrategien für das militärische Engagement von Demokratien herausstellen können.21 Diese normative Prärogative korrespondiert mit dem in der Imperiumsforschung hervorgehobenen Missionsgedanken von Imperien.22 So ist der normative Anspruch der Verbreitung liberal-demokratischer Strukturen als Grundlage und Merkmal des US-Interventionismus der letzten beiden Dekaden23 sowie gleichermaßen als Charakteristikum imperialer Politik der USA24 erkannt worden. In diesem Sinne kann der liberale Interventionismus sowohl in seiner offensiven Variante als democracy through war als auch in seiner reaktiven Variante als responsibility to protect (solange diese unilateral-imperial entschieden und gerade nicht supranational-völkerrechtlich institutionalisiert wird) als aktuelle Hauptform des kriegerischen Engagements von Demokratien und zugleich als Ausdruck der imperialen Ausdehnung und Politik der USA in den vergangenen beiden Jahrzehnten gelten. In theoretischer und analytischer Hinsicht weisen diese Überschneidungen darauf hin, dass die Diskussionen im Rahmen des Paradigmas des

18 Vgl. Münkler, Herrscher der Räume; ders., Nutzen und Nachteil des amerikanischen Imperiums; Desch, America’s Liberal Illiberalism; Barkawi/Laffey, The Imperial Peace; McCoy, Policing America‘s Empire; Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen?, S. 195 u. 198f.; Leonhard/von Hirschhausen, „New Imperialism“ oder „Liberal Empire“? 19 Geis et al., Democratic Wars. 20 Vgl. Freedman, The Age of Liberal Wars; Reus-Smit, Liberal Hierarchy and the Licence to Use Force; Dunne, Liberalism, International Terrorism, and Democratic Wars. 21 Vgl. Freedman, The Age of Liberal Wars; Reus-Smit, Liberal Hierarchy and the Licence to Use Force; Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg. 22 Vgl. Desch, America’s Liberal Illiberalism; Münkler, Imperien, S. 27 u. 132-134; Imperium zu sein, S. 103f.; Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen?, S. 195, 198, 200f., 209, 212f., 216f. u. 220; Hausteiner, Greater than Rome, S. 15 u. 31. 23 Vgl. Desch, America’s Liberal Illiberalism; Barkawi/Laffey, The Imperial Peace; Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg; dies./Müller, Liberal Use of Force. 24 Vgl. Desch, America’s Liberal Illiberalism; Barkawi/Laffey, The Imperial Peace; Münkler, Nutzen und Nachteil des amerikanischen Imperiums; ders., Imperien, S. 237f.; ders., Kriegssplitter, S. 167.

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demokratischen Krieges für die Imperiumsforschung informativ sein können.25 Dass sich die Theorie des demokratischen Friedens und die Erforschung des demokratischen Krieges nicht dezidiert mit imperialer Politik, sondern mit dem Handeln von Staaten befassen, schließt dabei ihre Nutzbarmachung in diesem Kontext nicht aus. Zwar hat insbesondere Münkler den Unterschied zwischen staatlicher Gleichheits- und imperialer Ungleichheitsordnung sowie zwischen der politischen Handlungslogik von Staaten und Imperien prominent herausstellt.26 Doch folgt aus seiner Diskussion der Unterschiede zwischen Imperium und Hegemonie zugleich, dass zwischen imperialer und zwischenstaatlicher Ordnung keine strenge systematische Differenz besteht, sondern es sich um eine Unterscheidung mit fließenden Übergängen handelt.27 Überdies sind moderne Imperialmächte nach innen als Staaten organisiert sowie völkerrechtlich als Staaten verfasst und anerkannt. Insbesondere aber kann die Feststellung, dass die These eines demokratischen Separatfriedens28 auch für die USA empirisch zutrifft, als ein weiterer Beleg dafür gelten, dass sich imperiale Ungleichheitslogiken und staatliche Logiken egalitärer Souveränität keineswegs ausschließen, sondern in vielfältigen Verschränkungen und Überlappungen auftreten und koinzidieren können. Denn mit Blick auf die Androhung und den Einsatz militärischer Gewalt jedenfalls scheinen die USA anderen Demokratien durchaus auf der Grundlage des Prinzips souveräner Gleichheit und Unverletzlichkeit zu begegnen. Und schließlich könnte auch die von Huhnholz zu Recht geltend gemachte Unzulänglichkeit eines dichotomen Schematismus der (neo-)realistischen und neoliberalen/idealistischen 25 Es verwundert, dass diese beiden Forschungsinteressen sich bislang wenig aufeinander beziehen – wobei allerdings die prominente Ausnahme von Michael W. Doyle zu nennen ist, der sowohl einer der wichtigsten Vertreter der Forschungsrichtung des demokratischen Friedens ist (vgl. Doyle, Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs; ders., Liberal Peace) als auch zum konzeptionellen und theoretischen Imperiumsdiskurs (ders., Empires) beigetragen hat. 26 Vgl. Münkler, Imperien, S. 10, 16-18, 54 u. 101; ders., Imperium zu sein, S. 99 u. 102-105. 27 Vgl. Münkler, Imperien, S. 76f. So unterscheiden sich nach Münkler (ebd., S. 67-77) imperiale von hegemonialen Ordnungen im Wesentlichen dadurch, dass hegemoniale Muster auf zwischenstaatlichen Strukturen und der Idee der Gleichheit souveräner Akteure basieren. Wenngleich dies bei imperialen Ordnungen nicht der Fall sei, betont er, „dass der Unterschied zwischen beidem sehr viel fließender ist, als oft angenommen“ (ebd., 76f). 28 Vgl. Doyle, Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs, S. 232; Russett, Grasping the Democratic Peace; ders./Oneal, Triangulating Peace, S. 275; MacMillan, Beyond the Separate Democratic Peace, S. 233.

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Theorietraditionen der IB für die Kategorisierung und das Verstehen imperialer Politik29 keinen Einwand gegen eine Integration der Theorie des demokratischen Krieges aus den IB in die imperiumstheoretische Diskussion begründen. Eine solche schablonenhafte Perspektivierung wäre ohnehin auch in der democratic war-Forschung nicht zu rechtfertigen. Denn es ist just die für den liberalen Interventionismus charakteristische Verbindung einer offensiven militärischen Ausrichtung einerseits, mit normativer, liberal-demokratischer Zielformulierung andererseits, die sich einer simplifizierenden Gegenüberstellung von Realismus und Idealismus entzieht.30 II. Fixing Missions In diesem Beitrag soll unter Rückgriff auf den dyadischen Strang der Forschung zum demokratischen Frieden ausgewiesen werden, dass der liberale Interventionismus demokratischer Staaten und Imperien mit Fixing Missions einen spezifischen Typus des liberalen militärischen Engagements beziehungsweise des demokratischen Krieges nach sich ziehen und hervorbringen kann. Dieser besondere Missionstypus besteht in der Wiederaufnahme bereits beendeter militärischer Einsätze unter den besonderen politischen und legitimatorischen Bedingungen demokratischer Kriegsführung. Es handelt sich bei Fixing Missions um Nachfolgemissionen, gleichsam um Missionen zweiter Ordnung, in denen ein zuvor beendeter Militäreinsatz wiederaufgenommen wird, um Nachkriegsentwicklungen zu korrigieren, die von den intervenierenden Akteuren als ungünstig wahrgenommen werden. Dabei wirft allerdings schon die Frage der Bestimmung des Endes eines Krieges Schwierigkeiten auf, da aktuelle Kriege kaum mehr ein klar benennbares Ende haben,31 sondern sich oft als niedrigschwellige gewaltförmige Konflikte mit wiederkehrenden Gewaltspitzen und dauerhafter Eskalationsgefahr fortsetzen. Dies kann für die Beschreibung von Fixing Missions ein grundsätzliches definitorisches Problem darstellen, da diese als Nachfolgemissionen auf die Feststellung einer Beendigung des ursprünglichen Einsatzes angewiesen sind, die über eine Gefechtsruhe oder einen kurzfristigen Waffenstillstand (aus taktischen, strategischen, politischen

29 Vgl. Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen?, S. 206-213. 30 Die Theoriediskussionen und die Forschungspraxis in den IB spiegeln eine solche schematische Dichotomie aber ohnehin nicht mehr wider. 31 Vgl. Münkler, Kriegssplitter, S. 200, 209 u. 211.

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Gründen) hinausgeht. Und auch in den im Folgenden illustrativ herangezogenen Beispielen des Afghanistan-, Irak- und Libyenkrieges ist das Ende der US-geführten Kriegsbeteiligung lediglich für Libyen recht unzweifelhaft festzustellen und insbesondere hinsichtlich des Afghanistaneinsatzes nur schwer auszumachen. Da das Ende einer Kriegsbeteiligung oft nicht eindeutig ist und seine Feststellung immer auch umstritten sein wird, sind freilich eher fließende klassifikatorische Übergänge zwischen Fixing Missions und anderen Militäreinsätzen zu erwarten. Gleichwohl stellt sich das Problem des unklaren Kriegsabschlusses mit Blick auf den hier unternommenen Versuch des Ausweises von Fixing Missions aus drei Gründen als handhabbar dar. Denn zum ersten basieren Fixing Missions auf der Beendigung einer vormaligen Kriegsbeteiligung eines bestimmten Akteurs, setzen dabei aber nicht das Ende von Kampfhandlungen in dem betreffenden Gebiet überhaupt voraus. Zum zweiten führt die politische Notwendigkeit in Demokratien, militärische Engagements möglichst kurz zu halten, regelmäßig zu regierungsseitigen Bemühungen, den Abschluss der eigenen Kriegsbeteiligung recht klar zu benennen und meist durch Deklaration und schließlich Truppenabzug zu implementieren. So spiegelt sich schon im Begriff der liberalen Intervention eine ihrer wesentlichen Eigenschaften wider, nämlich der Wille zu einem möglichst kurzen Eingriff und die mangelnde Bereitschaft zu einer langfristigen, auch militärischen Präsenz nach einem Kriegseinsatz. Und schließlich ist zum dritten die weitgehende politische und gesellschaftliche Perzeption des zumindest weitgehenden Endes eines Kriegseinsatzes für die Beschreibung und Typologisierung von Fixing Missions bereits hinreichend. Die im Folgenden ausgewiesenen politischen Dynamiken von Fixing Missions entfalten sich, sobald ein künftiger Kampfeinsatz vorherrschend als Wiederaufnahme eines vorherigen Krieges angesehen und debattiert wird – unabhängig davon, ob die eigene Beteiligung tatsächlich je in Gänze eingestellt worden war. Da sich Fixing Missions wesentlich aus den Besonderheiten demokratischer Strukturen und Dynamiken ergeben, sind sie ein Einsatztypus, der nur demokratische, nicht aber nicht-demokratische Staaten und Imperien betrifft. Hieraus folgt, dass Fixing Missions nicht unter militärstrategischen, sondern vornehmlich unter politischen Gesichtspunkten als ein spezieller Einsatztypus gelten können. Deshalb können die Charakteristika von Fixing Missions anhand ihrer besonderen politischen Herausforderungen konzeptionell umrissen werden. Es ist zwar davon auszugehen, dass sich die militärisch-operationelle Gestalt von Fixing Missions in der Regel von der Ursprungsmission unterscheidet – worauf im vorliegenden Beitrag auch kurz einzugehen sein wird. Dennoch ist die politische Dimension der 137

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Wiederaufnahme des militärischen Engagements entscheidend. Wenn also im Folgenden von Fixing Missions die Rede ist, dann sagt dies kaum etwas über die Art oder das Ausmaß der militärischen Mittel aus. Vielmehr ist es hinsichtlich des militärischen modus operandi von Fixing Missions hinreichend, dass der Einsatz von militärischen Mitteln auch zu Kampfzwecken stattfindet und dass das Engagement in dem intervenierenden Staat – letztlich stets unter politischen Gesichtspunkten – als Kriegseinsatz eingestuft beziehungsweise als ein solcher angesehen wird.32 Da es in Fixing Missions also nicht um eine spezielle kampftechnische Operationsvariante, sondern um einen politischen Einsatztypus geht, gleichsam nicht das Wie, sondern das Ob des militärischen Engagements klassifikatorisch relevant ist, wird im Folgenden weitgehend synonym und unbeschadet ihrer je eigenen militärisch-operationellen Implikationen von Militäreinsätzen, vom Einsatz militärischer Mittel oder Gewalt sowie von Kriegsbeteiligungen, liberalen oder militärischen Interventionen und Missionen gesprochen. Mit der Beschreibung und dem Ausweis von Fixing Missions als eines recht neuen, spezifischen Typus des demokratischen Krieges ist das Ziel dieses Aufsatzes vornehmlich konzeptioneller und theoretischer Art. Daher kann hier nicht der Anspruch erhoben werden, auch schon einen Beitrag zur empirischen Erforschung von Fixing Missions zu leisten. Gleichwohl wird in der Entwicklung des konzeptionellen Arguments wiederholt auf den Krieg in Afghanistan, den Irakkrieg von 2003 und die westliche Intervention in Libyen rekurriert werden, um wesentliche Aspekte und charakteristische Eigenschaften von Fixing Missions zu umreißen. Diese drei Beispiele des liberalen, von den USA angeführten Interventionismus sind für die Diskussion von Fixing Missions deshalb geeignet, da sich in allen drei Fällen die Situation nach dem Ende der ursprünglichen Einsätze überaus ungünstig entwickelt hat, wodurch es zu Diskussionen sowie zur Entscheidungsnotwendigkeit über erneute militärische Interventionen gekommen ist. Dabei repräsentieren und verdeutlichen diese drei Engagements westlicher Bündnisse unterschiedliche Stadien sowie die mögliche Varianz im Umgang mit möglichen Fixing Missions. Sie variieren darin, dass im

32 Dies bedeutet auch, dass eine Verwendung militärischer Mittel unterhalb der Schwelle der Klassifikation als kriegerischer Einsatz im intervenierenden Staat nicht als Fixing Mission gelten kann. Dies dürfte beispielsweise für Spezialeinsätze gelten, deren alleiniger Zweck in der Befreiung einzelner Personen aus einem ehemaligen Einsatzgebiet besteht. Nur der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass der Einsatz militärischer Infrastruktur zur Unterstützung nach Naturkatastrophen oder Unglücken ebenfalls nicht in den Gegenstandsbereich von Fixing Missions fällt.

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Falle des Irak seit dem offiziellen Kriegsende 2003 und ebenfalls seit dem Truppenabzug 2009-2011 mit dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ein neuerlicher Einsatz militärischer Gewalt stattgefunden hat, dies im Falle Libyens nach der Intervention 2011 bislang (weitgehend) ausgeblieben ist, während in Afghanistan nach dem offiziellen Ende des US-Kampfeinsatzes 2014 die Frage einer Wiederaufnahme verstärkter westlicher und insbesondere US-amerikanischer Kriegseinsätze durchgehend virulent war und ist.33 Ohne eine vergleichende Fallstudie anzustreben, werden diese drei Beispiele im Folgenden der Konkretisierung und Veranschaulichung von Fixing Missions und ihrer konzeptionellen Systematisierung dienen. Die genannten Fälle spiegeln dabei auch die theoretisch nur mittelbare, aber thematisch und empirisch hervorgehobene Relevanz von Fixing Missions für die Diskussion imperialer Politik wider. Denn wenngleich Fixing Missions nicht ausschließlich in imperialen Kontexten vorkommen, sondern ebenfalls aus demokratischen Kriegen nicht-imperialer Staaten erwachsen können, sind sie aufgrund der US-Führungsrolle in (fast) allen jüngeren demokratischen Kriegseinsätzen doch vor allem im Rahmen globaler Einsätze der USA und ihrer weltordnungspolitischen Projektionen anzutreffen. Fixing Missions sind zwar weder zwingend noch unmittelbar 33 So sind nach der ursprünglichen Beendigung des Irakkrieges weitere militärische Einsätze beschlossen worden, um die Milizen des IS zurückzudrängen. Mit Blick auf die militärische Intervention in Libyen, die den Sturz der Regierung in Tripolis ermöglicht hat, lässt sich dagegen feststellen, dass die Debatte über die mögliche Verantwortlichkeit des westlichen Militärbündnisses für den Zusammenbruch und die faktische Auflösung des libyschen Staates – sowie über das Für und Wider einer (auch normativen) Verpflichtung der ehemaligen westlichen Koalition, erneut in Libyen zu intervenieren – bislang nicht zu einer Entscheidung für einen weiteren intensiven Militäreinsatz geführt hat. Das bisherige Desinteresse westlicher Regierungen an einem erneuerten Engagement in Libyen zeigt sich dabei insbesondere in dem Versuch, trotz des offenkundig bereits erfolgten Staatszerfalls möglichst schnell zu vermeintlich normalen internationalen Beziehungsmustern mit Libyen zurückzukehren. So können die Wirtschafts- und Rückführungsabkommen westlicher Staaten mit der von ihnen als legitim anerkannten lybischen Regierung auch als (Auto-) Suggestion und Simulation der territorialen und politischen Integrität des libyschen Staates beziehungsweise überhaupt seines Fortbestehens verstanden werden – und zeigen jedenfalls an, dass der Wille zu einem weiteren militärischen Engagement nicht vorhanden ist. Liefert der Irak ein Beispiel für ein erneutes militärisches Eingreifen und Libyen eines für das bisherige Ausbleiben einer solchen Mission, so macht die internationale öffentliche und insbesondere auch regierungsseitige Aufmerksamkeit für die neuerlichen Erfolge der Taliban und des IS seit 2016 in Afghanistan deutlich, dass sich die ehedem intervenierenden Mächte recht kurze Zeit nach dem Abzug ihrer Truppen vor die Frage eines weiteren militärischen Einsatzes gestellt sehen.

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auf imperiale Politiken bezogen, wohl aber empirisch meist im Kontext des liberalen Interventionismus der USA zu beobachten. Ihr Ausweis kann daher zum besseren Verständnis eines besonderen Aspekts aktueller demokratischer Imperialität beitragen. III. Merkmale und Herausforderungen von Fixing Missions Die Merkmale von Fixing Missions bestehen vornehmlich in einem Zusammenspiel von spezifischen politischen Herausforderungen, die aus der besonderen Situation der Wiederaufnahme eines kürzlich beendeten Einsatzes durch demokratische Akteure resultieren. Daher sollen die charakteristischen Eigenschaften von Fixing Missions durch den Ausweis und die Diskussion ihrer besonderen Herausforderungen konzeptionell umrissen werden.34 Zwar können die im Folgenden genannten Aspekte einzeln und für sich genommen auch bei anderen militärischen Einsätzen eine Rolle spielen. Doch ihr Zusammentreffen, ihre Interrelationen und die hierdurch bedingte spezifische strukturelle Problemkonstellation weisen Fixing Missions als einen in politischer Hinsicht besonderen Einsatztypus aus, den es sowohl analytisch als auch politisch ernst zu nehmen lohnt. Das Eingeständnis des Scheiterns und der Verantwortung Da die Kriegsbeteiligung im Kontext des liberalen Interventionismus regelmäßig mit dem normativen Anspruch und militärischen Ziel der Befriedung einer Situation begründet wird, sind insbesondere Demokratien, auch im Rahmen imperialer Projektionen, darauf angewiesen, ein Ende der eigenen Beteiligung an Kriegen zu benennen, das idealerweise mit dem Ende des Krieges selbst zusammenfällt und mit einer stabilen Friedensordnung einhergeht.35 Aktuelle Kriege zeichnen sich allerdings just dadurch aus, dass aufgrund ihrer asymmetrischen Struktur oft weder ihr Beginn, noch insbesondere aber ihr Ende verlässlich angegeben werden 34 Aufgrund ihrer systematischen und konzeptionellen Zielsetzung beinhalten die hier vorgenommenen Überlegungen keine normative Wertung. Daraus lässt sich freilich weder ein normatives (Ein-)Verständnis in der Sache noch eine bestimmte politische Handlungspräferenz herleiten. 35 Für eine Diskussion unterschiedlicher demokratischer Friedens- und Befriedungsvorstellungen sowie „[i]mperiale[r] Facetten demokratisierender Friedenskultur“ vgl. Huhnholz, Sieg und Frieden?, S. 137 u. 148-156.

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kann.36 Vielmehr gehen sie in vielfältige Formen des low-intensity war mit einem hohen Reeskalationsrisiko über. Die zweifelhafte Beendbarkeit von Kriegen setzt demokratische Akteure aufgrund ihrer meist normativen, friedensstiftenden Legitimierungsstrategien nun unter besonderen Druck. Fixing Missions bewegen sich daher in dem Spannungsverhältnis, dass einerseits die Wiederaufnahme eines Einsatzes begründet und betrieben wird, während andererseits noch kurz zuvor der militärische Erfolg, der Abschluss der Kriegsbeteiligung und idealerweise sogar die Befriedung der Situation insgesamt proklamiert (oder bisweilen auch simuliert37) worden ist. Hieraus ergibt sich eine der größten politischen Herausforderungen von Fixing Missions. Denn weil es sich bei diesen Einsätzen um nachgeordnete, das heißt auf vorgehende militärische Operationen folgende Missionen in dem gleichen Gebiet handelt, muss konzediert werden, dass die ursprüngliche Mission zumindest teilweise gescheitert ist und die vormaligen Erfolgsbehauptungen unzutreffend waren. Mit einer Fixing Mission ist immer das – zumindest stillschweigende – Eingeständnis verbunden, dass der vorhergehende militärische Einsatz nicht erfolgreich gewesen ist oder die Situation sogar zusätzlich verschärft hat. Das politische Dilemma für den intervenierenden Akteur besteht also darin, dass die Entscheidung für eine Fixing Mission – und somit für die Wiederaufnahme eines militärischen Einsatzes, der unlängst für erfolgreich abgeschlossen erklärt worden ist – notwendigerweise das Eingeständnis des mindestens teilweisen Scheiterns der ursprünglichen Intervention oder aber das Bekenntnis einer Fehleinschätzung (wenn nicht gar einer interessengeleiteten Unredlichkeit) in Bezug auf die ursprüngliche Mission impliziert. Es ist daher anzunehmen, dass Regierungen tendenziell zurückhaltend sein werden, wenn es darum geht, die Notwendigkeit von Fixing Missions offen einzuräumen, sie zu beschließen und durchzuführen. Dabei macht es im Hinblick auf dieses politische Dilemma keinen großen Unterschied, ob die vorhergehende Mission eine untragbare Situation unmittelbar hervorgerufen oder ob sie unbeabsichtigt die Voraussetzungen für eine ungünstige post-interventionistische Entwicklung geschaffen hat. Solange sich die Situation im ehemaligen Interventionsgebiet eben auch auf die ursprüngliche militärische Operation zurückführen lässt, werden

36 Vgl. Münkler, Kriegssplitter, S. 196f., 200f., 209 u. 211. 37 Hierfür kann die Mission-Accomplished-Rede und -Inszenierung von George W. Bush am 01.05.2003 auf dem Flugzeugträger USS Abraham Lincoln als beinahe schon idealtypisches Beispiel gelten.

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der oder die intervenierenden Akteure sich dem Dilemma nicht gänzlich entziehen können, dass die Wiederaufnahme eines Einsatzes immer auch mit dem Eingeständnis des Misserfolgs der ursprünglichen Mission verbunden ist. Aus diesem Grunde ist es für die Klassifikation einer Mission als Fixing Mission eher unerheblich, inwiefern und in welchem Maße der ursprünglich intervenierende Akteur für den Gang der Ereignisse und die Situation seit dem Ende der vorangegangen Mission verantwortlich ist. Vielmehr ist es hinreichend, dass innerhalb des politischen Systems, im öffentlichen Diskurs und/oder in internationalen Arenen die Wahrnehmung vorherrscht, dass die ursprüngliche Mission die ungünstige Entwicklung im Interventionsland hervorgerufen oder begünstigt hat. Es kommt in diesem Zusammenhang also mehr auf eine verbreitete Verantwortungszuschreibung als auf messbare Zurechenbarkeit an.38 So basiert – um ein Beispiel anzuführen – das politische Dilemma des Eingeständnisses eigener Fehler nicht auf dem lückenlosen Nachweis, dass der Aufstieg des IS im Irak ausschließlich auf den Irakkrieg der sogenannten Koalition der Willigen zurückzuführen sei. Der genaue Grad der Verantwortlichkeit des westlichen Bündnisses für das Erstarken des IS im Irak – und auch die Frage, ob der IS selbst bei Ausbleiben des Irakkrieges erfolgreich gewesen wäre – ist für das politische Dilemma, dass ein erneuter Einsatz im Irak auf den Misserfolg der Ursprungsintervention verweist, nebensächlich. Um das für Fixing Missions charakteristische Dilemma des Eingeständnisses eigenen Scheiterns festzustellen, genügt vielmehr bereits die verbreitete Wahrnehmung, dass der Irakkrieg von 2003 einen Beitrag zum Erstarken des IS geleistet habe, dass also die ursprüngliche Intervention für die derzeitige Situation und für die Notwendigkeit eines neuerlichen militärischen Einsatzes im Irak zumindest partiell ursächlich sei. Dagegen spielt es hinsichtlich dieses Dilemmas eine wichtige Rolle, ob eine Fixing Mission von der gleichen Regierung erwogen beziehungsweise durchgeführt wird, die für die vor kurzem unternommene Ursprungsmission verantwortlich war, oder ob es zwischenzeitlich zu einem Regierungswechsel gekommen ist. Es kann von hervorgehobener Bedeutung sein, ob und in welchem Ausmaß tatsächlich eigenes Scheitern in der vorangegangenen Ursprungsmission einzugestehen ist. Das Gewicht und die Wirkung des Dilemmas, das eigenen Scheitern konzedieren zu müssen, hängt we-

38 Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Zuschreibung von Verantwortlichkeit auf einer sorgfältigen Einschätzung der Gesamtsituation beruhen kann (und hoffentlich auch beruht) und dass die zugeschriebene Verantwortlichkeit sich mit der tatsächlichen Verantwortung weitgehend deckt.

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sentlich davon ab, ob die Regierung, die über eine Fixing Mission entscheidet, auch schon die ursprüngliche Mission durchgeführt oder zumindest mitgetragen hat – oder ob sich aktuelle Regierungsmitglieder seinerzeit vielleicht sogar gegen den Einsatz ausgesprochen haben. So konnte im Fall des derzeitigen militärischen Einsatzes der USA gegen den IS im Irak die Regierung Obama recht offen eingestehen, dass die Wiederaufnahme des Kriegseinsatzes auch Folge einer – von Obama dezidiert als Fehler eingeschätzten – Entscheidung der Vorgängerregierung war, im Irak zu intervenieren. Für einen republikanischen Präsidenten, der sich gegebenenfalls sogar in der Tradition der Bush-Administration gesehen hätte, wäre ein solches Zugeständnis politisch schwieriger gewesen. Anders verhält es sich etwa hinsichtlich des Zusammenbruchs und Zerfalls des libyschen Staats nach der US-geführten Intervention. Der Beschluss einer Fixing Mission durch die Obama-Administration wäre mit dem Eingeständnis einhergegangen, für den Zerfall Libyens mitverantwortlich zu sein. Gleichwohl orientiert sich die Zuschreibung politischer Verantwortlichkeit freilich nicht alleine daran, ob die ursprünglich intervenierende Regierung nach wie vor regiert oder in der Zwischenzeit abgelöst worden ist. Neben zahlreichen weiteren Aspekten wird die Fragen nach der Verantwortungszuschreibung vielmehr immer auch Gegenstand unterschiedlicher politischer Deutungen und Interessen sein. Die ethnisch und religiös konnotierte Gewalt und die staatlichen Desintegrationstendenzen im Irak als – gegebenenfalls unbeabsichtigte,39 aber doch billigend in Kauf genommene – Konsequenzen der von der Bush-Administration angeführten Intervention zu betrachten, schließt es beispielsweise nicht aus, auch die Irakpolitik der Regierung Obama sowie den US-innenpolitisch motivierten Abzug der Truppen als vorschnell und deshalb mitursächlich für die post-interventionistische Situation zu kritisieren.40 Zudem spielt in internationalen Foren ein möglicher Regierungswechsel eine geringere Rolle als in innenpolitischen Debatten. Im internationalen Kontext ist ein zwischenzeitlicher Regierungswechsel weniger bedeutsam als der Umstand, dass es derselbe Staat ist, der eine neuerliche militärische Operation zur Beseitigung einer Situation beabsichtigt, die er durch eine frühere Intervention selbst hervorgerufen hat. Bei der Betrachtung konkreter empirischer Fälle wird das Dilemma des Eingeständnisses eigenen Scheiterns somit variieren. Es wird sich als mehr

39 Vgl. hierzu breit Daase/Friesendorf, Rethinking Security Governance. 40 Vgl. z.B. Salam, We Never Should Have Left Iraq; Scarborough, U.S. Troop Withdrawal.

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oder weniger stark ausgeprägt erweisen und sowohl in nationalen als auch in trans- und internationalen Debatten umstritten sein – jeweils in Abhängigkeit davon, ob eine Regierung weiterregiert oder zwischenzeitlich abgelöst worden ist, mit Blick auf frühere und aktuelle Positionen der Regierungsmitglieder, mit Blick auf ein imperiales Selbst- und Fremdverständnis des jeweiligen Akteurs sowie unter Bezugnahme auf unterschiedliche Interessen und vielfältige weitere Aspekte. Die zu erwartende empirische Variabilität dieses Dilemmas ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit, es konzeptionell wie empirisch ernst zu nehmen, sondern macht diese Notwendigkeit vielmehr besonders deutlich. Sowohl für den konzeptionellen Umriss von Fixing Missions als auch für das Verständnis der mit ihnen verbundenen politischen Debatten und Dynamiken ist das Dilemma, dass ein beabsichtigter Einsatz stets das Zugeständnis früheren Versagens impliziert, von zentraler Bedeutung. Erst eigenes Scheitern hat zu der Situation geführt, die nun mit militärischen Mitteln korrigiert und durch eine Fixing Mission gleichsam ‚repariert‘ werden soll. Kriegsmüdigkeit Ein weiteres Merkmal von Fixing Missions besteht darin, dass das Phänomen der Kriegsmüdigkeit 41 eine wichtigere Rolle spielt als bei einer militärischen Operation nach längerer kriegerischer Abstinenz – oder als es in nicht-demokratischen politischen Systemen der Fall ist, in denen Regierungen sich über gesellschaftliche Präferenzen regelmäßig hinwegzusetzen pflegen. Dies hängt unmittelbar mit der in demokratischen Systemen gegebenen Notwendigkeit zusammen, für einen beabsichtigten Kriegseinsatz ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Zustimmung zu generieren. Dass der Einsatz militärischer Gewalt in liberalen Gesellschaften in der Regel überaus umstritten ist, ist sowohl innerhalb des monadischen Forschungsstrangs zur Theorie des demokratischen Friedens42 als auch in Arbeiten in-

41 Es ist bemerkenswert, dass Kriegsmüdigkeit zwar sowohl in der Politik als auch in der gesellschaftlichen Diskussion sowie in wissenschaftlichen Diskursen Berücksichtigung erfährt, dabei aber ausschließlich einzelfallbezogen und empirisch thematisch wird und bisher kaum begriffliches, konzeptionelles oder gar theoretisches Interesse erfahren hat. 42 Vgl. Russett/Oneal, Triangulating Peace; siehe dazu ebenfalls MacMillan, Beyond the Separate Democratic Peace; ders., Liberalism and the Democratic Peace.

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nerhalb der dyadischen Ausrichtung vorgebracht worden.43 Dabei sind in jüngerer Vergangenheit die Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Kriegsneigung, Kriegs(un)willigkeit und Rechtfertigungsstrategien von Demokratien Gegenstand vergleichender Untersuchungen geworden.44 Wenn die Betrachtung liberaler Kriegsbeteiligungen nun zeigt, dass die Herstellung gesellschaftlicher Zustimmung zum Kriege zwar möglich, aber in Demokratien doch immer ein problembehaftetes Unterfangen bleibt, dann ist es für Befürworter/innen einer Fixing Mission aus zweierlei Gründen besonders schwierig, gesellschaftliche Zustimmung für einen Waffengang zu finden. Zum einen ist bei der Rechtfertigung einer Fixing Mission die nach jedem Kriegsengagement festzustellende, gleichsam allgemeine Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung zu berücksichtigen.45 Eine kriegsmüde Bevölkerung wird allerdings zum zweiten noch weit schwieriger von der Notwendigkeit einer militärischen Mission zu überzeugen sein, wenn es sich um die Wiederaufnahme gerade jenes Krieges handelt, der erst kürzlich – und vermeintlich erfolgreich – zum Abschluss gekommen ist. Eine Besonderheit von Fixing Missions, ihrer Rechtfertigung und Legitimierung besteht also darin, dass sie unter Bedingungen allgemeiner wie spezifischer Kriegsmüdigkeit stattfinden. Hierin unterscheiden sie sich von anderen Militäreinsätzen, bei denen dies nicht zwingend der Fall ist. Zudem dürften die Verbreitung und die Intensität der Kriegsmüdigkeit im Falle von Fixing Missions besonders hoch sein, da die Fixing Mission als Wiederaufnahme eines jüngst beendeten Krieges gelten kann, dessen ex posteriori offenkundig gewordener Misserfolg im Zuge der Fixing Mission korrigiert werden soll. Das Phänomen der Kriegsmüdigkeit ist dabei nicht allein auf die Wahlbevölkerung oder (zivil-)gesellschaftliche Akteure begrenzt, sondern betrifft und beeinflusst auch politische Institutionen und Entscheidungs-

43 Vgl. lediglich beispielhaft Risse-Kappen, Democratic Peace; Barkawi/Laffey The Imperial Peace; Knutsen, Twentieth-Century Stories; Müller, The Antinomy of Democratic Peace; Chandler, From Kosovo to Kabul; Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg; dies./Wagner, How Far is it from Königsberg to Kandahar?; Reiter/Stam, Democracies at War, S. 198-200. 44 Vgl. z.B. Müller, The Antinomy of Democratic Peace; Desch, America’s Liberal Illiberalism; Geis et al., The Militant Face of Democracy. 45 Messungen und Studienergebnisse zur Kriegsmüdigkeit in den USA in Bezug auf die Kriege in Afghanistan und im Irak finden sich in Holyk, The War in Afghanistan; Zurcher, Economic Concerns and War Fatigue; Jones/Saad, Americans’ Views of War. Für eine vergleichende Darstellung der Kriegsmüdigkeit in den USA im Hinblick auf die Kriege in Korea, Vietnam, Afghanistan und im Irak vgl. Newport, More Americans Now View Afghanistan War as a Mistake.

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träger/innen. In Demokratien wirkt eine gesellschaftlich vorherrschende Abneigung zu fortgesetzten militärischen Einsätzen auf alle Ebenen des politischen Systems ein. Fixing Missions müssen daher nicht nur aus der Gesamtgesellschaft heraus, sondern auch innerhalb der politischen Institutionen mit besonderem Gegenwind rechnen. Allerdings ist daraus nicht die – auch schlicht kontrafaktische – These abzuleiten, dass die zu erwartende besondere Umstrittenheit von Fixing Missions regelmäßig zu ihrer Ablehnung führen würde. Nicht nur kann die Entscheidung demokratischer Regierungen für militärische Einsätze auch gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und der Wähler/ innen getroffen werden– wie dies in zahlreichen europäischen Staaten der Fall war, die sich am Irakkrieg von 2003 beteiligt haben. Vielmehr zeigen sowohl die historische Erfahrung als auch die Forschungen zum demokratischen Krieg, dass die Anwendung militärischer Gewalt auch in demokratischen Gesellschaften sehr wohl mehrheitsfähig sein kann. So hat beispielsweise die Invasion im Irak 2003 in der US-Bevölkerung weitreichende Zustimmung erfahren. Doch wenngleich weder die Forschungen zum demokratischen Frieden noch zum demokratischen Krieg behaupten, dass demokratische Repräsentation notwendig zur Ablehnung militärischer Mittel führe, so hebt selbst der dyadische Ansatz die besondere Rolle hervor, die in demokratischen Staaten der öffentlichen Diskussion und Rechtfertigung militärischer Aktivitäten sowie den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Wähler/innen und politischen Entscheidungsträger/innen zukommt.46 Freilich lässt sich aus den strukturellen Bedingungen, unter denen Fixing Missions debattiert werden, alleine nicht antizipieren, ob Kriegsmü-

46 Vgl. Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg, S. 195. In der Forschung zum demokratischen Frieden ist noch immer eine (stillschweigende) Gleichsetzung von Gesellschaft, Öffentlichkeit und Wahlbevölkerung zu beobachten. Dies gilt auch für Fallstudien, die die Struktur und Dynamik öffentlicher Debatten über konkrete militärische Einsätze rekonstruieren und analysieren (vgl. z.B. Reiter/Stam Democracies at War, S. 144-163 sowie die fallbezogenen Beiträge in Geis et al., The Militant Face of Democracy). Hinsichtlich der unterschiedlichen Ergebnisse öffentlicher Diskussionen zu militärischen Einsätzen – manche Demokratien wenden regelmäßig militärische Gewalt an, manche nur gelegentlich und andere wiederum nie –, insbesondere jedoch auch angesichts von Fällen, in denen Regierungen einen Kriegseinsatz zwar im Widerspruch zu durchaus großen Teilen der Bevölkerung beschließen, aber gegebenenfalls im Einklang handeln mit jenen Teilen der Wähler/innenschaft, die sie für entscheidend halten, empfiehlt sich eine differenzierte Betrachtung und Unterscheidung von Gesellschaft, Öffentlichkeit und Wahlbevölkerung.

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digkeit in der Gesellschaft sowie innerhalb der Institutionen bei politischen Akteur/innen und Entscheidungsträger/innen dazu führen wird, eine bestimmte Fixing Mission zu beginnen oder zu unterlassen. In konzeptioneller Absicht ist aber festzuhalten, dass Debatten über Fixing Missions hinsichtlich ihres Zweckes, ihrer politischen Rechtfertigung und Legitimierung unter noch schwierigeren Bedingungen stattfinden als dies bei Debatten über ‚neue‘ militärische Missionen in Demokratien ohnehin der Fall ist. In einer Situation allgemeiner und einsatzspezifischer Kriegsmüdigkeit sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch innerhalb des politischen Systems stellt die politische Rechtfertigung der Wiederaufnahme eines erst kürzlich beendeten militärischen Engagements in Demokratien eine besondere argumentative Herausforderung dar. Diese Herausforderung kann freilich im Rahmen demokratischer Imperialität durch den spezifischen imperialen „Interventionszwang“47 größer oder drängender sein als in nicht-imperialen demokratischen Staaten. Es kann zudem davon ausgegangen werden, dass die besondere Situation der Wiederaufnahme von eigentlich abgeschlossenen Kriegshandlungen unter Bedingungen erhöhter Kriegsmüdigkeit auch einen Einfluss auf die Wahl der technischen und taktischen Einsatzmittel und -ziele entfalten wird. So ist zu erwarten, dass das für demokratische Kriegsführung charakteristische Merkmal, die Zahl der eigenen Kriegstoten mit Blick auf die weitere Unterstützung durch die Wahlbevölkerung so gering wie möglich zu halten48 – oder wie im Falle von Fremdenverbänden oder contracted soldiers zu externalisieren –, in Fixing Missions besonders ausgeprägt sein wird. In diesem Sinne haben Sauer und Schörnig den Einsatz von Luftdrohnen als „‚silver bullet‘ of democratic warfare“49 bezeichnet. Dabei haben sie ausgewiesen, dass die Vorzüge der Risikoreduktion für die eigenen Truppen durch den Einsatz unbemannter Drohnen insbesondere für demokratische Regierungen attraktiv sind.50 Mit Blick auf gesellschaftliche Diskurse ist überdies eine komparativ deutlich geringer ausgeprägte mediale und öffentliche Sichtbarkeit des Drohnenkrieges festzustellen. Drohnen scheinen nicht nur unter dem Radar, sondern auch unterhalb der gesellschaftlichen Wahrnehmungsschwelle zu fliegen. Zwar kann hier keine Diskussion der für Fixing Missions charakteristischen militärtechnischen oder -taktischen Einsatzmittel und -ziele geführt

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Münkler, Imperien, S. 30. Vgl. z.B. Freedman, Iraq, Liberal Wars and Illiberal Containment. Sauer/Schörnig, Killer Drones, S. 363. Vgl. ebd., S. 370.

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werden. Doch es lässt sich aus den bisherigen Überlegungen schließen und mit Blick auf das Engagement der USA gegen den IS sowie in Afghanistan erkennen, dass in Fixing Missions der ausgeprägte Wille besteht, die eigenen Verluste, die Sichtbarkeit und insgesamt die politischen Kosten des militärischen Engagements so gering wie möglich zu halten. So ist in diesen Fixing Missions neben der Intensivierung des Drohnenkrieges nicht nur ein absoluter Vorrang von Luftangriffen vor Bodentruppen und der Einsatz von Vertragskombattant/innen jedweder Art festzustellen (von Fremdenlegionären über private military companies bis hin zu bezahlten lokalen Milizen), sondern auch die Bewaffnung verbündeter Kräfte, die Konzentration auf Spezialeinheiten und sogenannte schnelle Eingreiftruppen sowie der Einsatz von vielfältigen militärischen und semi- beziehungsweise paramilitärischen Consultants.51 Als Mittel der Wahl in Fixing Missions können all jene gelten, die eine möglichst geringe Zahl an eigenen Toten erfordern – oder im Idealfall als weitgehend verdeckte Operationen den Anschein erwecken, es fänden vermeintlich chirurgische Eingriffe und damit letztlich gar keine ‚echten‘ Kriegseinsätze statt. Dies ist aktuell insbesondere im Falle Libyens festzustellen, wo US-amerikanische, britische, französische und italienische Einheiten nach dem deklarierten Ende des Kriegseinsatzes erneut kämpfend engagiert sind, dies allerdings ausschließlich verdeckt geschieht.52 Inhaltliche Rechtfertigung: Normative Krisen und humanitäre Notlagen Nicht zuletzt mit Blick auf das normative Selbstverständnis des liberalen Interventionismus in den letzten beiden Jahrzehnten ist zu erwarten, dass sich Debatten um Fixing Missions regelmäßig dadurch auszeichnen, dass in ihnen normative Argumente eine häufige und hervorgehobene Rolle

51 Vgl. Avant/Sigelman, Private Security and Democracy; Sauer/Schörnig, Killer Drones; Phelps, Doppelgangers of the State; Gehlen, Der IS in Libyen steht vor dem Ende; Guardian/AFP, Renzi Under Fire; Stephen, Secret US Mission in Libya Revealed; ders., Three French Special Forces Soldiers Die in Libya; Paton Walsh, U.S. Special Forces Take the Fight to ISIS; Donaghy, Britain and Jordan’s Secret War in Libya; vgl. zu PMC insgesamt Singer, Corporate Warriors. 52 Vgl. Gehlen Der IS in Libyen steht vor dem Ende; Guardian/AFP, Renzi Under Fire; Stephen, Secret US Mission in Libya Revealed; ders., Three French Special Forces Soldiers Die in Libya; Paton Walsh, U.S. Special Forces Take the Fight to ISIS; Donaghy, Britain and Jordan’s Secret War in Libya.

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spielen. So ist in vielfältigen theoretischen Beiträgen53 und (vergleichenden) empirischen Studien54 eindrücklich gezeigt worden, dass in Demokratien militärische Einsätze vornehmlich mittels normativer Argumente begründet werden.55 Insbesondere die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts festzustellende erhöhte Bereitschaft zu militärischen Interventionen und die oft überraschend freimütige Forderung nach der Durchführung solcher Operationen innerhalb sowohl des regierungsseitigen als auch des öffentlichen Diskurses werden meist normativ auf der Grundlage liberaler und demokratischer Werte gerechtfertigt. Wenn angesichts des liberalen Interventionismus jüngerer Zeit56 festzustellen ist, dass „we have witnessed

53 Vgl. z.B. Freedman, The Age of Liberal Wars; Müller, The Antinomy of Democratic Peace; Desch, America’s Liberal Illiberalism; Dunne, Liberalism, International Terrorism, and Democratic Wars. 54 Vgl. z.B. Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg; Fey, „The Right Thing to Do“?; Becker-Jakob, Canada: Standing on Guard. 55 Der Begriff des Normativen umfasst in diesem Beitrag jene Werte, Ideale und Ziele, die im Rahmen demokratischer Kriege und insbesondere des US-geführten liberalen Interventionismus der letzten Jahrzehnte vorgebracht wurden. Mit Blick alleine auf den Anspruch und den Versuch der normativen Rechtfertigung von Gewalt kann heutzutage ein Unterschied zwischen demokratischen Akteuren einerseits und nicht-demokratischen Akteuren beziehungsweise hybriden Systemen andererseits aber nicht festgestellt werden. Denn in der Tat begründet kaum ein nicht-demokratischer Staat einen militärischen Einsatz allein oder auch nur vornehmlich mit nationalen Interessen (verstanden in einem traditionellen Sinne), etwa mit dem Ziel der Durchsetzung geopolitischer Belange, mit dem Ziel der Landnahme oder um Zugang zu Rohstoffen zu erlangen. Der Unterschied zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Staaten scheint vielmehr in einer teilweise divergenten Beurteilung dessen zu bestehen, welche Güter, Ziele und Argumente als normative Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt gelten können und welche nicht. So betrachten nicht-demokratische Staaten beispielsweise die militärische Herbeiführung oder Unterstützung eines Systemwechsels mit dem Ziel der Demokratisierung nicht als legitimen normativen Grund für den Einsatz militärischer Gewalt. Ein weiterer Unterschied scheint zudem darin zu bestehen, dass nicht-demokratische Staaten sich zwar ebenfalls normativer Argumente bedienen, wenn es um den Einsatz von Gewalt geht, dabei jedoch dazu tendieren, einem traditionellen Verständnis des Prinzips der nationalen Souveränität und der Nichteinmischung den Vorrang vor anderen normativen Gründen zur Rechtfertigung militärischer Interventionen zu geben. Da die Unterscheidung zwischen Demokratien und nicht-demokratischen Systemen nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, kann dieser Punkt hier nicht weiterverfolgt werden. Gleichwohl ließe eine vergleichende Untersuchung über Rechtfertigungsstrategien militärischer Einsätze zwischen Demokratien und nicht-demokratischen Akteuren interessante Ergebnisse erwarten. 56 Vgl. Chandler, From Kosovo to Kabul.

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modern liberal states […] rushing to war“,57 dann ist dies untrennbar damit verbunden, dass „[j]ustifications for war habitually draw on normative arguments“58 oder sogar, konkreter, hauptsächlich auf ethisch motivierte Argumente rekurriert wird. Im Rahmen eines „Liberalism of Imposition“59 reichen diese Argumente von der Betonung einer Verantwortung demokratischer Staaten für die Verbreitung der Demokratie sowie für die Beendigung systematischer Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen, über die Stabilisierung scheiternder oder gescheiterter Staaten sowie die Unterstützung und Durchsetzung nationaler Selbstbestimmung, bis zur Befriedung von Kriegsgebieten und zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Empirisch haben Geis, Müller und Schörnig in ihrer vergleichenden Studie zu parlamentarischen Debatten in sieben Demokratien seit den frühen 1990er-Jahren gezeigt, dass innerhalb nationaler parlamentarischer Debatten normative und ethische Argumente für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt eine überaus wichtige Rolle spielen,60 wobei sie bisweilen sogar ein stärkeres diskursives und politisches Gewicht entfalten als eher interessengeleitete Argumente.61 Wenngleich der liberale Interventionismus offenkundig mit wesentlichen Normen des Völkerrechts bricht62 sowie die Theorie des demokratischen Friedens zur Legitimierung von gewaltsamen Systemwechseln (mit zumeist desaströsen Folgen) missbraucht63 – und sie damit letztlich zu einer Militärdoktrin pervertiert –, stützt sich der liberale Interventionismus zugleich auf normative und ethische Argumente für den Einsatz militärischer Gewalt.64 57 58 59 60 61

Dunne, Liberalism, International Terrorism, and Democratic Wars, S. 113. Freedman, The Age of Liberal Wars, S. 94. Sørensen, Liberalism of Restraint, S. 263. Vgl. Geis et al., Liberale Demokratien und Krieg, S. 196. Vgl. ebd., S. 196f.; vgl. auch Fey, „The Right Thing to Do“?; Becker-Jakob, Canada: Standing on Guard; vgl. experimentell Mader/Schoen, Alles eine Frage des Blickwinkels? 62 Vgl. Dunne, Liberalism, International Terrorism, and Democratic Peace, S. 113. 63 Dies zeigt sich beinahe schon paradigmatisch im Falle des Irakkriegs 2003. Vgl. in diesem Sinne auch Reus-Smit, Liberal Hierarchy and the Licence to Use Force, S. 91; Ish-Shalom, The Democratic-Peace Thesis, S. 590-591 u. ders., Theorization, Harm, and the Democratic Imperative. Vgl. für allgemeinere Überlegungen zur externen Demokratisierung und Demokratieförderung Wolff/Wurm, External Democracy Promotion sowie für externe gewaltförmige Demokratisierungsstrategien Merkel, Democracy Through Wars? 64 In der Bedeutung liberaler normativer Argumente zeigt sich freilich einmal mehr die in Demokratien – und damit auch im Kontext demokratischer Imperialität – hervorgehobene Notwendigkeit zur Generierung gesellschaftlicher Zustimmung

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Nun ist davon auszugehen, dass normative Argumente und Rechtfertigungsstrategien bei Fixing Missions eine hervorgehobene, mithin herausragende Rolle spielen. Da im liberalen Interventionismus hauptsächlich normative Argumente zur Rechtfertigung militärischer Gewalt ins Feld geführt werden, kommt der Wiederaufnahme eines schon ursprünglich normativ begründeten militärischen Einsatzes ein besonderes normatives Gewicht zu. Und wenn aufgrund der normativen Kriegsrechtfertigung schließlich auch die Beendigung des ursprünglichen Engagements mit der regierungsseitigen Feststellung eines normativen oder auch humanitären Erfolgs – oder zumindest stabiler Verhältnisse – einhergegangen ist, dann wird eine Wiederaufnahme von Kriegshandlungen nach nur kurzer Zeit kaum anders als durch außergewöhnliche Umstände, gleichsam besondere Not-, Krisen- und Katastrophenlagen gefordert und begründet werden können. Zu diesen Situationen können neben eigener Bedrohung insbesondere normativ schwerwiegende Fehlentwicklungen gezählt werden, wie sie beispielsweise in gravierenden Verschlechterungen der Sicherheits- und Menschenrechtslage durch Staatszerfall (z.B. in Libyen), durch Wiedererstarken terroristischer Gruppen (z.B. Taliban in Afghanistan), durch ethnische Säuberungen oder gar durch die Etablierung räumlicher Schreckensherrschaft (z.B. IS im Irak) festzustellen sind. Die Bewertung sowohl des Bedrohungspotentials als auch der humanitären Situation ist dabei freilich Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch in Debatten um Fixing Missions neben normativen Argumenten ebenfalls anderweitige Interessen für und wider eine Wiederaufnahme des militärischen Engagements eine Rolle spielen werden. Diese können insbesondere im Zusammenhang mit den im ursprünglichen Krieg verfolgten Zielen und Interessen stehen. Diskussionen um Fixing Missions finden, wie andere Einsatztypen auch, im argumentativen, diskursiven und ideologischen Spannungsfeld zwischen normativer Verpflichtung einerzu militärischer Gewalt. Wenn die besondere Relevanz normativer Gründe demokratienübergreifend festzustellen und sowohl im Fall der USA als auch in nichtimperialen Demokratien zu beobachten ist, weist dies nicht nur auf eine demokratische Gemeinsamkeit, sondern zugleich auf einen wesentlichen Unterschied zwischen demokratischer und nicht-demokratischer Imperialität hin. Denn so weicht ein demokratisches Imperium mit Blick auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Zustimmungsproduktion zu militärischen Einsätzen von der für die meisten Imperien gültigen Feststellung ab, dass „imperiale Herrschaft […] insgesamt hierarchischer und elitenzentrierter orientiert [ist]“ (Hausteiner, Selbstvergleich und Selbstbehauptung, S. 24f.) und sich durch „das Fehlen partizipatorischer Beitragsmöglichkeiten“ (Münkler/Hausteiner, Einleitung, S. 10) auszeichnet.

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seits und nationalen beziehungsweise regierungsseitigen Partikularinteressen65 andererseits statt. Aufgrund der wahrgenommenen Mitverantwortung des originären Einsatzes für die unglückliche Nachkriegsentwicklung sowie aufgrund der besonderen Begründungsbedürftigkeit des Wiedereintritts in einen vermeintlich beendeten Krieg ist bei Fixing Missions gleichwohl von einem besonderen Gewicht normativer, mithin ethischer und moralischer Argumentations- und Rechtfertigungsmuster auszugehen. Dass diese je nach Interessenlage und Position bisweilen nur vorgeschoben sein mögen, schmälert nicht ihren Einfluss, sondern betont vielmehr ihre Bedeutung. Zugleich ist in Debatten um Fixing Missions die Gefahr einer Instrumentalisierung normativer Argumente naheliegend und daher berücksichtigungsbedürftig. Wenn das Für und Wider von Fixing Missions vornehmlich in normativen und ethischen Begriffen verhandelt zu werden verspricht, birgt dies ein erhöhtes Risiko einer Kaschierung anderweitiger, gegebenenfalls dominierender Interessen durch eine nur vermeintliche normative Orientierung. Aufgrund des im Rahmen von Fixing Missions zu erwartenden politischen Gewichts normativer und ethischer Argumente verdient schließlich auch das gleichermaßen in imperialen Diskursen wie im Kontext des liberalen Interventionismus insgesamt zu beobachtende Phänomen der Dämonisierung des Feindes und seiner Repräsentation als das Böse schlechthin hervorgehobene Beachtung.66 Die „inclination to make inflationary use of the evilization frame“67 zum Zwecke der Rechtfertigung und Zustimmungsgenerierung für militärische Interventionen muss in Debatten um Fixing Missions besonders berücksichtigt und ernst genommen werden. Unerwartete Zustimmung und Ablehnung von Fixing Missions Ein weiteres Merkmal von Fixing Missions besteht darin, dass sie zu einem gewissen Grad die Grenzen zwischen Befürwortern und Gegnern der ursprünglichen Mission verschieben können. Fixing Missions sind dazu angetan, die Linien zwischen zustimmenden und ablehnenden Akteuren der Ursprungsmission zu verändern. Dies betrifft gleichermaßen die Ebene in65 Vgl. hierzu Vasilache, In the National Interest of Norms. 66 Vgl. Münkler, Barbaren und Dämonen; Chandler, Beyond Good and Evil; Geis/ Wunderlich, The Good, the Bad, and the Ugly; Hayden, Systemic Evil; Müller, Evilization. 67 Ebd., S. 488.

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stitutionalisierter Politik wie die breitere gesellschaftliche Ebene und kann durch unterschiedliche Gründe und Interessen bedingt sein. So ist nicht zu erwarten, dass sämtliche Befürworter/innen der ursprünglichen Mission sich auch für eine Fixing Mission und ihre Notwendigkeit aussprechen. Insbesondere kann das fehlende Eingeständnis, dass die ursprüngliche Mission gescheitert und für die Ereignisse und die Situation nach ihrem Abschluss ursächlich ist, zu einer Ablehnung einer Fixing Mission durch ehemalige Kriegsbefürworter/innen führen. Auch angesichts schwerwiegender Fehlentwicklungen im Interventionsgebiet kann von Befürworter/innen des ursprünglichen Einsatzes die Erreichung der wichtigsten Kriegsziele und -interessen geltend gemacht sowie die Verantwortung und Zuständigkeit für die Nachkriegsentwicklung zurückgewiesen werden. Vor allem unter Bedingungen ausgeprägter Kriegsmüdigkeit werden Regierungen und Entscheidungsträger/innen den gesellschaftlichen Diskurs und die Einstellung der Wahlbevölkerung zur Wiederaufnahme eines Krieges berücksichtigen – selbst oder gerade wenn es dieselbe Regierung war, die den originären Waffengang beschlossen hatte. Unter solchen Bedingungen ist durch die ehemals kriegsbefürwortende Regierung ein gewisses Maß an Reserviertheit gegenüber einer erneuten Militäroperation und einem intensiven Einsatz von Gerät und Truppen zu erwarten. So war in der zweiten Bush jun.-Administration, und damit noch vor dem offiziellen US-Truppenabzug unter Obama, die Zurückhaltung gegenüber einer weiteren Intensivierung des militärischen Engagements im Irak zugunsten einer gleichermaßen kontrafaktischen wie mantrahaften Betonung der erfolgreichen Zielerreichung im Irak offensichtlich.68 Dagegen kann insbesondere angesichts von Nachkriegsentwicklungen, die in humanitärer Hinsicht gravierend sind, die Unterstützung für oder gar die Forderung nach einer Fixing Mission auch von zunächst unerwarteter Seite erfolgen, nämlich von dezidierten Gegner/innen des ursprünglichen Einsatzes. Nicht zuletzt aus der Position ursprünglicher Kriegsopposition heraus können die den Ursprungseinsatz tragenden Regierungen und Bündnisse unter Druck geraten, sich der Verantwortung für die Fehlentwicklungen nicht zu entziehen und durch einen erneuten Einsatz zumindest die desaströsen Folgewirkungen zu beenden – sowie einen angemessenen technischen und militärischen Rahmen für das Erreichen der Ziele

68 Ein Erfolg des Irakkrieges ist anlässlich des Truppenabzuges schließlich auch von Obama behauptet worden. Während er selbst ein erklärter Gegner dieses Waffenganges war, hat er doch in der Siegesbehauptung die Vorgängeradministration kontinuiert. Vgl. McGreal, Obama Declares Iraq War a Success.

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der Fixing Mission bereitzustellen. So waren es mit der Obama-Administration Gegner des Irakkrieges von 2003, die den Drohnenkrieg ausgeweitet und schließlich den Einsatz gegen den IS initiiert haben69 – während dieser Regierung der von ihr angeführte Libyeneinsatz unbeschadet seiner desaströsen Folgeentwicklungen als abgeschlossen galt. Freilich sind Dynamiken einer möglichen Verschiebung von Zustimmung und Ablehnung in den jeweiligen nationalen gesellschaftlichen Diskurs und den je spezifischen politisch-kulturellen Kontext eingebettet. Sie finden vor dem allgemeinen Hintergrund nationaler außenpolitischer Traditionslinien und langfristiger Bündniserwägungen, auf der Grundlage des Selbstverständnisses und der Projektionen politischer Eliten, die auch in Demokratien imperiale Imaginationen einschließen können,70 sowie schließlich vor dem Hintergrund kurz-, mittel- und langfristiger Interessensabwägungen statt. Zudem ereignen sich mögliche Verschiebungen von Zustimmung und Gegnerschaft nicht alleine im politischen System oder entlang der Linie von Regierung und Opposition. Sie sind nicht auf den Bereich der politischen Parteien, Institutionen und Eliten beschränkt, sondern können sich im gesamten öffentlichen Diskurs71 zeigen sowie auch in Veränderungen von Bevölkerungseinstellungen niederschlagen. Dies zeigt sich beispielhaft daran, dass innerhalb der deutschen Bevölkerung, die den ursprünglichen Irakkrieg abgelehnt hatte, dem insbesondere US-amerikanischen militärischen Engagement zur Bekämpfung des IS mehrheitlich zugestimmt worden ist.72 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in Debatten um Fixing Missions die Argumente für und wider einen militärischen Einsatz einerseits mit

69 Dass zur Rechtfertigung des Truppenabzugs aus dem Irak auch Obama noch den Erfolg des Ausgangs des Irakkrieges behauptet hatte (vgl. ebd.), steht hierzu zwar in einem Spannungsverhältnis, aber nicht im Widerspruch. Denn so ging es Obama anlässlich des Truppenabzugs nicht darum, die Entscheidung zum ursprünglichen Kriege von 2003 zu befürworten, sondern den Zeitpunkt seiner Beendigung zu legitimieren. 70 Hausteiner erkennt eine funktionale „Notwendigkeit […] historischer Imagination in Imperien“ (Hausteiner, Selbstvergleich und Selbstbehauptung, S. 20). Es kann angenommen werden, dass die „historische Imagination imperialer Eliten“ (ebd., S. 15) auch in einer imperial orientierten Demokratie eine Rolle spielt und dass die aus solchen Selbstreflexionen resultierenden Präferenzen und Schlüsse in Debatten für und wider eine Fixing Mission eingebracht werden. 71 Siehe z.B. Salam, We Never Should Have Left Iraq; Ladurner/Böhm, Soll der Westen in Libyen intervenieren? 72 Vgl. die Ergebnisse zweier Umfragen des ARD Deutschlandtrend und von YouGov in Ehni, Mehrheit für Syrien-Einsatz; Schmidt, Luftschläge gegen den IS.

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Blick auf Zustimmung und Ablehnung möglicherweise ‚neu gemischt‘ werden. Andererseits können dieselben Argumente, die in Debatten zum ursprünglichen Kriegseinsatz vorgebracht wurden, angesichts seines Ergebnisses und des Gangs der Ereignisse seit seinem Abschluss zu veränderten Positionen führen. Beispielsweise können Argumente, die zugunsten des ursprünglichen Libyeneinsatzes ins Feld geführt wurden, unter den aktuellen Bedingungen des bürgerkriegerischen Staatszerfalls Libyens um ein vielfaches stärker wiegen, so dass es auch als Gegner/in des originären Krieges plausibel sein kann, die Wiederaufnahme des Engagements zu fordern.73 So können sich Regierungen im Kontext von Debatten um Fixing Missions in einer Situation wiederfinden, in der sie von Gegner/innen der ursprünglichen Mission unter Druck gesetzt werden, eine eigentlich als abgeschlossen geltende militärische Operation wiederaufzunehmen, ohne dabei jedoch Unterstützung hierfür durch die Befürworter/innen der ursprünglichen Mission zu erhalten. Unzureichender Vorlauf, Zeitdruck und Dringlichkeit Fixing Missions zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass Regierungen und politische Entscheidungsträger/innen ihnen meist unvorbereitet und bisweilen unerwartet gegenüberstehen. Mögliche Einsätze drohen daher unter Bedingungen unzureichenden Vorlaufs diskutiert und gegebenenfalls beschlossen zu werden. Das Problem des mangelnden Vorlaufs besteht sowohl für den politischen Entscheidungsprozess als auch für die Prozesse der technischen Vorbereitung und Durchführung. Da die Ursprungsmission erst vor kurzem abgeschlossen und dies meist mit dem Erreichen der Einsatzziele begründet worden ist, sehen sich Regierungen, die sich gleichsam im Abzugsmodus befinden, recht unvermittelt mit der Notwendigkeit konfrontiert, eine Fixing Mission zu diskutieren und eventuell durchzuführen. Nun wäre insbesondere mit Blick auf den Irak, Afghanistan und Libyen einzuwenden, dass die verheerenden Entwicklungen seit dem Ende der westlichen Interventionen alles andere als unerwartet waren und die Regierungen der intervenierenden Staaten auf die Diskussion und Durchführung von Anschlussmissionen politisch wie militärisch hätten vorbereitet sein können. Insbesondere könnte den USA als der Führungsmacht der Interventionen entgegengehalten werden, dass sie die Entwicklungen hätten antizipieren müssen. Angesichts ihrer in allen drei Engagements ausge73 Siehe z.B. Ladurner/Böhm, Soll der Westen in Libyen intervenieren?

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drückten weltordnungspolitischen Zielsetzung sowie ihrer permanenten militärischen Einsatzfähigkeit hätten die USA – so ließe sich entgegnen – für unmittelbare Anschlusseinsätze gewappnet sein müssen. Doch auch wenn für politische Beobachter/innen das Risiko abzusehen war, dass ein bestimmter Militäreinsatz oder seine Beendigung eine unerwünschte Situation unmittelbar herbeigeführt, einen Beitrag zu ihr geleistet oder – im Falle Afghanistans – jedenfalls nicht beendet oder verhindert hat, so muss doch angenommen werden, dass die für den Truppenabzug verantwortliche Regierung bei der Abzugsentscheidung Kosten-Nutzenund Risikoanalysen durchgeführt hat.74 Dass eine militärische Intervention beendet worden ist, lässt den Schluss zu, dass die jeweilige Regierung annahm – oder zumindest hoffte –, dass das militärische Engagement beendet und der Abzug beständig sein werde. Für Beobachter/innen und insbesondere für Gegner/innen des ursprünglichen Einsatzes und Kritiker/ innen seiner fehlerbehafteten Durchführung oder seiner überhasteten Beendigung mag es absehbar gewesen sein, dass der ursprüngliche Einsatz schwerwiegende Folgeprobleme verursachen und daher in kurzer Zeit die Frage einer Fixing Mission auf die politische Agenda drängen würde. Gleichwohl werden Militäreinsätze unter der Annahme und mit dem Ziel eines dauerhaften Abzuges beendet, wobei der Wille zu einer raschen Reduktion von – in Demokratien besonders rechtfertigungsbedürftigen – politischen und finanziellen Kosten auch einen zügigen und möglichst weitgehenden Rückbau militärischer Infrastruktur vor Ort impliziert. So ist zu erwarten, dass demokratische Regierungen, und hier selbst Vertreter/innen imperialer Politikmuster, oft weder politisch noch militärisch in hinreichendem Maße auf eine Debatte um Fixing Missions und ihre mögliche Durchführung gefasst sein werden. Zwei weitere charakteristische Aspekte von Fixing Missions, die mit dem Punkt der mangelnden Vorbereitung unmittelbar zusammenhängen, bestehen in ihrer Dringlichkeit und dem Zeitdruck, unter dem sie diskutiert sowie möglicherweise beschlossen und implementiert werden. Die Dringlichkeit und der Zeitdruck, unter dem Fixing Mission verhandelt werden und stattfinden, resultiert dabei strukturell aus dem Zusammentreffen und der Gleichzeitigkeit zweier Faktoren. So steht dem tendenziellen Widerwillen einer im Abzugsmodus agierenden Regierung gegen die Wiederaufnahme des militärischen Engagements einerseits eine immer

74 Zur besonderen Bedeutung von Begriffen, Diskursen und Vorstellungen des Risikos in den International Security Studies sowie in der International Political Economy vgl. Aradau/van Munster, Governing Terrorism und Kessler, Risk.

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auch kontingente Entwicklung im ehemaligen Interventionsgebiet andererseits gegenüber. Die Kontingenz möglicher Entwicklungen schließt es aus der Regierungsperspektive zumindest nicht aus, dass selbst unter ungünstigen Bedingungen die Fehlentwicklungen im Interventionsgebiet politisch beherrschbar bleiben und daher kein erneuter Einsatz thematisch werden wird. Auch wenn angesichts dramatischer Fehlentwicklungen, wie sie sich beispielsweise im Irak und Libyen oder jüngst wieder stärker in Afghanistan zeigen, mit einem auch recht unvermittelt steigenden politischen und normativen Druck auf die Akteure der Ursprungsmission zu rechnen ist, die von ihnen verantwortete Situation unter Kontrolle zu bringen und weiteres Unheil zu verhindern, kann doch die Hoffnung auf eine gütige Fügung Regierungen dazu verleiten, Debatten um Fixing Missions möglichst lange auszuweichen. Es ist unter Berücksichtigung dieser Entscheidungsstruktur naheliegend, dass Regierungen die Debatte und gegebenenfalls Entscheidung über eine Fixing Mission so lange hinauszögern, bis sie ihnen – nicht zuletzt durch externen Druck – unvermeidlich erscheint, bis die Situation im Interventionsgebiet sich gleichsam krisenförmig zuspitzt. Dadurch erhöht sich, sollte eine solche Mission tatsächlich beschlossen werden, der Zeitdruck für ihre Implementierung noch weiter. Fixing Missions können daher als hastige Einsätze und Ausdruck einer eher reaktiven Politik gelten. Es ist nun also zu erwarten, dass Fixing Missions aufgrund ihres Entstehungs- und Entscheidungskontextes häufig unter Bedingungen mangelnder Vorbereitung, besonderen Zeitdrucks, hoher Dringlichkeit sowie mithin als Krisenreaktion diskutiert und beschlossen werden. Dies wirkt sich dann erstens auf den Modus ihrer politischen Bearbeitung durch die beteiligten Regierungen aus. Von der Herstellung internationaler Koalitionen über die Diskussion in internationalen Organisationen und das mögliche Einbringen der Angelegenheit in das System der U.N. bis zur nationalen und internationalen Überzeugungsarbeit findet – um die wesentlichen Schritte zu nennen – der gesamte politische Prozess unter Dringlichkeitsbedingungen statt. Sollte eine Fixing Mission beschlossen werden, spielt der politisch bedingte zeitliche Druck zweitens auch in Bezug auf die technische, logistische und operationelle Einsatzbereitschaft sowie drittens hinsichtlich der militärischen Strategie und der Art der Kriegsführung eine Rolle. Angesichts eines bereits erfolgten Abzugs von Truppen und technischem Gerät sowie der Tendenz zur Hinauszögerung der Wiederaufnahme eines bereits beendeten Einsatzes wird im Falle eines Entschlusses zu einer Fixing Mission die Gewährleistung beziehungsweise Wiederherstellung der Einsatzinfrastruktur tendenziell unter zeitlich angespannten Bedingungen stattfinden müssen. Neben den bereits ausgewiesenen politisch restrin157

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gierenden Merkmalen von Fixing Missions besteht in dem zu erwartenden Zeitdruck ein weiterer Anreiz für die intervenierenden Regierungen, den Ressourceneinsatz und die – insbesondere politischen – Kosten des Engagements so gering wie möglich zu halten. Daher ist bei Fixing Missions in taktischer Hinsicht eine Konzentration auf Luftschläge, sogenannte schnelle Eingreiftruppen, Drohneneinsätze und die vielfältige Unterstützung lokaler verbündeter Kampftruppen zu erwarten. Die Bereitschaft, in größerem Umfang eigene Verbände und insbesondere Bodentruppen in auszehrende Stellungsgefechte zu entsenden, dürfte dagegen stets gering ausgeprägt sein. Mit all dem ist freilich nicht gesagt, dass nur Fixing Missions einem besonderen Zeitdruck unterliegen. Im Gegenteil kann der Rückgriff auf normative Legitimierungsstrategien für den Einsatz militärischer Gewalt im liberalen Interventionismus insgesamt dazu führen, mit einer militärischen Intervention so lange zu warten, bis sie durch eine außergewöhnliche Zuspitzung humanitärer Katastrophen politisch gerechtfertigt werden kann – wobei sie dann unter Bedingungen besonderer Dringlichkeit beschlossen und stattfinden wird. Bei Fixing Missions müssen die Aspekte des Zeitdrucks und der Dringlichkeit jedoch als charakteristische Eigenschaften berücksichtigt werden. Aufgrund ihrer politischen und Entscheidungsstruktur finden sowohl die Debatten um Fixing Missions als auch die möglichen Einsätze selbst mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in einer Situation zeitlicher Unmittelbarkeit, Dringlichkeit und krisenhafter Zuspitzung statt. IV. Schlussbetrachtungen und Ausblick Das Ziel dieses Beitrags besteht in der Beschreibung und dem Ausweis von Fixing Missions als eines besonderen Typus des demokratischen Krieges. Dieser Sondertypus tritt vornehmlich im Rahmen des liberalen Interventionismus auf, der als ein charakteristisches Merkmal des sicherheitspolitischen und auch imperialen Missionsanspruchs der USA seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gelten kann. Es handelt es sich bei Fixing Missions um militärische Nachfolgemissionen, gleichsam um Missionen zweiter Ordnung, in denen ein zuvor für abgeschlossen erklärter Militäreinsatz wiederaufgenommen wird. Nicht alle Nachfolgemissionen sind freilich Fixing Missions. Vielmehr können sie als ein spezieller Typus von Nachfolgemissionen gelten. Es handelt sich um Kampfeinsätze von Demokratien zur Beseitigung unerwünschter post-interventionistischer Entwicklungen, die von demselben Akteur bestritten werden, dessen Ursprungsmission bereits 158

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für beendet erklärt worden ist. Aus dieser Konstellation ergeben sich die spezifischen Charakteristika und politischen Herausforderungen von Fixing Missions. Sie bestehen im Eingeständnis des eigenen Scheiterns, in der Kriegsmüdigkeit, in der normativ-humanitären Rechtfertigungsnotwendigkeit, in der möglichen Verschiebung politischer Zustimmung und Ablehnung sowie im fehlenden Vorlauf, im Zeitdruck und in der Dringlichkeit. Gewiss treffen nicht sämtliche ausgewiesenen Merkmale und Herausforderungen auf jede Fixing Missions in genau der gleichen Weise und Intensität zu. Varianten in ihrer Ausprägung werden eher die Regel denn die Ausnahme sein, so dass die Kategorisierung eines Einsatzes als Fixing Mission zu einem gewissen Grad immer umstritten sein wird. Auch wird durch den Ausweis der besonderen Konstellation und Herausforderungen von Fixing Missions nicht präjudiziert, wie und mit welchem Ergebnis die Herausforderungen bearbeitet werden oder welche Entscheidungen und Implikationen sie in konkreten Fällen zeitigen. Nichtsdestoweniger aber zeichnen sich Fixing Missions strukturell dadurch aus, dass in ihnen die genannten Herausforderungen gleichzeitig thematisch werden und untereinander Wechselwirkungen sowie schließlich eine besondere Brisanz entfalten. Es sei nochmals betont, dass die Wiederaufnahme einer kürzlich beendeten Kriegsbeteiligung in Fixing Missions unter politischen Gesichtspunkten relevant und nicht militärstrategisch zu verstehen ist. Es handelt sich bei Fixing Missions in politischer, nicht aber in militärischer Hinsicht um einen besonderen, eigenständigen Einsatztypus. Zwar mag bisweilen die Tendenz zu bestimmten militärischen Einsatzstrategien und -taktiken angelegt sein – insbesondere zu politisch und finanziell kostengünstigen und für die eigenen Verbände möglichst risikoreduzierenden Kriegsvarianten. Dies ist aber kein charakteristisches Merkmal von Fixing Missions, sondern eine militärisch-operationelle Folge ihrer politischen Eigenheit. Aus der spezifischen politisch-strukturellen Konstellation, in der Fixing Missions diskutiert sowie gegebenenfalls entschieden und durchgeführt werden, folgt dabei auch, dass Regierungen in der Debatte und Durchführung von Fixing Missions in der Regel politisch wenig zu gewinnen haben. Hierin kann für interventionswillige Regierungen ein starker Grund bestehen, sich dieser Konstellation soweit möglich durch die Implementierung verdeckter und Geheimoperationen zu entziehen. Dies lässt sich insbeson-

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dere im Falle Libyens75 beobachten. Der Anreiz zum verdeckten Einsatz ist strukturell bedingt und daher bei der Betrachtung von Fixing Missions besonders zu berücksichtigen. Mit dem hier unterbreiteten begrifflich-konzeptionellen Vorschlag, Fixing Missions als einen eigenständigen Typus des militärischen Engagements demokratischer Akteure und demokratischer Imperialität wahrzunehmen, ist freilich nicht die Behauptung verbunden, dass nicht-demokratische Systeme nicht auch vor ähnlichen Herausforderungen stehen könnten, die in Demokratien zu Fixing Missions führen. Regierungen nicht-demokratischer Staaten können durchaus in militärischen Engagements scheitern, können die Neu- oder Wiederaufnahme von Kriegshandlungen anstreben und werden dabei Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen sowie innerhalb ihres jeweiligen politischen Systems für Gefolgschaft sorgen müssen. Zugleich wird man in Fixing Missions wiederum den regelmäßigen Versuch von Regierungen erwarten dürfen, sich auch solcher Techniken zu bedienen, die nicht nur im Widerspruch zu einem liberalen demokratischen Selbstverständnis stehen, sondern vielmehr für illiberale politische Systeme charakteristisch sind.76 Gleichwohl lassen die in diesem Beitrag ausgewiesenen charakteristischen Eigenschaften, ihr Zusammentreffen und ihre Interdependenzen sowie schließlich die dargelegten besonde75 Vgl. Gehlen, Der IS in Libyen steht vor dem Ende; Guardian/AFP, Renzi Under Fire; Stephen, Secret US Mission in Libya Revealed; ders., Three French Special Forces Soldiers Die in Libya; Paton Walsh, U.S. Special Forces Take the Fight to ISIS; Donaghy, Britain and Jordan’s Secret War in Libya. 76 Wenngleich der Irak-Krieg von 2003 selbst freilich nicht als Fixing Mission gelten kann, sondern zu späteren – und bis heute andauernden – Fixing Missions geführt hat, eignet er sich dennoch als eindrückliches Beispiel für illiberale Maßnahmen im Rahmen demokratischer Kriegsbeteiligungen. So kann der großangelegte Versuch der Mediensteuerung, Informationsfilterung und -vorenthaltung durch die sogenannte Koalition der Willigen im Irak-Krieg von 2003 als Musterbeispiel für eine illiberale Informations- und Medienpolitik durch demokratische Staaten dienen. Dieser Versuch war erstaunlich erfolgreich, drangen doch kaum Bilder der realen Schrecken des Krieges an die breitere Öffentlichkeit. Auch die Ignoranz von Regierungen gegenüber einer kriegsablehnenden Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung – wie im Falle der damaligen Koalitionsteilnehmer Großbritannien, Spanien und Italien zu beobachten – kann als Beispiel für eine Politik dienen, die dem Selbstverständnis demokratischer Responsivität widerspricht. Das zweite Beispiel weist dabei allerdings schon aus, dass in Demokratien eine diametrale Uneinigkeit zwischen Regierung und Wahlbevölkerung sich unmittelbar in Wahlergebnissen niederschlagen kann – sind doch nicht zuletzt aufgrund der Kritik an der Kriegsbeteiligung sowohl in Spanien als auch in Italien die jeweiligen Regierungen in den nächsten nationalen Wahlen abgewählt beziehungsweise im Falle Großbritanniens massiv abgestraft worden.

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ren politischen Dynamiken und Implikationen sich ausschließlich in demokratischen politischen Systemen und Gesellschaften feststellen. Fixing Missions ergeben sich durch demokratische Strukturen und Legitimationszusammenhänge anlässlich der Wiederaufnahme kürzlich beendeter Kriegshandlungen. Sie sind daher sowohl von Kriegsmaßnahmen demokratischer Akteure zu unterscheiden, die den ausgewiesenen Kriterien nicht entsprechen, als auch von militärischen Einsätzen nicht-demokratischer Akteure. Fixing Missions treten nicht nur im Kontext demokratischer Imperialität, sondern überhaupt im Rahmen des demokratischen Krieges und insbesondere des liberalen Interventionismus auf. Der Ausweis von Fixing Missions ist unter systematischen Gesichtspunkten folglich nicht allein in imperialen Zusammenhängen und Ordnungsentwürfen von Belang. Der Bezug zwischen Fixing Missions und Imperialität ist kein spezifischer, sondern ein mittelbarer, dabei aber ein anzahlmäßiger und mithin empirisch gewichtiger. Aufgrund der führenden Rolle der USA im Rahmen des militärischen Interventionismus der letzten Jahrzehnte kann die analytische Skizzierung und die politische Berücksichtigung von Fixing Missions daher zum Verständnis eines besonderen Einsatztypus aktueller demokratischer Imperialität beitragen. Der Ausweis von Fixing Missions als Sonderform des demokratischen Krieges sowie ihrer empirischen Prävalenz im Kontext imperialer Politiken der USA kann zudem als Vorschlag verstanden werden, sich auch in theoretischer Absicht stärker mit den Charakteristika und Besonderheiten demokratischer imperialer Politik zu befassen. Hierdurch könnte eine recht starre Gegenüberstellung innerhalb der gegenwärtigen vergleichenden Imperiumsforschung aufgeweicht werden. Denn so wird in der aktuellen Imperiumsdiskussion mit Blick auf das Verhältnis zwischen imperialen Gemeinsamkeiten einerseits und imperialen Unterschieden andererseits zumeist das charakteristische, kategoriale Gewicht der Gemeinsamkeiten und die historische, regionale, kulturelle, kontextuelle, kurzum: empirische Kontingenz der Unterschiede hervorgehoben. Die Gemeinsamkeiten scheinen vornehmlich auf der Ebene der allgemeinen Struktur und die Unterschiede lediglich auf der Ebene der speziellen Ausformung und Geschichte angesiedelt zu werden. Die Schwerpunktsetzung auf imperiale Gemeinsamkeiten ist zwar angesichts der Notwendigkeit zu einem theoretisch und konzeptionell tragfähigen und dabei empirisch inklusiven Imperiumsbegriff – insbesondere im Zuge der Reaktualisierung der Imperiumsperspektive – nachvollziehbar. Eine ergänzende Konzentration auf strukturelle und auch systematisch gewichtige Unterschiede scheint mir allerdings hierzu nicht im Widerspruch zu stehen, sondern mittlerweile geboten zu sein. 161

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Ohne nun einen grundlegenden Unterschied oder eine kategoriale Dichotomie zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Imperien zu vermuten oder gar für die Zurückweisung des Imperiumsbegriffs für Demokratien zu plädieren (und sie damit von imperialen Bestrebungen und Potentialen freizusprechen), scheint es doch ratsam, demokratische Imperialität stärker als bisher auch auf ihre systematischen und typologischen Unterschiede zu nicht-demokratischen Imperien zu untersuchen. Literatur Aradau, Claudia/van Munster, Rens: Governing Terrorism Through Risk: Taking Precautions, (un)Knowing the Future, in: European Journal of International Relations, 13(1), 2007, S. 89-115. Avant, Deborah/Sigelman, Lee: Private Security and Democracy: Lessons from the US in Iraq, in: Security Studies, 19(2), 2010, S. 230-265. Barkawi, Tarak/Laffey, Mark: The Imperial Peace, in: European Journal of International Relations, 5(4), 1999, S. 403-434. Beck, Ulrich: Das kosmopolitische Empire: Ein Plädoyer für ein Europa jenseits des Nationalstaats, in: Internationale Politik, 60(7), 2005, S. 6-12. Ders./Grande, Edgar: Empire Europa: Politische Herrschaft jenseits von Bundesstaat und Staatenbund, in: Zeitschrift für Politik, 52(4), 2005, S. 397-420. Becker-Jakob, Una: Canada: Standing on Guard for International Law and Human Security?, in: Anna Geis, Harald Müller u. Niklas Schörnig (Hrsg.): The Militant Face of Democracy: Liberal Forces for Good, Cambridge: Cambridge UP 2013, S. 160-195. Behrends, Jan C.: Amerika als Imperium: Ein Überblick zur neueren Literatur, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 3(1), 2006, S. 111-120. Bieling, Hans-Jürgen: Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union, Wiesbaden: Springer VS 2010. Biskamp, Floris: Die Dramaturgie demokratischer Imperien: Über das Verhältnis von Imperialität und Demokratie in der Debatte um das American Empire, Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang 2010. Burbank, Jane/Cooper, Frederick: Empires in World History: Power and the Politics of Difference, Princeton: Princeton UP 2010. Chandler, David: Beyond Good and Evil: Ethics in a World of Complexity, in: International Politics, 51(4), 2014, S. 441-457. Ders.: From Kosovo to Kabul and Beyond: Human Rights and International Intervention, London: Pluto Press 2006. Czempiel, Ernst-Otto: Kants Theorem. Oder: Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht friedlich?, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 3(1), 1996, S. 79-101.

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Was antworten, wenn ein Indochinese oder ein Araber uns darauf hinweist, daß er zwar unsere Waffen, nicht aber unseren Humanismus gesehen hat? Maurice Merleau-Ponty, 19462

Die noch junge Einsicht der politischen Theorie, dass viele der geachteten Gründerväter des Liberalismus imperiale Verstrickungen aufwiesen, ist von revolutionärem Erkenntniswert. John Stuart Mill, der sein Erwachsenenleben im Dienste kolonialer Herrschaft verbrachte, kann dafür als exemplarisch gelten. Die Diskussion wurde bekanntermaßen von Uday Sigh Mehta angestoßen, der seine Analyse der Rolle John Lockes während der imperialen Landnahme Nordamerikas jedoch eher abstrakt vollzog (um dadurch liberaler Epistemologie und Ontologie im Kern näherzukommen). Andere haben seither Detailaspekte in bemerkenswerter Weise bestätigen können, wie beispielsweise im Fall der Locke’schen Autorschaft der Fundamental Constitutions of Carolina. In ihren Auseinandersetzungen mit der Aufklärung haben Wissenschaftler wie Sankar Muthu und Jennifer Pitts gezeigt, dass sich Mehtas Betonung der Tatsache, dass ein Liberaler wie Edmund Burke sich dem imperialen Syndrom entziehen konnte, auf eine größere Anzahl von Personen übertragen lässt, bevor es im frühen 19. Jahrhundert zu einem breitenwirksamen „turn to empire“ kommen sollte. In diesem Sinne haben Duncan Bell, Karuna Mantena und Jeanne Morefield untersucht, wie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die zuvor begründete Beziehung zwischen Liberalismus und Imperium weiter vertieft und transformiert wurde. Dennoch gelang es erst der jüngsten Forschung, den Ver-

1 Professor of Law, Yale Law School & Professor of History, Yale University. URL: https://history.yale.edu/people/samuel-moyn. Eine frühere Version dieses Kapitels ist erschienen in: Akira Iriye et al. (Hrsg.): The Human Rights Revolution: An International History, New York: Oxford UP 2012; die vorliegende Neufassung wurde übersetzt von Nicolas Lippert. 2 Merleau-Ponty, Humanismus und Terror, S. 222.

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lauf dieser Entwicklung bis hinein in die Ära der Dekolonisation und Postimperialität zu untersuchen.3 Entscheidend ist hier die Frage, ob die Entwicklung des postimperialen Liberalismus einen erkennbar maskierten „Neokolonialismus“ oder etwas genuin Neues darstellte. Morefield beispielsweise knüpft in brillanter Weise an ihre früheren Arbeiten an, wenn sie die Parallelen zwischen heutigen Liberalen wie Michael Ignatieff und deren imperialistischen Avataren aus der früheren Tradition aufzeigt. Eine besonders heftige Debatte ist indes um die Frage nach den Ursprüngen heutiger Menschenrechte – vor allem im Sinne eines völkerrechtlichen Projekts – entbrannt. War dieses Projekt antikolonial, neokolonial, beides oder nichts von alldem? Es schien unstrittig, dass die Dekolonisation – die mehr Menschen als jede andere menschheitsgeschichtliche Entwicklung befreite – die Inanspruchnahme individueller Menschenrechte ermöglichte. Jedoch geschah dies auch durch die weltweite Verbreitung des Nationalstaats, der zur Garantie ebendieser Rechte seinerseits wenig beitrug, wenn neue souveräne Herrscher die Rechte der eigenen Bevölkerung verletzten. Zudem verblieben die neuen Nationalstaaten in einer Situation der fortdauernden hierarchischen Unterordnung, ungeachtet der vorherrschenden Rhetorik „souveräner Gleichheit“. Aus diesen Gründen wird in diesem Beitrag argumentiert, dass die Menschenrechte am besten in ihrer Verwandtschaft mit einer neuen Form des Liberalismus betrachtet werden sollten. Obwohl diese neue Form des Liberalismus den aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammenden Wohlfahrtsgedanken aufgab, etablierte sie gleichzeitig eine neue Beziehung zu den ehemaligen „Mündeln“ des globalen Südens. Menschenrechte sind sicherlich postkolonial, doch tragen sie in ihrem Kern nicht zur Verteilungsgerechtigkeit bei – was das Entstehen neuer Hierarchiegefälle zwischen Starken und Schwachen sowohl auf globaler (zwischen Staaten) als auch auf national-postkolonialer Ebene (innerhalb neuer Staaten) ermöglichte.4 „All men are created equal, they are endowed by their Creator with certain unalienable rights; among these are Life, Liberty, and the pursuit of Happiness.“ Diese berühmten Worte stammen nicht – zumindest nicht direkt – aus dem zweiten Absatz der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Es handelt sich vielmehr um den Beginn von Ho Chi Minhs Vietnamesischer Unabhängigkeitserklärung vom 2. September 3 Ein nützlicher Literatur-Überblick findet sich bei Pitts, Political Theory of Empire and Imperialism. Getachew, Worldmaking after Empire, führt die Debatte fort. 4 Morefield, Empire without Imperialism. Meine allgemeineren Überlegungen zum Verhältnis von Menschenrechten und liberaler Tradition finden sich in Moyn, Human Rights and the Crisis of Liberalism.

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1945, verfasst nur wenige Wochen nach der Kapitulation der japanischen Besatzungsmacht und noch vor der von den Briten unterstützen und den USA geduldeten Wiedereinsetzung der französischen Kolonialherrschaft.5 In der Tat hatte Ho bereits im Mai 1945 im Kontakt mit seinen verdeckten Verbindungsleuten beim American Office of Strategic Services (OSS) die ersten tatsächlich antikolonialen Prinzipien der amerikanischen Geschichte ausfindig gemacht – noch bevor das gemeinsame Interesse einer Rückdrängung des japanischen Imperialismus erlosch. Seine Unterhaltung mit Ho in ebendiesem Monat gab Lieutenent Dan Phelan folgendermaßen zu Protkoll: Ho „kept asking me if I could remember the language of our Declaration. I was a normal American, I couldn’t. […] The more we discussed it, the more he actually seemed to know about it than I did.“6 Richtig interpretiert, fasst dieser Moment die historische Verbindung zwischen Antikolonialismus und Rechten en miniature zusammen. Denn ungeachtet der Erinnerungspraxis kreiste die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 nicht um die Rechtefrage; es ging vor allem um die Erlangung postkolonialer Souveränität nach außen und weniger um die Verwirklichung völkerrechtlicher oder nach innen gerichteter Grundrechtsgarantien. Der Historiker David Armitage geht in seiner Beschreibung so weit zu behaupten, dass „the Declaration’s statements regarding rights were strictly subordinate to […] claims regarding the rights of states, and were taken to be so by contemporaries, when they deigned to notice the assertion of individual rights at all.“ Den rechtlichen Denkfiguren der Unabhängigkeitserklärung wurde erst später Nachdruck verliehen, und dies Armitage zufolge nicht zuletzt wegen des „advent of a global rights movement in the second half of the twentieth century.“7 Dennoch sollten weder Ho Chi Minh noch andere antiimperiale Aktivisten diese Bewegung ins Leben rufen: Nach dem Zitat der „unvergänglichen Festellung“ der Unabhängigkeitserklärung fuhr Ho unverzüglich fort: „In a broader sense, this now means: All the peoples have a right to live, to be happy and free.“ Die wichtigste Utopie war immer noch die ursprünglich amerikanische

5 Ho, Declaration of Independence of the Democratic Republic of Viet-Nam, S. 143. 6 Zitiert bei Bartholomew-Feis, The OSS and Ho Chi Minh, S. 243. 7 Armitage, The Declaration of Independence, S. 17-18. In ähnlicher Weise konstatiert Jack Rakove: „in writing the preamble to the Declaration, Jefferson was seeking neither to strike a blow for the equality of individuals, nor to erase the countless social differences that the law sometimes created and often sustained. The primary form of equality that the preamble asserts is an equality among peoples, defined as self-governing communities.“ (Rakove, Jefferson, Rights, and the Priority of Freedom of Conscience, S. 51).

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postkoloniale und kollektive Lossagung vom Imperium – und nicht völkerrechtlich kanonisierte Individualrechte. Wie aber fügt sich der Antikolonialismus, der die größten Befreiungsdynamiken des letzten und vielleicht aller Jahrhunderte initiiert hat, in die sich derzeit formierende Historiographie der „Menschenrechte“? Kurz gesagt: nicht sonderlich gut. Die gegenwärtige Geschichtsschreibung der Menschenrechte – ein noch junges Unterfangen – war in der Tendenz bisher triumphalistisch und teleologisch. Ignoriert wurde dabei die Vielzahl all derjenigen reformistischen Ideologien, welche über weite Teile der Vergangenheit in Wettbewerb zueinander standen, bevor eine Reihe schleierhafter Ereignisse die Menschenrechte als natürlich und notwendig erscheinen ließ. Fast einstimmig haben Historiker bisher eine geradezu feierliche Haltung gegenüber der Entstehung und Entwicklung der Menschenrechte eingenommen und die neuerliche Begeisterung mit entsprechend erhebenden Hintergrundgeschichten versehen. Unterschiede zeigen sich allenfalls darin, ob der wahre Durchbruch bei den Griechen oder Juden, den Christen des Mittelalters oder den frühneuzeitlichen Philosophen, bei demokratischen Revolutionären oder den Helden der Abschaffung der Sklaverei, bei amerikanischen Internationalisten oder antirassistischen Visionären verzeichnet wird.8 Die Bereitschaft, sich gegen die Neudeutung historischer Ereignisse als Rohmaterial für das schrittweise Aufkommen heutiger Überzeugungen zu stellen, fiel dabei eher gering aus. Gleiches gilt für die Erkenntnis, dass die Vergangenheit nie ohne Weiteres im Sinne einer langsamen Vorbereitung auf die Jetztzeit zu verstehen ist – und dass die Idee der Menschenrechte, selbst nach ihrer Erfindung, nur eine reizvolle Ideologie unter vielen war. Man könnte behaupten, dass von den entsprechenden Beiträgen die gelungensten in dem Maße überzeugend sind, in dem sie das noch immer überwältigend dominierende Modell einer teleologischen und triumphalistischen Darstellung der Menschenrechte zurückweisen.9 Der Antikolonialis-

8 Für einige exemplarische Arbeiten siehe Ishay, The History of Human Rights; Lauren, The Evolution of International Human Rights; Headley, The Europeanization of the World; Hunt, Inventing Human Rights; Hochschild, Bury the Chains; Martinez, Antislavery Courts; Borgwardt, A New Deal for the World, sowie Lake/Reynolds, Drawing the Global Colour Line, Kap. 14. Der beste Gegenentwurf zu meinem Argument findet sich bei Burke, Decolonization and the Evolution of International Human Rights. 9 Siehe dazu vor allem den späten Aufsatz von Cmiel, The Recent History of Human Rights. Dies entspricht meiner allgemeinen Herangehensweise in Moyn, The Last Utopia.

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mus liefert eine weitere Veranschaulichugen für diese Schlussfolgerung – allerdings nur dann, wenn er restrospektiv nicht als Element der „Menschenrechtsrevolution“ zwangsverstanden wird, was er aus historisch naheliegenden Gründen auch stets vermieden hatte (und was in jedem Fall eine historiographische Konstruktion jüngeren Datums darstellt). Besonders bemerkenswert und ernüchternd ist schließlich die Tatsache, dass sich antikoloniale Aktivisten recht selten auf die Formulierung „Menschenrechte“ oder – spezieller noch – die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beriefen, obwohl der Dekolonisationsprozess genau während und nach der Verabschiedung der Erklärung massiv an Fahrt aufnahm.10 Ein ganzes Corpus wirkmächtiger Geschichtsschreibung widmet sich den Erzählungen subalterner Aneignung der formalen Universalismen dominanter Völker, Klassen und Nationen. Durch sie seien, so das Narrativ, ebendiese Universalismen verwirklicht, ihre ursprünglich verkürzten Formen aber gleichzeitig überwunden worden. Laurent Dubois beansprucht dies für die haitianische Revolution genauso wie Lynn Hunt in ihrer Monographie zur selben Epoche, in der sie in ähnlicher Weise von einer Kaskade der „logic of rights“ spricht. Dieses wahrscheinlich durch Frederick Cooper am allgemeinsten formulierte Argument legt in fundamentaler Weise dar, wie auf Papier gegebene Versprechen zur politischen Realität werden können.11 Dieser Beitrag untersucht, wieso sich in den Jahren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine derartige „logic of rights“ nicht durchsetzte – oder vielmehr: wieso sich mit der Befreiung ganzer Kollektive und Völker eine ältere Kaskade als wirkmächtiger erwies, die die Möglichkeit eines Aufkommens der Menschenrechtslogik – im Guten wie im Bösen – verhinderte. Dieser Beitrag beschäftigt sich – nach einer Analyse jener Ursachen, die zum Fehlen der neuen Menschenrechte im Antikolonialismus geführt haben – mit ihrer Rolle in einer der zentralen Debatten der Vereinten Nationen. Die U.N. kann als einziger Ort gelten, an dem sich Antikolonialismus und Menschenrechte kreuzten, wobei von Anfang an die zentrale Frage lautete, welche Ideologie die jeweils andere dominieren würde. Die Antwort scheint klar: Die Schlussfolgerung, die sich aus dem Antikolonialismus als Agenten der größten Aus- und Verbreitung – nicht aber einer ge10 Wie konnte beispielsweise Dekolonisierung als „the greatest extension and achievement of human rights in the history of the world“ (Lauren, The Evolution of International Human Rights, S. 242.) beschrieben werden, wenn die Protagonisten ihre Ziele und Agenda nicht in der entsprechenden Sprache verfassten? 11 Dubois, A Colony of Citizens; Hunt, Inventing Human Rights; Cooper, Kolonialismus denken, S. 59-63.

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naueren Bestimmung – von Souveränität in der Weltgeschichte ziehen lässt, ist letztlich nicht diejenige vom unvermeidlichen Aufstieg der Menschenrechte. Zentral sind vielmehr die ideologischen Bedingungen, unter denen Menschenrechte in ihren zeitgenössischen Schattierungen nach Mitte der 1970er Jahre zu einer plausiblen und globalisierenden Doktrin werden konnten. Neuere Versuche, den Antikolonialismus als Teil der Geschichte der Menschenrechte darzustellen, sollten sich also zuvorderst mit einer Ära auseinandersetzen, in der die Menschenrechtsidee auf keine politische Bewegung zurückgreifen konnte und in der sich der Antikolonialismus – als umso wirkmächtigere Bewegung – anderer Konzepte bediente. I. Natürlich entstand der Antikolonialismus der Nachkriegsgeschichte trotz seines schier unglaublichen Erfolgs nicht aus dem Nichts heraus. Im Gegensatz zu einigen anderen Bewegungen aus der Ersten Welt, die auf die Sprache der Rechte zurückgriffen, wie beispielsweise die Frauen- oder (seltener) die Arbeiterbewegung, wurde diese von Antikolonialisten vor dem Zweiten Weltkrieg eher selten zur Formulierung ihrer Ziele verwendet. Vermutlich waren sich die kolonialen Untertanen durchaus im Klaren darüber, dass sie dem westlichen „Humanismus“ bis dato nicht viel zu verdanken hatten.12 Die Ligue des droits de l’homme – die Französische Liga für Menschenrechte – veranstaltete 1931 eine Debatte zum Verhältnis zwischen Kolonisation und den Rechten des Menschen, wobei die Schlussfolgerungen vorhersehbar eigennützig waren: „Apporter la Science aux peuples qui l’ignorent, leur donner routes, canaux, chemins de fer, autos, le télégraphe, le téléphone, organiser chez eux des services d’hygiène, leur faire connaître enfin les Droits de l’Homme“, wie ein Vortragender verkündete, „c’est une tâche de fraternité.“13 Zwar griffen Aktivisten tatsächlich mitunter auf gesetzlich (und gerichtlich) normierte Mittel zurück, die sich ihnen durch die lokalen Rechtssysteme boten, innerhalb derer sie agierten; das britische und französische Recht mit seiner hierarchischen Unterscheidung zwischen dem im Mutterland und dem in der Kolonie geltenden Recht stellte allen Untertanen des jeweiligen Imperiums zumindest auf dem Papier gewisse Rechte in Aussicht. Eine erhellende neuere Studie zum Vorkriegsnigeria deutet darauf

12 Vgl. Bernault, Human Rights in Africa, insb. S. 128. 13 Zitiert in Girardet, L’idée coloniale en France, S. 183.

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hin, dass die heimischen Bürgerrechtstraditionen durchaus das Potential besaßen, in die kolonialen Besitzungen verpflanzt und dort in unerwarteter Weise angeeignet und umgedeutet zu werden. Dennoch existieren vor dem Zweiten Weltkrieg keine Menschenrechte außer denjenigen, die durch innerstaatliche Vorkehrungen konkretisiert worden waren. Dadurch ist unklar, ob, und falls ja, auf welche Weise, solche Vorkriegsaktivitäten eine Brücke hätten schlagen können zu einer Allianz mit den Menschenrechten der Nachkriegsära. Unübersehbar bleibt die sowohl konzeptuell als auch historisch scharfe Unterscheidung zwischen frühen Rechten oder sogar Rechten des Menschen auf der einen, und den späteren Menschenrechten auf der anderen Seite.14 Erstere erhielten ihren Bedeutungsgehalt durch einen Bürger- oder wenigstens Untertanenstatus innerhalb von Staaten und Imperien. Letztere funktionierenten kaum in vergleichbarer Weise, zumindest nicht zur Zeit ihrer Erfindung (und vielleicht bis heute nicht).15 Entscheidend ist jedenfalls, dass den Imperiumsgegnern dank der Formation der Zwischenkriegszeit eine Reihe von Ideologien zur Verfügung stand, von denen nur wenige für den Menschenrechtsumbruch Mitte der 1940er offen waren, geschweige denn diesen zu Inspirations- oder Artikulationszwecken benötigten. Nach 1918 zählte einzig, oder zumindest hauptsächlich, ein Recht: Erez Manela hat eine mikroskopisch angelegte Geschichte jenes Enthusiasmus vorgelegt, mit dem das Versprechen der Selbstbestimmung der Völker nach dem Ersten Weltkrieg begrüßt wurde, auch wenn die Ära seines Siegeszugs erst später, also in und nach den 1940er Jahren einsetzte. Es war Woodrow Wilson, ohne V.I. Lenin auszulassen, der die Bedingungen für einen Antikolonialismus schuf, in dem völkerrechtlich verbriefte Menschenrechte – die zu jener Zeit sowieso noch nicht als Idee formuliert worden waren – nicht das Ziel darstellten. Vielmehr wurde ein einziges überdimensioniertes (und kollektives) Recht allen anderen vorgezogen.16 Und obwohl der Antikolonialismus im Sinne der Selbstbestimmung seine internationalen Ursprünge aus diesem älteren Moment heraus bezog, besteht die zentrale Tatsache darin, dass diese Rahmung antikolonialer Bestrebungen stark genug war, nach dem Zweiten Weltkrieg jeglichen Versuch der Etablierung einer auf Individualrechten basierenden neuen Sprache der internationalen Ordnung und Legitimität 14 In diesem Sinne lockt der Titel von Ibhawoh, Imperialism and Human Rights: Colonial Discourses of Rights and Liberties in African History, auf eine falsche Fährte. 15 Vgl. Burbank/Cooper, Empire, droits, et citoyenneté. 16 Manela, The Wilsonian Moment.

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zu überdauern. Anders formuliert: Zwar wurde die Entfaltung des „Wilsonian Moment“ in der direkten Folgezeit des Ersten Weltkriegs verhindert, dafür ergab sich für ihn aber nach Ende des Zweitens Weltkriegs eine zweite und mit weitaus mehr Erfolg gekrönte Gelegenheit. Dies bedeutete auch, dass in dieser Zeit kein ansatzweise vergleichbarer „Menschenrechtsmoment“ existierte. In diesem Sinne legt der Fall der dekolonisierten oder zu dekolonisierenden Welt nach 1945 deutlich nahe, dass nicht alle formalen Universalismen die von unten erfolgende Ergreifung und Aneignung bisher unverwirklichter Potentiale hervorbringen. Die Geschichte universalistischer Konzepte wie dem der Menschenrechte hängt letzten Endes wohl eher davon ab, wie Akteure sie einsetzen – im Guten wie im Schlechten –, und weniger von ihrer inneren Logik. Hätte es anders kommen können? Die Frage ist verlockend, aber angesichts einer klaren Vorstellung der Entwicklung westlicher Diplomatie und ihrer nicht-westlichen Rezeption äußerst kontrafaktisch und ahistorisch. Auch wenn sich Churchill und Roosevelt über die konkrete Bedeutung von Selbstbestimmung nicht einig waren, so verkündete die Atlantik-Charta von 1941 doch ebendiese und nicht Menschenrechte als Teil der Kriegsziele der Alliierten. Für Churchill richtete sich Selbstbestimmung gegen Hitlers Reich, nicht aber gegen Imperien im Allgemeinen und gewiss nicht gegen das eigene. Roosevelts Ansichten waren ursprünglich etwas großzügiger: „There are many kinds of Americans, of course“, konstatierte FDR gegenüber Churchill bei einem Abendessen im Jahr 1942, „but as a people, as a country, we’re opposed to imperialism – we can’t stomach it.“ Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er sich der Position seines Verbündeten jedoch angeschlossen.17 Es ist unstrittig, dass vor allem die Atlantik-Charta global eine beträchtliche positive Resonanz erzeugte. Später jedoch mussten die Menschenrechte, zumindest in dem Maße in dem sie beachtet wurden, als Ersatz für die Idee der Selbstbestimmung erscheinen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gerade nicht enthalten ist. Ho, der seine amerikanischen Gesprächspartner anfangs anflehte, dem Selbstbestimmungsversprechen der Atlantik-Charta gerecht zu werden statt den Franzosen eine Rückkehr

17 Hinsichtlich der Interpretation der Atlantik-Charta durch die Alliierten im weiteren Kriegsverlauf siehe Louis, Imperialism at Bay. Siehe auch Smith, American Empire, Kap. 13. FDR wird zitiert in Dallek, Roosevelt and American Foreign Policy, S. 324.

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zu erlauben, ließ schließlich davon ab und bezog sich nie wieder in zentraler Weise auf die Erklärung von Rechten.18 Solche gewöhnlich vernachlässigten Tatsachen stellen für die neueren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ein gravierendes Problem dar. In diesen wird die Ära nach 1941 als Moment dargestellt, in dem Amerika, im Sinne eines genuinen Universalismus, die Idealform der eigenen internationalistischen Tradition erfindet oder wiederbelebt. Elizabeth Borgwardt bezeichnet dies als den „new deal for the world“ der amerikanischen Nachkriegsordnung. Obwohl die Atlantik-Charta über eine derartige Formulierung nicht verfügt, geht Borgwardt so weit, sie als „human rights instrument“ zu bezeichnen, welches die Bedingungen für die folgende Generosität enthielt. „When you state a moral principle“, schlussfolgert sie zur fundamentalen Rolle der Atlantik-Charta in der neuen Ordnung von San Francisco, Nürnberg und andernorts, „you are stuck with it“.19 Aus außereuropäischer Perspektive stellen sich die Dinge anders dar – weit weniger heroisch und gewiss weniger unerschütterlich. Das durch die Atlantik-Charta verkündete Prinzip der Selbstbestimmung präsentiert sich hier als eines, an das sich die Amerikaner letztlich keineswegs zu halten gedachten. Interpretiert man die Menschenrechte als Trostpreis, der auf die Idee der Selbstbestimmung folgte und sie ersetzte, so wäre es umso erstaunlicher, wenn die kolonisierten Völker sich von ihnen hätten wachrütteln lassen. Entgegen einer Annahme des Historikers Paul Kennedy, derzufolge die Allgemeine Erklärung spätestens 1948 eine „enormous global attention“ genoss, verfügte die Idee der Menschenrechte über erstaunlich wenig weltweite Verbreitung, vor allem wenn man sie mit anderen Konzepten einschließlich anderer emanzipatorischer Programme mit Allgemeinheitsanspruch vergleicht. 20 Ein angemessener Überblick zeigt auf überwältigende Weise, dass es nicht gelang, Menschenrechte in die damalige globale

18 Die Bemühungen, Selbstbestimmungsrechte in die Allgemeine Erklärung aufzunehmen gingen bei der U.N. in den Jahren 1947-48 vor allem von den Sowjetund Ostblock-Delegierten aus, und wurden zurückgewiesen. Siehe Kamleshwar, Some Observations Relating to the International Bill of Human Rights. Für Ho siehe Duiker, Ho Chi Minh, S. 341. 19 Borgwardt, A New Deal for the World, und dies., The 1941 Atlantic Charter as a Human Rights Instrument. 20 Kennedy, The Parliament of Man, S. 179. Unter den von Ibhawoh untersuchten Nigerianern, „the introduction of the UDHR did not stimulate the kind of impassioned debates about the right to self-determination that followed the Atlantic Charter“ (Ibhawoh, Imperialism and Human Rights, S. 160). Da die Allgemeine Erklärung auf Selbstbestimmung nicht eingeht, ist dies nicht weiter überraschend.

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Ideologie einzubetten. Weltweit wurden viele durch die Atlantik-Charta aktiviert und wachgerüttelt, die Menschenrechte jedoch stießen auf taube Ohren. Ihre spezifische Geschichte ist aus offensichtlichen Gründen erhellend. II. Dies bedeutet freilich nicht, dass das Streben nach dem Nationalstaat die einzige oder einzig denkbare Zukunft im antikolonialen Vorstellungsraum war – ganz im Gegenteil. Es bedeutet aber, dass der spezifische Appell der neuen Menschenrechte an supranationale Werte diesen Vorstellungsraum nicht nachhaltig hat beeinflussen können. Selbst die entscheidenden kurzfristigen Entwicklungen in Folge der Atlantik-Charta müssen vor dem Hintergrund eines lange gärenden Antikolonialismus gesehen werden: Als die Menschenrechte auf den Plan traten, war der Zug bereits im Rollen. Interessanterweise konnte Mohandas Gandhi – rückblickend oftmals als Verfechter der Menschenrechte dargestellt – in der neuen Rhetorik nichts Neues erkennen. Seinen Ausgangspunkt viel früher nehmend, interpretierte er Satyagraha als Weg, die bestehenen Rechte der Engländer auf alle britischen Untertanen auszuweiten (solange sie durch die Wechselbeziehung mit Pflichten korrigierbar blieben). Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass Gandhi die neuen Menschenrechte in der Ära nach der Atlantik-Charta auch nur erwähnt, geschweige denn gefeiert hätte; auf eine UNESCOAnfrage zu seiner Interpretation dieser Idee – aus der Annahme heraus entstanden, er müsse über eine solche verfügen – reagierte er mit Erstaunen. Seine Ermordung zu Beginn jenes Jahres, das mit der Allgemeinen Erklärung endete, macht die Frage danach, wie er diese Erklärung interpretiert oder angewendet hätte, unbeantwortbar.21 Ganz ähnlich beschwor auch Jawaharlal Nehru in seiner charakteristischen Verbindung eines robusten Internationalismus mit realistischem Pragmatismus die internationalen Rechte selten – abgesehen von seinem Enthusiasmus für eine U.N.-Petition zum Schutze der in Südafrika lebenden Inder –, selbst als er einen Monat vor Verabschiedung der Allgemeinen

21 Gandhi, A Letter Addressed to the Secretary-General of UNESCO.

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Erklärung zur Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris sprach.22 Der Antikolonialismus vieler anderer war ebenfalls bereits voll ausgebildet bevor die Menschenrechtsrhetorik nach dem Zweiten Weltkrieg eine Chance hatte, diesen ernsthaft zu beeinflussen. Bekannte Antikolonialisten wie Indonesiens Ahmed Sukarno und Ägyptens Gamal Adbel Nasser setzten sich in ihrer Entwicklung nie mit dem Phänomen der Nachkriegsmenschenrechte auseinander. Ersterer war Abkömmling der aus der Zwischenkriegszeit stammenden Liga gegen Imperialismus. Letzterer war mit den Hindernissen auf dem Weg zu seinem Staatsstreich von 1952 beschäftigt, wozu auch die Kämpfe in Palästina zur Zeit der Fertigstellung der Allgemeinen Erklärung zählten. Oftmals gingen die Ursprünge antikolonialer Ideologie auf kleine linksextremistische Gruppen sowie studentische oder migrantische Netzwerke der Großstädte zurück, woraus verschiedene Kompromisse zwischen Nationalismus und Internationalismus entsprangen. Selbstverständlich entstand dabei regelmäßig die für das 20. Jahrundert so charakteristische, schicksalhafte Verbindung von Antikolonialismus und Kommunismus. Und während im Kommunismus eine eigene Kultur der Geltendmachung von Rechten herrschte, die sich vor allem von 1934 bis 1936 und nochmals unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs zeigte, waren diejenigen, die den Kommunismus als beste Wahl zur antiimperialen Befreiung sahen (nachdem sich eine frühere Episode des von Wilsons Idealismus geprägten Aktivismus als bittere Enttäuschung herausgestellt hatte), von ebendieser Kultur zur damaligen Zeit kaum ernsthaft beeinflusst. Die nationalistische chinesische Regierung hatte zu einem gewissen Grad Anteil an der Formulierung der frühen Menschenrechtsideen der U.N. Ihr Sturz aber bedeutete das Ende jeglicher ideologischer Verbindungen Chinas mit den Menschenrechten. In Südostasien wiederum hatte die Atlantik-Charta zwar neuen Anlass für Wilson’sche Hoffnungen gegeben. Aber aufgrund der Bemühungen der Briten, das Empire in den chaotischen Monaten nach der Niederlage der Japaner wiederherzustellen, wurden diese schnell zerschlagen. Obwohl die Briten letztendlich an vielen Schauplätzen versagten, gelang es ihnen, das französisch-indochinesische Imperium en passant neu zu errichten und gleichzeitig die Kontrolle über Malaysia mit brutaler Aufstandsbekämpfung zu behaupten – zum selben

22 Nehru, To the United Nations. Eine andere Darstellung (deren Hauptbeitrag/ Hauptargument sich trotz des Titels mit Nehrus angestrebtem Globalismus auseinandersetzt) findet sich in Bhagavan, A New Hope.

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Moment, als am anderen Ende der Welt die Allgemeine Erklärung verabschiedet wurde.23 Der weitere Verlauf antikolonialer Befreiungskämpfe bestätigte diese Entwicklung eher noch, was nicht zuletzt auf den wachsenden marxistischen Einfluss im antikolonialen Denken zurückzuführen ist. Während der Bandung-Konferenz von 1955 und auch andernorts verkündeten Antikolonialisten ihre internationalistische Haltung, jedoch in einer subalternen Variante, die nationalistische Ideen beinhaltete und auf Basis von ethnischer Identität und afrikanischer bzw. “afro-orientalischer” Unterordnung grenzüberschreitende Verbindungen des Idealismus schuf. Kwame Nkrumah, der bereits 1945 in der gefeierten Declaration to the Colonial Peoples of the World des Pan-Afrikanischen Kongresses in Manchester auf die Erwähnung der Menschenrechte verzichtet hatte, forderte einzig die „rights of all people to govern themselves.“24 Die Auswirkungen der frühen Unabhängigkeit Ghanas auf die politischen Bestrebungen anderer subsaharischer Afrikaner waren entscheidend, vor allem in Hinblick auf das Primat des Selbstbestimmungsrechts gegenüber allen anderen denkbaren Zielen: „Seek ye first the political kingdom, and everything else shall be added unto you“, so Nkrumahs berühmter Slogan. Gerade in diesem Umfeld gewann C.L.R. James’ Wiederbelebung der „Schwarzen Jakobiner“ der Französischen Revolution an Einfluss, zumal es ihm – im Gegensatz zu späteren Historikern des karibischen Radikalismus – gelang, Toussaint L’Ouverture und seine Bundesgenossen nicht im Sinne von Menschenrechtsaktivisten avant la lettre darzustellen. James’ vom Trotzkismus geprägte Sicht auf die droits de l’homme scheint dabei interessanterweise den „wortreichen“ Versprechen der „beredten Phrasendrescher“ ähnlich, die, vom tatsächlich ökonomischen Motor der Geschichte dazu verführt „sich weitläuftig auszulassen“, am Ende die Aristokratie der Hautfarbe nur bei vorgehaltenen Waffen der Aufständischen aufgeben.25 Mit wenigen Ausnahmen folgten die Antikolonialisten ihm in seinen Ansichten, ob sie nun Marxisten waren oder nicht. Berichte dazu, dass je-

23 Für eine breitangelegte Übersicht siehe Bayly/Harper, Forgotten Wars, insb. S. 127 u. 141 hinsichtlich der Auswirkungen der Atlantik- und U.N.-Chartas. 24 Nkrumah, Declaration to the Colonial Peoples of the World, S. 43. 25 James, Toussaint L’Ouverture und die San-Domingo-Revolution, S. 32, 134 u. 159. James war überzeugt davon, dass für Toussaint vor allem wichtig war, dass sich die Bürgerschafts-„Kaskade“ nicht selbst etablieren konnte – sie musste durch Gewalt erzwungen werden. Worauf die Radikalen im Wesentlichen bestanden war, Herren ihres eigenen Schicksals zu sein. Dies sollte auch im des 20. Jahrhunderts gelten.

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mand die neuen Menschenrechte der U.N. ernstgenommen hätte, gibt es kaum. Als 1963 die Organisation für Afrikanische Einheit gegründet wurde, nahm ihre Charta zwar Bezug auf die Menschenrechte, ordnete sie aber gleichzeitig dem Bedürfnis unter „to safeguard and consolidate the hardwon independence as well as the sovereignty and territorial integrity, of our States, and to fight against neo-colonialism in all its forms“. Etwas anders gelagert ist dagegen wohl der Fall der französischen Négritude, da einige ihrer Anhänger in der Nachkriegsära und nach der Brazzaville-Konferenz durchaus gewillt waren, an der Hoffnung auf ein Frankreich, welches sie endgültig als Gleichberechtigte akzeptieren würde, festzuhalten. Dementsprechend wurde die große französische Tradition der droits de l’homme gelegentlich selbst in den wütendsten Texten eher als pervertiert denn als falsch betrachtet. „Und eben das ist der große Vorwurf, den ich dem Pseudohumanismus mache: daß er allzulange die Rechte des Menschen geschmälert hat, daß er eine Konzeption hatte und noch immer hat, die parzellarisch, partiell und parteiisch ist, eng und letzten Endes übel rassistisch“, so Aimé Césaire, der Dichter Martiniques, in seinem Klassiker Über den Kolonialismus von 1950.26 Entscheidend war hier der Hintergrund. Der Historiker Gary Wilder konnte zeigen, dass der Vorschlag eines alternativen und tatsächlichen Humanismus aus dem Dialog mit dem Zwischenkriegsprojekt der Kolonialreformen heraus entstand. Weder für Césaire noch für den Theoretiker der Négritude und späteren Präsidenten Senegals Léopold Senghor bedeutete dies anfangs notwendigerweise eine Autonomie der Kolonie.27 Der Begründer der Négritude trat für eine inspirierende Vision ein, in der eine Rückkehr zu sowie eine Belebung von kultureller Partikularität zu einer ihres Namens würdigen universellen Zivilisation beitragen würde, statt mit dieser in Konflikt zu geraten. Die 1950er Jahre hindurch hoffte er darauf, dass Frankreich dies ermöglichen würde; doch bezogen sich weder Césaire noch Senghor jemals auf international verstandene Menschenrechte. Später, nach der Unabhängigkeit Senegals, wandte sich Senghors Denken, wie das vieler anderer, der Entwicklung eines nicht-kommunistischen afrikanischen Sozialismus zu. Das allgemeine Einsickern des Marxismus in den Antikolonialismus, welches nach Mitte der 1960er Jahre zunahm, änderte nichts am exklusiven Charakter eines selbsternannten „Humanis-

26 Césaire, Über den Kolonialismus, S. 12. 27 Wilder, The French Imperial Nation-State; siehe auch ders., Aimé Césaire, Decolonization, Utopia.

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mus“, der Gewalt duldete. Für den französisch-algerischen Antikolonialisten Frantz Fanon handelte es sich um eine „question of starting a new history of Man, a history that will have regard for the sometimes prodigious thesis which Europe has put forward.“28 Menschenrechte jedoch wurden nicht als Teil dieser Geschichte – geschweige denn als Kernelement – verstanden. III. Aber es gab noch einen letzten und ebenso wichtigen Grund dafür, dass die den Alliierten verlautbarten Menschenrechte die antikoloniale Imagination nicht neu zu strukturieren vermochten. Statt als Forum für eine Reihe neuer und auf Befreiung ausgerichteter Prinzipien zu fungieren, schienen die Vereinten Nationen nach Kriegsende zunächst darauf bedacht, zum Versuch der Wiederherstellung der Kolonialherrschaft beizutragen. „Remember that Dumbarton Oaks leaves 750.000.000 human beings outside the organization of humanity“, so der bittere Kommentar des afroamerikanischen Antikolonialisten W.E.B. DuBois im Frühling 1945 in Bezug auf die ersten Pläne der Organisation.29 Als hätte es die Atlantik-Charta nie gegeben, wurde das Selbstbestimmungsrecht (wie auch die Menschenrechte) in den Plänen nicht einmal erwähnt. Während dieser ersten Ausarbeitungen scheiterte der Versuch der Antikolonialisten, die Komplizenschaft der Organisation bei der Fortsetzung des Kolonialismus ins Wanken zu bringen. Natürlich gab es entsprechende Agitation. Die Höhen der Politik konzentrierten sich jedoch nicht auf die Frage einer völligen Beendigung des Kolonialismus, insbesondere nachdem die Vereinigten Staaten sich bis zur Jalta-Konferenz dafür entschieden hatten, der engen britischen Auslegung der Atlantik-Charta zuzustimmen. Stattdessen befasste sie sich mit Debatten über die genauen Bedingungen einer Wiederbelebung des völkerbundlichen Mandatssystems. Zentral war dabei die Frage, ob alle abhängigen Gebiete einer internationalen Aufsicht unterstellt werden, oder wie die Kontrolle tatsächlich wirksam sein könnte. Die Versuche scheiterten größtenteils. Dies hatte eine drastische Einschränkung der Reichweite des U.N.Treuhandsystems zur Folge und führte im Innern zur Wiederherstellung

28 Fanon, The Wretched of the Earth, S. 317. 29 Du Bois, 750,000,000 Clamoring for Human Rights. Siehe auch ders., The Colonies at San Francisco.

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des schwachen internationalen Kontrollregimes der Völkerbundära. Zu Hochzeiten des imperialen Nachkriegssystems stand nur ein Zehntel der kolonialen Untertanen unter treuhänderischer Aufsicht. Und selbst in dieser Zeit, entsprechend den Ausführungen der Kapitel XII-XIII der U.N.Charta, übertrumpfte das zentrale Anliegen der Organisation – die Friedenssicherung – den „heiligen Auftrag“, welchen die hochentwickelten Länder eigentlich im Interesse der unterworfenen Völker hätten wahrnehmen sollen, und welcher überdies keine eindeutige Verpflichtung enthielt, diesen Völkern zur Unabhängigkeit zu verhelfen.30 Im Unterschied zu den Entwürfen von Dumbarton Oaks fand die Idee der Selbstbestimmung zweimal Eingang in die U.N.-Charta, allerdings nur in rhetorischer und untergeordneter Form. (Insbesondere in der vom südafrikanischen Marschall Jan Christian Smuts entworfenen Präambel kamen zu diesem Zeitpunkt nun auch die Menschenrechte hinzu, wenn auch hauptsächlich zur Zierde. Aufschlussreich und enthüllend ist dabei seine Annahme, dass sich daraus keine Implikationen bezüglich der Hierarchie der Rassen in seinem eigenen Land oder irgendeinem anderen ableiten ließen.)31 Überraschenderweise gewann der Antikolonialismus dennoch die Oberhand, auch ohne die Hilfe der Vereinten Nationen, die davon ihrerseits wiederum frappierend schnell beeinflusst wurden. Dies vorauszusehen wäre im Jahre 1945 oder sogar in den brutalen Nachkriegsjahren unmöglich gewesen, als der Rahmensetzungsprozess der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Vergleich zum weltweiten Wiederaufleben der Imperien eher unbedeutend schien. Die Unterdrückung des malaysischen Aufstands durch die Briten zum Zeitpunkt ebendieses Prozesses sollte sich bis hin zum amerikanischen Kampfeinsatz in Vietnam als modellhaft für andere Länder erweisen, wenngleich nicht allen der gleiche Erfolg beschieden war. Dieser war den antikolonialen Siegen vorbehalten – entweder durch Waffengewalt oder, wie in den meisten Fällen, durch Abzugsverhandlungen herbeigeführt. Die Ära der „neuen Staaten“ hatte begonnen.32 Die Überschneidungen zwischen Antikolonialismus und Menschenrechten ergaben sich vor allem im Rahmen der Arbeit der Vereinten Natio-

30 Zur genannten Zahl siehe Jacobson, The United Nations and Colonialism, S. 45. 31 Eine hervorragende Darstellung findet sich bei Mazower, No Enchanted Palace, Kap. 1. 32 Auf gelungene Weise wird die Transformation in den Untertiteln von Evan Luards zweibändiger Geschichte der frühen U.N. eingefangen (Luard, A History of the United Nations), in der 1945-55 als „the years of Western domination“ und danach 1955-65 als „the age of decolonization“ firmieren. Vgl. Jacobson, The United Nations and Colonialism, und Wainhouse, Remnants of Empire.

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nen und als Ergebnis der Prinzipien des ersteren. Als über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 abgestimmt wurde, umfasste die U.N. 58 Mitgliedstaaten; ein rasanter Mitgliederzuwachs stand noch bevor. Innerhalb weniger Jahre sollte der afro-asiatische Block mit sowjetischer Hilfe bereits in der Lage sein, die Staaten der Ersten Welt zu überstimmen – und wenig später sogar ohne jede Unterstützung (insbesondere nach 1960, als 16 afrikanische Staaten den Vereinten Nationen beitraten). Innerhalb von 20 Jahren sank die Anzahl der Menschen, die in irgendeiner Form kolonialer Abhängigkeit lebten, von 570 Millionen auf weniger als 40 Millionen.33 Obwohl dieser Übergang 1945 noch unvorhersehbar war, hatten die Beobachter der Großmächte ein Jahrzehnt später bereits begriffen, dass der Antikolonialismus unzweifelhafte Auswirkungen haben würde. Nach der Bandung-Konferenz, die von zahlreichen Repräsentanten der nach wie vor ausgegrenzten Völker besucht worden war, schien der wahrscheinliche Ausgang klar. Ein deprimierter britischer Analyst sagte voraus, die neuerdings unabhängigen Nationen würden den Erfolg der Konferenz zu ihren Gunsten nutzen – „as a means of asserting the Arab/Asian point of view and of claiming that the Bandung countries were entitled to a far bigger share of the world authority (as represented by the UN) than they had when the United Nations was founded.“34 Falls dieser Anspruch im Sinne der Entwicklung oder Festigung von Menschenrechten zu verstehen war, war er den Selbstbestimmungsrechten gegenüber nur in gewisser Hinsicht untergeordnet, wenn nicht sogar gleichwertig. Als bemerkenswert kann wohl gelten, dass bei der U.N. zunächst keinerlei programmatische oder organisatorische Verbindung zwischen den Menschenrechten als Projekt und den abhängigen Gebieten als Problem existierte, sofern man von der unbedeutenden Ausnahme des Treuhandsystems absieht. Dies wandelte sich jedoch durch den Druck und die zahlreichen Neubeitritte neuer Staaten/Nationen grundlegend. In erstaunlich kurzer Zeit gelang es der U.N., von ernsthaften Überlegungen, koloniale Gebiete (Treuhandgebiete und Gebiete ohne Selbstverwaltung)

33 Für einige spezifische Analysen des Einsickerns von Selbstbestimmung in die Politik der U.N., auf die ich zurückgegriffen habe, siehe Rivlin, Self-Determination and dependent Areas; Shukri, Self-Determination at the United Nations; Emerson, Self-Determination. Für allgemeinere Auswirkungen auf die Organisation siehe Sharma, The Afro-Asian Group in the United Nations; Kay, The Politics of Decolonization; ders., New Nations in the United Nations. 34 Zitiert in Ampiah, Political and Moral Imperatives of the Bandung Conference, S. 147.

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von der Geltung der U.N.-Menschenrechtspakt-Entwürfe auszunehmen, zu einem Entwurf umzuschwenken, der als erstes der Menschenrechte das Selbstbestimmungsrecht der Völker aufführte. Es lohnt sich, diesen Debatten, die die gesamte Bedeutung der Vereinten Nationen auf Jahrzehnte hinaus veränderten, genauer nachzugehen. Im Oktober 1950 versammelte sich der Dritte Hauptausschuss der Generalversammlung, um zu beraten, ob sich die Kolonialmächte in einem zukünftigen Abkommen selbst an die Menschenrechte binden könnten, ohne befürchten zu müssen, dass die Vereinten Nationen dadurch größere Einmischungsrechte gewännen. Aus Sicht des belgischen Vertreters war dies eine notwendige Voraussetzung für ein verbindliches Abkommen. Menschenrechtliche Maßstäbe „presupposed a high degree of civilization, [and] were often incompatible with the ideas of peoples who had not yet reached a high degree of development. By imposing those rules on them at once, one ran the risk of destroying the very basis of their society. It would be an attempt to lead them abruptly to the point which the civilized nations of today had only reached after a lengthy period of development.“35 Als Vertrteter der französischen und amerikanischen Regierungen stimmten dem René Cassin und Eleanor Roosevelt zu, Menschenrechtsikonen der frühen Vereinten Nationen. Dem Vorschlag, die Menschenrechte nicht auf Imperien anzuwenden, war jedoch kein Erfolg beschieden. Unterdessen stimmte die Generalversammlung im selben Jahr einer Resolution Afghanistans und Saudi-Arabiens zu, gemäß der sich die U.N.Menschenrechtskommission damit auseinanderzusetzen habe, wie dem Selbstbestimmungsrecht mehr Geltung verschafft werden könnte.36 Zu einer aufsehenerregenden Debatte, erst Ende 1951 in der Sitzung des Dritten Hauptausschusses und dann in der U.N.-Vollversammlung zu Beginn des Jahres 1952, führte der Vorschlag, das Recht auf Selbstbestimmung zentral in das Abkommen aufzunehmen, obwohl es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte keine Rolle gespielt hatte. Der belgische Delegierte Fernand Dehousse formulierte seinen Einwand als Sorge über die „multiplication of frontiers and barriers among nations“ und verstand die Selbstbestimmung als nunmehr von der „idea of international solidarity“ überlagertes Artefakt des aus dem 19. Jahrhundert stammenden ökono-

35 U.N. Doc. A/C.3/SR.292 (1950), S. 133. 36 U.N. Gen. Ass. Res. 421(V), 4. Dezember, 1950, S. 42f.

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mischen Liberalismus.37 Dehousse zufolge konnte die Einbeziehung des Selbstbestimmungsgedankens nicht einfach gegen die Kolonialmächte in Stellung gebracht werden. Verärgert erwiderte der afghanische Delegierte Abdul Rahman Pazhwak, dass er und andere Verfechter des Selbstbestimmungsrechts „did not want to teach anyone lessons; it was history that taught them.“ Nicht zuletzt war es „under the rule of Powers which regarded themselves as qualified to teach others lessons“, dass „the world had known oppression, aggression and bloodshed.“38 Selbstbestimmung, insistierte Liberias Vertreter Kolli Tamba, „was an essential right and stood above all other rights.“39 Bei der Vollversammlung argumentierte der Repräsentant Saudi-Arabiens Jamil Baroody direkt vor der Abstimmung lang und leidenschaftlich dafür, die Selbstbestimmung als erstes Recht aufzuführen: „The anguished cry for freedom and liberation from the foreign yoke in many parts of the world has risen to a very high pitch, so that even those who had been compelled to block their ears with the cotton wool of political expediency can no longer deny that they can hear it. [The world’s people] cannot enjoy any human rights unless they are free, and it is in a document like the covenant that self-determination should be proclaimed.“40 Die Generalversammlung stimmte der Anordnung zu, in die auf die Allgemeine Erklärung nachfolgenden Menschenrechtsabkommen den folgenden Artikel aufzunehmen: „All peoples shall have the right of self-determination.“ Bis heute findet sich dieser Artikel, wenngleich in späterer Fassung, in dem wichtigsten internationalen Abkommen über bürgerliche und politische Rechte sowie dem internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.41

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U.N. Doc. A/C.3/SR.361 (1951), S. 84. U.N. Doc. A/C.3/SR.362 (1951), S. 90. U.N. Doc. A/C.3/SR.366 (1951), S. 115. U.N. Doc. A/PV.375 (1952), S. 517-518. U.N. Gen. Ass. Res. 545(VI), 5. Februar, 1952. Die Resolution rief auch dazu auf, im Abkommen festzusetzen, dass „all States, including those having responsibility for the administration of Non-Self-Governing Territories, should promote the realization of that right,“ was im Endeffekt, wenn auch inoffiziell, zur Revision des Kapitels XI der Charta führte. Bis in die 1970er Jahre konnten führende Völkerrechtler diese rückwirkende Änderung als illegitime Revision der Charta angreifen, die außerhalb der eigenen Änderungsprozeduren stattgefunden hatte. Siehe Gross, The Right of Self-Determination in International Law. Zur anhalten-

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Ungeachtet dessen, ob man ihn bereut oder feiert, führte die an diesem schicksalhaften Tag erfolgte Aufnahme der Menschenrechte zu einer Veränderung ihrer Bedeutung als erstes und wichtigstes „Schwellen-Recht“ im Sinne einer Betonung ihrer notwendigen Grundlegung in Kollektivität und Souveränität. Und obwohl nicht logisch zwingend wurde, das Recht auf Selbstbestimmung in der Praxis üblicherweise zur Voraussetzung dafür benutzt, andere Rechte vom Forum der Vereinten Nationen auszuschließen. Vor allem aber ergab sich eine konzeptuelle Änderung durch die Verknüpfung mit dem Gedanken kollektiver Souveränität, der später als dasjenige Hindernis erschien, welches durch die Menschenrechte eigentlich hätte überwunden werden sollen. Clyde Eagleton, Völkerrechtler an der New York University, antwortete daraufhin umgehend in Foreign Affairs mit einer „Excesses of Self-Determination“ betitelten Kritik, in der er schrieb: „It is sad that anti-colonial resentment should have distorted so noble a principle.“42 Dementsprechend waren es gerade die am Ende für die Menschenrechte eintretenden Völkerrechtler, die diese über große Teile der Nachkriegsgeschichte hinweg als erzwungen und gefährlich erachteten. In den 1960er Jahren prangerte Louis Henkin – Völkerrechtler an der Columbia University, der in den 1970er Jahren die Menschenrechte verfechten und bei ihrer Befreiung von antikolonialen Festlegungen mithelfen würde – ihre Nachkriegsinterpretation an als „an additional weapon against colonialism although there was no suggestion that [self-determination] was a right of the individual, that the individual could claim it against an unrepresentative government, or that minorities could invoke it.“43 Zunächst jedoch war Selbstbestimmung, wie ein weiterer Kritiker bemerkte, zu einem „shibboleth“ geworden, „that all must pronounce to identify themselves with the virtuous.“44 Ein dritter Beobachter reklamierte, dass durch den Beitritt neuer Staaten die Auseinandersetzung der U.N. mit Menschenrechten nichts anderes war als „another vehicle for advancing [the] attack on colonialism and associated forms of racial discrimination.“45

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den Debatte über Selbstbestimmung und Rechte im Rahmen der U.N., siehe Normand/Zaidi, Human Rights at the UN, S. 212-224. Eagleton, Excesses of Self-Determination, S. 604. Henkin, The United Nations and Human Rights, S. 513. Van Dyke, Human Rights, the United States, and the World Community, S. 77. Kay, New Nations in the United States, S. 87; vgl. ders., The Politics of Decolonization, S. 802. Siehe auch zahlreiche der Analysen in Bull/Watson, The Expansion of International Society, insb. Bull, The Revolt against the West und Vincent, Racial Equality.

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Die offensichtlichste Bestätigung der fast vollständigen Entsprechung von Menschenrechten und Selbstbestimmung erfolgte 1960 durch die bahnbrechende Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples (zuerst von Nikita Chruschtschow persönlich im – wegen der vielen entsprechenden Beitritte – sogenannten „afrikanischen Jahr“ vorgeschlagen). „The colonial system […] is now an international crime“, so die frohlockende Reaktion des Guineers Amilcar Cabral, Geißel der portugisischen Herrschaft: „Our struggle has lost its strictly national character and has moved to an international level.“46 Schicksalhafterweise traf diese Internationalisierung mit dem südafrikanischen Massaker von Sharpeville zusammen, welches die Außenseiterrolle des Landes noch verstärkte und zu einer Reihe von U.N.-Menschenrechtsresolutionen führte.47 Dabei handelte es sich jedoch nicht um einen Fortschritt für die Menschenrechte im heutigen Sinn, sondern eher um einen Beweis ihrer allgemeineren Verbindung zum Antikolonialismus und Antirassismus. Selbst als Portugiesisch-Angola in den unmittelbaren Fokus der Aufmerksamkeit geriet, zitierte Indien bei seiner Invasion Goas im Jahr 1961 die Erklärung ganz explizit. Und im Bestreben, das 15-jährige Bestehen der Allgemeinen Erklärung bestmöglich zu ehren, stimmte die Generalversammlung 1962 einer Resolution zu, die das Jubiläum des Fortschreitens der Menschenrechte letztlich mit dem der Erlangung der kolonialen Unabhängigkeit gleichsetzte. Ziel und Hoffnung war die Verwirklichung der Menschenrechte im Sinne eines weiteren „decisive step forward for the liberation of all peoples.“48 Ein Jahr darauf wurde die United Nations Declaration on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination im selben Geiste verabschiedet, genauso wie ein Abkommen zwei Jahre später, am selben Tag beschlossen wie die Declaration on the Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of Their Independence and Sovereignty – ihrerseits 46 Cabral, Anonymous Soldiers for the United Nations, S. 50-51. 47 Siehe U.N. Gen. Ass. Res. 1598 (XV), 15. April, 1961, verabschiedet mit einer einzigen Nein-Stimme von Portugal; und später 1663 (XVI), 28. November, 1961; 1881 (XVIII), 11. Oktober, 1963; und 1978 (XVIII), 17. Dezember, 1963. Für einen Kommentar siehe Akpan, African Goals and Diplomatic Strategies in the United Nations, und Klotz, The Struggle against Apartheid, insb. 44-55. Im selben Zeitraum kam es auch zu den Resolutionen wegen des langjährigen Streits um Südwestafrika sowie der zu der schockierenden Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, dass andere afrikanische Staaten keine Berechtigung hätten, Klage einzureichen. Siehe dazu z.B. Dugard, The South West Africa/Namibia Dispute, S. 220-231 sowie Kap. 8. 48 U.N. Gen. Ass. Res. 1775 (XVII), 7. Dezember, 1962.

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eine emphatische Hymne auf Selbstbestimmung.49 Durch endlose Diskussionen und umfassende institutionelle Änderungen wurden solche Deklarationen zu Kristallisationspunkten und inspirierende Referenzpunkte für die Menschenrechtsbemühungen innerhalb der Vereinten Nationen. Immer wieder richtete sich die Aufmerksamkeit dabei auf Südafrika und später auch Israel.50 Postkoloniale Souveränität – verbunden mit subalternem Internationalismus und damit nur im Sinne antirassistischer Zwecke auflösbar – hatte die Oberhand so weit gewonnen, dass sie schließlich auch definierte, was Menschenrechte bedeuteten. IV. Entscheidend ist, sich über die Differenz zwischen früheren Formen des Idealismus und Aktivismus und einem davon sehr unterschiedlichen späteren Idealismus und Aktivismus – den Menschenrechten jüngeren Datums – im Klaren zu sein. Ihre wechselseitige Beziehung ist eher eine der Verlagerung als eine der bloßen Realisierung. Der Antikolonialismus trug nicht zum Triumph des Idealismus jener antitotalitären Werte bei, die im Zentrum des explosionsartigen Bedeutungszuwachses der „Menschenrechte“ in und seit den 1970er Jahren standen. Tatsächlich war mit der Idee nationalkollektiver, regionaler oder gar ethnischer Befreiung das zentrale und charakteristischste Anliegen des Antikolonialismus nur in dem Maße mit der Menschenrechtsbewegung vereinbar, wie es den individuellen bürgerlichen Freiheitsrechten Rechnung zu tragen vermochte. Der Imperativ, das Problem sozialer und ökonomischer Entmachtung zu lösen, wurde unterdrückt, bis eine Entwicklung „zweiter Generation“ den Versuch ihrer Berücksichtigung erlauben sollte. Zwei Komplikationen sind dabei nicht zu leugnen: Einerseits die Existenz einiger weniger, die sich für einen auf Menschenrechten basierenden Antikolonialismus einsetzen (typischerweise unter der Bedingung, sich den USA und ihrem aus dem Kalten Krieg geborenen weltweiten Kampf um Köpfe und Herzen anzuschließen); andererseits die strategische Beschwörung von Menschenrechten in internationalen Foren als Antwort auf 49 U.N. Gen. Ass. Res. 1904 (XVIII), 20. November, 1963, 2106A (XX), 21. Dezember, 1965 und 2131 (XX), 21. Dezember, 1965. 50 Einiges dazu, insb. zur Sub-commission on Prevention of Discrimination der Human Rights Commission, findet sich bei Marie, La Commission des droits de l’homme de l’ONU, Moskowitz, Roots and Reaches of United Nations und Tolley, U.N. Commission of Human Rights.

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die brutalen Methoden der Kolonialmächte, die zur Aufrechterhaltung kolonialer Kontrolle angewandt wurden, etwa die französischen Folterungen während des Algerienkrieges.51 Jedenfalls erlangte keine der beiden Komplikationen die Deutungshoheit über die historische Bedeutung des Antikolonialismus. Und obwohl sich dieser Beitrag ausschließlich auf die ideologische Dimension konzentriert, könnten analoge Fragestellungen – gerade, wenn Praktiken wie die Parteinahme mit der Ersten Welt miteinbezogen werden – das Argument noch besser zur Geltung bringen. Der Antikolonialismus berief sich auf einen fundamentalen Kampf – gewaltfrei oder gewaltsam – und bewirkte bei Verfechtern in der Ersten Welt das Engagement für die Dritte. Beim Aufstieg des Völkerrechts als privilegiertem Verwalter von Normen spielte er keine Rolle. Auch tat er wenig dafür, die Öffentlichkeit zum zentralen Forum des moralischen Aktivismus zu machen, vor allem nicht zugunsten eines Modells, in dem massenhafte politische Beteiligung, sofern es sie überhaupt gab, entweder als Identifikation mit fremdem Leid – auf persönlicher Ebene oder basierend auf Kleingruppen – oder in Form unmittelbarer finanzieller Beiträge wirksam werden könnte. Schließlich bleibt unklar, wie der Antikolonialismus mit seinen berühmten und ikonenhaften Leitfiguren ein Modell nicht-gouvernmentaler Politik hätte befeuern können, in dem die Führungselite statt auf Charisma eher auf bürokratische Herrschaft setzen würde.52 Am nützlichsten ist der Antikolonialismus innerhalb der Geschichtsschreibung der Menschenrechte, wenn man fragt, wieso sich letztere erst vor kurzem konsolidieren konnte. Mit anderen Worten: Der Hauptgrund für eine Bezugnahme auf den Antikolonialismus innerhalb der Geschichte der Menschenrechte ist nicht, diesen in ihr aufgehen zu lassen, sondern herauszufinden, wieso sich Menschenrechte zwar nicht während und nach den 1940er Jahren durchsetzen, dafür aber in und seit den späten 1970er Jahren einen bemerkenswerten Aufstieg verzeichneten. Wie sich herausstellte, gerieten die Menschenrechte schließlich – und bequemerweise – erst durch das Eintreten zweier ineinandergreifender Ereignisse ins Bewusstsein der Ersten Welt.

51 Zum ersten Thema siehe Burke, „The Compelling Dialogue of Freedom“. Zum zweiten Thema siehe Klose, Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt, verfasst im Schatten von Connelly, A Diplomatic Revolution. Wenn mein Ansatz in diesem Beitrag korrekt ist, sollte keines der beiden Themen losgelöst vom größeren antikolonialen Bild betrachtet werden. 52 Siehe z.B. Faisal Devjis faszinierenden Versuch den zeitgenössischen Terrorismus als „Gandhian“ zu lesen (Devji, The Terrorist in Search of Humanity).

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Erstens musste formale Kolonialherrschaft in ihrer Niedertracht für alle zweifelsfrei offengelegt und endgültig beendet werden. Man muss der schwierigen Tatsache ins Auge blicken, dass die Menschenrechte ihren Siegeszug als globale lingua franca nicht während, sondern erst nach der Dekolonisierung antraten. Deren vielleicht einziger Beitrag zu dieser Entwicklung besteht darin, dass die Desintegration der Imperien die Rückgewinnung eines Liberalismus ohne dessen formale kolonialherrschaftliche Verbindungen ermöglichte. Das letzte Beispiel formaler Kolonialherrschaft, die portugiesischen Besitzungen, fand Mitte der 1970er Jahre sein Ende. Der fast gleichzeitige endgültige Rückzug vom blutigen und verzweifelten Versuch, Südvietnam doch noch zu halten – und nicht allein die mit diesem Fehlschlag verbundene moralische Verwerflichkeit oder Abweichung von früheren Traditionen, wie Jimmy Carter damals behauptete –, schuf die Voraussetzungen für die versprochene Hinwendung der USA zu Menschenrechten als Ideal der eigenen Außenpolitik. Demgemäß lautet eine spekulative Hypothese, die mittels des Antikolonialismus hervorgebracht werden kann: Nur durch ideologische Dissoziierung von Liberalismus und Imperium, die mehr als ein Jahrhundert lang innig miteinander verbundenen waren, war der Aufstieg der Menschenrechte möglich. Zwar ist sich die Wissenschaft immer noch uneins darüber, ob die Beziehung des Liberalismus zum Imperialismus genetischer oder kontingenter Natur ist. Offenkundig scheint aber zu sein, dass ein wirkmächtiger Internationalismus auf Basis von Rechten in der Praxis erst dann die Bühne betrat (und sie möglicherweise auch in der Theorie erst dann betreten konnte) als formale Imperialität nicht mehr existierte. Zweitens spielte auch die weitverbreitete Ansicht, dass der Antikolonialismus in seiner klassischen Form als moralisches und politisches Projekt gescheitert war, eine entscheidende Rolle. Dies nicht zuletzt aufgrund der Bedenken, von denen man einst dachte, sie befänden sich legitimerweise in der Warteschleife, solange die neuen Staaten ihre Macht konsolidierten, bis sich deren Staatsoberhäupter – so die Hoffnung – mit guten Absichten an den möglicherweise maßgeblichen sozialen und ökonomischen Wiederaufbaumaßnahmen versuchen würden. Besonders relevant war dabei, dass der auf Selbstbestimmung fokussierte Antikolonialismus zu verschärften Sezessionskrisen führte. Selbst ein Verfechter der Verbreitung von bürgerlichen Freiheitsrechten in der weltweit wachsenden Zahl von Verfassungen räumte Mitte der 1960er Jahre ein: „autocracy, selectively applied, may be

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necessary in order to create the social requisites for the maintenance of human rights.“53 Ein Jahrzehnt später schien diese Wette nicht mehr aussichtsreich. 1975 verurteilte Rupert Emerson, Harvard-Professor und lange Jahre bedeutendster akademischer Befürworter der Selbstbestimmung, das Aufkommen eines „double standard which has worked to debase the moral coinage of the Third-World countries and to lessen the appeal of the causes they advocate. […] The wholly legitimate drive against colonialism and apartheid was in some measure called into question when the new countries habitually shrugged off any concern with massive violations of human rights and dignity in their own domain.“54 Der New Yorker Senator Daniel Patrick Moynihan interpretierte sie 1977, im glänzendsten Jahr der Menschenrechte in der bisherigen Geschichte der USA, in aggressiverer Weise als Antwort auf den „cult of the Third World“, von dem sie in der U.N. erfasst worden waren, wo Moynihan bis kurz zuvor als Botschafter gedient hatte. Ihm zufolge hatte die westliche Politik darin versagt, sich für die Menschenrechte und gegen ihre perverse Neudefinition stark zu machen. Den Grund sah Moynihan im „tremendous investment of hope in what we saw as the small seedlings of our various great oaks and a corresponding reluctance to think, much less speak, ill of them. Then there was the trauma of Vietnam, which perhaps made it seem even more necessary that we should be approved by nations so very like the one we were despoiling.“55 Nun war zu viel Zeit vergangen, um gegenüber den Ländern der Dritten Welt nachgiebig zu sein – und der Vietnamkrieg war vorüber. Es scheint, als ob sich nur unter diesen Umständen eine Öffnung ergeben konnte für einen Schritt – plausibel oder nicht – vom ursprünglichen und dauerhaftesten amerikanischen Beitrag zur postkolonialen Souveränität hin zu einer viel jüngeren Utopie. Sie ist auch die Utopie von heute: Der Traum einer Welt der individuellen Menschenrechte.

53 Bayley, Public Liberties in the New States, S. 142. 54 Emerson, The Fate of Human Rights in the Third World, S. 223. 55 Moynihan, The Politics of Human Rights, S. 22.

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I. 1951 reiste der damals neunzehnjährige Stuart Hall, der später zu einem der wichtigsten Vertreter postkolonialer Theorien werden sollte, von Jamaika nach England, um mit Hilfe eines Rhodes-Stipendiums ein Studium in Oxford anzutreten. Halls Ankunft im imperialen „Mutterland“ koinzidierte mit einem Moment, den er selbst rückblickend als den Übergang von einer Klassen- in eine Massengesellschaft fasste, u.a. geprägt durch den ersten signifikanten Zustrom von Einwanderern aus der Karibik. In seiner Autobiographie beschreibt Hall eindringlich seine erste Begegnung mit der karibischen Diaspora an der Londoner Paddington Station wenige Tage nach seiner Einreise, mit Menschen, mit denen er auf Jamaika selbst nur wenig zu tun hatte: „It is hard to reconstruct the effect of seeing these black West Indian working men and women in London, with their strapped-up suitcases and bulging straw baskets, looking for all the world as if they planned a long stay. They had made extraordinary efforts within their means to dress up to the nines of the journey, as West Indians always did in those days when travelling or going to church: the men in soft-brim felt hats, cocked at a rakish angle, the women in flimsy, colourful cotton dresses, stepping uncertainly into the cold wind, or waiting for relatives or friends to rescue them from the enveloping strangeness.“2 Die von Hall beschriebene Gruppe war Teil der Windrush-Generation, benannt nach dem Schiff, das 1948 die erste Kohorte karibischer Migranten nach England brachte und jene Einwanderung aus diversen Teilen des Em-

1 Andreas Eckert, Prof. Dr. phil., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Asienund Afrika- Wissenschaften, Lehrstuhl für Geschichte Afrikas und Direktor des Käte Hamburger Kollegs re:work. URL: https://www.iaaw.hu-berlin.de/de/region/afri ka/afrika/geschichte/mitarbeiter/1681578. 2 Hall, Familiar Stranger, S. 153.

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pires einleitete, die das Land nachhaltig verwandeln sollte.3 Migration aus Übersee war nicht nur für Großbritannien zu diesem Zeitpunkt ein neues Phänomen. Abgesehen vielleicht von Frankreich kam es bis zum Zweiten Weltkrieg zu keiner nennenswerten Einwanderung aus den Kolonien nach (West-)Europa. Bis dahin war Mobilität „vor allem eine zentrifugale Bewegung gewesen – temporär, im Dienste des Empire, oder dauerhaft, als Siedler.“4 Dies änderte sich nach 1945 nachdrücklich und trieb Verantwortlichen in Politik und Verwaltung in den kolonialen „Mutterländern“ angesichts der rasch anschwellenden Zahl von „farbigen“ Einwanderern sogleich Sorgenfalten ins Gesicht. In den größten Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich galt Mobilität innerhalb der kolonialen Strukturen zunächst als Binnenwanderung. In Frankreich verwies etwa das „Algerienstatut“ von 1947 auf die Freizügigkeit zwischen Kolonie und Metropole.5 Und die Bestimmungen des „Nationality Act“ von 1948 besagten, dass Zuwanderer aus den Kolonien sich auf den britischen Inseln niederlassen und nach einjährigem Aufenthalt das Recht auf Ausübung der Bürgerrechte im Territorium des Mutterlandes erwerben konnten.6 Die Passagiere der Windrush segelten voller Optimismus und Vertrauen nach Großbritannien. Ihr Anspruch auf einen rechtmäßigen Platz auf der Insel fand Ausdruck in einem Calypso-Lied, das der aus Trinidad stammende Aldwyn Roberts, bekannt als Lord Kitchener, während der Überfahrt komponiert hatte: „Well, believe me I am speaking broad-mindedly / I am glad to know my mother country / I’ve been travelling to countries years

3 Lunn, The British State and Immigration. 4 Conrad, Dekolonisierung in den Metropolen, S. 142. 5 Für eine weite Perspektive auf die Einwanderung nach Frankreich vgl. u.a. Noiriel, Le Creuset Français; Weil, La France et ses étrangers; Boubeker/Hajjat, Histoire politiques des immigrations (post)coloniales. Zur wichtigsten Migrantengruppe vgl. MacMaster, Colonial Migrants and Racism. 6 Vgl. u.a. Paul, Whitewashing Britain, Kap. 3. Für eine vergleichende Studie SturmMartin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass die große Bandbreite der Migrationen, welche nach 1945 die westeuropäischen ehemaligen Kolonialmächte prägten, nicht allein kolonialer bzw. postkolonialer Natur war. Zum einen begrenzten sich die einst Kolonisierten nicht auf Einwanderung in ihre ehemaligen Mutterländer: Kongolesen gingen nicht nur nach Belgien, sondern fast ebenso häufig nach Frankreich; Marokkaner migrierten neben Frankreich auch in die Niederlande oder nach Belgien. Zum anderen kamen viele Immigranten in Belgien, Frankreich und Großbritannien nach 1945 aus ost- und südeuropäischen Ländern. Vgl. für den britischen Fall Webster, The Empire Comes Home. Für eine breit angelegte vergleichende Perspektive vgl. Buettner, Europe after Empire.

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ago / But this is the place I wanted to go / London, that’s the place for me.“7 Das Lied erfasste prägnant die großen Hoffnungen der Migranten und verwies zugleich auf lange etablierte Muster der Arbeitsmigration innerhalb des Britischen Empire. Eine 1960 veröffentlichte Studie zählte insgesamt 210.000 „Nicht-Weiße“ in Großbritannien, davon 115.000 aus der Karibik, 25.000 aus Westafrika, 55.000 Inder und Pakistani sowie 15.000 aus anderen Regionen. Die meisten waren in den 1950er Jahren aufgrund des Arbeitskräftebedarfs der britischen Industrie gekommen.8 In zunehmender Zahl fanden sich auf der Insel auch Studenten aus den Kolonien und dem Commonwealth, die zumeist jedoch nach Ende ihrer Universitätszeit in ihre Heimat zurückkehrten.9 In Frankreich zog der expandierende Arbeitsmarkt ebenfalls zahlreiche Einwanderer aus den sich zügig dekolonisierenden Territorien in Asien, Afrika und der Karibik an. Ein besonderes Augenmerk von Politik und Öffentlichkeit lag auf den algerischen Arbeitsmigranten, deren Zahl sich während des Algerienkriegs (1954-1962) noch erhöhte und deren vermeintlich mangelnde Anpassungsbereitschaft und Hang zur Kriminalität in staatlichen Berichten und in der Presse wiederholt hervorgehoben wurde.10 Ähnliche, gegenüber den Einwanderern kritische Stimmen fanden sich in Großbritannien.11 Zu Beginn der 1960er Jahre verschärften sowohl Frankreich als auch Großbritannien massiv ihre Immigrationsgesetzgebung. Diese Maßnahmen beendeten zwar keineswegs die Ankunft postkolonialer Migranten, denn der Bedarf an ihrer Arbeitskraft blieb zunächst ungebrochen. Zugleich erschienen die „farbigen Einwanderer“ etwa in England immer mehr als „unbewaffnete Invasoren“, die angeblich zahlreiche städtische Viertel in Großstädten wie Birmingham und London „erobern“ und die als weiß, anständig, und ordentlich konfigurierte englische Identität bedrohen würden.12 Die wachsenden Spannungen waren nicht zuletzt verbun-

7 Zit. nach ebd., S. 255. 8 Ebd., S. 257. 9 Vgl. Lee, Commonwealth Students in the UK; Stockwell, Colonial Students in Britain as Empire Ended; Bailkin, The Afterlife of Empire, Kap.3. 10 Vgl. u.a. Lyons, Algerian Families and the French Welfare State. 11 Ein BBC-Dokumentarfilm aus dem Jahre 1955 etwa setzte mit folgender Aussage ein: „Not for the first time in our history we have a Colonial problem on our hands, but it’s a Colonial problem with a difference. Instead of being thousands of miles away and worrying other people, it’s right here, on the spot, worrying us“ (zit. nach Webster, Englishness and Empire, S. 159). 12 Vgl. etwa das Buch von Elton, The Unarmed Invasion. Dazu Webster, Englishness and Empire, S. 180, die argumentiert: „The violation of a domestic sanctuary be-

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den mit der Rückkehr vieler europäischer Siedler aus den Kolonien, von denen viele noch nie in Europa gelebt hatten.13 Verstärkt formierte sich offener Rassismus. Ein Kandidat der Konservativen garnierte seine Wahlkampagne in Birmingham 1965 mit dem Slogan „If you want a nigger for a neighbour, vote Labour“. Drei Jahre später hielt der Tory-Abgeordnete Enoch Powell, ebenfalls in Birmingham, seine berühmt-berüchtigte „Rivers of Blood“-Rede, in welcher er prophezeite, dass eine Flut von Immigranten zu Strömen von Blut führen würde.14 In den Boulevardblättern vermehrten sich schrille Töne über die Kriminalität Schwarzer; die Figur des „Black Briton“ mutierte zur Projektionsfläche für die Ängste einer weißen Mehrheitsgesellschaft im Angesicht beunruhigender sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen.15 Metropolen wie London und Paris und ihre rasch wachsenden Vorstädte waren wichtige Orte, in denen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute Debatten über Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien entzündeten und ausgetragen werden. Zugleich konstituieren diese Städte Räume, in denen Intellektuelle und Aktivisten aus diesen Regionen sich untereinander und mit anderen austauschen und kritische Debatten führen konnten.16 Dieser Aspekt verweist auf eine längere Geschichte. Rezentere globalhistorische Perspektiven auf Kolonialismus und Imperialismus haben die Bedeutung von Städten wie Paris, London, Berlin, New York oder Brüssel als „Hub(s) of the Anti-Imperialist Movement“ hervorgehoben.17 In seiner viel beachteten Studie zu Paris in der Zwischenkriegszeit als „Anti-Imperial Metropolis“ hat Michael Goebel kürzlich betont, dass der Aufenthalt von Personen aus den Kolonien in der französischen Hauptstadt nicht allein als „Trainingslager“ von Aktivisten zu fassen sei, die bereits Antiimperialisten waren oder es ohnehin geworden wären. Vielmehr hatte deren Politisierung, so das Argument, konkrete soziale Wurzeln im alltäglichen Leben in Paris, das zum einen zwar in der Regel mehr Freiraum für politische Artikulation bot als die Herkunftsregionen der Migranten, zum anderen die

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comes a symbol of a nation under siege.“ Vgl. ferner u.a. Buettner, Would You Let Your Daughter Marry a Negro?; Schwarz, Black Metropolis, White England. Vgl. Buettner, Europe after Empire, Kap. 6. Vgl. Schofield, Enoch Powell. Dazu der vom von Stuart Hall geleiteten Center for Contemporary Cultural Studies herausgegebene Band The Empire Strikes Back. Für Frankreich siehe u.a. Tshimanga et al., Frenchness and the African Diaspora. Vgl. etwa Thomas, Black France. Petersson, Hub of the Anti-Imperialist Movement.

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massive Diskriminierung etwa von Arbeitern und ehemaligen Soldaten aus den Kolonien jedoch besonders markant hervortreten ließ. Der kosmopolitische Kontext von Paris half den einzelnen Migranten(gruppen), ihre spezifischen Anliegen und Kritikpunkte in einem größeren Zusammenhang zu verorten. Überdies habe die Migration in imperiale Zentren wie Paris das soziale Fundament für die dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wirkungsmächtige Vorstellung einer antiimperialistischen, mehrere Kontinente umspannenden Solidarität gebildet.18 Antiimperialismus als Teil der Geschichte des Imperialismus ist kein neues Thema. Bis in die 1930er Jahre hinein war eine Vielzahl politischer Bewegungen entstanden, die nicht allein lokal oder national, sondern auch international gegen imperiale Herrschaft agierten.19 Einzelne Personen standen für imperiumsübergreifende Verbindungen, etwa Ho Chi Minh, der zunächst von Vietnam nach Paris ging, wo er mit Menschen aus dem gesamten Imperium und überdies mit französischen Kommunisten zusammenkam. Von dort zog er weiter nach Moskau und China.20 Nordafrikaner, die in Frankreich Arbeit fanden, engagierten sich in kommunistischen Gewerkschaften und nahmen deren Politik mit zurück nach Algerien oder Marokko.21 Westinder und Afrikaner trafen sich in Paris oder in London. Dort formulierten sie Kritik an Kolonialismus und Rassismus und entwickelten Ideen zur rassischen und diasporischen Verbundenheit. Die interimperialen Verknüpfungen entfalteten eine beträchtliche Wirkung auf Bewegungen wie den Panafrikanismus und die Négritude, in einigen Kolonien aber auch auf die Entwicklung von politischen Parteien.22 Die antikolonialen Netzwerke sahen sich freilich mit immensen Problemen konfrontiert, die von polizeilicher Unterdrückung über fehlende finanzielle Ausstattung bis zum Mangel an organisatorischer Erfahrung reichten.23 Die Sowjetunion und die von ihr initiierte Kommunistische Internationale (Komintern) erwiesen sich als unzuverlässige Partnerin und Förderin. Sie unterstützten zunächst antikoloniale Bewegungen, um sie dann hängen zu lassen, als sie in den 1930er Jahren Volksfronten gegen

18 Goebel, Anti-Imperial Metropolis. Ähnlich argumentiert für London Matera, Black London. 19 Für den folgenden Abschnitt vgl. Burbank/Cooper, Imperien der Weltgeschichte, S. 501f. 20 Vgl. Brocheux, Ho Chi Minh. 21 Liauzu, Militants, grévistes et syndicats. 22 Vgl. Eckert, Bringing the „Black Atlantic“ into Global History. 23 Zur Überwachung von Antikolonialisten in Europa vgl. die exzellente Studie von Brückenhaus, Policing Transnational Protest.

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den Faschismus in europäischen Ländern zu stärken suchte. Zur großen Enttäuschung vieler antikolonialer Aktivisten hielt sich Moskau zurück, als das faschistische Italien 1935 das unabhängige Abessinien, also das heutige Äthiopien, überfiel. Nicht wenige der im kommunistischen Internationalismus Aktive, darunter George Padmore aus Trinidad, wandten sich empört und frustriert ab und setzten fortan auf andere Formen der Mobilisierung, wie etwa den Panafrikanismus.24 Alle linken Bewegungen standen vor dem Problem, tatsächlich den erhofften Kontakt zu den „Massen“ herzustellen. Oftmals waren die Verbindungen mehr international als lokal. Vor diesem Hintergrund skizziert der verbleibende Teil dieses Aufsatzes mit zeitlichem Schwerpunkt auf der Zwischenkriegszeit antiimperiale Gruppierungen und ihre Aktivitäten in drei „antiimperialen Metropolen“: Berlin, Paris und London. Im Zentrum steht die Frage, ob das Zusammentreffen von Kolonisierten aus verschiedenen Teilen der Imperien in europäischen Metropolen tatsächlich zu substantiellen übergreifenden Aktionen und antiimperialer Solidarität geführt hat. Wie gestaltete sich das Verhältnis zu europäischen antiimperialen Gruppen? Welche Rolle spielten die Sowjetunion und die Kommunistische Internationale? War der Bezugspunkt der Aktivisten die Herkunftskolonie, das Imperium oder der Imperialismus weltweit? Diese Fragen sind in der Forschung in den letzten Jahren verstärkt gestellt worden und schreiben sich ein in ein neues Interesse an der Globalität von Imperien, transimperialen Vernetzungen und der Rolle, die Kolonisierte in den europäischen Metropolen spielten.25 II. Die 1919 gegründete Komintern bemühte sich, antikoloniale Befreiungsbewegungen zu unterstützen, um die westlichen Kolonialmächte zu schwächen. Afrika spielte in ihren Erwägungen zunächst kaum eine Rolle. Lenin hatte in seinen Überlegungen zur Radikalisierung der außereuropäischen Arbeiterklasse vor allem „Halbkolonien“ wie China und auch Indien und Mexiko im Blick. Moskau musste jedoch bald erkennen, dass die Revolution in Europa, aber auch in der Türkei oder China vorerst ausbleiben würde und die mexikanische Revolution schwerlich als proletarische Bewegung bezeichnet werden könnte. Diese schmerzliche Einsicht lenkte das Augenmerk der sowjetischen Führung verstärkt auf afroamerikanische, ka-

24 James, George Padmore. Zu Padmore siehe auch weiter unten. 25 Ballantyne/Burton, Imperien und Globalität.

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ribische sowie afrikanische Radikale als künftige Träger der Weltrevolution. Organisationen wie das „International Trade Union Committee of Negro Workers“ sollten ein globales Netzwerk schwarzer Proletarier schaffen. Seit Mitte der 1920er Jahre erwählte die Komintern-Zentrale insbesondere Hamburg und Berlin zu wichtigen Orten für die Aktivitäten „schwarzer Revolutionäre“ (damals in der kommunistischen Propaganda „Neger-Arbeiter“ genannt), weil Deutschland keine Kolonialmacht mehr war, über eine starke kommunistische Partei verfügte und es aus Sicht Moskaus geschickter schien, antiimperialistische Appelle nicht aus Paris oder London als Hauptstädte großer Kolonialmächte zu lancieren.26 Überdies nahmen die deutschen Behörden zumindest eine Zeit lang eine relativ neutrale Haltung gegenüber den Antikolonialisten aus den französischen und britischen Imperien ein und gingen eher selten massiv gegen sie vor.27 Berlin entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einem Zufluchtsort für Personen aus den verschiedensten (halb)kolonialen Territorien, u.a. aus China, Indien, Arabien sowie Nord- und Subsahara-Afrika. Einer der zentralen Organisatoren antiimperialistischer Aktivitäten in Deutschland wurde der Kommunist, Verleger und Filmproduzent Willi Münzenberg, dessen „Internationale Arbeiterhilfe“ (IAH) sich u.a. philanthropischen Fragen im Zusammenhang mit politischen und sozialen Entwicklungen in kolonialen Ländern widmete.28 Teilweise mit Unterstützung der Komintern, teilweise als Strategie zur Erweiterung der globalen Aktivitäten der IAH lancierte Münzenberg 1925 die Gründung von Kommittees und Kampagnen zur Unterstützung chinesischer und syrischer nationaler Befreiungsbewegungen. Überdies kooperierte die IAH mit antikolonialen Gruppierungen in Berlin, etwa mit indischen Nationalisten oder dem ägyptischen „Klub der Zaglulisten“.29 1926 instituierte Münzenberg die „Liga gegen koloniale Unterdrückung“, die ein Jahr darauf unter seiner Regie in

26 Padmore, Pan-Africanism or Communism [1956], S. 323. Vgl. ferner Weiss, Framing a Radical African Atlantic; Adi, Pan-Africanism and Communism; Derrick, Africa’s Agitators. 27 Brückenhaus, Policing Transnational Protest, S. 142. Diese Neutralität hatte freilich ihre Grenzen, etwa im Fall von 20 in Berlin sesshaften indischen radikalen Aktivisten, die die deutsche Regierung 1925 aus dem Land wies. Vgl. für die Hintergründe Manjapra, Age of Entanglement, S. 102. 28 Eine überzeugende Biographie Münzenbergs fehlt. Vgl. aber McMeekin, A Political Biography of Willi Münzenberg. 29 Münzenberg, Fünf Jahre Internationale Arbeiterhilfe. Vgl. zu Münzenberg und den von ihm lancierten Organisationen umfassend Petersson, Willi Münzenberg; Weiss, Framing a Radical African Atlantic.

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Brüssel einen großen antikolonialen Kongress organisierte.30 Münzenberg spielte überdies eine wichtige Rolle in der Nachfolgeorganisation „League against Imperialism“, die ihr internationales Hauptquartier in Berlin besaß. Die Geschichte dieser Organisation reflektiert sowohl die nach dem Ersten Weltkrieg neu etablierten transimperialen Dimensionen antiimperialistischer Politik als auch die Grenzen dieser Verknüpfungen.31 Die Komintern in Moskau unternahm große Anstregungen, die Aktivitäten des Berliner Sekretariats zu kontrollieren. Dies gelang nur teilweise. Der Inder Virendranath Chattopadhyaya, der von 1928 bis 1931 die globalen Aktivitäten der Liga von der deutschen Hauptstadt aus koordinierte, setzte zumindest zeitweilig auf einen moderaten Kurs und suchte für den Unabhängigkeitskampf in Indien und anderswo zwischen radikalen und gemäßigten Linken zu vermitteln. Eine gewisse Unabhängigkeit von Moskau konnte auch dadurch erreicht werden, dass die LAI bis Ende der 1920er Jahre beträchtliche finanzielle Unterstützung von affiliierten nicht-kommunistischen Organisationen in den Kolonien, insbesondere vom Indian National Congress (INC) erhielt.32 Neben dem INC suchte die LAI Allianzen mit anderen antikolonialen Gruppierungen zu knüpfen, die ihrerseits von der Kooperation mit der LAI zu profitieren hofften, darunter die in Paris beheimate „Ligue de Défense de la Race Nègre“ sowie das in Hamburg von Georges Padmore koordinierte „International Trade Union Committee of Negro Workers“. Überdies suchte die LAI verstärkt in Deutschland wohnende Afrikaner aus den ehemaligen deutschen Kolonien für ihre Sache zu gewinnen. In Deutschland lebten in der Zeit der Weimarer Republik schätzungsweise zwei- bis dreitausend Afrikaner.33 Zu den engagiertesten politischen Aktivsten gehörte Joseph Bilé aus Douala in Kamerun. Seine Biografie beleuchtet einige der Netzwerke, aber auch Dilemmata des „schwarzen Internationalismus“ der Zwischenkriegszeit. Von 1912 bis 1914 hatte Bilé die staatliche Ingenieurschule in Hildburghausen in Thüringen besucht. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er an der geplanten Rückkehr nach Kamerun gehindert, blieb in Deutschland und schlug sich

30 Dazu Petersson, From Versailles to Bandung, S. 73f. 31 Zur LAI vgl. ausführlich Brückenhaus, Policing Transnational Protest, Kap.5; Petersson, Willi Münzenberg; Weiss, Framing a Radical African Atlantic. 32 Zu Chattopadhyaya (1880-1937) vgl. Barooah, Chatto. 1931 wurde Chatto nach Moskau beordert, um sich wegen „politischer Unehrenhaftigkeit“ zu verantworten. Sechs Jahre später, während des stalinistischen „Großen Terrors“, wurde er als deutscher Spion verurteilt und hingerichtet. 33 Zu ihren Lebensbedingungen vgl. Aitken, Surviving in the Metropole.

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mit verschiedenen Tätigkeiten durch. Auch sein rechtlicher Status blieb prekär, er erhielt ein Zertifikat, das ihn als „ehemals einem deutschen Schutzgebiet zugehörig“ auswies. Seine Existenz finanzierte sich Bilé zeitweise, wie viele andere in Deutschland lebende Afrikaner, durch Auftritte in Varietés und auf Theaterbühnen. So agierte er im März 1930 im Deutschen Künstlertheater in Berlin neben Paul Robeson bei der deutschen Erstaufführung von Eugene O’Neills Stück „The Emperor Jones“. Zugleich engagierte er sich als Sekretär der „Liga zur Verteidigung der Negerrechte“, trat der KPD bei und nahm in Berlin regelmäßig an Veranstaltungen der Marxistischen Abendschule teil, wo er mit antikolonialen Nationalisten aus Indien und Arabien in Kontakt kam. Überdies begann er Ende der zwanziger Jahre verstärkt auf öffentlichen Kundgebungen zu sprechen, so etwa bei einer Demonstration des Sozialistischen Schülerbundes im Dezember 1929 in Berlin oder im Rahmen der „Scottsboro-Kampagne“ in Hamburg 1932. Zufrieden meldete die KPD-Leitung aus Berlin nach Moskau, dass Bilé „überall seine Aufgaben zur größten Zufriedenheit seiner Genossen“ erfüllt habe. Mehrmals weilte er in Moskau, biss dort mit seinem Anliegen, für den antikolonialen Kampf nach Kamerun zurückzukehren, bei der Komintern jedoch auf Granit. 1933 musste er vor den Nationalsozialisten aus Berlin über Moskau nach Paris fliehen, auch dort wurde er von den Behörden eng überwacht. Schließlich kehrte er nach Kamerun zurück, arbeitete als Architekt und trat bis zu seinem Tod 1959 politisch nicht mehr in Erscheinung.34 Eine der zentralen Figuren in der Schaffung eines radikalen afrikanischen Atlantiks mit zeitweiligem Sitz in Deutschland war George Padmore (1902 bis 1959), der vielleicht bekannteste in Vollzeit tätige schwarze Bolschewist. Geboren als Malcolm Ivan Meredith Nurse in Trinidad, studierte er in den Vereinigten Staaten und trat der dortigen kommunistischen Partei bei. Er rückte bald in die Führungsebene der Komintern auf, ging nach Deutschland und etablierte 1930 in Hamburg mit dem „Negerbüro“ deren wichtigstes Informationszentrum. Dort landeten die Direktiven aus Moskau, politische Operationen wurden geplant und koordiniert, die Zeitschrift „Negro Worker“ konnte mit Hilfe von kommunistischen Matrosen von der Hansestadt aus gezielt in bestimmten Gebieten Afrikas und der Karibik verteilt werden. Im Juli 1930 fand in der Hansestadt der erste „Kongress der Negerarbeiter“ statt. Doch nur wenige Delegierte aus Afrika fanden den Weg an die Elbe, zum einen aus finanziellen Gründen, zum anderen hatten die Kolo-

34 Aitken/Rosenhaft, Black Germany, insb. S. 207-223 u. 291-295; Zitat S. 210.

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nialbehörden einigen Reisewilligen aus den Kolonien keine Papiere ausgestellt und sie so an der Ausreise gehindert.35 Überdies gelang es kaum, in Afrika selbst revolutionäres Feuer zu entfachen. Zwar äußerten Verwaltungen in verschiedenen afrikanischen Kolonien wiederholt ihre Furcht vor kommunistischer Agitation, meinten damit aber zumeist Anhänger Marcus Garveys, die in der Regel jedoch wenig Berührungspunkte zur Komintern hatten.36 Zudem kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen zwischen den Hardlinern der Zentrale und afrikanischen Aktivisten. Diese Konflikte offenbarten sich etwa in der von der Komintern in Moskau eingerichteten Ausbildungsstätte für Aktivisten aus Afrika und Asien. Afrikanische Studierende wie Joseph Bilé oder Jomo Kenyatta, die auf Empfehlung Padmores in Moskau weilten, formulierten zum Teil scharfe Kritik an den Unterkünften, am schlecht zubereiteten Essen und am dürftigen Englisch der Ausbilder. Sie galten sogleich als „kleinbürgerliche“ Kräfte, für die es in der kommunistischen Bewegung keinen Platz gebe. Viele afrikanische und karibische Aktivisten in Europa beschwerten sich überdies regelmäßig über die rassistischen Attitüden ihrer weißen Genossen und deren Desinteresse an kolonialen Fragen.37 Insgesamt erwiesen sich Deutschland und seine Metropolen Berlin und Hamburg für einige Jahre als wichtige „Hubs of Antiimperialism“, in denen insbesondere die LAI zunehmend ein Kurs einschlug, der weniger auf einzelne koloniale Territorien abzielte, sondern eine kompromisslose, umfassende Haltung gegen alle Formen des Imperialismus in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart einnahm. Vor allem Berlin etablierte sich für kurze Zeit als eine wichtige Kontaktzone, wo Afrikaner aus den ehemaligen deutschen Kolonien sich regelmäßig mit schwarzen Aktivisten aus den französischen und britischen Imperien sowie mit asiatischen und arabischen antikolonialen Akteuren trafen. Diese Erfahrung hat in unterschied-

35 Zum Kongress vgl. Weiss, Framing a Radical African Atlantic, S. 243ff. 36 Die von dem aus Trinidad stammenden und in den USA lebenden Marcus Garvey gegründete „Universal Negro Improvement Association“ (UNIA) war die größte schwarze Bewegung der afrikanischen Diaspora. Zu Beginn der 1920er Jahre zählte sie rund 2 Millionen Mitglieder und Sympathisanten weltweit. Als zentrales Ziel gab Garvey „eine schwarze unabhängige Nation auf dem afrikanischen Kontinent vor“, zu der alle in der Diaspora lebenden Afrikaner zurückkehren könnten. In Afrika selbst erfuhr der „Garveyismus“ jedoch vergleichsweise wenig Resonanz, am stärksten noch in Südafrika und dort insbesondere in der Kapregion. Dazu Vinson, The Americans are Coming! Zu Garvey und der UNIA vgl. die umfassende annotierte Quellenedition von Hill, The Marcus Garvey and Universal Negro Improvement Association Papers. 37 McClellan, Black Haij to „Read Mecca“.

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lichem Ausmaß stärker kosmopolitische und transimperiale Visionen des Antikolonialismus befördert. Die deutsche Regierung agierte vor allem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre vergleichsweise tolerant gegenüber der LAI und anderen antikolonialen Gruppierungen, zumal diese ihre Kritik vor allem gegen andere westliche Mächte richteten und die „kommunistische Gefahr“ in Deutschland selbst angesichts der stabilen politischen und ökonomischen Entwicklung weniger bedrohlich erschien. Deutschland bot der LAI gleichsam einen geschützten Raum, von dem aus die Organisation Allianzen mit anderen antikolonialen Bewegungen schmieden und eine Reihe von größeren Kongressen organisieren konnte. Angesichts der zunehmend expliziteren Hinwendung der LAI zum Kommunismus, die mit der Erhöhung antikolonialer Aktivitäten in Deutschland und der wachsenden Rekrutierung von im Land lebenden Afrikanern einherging, und der beginnenden Weltwirtschaftskrise reagierten die deutschen Behörden jedoch zunehmend autoritär. Die „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 beendete abrupt die antiimperialistischen Aktivitäten in Deutschland, die Komintern stellte rasch ihre finanzielle Unterstützung ein. III. Georges Padmore wurde wie eine Reihe anderer antikolonialer Aktivisten von den Nazis verhaftet, blieb für einige Monate in Hamburger Gefängnissen und wurde dann ausgewiesen.38 Er ging zunächst nach Paris, wo auch Willi Münzenberg Zuflucht gesucht hatte. Andere afrikanische Aktivisten konnten ebenfalls nach Frankreich fliehen, so Joseph Bilé, der Anfang 1933 in Moskau verbracht hatte. Paris war während der Zwischenkriegszeit ein wichtiges Zentrum des Panafrikanismus.39 Das Gros der Aktivisten in Organisationen wie der LDRN kam aus der Karibik, überdies spielten politische Gruppierungen aus dem Maghreb eine wichtige Rolle, während der zahlenmäßig überschaubare Personenkreis aus dem subsaharischen Afrika in dieser Zeit nur sporadisch in Erscheinung trat. So schrieb der Kameruner Joseph Ebele unter dem Pseudonym „Dualaman“ zwischen 1933 und 1936 in der in Paris herausgegebenen Monatszeitschrift der „Union 38 Vgl. Geiss, Panafrikanismus, S. 261. 39 Vgl. Liauzu, Aux Origines du Tiers-Mondisme; Dewitte, Les Mouvements Nègres en France; Langley, Pan-Africanism in Paris; Geiss, Panafrikanismus, Kap.II, 7; Derrick, Africa’s Agitators. Der folgende Abschnitt basiert auf Eckert, Afrikanische Intellektuelle, S. 256f.

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des Travailleurs Nègres“, „Le Cri des Nègres“, kritische Beiträge, in denen er vornehmlich am Beispiel Kameruns die Fehlleistungen der Kolonialherren auflistete und die negativen Folgen der Kolonialherrschaft für afrikanische Gesellschaften beschrieb.40 Insbesondere die kleine Gruppe der Kameruner politischen Aktivisten in Paris verwies auf die Kolonialansprüche NaziDeutschlands und agitierte gegen die Rückgabe Kameruns an die frühere Kolonialmacht. Leopold Moume-Etia und Jean Mandessi Bell aus Douala, zwei der wenigen afrikanischen Studenten in Frankreich, forderten aus dem französischen Mandatsgebiet Kamerun analog zu Syrien und dem Irak ein „A-Mandat“ zu machen, was eine stärkere Selbstbestimmung und größere Chancen auf eine künftige politische Unabhängigkeit bedeutet hätte.41 Die politische Landschaft der afrikanischen Diaspora in Frankreich in den 1930er Jahren war insgesamt jedoch stark zersplittert und entfaltete wenig Einfluss auf die französische Politik. Radikalere Forderungen wie in „La Race Nègre“ vom Juli 1935 nach einem „einzigen Negerstaat, der ganz Schwarzafrika und die Westindies umfassen soll“, blieben rar und ungehört.42 Arbeiter aus Afrika, in deren Namen ja viele der politischen Gruppierungen agierten, fanden sich in Frankreich in geringer Zahl vor allem in Hafenstädten wie Marseille oder auch Le Havre. In den meisten Fällen handelte es sich um Soninke aus Westafrika, die jedoch nur zögerlich auf die Annäherungsversuche etwa der LDRN reagierten, dann aber in der Regierungszeit der Front Populaire, als sich die Gewerkschaften zunehmend für ausländische Arbeiter öffneten, verstärkt der französischen Gewerkschaft der Seeleute beitraten. Grundsätzliche Kritik an der französischen (Kolonial-)Politik oder gar nationalistische Aspirationen dieser Seeleute sind jedoch nicht überliefert.43 Die panafrikanischen Gruppierungen bildeten im Paris der Zwischenkriegszeit jedoch nicht die einzigen Zirkel antiimperialer Aktivisten. In der Dekade nach dem Ersten Weltkrieg war die Gelegenheit, interethnische oder interregionale Verbindungen zu knüpfen nirgendwo größer als in der französischen Kapitale. Mit rund 100.000 Nicht-Europäern beherbergte Paris um 1930 mehr Menschen aus dem „globalen Süden“ als seinerzeit jede andere Stadt, abgesehen vielleicht von New York. Der Austausch zwischen Personen aus verschiedenen Weltgegenden vollzog sich zumeist innerhalb weniger Stadtviertel und Versammlungsräume, die sich

40 41 42 43

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Vgl. Eckert, Die Duala und die Kolonialmächte, S. 273f. Moume-Etia, Cameroun, S. 46-48 u. 97-110. Vgl. Derrick, Africa’s Agitators, S. 324. Vgl. Manchuelle, Willing Migrants.

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überwiegend im Quartier Latin befanden.44 Neben Afrikanern und Kariben bildeten Personen aus Indochina, vornehmlich aus Vietnam, eine numerisch kleine, politisch jedoch widerspenstige Gruppe. Obwohl die chinesische Community einen anderen rechtlichen Status genoss, überlappte sie in vielfacher Hinsicht mit den Vietnamesen. Die zahlreichen Lateinamerikaner in Paris waren zumeist nicht nur wesentlich wohlhabender als die anderen Migrantengruppen, sondern kamen aus Ländern, die rund ein Jahrhundert zuvor unabhängig geworden waren. Ihre Kritik richtete sich überdies weniger gegen den französischen, sondern den US-amerikanischen Imperialismus. Koloniale Herkunft korrespondierte nicht notwendigerweise mit sozioökonomischer Marginalität. Zwar bestand die Mehrheit der kolonialen Migranten aus armen Arbeitern, aber es fanden sich auch Studierende und einige solvente Geschäftsleute. Die rund 1.500 Syrer und Libanesen, welche die Volkszählung 1931 in der Großregion Paris erfasste, schienen mehrheitlich vergleichsweise gutsituierte Kaufleute, Künstler oder Studenten gewesen zu sein.45 Mobilität war ein zentrales Kennzeichen der politischen aktiven kolonialen Migranten, sorgenvoll beobachtet von der französischen Geheimpolizei. Im Durchschnitt blieben die meisten vier Jahre in Paris, unternahmen in dieser Zeit aber diverse Reisen in anderen französischen Städten und europäische Metropolen. Vertreter der chinesischen Kuomintang und der Kommunisten wählten zwar Paris als ihr europäisches Hauptquartier, reisten jedoch regelmäßig nach Berlin oder Brüssel und empfingen Genossen aus diesen Städten an der Seine. Seit Mitte der 1920er Jahre praktizierten die vietnamesischen Kommunisten ein ausgeklügeltes System, um Parteimitglieder zwischen Paris und Ausbildungseinrichtungen in Moskau hin- und her zu schleusen. Der Führer der LDRN, Tiémoko Garan Kouyaté aus Französisch-Sudan (heute Mali) begab sich regelmäßig nach Marseille, London und Berlin.46 Die Wurzeln des Antiimperialismus lagen in den repressiven Zuständen in den kolonial beherrschten Territorien. Das Beispiel Paris verdeutlicht jedoch, dass viele antiimperiale Protagonisten erst durch ihren Aufenthalt in der europäischen Metropole eine klarere politische Haltung entwickelten. Die französische Hauptstadt wurde eine Art Clearinghouse für individuelle Kritik an spezifischen Fällen imperialer Ausbeutung, weil es nun möglich

44 Goebel, Anti-Imperial Metropolis. 45 Für eine detaillierte Darlegung der verschiedenen Migrantengruppen in Paris vgl. ebd., Kap. I. 46 Ebd., S. 35.

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wurde, diese Ereignisse in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Die liberaleren Gesetze in der Metropole ermöglichten zwar ein höheres Maß an politischer Artikulation, zugleich jedoch wurden die Unterscheidung zwischen Bürgern und kolonialen Subjekten und die daraus resultierenden Diskriminierungen verschärft wahrgenommen. Die antikolonialen Aktivitäten in Paris fanden häufig ihren ersten Ausdruck in sozialen Organisationen. Um soziale Missstände und Leid zu mildern, gründeten NichtEuropäer im Paris der Zwischenkriegszeit Studentenassoziationen, politische Bewegungen, Hilfseinrichtungen und Publikationen. Obgleich diese Einrichtungen auch auf politische Entwicklungen in den Heimatregionen verwiesen, wie das erwähnte Beispiel der Kameruner Aktivisten zeigt, erlangten sie vor allem Unterstützung durch ihren Fokus auf die Rechte von Migranten, wie gleicher Lohn, Bewegungsfreiheit oder rechtliche Sicherheit. Die politische Karriere zahlreicher künftiger politischer Führer wie Zhou Enlai, Ho Chi Minh und Messali Hadji begann als Sprecher ihrer jeweiligen Communities im Paris der Zwischenkriegszeit; sie waren zunächst ethno-politische Unternehmer, bevor sie sich in Antiimperialisten verwandelten.47 Neben dem Kontakt zwischen Paris und diversen Herkunftsregionen spielte der Austausch zwischen verschiedenen Communities kolonialer Migranten eine wichtige Rolle für den Aufstieg antikolonialer Vorstellungen. Der große Unterschied im soziökonomischen und rechtlichen Status zwischen den verschiedenen Gruppen erschwerte einen solchen Austausch, regte aber zu Vergleichen an. Ein vietnamesischer Student, der seine eigenen Bedingungen mit denen eines chinesischen Studenten verglich, realisierte etwa rasch den fundamentalen Unterschied zwischen einem kolonialen Subjekt und einem Ausländer. In bestimmten Pariser Cafés und Restaurants entstand gleichsam eine kleine Welt von Aktivisten, in denen jeder Lehren aus den Erfahrungen der anderen zu ziehen suchte. Vergleiche und gegenseitiges Lernen half vielen Asiaten, Afrikanern oder Lateinamerikaner, ein besseres Verständnis für die Mechanismen und Auswirkungen des Imperialismus zu entwickeln.48 Der gegenseitige Austausch stieß in seiner Funktion als Inkubator des Anti-Imperialismus jedoch auf Grenzen und gestaltete sich keineswegs immer harmonisch. Hierarchien, Missverständnisse und politische Kontroversen prägten ebenso den Alltag zwischen (und innerhalb) der verschiedenen Gruppierungen kolonialer Migranten. „In a sense, then“, konstatiert Michael Goebel zurecht, „the dis-

47 Zu Hadji vgl. Stora, Messali Hadji; Goebel, Anti-Imperial Metropolis, S. 281f. 48 Ebd., Kap. 4.

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course about intercontinental solidarity and shared victimhood under the imperial world order was a fiction and a political strategy, not a lived reality.“49 Und doch, die Ungleichheit zwischen den kolonialen Migranten wurde zu einer Triebkraft ideologischen Wandels. Ho Chi Minh erklärte französischen Kolonialverwaltern, dass ihre Behandlung der Vietnamesen sich unvorteilhaft von japanischen Praktiken in Korea unterscheide und legte nach, dass sich Franzosen gegenüber den Tunesiern besser verhalten würden als gegenüber den Vietnamesen.50 Diese Argumente reflektierten zwar die große Bedeutung der eigenen Community und waren Teil einer politischen Strategie, aber eben auch Ausdruck konkreter Praktiken des Austausches, die in Paris besonders intensiv waren. Ho sprach fast täglich mit irischen, chinesischen und koreanischen Aktivisten, las ihre Publikationen und ging zu ihren Treffen, um für seine Sache zu werben. Die Zeitschrift der von ihm mitbegründeten „Union Intercolonial“, Le Paria, berichtete breit über die Bewegung Marcus Garveys wie über den indischen und ägyptischen Nationalismus. Diese Artikel basierten nicht allein auf der Auswertung der Pariser und internationalen Presse, sondern ebenso auf Gesprächen mit Personen aus diesen Regionen.51 Die Rolle von französischen Intellektuellen und insbesondere der französischen Kommunistischen Partei für den Antiimperialismus in Paris ist umstritten. Frankreichs Kommunisten zeichneten sich wie ihre Genossen in anderen Ländern durch Paternalismus, teilweise Rassismus und ein gewisses Desinteresse an Fragen des Imperialismus aus. Auf der anderen Seite schufen sie, oft mit Unterstützung der Komintern, Plattformen für den Austausch verschiedener kolonialer Migrantengruppen. Zudem unterstützten sie zusammen mit anderen linken Gruppierungen zahlreiche antiimperiale Assoziationen und deren Publikationen, wenngleich diese Förderung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem wachsenden Desinteresse Moskaus an imperialen Fragen stark zurückging.52

49 Ebd., S. 283. Friktionen gab es selbst innerhalb kleiner Gruppierungen wie den Kamerunern. Vgl. Derrick, Africa’s Agitators. 50 Quinn-Judge, Ho Chi Minh. 51 Zu dieser Zeitung vgl. Goebel, Anti-Imperial Metropolis, insb. S. 190-194. 52 Für eine kritische Perspektive auf die antiimperiale Politik der Linken in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Liauzu, Aux Origines du Tiers-Mondisme; Slavin, The French Left and the Rift War. Ferner Sibeud, La gauche et l’empire colonial.

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IV. Georges Padmore begann bald zwischen Paris und London zu pendeln, um sich dann 1935 endgültig in der Hauptstadt des britischen Imperiums niederzulassen. Die Stadt war in den Jahren zwischen der Ankunft Padmores und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs voller Debatten zu Themen, für die er sich besonders engagierte: Der Aufstieg des Faschismus in Europa, die Krise zwischen Italien und Abessinien, die offenkundigen politischen Säuberungen in der Sowjetunion und schließlich die aufflammenden Aufstände und Rebellionen in den vermeintlich „loyalen“ Westindies zogen in Großbritannien eine intensive Diskussion über Rasse, Autorität, koloniale Praktiken und imperiale Logiken nach sich. Diese Diskussionen fanden in Hyde Park Corner, diversen Pubs und Clubs und in Stadthallen statt.53 Padmore sprach bis zu dreimal die Woche in diversen Lokalitäten und sah sich mit der sehr fraktionierten Welt der britischen Linken konfrontiert. Insbesondere in Bezug auf die Entwicklungen in der Sowjetunion fanden sich höchst unterschiedliche Interpretationen. Das Verhältnis der antiimperialistischen Linken zur UDSSR zersplitterte sogar häufig die Londoner Community indischer Nationalisten.54 Eine weitere Kontroverse entspann sich über die Praxis der „Colour Bar“ in britischen (und insbesondere Londoner) Restaurants, Hotels und anderen Unterkünften und führte zu zahlreichen Initiativen, um zugängliche Räume für Personen aus den Kolonien zu ermöglichen. Diese Kampagnen stellten eindringlich die rassistischen Haltungen in der imperialen Metropole in Frage.55 Universitätsstudenten und Wissenschaftler aus Afrika und der Karibik begannen verstärkt Studien über die britischen Kolonien zu produzieren, sahen sich aber mit immensen Problemen konfrontiert, ihre Arbeiten zu veröffentlichen: Die Colour Bar existierte nicht allein für Nahrung, Unterkunft und Arbeit, sondern auch für Publikationen. Die regelmäßige intellektuelle Herabwertung ihrer Studien als nicht seriös oder wissenschaftlich genug betonte die rassistischen Vorurteile, die den sich in dieser Zeit in Großbritannien entfaltenden Ideen über koloniale Herrschaft unterlagen.56

53 Zu diesen Orten und speziell zu den von Schwarzen frequentierten Clubs und Hallen vgl. Matera, Black London. 54 Vgl. Corthorn, In the Shadow of the Dictators; Owen, The British Left and India; James, Georges Padmore, Kap. 2. 55 Pennybacker, From Scottsboro to Munich. Whittall, Race, Empire and Hospitality in Imperial London. 56 Vgl. Matera, Black London, Kap.6.

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Die in den 1930er Jahren in Großbritannien und insbesondere in London geführten Debatten über das Empire waren so lebhaft, weil imperiale Politik in dieser Dekade einem signifikanten Wandel unterlag. Ein wesentlicher Faktor für die Neukonfiguration des britischen Imperialismus, die durch den Zweiten Weltkrieg eine weitere Dynamisierung erfuhr, waren Streiks und Unruhen in den afrikanischen, vor allem aber karibischen Kolonien.57 Aufgrund dieser Ereignisse verbot 1938 die Regierung in London, die über viele Jahre immer wieder ihr historisches Engagement für die Sklavenemanzipation betont hatte, die Feiern zu hundertsten Wiederkehr der Befreiung der Sklaven im Britischen Empire. Öffentliche Feierlichkeiten, so fürchtete man, hätten zwangsläufig darauf aufmerksam gemacht, wie schlecht es den britischen Untertanen in den Kolonien weiterhin ging. Armut und Arbeitslosigkeit waren in den britischen West Indies zu einem Massenphänomen geworden. Als der Kolonialforscher William W. Macmillan 1934, noch vor Ausbruch der Unruhen, nach Jamaika reiste, sah er „eine breite Welle von Unzufriedenheit“. In einem zwei Jahre später publizierten einflussreichen Buch mahnte er: „The tragedy of the West Indies now needs no emphasis as a warning of the dangers of a complacant neglect which threatens the very foundations of the British Empire all over the world. We cannot afford to allow it to continue to be a habit to wait until there is a riot and bloodshed before taking notice of the grievances of our fellow subjects in any of these Dependencies.“58 Die britische Politik zog aus den Revolten in den West Indies den Schluss, dass koloniale Herrschaft verbessert werden musste. Das Imperium sollte nicht enden, sondern renoviert werden. Das Projekt „Entwicklung“ schien dafür das geeignete Instrument.59 Der zu dieser Zeit in London aktive karibische Aktivist und Intellektuelle C.L.R. James setzte sich auf seine Weise mit der Ereignisse in den West Indies auseinander. In seiner längst zum Klassiker mutierten, erstmals 1938 publizierten Studie „The Black Jacobins“ beschrieb er die haitianische Revolution als Aufstand gegen eine moderne Form der Ausbeutung und wollte zugleich verdeutlichen, wie spärlich die Früchte der Befreiung für die ehemaligen Sklaven und ihre Nachkommen waren. 57 Die große Bedeutung dieser Streiks für die Neuausrichtung britischer imperialer Politik betont u.a. Cooper, Decolonization and African Society. 58 Zit. nach James, Georges Padmore, S. 32. 59 Vgl. aus der inzwischen äußerst umfassenden Literatur nur Hodge, Developing Africa.

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Der Überfall auf Äthiopien war unter panafrikanischen Gruppierungen und „schwarzen“ Intellektuellen weltweit ein Fanal. In Großbritannien vereinte dieses Ereignis nicht nur kurzfristig die afrikanischen Studierenden, sondern auch die sehr disparate Gruppe afrikanischer und karibischer Intellektueller.60 Die markantesten Figuren dieses Kreises kamen aus der Karibik: Neben Padmore zählten dazu C.L.R. James sowie T. Ras Makonen. Zu den Vertretern aus Afrika gehörten der Sierra Leoner I.T.A. WallaceJohnson sowie insbesondere Jomo Kenyatta aus Kenia.61 Die Angriff Italiens auf den einzigen signifikanten unabhängigen Staat in Afrika belegte aus der Sicht dieser Gruppe sowohl die fortdauernde Virulenz eines aggressiven Imperialismus als auch angesichts des Verhaltens der anderen Kolonialmächte die grundlegende Schuld Europas. Überdies beschleunigte das Scheitern der Sowjetunion, Sanktionen gegen Italien durchzusetzen, den Bruch mit dem Kommunismus. Kwame Nkrumah erinnerte sich: „It was almost as if the whole of London had suddenly declared war on me personally.“62 Padmore, Kenyatta, James, Makonnen sowie der Organisator der „Colonial Seamen’s Union“, Chris Jones, bildeten die „International African Friends of Abyssinia“ mit dem Ziel, die Unterstützung der britischen Öffentlichkeit für den Kampf gegen die italienische Aggression zu gewinnen, ohne jedoch große Resonanz zu erfahren. „Blacks have no powerful press, control no broadcasting stations, sit in no parliaments of the world, and have no means of voicing their grievances“, schrieb Padmore in seinem 1936 publizierten Buch How Britain Rules Africa.63 Er und seine Mitstreiter hatten zunehmend den Eindruck, dass sie in ihrem Kampf, eine Stimme zu bekommen, kaum mit der Unterstützung britischer Organisationen 60 Der folgende Abschnitt basiert partiell auf Eckert, Afrikanische Intellektuelle, S. 263-266. Vgl. ferner Howe, Anticolonialism, S. 84ff.; Matera, Black London, S. 65ff. 61 Eine sehr aufschlussreiche Beschreibung dieses Kreises bietet die autobiographische Schrift von Makonnen, Pan-Africanism from within, S. 150ff. Makonnen (ca. 1900-1983) steht gleichsam für einen transimperialen Lebenslauf. Er wurde als Georges Thomas Nathaniel Griffith in British Guyana geboren, studierte kurzzeitig in Texas und wirkte in den 1930er Jahren als zentraler Organisator panafrikanischer Aktivitäten in London. Eine kurze biographische Skizze findet sich in Adi/ Sherwood, Pan-African History, S. 117-122; Matera, Black London. Vgl. zu dieser Gruppe auch Polsgrace, Ending British rule in Africa. Zu den karibischen Intellektuellen vgl. auch Schwarz, West Indian Intellectuals in Britain. Zur Biographie eines der markantesten karibischen Intellektuellen Hogsbjerg, C.L.R. James in Imperial Britain. Zur Verbindung der in London aktiven Panafrikanisten zu afro-amerikanischen Antikolonialisten vgl. von Eschen, Race against Empire. 62 Nkrumah, Ghana, S. 27. 63 Padmore, How Britain Rules Africa London, S. 390f.

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rechnen konnten und sich daher zunehmend eigenständig organisieren mussten. In zahlreichen Artikeln verknüpfte Padmore zwar die rassistische Diskriminierung gegen Schwarze in Großbritannien mit einer von ihm wahrgenommen wachsenden internationalen Krise des Imperialismus, doch gelang es in dieser Sache kaum Verbündete unter den britischen Parteien und Assoziationen zu gewinnen, die eher auf Reformen des Imperialismus als auf seine Abschaffung setzten.64 Markanteste institutionelle Folge des Protestes gegen den Überfall auf Äthiopien war die Gründung – wiederum durch Padmore, James, Makonnen und Kenyatta – des „International African Service Bureau“ (IASB). Partiell nach dem Vorbild der „Indian League“ modelliert, hatte sich die Organisation zum Ziel gesetzt, schwarze Radikale in Großbritannien und den Kolonien unter dem Banner des Panafrikanismus zu vereinen und die öffentliche Meinung in Großbritannien zu beeinflussen. Sie gab regelmäßig ein Zeitschrift heraus – zunächst Africa and the World, gefolgt von African Sentinel, schließlich ab Sommer 1938 International African Opinion –, in der eine breit gefächerte Gruppe antikolonialer Publizisten veröffentlichte.65 Der IASB löste sich beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs allerdings weitgehend auf.66 Und insgesamt wird man Paul B. Rich zustimmen können, dass der vom IASB vertretene radikale panafrikanische Ansatz „a remarkably slight imprint on the political thought of the British left towards imperialism“ hinterließ.67 Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann rasch auch unter den britischen Linken das Projekt Entwicklung Konjunktur und der Panafrikanismus verlagerte sich immer stärker nach Afrika selbst. V. Stuart Hall engagierte sich bald nach seiner Ankunft in England in diversen politischen Assoziationen. Er gab die Arbeit an seiner literaturwissenschaftlichen Dissertation in Oxford auf und zog nach London, wo er u.a. als Hilfslehrer unterrichtete und im Partisan Café in Soho arbeitete, das

64 Vgl. Rich, Race and Empire in British Politics, S. 87. Auch zu der kleinen Gruppe von afrikanischen und karibischen (Hafen-)Arbeitern und Seeleuten in England scheinen kaum Verbindungen bestanden zu haben. Zu dieser Gruppe vgl. Frost, Work and Community among West African Migrant Workers. 65 Vgl. Howe, Anticolonialism, S. 87; James, George Padmore, S. 42-45. 66 Zu den Hintergründen vgl. Matera, Black London; Howe, Anticolonialism, S. 87f. 67 Rich, Race and Empire in British Politics, S. 90. Zur ambivalenten Haltung der Arbeiterbewegung vgl. Frank et al., The British Labour Movement and Imperialism.

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sich bald zu einem Treffpunkt der Linken entwickelte und von vielen Intellektuellen, aber auch von der Geheimpolizei regelmäßig frequentiert wurde. Mit dem Historiker E.P. Thompson verband Hall eine enge, aber schwierige Freundschaft. Thompson habe sich zwar für die Befreiung vom Kolonialismus engagiert, doch letztendlich nicht verstanden, was Kolonialismus eigentlich war und wie er operierte. Er sei bis in die letzte Faser englisch gewesen und habe sein, Halls, intensive Beschäftigung mit „rassischer Identität“ nicht nachvollziehen können. Ein ähnliches Gefühl beschlich Hall bei vielen anderen seiner englischen politischen Gefährten jener Jahre.68 Die Beziehungen zwischen in Europa lebenden Aktivisten aus den Kolonien und der antiimperialistischen Linken in Europa zeichneten sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg durch Ambivalenz, Missverständnisse und gelegentliche Sprachlosigkeit aus.69 Doch auch in der Zwischenkriegszeit erprobte und praktizierte transimperiale Kooperation antiimperialer Personen und Gruppierungen setzten sich fort. Wie kein anderes Ereignis symbolisierte die Konferenz von Bandung 1955 diesen Geist. Die Konferenz markierte nicht nur in vielen Hinsichten das Ende der Kolonialzeit und ein neues Selbstbewusstsein der einst Kolonisierten, sondern auch die Suche nach alternativen Formen weltweiter politischer Kooperation.70 Viele Zeitgenossen nahmen die Konferenz mit ihren über tausend Repräsentanten von 29 Ländern und 30 Befreiungsbewegungen, die knapp zwei Drittel der Menschheit repräsentierten, als ein bahnbrechendes Ereignis wahr. Den afroamerikanischen Schriftsteller Richard Wright etwa traf die Ankündigung der Konferenz, die er Weihnachten 1954 in der Zeitung las, gleichsam wie ein Schlag: „29 freie und unabhängige Nationen Asiens und Afrikas treffen sich in Bandung, Indonesien, um ‚Rassismus und Kolonialismus‘ zu diskutierten… Was ist das?“, notierte er. „Ich ging die Liste der beteiligten Nationen durch: China, Indien, Indonesien, Japan, Burma, Ägypten, Türkei, die Philippinen, Äthiopien, die Goldküste usw. […] Plötzlich wurde mir klar: diese Völker waren ehemalige koloniale Subjekte, Menschen, die von den Weißen ‚farbige‘ Völker genannt wurden. Nahezu alle die erwähnten Nationen waren einmal in der einen oder anderen Form unter westeuropäischer Herrschaft […] Dieses Treffen der Verschmähten war eine Art Urteil über

68 Hall, Familiar Stranger, S. 264f. 69 Für Frankreich vgl. Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt. 70 Zur Konferenz und den weiteren Kontext vgl. Lee, Making a World After Empire; Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten.

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die westliche Welt […] Ich repräsentierte keine Regierung, aber ich wollte gleichwohl dabei sein.“71 Richard Wrights Bericht verdeutlicht nicht zuletzt die politische Brisanz der sogenannten Bandung-Konferenz. Die Vertreter ehemaliger Kolonien trafen sich auf internationaler Ebene, um sich näher kennenzulernen und gemeinsam die aktuelle Weltlage zu debattieren. Im Lagerdenken des Kalten Krieges war ein solches außerhalb der Blöcke stehendes internationales Forum eigentlich nicht vorgesehen. Im Westen erwartete man von diesem Treffen daher wenig Gutes. Die USA befürchteten eine Ausbreitung des Kommunismus und Großbritannien ein Erstarken der antikolonialen Bewegungen in Afrika. Zugleich weckte die Ankündigung der Konferenz, wie das Beispiel von Wright verdeutlicht, große Erwartungen und Hoffnungen. Bandung stand für eine neue Epoche, für das Zeitalter der Entkolonialisierung, für das Zurückdrängen der Großmächte durch andere Methoden als den totalen Krieg, für die Möglichkeit einer Neugestaltung der Welt. So eröffnete der indonesische Präsident Sukarno die Konferenz in Bandung mit folgenden Worten: „Über viele Generationen hatten unsere Völker keine Stimme in der Welt. Wir waren die Nicht-Beachteten, die Völker, für die andere Entscheidungen trafen, die Völker, die in Armut und Erniedrigung lebten. Dann verlangten unsere Nationen oder sie kämpften für die Unabhängigkeit, und sie erlangten Unabhängigkeit, und mit dieser Unabhängigkeit kam Verantwortung. Wir haben eine große Verantwortung uns selbst gegenüber, und für die Welt und die noch nicht geborenen Generationen. Aber wir bedauern diese Verantwortung nicht.“72 Und er verwies auf die League Against Imperialism als Beispiel für „Opfer, die unsere Vorväter brachten“ sowie für den „unsterblichen, unbezähmbaren und unbesiegbaren Geist jener, die vor uns diesen Weg gingen.“73 Das Schlusskommuniqué blieb recht allgemein und sprach sich in enger Anlehnung an die Charter der Vereinten Nationen für den Weltfrieden und verstärkte weltweite Kooperation aus. Die institutionell wichtigste Folge der Bandung-Konferenz war die maßgeblich vom jugoslawischen Präsidenten Josip Tito beförderte Bewegung der Blockfreien, die 1961 in Belgrad ins Leben gerufen wurde. Rasch jedoch machten Konflikte wie die zwischen Indien und China oder Indien und Pakistan schmerzhaft deutlich, 71 Wright, The Color Curtain. 72 Zit nach Sukarno, Opening address [1955] – meine Übers., A.E. 73 Kahin, The Asian-African Conference, S. 39f.

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dass die einst imperial beherrschten Territorien keineswegs mit einer Stimme sprachen. Der Vietnam-Krieg manifestierte nachhaltig den sehr begrenzten geopolitischen Einfluss afrikanischer und asiatischer Nationen. Vor allem aber scheiterten die „Bandung Regimes“, wie sie der ägyptische Ökonom Samir Amin genannt hat, innerhalb ihrer eigenen nationalen Grenzen. Einparteienstaaten, autoritäre Herrschaft, Menschenrechtsverletzungen und frappante ökonomische Ungleichheiten haben nur allzu oft die sozialen und politischen Bedingungen vieler ehemaliger Kolonien charakterisiert. Gleichwohl markiert der Weg von Berlin nach Bandung einen wichtigen Aspekt der Geschichte der Antiimperialismus und der Bedeutung kolonialer Aktivisten und Intellektueller und verweist auf die lange Dauer transimperialer Verbindungen, Kooperationen und Friktionen. Literatur Adi, Hakim: Pan-Africanism and Communism: The Communist International, Africa and the Diaspora, 1919-1939, Trenton: Africa World Press 2013. Ders./Sherwood, Marika: Pan-African History. Political Figures from Africa and the Diaspora since 1787, London: Routledge 2003. Aitken, Robbie: Surviving in the Metropole. The Struggle for Work and Belonging amongst African Colonial Migrants in Weimar Germany, in: Immigrants & Minorities, 28(2/3), 2010, S. 202-223. Ders./Rosenhaft, Eva: Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884-1960, Cambridge: Cambridge UP 2013. Bailkin, Jordanna: The Afterlife of Empire, Berkeley: California UP 2012. Ballantyne, Tony/Burton, Antoinette: Imperien und Globalität, in: Emily S. Rosenberg (Hrsg.): Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege, München: C.H. Beck 2012, S. 287-432. Barooah, Nirode K.: Chatto: The Life and Times of an Indian Anti-Imperialist in Europa, Oxford: Oxford UP 2003. Boubeker Ahmed/Hajjat, Abdellali (Hrsg.): Histoire politiques des immigrations (post)coloniales: France, 1920-2008, Paris: Éditions Amsterdam 2008. Brocheux, Pierre: Ho Chi Minh. A Biography, Cambridge: Cambridge UP 2011. Brückenhaus, Daniel: Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anticolonialists in Europe, 1905-1945, Oxford: Oxford UP 2017. Buettner, Elizabeth: Europe after Empire. Decolonization, Society, and Culture, Cambridge: Cambridge UP 2016. Dies.: „Would You Let Your Daughter Marry a Negro?“ Race and Sex in 1950s Britain, in: Philippa Levine u. Susan R. Grayzel (Hrsg.): Gender, Labour, War and Empire: Essays on Modern Britain, Basingstoke u. New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 219-237.

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Empires und Mobilität: Pandita Ramabai (1858-1922) und Blaise Diagne (1872-1934) Ulrike von Hirschhausen1 und Jörn Leonhard2

Das Interesse an Empires hat sich in den letzten Jahren zu einem „imperial turn“ in der internationalen Geschichtswissenschaft verdichtet.3 Gerade die Ungleichheit und Vielfalt, die historische Großreiche in besonderem Maße kennzeichneten, haben sie zu einem der lebendigsten Forschungsfelder der internationalen Geschichtswissenschaft gemacht. Denn seit dem Ende des Kalten Krieges stellt sich nicht nur die Frage der künftigen Weltordnung neu, auch die Erfahrung der Globalisierung ist mit tradierten Ordnungsvorstellungen der Nation nicht mehr zu fassen. Dies fordert zu neuen Ansätzen in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Empires auf, die über die historischen Grenzen der Großreiche hinaus führen.4 Bislang gaben die staatlichen Grenzen historischer Großreiche meist auch die Grenzen der analytischen Beschäftigung vor. Ein genauer Blick auf indigene Akteure, die in den Empire-Narrativen der westlichen Historiographie bislang eher ein Randphänomen darstellen, macht jedoch deutlich, dass sich das „making and unmaking of empire“ nicht allein in nationalen, imperialen oder postkolonialen Perspektiven erschöpfte. Vielmehr griffen mobile Akteure, seien es Politiker, Missionare, Ärzte, Soldaten, Kaufleute oder niedere Beamte, häufig über die Grenzen ihres kolonialen Herkunftsraumes hinaus, um an anderen Orten und bevorzugt in den imperialen Zentren Erfahrungen zu sammeln, die ihr politisches, ökonomisches oder

1 Prof. Dr., Universität Rostock, Historisches Institut. Professur für Europäische und Neueste Geschichte. URL: https://www.geschichte.uni-rostock.de/arbeitsbereiche/e uropaeische-und-neueste-geschichte/lehrstuhl/lehrstuhlinhaber/. 2 Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Historisches Seminar. Direktor des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas und Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. URL: http://romanisches-westeuropa.gesc hichte.uni-freiburg.de/personal/personen-leonhard. 3 Vgl. Ballantyne, Changing Shape of the Modern British Empire; Gosh, Another Set of Imperial Turns? 4 Vgl. Ballanytne/Burton, Imperien und Globalität; von Hirschhausen, A New Imperial History? Vgl. eine eindrucksvolle Umsetzung: Beverley, Hyderabad, British India and the World.

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Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard

kulturelles Handlungsreservoir erweiterten und sich in spezifischen Kontexten auch gegen die koloniale Ordnung einsetzen ließen.5 Um diese individuellen Strategien im Umgang mit imperialer Herrschaft zu rekonstruieren und damit die Funktionsweise von Empires besser zu verstehen, reicht die Verbindung von Zentrum und Peripherie, mithin ein internalistischer Analyserahmen, nicht mehr aus. Vielmehr lassen sich solche Konstellationen nur durch eine neue Verknüpfung von kolonialen Peripherien, imperialen Zentren und denjenigen Orten jenseits der imperialen Grenzen erfassen, welche die Akteure selber wählten. Wie sich Empires in solche erweiterten globalen Geographien, beispielsweise der politischen Machtbeziehungen, des Wissens oder der Religion, situieren lassen, ohne an historischer Tiefenschärfe zu verlieren, sucht dieser Aufsatz am Beispiel zweier Lebensläufe zu zeigen: der indischen Sozialreformerin, Feministin und Missionarin Pandita Ramabai (1858-1922) und des afrikanischen Politikers Blaise Diagne (1872-1934), deren Biographien in besonderem Maße von der Auseinandersetzung mit imperialer Herrschaft und globaler Moderne geprägt waren. Die Rekonstruktion ihrer Biographien kann zum einen dazu beitragen, die spezifische Rückwirkung imperialer oder globaler Mobilität auf die koloniale Lebenswelt besser zu verstehen.6 Zum zweiten sind indigene Biographien eine von mehreren Möglichkeiten, um die Vorstellung von Empires als großflächigen Herrschaftsräumen zu relativieren, in denen primär weiße Protagonisten zwischen europäischen Metropolen und außereuropäischen Peripherien Kapital oder Güter bewegten, Kriege führten oder Wissen exportierten. Sie zeigen Empires vielmehr als Räume, in denen gleichzeitig und oft überlappend indigene Eliten alternative, inner- und transimperiale Netzwerke – wie internationale muslimische Gelehrtenzirkel, christliche Missionsnetzwerke oder schwarzafrikanische Emanzipationsbewegungen – herstellten und nutzten, um ihre spezifischen Ziele umzusetzen. Drittens geben indigene Akteure, die in dieser Weise mobil waren, Aufschluss über die spezifischen Realitäten der lokalen Mehrheitsbevölkerung, für die sie sich entweder einsetzten oder von deren Situation sie sich abgrenzten: „Singular lives intersect with wide patterns“.7 Viertens schließlich baut eine indigene Biographik auf Grundprämissen der „imperial biography“ auf, die vor allem David Lambert und in 5 Vgl. Goebel, Anti-imperial Metropolis; siehe auch von Hirschhausen, International Architecture as a Tool of National Emancipation. 6 Vgl. Lambert/Lester, Colonial Lives across the British Empire; Deacon/Russell/Woollacott, Transnational Lives; Davies, Decentering History. 7 Siehe Lambert/Lester, Colonial Lives across the British Empire.

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Empires und Mobilität

Deutschland Malte Rolf konzipiert haben, und entwickelt diese weiter.8 Das Erkenntnispotential imperialer Biographien liegt vor allem darin, dass sie grundlegende Ordnungsvorstellungen, Mobilitätschancen und Repräsentationen jener Empires, in denen sie angesiedelt waren, exemplarisch abbilden können. Dadurch erfassen sie jedoch tendenziell eher die Zentrumsperspektive, welche die meist aus Europa stammenden Stationsvorsteher, Gouverneure, Offiziere, Ärzte, höheren Beamten, Experten oder Unternehmer in die Kolonien mitbrachten und auf ihren unterschiedlichen Stationen entsprechend veränderten. Die Lebensläufe mobiler indigener Akteure zu rekonstruieren, erlaubt es hingegen, die Veränderung in der Entwicklung von Empires aus der vermeintlichen Dichotomie von Kolonisierten und Kolonisatoren, von indigen und imperial, lokal und global herauszulösen. Gerade ihre Erfahrungen in Institutionen und Orten innerhalb und außerhalb des Empires, ihre Einbindung in Netzwerke und die Mitgestaltung von Bewegungen, die jenseits oder quer zur imperialen Herrschaft standen, führten oft zu Konfigurationen, die sich nicht im Entweder-Oder von westlicher oder indigener Handlungspraxis erschöpften. Vielmehr entwickelten diese Akteure oft neue, hybride Formen der Modernität, die in Konkurrenz zu imperialen Modernitätsvorstellungen treten konnten. Die folgenden Fragen stehen bei der Rekonstruktion der Biographien von Pandita Ramabai und Blaise Diagne im Vordergrund: Was bedeutete in beiden Fällen inner- und transimperiale Mobilität? Wie entstand dadurch eine besondere Handlungsmacht? Welche biographischen Mobilitätsmuster ermöglichen die Partizipation an globalen Phänomenen und Reservoirs? Wie wurden diese Ressourcen im lokalen Kontext der kolonisierten Räume um- und eingesetzt? Welche Konsequenzen hatten diese Überschreitungen für die imperiale Herrschaftspraxis vor Ort und im Zentrum, und wo lagen die Grenzen der durch Mobilität gewonnenen Handlungsmacht? I. Pandita Ramabai zwischen indischem Patriarchat, kolonialer Herrschaft und globaler Christlichkeit Die globale Mobilität, die Pandita Ramabai über drei Jahrzehnte hindurch an den Tag legte, war eine entscheidende Grundlage ihrer radikalen Position als Sozialreformerin, Feministin und christlicher Missionarin in Indi8 Vgl. Rolf, Imperiale Biographien; Buchen/Rolf, Eliten im Vielvölkerreich.

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en zwischen 1880 und 1920.9 Auf ihren Reisen und Auslandsaufenthalten entwickelte sie kulturelle Wissensbestände, knüpfte persönliche Netzwerke und gewann ökonomische Ressourcen, die ihren Handlungsraum in Indien weit über die Grenzen hinausschoben, welche Geschlechterhierarchie, Kastenzugehörigkeit und Religion ebenso wie Nationalität und koloniale Herrschaft vorgaben. Gleichzeitig engten genau jene globalen Ressourcen, welche sie für den Aufbau einer unabhängigen Bildungs- und Missionsanstalt im westlichen Indien mobilisierte, ihre Wirkung in der indischen Mehrheitsgesellschaft massiv ein und ließen sie am Ende ihres Lebens global vernetzt, von der Kolonialherrschaft weitgehend unabhängig, aber national isoliert erscheinen. Ein erster Blick auf die Akteure des Feldes, auf dem Ramabai sich bereits als junge Frau zu etablieren vermochte, zeigt die unterschiedlichen Gruppen und Positionen, mit denen sie sich auseinandersetzen musste. Ihr Anliegen, die soziale Lage der indischen Frau zu verbessern, war Teil eines vielbeachteten, öffentlichen Reformdiskurses, der soziale, religiöse, nationale und imperiale Fragen berührte und deshalb gleichermaßen männliche indische Reformer, westliche Missionare, die britische Kolonialregierung und zunehmend auch indische Nationalisten auf den Plan rief. Für die Vielzahl nichtstaatlicher indischer Reformbewegungen, die um 1900 einen Höhepunkt sozialer Mobilisierung erreichten, war das Thema weiblicher Sozialreform ein bevorzugter Gegenstand.10 Diese zivilgesellschaftliche Entwicklung war ein Ergebnis ebenso wie eine Antwort auf die staatliche Praxis der Kolonialherrschaft, welche weibliche Bildung und Rechtsstatus durch Gesetzesänderungen zu verbessern suchte. Das Gros der männlichen, indischen Reformer sah in der Verbesserung der sozialen Lage der Frau einen Hebel, der britischen Zivilisierungsmission einen eigenen Versuch indischer Zivilisation entgegenzustellen. So prangerte einer der führenden Reformer, M.G. Ranade, auf dem Symposium of Hindu Domestic Reformers and Anti-Reformers 1889 die soziale Isolierung minderjähriger Witwen als „Skandal (an), der jede gut regulierte Gesellschaft beschämen muss.“11 Zugleich sahen sie in der Bildung von Ehefrauen und Müttern auch einen Weg, ihre politischen Vorstellungen in den häuslichen Be-

9 Die Literatur zu Ramabai ist umfangreich, jedoch oft hagiographisch. Vgl. jetzt v.a eine Quellenedition mit biographischer Einführung: Kosambi, Pandita Ramabai. Siehe auch dies., Indian Response to Christianity, Church and Colonialism; dies., Pandita Ramabai’s educational and missionary activities; Shetty, Christianity. 10 Vgl. Watts/Mann, Civilizing Missions. 11 M.G. Ranade, zitiert nach Kosambi, Women, Emancipation and Equality, S. WS43.

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Empires und Mobilität

reich hineinzutragen, der dem kolonialen Zugriff überwiegend verschlossen blieb. Dadurch ergaben sich persönliche und institutionelle Verbindungen zu den entstehenden nationalen Vereinen, die sich um den 1885 gegründeten Indian National Congress gruppierten. Die Reformer wiederum suchten politische Legitimität auch durch ihr soziales Engagement für marginalisierte Gruppen und Kasten zu herzustellen, die aber die Vorherrschaft des Hindu-Patriarchats keinesfalls gefährden sollte. Gleichzeitig war auch für die britische Kolonialregierung, unterstützt und gedrängt von imperialen Feministinnen in England, die Verbesserung der sozialen Lage der Frau ein bevorzugtes Aktionsfeld, um ihre Zivilisierungsmission konkret umzusetzen. Gerade hier, wo sich reale und fiktive Lagen teilweise überlappten, ließ sich die Vorstellung der britischen kulturellen Überlegenheit besonders sichtbar mit der Assoziation indischer Hilflosigkeit und Rückständigkeit kontrastieren.12 Ähnlich zogen auch britische Missionare die Geschlechterhierarchie und das Bildungsgefälle in Indien als Argument für die Notwendigkeit sozialer Intervention und christlicher Bekehrung heran, indem beispielsweise die „Zenana“, der Frauen vorbehaltene Teil des Hauses, als Kurzformel für die Unterdrückung der Frau proklamiert wurde. Mithin bewegte sich Ramabai, als sie 1878 ihren ersten öffentlichen Vortrag zur Situation indischer Witwen hielt, in einem politisch, religiös, sozial und geschlechtlich hochgradig verminten Feld. Permanente Mobilität kennzeichnete bereits die Kindheit von Ramabai, die 1858 als Tochter eines brahmanischen Sanskrit-Gelehrten und seiner zweiten Frau, die er ebenfalls in Sanskrit unterrichtete, geboren wurde. Seit ihrer Geburt kannte sie nur ein Leben als Pilgerin, das die Familie über den gesamten Subkontinent führte: „Ever since I remember anything, my father and mother were always traveling from one sacred place to another, staying in each place for some months […] visiting temples, and reading Puranas in temples.“13 Dass Ramabai nach ihrer Ankunft in Kalkutta 1878 zur gefeierten Sozialreformerin und Gelehrten avancierte und hier den Titel Pandita (Göttin des Lernens) erhielt, verdankte sich zum einen ihrer Gelehrsamkeit als Sanskrit-Expertin, die sich umso mehr von den Normen der indischen Gesellschaft unterschied, da die Lektüre der religiösen Texte Frauen üblicherweise verboten war. Zum anderen gründete ihr gesellschaftlicher Erfolg auf dem Interesse einflussreicher indischer Sozialreformer und Nationalisten, eine weibliche Repräsentantin für die männlich dominierte indische Reformbewegung zu gewinnen, mit der

12 Vgl. Burton, Burdens of history. 13 Vgl. Ramabai, Testimony of our inexhaustible Treasure.

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sich auch das Zivilisationspotential Indiens beweisen ließ.14 Zwar erregte ihre Heirat mit einem Rechtsanwalt aus der niedrigeren Shudra-Kaste im Jahr 1880 sozialen Anstoß, doch als Ramabai zwei Jahre später verwitwet und als Mutter einer Tochter nach Puna zog, hofften auch die dortigen Reformzirkel, sie als Unterstützerin zu gewinnen. In dieser zunächst noch offenen gesellschaftlichen Situation gründete Ramabai 1882 in Puna den Frauenverein Arya Mahila Samaj, dessen allgemeines Anliegen es war, „too free the gentlewoman of Bharat (India) from bejing subjected to blind traditional injustice (viz. Child-marriage, dependency due to ignorance and down-right slavery), and […] to uplift them from their present regrettable state in religion, and virtue and custom, etc.”15 Diese Anliegen stellten zentrale soziale Normen wie die Kinderheirat, die Fixierung der Frau auf bestimmte Bereiche des Hauses (zenana), das Verbot für Witwen, wieder zu heiraten, sowie die Ablehnung weiblicher Bildung massiv in Frage und schienen zunächst eine Allianz mit der Kolonialregierung nahezulegen. Tatsächlich nutzte Ramabai ihre Bekanntschaft mit britischen Missionaren wenig später für ihr Vorhaben, zum Studium nach England zu gehen, das sie durch die Publikation ihres ersten Buches „Morals for Women“ finanzierte.16 Die spezifischen Erfahrungen, die sie zwischen 1882 und 1884 als Insassin des anglikanischen Klosters Community of St. Mary the Virgin in Wantage sowie als Studentin und Lehrerin am Cheltenham Ladies’ College in der Nähe von Oxford machte, begründeten indes eine anti-koloniale Einstellung, die ihre Biographie maßgeblich prägen sollte.17 Die soziale Isolation, der Selbstmord einer indischen Begleiterin und der Einfluss der britischen Nonnen und Kleriker führten kurz nach ihrer Ankunft zum Übertritt in das Christentum. Statt sich in die anglikanische Hierarchie einzufügen, zettelte die Studentin theologische Debatten mit ihrem Umfeld an, die integraler Bestandteil indischer Traditionen gewesen waren und die Ramabai in England nun selber entfaltete und zu ihrer eigenen Inszenierung nutzte: „I have a conscience of my own, and mind and judgement of my own […] I have just with great effort freed myself from the yoke of the Indian priestly tribe, so I am not at present willing to place myself under

14 Vgl. Watts/Mann, Civilizing Missions. 15 Prarthana samajacha itihas (The history of the Prarthana Samaj), Bombay, zitiert in: Anagol, Feminist Inheritances, S. 530. 16 Vgl. Ramabai, „Stree Dharma Neeti”. 17 Zitiert nach Burton, „Restless desire“.

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another similar yoke by accepting everything which comes from the priests as authorised command of the Most High.“18 Abb. 1. Globale Mobilität von Pandita Ramabai 1859–192419

Während sie Teile der anglikanischen Glaubenssätze bejahte, lehnte sie andere wie den Glauben an eine unbefleckte Empfängnis oder die physische Auferstehung Jesu ab und verband diese selektive Christlichkeit mit indischen Traditionen wie Reinheitsvorstellungen und Essgewohnheiten sowie dem Beharren, die christlichen Texte in Maharathi zu übersetzen: „Our indian sisters will not find a single word in it that they know […] Then why should we be kept in ignorance of our professed text?“20 Ihre hybride Konstruktion eines indischen Christentums führte zunehmend zum offenen Konflikt mit den britischen Nonnen und Bischöfen. Während der Streit äußerlich vor allem um Fragen der Repräsentation von Religion geführt wurde, legte er strukturell auch Differenzen über das Ausmaß imperialer Herrschaft offen. Für die anglikanische Oberin bedeutete Kritik an der anglikanischen Orthodoxie zugleich Kritik am Empire, während Ramabai genau den Widerspruch zwischen der Proklamation christlicher Ideale und der Realität kolonialer Herrschaft öffentlich zuspitzte: „I very much doubt whether the English Government will make a change in the Hindu matri-

18 Ramabai, Letters, o. S. 19 Auf Basis der in diesem Aufsatz zitierten Quellen und Literatur hergestellt von der Autorin, UvH. 20 Pandita Ramabai an Sister Geraldine, Oktober 1884, zit. in Burton, „Restless Desire“, S. 85.

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monial law, for it is dreadfully afraid of offending the men’s feeling lest its profit and rule in India be endangered.“21 Kulturelle Ressourcen, die Ramabai durch ihren dreijährigen Aufenthalt in England entwickelte und die ihre Handlungsmöglichkeiten erweiterten, waren die neue Religion des Christentums, das sie eigenständig interpretierte, ein College-Abschluss in den Naturwissenschaften und die perfekte Beherrschung der englischen Sprache. Ihre Hoffnung „to wander freely all over the map“ hatte sich jedoch nicht erfüllt.22 Die Begegnung mit britischen Missionaren, Klerikern und Pädagogen im Zentrum des Empires hatten vielmehr gezeigt, dass eine eigenständige Missionstätigkeit als „Indian preacher“ mit den Normen der anglikanischen und imperialen Mehrheitsgesellschaft nicht zu verbinden war. Eine Einladung in die USA erreichte Ramabai im Herbst 1885 und damit genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie in England keine weiteren Entfaltungsmöglichkeiten sah. Ihr persönliches Anliegen, Unterstützung für die Verbesserung der sozialen Lage der Frauen zu gewinnen, stieß in den USA auf das große Interesse feministischer und christlicher Eliten. Während die einflussreichen feministischen Zirkel der Ostküste in Ramabai die ideale Agentin sahen, um die gesellschaftliche Lage indischer Frauen zu verbessern, hatten die amerikanischen Missionsgesellschaften auch ein politisches Interesse, das Monopol der britischen Missionen durch eigene Hilfsorganisationen in Südasien zu brechen. Ramabai nahm ihren Wohnsitz in Philadelphia, von wo sie zwischen 1886 und 1888 eine extensive Reise- und Vortragstätigkeit innerhalb der gesamten USA bis nach Kanada entfaltete.23 1887 gründeten Ramabai und ihre amerikanischen Gesinnungsgenossinnen die American Ramabai Association, deren Vizepräsidentin Frances Williard, die Präsidentin der Womens’ Christian Temperance Union, wurde. Binnen zweier Jahre entstanden 75 Niederlassungen der Gesellschaft auf dem ganzen Kontinent, die sich sukzessive nach Kanada, Australien und Neuseeland ausdehnte und ein Spendenvolumen von 60.000 $ aufbrachte, das Ramabais Projekt eines Bildungs- und Missionswerks unabhängig von kolonialer und patriarchalischer Kontrolle finanziell absicherte. Die Spenden gewann Ramabai einerseits durch ihre persönlichen Vorträge, andererseits durch ihre Aktivität als Schriftstellerin. Während sie zunächst noch auf die Unterstützung der Womens’ Christian Temperance Union und anderer Vereine angewiesen war, konnte sie ihren USA-Aufenthalt ab

21 Shah, Letters and Correspondence of Pandita Ramabai, S. 128. 22 Zitert in Burton, „Restless Desire“, S. 109. 23 Vgl. Kosambi, Ramabai’s American Encounter.

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1897 durch Einnahmen aus ihrem zweiten Buch selber finanzieren: The High Caste Hindu Woman, das sie weit über Indien und die USA hinaus bekannt machen sollte und von den Zeitgenossen auch als feministisches Manifest wahrgenommen wurde.24 In knapper, präziser und einer westlichen Lesern vertrauten Sprache beschrieb Ramabai die verschiedenen Lebensphasen indischer Frauen aus hohen Kasten, die sich durch die Begrenzung weiblicher Aktivität besonders rigide nach unten abzugrenzen suchten. Die Degradierung der indischen Frau wies Ramabai vor allem den brahmanischen Priestern und ihrer bewusst verfälschenden Interpretation der heiligen Texte zu und suchte sich hier auch als Sanskrit-Expertin zu profilieren. Den zentralen Gegner sah das Manifest im indischen Patriarchat, das die Kolonialregierung noch unterstütze: „Our only wonder is that a defenceless woman […] dared to raise her voice in the face of the powerful Hindu law, the mighty British government, the one hundred and twenty-nine million men and the three hundred and thirty million gods of the Hindus, all these having conspired together to crush her into nothingness […] The English government […] is only fulfilling its agreement made with the male population of India.“25 Mit diesem Buch gelang Ramabai eine Internationalisierung ihres Anliegens über die engeren christlichen Reformeliten der USA hinaus. Die erste Auflage von 9000 Stück war innerhalb des ersten Erscheinungsjahres ausverkauft, eine dritte Auflage erschien bereits 1888, weitere folgten und sorgten für die globale Verbreitung ihres Anliegens, als Ramabai selbst bereits wieder nach Indien zurückgekehrt war. Die offene Aufnahme, der gesellschaftliche Erfolg und die finanzielle Unterstützung, die Ramabai in den USA erlebte, erklärte sich durch die Koinzidenz der Interessen ebenso wie durch das starke Maß an selektiver Wahrnehmung auf beiden Seiten. Ramabai ging in ihren 1889 veröffentlichen dritten Buch The Peoples of the United States vor allem auf die Institutionen der amerikanischen Demokratie, die Dichte zivilgesellschaftlicher Organisationen und die Rollenverteilung in der Familie ein und stellte die USA als westliches Modell für die künftige Entwicklung Indiens dar. Ihre besondere Wahrnehmung Nordamerikas als Vorbild für eine Modernisierung und Nationalisierung Indiens ebenso wie als nicht-imperiales Gegenbild zum Britischen Empire war jedoch primär ihren eigenen Interessen

24 Vgl. Ramabai, The High Caste Hindu Woman. 25 Ebd., S. 67.

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geschuldet und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits Makulatur. Denn seit Mitte der 1880er Jahre gingen die USA selbst schrittweise zu einer imperialen Expansionspolitik über, die von einem aggressiven öffentlichen Nationalismus getragen wurde.26 Diese imperiale Politik nach außen, die sich seit den 1880er Jahren in der Politik der „open door“ in China äußerte wie 1898 in der Annexion Hawaiis, blendete Ramabai in ihrem Buch ebenso aus wie den gesellschaftlichen Rassismus im Inneren, obgleich sie in den USA mehrere schwarze Aktivisten getroffen hatte. Für diese Wahrnehmung war das Fehlen einer direkten imperialen Hierarchie zwischen den USA und Indien ebenso verantwortlich wie ihr eigener Wunsch nach personeller und ökonomischer Unterstützung. Ebenso selektiv war die Wahrnehmung der amerikanischen Seite, die in Ramabai vor allem die ideale Vermittlungsinstanz feministischer und christlicher Agenden in Südasien sah. Für sie schien Ramabai „westliche Zugehörigkeit“ durch Religion, Sprache und Bildung mit „orientalischer Fremdheit“ durch Herkunft, Kultur, Kleidung und ihr inhaltliches Programm zu verbinden. Ihre helle Hautfarbe, graue Augen und eine attraktive Erscheinung trugen dazu bei, dass führende Protagonisten der amerikanischen Eliten sie als „one of us“, wahrnahmen, wie die amerikanische Schriftstellerin Caroline Healy Dall es beschrieb: „Ramabai is strikingly beautiful – Her white widow’s saree is drawn closely over her head […] There is nothing else about her to suggest the Hindu.“27 Mit der vermeintlichen Absenz einer imperialen und rassischen Dimension suchte schließlich auch die britische Zeitschrift Echo Ramabais amerikanischen Erfolg retrospektiv zu erklären: „It was not until her foot touched American soil, that enthusiasm, practical and permanent, was enkindled to herself and her cause […] we look upon the Hindu-woman as one of a conquered race, a dweller in our Indian dependency. The American regards her as an equal and a comrade.“28

26 Vgl. Ninkovich, The United States and Imperialism. 27 Carline Healy Dall, zitiert in: Kosambi, Life and landmark writings, S. 122. 28 Echo, 24.11.1892, zitiert in: Kosambi, Ramabai’s American Encounter, S. 19.

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Abb. 2. Pandita Ramabai ca. 1886.29

Nach einem fast dreijährigen Aufenthalt in den USA kehrte Ramabai 1888 nach Indien zurück. Mit den eingeworbenen Spenden baute sie in Kedgaon, in der Nähe Punas, die sogenannte Mukti-Mission auf, eine Bildungsund Missionsanstalt, in der bedürftige oder sozial isolierte indische Frauen wohnen konnten, im Krankheitsfall gepflegt wurden, die Schule besuchten und oft eine Berufsausbildung, meist als Lehrerin, Hauswirtschafterin oder im Textilgewerbe, erhielten. Auf die großen Agrarkrisen und Pestepidemien, die das westliche Indien in den 1890er Jahren erschütterten, reagierte Ramabai mit einer sozialen Ausweitung ihrer ursprünglichen Zielgruppe und nahm zunehmend Frauen aus unteren Sozialschichten auf. Der Kauf eines großen Grundstücks aus westlichen Spendengeldern ermöglichte sowohl eine gesonderte Behandlung und Unterbringung der unterschiedlichen Gruppen als auch eine weitgehende Subsistenzwirtschaft durch den Betrieb von Nutzflächen, Tierzucht und Obstgärten. Um 1905 stellte die Mukti-Mission ein großes, komplett von Frauen geleitetes und bewohntes Unternehmen mit über 2000 Mitgliedern dar, das ökono-

29 Ramabai in den USA, circa 1886, Abbildung in Kosambi, Life and landmark writings, S. 123.

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misch weitgehend unabhängig von der indischen Mehrheitsgesellschaft ebenso wie von der kolonialen Verwaltung der Bombay Presidency war. Die Berufsausbildung, welche die Mukti-Mission anbot, ermöglichte es den Insassinnen potentiell, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu verdienen. Dies war mit der herrschenden Geschlechterhierarchie indes unvereinbar und erregte entsprechend öffentlichen Anstoß. Auch Ramabais publizistischer Einsatz für die gesetzliche Heraufsetzung des Alters für Sexualverkehr von 10 auf 12 Jahre verschärfte den Konflikt mit den Hindu-Eliten, die den Status quo erhalten wollten. Ihr radikales feministisches Programm, das auf Geschlechterparität, weibliche Bildung und ökonomischen Selbsterhalt abzielte, ebenso wie ihr zunehmender Fokus auf christlicher Bekehrung machten sie zeitweise zum öffentlichen Feindbild des konservativen Hindu-Patriarchats, das die Mission als „venture of this female padre“ anprangerte, „to set afore the ancient religions of her compatriots with the help of foreigners.“30 Mit der Verlagerung ihrer sozialen Zielgruppen auf Unterschichten und ihrer ökonomischen Autonomie geriet Ramabai nach 1900 zunehmend aus dem Blickfeld der Hindu-Eliten und war nach dem Ersten Weltkrieg innerhalb der indischen Mehrheitsgesellschaft zur Randfigur geworden. Die Realisierung einer so großen und global vernetzten Bildungs- und Missionsanstalt veränderte auch ihre Beziehung zur indischen Kolonialregierung. Ein wesentlicher Konfliktpunkt war in den 1890er Jahren der koloniale Umgang mit den Pestepidemien im westlichen Indien gewesen. Die drakonischen Maßnahmen des Special Plague Commitee, die mit Hausdurchsuchungen, Massenevakuierungen, Familientrennungen und Missachtung religiöser Stätten einhergingen, provozierte Massenunruhen und anti-koloniale Ressentiments, die Ramabai mit vorantrieb. Unter dem Eindruck der Evakuierung ihres eigenen Missionswerkes veröffentlichte sie scharfe Kritiken an der britischen Kolonialregierung, die 1897 zunächst im liberalen Bombay Guardian veröffentlicht wurden und kurz danach im House of Commons in London diskutiert wurden. Dass Ramabai weiterhin jede Einmischung der örtlichen Kolonialbeamten ablehnte und dies auch durchsetzen konnte, erklärte sich tendenziell mit der Deckungsgleichheit ihrer religiösen Interessen und denen der britischen Verwaltung. Als die britische Kolonialregierung nach 1918 neue Bündnispartner in der indischen Gesellschaft suchte, geriet auch Ramabai ins Visier der Kolonialbeamten und wurde 1919 mit der Kaisar-i-Hind-Medaille, einem hohen kolonialen Orden, ausgezeichnet.

30 Kesari, 28.8.1893, zitert nach Kosmabi, Life and landmark writings, S. 193.

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Die äußere Unabhängigkeit von der indischen Mehrheitsgesellschaft wie von der britischen Kolonialregierung ging jedoch mit weitgehender ökonomischer Abhängigkeit von westlichen Spenden einher. Während Ramabais Anliegen einer radikalen weiblichen Sozialreform und eines indigenen Christentums sie in den tonangebenden Hindu-Milieus Indiens weitgehend isolierten, integrierten sie sie gleichzeitig in ein globales Netzwerk christlicher und feministischer Organisationen. Primär amerikanische, britische und skandinavische Missionarinnen, Ärztinnen und Reformpädagogen arbeiteten meist mehrere Jahre in Kedgaon und engagierten sich auch danach für den ökonomischen Erhalt der Mission, was einen kontinuierlichen Austausch in Gang brachte. Umgekehrt reisten indische Repräsentantinnen der Missionsanstalt immer wieder ins Ausland, so Ramabais Tochter Manorama 1902 nach Neuseeland und Australien, um dort Unterstützung zu organisieren. Diese personellen Netzwerke sicherten wiederum die notwendigen Spenden, die mit dem wachsenden Bekanntheitsgrad der Mission aus Indien und den USA sowie aus Kanada, England, Irland, Australien, Neuseeland, Hawaii, Ägypten, China und Ceylon eintrafen.31 Ramabai stärkte die enge Einbindung der Mission in globale Netzwerke, welche die Mission wirtschaftlich, personell und ideell unterstützen, zunehmend durch ihre Konzentration auf evangelikale Themen wie das der Erweckung. Erweckungserlebnisse waren ein zentrales gemeinsames Band der zeitgenössischen Pfingstbewegung, die als Teil des missionarischen Aufbruchs des 19. Jahrhunderts eng mit der Hochzeit des Kolonialismus verflochten war. Marginalisierte und kolonisierte Gruppen nützten Erweckungserlebnisse bevorzugt zur Mobilisierung eines eigenständigen Christentums, mit dessen Emotionalität und Mystik sie sich bewusst von den etablierten Kirchen abgrenzen konnten. Ramabai war 1898 nach Keswick/England gereist, um an der dortigen Weltkonferenz evangelikaler Christen teilzunehmen und hatte seitdem systematisch „camp meetings“ in der Mukti-Mission organisiert, um eine Erweckung vor Ort gleichsam „vorzubereiten.“ 1906 und 1907 kam es dort zu einer Massenerweckung von Hindu-Frauen und Christinnen, die global kommuniziert und wahrgenommen wurde.32 Das Ereignis wurde von der evangelikalen Öffentlichkeit als Bindeglied zwischen den Eckdaten der globalen Bewegung situiert, einer Massenerweckung in Wales 1904, die über 100.000 Minenarbeiter zur Bekehrung geführt hatte, sowie dem sogenannten Azusa Street Revival eines schwarzen Pastors in Los Angeles 1907, das in Asien und Afrika enor-

31 Vgl. Kosambi, Life and landmark writings, Kap. 6. 32 Vgl. dazu v.a. Suarsana, Ramabai und die Erfindung der Pfingstbewegung.

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men Widerhall fand. Entsprechend stellte die amerikanische Zeitschrift „Word and Work“ die globale Reichweite des Phänomens heraus: „First Wales, then in India, and afterwards in America“.33 In ihren Missionsbriefen dieser Jahre stellte Ramabai einerseits diskursiv die Kontinuität mit Wales und Los Angeles her und propagierte andererseits ein dezidiert unabhängiges indisches Christentum, das von westlichen Praktiken und Missionaren unabhängig sei: „Let them not try to conduct revival meetings and devotional exercises altogether in Western ways and conform with Western etiquette. If our Western teachers and foreignized Indian leaders want the work of God to be carried on among us in their own way, they are sure to stop or spoil it.“34 Doch mit genau diesen Praktiken, der Einordnung des Ereignisses als Teil einer weltweiten Erweckung und der Konstruktion eines eigenständigen, lokalen Phänomens, ordnete sie sich ganz in die internationale Pfingstbewegung des frühen 20. Jahrhunderts ein und trug dazu bei, dass die entlegene Mukti-Mission bis weit nach ihrem Tod als zentraler Handlungsort auf der evangelikalen Landkarte der Welt wahrgenommen wurde. Als Pandita Ramabai 1922 starb, hinterließ sie ein Missionsunternehmen, das bereits quantitativ das Potential indigener Mission belegte: Über 2000 Frauen, überwiegend konvertierte Hindu-Frauen aus unteren Sozialschichten, lebten und arbeiteten in der Bildungs- und Missionsanstalt. Für die Realisierung dieses radikal feministischen wie evangelikalen Unternehmens war die globale Mobilität, die Ramabai zwischen Indien, Großbritannien und den USA entfaltet hatte, eine zentrale Voraussetzung. Ein Studienaufenthalt in England hatte ihre anti-koloniale Einstellung begründet, die sich konkret in öffentlicher Kritik an der Kolonialverwaltung wie in der Ablehnung jeder Intervention vor Ort niederschlug. Gleichzeitig erschloss ihr der Aufenthalt kulturelle Ressourcen wie die Beherrschung der englischen Sprache und die Konversion zum Christentum, die für die Ausweitung ihres Handlungsraums als Schriftstellerin, öffentliche Person und Missionarin zentral waren. Dieses neue Handlungsreservoir nutzte Ramabai dafür, ihr Anliegen einer weiblichen Sozialreform erfolgreich in die amerikanische Öffentlichkeit zu vermitteln, dort personelle Netzwerke zu knüpfen und international ökonomische Ressourcen zu mobilisieren. Diese Ressourcen ermöglichten ihrer Mission politische und ökonomische

33 Word and Work (1909), zit. n. ebd., S. 305, Anm. 21. 34 Ramabai, More Surprises [1905], S. 19.

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Unabhängigkeit von der britischen Kolonialregierung vor Ort und sicherten eine enge Einbindung in ein globales Netzwerk feministischer und evangelikaler Kreise. Anderseits isolierte genau dieser Charakter ihrer Institution sie weitgehend von der indischen Mehrheitsgesellschaft, was die Grenzen jener Handlungsmacht zeigt, die sie mit ihrer Mobilität gewonnen hatte. II. Blaise Diagne: Von der innerimperialen Mobilität zu den Grenzen der erfolgreichen Assimilation Groß gewachsen, gut aussehend, elegant gekleidet, weltläufig auftretend: So schilderten Zeitgenossen im Sommer 1914 den 42-jährigen Blaise Diagne, als er in seiner Heimat Senegal ankam, um eine Wahlkampagne zu starten und zum ersten schwarzafrikanischen Abgeordneten der französischen Nationalversammlung gewählt zu werden. Auf den ersten Blick verkörperte Blaise Diagne idealtypisch das Modell einer gelungenen Assimilation innerhalb des französischen Kolonialreichs und des von der Dritten Republik vertretenen Egalitätsideals. Doch seine imperiale Biographie bildete ebenso die Widersprüche eines Lebens zwischen Paris und Senegal und die Spannungen zwischen seiner indigenen Herkunft und der Kooperation mit dem Kolonialregime ab.35 1872 wurde Diagne auf Gorée, einer vor Senegal gelegenen Insel, von der aus bis zum Verbot 1848 Sklaven verschifft wurden, als Sohn von Niokhar Diagne, einem Koch der Serere, und Gnagna Preira geboren, die als Dienstmädchen arbeitete.36 Schon der Beginn seiner Biographie war von einer kolonialen Konstellation geprägt, als sich mit Adolphe Crespin ein wohlhabender katholischer Kreole des begabten Kindes annahm, ihn adoptierte und auf eine katholische Schule schickte. An die Bedeutung der kulturellen Assimilation durch Bildung erinnerte sich Diagne sein Leben lang, denn sie bot in seinen Augen die beste Chance, die rassische Hierarchie zu überwinden: „Almost fifty years ago, when I was a young boy in school on my rocky island home of Goré, some French infantry and artillery soldiers were brought to us. They were Bretons who didn’t know how to read or write, and it was to us, little fellows of eight or ten years, that these soldiers were marched, two by two. And to the best of our ability, making 35 Unser, Intelligenzia und Politik im Senegal; Dieng, Blaise Diagne. 36 Johnson, Emergence of Black Politics in Senegal, S. 154.

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use of what we had learned, we wrote short letters that the soldiers wanted to send to their families.“37 Abb. 3 Blaise Diagne 1921

Auch der Beginn seiner beruflichen Laufbahn war unmittelbar mit der französischen Kolonialherrschaft verknüpft.38 Er wurde zunächst Beamter im kolonialen Zolldienst, nachdem er im zweiten Anlauf die Aufnahmeprüfung bestanden hatte, und übernahm in den folgenden Jahren verschiedene Posten innerhalb des gesamten französischen Kolonialreichs. So lernte er nicht allein viel über die koloniale Finanz- und Wirtschaftspolitik, sondern erhielt wichtige Einblicke in die unterschiedlichen Verhältnisse 37 Ebd., S. 155. 38 Ders., The Ascendancy of Blaise Diagne.

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zwischen Indigenen und Europäern in afrikanischen Kolonien, an Orten im Indischen Ozean und in Südamerika. Sein Weg in der Zollverwaltung führte ihn in das westafrikanische Dahomey, in den französischen Kongo und nach Gabun in Französisch-Äquatorialafrika. Von dort wurde er nach Réunion und Madagaskar im Indischen Ozean gesandt, bevor er in Französisch-Guyana, der alten französischen Kolonie in Südamerika, eingesetzt wurde. Seine Vorgesetzten bescheinigten ihm eine deutlich überdurchschnittliche Intelligenz, aber sie bemängelten in ihren Zeugnissen auch seinen Hang zur Kritik an lokalen Verhältnissen und seine Insubordination. Der Generalsekretär von Französisch-Kongo hielt ihn für „an undisciplined fellow, with a talent for intrigue, who will never make a good agent“, und sein unmittelbarer Vorgesetzter ergänzte: „Monsieur Diagne, the senegalese originaire, has tried to play the role of emancipator of the African race here in Congo. All of his remarks exhibit a burning hostility toward the white race. At election time certain of his compatriots in Saint-Louis yell, ‚Senegal for the Senegalese!‘ In the same way, he seeks to implant in this colony the doctrine of ‚Africa for the Africans‘“.39 Viele der Beurteilungen endeten mit dem Vermerk „Nicht mehr in diese Kolonie zurückschicken“, was auch die häufigen Postenwechsel erklärte. 1898 wurde er sogar für zwei Monate vom Dienst suspendiert. Schon sehr früh nutzte Diagne seine Erfahrungen an den unterschiedlichen Orten, um seine eigenen Handlungsspielräume auszutesten. Noch auf Madagaskar gelang es ihm, in eine Freimaurerloge aufgenommen zu werden. Von jetzt an konnte er sich auf die Protektion durch französische Logenmitglieder innerhalb der Kolonialverwaltung verlassen. Eine Blinddarmerkrankung führte Diagne 1908 zu einem mehrmonatigen Erholungsurlaub in Frankreich, wo er seine künftige Frau Odette Villain aus Orléans kennenlernte. In dieser Zeit entwickelte er ein für seine Zukunft wichtiges persönliches Netzwerk, zu dem der französische Senator Alexandre Isaac aus Guadeloupe sowie der Abgeordnete der Nationalversammlung Gratien Candace aus Martinique gehörten. Beide waren Vertreter der historisch gesehen älteren Kolonien Frankreichs, die bereits deutlich mehr Eigenständigkeit erreicht hatten als Blaise Diagnes Heimat Senegal.

39 Ders., Emergence of Black Politics in Senegal, S. 155-156.

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1910 wurde er zunächst noch einmal nach Guyana versetzt, das als einer der abgelegensten Posten im französischen Kolonialreich galt. Einen folgenden Aufenthalt in Frankreich nutzte Diagne, um sein politisches Netzwerk nun auch nach Senegal auszuweiten. Von besonderer Bedeutung wurde dabei Francis Pouye, der im Senegal für Diagne die Chancen für eine politische Kampagne sondierte. Eine solche Kampagne für einen Sitz im Pariser Parlament bedeutete das Ende seiner bisherigen Beamtenkarriere und der damit verbundenen ökonomischen Sicherheit. Anfang 1914 spiegelte sein Selbstbewusstsein die positive Einschätzung der Handlungsspielräume als schwarzafrikanischen Politiker wieder. Auf der einen Seite ließen ihn seine Biographie, sein bisheriger Bildungs- und Karriereweg als französischer Beamter, seine Erfahrungen auf den Stationen in Afrika, im Indischen Ozean, in Südamerika und zumal in Paris als einen Repräsentanten des Senegals erscheinen, der mit den Vertretern der französischen Kolonialmacht auf Augenhöhe verhandeln konnte. Den Zeitgenossen erschien er als Verkörperung einer gelungenen kulturellen und sprachlichen Assimilation, die unvereinbar mit rassistischer Diskriminierung war. So avancierte Diagne schnell zu einer positiven Identifikationsfigur der jungen Westafrikaner und zumal der Jeunes Sénégalais. Andererseits hatte Diagne, als er Anfang 1914 in seine Heimat zurückkehrte, den Senegal über 20 Jahre lang nicht mehr persönlich erlebt und sich von den Wurzeln seiner Heimat entfernt.40 Seine Wahlkampagne bediente sich moderner Methoden: mit öffentlichen Ansprachen, zumeist in der indigenen Landessprache Wolof, mit Plakaten und einer bewussten inhaltlichen Zuspitzung. Einerseits prangerte er die rassistische Diskriminierung der Behörden an, andererseits verwies er auf seine persönlichen Verbindungen zu Frankreich. Geschickt nutzte er seine imperiale Biographie als Vorteil, indem er die Forderung nach Gleichberechtigung aller Afrikaner und die Kopplung von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft mit Beispielen aus verschiedenen kolonialen Gesellschaften versah – hier wurde die eigene Erfahrung zur politischen Handlungsmacht. Im März sprach er vor etwa 800 Einheimischen und etwa 30 Europäern und erinnerte die Menge daran, dass es für einen Schwarzen noch vor zehn Jahren unmöglich gewesen sei, eine solche Rede zu halten: „But today, reason and progress have changed that. One of your own people does not fear, despite the opposition, to ask you to help him become your representative so that he can help you with your grievances“. Vehe-

40 Ders., Lobbies and Pressure Groups in Colonial Senegal.

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ment kritisierte er die Versuche von 1912, die Rechte der „originaires“ und zumal ihre Staatsbürgerschaft zu beschneiden: „Friends, they want to diminish our claim to French citizenship so that in another fifteen years there will be no more voters among us. From Cape Blanco to the remotest limit of our African colonies your fathers, your brothers, and yourselves have stood beside the French to conquer this vast domain. What kind of recompense is this for all the devotion we have shown toward France? […] I ask myself, so we really belong to a democracy? We’re no longer slaves. We’re French citizens with the same rights as anybody else.“41 Gleichzeitig vermied Diagne einen Konfrontationskurs gegenüber der französischen Kolonialmacht. Nicht zufällig verwies er auf die hybriden Elemente seiner Biographie, nicht zuletzt durch seine Heirat mit einer Französin. Das war auch ein Versuch, die weißen Franzosen der Kolonialgesellschaft zu gewinnen: „I am black, my wife is white, and my children are mixed. What better guarantee of my interest in representing all our population?“42 Der zentrale Aspekt in seiner Kampagne blieb das Staatsbürger- und daran gekoppelt das Wahlrecht der Afrikaner in den Quatre Communes: „They say you and I aren’t French. I tell you that we are, that we have the same rights!“ Auf den Vorwurf seines Konkurrenten, er habe niemals in den Quatre Communes gewählt, sei deshalb überhaupt kein „originaire“ und besitze keine französische Staatsbürgerschaft, brachte Diagne wiederum seine Biographie als politisches Überzeugungskapital ein. Er sei als Katholik getauft, habe eine französische Frau geheiratet und sei seit über 22 Jahren ein loyaler Staatsbeamter, daher könne er sich mit gutem Recht als ein „citizen of the empire“ bezeichnen.43 Diagnes Wahlsieg im Sommer 1914 schien eine Zeitenwende der kolonialen Herrschaft einzuläuten.44 Kaum drei Monate nach seinem Wahlsieg brach der Weltkrieg aus und veränderte die Konstellation grundlegend. Plötzlich ging es um die Rolle Westafrikas in diesem Krieg und die Rolle des neuen senegalesischen Abgeordneten zwischen seiner Heimatgesellschaft und Frankreich, zwischen der Rolle als Fürsprecher der Kolonisierten und als Teil der imperialen Elite in Paris. Von Anfang an erkannte Diagne, welche Chance der Weltkrieg bot, um die eigenen politischen Ziele 41 42 43 44

Ders., Emergence of Black Politics in Senegal, S. 162-163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 168. Riesz, Léopold Sédar Senghor, S. 57; Johnson, Emergence of Black Politics in Senegal, S. 174.

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zu erreichen. Schon am 2. August sandte er seinem Vertrauensmann Galandou Diouf ein Telegramm mit entsprechenden Anweisungen nach Dakar: „Im Lichte der aktuellen Ereignisse wende ich mich an Sie mit der Bitte, dass Sie die Verwaltung ersuchen, uns zu erlauben, unser Land zu verteidigen, und dass wir für die Dauer des Krieges in die im Senegal stationierten französischen Militäreinheiten integriert werden […] Unser Volk hat das uneingeschränkte Recht und die Pflichten als Staatsbürger; erst recht nach meiner Wahl.“45 Diagne konzentrierte sich auf die patriotische Kriegsteilnahme der Senegalesen als Ausweis ihrer Zugehörigkeit als Staatsbürger und berief sich dazu explizit auf das Prinzip der Volkssouveränität. Den Loyalitätserweis im Krieg, da war er sicher, würde man künftig nutzen können, um den eigenen Status innerhalb des französischen Kolonialreichs aufzuwerten. Es ging hier nicht um aggressive Kolonialkritik oder gar einen vom Krieg ausgehenden Impuls zur Dekolonisierung, sondern um Machtzugewinn innerhalb eines reformierten Kolonialregimes.46 Konkret forderte Diagne das volle Bürgerrecht für die Bewohner der Quatre Communes als Bedingung für ihre Kriegsteilnahme. Diese Forderung stammte bereits aus seinem Wahlkampf. 1915 vertrat er sie auf einer Reise im Senegal und als Abgeordneter der Nationalversammlung. In Paris begriff er, dass die politischen Führung Frankreichs mit einem unabsehbar langen Krieg rechnete, in dem Frankreich extrem hohe Verluste kompensieren musste. Das Ergebnis war das Gesetz vom 19. Oktober 1915, das die Bewohner der Quatre Communes im Gegenzug zur Gewährung voller und gegenüber den Franzosen gleicher Staatsbürgerrechte zum Wehrdienst einzog. Ein Folgegesetz vom 29. September 1916 definierte schließlich präzise: „Die in den Quatre Communes geborenen Einwohner des Senegal und ihre Abkömmlinge sind französische Staatsbürger und unterliegen der allgemeinen Wehrpflicht“.47 Durch die Kriegsteilnahme erhöhte sich die Zahl der Wahlbürger im Senegal um 50 Prozent. Was in Paris als kriegsnotwendige Konzession gelten mochte, wurde von der französischen Kolonialverwaltung vor Ort allerdings kritisch gesehen. Ihre Beamten monierten die wachsende Zahl von indigenen Wahlbürgern und die zunehmende Kluft zwischen den Statusgruppen der Einwohner („habitants“) und der

45 Riesz, Léopold Sédar Senghor, S. 67. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 68.

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Eingeborenen („indigènes“). Dahinter stand die Angst, dass die indigenen Afrikaner die Selbstverwaltung faktisch selbst übernehmen könnten. Allerdings traten die Konsequenzen dieser Entscheidungen angesichts der Kriegsbedingungen und der dadurch verschobenen Wahlen nicht sofort zutage.48 Diagnes wichtigste Rolle im Krieg entwickelte sich 1917 vor dem Hintergrund der extremen Verluste in den Materialschlachten des Jahres 1916 und der Krise vom Frühjahr 1917, als es an der Westfront zu Massenmeutereien innerhalb der französischen Armee kam. Premierminister Georges Clemenceau und Kolonialminister Henry Simon intensivierten die Versuche, noch mehr Kolonialsoldaten als bislang zum Militärdienst heranzuziehen, um die Situation zu entschärfen.49 Ende 1917 forderte Simon eine „intensivere Mitwirkung der afrikanischen Bevölkerung, deren Anhänglichkeit an unser Land und Treue zu unserer Fahne wir kennen, für unsere Kriegsanstrengungen“. Jetzt wurde Diagne zu ihrem zentralen Ansprechpartner, der als Vertrauensmann der Pariser Regierung im Senegal für die Rekrutierung werben sollte. Diagne selbst sah darin die Chance, den Kriegsdienst mit konkreten Forderungen für die Bewohner der Kolonie zu verknüpfen, vor allem die Reduzierung von Steuern für Familien von Kriegsteilnehmern. Für afrikanische Soldaten, die sich im Krieg auszeichneten, sollte es leichter werden, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Andere Forderungen bezogen sich auf die künftige Versorgung von Kriegsveteranen und Maßnahmen zur Hebung des Bildungsniveaus und der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung.50 Hinter Diagnes Kampagne von 1917 standen schwierige Erfahrungen mit früheren Rekrutierungen der „Tirailleurs sénégalais“.51 Ende 1915 hatte die repressive Praxis zu Widerständen, vereinzelten lokalen Revolten und vor allem zur Flucht von mehr als 50.000 jungen Männern in die britischen Nachbarkolonien geführt, wo sie nicht fürchten mussten, rekrutiert zu werden. Ende 1917 änderten die französischen Behörden daher ihre Vorgehensweise, indem sie auf einheimische Unterhändler zurückgriffen. Sie besaßen in der Regel eher das Vertrauen der indigenen Bevölkerung und konnten, so die Hoffnung, gewaltsame Repression durch eine Überzeugungsstrategie ersetzen. Der Generalgouverneur der A.O.F. Joost van Vollenhoven blieb dennoch skeptisch, weil er fürchtete, dass jede Rekrutie-

48 49 50 51

Ebd. Michel, Les Africains et la Grande Guerre. Echenberg, Black Death, White Medicine. Antier-Renaud, Les Soldats des colonies.

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rung zu Aufständen, einer erneuten Massenflucht wehrfähiger Männer und einer Destabilisierung der Lage führen werde.52 Seit Januar 1918 agierte Diagne als Generalkommissar für die Rekrutierung indigener Truppen in Westafrika und organisierte die Kampagne mit Hilfe eines regelrechten Propagandaapparats. Begleitet von einem Stellvertreter, von hohen Kolonialbeamten, 14 Offizieren, über 350 Unteroffizieren und zahlreichen einheimischen Soldaten mit ihren Orden und Auszeichnungen, legte er Wert auf eine regelrechte Inszenierung seiner Auftritte. In seinen Reden verwies Diagne auf Stolz und Selbstbewusstsein der Afrikaner, auf die vielen im Krieg erbrachten Beweise der Gleichrangigkeit und des solidarischen Patriotismus.53 Das Ende des Krieges markierte ohne Zweifel den Höhe- und Wendepunkt in der Biographie Diagnes. So setzte er sich für den führenden afroamerikanischen Intellektuellen W.E.B. Du Bois ein, indem er den französischen Ministerpräsidenten Clemenceau gegen den ausdrücklichen Widerstand der amerikanischen Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz von der Idee eines Panafrikanischen Kongresses in Paris überzeugen konnte. Du Bois zeigte sich beeindruckt von der scheinbar gleichberechtigten Stellung Diagnes im politischen Leben der französischen Republik.54 In der Auszeichnung Diagnes mit dem Orden der französischen Ehrenlegion glaubte Du Bois das meritokratische Prinzip der französischen Kolonialherrschaft und ein Bekenntnis zur republikanischen Gleichheit zu erkennen, die ihm so in den Vereinigten Staaten undenkbar schien. Im März 1919 schrieb er in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift Crisis voller Bewunderung: „Vive la France! ‚Mine eyes have seen’ and they were filled with tears […] Men of Africa! How fine a thing to be a black Frenchman in 1919 – imagine such a celebration in America!“55 Auf der einen Seite standen der Panafrikanische Kongress, der Erfolg seiner Rekrutierungskampagne und Diagnes darauf gründendes Ansehen in Paris – die ihm von Clemenceau angebotene Auszeichnung der Légion d’Honneur lehnt er mit der höflichen Begründung ab, er habe lediglich seine Pflicht getan – sowie der triumphale Empfang bei der Rückkehr nach Senegal. Tausende von Veteranen sahen in ihm nun die Garantie dafür, dass die ihnen gemachten Versprechen auch erfüllt würden. Auf der 52 Roche, L’opposition du Gouverrneur Van Vollenhoven au nouveau recrutement, Histoire de la Casamance; Prévaudeau, Joost Van Vollenhoven. 53 Michel, Les Africains et la Grande Guerre; Riesz, Léopold Sédar Senghor, S. 73. 54 Dorsch, Afrikanische Diaspora. 55 De Bois, Editorial, S. 215; vgl. Füllberg-Stolberg, The Controversy over Pan-Africanism, S. 321.

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anderen Seite geriet Diagne vermehrt in die Kritik. Man warf ihm vor, er habe durch seine zu weitgehende Kollaboration mit der Kolonialmacht die Interessen der Senegalesen verraten. Angesichts der enormen Opferzahlen fragte man kritisch, ob die Zugeständnisse beim Bürger- und Wahlrecht der Quatre Communes und die wenigen Reformen der Regierung das Opfer der Zehntausenden wert gewesen sei, die im Krieg gefallen waren. Der „Diagnisme“ wurde für ganz Westafrika bis zum Tod Diagnes 1934 prägend, vor allem als Synonym für die Afrikanisierung der Kolonialverwaltung und die von ihm geprägte Formel „Assimilieren, nicht assimiliert werden“.56 Doch die Wirkungsgrenzen des von ihm verkörperten Politikmodells wurden nach 1918 ebenso offenkundig: Anders als die nachfolgende Generation, die sich seit den 1930er Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg dezidiert als antikoloniale Unabhängigkeitsbewegung verstand, ging es ihm nach 1918 darum, die politischen Errungenschaften zu sichern.57 Tatsächlich beschleunigte seine neue Partei die Ausdifferenzierung des politischen Spektrums im Senegal. Aber darin zeigte sich auch, dass Diagnes älteres Konzept, über persönliche Netzwerke einen politischen Konsens herzustellen, auslief. Waren die neuen Parteien nach dem Vorbild Diagnes noch Phänomene der städtischen Eliten, sollte es Léopold Senghor 1948 mit dem „Bloc démocratique sénégalais“ erstmals gelingen, sich auf die Landbevölkerung zu stützen. Ebenso lief Diagnes Versuch, Anfang der 1920er Jahre nach dem Modell der Quatre communes die politische Vertretung anderer französischer Kolonien zu reformieren und Abgeordnete für alle Kolonien durchzusetzen, ins Leere. Obwohl er in Paris auf die Gefahr hinwies, dass sich die politisch unzufriedenen Kolonialgesellschaften Frankreichs der Ideologie der Bolschewiki zuwenden könnten, lehnte man seine Vorschläge in der Nationalversammlung ab. Bis zu seinem Tod 1934 wurde er immer stärker von der kolonialpolitischen Führung in Paris in den Dienst genommen, wenn nicht sogar instrumentalisiert. Über die Handlungsspielräume des Weltkrieges verfügte er jetzt nicht mehr. Überzeugt davon, dass er nur in der Kooperation mit Paris das Erreichte sichern könne, sah er sich gezwungen, selbst die Positionen französischer Koloniallobbyisten zu vertreten, um angesichts des Widerstandes vieler konservativer Kolonialeliten gegen einen Schwarzafrikaner in der Nationalversammlung und gegen das Wahlrecht der Einwohner der Quatre Communes nicht völlig isoliert zu werden. Daraus entwickelte sich sein politisches Bündnis mit den großen Handelshäu-

56 Dieng, Blaise Diagne, S. 165 u. 169; vgl. Riesz, Léopold Sédar Senghor, S. 86. 57 Chathuant, Une élite politique noire.

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sern von Bordeaux, denen er versprach, für die Vertretung ihrer Interessen in Paris wie im Senegal zu kämpfen. Diese Politik aber rief die erbitterte Kritik seiner Gegner hervor. Die politische Gratwanderung Diagnes erhellte auch sein Auftritt in der 14. Sitzung der International Labour Organization des Völkerbundes in Genf, wo er das System der Zwangsarbeit in den Kolonien verteidigte, weil dies am ehesten den ökonomischen Interessen der Kolonialgesellschaft entspreche.58 Bis zum Schluss Abgeordneter der Nationalversammlung und Bürgermeister von Dakar, starb Diagne 1934 in Frankreich. Noch an seinem Begräbnis zeigte sich ein entscheidender Grundzug seines Lebens: die Zwischenstellung und Hybridität. Denn da er Mitglied einer Freimaurerloge gewesen war, weigerten sich muslimische Geistliche, ihm ein Grab auf ihrem Friedhof in Dakar zuzuweisen, so dass er vor dem Friedhof bestattet wurde. Diagnes hybride Biographie spielte sich zwischen der kolonialen Heimatgesellschaft des Senegal, den unterschiedlichen Stationen innerhalb des französischen Kolonialreichs und der französischen Metropole ab. Seine kritische Haltung korrespondierte mit einer sehr erfolgreichen Assimilation, als deren Konsequenz er schließlich in die politische Kolonialelite Frankreichs aufsteigen konnte – so changierte seine Tätigkeit immer wieder zwischen Kritik und Kooperation. Der Weltkrieg schuf für ihn vor diesem Hintergrund einmalige Handlungsfreiheiten, aber seine Politik entfremdete ihn zugleich von einer nachfolgenden Generation indigener politischer Führer Westafrikas. Sie setzten nicht mehr auf eine Reform der Kolonialherrschaft von innen auf der Basis von Assimilation, sondern seit den 1930er Jahren und erst recht nach 1945 auf Unabhängigkeit und Sezession. Das erklärte auch die komplizierte Beziehung Diagnes zu Léopold Senghor: Diagne war Senghors Mentor, er führte ihn in die Politik ein und half ihm beim Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Aber Senghor sollte sich später niemals zu Diagne äußern, um nicht mit dessen Programm identifiziert zu werden. Hier wurden die generationelle Kluft und die nach 1930 immer kritischere Sicht auf Diagne und sein Erbe sichtbar.59

58 Johnson, Emergence of Black Politics in Senegal. 59 Belting/Buddensieg, Ein Afrikaner in Paris, S. 32-35.

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III. Fazit Was zeigen die beiden skizzierten Beispiele? Sie beleuchten zunächst aus der Perspektive unterschiedlicher imperialer Räume die besondere Mobilität von Akteuren, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Grenzen ihrer lokalen Heimat überwinden und daraus eine eigene Handlungsmacht entwickeln konnten, die sie im Verhältnis zur Kolonialmacht wirkungsvoll einbrachten. Die Wege der beiden Protagonisten unterschieden sich dabei und dokumentierten das breite Spektrum zwischen transimperialer und innerimperialer Mobilität als Spielarten imperialer Biographien. Im Falle Pandita Ramabais handelte es sich bereits früh um eine dezidiert globale Mobilität, die sich zwischen Indien, den Vereinigten Staaten und Asien entfaltete. Dabei kamen ihr mit der familiären Herkunft als Tochter eines Sanskrit-Gelehrten, der weltweiten Pfingstbewegung sowie der durch sie garantierten internationalen Aufmerksamkeit besondere Faktoren zugute. Konnte sie früh die Grenzen Indiens und des Britisches Empires überwinden, spiegelte die Biographie Blaise Diagnes zunächst den eindrucksvollen sozialen Aufstieg eines Afrikaners aus einfachsten Verhältnissen innerhalb des französischen Kolonialreichs wieder. Setzte Ramabai früh auf Distinktion und Differenz gegenüber dem Kolonialregime, die sich durch die von ihr global mobilisierten Ressourcen in eine Oppositionshaltung überführen ließen, verkörperte Diagne geradezu idealtypisch das Modell erfolgreicher Assimilation. Es gründete auf dem sozialen Aufstieg innerhalb der Kolonialverwaltung, dem Einsatz an unterschiedlichen Orten, auf Bildung, Heirat, politischer Protektion und Netzwerken zwischen Paris und seiner afrikanischen Heimat. In beiden Fällen traf der individuelle Lebensweg zugleich auf strukturelle Ermächtigungsmomente, die halfen, die Mobilität in konkrete Handlungsmacht zu überführen. Bei Ramabai war es vor allem die globale Pfingstbewegung, die ihr diese Möglichkeit der Vernetzung bot, während Diagne seine Handlungsspielräume durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die wachsende Abhängigkeit Frankreichs von der Rekrutierung von Soldaten in seinen Kolonien, den globalen Moment der Pariser Friedenskonferenz und schließlich die Organisation des Panafrikanischen Kongresses im Frühjahr 1919 entscheidend vergrößern konnte. In beiden Fällen boten die unterschiedlichen Erfahrungsräume besondere Chancen, die Ramabai wie Diagne bewusst nutzten. Das geschah durch die Bildung persönlicher transnationaler Netzwerke, durch die Mobilisierung internationaler Aufmerksamkeit und nicht zuletzt durch das Mittel des Vergleichs. Denn die Mobilität erlaubte es ihnen, die erlebte Situation ihrer Heimatgesellschaften in größere Zusammenhänge zu stellen, 249

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die partikularen Kontexte mit universellen Vorstellungen und Idealen zu kontrastieren. Das führte, auch das zeigen beide Biographien eindrücklich, zu durchaus unterschiedlichen politischen Akzentuierungen. Bei Ramabai trat der oppositionelle Grundzug bereits früh hervor, während Diagnes Assimilation ihn für die Kooperation mit den französischen Behörden während des Weltkrieges prädestinierte. Globale und innerimperiale Mobilität mussten also nicht zwangsläufig in radikale Kolonialkritik und Anti-Imperialismus münden, sondern konnten auch auf schrittweise Reformen innerhalb der bestehenden Kolonialherrschaft hin orientiert sein. Beide Biographien erweisen allerdings auch sehr deutlich die Grenzen der individuellen Handlungsmacht. Bei Ramabai begrenzten jene von ihr so eindrucksvoll mobilisierten weltweiten Ressourcen, die ihr die Entwicklung einer unabhängigen Missionsanstalt in Indien erst ermöglichten, ihre Wirkungsmacht in der indischen Öffentlichkeit. Ihre globale Vernetzung ließ sie immer mehr zur Außenseiterin in ihrer Heimat erscheinen, die sich von den britischen Kolonialbehörden genauso weit wie von den meisten indischen Zeitgenossen entfernt hatte. Diagne wiederum geriet mit seinem Assimilationsmodell nach dem Ersten Weltkrieg an seine Grenzen. Für eine jüngere Generation von weltweit vernetzten Kolonialkritikern, die nach 1919 an der Glaubwürdigkeit der Versprechen der europäischen Kolonialmächte zweifelten, schien Diagne durch seine weitgehende Kooperation während der Rekrutierungskampagnen mit den französischen Behörden die Interessen seiner Landsleute zu verraten und zum bloßen Werkzeug einer im Kern überholten Kolonialpraxis geworden zu sein. Die nachfolgende Generation, für die Politiker wie Léopold Senghor standen, sollte vor diesem Hintergrund nicht länger auf Statusverbesserung innerhalb der Kolonialgesellschaften setzen, sondern auf formale Unabhängigkeit. Wie verändert der hier vorgestellte Ansatz den Blick auf Empires? Er erweist zunächst, wie wenig die überkommene Vorstellung von Zentrum und Peripherie die Möglichkeiten individueller Handlungsmacht durch globale und interimperiale Mobilität seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfassen kann. Ramabai und Diagne profitierten von einer ausgesprochenen Multipolarität, einem Polyzentrismus ihrer Welt, vom Vergleich zwischen vielen unterschiedlichen Erfahrungsräumen, von Infrastrukturen, welche die Grenzen der Empires überwanden. Ihr konkretes Handeln verknüpfte die verschiedenen Orte miteinander und erzeugte daraus zunächst eine kommunikative, aber auch politische Ermächtigungswirkung in der Öffentlichkeit, sei es in Indien, Nordamerika oder Asien, in Paris oder im Senegal.

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Noch in einer weiteren Hinsicht erlaubt der Blick auf diese besondere Mobilität von Akteuren eine wichtige Neuakzentuierung der Empire-Forschung. Sie ist mit dem Konzept der Territorialität verknüpft. Danach war die Entwicklung von Großreichen, etwa des frühen Britischen Empire, zunächst nicht allein auf Territorialbesitz gegründet, sondern stärker auf der Geltung wirtschaftlicher und rechtlicher Ordnungsmodelle.60 So kam der Royal Navy in der Frühphase des Britischen Empire eine besondere Bedeutung zu, symbolisierte sie doch nicht nur militärische Überlegenheit im engeren Sinne, sondern auch die Durchsetzung imperialer Normen durch eine maritime Ordnungspolitik.61 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderte sich diese Konstellation grundlegend, als das an territorialen Gebietsbesitz gebundene Kriterium ethnischer Zugehörigkeit stärker an Bedeutung gewann. Zum Modell wurde jetzt das nationalstaatliche Ideal von Territorialität, das auf einen Raum abhob, der durch feste Grenzen und andere Markierungen nach außen abgegrenzt, nach innen erschlossen, möglichst homogen und kontrollierbar sein sollte.62 Die Herrschaft über ein bestimmtes Territorium, als Basis rechtlicher und politischer Entscheidungen, als Erfahrungsraum für Selbst- und Feindbilder und national bestimmte Loyalität trat in den Vordergrund. So wurde Territorialität seit den 1860er Jahren entscheidend, um die Leistungsfähigkeit und die Legitimation von Staaten und Reichen zu messen. Die Tradition informeller EmpireStrukturen trat zugunsten einer Formalisierung kolonialer Herrschaft zurück.63 Die hier vorgestellte Perspektive relativiert diesen starken Fokus auf die Territorialität als Epochensignatur. Sie verdeutlicht an den Lebenswegen und Wirkungsradien konkreter Akteure, in welchem Ausmaß transterritoriale Mobilität, informelle Kommunikationskanäle, persönliche Netzwerke und der bewusst instrumentalisierte Vergleich zwischen Erfahrungsräumen die territorial bestimmten Grenzen der Empires fluide werden ließen. Doch handelte es sich dabei nicht einfach um die Rückkehr informeller Empire-Strukturen wie in der Frühphase vor 1800. Denn die Voraussetzung für die besondere Handlungsmacht der hier vorgestellten Akteure, für ihre Mobilität und deren Übersetzung in politisches Wirken, lag in der Entstehung und möglichen Verflechtung von vielen Zentren der einen Welt. 60 61 62 63

Vgl. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 658-662. Angster, Erdbeeren und Piraten, S. 283-294. Maier, Consigning the Twentieth Century to History; ders., Leviathan 2.0. Ders., Consigning the Twentieth Century to History; ders., Transformation of Territoriality.

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Das Imperium schlägt (immer wieder) zurück: Imperien, Kolonialismus und Postkolonialismus im politischen System der Weltgesellschaft Stephan Stetter1

So sah die Besitznahme der Insel Kabakon durch unseren Freund ganz unterschiedlich aus, je nachdem von welcher Warte aus man das Szenario betrachtete und wer man tatsächlich war. Christian Kracht: Imperium Hauptsächlich schien ihm, daß die Ehre bedeutende Vorteile für sich habe, aber die Schande nicht minder, ja, daß die Vorteile der letzeren geradezu grenzenloser Art seien. Thomas Mann: Der Zauberberg

I. Einleitung Woran denken Sie so, wenn Sie das Wort „Imperium“ hören? Etwa an Episode V. der Star Wars Reihe? Wenn Sie nun nicht zu Science-Fiction-Eskapismus neigen, dann vielleicht eher an die Rede von einem „Medienimperium“ oder einem „Firmenimperium“ einzelner mächtiger Unternehmer? Sofern Sie zufällig politisch denken, und nicht gerade aufgrund sozialwissenschaftlicher Neugier über Hardt und Negris Idee eines globalen Empires gestolpert sind,2 dann denken Sie wohl am ehesten an eine einstmalige Herrschaftsform – an imperiale Herrschaftsgebilde wie das antike Imperium Romanum und dann später das Habsburger Reich, das Osmanische Reich, das imperiale China, das viktorianische British Empire und vielleicht noch das vor allem im Westen während des Kalten Krieges pejorativ so genannte Sowjetimperium? Es scheint auf den ersten Blick – und hinsichtlich der Theoriebildung in den Internationalen Beziehungen (IB) auch auf den zweiten, dritten und

1 Prof. Dr, Universität der Bundeswehr München, Institut für Politikwissenschaft. Professur für Internationale Politik und Konfliktforschung. URL: https://www.uni bw.de/politikwissenschaft/professuren/lehrstuhl-ikf/stetter/prof-dr-stephan-stetter/v iew. 2 Hardt/Negri, Empire.

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vierten Blick – so, als wäre internationale Politik einstmals durch Beziehungen zwischen Imperien beziehungsweise zwischen Imperien und ihren Kolonien und Vasallenstaaten bestimmt gewesen, um dann im Laufe des 20. Jahrhunderts durch den Staat – und bestenfalls Internationale Organisationen und Regime – als zentrale Machtkonglomerationen der internationalen Politik abgelöst zu werden. In IB-Theorien taucht der Begriff des Imperiums jedenfalls kaum auf und hat insgesamt, so scheint es, sozialwissenschaftliche Patina angesetzt. IB-Theorien theoretisieren über Staaten, Internationale Organisationen, Nicht-Regierungsorganisationen, ja jüngst sogar über „Subalterne“, wenig aber über Imperien. Mit Imperien verbinden sich kaum Beschreibungen gegenwärter Politik, eher schon historische Bilder von Kaiser Franz Josef und seiner Sissi, von bezopften chinesischen „himmlischen Söhnen“ und in Jurten lebenden Khanen, von Sultanen und Haremsdamen im Istanbuler topkapı saray. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es – diese Vorrede deutet es schon an – aufzuzeigen, dass diese Relegation des Imperiumsbegriffs in die historische Forschung und an den Rand der IB und anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen einerseits empirisch nicht nachvollziehbar ist – und es andererseits eine Reihe theoretisch gehaltvoller Arbeiten vor allem aus dem Bereich der Historischen Soziologie, aber auch des Postkolonialismus gibt, die es erlauben, ja regelrecht notwendig erscheinen lassen, Imperien und Imperialismus als Kern einer gehaltvollen Theorie internationaler Politik im 21. Jahrhundert zu thematisieren.3 Ich gehe wie folgt vor: Einführend definiere ich den Begriff des Imperiums, wobei ich vor allem, rekurrierend auf die Historische Soziologie, auf die Strukturierung asymmetrischer Herrschaftsbeziehungen abhebe. Aufbauend auf Georg Steinmetz4 werde ich drei Dimensionen des Imperiumsbegriffs betonen: Formen, Entwicklungspfade, sowie Effekte/Bestimmungsfaktoren (II). Anschließend umreiße ich die historische Bedeutung von Imperien für die internationale Politik in der globalen Moderne, d.h. vor allem das „lange 19. Jahrhundert“ von der Hochzeit des europäisch dominierten Kolonialismus seit spätestens Mitte des 19. bis zum (weitestgehenden) Ende des formalen Imperialismus im Kontext der globalen Dekolonialisierungsprozesse insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts (III). Anschließend diskutiere ich dann verschiedene Ausprägungen imperialer Herrschaft in der gegenwärtigen internationalen Politik (IV). Zwei zentrale

3 Go, Patterns of Empire; Schlichte, Herrschaft, Widerstand und die Regierung der Welt; Steinmetz, Sociology and Empire. 4 Ders., Sociological Theory and Research on Empire.

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Argumente sollen hierbei im Vordergrund stehen und historisch-soziologisch untermauert werden. Erstens die These, dass IB-Theorien gut daran täten, nicht den Begriff des Staates oder der Internationalen Organisation zum Fixpunkt ihrer Theoriebildung zu machen, sondern dies durch einen gehaltvollen Imperiumsbegriff zumindest zu ergänzen. Hierbei sollte auch die zeitliche Überlappung der Hochphase des Imperialismus/Kolonialismus und die Entstehung eines originär globalen internationalen politischen Systems im „langen 19. Jahrhundert“ berücksichtigt werden – und wie sich diese Vergangenheit in gegenwärtigen Strukturen und Praktiken internationaler Politik widerspiegelt. Zweitens die Beobachtung, dass neben der Analyse von imperialen und (post-) kolonialen Herrschaftsbeziehungen in der globalen Moderne nicht nur Imperien als handelnde Akteure verstanden werden sollten, sondern in gleichem Maße die Akteurschaft und Gegenmacht der von ihr formal beherrschten Kolonien, Vasallenstaaten und anderen nicht-imperialen Herrschaftsverbünden (z.B. kleine Staaten) empirisch und theoretisch zu behandeln ist. II. Was sind Imperien? In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist es vor allem die Historische Soziologie, die empirisch und theoretisch gehaltvolle Arbeiten zu früheren und gegenwärtigen Imperien vorgelegt hat.5 Auch neo-marxistische Forschung, wie insbesondere die Weltsytemtheorie in Nachfolge Wallersteins und der Postkolonialismus haben die Untersuchung imperialer Herrschaftsformen und den langen historischen Schatten kolonialer Macht für die Gegenwart sichtbar gemacht.6 Im Kern disziplinärer Debatten in den IB aber auch der Soziologie spielt die Analyse von Imperien hingegen nur eine geringe Rolle. Dies müsste eigentlich verwundern, denn die Auseinandersetzung mit Imperien, Kolonialismus und imperialer Herrschaft hat bereits bei den disziplinären „Klassikern“ der Soziologie, von Tocqueville, Comte, Weber, über Durkheim hin zu Marx eine wichtige Rolle gespielt, wurde aber mit der Zeit an den Rand einer sich ihrer imperialen Vergangenheit mental entledigenden Disziplin gedrängt.7 Ähnliches ließe sich für die IB aufzeigen, deren zentrale Theorien – vom Liberalismus, über den

5 Go, Postcolonial Sociology; Steinmetz, The Sociology of Empires, Colonialism, and Postcolonialism. 6 Jabri, Disarming Norms; Wallerstein, The Capitalist World-Economy. 7 Steinmetz, Sociological Theory and Research on Empire.

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Realismus – von einem durchaus auch bisweilen auf rassische Motive zurückgreifenden „Eurozentrismus“ geprägt sind,8 was aber auch hier einer disziplinären Amnesie zum Opfer fiel – mit der Folge, dass westliche Vorherrschaft in den internationalen Beziehungen als Folge höherer, abstrakter Gesetze erscheint und nicht als Ergebnis historischer Entwicklungen. Waltz’ scheinbar klinisch-aseptische Theorie internationaler Anarchie ist etwa eine direkte Repzeption ethnologischer Forschung in den USA über vermeintliche Anarchie in „primitiven“ afrikanischen Gesellschaften, die Waltz vor Niederschrift seines Hauptwerks Theory of International Politics rezipiert hat.9 Anstelle eines solchen Vergessens der Vergangenheit und der Gegenwart imperialer Herrschaft – aber auch entsprechender Gegenmachtsbildung – in Theorie und Praxis internationaler Politik soll im Weiteren eine empirisch-theoretisch gefasste Vermessung des imperialen Feldes in der internationalen Politik vorgenommen werden. Zuerst soll dabei nach der konzeptionellen Bedeutung gefragt werden: Was ist nun unter einem Imperium zu verstehen? Nach Doyle10 ist ein Imperium eine „relationship of political control imposed by some political societies over the effective sovereignty of other political societies“. Wichtig ist also auf dieser basalen Ebene, dass es sich – wie generell bei Machtbeziehungen11 – um eine relationale Kategorie handelt, die mindestens zwei politische Einheiten in eine asymmetrische Herrschaftsbeziehung integriert. Kolonialismus ist dann eine spezifische, aber nicht die einzige Ausprägung imperialer Herrschaft. Es geht vielmehr allgemein um die militärisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell abgesicherte Herrschaft in einem geopolitischen Raum, die nicht unbedingt auf direkte Administration zurückgreifen muss, sondern sich auch informeller beziehungweise indirekter Einflussnahme bedienen kann. Insoweit ist Imperialismus „a form of political control of foreign lands that does not necessarily entail conquest, occupation, and permanent foreign rule“.12 Jedenfalls drückt sich die Asymmetrie in den Herrschaftsbeziehungen nicht nur durch ungleiche Kapazitäten mit Blick auf militärische, institutionelle oder ökonomische Ressourcen aus. Imperiale Herrschaft hat in der Regel auch eine kulturelle Dimension, die die rassische, zivilisatorische 8 Hobson, The Eurocentric Conception of World Politics. 9 Vgl. ebd. 10 Doyle, Empires, S. 19, zitiert in Steinmetz, Sociological Theory and Research on Empire, S. 9. 11 Berenskoetter, Power in World Politics. 12 Steinmetz, Sociological Theory and Research on Empire, S. 10.

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oder zumindest entwicklungsbezogene oder ideologische Überlegenheit der imperialen Macht behauptet und auf diese Weise politische Hierarchien und Institutionen normativ absichert. Während in der globalen Moderne (europäische oder europäisch geprägte) Staaten – wie Großbritannien, Frankreich, das Deutsche Reich, die USA, Russland und andere – als imperiale Mächte in Erscheinung traten, weist die Historische Soziologie zu Recht darauf hin, dass Staaten und Imperien nicht gleichgesetzt werden können. Vielmehr bildet sich in Imperien eine Unterscheidung zwischen Metropole und imperialen beziehungweise kolonialen Verwaltungen heraus, die aufbauend auf Bourdieus Feldtheorie von Steinmetz und Julian Go überzeugend als lose Kopplung zwischen dem Staat der Metropole als koordinierendem Zentren einerseits,13 und imperialen/kolonialen Verwaltungen und lokalen Akteuren in den Kolonialstaaten, verstanden als semi-autonomes Feld, theoretisiert werden können. Aus diesem Grunde macht es auch Sinn, Imperien nicht einfach als „verlängerten Arm“ eines imperialen Staates zu begreifen – und so den Staat zur theoretisch zentralen Analysekategorie zu machen, sondern vielmehr Imperien und ihre Beziehungen als eigenständige, emergente Strukturen in der internationalen Politik zu verstehen. Dies erlaubt dann auch, Imperien nicht nur als historische, sondern als gegenwärtige Ordnungsstruktur internationaler Politik zu analysieren. Wichtig ist hierbei die Unterscheidung zwischen direktem (formalem) und indirektem (informellem) Imperialismus. Während ersterer vor allem auf koloniale Herrschaft abhebt, beschreibt letzterer einen gerade seit der Dekolonialisierung zentralen Bereich imperialer Herrschaft, der formal die Souveränität von Staaten anerkennt, diese aber zumindest graduell durch asymmetrisch verteiltes wirtschaftliches, politisches oder kulturelles Kapital zumindest einschränkt. Viele Beziehungsgeflechte zwischem dem Globalen Norden und dem Globalen Süden können in dieser Hinsicht bis heute interpretiert werden. Wichtig ist dabei auch, dass Imperialismus nicht zwangsläufig eine dauerhafte Struktur sein muss, sondern sich punktuell zeigen kann. Wie Go dies formuliert, „we would fare well to think of empires not as essences but rather as imperial formations: sets of relations and forms involving multiple tactics, policies, practicies, and modalities of power; hierarchically ordered formations wherein a state or center exercises control or unequal influence over subordinated territories, peoples, and societies through a variety of

13 Ebd., S. 12.

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means and methods“.14 Die Unterscheidung zwischen formalem und informellem Imperialismus bezieht sich also darauf, „how political influence is exercised“15 – und dies kann sowohl im kolonialen Kontext stattfinden, als auch mit Blick auf postkoloniale Staaten im heute so genannten „Globalen Süden“, aber auch in eher amorphen imperialen Machtrelationen, die sich punktuell zeigen. Hier kann denn auch eine wichtige Spezifizierung der oben dargelegten Definition von Imperialismus vorgenommen werden, denn zentral sind hierbei vor allem Machtunterschiede. Anders formuliert, „empires in their most basic sense, are sociopolitical formations that are constructed and maintained through the exercise of power“.16 An dieser Stelle setzt auch, beginnend mit den grundlegenden Arbeiten Fanons und Saids,17 der Postkolonialismus an, der allerdings erst mit einiger zeitlicher Verzögerung in den Sozialwissenschaften rezipiert wurde. Hier wird dann auch – wie dies auch für die IB und ihren „Eurozentrismus“ gilt – die Kopplung politischer Geschichte einerseits und Wissenschaft beziehungsweise Populärkultur andererseits besonders sichtbar. So weist etwa Steinmetz auf die enge Verflechtung zwischen kolonialen und imperialen (semi-autonomen) Feldern und transnationalen Feldern wie der Wissenschaft hin,18 die imperiale Herrschaft bereits im 19. Jahrhundert analysiert, kategorisiert, mit Begriffen ausstattet, aber auch durchaus zu kritisieren vermochte. Dies hat sich, wie die Orientalismusdebatte zeigt, bis heute nicht geändert. In diesem Sinne arbeitet die Wissenschaft, sei es die Soziologie, die IB oder die area studies, auch wenn sie ihre eigene imperiale Verflechtung ausblenden, durchaus als „route towards the new global form“.19 Auch die Verbindung zwischen imperialen „Epistemen“ und Gewalt wird hierdurch kenntlich gemacht, denn wie sich aus den Arbeiten Saids zeigen lässt: der „orientalist discourse facilitated imperialism“ – und in diesem Sinne sind es auch die in wissenschaftlichen Arbeiten entwickelten Rassen-, Zivilisations- und Entwicklungstheorien, die oft nicht nur grundlegende essentielle Unterschiede zwischen Metropole und Periphere und den dort lebenden Menschen behaupten, sondern auch Gewalt zwischen „Selbst“ und „Anderem“ legitimieren können – im Sinne einer “epistemic violence that facilitites re-

14 15 16 17 18 19

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Go, Patterns of Empire, S. 12. Ebd., S. 9. Ebd., S. 6. Fanon, Die Verdammten dieser Erde; Said, Orientalism. Steinmetz, Sociological Theory and Research on Empire, S. 40. Go, From Empire to Globalism in Early US Sociology, S. 178, 190-194.

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al violence“, 20 was sich nicht nur auf genozidale Gewaltakte gegenüber Kolonialvölkern bezieht, sonder bis hin zu modernen counterinsurgency Einsätzen und humanitären Interventionen reicht. Steinmetz21 unterscheidet schließlich zwischen Formen, Entwicklingspfaden, sowie Effekten/Determinanten von Imperien. Mit Blick auf (1) Formen wird zwischen vier Typen unterschieden: vormoderne, landbasierte Imperien (z.B. Rom); moderne, territoriale Imperien (z.B. Landnahmen durch imperiales China, Russland, USA, Nazideutschland); koloniale Imperien (z.B. Britisches Empire, Frankreich); sowie informelle, nicht-territoriale Imperien (z.B. Deutsches Kaiserreich gegenüber Mittel- und Osteuropa, USA, Großbritanniens Rolle im Commonwealth). Steinmetz hebt (2) sechs zentrale Entwicklungspfade für die Ausbreitung von imperialen und kolonialen Strukturen in der Globalen Moderne hervor: Kapitalismus, Geopolitik/Krieg/Gewalt; kulturelle Repräsentation von Differenzen; Widerstand oder Kollaboration in der Peripherie; die institutionelle Ausgestaltung von imperialer Herrschaft; sowie Konflikte/Kompromissbildung zwischen Machtzentren und „Kapitalträgern“ in der Metropole und im Kolonialstaat. (3) Hinsichtlich der Effekte/Determinanten stehen in der Forschung vor allem auch Rückwirkungen imperialer Herrschaft auf die Metropole im Zentrum. Hier hat sich der Schwerpunkt von monokausalen Erklärungsansätzen, die etwas die Wirtschaft oder den Drang zu territorialer Expansion hervorheben, hin zu einer Verzahnung verschiedener Ekrläungsansätze hin entwickelt. Neben Wirtschaft und (Geo-)Politik werden auch zunehmend kulturelle Faktoren, wie Ideologien hervorgehoben, aber auch die relationale Dimension imperialer Herrschaft betont, die sich eben auch anhand von durchaus signifikanten Machtressourcen in Kolonialstaaten, sowie bei lokalen Eliten in den Kolonialstaaten bzw. in postkolonialen Staaten zeigt, kurz: „the power of events, processes, and structures in the peripheries“.22 Hier greift dann auch die Fokussierung auf Imperien als eigene, emergente Ordnungsebene internationaler Politik, also der Schritt „away from a focus on states as the highest level order of political organization“.23 Steinmetz sieht hier zusammenfassend eine „ex-centric“ Perspektive am Werke, die es erlaubt Imperien heute als „complex, overdetermined totalities“24 zu beobachten, was den Fokus weg vom Staat und hin zu Imperien als höhere Ordnungsform verschiebt: Imperien und Kolo20 21 22 23 24

Ders., Imperial Episteme and Economy of Force, S. 202. Steinmetz, Sociological Theory and Research on Empire. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4.

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nien haben „emergent properties that cannot be reduced to the properties of states“.25 Einer der wesentlichen Gründe, warum Imperien nicht zu einem theorietragenden Begriff in den IB wurden, liegt in eben jener weitestgehend fehlenden Konzeptionalisierung von Imperien und Imperialismus als emergentem Phänomen internationaler Politik begründet. Doyles Verweis auf Lord Haileys 1940 getroffene Aussage, „imperialism is not a word for scholars“26 kann somit leicht paraphrasiert in die Form übertragen werden, dass Imperialismus im Speziellen kein Word für IB-Forscher ist, zumindest kein theoretisch gehaltvolles. Dies liegt zum einen an der schon von Doyle beschriebenen Querlage von Imperien zur Idee autonomer politischer Einheiten in der Vergleichenden Politikwissenschaft einerseits und der Vorstellung eines anarchischen Systems in den IB andererseits. Denn: Imperien brechen sowohl im Zentrum als auch der Peripherie eben jene Idee autonomer Einheit auf – während sie auf internationaler Ebene (asymmetrische) Ordnung – und nicht etwa Anarchie betonen.27 Trotz zahlreicher Arbeiten in den IB beziehungsweise der Politikwissenschaft zu Imperien,28 die auch theoretisch wichtige Beiträge leisten, wie etwa Schlichtes Analyse des Staates (im Globalen Süden) in der Weltgesellschaft,29 oder zumindest „institutionaliserte Ungleichheit“ theoretisieren,30 fällt es der IB insgesamt schwer, hieraus eine umfassende Theorie internationaler Politik abzuleiten. Dies wird noch durch die in verschiedensten Zirkeln beobachtete Krise der IB-Theorie verstärkt.31 Der vorliegende Beitrag kann und will hier keine Abhilfe schaffen. Er will aber zumindest das Argument in den Raum stellen, dass ein Verständnis von Imperialismus als emergentem Phänomen internationaler Ordung und damit als zentralem Begriff jeder tragfähigen IBTheorie von einer sowohl soziologisch als auch historisch „dichten“ Beschreibung der Struktur und Praxis imperialer Politik profitieren würde, wie sie in diesem Beitrag einführend vorgestellt wird. Eine solche historisch-soziologisch gesättigte Bestimmung des Imperiumbegriffs wäre dann

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Ebd., S. 3. Doyle, Empires, S. 11. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. einführend Barber, Imperium der Angst; Menzel, Die Ordnung der Welt; Münkler, Imperien. 29 Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft. 30 Zürn, Institutionalisierte Ungleichheit in der Weltpolitik. 31 Vgl. Buzan/Little, Why International Relations Has Failed; Dunne et al., The End of International Relations Theory?; Mearsheimer/Walt, Leaving Theory Behind.

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auch für eine weitergehende Operationalisierung des Imperiumbegriffs in themenspezifischen Forschungsfeldern anleitend. III. Imperien in der Globalen Moderne In der Globalgeschichte, der Historischen Soziologie, aber in jüngerer Zeit auch in historisch orientierten Arbeiten in den IB wird auf die Prägekraft des (langen) 19. Jahrhunderts für die politischen Strukturen der Gegenwart verwiesen.32 Dies gilt nicht zuletzt auch mit Blick auf die internationale Politik und ihre Prägung durch Imperien und Kolonialstaaten, die sich in dieser Zeit herausgebildet hat. In historischen Arbeiten zum langen 19. Jahrhundert ist ein zentrales Argument, dass politische, soziale und kulturelle Dynamiken der Moderne wie Industrialisierung, Staatlichkeit, Urbanisierung und Individualisierung, das Entstehen moderner politischer Ideologien und Leitvorstellungen wie Liberalismus, Sozialismus, Menschenrechte, Demokratie, aber auch religiöser Fundamentalismus und Nationalismus und schließlich auch das Entstehen eines originär globalen politischen Systems ihre prägende Ausgestaltung im Laufe des 19. Jahrhunderts erfahren haben. Zu vermeiden ist allerdings ein Eurozentrismus, denn die oben genannten Dynamiken wurden, wie insbesondere in der Globalisierung- und Weltgesellschaftsforschung umfassend aufgezeigt wurde, als originär globale Dynamiken identifiziert.33 Es ist daher von einer globalen Moderne zu sprechen, was allerdings, wie gerade der Blick auf Imperien aufzeigt, nicht mit Homogenisierung oder Gleichheit zu verwechseln ist. Die globale Verbreitung moderner Strukturmuster muss daher im Kontext gleichzeitig bestehender hochgradig ungleicher politischer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse gesehen werden. Ausgangspunkt war hier die territoriale Expansion europäischer Mächte seit Beginn der „Entdeckungen“ Amerikas, Australiens und verschiedener Seerouten (und Flußrouten in Afrika) seit der frühen Neuzeit. Als Beispiel mag hier Englands territoriale Expansion seit dem 17. Jahrhundert dienen.34 In der Forschung wird zwischen vormodernem und modernem Kolonialismus unterschieden (siehe auch unten). So war es während des 19. 32 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt; Buzan/Lawson, The Global Transformation. 33 Stetter The Middle East and Globalization; ders., Ordnung und Wandel in der Weltpolitik. 34 Go, Patterns of Empire.

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Jahrhunderts, dass der moderne Kolonialismus seinen Höhepunkt erreichte – im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte auf politischen Landkarten fast der gesamte Erdball als „im Besitz“ europäischer Mächte dargestellt werden, die Welt war in europäischer Hand. Doch geschah diese Landnahme, trotz der Dominanz Großbritanniens, nicht in einem rein hegemonialen internationalen System, sondern vielmehr im Kontext eines zunehmenden imperialen Wettbewerbs zwischen hauptsächlich europäischen Mächten wie dem Empire, aber auch Frankreich, Russland, den Niederlanden, Spanien, Portugal und später auch dem Deutschen Reich, Italien, Belgien, Österreich-Ungarn und anderen. Diesem europäisch-imperialen Wettbewerb konnten lediglich die USA sowie Japan als einzige „nicht-Weiße“ Macht eine erfolgreiche Strategie gegenüberstellen, während einstmals mächtige Imperien wie das Osmanische Reich und China sich zunehmend dem Druck der europäischen Mächte und deren „Orientalisierungsmacht“ beugen mussten. Im Verhältnis zu nicht-europäischen Mächten zeigt sich daher auch, dass der Imperialismus keineswegs nur eine militärische und politische (und wirtschaftliche) Dimension hat, sondern auch normativ unterfüttert wurde, mithin eine kulturelle Dimension aufweist, die sich im 19. Jarhundert vor allem im Aufstieg von „Theorien“ einer grundlegenden rassischen oder zumindest entwicklungsbezogenen Ungleichheit zwischen „zivilisierten“ Europäern und den Europäern angeblich „rassisch“ unterlegenen Völkern zeigte – auf Ebene des internationalen politischen Systems wurde dies dann vor allem im sogenannten „Zivilisationsstandard“ kodifiziert.35 Formale Imperien können somit als Imperien definiert werden, die über koloniale Besitzungen verfügen und diese durch mehr oder weniger direkte politische Kontrolle aus der Metropole administrieren. Dies führt einerseits zu einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dominanz der Metropolen gegenüber den Kolonialgebieten, deren Bevölkerungen „Subjekte“, aber im Gegensatz zu den imperialen Zentren eben keine „Staatsbürger“ sind und hierfür auch nicht vorgesehen sind. So fußt geradezu ein signifkanter Teil der kolonialen Herrschaftsstrategie darauf, koloniale Subjekte in ethno-national oder religiös definierte kollektive Gruppen einzuteilen,36 denen oft unterschiedlicher Zugang zu Machtresssourcen im kolonialen aber auch im postkolonialen Staat eingeräumt wird37 – ein bis heute zentraler Faktor vieler sogenannter ethno-nationaler Konflik-

35 Buzan, The „Standard of Civilisation“. 36 Stetter, World Society and the Middle East. 37 Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft.

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te im Globalen Süden. Zu denken wäre hier etwa an die während der deutschen Kolonialzeit verbreitete Einteilung und rassische Bewertung der ruandischen Bevölkerung in „schwarze“ Hutu und „etwas-weniger-schwarze“ Tutsi. Andererseits ist aber neben dieser Beziehung der Metropole zum Kolonialstaat (und später den postkolonialen Staaten und ihren Herrschaftseliten) wie oben bereits angesprochen der Wettbewerb der Imperien unterbeziehungsweise gegeneinander in den Blick zu nehmen. Wie dargestellt hat dieser zum einen zum Machtabstieg einstmalig bedeutender Imperien wie dem Osmanischen Reich und China geführt sowie zahlreiche Konflikte zwischen den europäischen Kolonialmächten (sowie im Kriege 1905 auch zwischen Japan und Russland) evoziert, die von vielen Krisen flankiert, auch einer der Ausgangspunkte des 1. Weltkrieges waren. Neben Krieg muss aber auch die ordnungsbildende Kraft dieses imperialen Wettbewerbs in den Blick genommen werden. Neben dem oben genannten Aufstieg der Norm des „Zivilisationsstandards“ ist vor allem auf das Verhältnis der Kolonialmächte zueinander und hier speziell auf das ordnungsbildende Prinzip des Mächtegleichtgewichts zu verweisen, das in jüngeren Arbeiten sogar als Kernpunkt der Ausdifferenzierung eines modernen internationalen Systems identifiziert wurde und das mit dem Wiener Kongress 1815 erstmals festgeschrieben und mit Blick auf imperialen Besitz etwa beim Berliner Kongress 1876 umfassend Anwendung fand.38 Aufbauend auf „Europe’s geopolitical pivot in the eighteenth century“39 teilten sich so im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das britische Empire, Frankreich (etwa durch die Annektion Algeriens), die Niederlande, Belgien, Dänemark, Portugal, Spanien, das Deutsche und das Russische Reich und Italien – und innerhalb Europas auch Österreich-Ungarn, das ehemalige territoriale Besitzungen des Osmanischen Reiches in Südosteuropa erwarb – die Welt untereinander auf. Im Gegensatz zum vormodernen Kolonalismus, der sich vor allem in der Expansion Spaniens und Portugals in Amerika und der frühen Expansion Großbritanniens oder der Niederlande im 17. Jahrhundert ausgedrückt hat, verschieben sich im modernen Kolonialismus der geographische Fokus hin zu Afrika und Asien und die Praxis des Kolonialismus weg von direktem Sklavenhandel zu indirekter Ausbeutung der Kolonien. Umfassender Transfer von Bevölkerung (Siederkolonialismus) nimmt ab, dafür wächst die direkte Kontrolle durch die Metropole, weg von souveränen Handelsgesellschaften hin zu einer bürokratischen

38 Albert, A Theory of World Politics. 39 Steinmetz, The Sociology of Empires, Colonialism, and Postcolonialism, S. 83.

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Verflechtung von Metropoloe und Kolonialstaat, einer „direct metropolitan state governance over colonies“.40 Auf theoretischer Ebene kann dies im Anschluss an Bourdieu als Entstehen eines kolonialen Feldes verstanden werden. Wie Steinmetz und Go aufzeigen, können Kolonialstaaten aber nicht einfach als Fortsatz der Politik in der Metropole verstanden werden.41 Es entwickeln sich eigene Strukturen mit eigenen metropolitanen und lokalen Eliten und eigenen Karrierewegen in der Metropole und der Peripherie. Es kann somit mit Blick auf die Kolonialstaaten, wie bereits angesprochen, von einem semi-autonomen Feld gesprochen werden, mit eigenen Praktiken, eigenen Konkurrenzverhältnissen und spezifischen Formen des politischen und kulturellen Kapitals, um das dort konkurriert wird. Auch die Rückwirkungen auf die Metropole werden in der Forschung umfassend diskutiert. Trotz der asymmetrischen Herrschaftsbeziehungen ist die Machtverteilung nicht vollkommen einseitig. Die Kolonien sind Experimentierfelder (die erste Straßenbahn in Österreich-Ungarn stand nicht in Wien oder Budapest, sondern im 1876 erworbenen Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas) und diverse Herrschaftspraktiken, die dort „erprobt“ werden finden ihren Weg zurück in die Metropole, wie unter anderem Polizeitaktiken in „Problemvierteln“ in den USA von der counterinsurgency Erfahrung in den Philippinen „lernen“ oder führende Protagonisten militärischer Gewaltezesse in den Kolonien (wie etwa deutsche Offiziere gegen die Herero in Namibia oder französische Militärs aus Algerien) im Ersten Weltkrieg der „Rückkehr der Gewalt“ nach Europa den Weg mit bereiteten. Zwei weitere Dimensionen sind für diese Ausdifferenzierung imperialer Herrschaftsmuster in der globalen Moderne zentral. Dies ist erstens die enge Verbindung des kolonialen Feldes mit anderen Feldern, vor allem der Wissenschaft und populärer Vorstellungen des „Anderen“. Wie Edward Said dies zu einem späteren Zeitpunkt theoretisieren wird, geht die politische und militärische Expansion mit einer normativen Überzeugung der Angemessenheit des Kolonialismus einher, die nicht zuletzt durch wissenschaftliche Forschung und wissenschaftlich legitimierte Bilder des „Anderen“ breite Akzeptanz fand. Arbeiten zur amerikanischen Soziologie des 19. Jahrhunderts, aber auch der engen Verflechtung der Klassiker der europäischen und amerikanischen Soziologie mit den Expansionsbestre-

40 Ebd., S. 83. 41 Ders., Social Fields, Subfields and Social Spaces at the Scale of Empires.

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bungen in den jeweiligen Nationalstaaten wäre hier zu nennen,42 etwa mit Blick auf die imperial-deutschnationalen Überzeugungen Max Webers.43 Zweitens ist darauf zu verweisen, dass unbeschadet der Machtasymmetrien die Kolonien und ihre lokale Bevölkerung über eigenständige Machtressourcen verfügten. Der Kolonialsimus war geradezu Ansporn, diese auszubilden. Besondere Prägekraft entwickelte hier das Entstehen nationalistischer Bewegungen die sich von Südosteuropa und Lateinamerika, über den Nahen Osten, Afrika und Asien gegen alte Imperien (etwa das Osmanische Reich) und die modernen euro-amerikanischen (und japanischen) Imperien mit dem Ziel der Selbstbestimmung zu behaupten versuchten. Nicht unter koloniale Tutelage zu geraten, gelang nur wenigen (so Japan, Siam, Äthiopien), aber auch wenn dies der Fall war, waren nationale Befreiungsheroen und –mythen ein nicht versiegender Ansporn, dieses Ziel irgendwann zu erreichen. Der Nationalismus war also nicht nur in Europa, sondern im Kontext der globalen Moderne in allen Weltregionen zu einer Eliten und Massen mobilisierenden Leitidee geworden, die paradoxerweise sowohl den Aufstieg als auch den Niedergang des modernen Kolonialismus flankierte (und so auch den von nationalen Überlegenheitsgedanken getragenen Wettbewerb zwischen europäischen Mächten antrieb, z.B. der Vorstellung, die eigene Nation habe einen besonders „zivilisierten“ Ansatz in der Beherrschung „ihres“ Kolonialgebietes. Die Deutschen glaubten, sie herrschten humaner, zivilisierter und ethischer als die Briten oder die Franzosen – allerdings glaubten dies die Briten, die Franzosen und andere auch von sich). IV. Imperien und die gegenwärtige internationale Politik Die Hochzeit des Kolonialismus als dominanter Ordnungsstruktur globaler Politik und internationaler Beziehungen war von relativ kurzer Dauer. Die oben angesprochene „Aufteilung der Welt“ wurde im 19. Jahrhundert vollzogen – gleichzeitig setzte auch schon der Prozess der Dekolonialisierung ein, zum Beispiel in Haiti 1804. Spanien und Portugal, das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, später Japan, Frankreich und Großbritannien, aber auch die USA und Russland beziehungsweise die UdSSR erlitten aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten im 19. und 20. Jahrhundert ihren jeweiligen „imperial overstretch“. Der Nieder-

42 Go, From Empire to Globalism in Early US Sociology. 43 Steinmetz, Sociological Theory and Research on Empire.

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gang des formalen Imperialismus – in der Zwischenrkiegzeit noch kaschiert durch das vom Völkerbund getragene Mandatssystem im Nahen Osten und in Afrika – konnte nicht dauerhaft aufgehalten werden und vollzog sich in mehren Entkolonialisierungswellen, kulminiernd nach Ende des 2. Weltkrieges, als eine Vielzahl neuer Staaten (Beispiel Senegal 1960 von Frankreich, Indien, Pakistan und Bangladesch 1947 von Großbritannien, Bahrain 1971 von Großbritannien, usw.) oder Territorien (Beispiel Hongkong von Großbritannien 1999) unabhängig wurden. Aber auch heute noch wird über koloniale Restbestände politisch gestritten, zu denken wäre an die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla auf marokkanischem Festland oder dem britischen Gibraltar auf spanischem Gebiet, während einstmals avisierte Staaten – wie Kurdistan, dem im Vertrag von Sèvres 1920 staatliche Unabhängigkeit in Aussicht gestellt wurde – bis heute vergeblich diesem Ziel nachstreben, aber hierbei durchaus weiter regionale und internationale Politik beeinflussen. In anderen Weltregionen werden Gebiete eines anderen States nicht nur militärisch besetzt, sondern auch an die lokale, verbündete Bevölkerung Pässe der Besatzungsmacht ausgegeben, wie dies etwa im georgischen Abchasien geschieht, das seit dem georgisch-russischen Krieg 2009 wie SüdOssetien von Russland besetzt ist. Einige überseeische Gebiete (z.B. Französisch-Guayana) sind bis heute Teil vormaliger europäischer Kolonialstaaten, wobei ein entscheidender Unterschied zum kolonialen Zeitalter die Übertragung der Bürgerrechte (in vielen Fällen also die EU-Bürgerschaft) an die lokale Bevölkerung in überseeischen Gebieten ist – wobei es durchaus abgestufte Bürgerrechte gibt, wie das Beispiel von Puerto Ricos Einbindung in die USA zeigt. Formale Einschränkungen gibt es darüber hinaus – zumindest temporär – in der Übertragung von Souveränität an internationale Administrationen,44 wie den U.N. in Ost-Timor oder der EU in Bosnien und Herzegowina, deren Hoher Repräsentant mit den Bonn powers ganz formal die exekutive, legislative und judikative Gewalt inne hatte, auch wenn es heute von Seiten des Hohen Repräsentanten eine de facto Zurückhaltung gibt, diese auch einzusetzen. Der Niedergang des Kolonialismus verlief alles andere als geräuschlos. Gewalt – sowohl zwischen lokalen Akteuren und den Kolonialmächten als auch zwischen verschiedenen lokalen Akteuren, die gegenseitig um den Status als „Staatsklassen“ (Elsenhans) im neu entstehenden postkolonialen Staat konkurrierten, aber auch Konflikte zwischen den imperialen Mächten, wie etwa in den beiden Weltkriegen – war oftmals zentraler Bestand-

44 Bonacker et al., Deutungsmacht in Nachkriegsgesellschaften.

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teil der Entkolonialisierung. Ausgeprägt waren auch die Rückwirkungen auf die zukünftige politische Identität von einstmals Kolonisierenden und Kolonisierten. So etablierten sich in vielen der um ihre Selbstbestimmung kämpfenden Staaten und innerhalb der sie tragenden sozialen Gruppen teilweise starke anti-westliche Gründungsmythen, wie dies etwa Michael Barnett für Ägypten und die arabischen Staaten insgesamt aufgezeigt hat.45 Es gilt auch für die ehemals herrschenden Kolonialstaaten, die den Phantomschmerz des Verlusts „ihres“ Besitzes politisch verarbeiten mussten und dies nur selten auf so augenzwinkernde Weise tun konnten, wie Großbritannien in der cineastischen Negierung des Verlusts des Empires, wie er in den James-Bond-Filmen zelebriert wird.46 Die Dramatik der politischen Auwirkungen reicht auch in Großbritannien natürlich wesentlich tiefer, denn „there is increasing evidence that the British Empire was situated at the very core of British self-understandings and tradtional social structures and that the loss of the Empire had a huge domestic impact“, der sich mutmaßlich bis zum Brexit-Referendum und dem Traum eines „Global Britain“ einiger die reale globale Stellung ihres Landes wohl maßlos überschätzenden Brexiteers durchzieht.47 Der Begriff der „postkolonialen Angst“48 ist für diese presence of the past des kolonialen Zeitalters ein gutes Bild. Auf Seiten nicht-westlicher Staaten zeigt sie sich in anti-westlichenn Ressentiments und der, freilich wie in Iran 1953 oder der Türkei Anfang der 1920er Jahre geschichtlich bestätigten Sorge – die auch in aktuellen politischen Streitfragen wie etwa dem Nuklearkonflikt mit Iran oder dem Verhältnis der Türkei zur EU zu einer Mobilisierung der Bevölkerung führen kann –, der Westen wolle die staatliche Souveränität aushebeln oder den Staat sogar territorial zerschlagen. Auf Seiten der ehemaligen Kolonialmächte exisitert eine durchaus parallele, an alte orientalistische Tropen anknüpfende Angst vor den vermeintlich „unberechenbaren“, „finsteren“, „traditionellen“ und „gewaltaffinen“ Gesellschaften des Globalen Südens, die entweder als eine durch Migration und „Globalisierung“ gar nicht so ferne Bedrohung oder zumindest als schwer zu entwickeln wahrgenommen werden. Die Angst vor „dem“ Islam in Teilen westlicher Gesellschaften ist wohl derzeit die ausgeprägteste Form dieser postkolonialen Angst auf Seiten des Globalen Nordens, ist aber Teil eines wesentlich breiter verankerten „Zivilisationsdiskurses“, der

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Barnett, Dialogues in Arab Politics. Stetter/Herschinger, James Bond und die internationale Politik. Steinmetz, The Sociology of Empires, Colonialism, and Postcolonialism, S. 83. Bilgin, Regional Security in the Middle East.

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nicht nur bei Huntington von einer fundamentalen Ungleicheit zwischen Kulturen ausgeht und sich nicht nur aus Angst sondern auch aus einem Glauben an die normative Überlegenheit der eigenen „Zivilisation“ bei gleichzeitiger Sorge, diese würde durch Einwanderung oder Multilateralismus unterwandert, speist.49 Diese Pfadabhängigkeiten dürfen freilich den Blick auf gegenläufige Entwicklungen nicht verstellen. Der formale Imperialismus in Gestalt des Kolonialismus ist nicht nur weitestgehend Geschichte, er ist seit Gründung der Vereinten Nationen und vor allem der formalen Kodifizierung von staatlicher Souveränität und universellen Menschenrechten – die der Unterscheidung in Bürger und Subjekte, die den Kolonialsimus normativ getragen hat, auf Ebene des Internationalen Rechts aufgehoben hat - seit Ende der 1940er Jahre auch umfassend delegitimiert. Dies beinhaltet auch die breite Delgetimierung, die der Rassismus seit Ende des 2. Weltkrieges – und vor allem in Folge des Holocausts - und dann auch seit Ende des südafrikanischen Apartheid-Staates zu Beginn der 1990er Jahre erfahren hat. Auch mit Blick auf diese politisch-rechtliche – aber nicht unumstrittene, homogene oder widerspruchsfreie – globale Verbreitung der Menschenrechte zeigt sich erneut die bereits angesprochene Verzahnung politischer und wissenschaftlicher Felder. Die Idee allgemeiner Menschenrechte war nicht nur früh Antriebsfaktor für die Entkolonialisierung auf Seiten gesellschaftlicher Eliten im Globalen Süden,50 sondern auch Referenzpunkt kritischer Forschung, wie etwa postkolonialer Theorien, die die selektive Anwendung dieser Rechte durch „den“ Westen, nicht aber deren allgemeine Geltung in Frage stellten. Allerdings muss auch konstatiert werden, dass mit Ausnahme von an den Rändern traditioneller Fächerhierarchien angesiedelten Forschungssträngen wie dem Postkolonialismus und Teilen der area studies, Imperien und Kolonien weitestgehend zu einem historischen Forschungsthema wurden und aus der Theoriebildung in weiten Teilen der Sozialwissenschaften verbannt wurden. Dies gilt für die Soziologie, die sich zunehmend einem „methodologischen Nationalismus“ zuwandte, der das Imperiale, ja sogar das Globale konzeptionell ausblendete.51 Bestärkt durch die Dominanz der „superstructure“ des Kalten Krieges und der Dominanz der USA und der UdSSR – die bemerkenswerterweise zumeist als Staaten und nicht als Imperien interpretiert wurden – übernahm auch die IB diesen methodologischen Nationalismus als oft implizit

49 Stetter/Busse, Gedanklich im Jahre 1850. 50 Reus-Smit, Struggles for Individual Rights. 51 Go, From Empire to Globalism in Early US Sociology.

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gehaltenes Fundament ihrer Theoriebildung. Auch die spätere Hinwendung zu Internationalen Organisationen und globalen Normen änderte hieran nur wenig, denn diese Organisationen und Normen werden oft aus eurozentrischer Perspektive interpretiert und gerade nicht mit Blick auf ihren Zusammenhang mit dem kolonialen Zeitalter und einem fortbestehenden informellen Imperialismus im Sinne einer indirekten Dominanz westlicher Staaten in der internationalen Politik. Jedenfalls war und ist in zentralen Theorien der IB (aber auch der Soziologie) kein Platz für Imperien, weder als empirisches Forscnungsobjekt, noch als zentraler Baustein der Theoriebildung. Dies ist zu Teilen auch der Konfusion geschuldet, Imperien entweder zu spezifisch als formale Imperien zu verstehen, die mit der Dekolonialsierung in der Tat als handelnde Akteure verschwunden sind oder den Begriff zu amorph zu halten, wie etwa bei Hardt/Negris oder Stranges beinahe unsichtbar und entpersonalisiert wirkenden neo-liberalen Kräften eines zentrumslosen globalen Kapitalismus.52 Die Konfusion rührt aber auch sicherlich daher, dass sowohl die USA (etwa während der Suez-Krise 1956) und die UdSSR in zahlreichen geopolitischen Arenen des Kalten Krieges sich mit Blick auf politische Geländegewinne gerade in der damals so genannten „Dritten Welt“ als antiimperiale Unterstützer inszenierten, während doch freilich beide während des gesamten Kalten Krieges de facto imperiale Politik betrieben, von Mittel- und Lateinamerika, Vietnam bis in die ČSSR und Afghanistan.53 Entscheidend für ein angemessenes Verständnis der fortbestehenden empirischen und theoretischen Relevanz des Imperiumbegriffs ist also der Wandel der Form von Imperien, hin zu informellen Imperien beziehungsweise einer „nonterritorial form of empire“.54 Dies sollte aber den Blick nicht allein auf die USA und den Westen lenken, wenngleich es insbesondere westliche Staaten sind, die auf globaler Ebene in counterinsurgency Einsätzen sich in imperialen Beziehungsgeflechten, Gewaltpraktiken aber auch dem Versuch der Durchsetzug tieferliegender Ideen des Sozialen, die, wie Patricia Owens aufzeigt oft imperial grundiert sind, nicht nur in Afghanistan weiter verstricken.55 In vielen so genannten Post-Konfliktgesellschaften zeigt sich mit Blick auf internationale Interventionspraktiken, dass auch „seemingly benign concepts and ideas are in fact imperialistic

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Hardt/Negri, Empire; Strange, The Retreat of the State. Steinmetz, Return to Empire, S. 353-354. Ebd., S. 340. Vgl. Go, Imperial Episteme and Economy of Force.

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and violent“.56 Séverine Autesserre hat dies mit Blick auf die kulturelle Deutung von „ethno-nationalen“ Konflikten im Globalen Süden durch internationals (Diplomaten, U.N.-Personal, Entwicklungshelfer, security professionals, etc.) aufgezeigt.57 Konflikte, wie in Kongo, werden von internationals häufig als Ergebnis lokaler/regionaler Dynamiken und als Resultat einer spezifischen vor-Ort-Kultur gedeutet und - der Begriff „ethno-nationale“ Konflikte deutet dies an - nicht mit Blick auf die Frage, inwieweit globale Bezüge Antriebsfaktor sind. In der Friedens- und Konfliktforschung ist es vor allem die critical peace-building Literatur, die auf solche tiefer liegenden Interpretationsmuster verweist, etwa mit Blick auf den liberal peace consensus in der internationalen Gemeinschaft.58 Dies soll, das sei hier wiederholt, nicht bedeuten, dass nun im Umkehrschluss Konflikte im Globalen Süden nur als Ergebnis globaler, bisweilen auch imperialer Bezüge verstanden werden sollten. Wohl aber, dass ein empirisches und vor allem theoretisches Ausblenden von Imperialismus (und ökonomischen, kulturellen und politischen Verflechtungen in der Globalen Moderne allgemein gesprochen) als Teil der oben angesprochenenen „complex, overdetermined totality“59 von Gewaltkonflikten im Globalen Süden kaum erkenntnissteigernd ist. Gegenwärtige Formen des informellen Imperialismus sollten aber nicht als eine vollkommen neue Strukturform verstanden werden, die auf den Ruinen des Kolonialismus aufbaut. Hybride Mischformen zwischen formalen und informellen Praktiken des Imperialismus haben eine lange Historie, die in die frühe Neuzeit und das lange 19. Jarhhundert zurückreichen. Portugal, die Niederlande, Venedig und Genua praktizierten sie seit langer Zeit in Übersee beziehungsweise im Mittelmeerraum. Im 19. Jahrhundert waren es dann Großbritannien und später auch die USA, die gegenüber China, wie das Beispiel der open door policy zeigt, einen informellen Imperialismus der direkten Kolonisierung vorzogen. Auch die deutsche Politik gegenüber Mittel- und Osteuropa von den 1870er bis in die 1930er Jahre folgte diesem Muster. Im Sinne begrifflicher Klarheit sollte trotz dieser hybriden Formen Kolonialismus und informeller Imperialismus nicht gleichgesetzt werden, wie dies Apologenten und Kritiker imperialer Praktiken bisweilen tun, denn die handelnden Akteure sind sich des Unterschiedes wohl bewusst. Wie Steinmetz aufzeigt, „the United States

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Ebd., S. 201. Autesserre, Hobbes and the Congo. Richmond, The Transformation of Peace. Steinmetz, Sociological Theory and Research on Empire, S. 4.

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has long perceived greater advantages in informal and indirect imperialisms as opposed to direct colonialism“.60 Aus ökonomischer, aber auch sicherheitspolitischer Sicht, sowie mit Blick auf die Sicherung der Machtstellung im internationalen System ist ein informeller Imperialismus oft „effektiver“, seine Auswirkungen in den Interventionsgesellschaften (Gewaltkonflikte) und den Heimatländern (etwa mit Blick auf die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten im Zentrum) aber keinesfalls zu vernachlässigen.61 Informelle imperiale Praktiken sind, so lässt sich abschließend festhalten, keineswegs nur mit einer globalen sicherheitspolitischen Präsenz, wie sie die USA mit ihrem globalen Netz von Militärbasen etabliert haben, gleichzusetzen. Sie können sich auch politisch und wirtschaftlich zeigen, etwa hinsichtlich des Exports von governance-Praktiken und der Etablierung ungleicher Handelsbeziehungen, wie sie die EU mit ehemaligen Kolonialstaaten (den AKP-Staaten) oder der europäischen Nachbarschaft vollzieht. Die Konkurrenz mit anderen imperialen Mächten entsteht dann beinahe automatisch, wie etwa für die EU im Kontext der Östlichen Partnerschaft mit Russland. Die zeigt zum einen, dass die schiere Wirtschaftsmacht bei entsprechender politischer Handlungsfähigkeit, wie sie die EU durchaus hat, zur Wahrnehmung als imperiale Macht führen kann – die durchaus für Staaten in der Peripherie attraktiv sein kann, vor allem für solche, die der EU beitreten wollen oder sich zumindest eine noch engere Verflechtung vorstellen können. Die Autonomie kleiner Staaten beziehungsweise solcher, die keine imperiale Stellung haben, sollte dabei aber auf keinen Fall unterschätzt werden. Nicht nur Jugoslawiens recht erfolgreicher Versuch unter Tito seit den 1960er Jahren, einen Dritten Weg zwischen den USA und der UdSSR einzuschlagen verweist hierauf, sondern auch das Handlungspotential, dass Staaten im Globalen Süden gerade aufgrund des Konkurrenzverhältnisses zwischen verschiedenen imperialen Mächten haben können. Die relative Autonomie arabischer Staaten während des Kalten Krieges ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass es eine „diffusion of practices and identities from the imperial core to the dominated peripheries and back in the opposite direction“ gibt.62 Die Handlungsoption nicht-imperialer Staaten zeigen sich freilich auch in der Stabilisierung autoritärer Herrschaft, die sich nicht zuletzt aus einer strategischen Ausrichtung an globalen oder regionalen wirtschaftlichen und politischen Strukturen, inklusive der Beziehung zu imperialen Staaten ergibt, wie etwa

60 Ders., Return ro Empire, S. 348. 61 Vgl. ebd., S. 358-360. 62 Ebd. S. 340.

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die Beispiele Saudi-Arabiens (mit Blick auf die USA), Weißrußlands (mit Blick auf Russland) oder Staaten in Nordafrika (mit Blick auf die EU) aufzeigen. V. Schlussbetrachtung Im vorliegenden Beitrag habe ich einige zentrale Forschungsperspektiven zu Imperien (und Kolonialismus) vorgestellt, die insbesondere in der Historischen Soziologie seit einiger Zeit (wieder) intensiv diskutiert werden, in den IB aber bisher nur wenig rezipiert wurden. Dies ist ein Manko. Denn einerseits zeigen diese Debatten auf einer theoretischen Ebene die Bedeutung eines angemessen komplexen Verständnisses von Imperien, Metropolstaat und Kolonialstaat bzw. postkolonialem Staat sowie der Bedeutung dieser Akteure für die globale Moderne allgemein gesprochen und das internationale politische System im Speziellen auf. Und andererseits zeigen die empirischen Beobachtungen des vorliegenden Beitrags, dass Imperien nicht nur etwas für connaisseurs historischer Fragen sind, sondern auch für an gegenwärtiger internationaler Politik interessierte Forschende relevant sind – und dies auch ohne Rückgriff auf die oftmals sehr politisierten Überlegungen des Postkolonialismus. Aber auch ohne postkolonialen Ansatz ist das Ausblenden des imperialen/kolonialen Zeitalters in den IB gerade deswegen auch normativ fragwürdig – jedoch auch für eine Amnesie bezeichnend – weil der grenzenlose Gewinn, auf den auch das Zitat eingangs dieses Textes abhebt, genau jener Weltgegend zu Gute kam, auf die sich die Kritik des Eurozentrismus bezieht. Mit anderen Worten: ohne eine wesentlich stärkere theoretische und empirische Berücksichtigung von Imperien, Kolonialismus und postkolonialen Strukturen wird die IB die viel beschworene Krise ihrer Theoriebildung nicht angehen können. Nicht nur auf Kabakon gilt freilich, dass diese empirisch-theoretische Integration des Imperialismusbegriffs in den Sozialwissenschaften umso besser gelingt, je mehr sie den unterschiedlichen Subjektivitäten der an imperialen oder kolonialen Strukturen beteiligten Akteure und deren unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven gerecht wird. Nicht die Perspektive der Metropole (Eurozentrismus) ist entscheidend, aber auch nicht nur die der Peripherie (oder der Subalternen). In dieser Verbindung der Forschung zu Imperien und Kolonien beziehungsweise dem Postkolonialem einerseits und einer multiperspektivischen Theorie der Globalen Moderne andererseits kann nicht nur die IB daher aus meiner Sicht noch viel Gewinn ziehen. 274

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