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German Pages [116] Year 2022
Nr. 10 / Herbst 2022
Aufwärts
jacobin.de
Zwischen Imperien
Sanktionen als Waffe Putins schrecklicher Überfall auf die Ukraine war eine Zäsur – auch für die Wirtschaftspolitik. Der Westen antwortete mit Sanktionen, die es in dieser Härte noch nicht gab. Gleichzeitig rächten sich politische Fehler der Vergangenheit: die Abhängigkeit von russischer Energie, der deutsche Investitionsstau und das Geldwäsche-Paradies im deutschen Immobiliensektor. Die Ampel-Koalition hat alteingesessene Prinzipien verworfen. Robert Habeck kauft Gas aus Katar und Christian Lindner macht Rekordschulden. Zugleich öffneten die Finanzsanktionen ein Fenster in die Funktionsweise des Geldsystems. Lassen sich aus dem neuen Wirtschaftskrieg am Ende sogar Lehren für eine fortschrittlichere Finanz- und Industriepolitik in Friedenszeiten ziehen? Ein Buch für alle, die die komplizierten Sanktionen und die Rolle von Zentralbanken und Energieriesen verstehen wollen.
Das neue Buch von »Deutschlands spannendstem Nachwuchs-Ökonom« (Berliner Zeitung)
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Ole Rauch
Das I-Wort
Editorial
»
Ich möchte, dass Russland ein Teil von Westeuropa wird«, sagt ein russischer Politiker, »es ist unser Schicksal.« Das Jahr ist 2000, der Politiker heißt Wladimir Putin. Gut zwanzig Jahre später wirft er der nato »imperiale Absichten« vor, um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Ein deutscher Politiker gibt den Vorwurf zurück. Russland gehe es darum, »ein neues Imperium zu errichten«. Drei Jahrzehnte zuvor hatte selbiger Politiker, der stellvertretende Juso-Vorsitzende Olaf Scholz, noch betont, »dass die Ursache der Aufrüstung in der aggressiv-imperialistischen nato-Strategie zu suchen ist«. Der Imperialismus ist zurück aus der Mottenkiste totgeglaubter Wörter. Staatschefs schmeißen mit dem Begriff um sich wie einst 68er und aufmüpfige Jungsozialisten. Doch: Stand er einst für eine scharfe Analyse kapitalistischer Staatenkonkurrenz zu Lasten der Schwächsten, wird er heute zur Lagerbildungs- und Legitimationsfloskel verstümmelt. Er attestiert der Gegenseite ein so aggressives und irrationales Expansionsstreben, dass militärische Gegengewalt, Eskalation und präventive Aufrüstung als legitime, gar unverzichtbare Mittel erscheinen. Wie vor ihm die »westliche Zivilisation« oder »der Schutz der Menschenrechte«, wird der »Imperialismus« in den Händen von Kriegsparteien zum stumpfen Kampfbegriff. Verdeckt wird so, dass es durchaus sinnvoll ist, die gegenwärtige geopolitische Krise als fatalen Ringkampf zwischen Imperien zu verstehen. Als eine Auseinandersetzung nicht zwischen ideologischen Systemalternativen, sondern den opportunistischen Machtpolitikern eines liberalen und eines illiberalen kapitalistischen Blocks. Eine Auseinandersetzung, bei der fast alle verlieren. Alle bis auf jene, die hüben und drüben am Krieg verdienen, während Millionen fliehen, junge Menschen zum Sterben an die Front geschickt werden und der Bevölkerung eingebläut wird, den Gürtel enger zu schnallen. Diese Ausgabe lässt die moralistisch-manichäische Weltsicht hinter sich, die derzeit durch die Öffentlichkeit peitscht. Statt selbstversichernder Teilung in Gut und Böse liefert sie eine kühle Analyse dieser Konflikte, blickt aber auch mit Empathie auf die vielen Menschen, die der Krieg zu Opfern macht. Wahrheit und Solidarität haben zwischen Imperien einen schweren Stand.
Be water, my friend
Lieber eine schmutzige Unterhose als eine saubere Uniform @redathenry sorry, aber Jacobin ist einfach nur sozialdemokratischer Dreck
@JohnMawrites Einer der Stärken bzw. Schwächen der deutschen Jacobin Seite ist, dass sie den Themen die unter Linken kontrovers sind, so weit wie möglich ausweichen
Diese Ausgabe widmen wir
Wololo @CocosCorpse In meinem bald erscheinenden Jacobin-Artikel werde ich erläutern, warum die Einheitensounds aus dem bekannten Computerspiel Warcraft 3 mich nachhaltig radikalisiert haben.
The Internet Speaks Weil Kommunikation das Herz einer guten Beziehung ist
@officiallfabsi jacobin bei alles was Außenpolitik betrifft total lost
Innerer FDP Parteitag @livefromcccp_ das neoliberal dies neoliberal dort neolierberal hier neoliberal
»Bastionen sind entweder voll oder hohl.« (Friedrich Engels)
Prost! @RobertBode14 Der Arbeiter kommt Freitag Zuhause, nimmt sich erschöpft ein Bier und hört sich als erste natürlich G. A. Cohen an
@s_nikc Jacobin Magazin, die einzige noch wirklich linke Bastion gegen den Genderwahnsinn
Ein Gehirn wäscht das andere @NTRinders Wenn man bei Jacobin arbeitet muss man nicht selber recherchieren sondern einfach die etablierten Medien konsumieren und schlimm finden
liefert sozialistische Perspektiven auf Politik, Wirtschaft & Kultur. 2010 in New York geboren, erscheint JACOBIN auf Englisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch und seit Mai 2020 auch auf Deutsch.
Citoyens
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Creative Director Managing Designer Art Directors Cover Illustration Photography Illustrators
Ole Rauch Ines Schwerdtner, Loren Balhorn Astrid Zimmermann Thomas Zimmermann Alexander Brentler, Linus Westheuser Franziska Heinisch, Lukas Scholle Matthias Ubl, Pujan Karambeigi, Ilker Eğilmez, Fabian Vugrin Nils Schniederjann Jonas Junack Adelaide Ivánova
Andreas Faust Andy King Julius Klaus, Marie Schwab, Markus Stumpf, Zane Zlemeša Julia Plath Robin Hinsch Marie Schwab, Oleg Buyevsky, Yves Haltner, Bartholomaus Zientek, Julius Klaus, Andy King, Piotr Dudek, Zane Zlemeša, Steffen Ullmann
contributors
Vivek Chibber, Emran Feroz, Wolodymyr Ischtschenko, Isabella Weber, Fabio De Masi, Ilja Matweew, Ilja Budraitskis, Simin Jawabreh, Astrid Zimmermann, Georgi Derluguian, David Broder, Ines Schwerdtner, Günter Regneri, Julia Damphouse, Jonas Junack, Alexander Brentler, Hans Thie, Robert Maisey, Laura Bartkowiak, Brian J. Sullivan, Andreas Faust, Lukas Scholle, Ole Rauch
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Weltsystemfehler Im JACOBIN-Interview spricht Georgi Derluguian über die vier bis acht Weltkriege der Menschheitsgeschichte.
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Wenn nicht mit Banken, dann mit Panzern Russlands politische Elite hat eine eigene Art von Imperialismus entwickelt, argumentieren Ilja Matweew und Ilja Budraitskis.
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Wer kann diesen Krieg wollen? Wolodymyr Ischtschenko analysiert die politischen Klassenkonflikte hinter dem Krieg.
A jacobin.de
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Die permanente Schocktherapie Isabella Weber und Fabio De Masi diskutieren explodierende Preise und die staatlichen Gegenmaßnahmen, die die Ampel nicht einsetzen will.
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Flucht durchs Nadelöhr Hunderttausende flohen aus der Ukraine nach Deutschland – und trafen auf eine fragile Infrastruktur. Julia Damphouse war mittendrin.
#10 Zwischen Imperien Am Pranger 6 Männer, die auf Kriege starren Astrid Zimmermann Zwischen Imperien 8 Weltsystemfehler Georgi Derluguian 16 Imperial sind immer die anderen Simin Jawabreh 20 Mit Volldampf in die Zeitenwende Günter Regneri 22 Wenn nicht mit Banken, dann mit Panzern Ilja Matweew und Ilja Budraitskis 28 Wer kann diesen Krieg wollen? Wolodymyr Ischtschenko 52 Codes des Krieges Jonas Junack
54 »Kapitalismus und Imperialismus sind nicht dasselbe« Vivek Chibber 72 Wie man einen Coup überlebt Alexander Brentler 80 Flucht durchs Nadelöhr Julia Damphouse 86 Von Kabul nach Kiew Emran Feroz 92 Die wahre Dritte Welt Robert Maisey Drängende Fragen 46 Die permanente Schocktherapie Isabella Weber und Fabio De Masi 66 Bereit für den Frieden Ines Schwerdtner
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Von Kabul nach Kiew Der »Krieg gegen den Terror« verfolgt uns bis heute, meint Emran Feroz.
Kulturpalast 102 Zocken für das Pentagon Laura Bartkowiak und Brian J. Sullivan 108 Trajans Säulen, Hitlers Fetisch Andreas Faust Kleine Freuden 2 The Internet Speaks 44 Bonusmaterial 64 Von den Römern lernen Hans Thie 100 Shoutouts 111 Hummer & Sichel Andy King und Marie Schwab
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Männer, die auf Kriege starren In der Ukraine herrscht Krieg – für deutsche Kulturschaffende ein Anlass, ihre heroische Seite zu entdecken. Lebens eben nur mit Worten zu kämpfen gelernt, nicht aber mit »Panzerfäusten«. Dass Zurückhaltung und Deliberation womöglich nicht auf FeigSolange ich mich erinnern kann, galten Helden- heit, sondern auf Vernunft gründen, kommt Sofafiguren als Relikt aus der politischen Bellizisten wie Strauß nicht in den Sinn. Mottenkiste. Die Nachkriegsära Politische Argumente sind seiwar postheroisch. Wer Kriegerne Sache nicht. Ihm geht es vor Dahinter allem ums Gefühl. Angesichts kult und nationales Heldentum des Krieges siege die Empaglorifizierte, war suspekt und steckt eine antigeschichtsvergessen, da war thie über die »kalkulierende moderne Sehnsucht man sich größtenteils einig. Rationalität«, nun weiche eine nach intensiven Zumindest bis zu Russlands »erinnerungspolitisch begrünGrenzerfahrungen – Angriff auf die Ukraine. Der dete Skepsis« den Affekten lag erst Tage zurück, da ätzte von »Verteidigungspflicht und endlich raus aus der Romanautor und TheaterkritiBündnistreue«. Wer von solcher Komfortzone! ker Simon Strauß in unerträgliKampfeslust übermannt wird, verklärt die Lieferung schwerer Waffen chem Pathos gegen den »Moralforteben schnell mal zu einem humanitären schritt« der letzten Jahre. Die gesamte Nachwendegeneration sei zu verweichlichten Hilfsprojekt, zu dem uns die Solidarität verSchneeflöckchen verkümmert, denen ihre Wehr- pflichtet. Diese Bagatellisierung des Krieges haftigkeit abhanden gekommen sei. scheint vor allem Ausdruck einer anti-moderDas zivilisatorische Ziel, politische Konflik- nen Sehnsucht nach einer intensiven Grenzerte nicht mit Waffen zu lösen, beschreibt Strauß fahrung zu sein – endlich raus aus der Komfortals traurige Verfallserscheinung. Der schlappe zone. Man hat den Eindruck, die Zeilen eines Haufen der Nachwendekinder habe zeit seines vom Leben gelangweilten Biedermanns zu lesen, Text von Astrid Zimmermann Illustration von Marie Schwab
für den der Waffengang eine Projektionsfläche ist, um endlich mal wieder was zu fühlen. Aber nicht alle donnern so brachial los wie Strauß. Es gibt auch zarte, nachdenkliche Bellizisten. Einer davon ist der Schriftsteller Ralf Bönt, der uns allen mitteilen möchte: »Ich würde den Wehrdienst heute nicht mehr verweigern«. Bönt erzählt ganz offen, wie er sich in seiner Männlichkeit gekränkt gefühlt habe, als er wegen Asthma ausgemustert wurde, bevor er zu seiner Wehrpflicht-Apologie ansetzt. Als Pazifist habe er sich lange auf der richtigen Seite gewähnt, aber mit der Zeit hätte er anerkennen müssen, dass eben nicht alles schlecht sei am Krieg. So habe man bei der Militärintervention in Afghanistan schließlich vor allem für die Rechte von Frauen geschossen und bombardiert – wie gut das funktioniert hat, wissen wir. Wenn Bönt über den Krieg schreibt, kennt er keine politischen Koordinaten mehr. Die Befreiung des kz Buchenwald und der Kampf gegen die Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg sind ihm willkommene historische Referenzen, um zu erklären, weshalb er jetzt so gerne »bewaffnet hinter einem Sandsack« läge. Wer Ralf Bönt liest, könnte meinen, der Krieg sei weder brutal noch qualvoll, sondern ein zeitgeistiges Action-Event voll jugendlicher Dynamik: »Wo früher Befehl von oben und Disziplin von unten war, ist heute Kreativität. Ohne detailliert festgelegten Befehl brettern Ukrainer auf E-Bikes zu zweit durch den Wald, mit der Panzerfaust auf der Schulter.« Der schwülstig-theatralische Tonfall, in dem all das vorgetragen wird, ist an sich schon schwer verdaulich. Es ist vor allen Dingen aber auch sehr wohlfeil, wenn Intellektuelle vom Schreibtisch aus den Griff zu den Waffen glorifizieren – in dem Wissen, dass
sie selbst nie gezwungen sein werden, den Abzug zu drücken. Die »Zeitenwende« ist für Leute wie Strauß und Bönt nicht mehr als ein »Vibe Shift«: Endlich darf man wieder unbefangen die eigene männliche Wehrhaftigkeit zelebrieren und von einem Bundeswehr-Revival träumen, nachdem einem die Anti-Militaristen mit ihrer Nachkriegsmentalität die Lust an allem Soldatischen madig gemacht haben. Postheroismus wird von Ersatzheroismus verdrängt. Es könnte einem im Grunde völlig egal sein, wenn sich ein paar Feuilletonisten in den Schützengraben sehnen. Aber diese Kriegstümelei erzeugt eine Stimmung, in der die immense militärische Hochrüstung, die wir gerade erleben, immer angemessener erscheint. Das Perfide an der naiven Kriegsromantik von Leuten wie Strauß und Bönt ist, dass die Realität des Krieges in ihren Texten keine Darstellung findet: Elend, Trauma, Zerstörung. Das haben Heldengeschichten nunmal so an sich. Sie erzählen lieber vom einsamen Kämpfer, der mit seinem Mut die Lage rettet. Leuten wie Bönt und Strauß, so scheint es, geht es nicht um Menschenleben oder um Geopolitik. Im Grunde wollen sie einfach nur mal euphorisch in den Kampf ziehen. Dass sie sich dazu in den Bombenhagel hineinimaginieren müssen, zeigt am Ende auch, wie sinnentleert ihre Politik ist: Weder für den piefigen Konservatismus eines Simon Strauß noch für den Wohlfühl-Linksliberalismus eines Ralf Bönt gibt es noch irgendetwas, wofür es sich so richtig zu kämpfen lohnt.
Astrid Zimmermann ist Managing Editor von JACOBIN .
Weltsystemfehler
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Weltsystemfehler Der Ukrainekrieg erschüttert die globale Ordnung, die sich nach dem Kalten Krieg etabliert hat. Wie es soweit kommen konnte und wohin es in Zukunft gehen könnte, erklärt der Weltsystemtheoretiker Georgi Derlugian. Interview von David Broder Übersetzung von Thomas Zimmermann Illustration von Oleg Buyevsky
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Georgi Derluguian
Einige Wochen nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine ließ sich der milliardenschwere Investor und Buhmann der europäischen Rechten, George Soros, zu einem Meinungsbeitrag hinreißen. Darin schrieb er, von der neuen autoritären Allianz aus Russland und China ginge die Gefahr einer »globalen Katastrophe« aus, die »unsere Zivilisation zerstören« könnte, wenn Wladimir Putin und Xi Jinping nicht bald gestürzt würden. Bald darauf sprach auch Wolodymyr Selenskyj in einem Interview davon, dass der Krieg in seinem Land zu einem »Dritten Weltkrieg« eskalieren könnte. Als hätte sie sich herausgefordert gefühlt, rief dann Olga Skabejewa, eine der bekanntesten russischen TV-Propagandistinnen, ihren Präsidenten offen dazu auf, die »militärische Spezialoperation« in der Ukraine zu einem globalen Konflikt mit dem Westen auszuweiten. Seit dem Ende der Blockkonfrontation hat es etliche Kriegsausbrüche gegeben – aber keiner hat so wie Russlands jüngster Angriff Ängste vor einem drohenden globalen Konflikt geschürt. Erleben wir gerade den Beginn eines neuen Kalten Krieges – oder sogar des Dritten Weltkriegs? JACOBIN hat mit Georgi Derluguian, einem führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Weltsystemtheorie, über historische Parallelen und die geopolitischen Auswirkungen dieses Krieges gesprochen.
Der Krieg in der Ukraine scheint vieles mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gemein zu haben. Historiker wie Dominic Lieven und Timothy Snyder behaupten, dass jene Kriege ebenfalls um die Ukraine geführt wurden. Inwieweit kann bei dem aktuellen Konflikt von einem »Weltkrieg« gesprochen werden? Wir sollten uns zunächst klar machen, dass der Ausdruck »Weltkrieg« erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts gebräuchlich wurde – als der Erste Weltkrieg geführt wurde, war er noch nicht als solcher bekannt. Aber »imperialistisch« war bereits ein analytischer Begriff. Der Kapitalismus erlaubte die Existenz mehrerer konkurrierender Großmächte von ungefähr gleicher Größe, was einen Weltkrieg überhaupt erst möglich machte. In der Antike hätte es zwischen dem Römischen Reich und den es umgebenden Königreichen keinen »Weltkrieg« geben können. Der Kapitalismus wurde im 16. Jahrhundert in Westeuropa nur deshalb möglich, weil er sich dort militärisch gegen die bisherigen Formen der imperialen Herrschaft behaupten konnte. Bereits in der Bronzezeit, im 21. Jahrhundert
vor Christus, machten die Kaufleute umfangreiche Geschäfte, betrieben Kredit- und Karawanenhandel. Und es gab alle paar hundert Jahre einen Versuch, ein Monopol legitimer Gewalt zu errichten, wie das Römische Reich oder die Han-Dynastie in China. Die Dinge änderten sich erst um 1500 mit der Verbreitung von Feuerwaffen. Die katholisch-protestantischen Kriege des folgenden Jahrhunderts wurden in Europa und auf den Weltmeeren ausgetragen, von Japan und Indonesien bis Brasilien. Das war bereits ein echter »Weltkrieg« in dem Sinne, dass alle bedeutenden Mächte daran beteiligt waren. Der zweite »Weltkrieg« war dann die Serie britisch-französischer Kriege im 18. Jahrhundert. Was diese Kriege auslöste, war immer, dass jemand ein Imperium zu errichten versuchte, das den Kapitalismus verschlungen hätte. Kapitalisten fürchten eine Welt, in der es nur ein einziges Imperium gibt, denn sie wissen, dass sie dann wehrlos sind. Dieser Krieg fand nur noch zwischen dem französischen und dem britischen Kapital statt, weil sich das einstige kapitalistische Pionierland Holland trotz all seiner frühen Erfolge als zu klein erwiesen
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hatte. Es war eine typische Situation, in der sich eine untergehende Hegemonialmacht an eine aufstrebende dranhängte: Holland an Großbritannien, wie später Großbritannien an die usa. Napoleons Krieg war das Ergebnis von Revolutionen: der Amerikanischen Revolution, der Irischen Revolution und der Französischen Revolution selbst. Frankreich verbreitete dann die Revolution rund um den Globus, wogegen sich Großbritannien wehrte. Es ist immer eine kapitalistische Koalition im Entstehen begriffen. In der ersten Phase ist der Krieg nicht sehr heftig, es handelt sich eher um Diplomatie mit anderen Mitteln. Aber in der zweiten Phase steht mehr auf dem Spiel und auf der Verliererseite tauchen Führer auf wie Philipp II, Napoleon und natürlich Hitler. Ich sage nicht, dass Putin heute dasselbe ist wie Hitler oder Napoleon, aber sie alle spielen das gleiche Spiel: Sie erheben ihr Land von den Knien und starten einen gewagten Angriff. Was ich mit diesem Ritt durch die Geschichte einfach nur sagen will: Der aktuelle Konflikt ist nicht der Dritte Weltkrieg, sondern wenn, dann der vierte oder vielleicht sogar der achte.
Du sagst, dass sich untergehende Mächte oft an aufstrebende dranhängen. Inwieweit trifft das auch auf die ehemalige Sowjet union nach 1989 zu? Wollte man sich dem von den USA angeführten Westen anschließen, oder eher etwas von ihm übernehmen? Nach 1945 hatten die usa große Angst, dass die Lage in Europa in die 1920er zurückfallen und dann wieder in die 1930er oder Schlimmeres ausarten könnte. Aber sie hatten nicht nur Angst, sondern auch enorme finanzielle und or-
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ganisatorische Kapazitäten, die aus Roosevelts New Deal und aus dem Krieg selbst stammten. Und sie wurden dafür genutzt, die Europäische Union zu schaffen – einen Club der besiegten Imperien. Nach den Liberalisierungsprozessen in Spanien und Portugal wurden für so gut wie alle Länder Wege gefunden, der eu beizutreten. Das war in den 1970er Jahren, als die Ostpolitik in aller Munde war. Sogar die Sowjetunion, die inzwischen ganz anders aussah als noch unter Stalin, interessierte sich für Europa. Deshalb waren die Ereignisse in Ungarn 1956 und vor allem in der Tschechoslowakei 1968 und in Polen 1980/81 für die sowjetische Führung so beschämend. Die ältere Generation war zutiefst beunruhigt, wollte aber trotzdem eine Annäherung an den Westen. Aufgrund der autoritären vertikalen Struktur konnte man jedoch keine abrupten Entscheidungen treffen: Wer im Politbüro eine Reform vorgeschlagen hätte, wäre als Ketzer denunziert worden. Daher meinte man, es sei das beste Vorgehen, so zu tun, als wäre man Stalin, und dabei in Wirklichkeit nichts zu tun. Dann kam Michail Gorbatschow und sagte im Grunde: »Zur Hölle mit dieser Supermacht-Armee. Zur Hölle mit Angola und Nicaragua. Wir werden ein Teil von Europa.« Die Frage war nur, welchen Platz die Sowjetunion einnehmen und welche Art Kapitalismus sie annehmen würde: wahrscheinlich einen ziemlich bürokratisch-oligarchischen Kapitalismus, ähnlich dem deutschen, skandinavischen, japa nischen oder italienischen. In den 1980er Jahren war sie ganz nah dran, ein Teil Europas zu werden – viel näher, als wir heute zugeben, denn letztendlich ist sie gescheitert.
»Das ist nicht der Dritte Weltkrieg, sondern wenn, dann der vierte oder vielleicht sogar der achte.«
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Georgi Derluguian
Die usa sorgten dafür, dass die Perestroika nicht die nötigen Hilfen erhielt. Bei Spaniens Übergang 1975/76, nach Francos Tod, sah das ganz anders aus. Damals reisten aus Deutschland Vertreter aller großen Parteien, Gewerkschaften und Unternehmen nach Madrid und Barcelona, um Kontakte zu knüpfen. Dann kauften alle deutschen Urlauber Immobilien in Südspanien und in Portugal. Es ist verwunderlich, dass alles so friedlich ablief. Im Baskenland und in Katalonien hätte es Konflikte geben können, aber es gab kaum einen Mucks – denn allen war klar, dass sie der eu beitreten würden. Genauso hörte man nach 1989 nichts mehr davon, dass Polen Vilnius von Litauen zurückgewollt hätte. Es gab eine Abmachung mit der eu, dass die Länder ihre eigenen nationalistischen Radikalen im Zaum halten sollten. Das Problem ist: Wo hört die eu auf? Es war einfach, ein paar kleine Länder einzugliedern. Die Slowakei zum Beispiel: klein, handhabbar, ein bisschen verrückt, die politische Klasse größtenteils korrupt, aber man konnte seine Maschinen zur weiteren Verarbeitung dorthin schicken. Auch Bulgarien schaffte es, durch das sich schließende Tor durchzuschlüpfen. Aber da hörte es auf.
Die Ukraine dagegen: zu groß, zu gebildet, zu alt. Wem hätte man 1989 eine Wissensökonomie prognostiziert – der Ukraine oder China? Der Ukraine natürlich, die Raketen produzierte, eine Atommacht war und die am weitesten entwickelte Sowjetrepublik. Deshalb war sie in der eu nicht willkommen: Ihre Arbeitskräfte waren nicht billig genug. Ganz zu schweigen von den schmutzigen Kohleminen, Eisenhütten und Tschernobyl. Durch die Integration immer weiterer kleiner Länder im Osten wurden die eu und die nato stark verwässert und ohne die usa ziemlich instabil. Es waren die usa, die den Jugoslawienkrieg beenden mussten. Sie zeigten den Europäern, was für Schwächlinge sie waren. Starke Figuren wie François Mitterrand gab es da nicht mehr. Das ist genau die Erfahrung, die Putin an die Macht brachte: Warum sollten wir vor diesen Typen kuschen? Die russischen Oligarchen sahen, wie billig es war, ein englisches Fußballteam oder sogar einen deutschen Bundeskanzler zu kaufen; wie bequem, in Privatjets durch Europa zu reisen; und wie einfach, ihren Ruf aufzupolieren, indem sie Business Schools eröffneten. Sie entdeckten, dass es in Europa viele
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Anwälte und gewiefte Buchhalter gab, die bereit waren, ihr Geld zu waschen – genau wie das reicher Araber, Inder und Ostasiaten. Ab dem Jahr 2000 sehen wir jene Staaten aufsteigen, die seit dem 16. Jahrhundert besiegt und zumindest halbkolonialisiert wurden: die Türkei, China, Indien, Pakistan – und wenn es die Sanktionen nicht gäbe, wäre auch der Iran dabei. Die herrschenden Eliten dieser Länder lassen die Erinnerung an vergangene Größe wieder aufleben und fragen, wer sie in ihrer Größe gestört hat.
Wir haben auf der einen Seite mit Russland eine besiegte Macht, die eine stärkere herausfordert, aber auf der anderen Seite mit den USA auch ein geschlagenes Imperium, das mit einer Krise der westlichen Hegemonie zu kämpfen hat. Der Soziologe Wolodymyr Artjuch hat den Krieg in der Ukraine als einen »Verhandlungsmechanismus« bezeichnet. Putin würde keinen großen zivilisatorischen Plan verfolgen, wie der Ideologe Alexander Dugin ihn sich vorstellt, sondern vielmehr Russlands Position in einer sich verändernden internationalen Ordnung austesten. Was hältst Du von dieser Deutung?
»Die Menschen sehen zwei Möglichkeiten: Die eine ist ein mythologisches Bild der Sowjetunion oder des Russischen Reichs. Die andere ist eine sehr idealisierte Vorstellung der EU.«
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Ich stimme ihr zu. Und Putin ist damit nicht allein. Es gibt eine Art Internationale der nationalen asiatischen Imperialismen. In dieser Hinsicht hat sich die These von Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen bewahrheitet. Ein Kreml-Insider sagte mir einmal in den frühen 2000er Jahren halb im Scherz: Huntington ist wie Karl Marx für den kgb. Das sind kluge Leute, die Bücher über Revolutionen lesen, um sie zu verhindern. Immerhin wurde die Sowjetunion nicht durch einen Krieg zerstört, sondern durch eine Revolution, die sogenannte »Demokratisierung«. Also haben sie gelernt, dass sie alles tun müssen, um sowas zu vermeiden. Zugleich besinnen sie sich auf ihre tiefen zivilisatorischen Wurzeln. Da wird einiges fantasiert und ausgeschmückt, aber es ist nicht völlig gelogen, dass Russland ein Reich mit einer großen Kultur war. Es war lange das einzige Land, das westliche Seestreitkräfte nicht anlaufen konnten. Und wenn sie versuchten, in Russland einzumarschieren – nun, man weiß ja, wie das für Napoleon ausgegangen ist. Das ist der Unterschied zwischen Russland und China, Indien oder der Türkei. Diese wenden sich Anfang des 21. Jahrhunderts einer Art konservativem Zivilisationsaufbau zu. Wäre die Türkei in die eu aufgenommen worden, hätten wir einen ganz anderen Erdogan erlebt: korrupt, religiös konservativ, aber stark pro-europäisch. Er würde gerne bei der Unterdrückung des Islamismus im Nahen Osten helfen und zeigen, wie nützlich er der eu sein kann, solange sie ihn nicht mit Umweltauflagen und Arbeitsrechten belästigt, sodass er weiter billige Arbeitskräfte für den Bau von Bosch-Kühlschränken beisteuern kann. China sagte: »Wir wollen eure Technologie, euer Kapital, eure Verbraucher, wir geben unsere Ressourcen, unsere Arbeitskräfte, und ihr überlasst uns die Aufsicht über das Ganze.« Aber um 2008 merkten sie, dass Europa nicht so mächtig war, wie sie dachten, und sie wurden skeptischer. Und so kam es – Überraschung – zu einem Erwachen des asiatischen Imperialismus: »Wenn wir nicht durch unsere Bindung an die eu zu einer Macht der Ersten Welt werden, dann werden wir es aus eigener Kraft.« Und da die usa und Europa noch immer die Nummer eins besetzen, wäre es von Vorteil, wenn sie im Chaos versänken. Darin war Putin der Vorreiter.
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um die Welt – zumindest seine Welt – vor Revolutionen zu sichern. Aus dieser Sicht ist der Krieg in der Ukraine kein internationaler Krieg, sondern ein Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Teilen der Sowjetunion.
Welche Rolle spielt dabei, wie die Sowjetunion einst aufgebaut war?
Deshalb schauen sie alle zu ihm auf. Er hat China den Weg geebnet, auch wenn China selbst viel vorsichtiger vorgeht.
Warum teilt Putin nicht die Vorsicht seiner chinesischen Verbündeten? Viele halten Putin für verrückt. Ich würde sagen, er ist nicht verrückter als Dick Cheney und George W. Bush, als sie in den Irak einmarschierten. Es war ein sehr gewagter Plan, um die Hegemonie der usa für ein weiteres Jahrhundert zu sichern, und er war erfolgreich. Der Irak wurde zu einem ständigen us-Militärstützpunkt. Der Iran ist umzingelt. China ist umzingelt. Zuvor war die us-amerikanische Militärpräsenz auf den Pazifik beschränkt: Okinawa, Taiwan, die Philippinen, Südkorea. Jetzt ist sie auch in Kirgistan und Afghanistan stationiert. Die globale Kommunikation ist unter der Kontrolle der usa. Und als Sahnehäubchen sind sie jetzt auch noch der größte Ölproduzent. Putin agiert noch waghalsiger, weil er auch weniger Ressourcen, Technologie und Arbeitskräfte hat. Sein Vorteil liegt ausschließlich im militärischen Bereich. Daher waren die Ukraine, Belarus und in gewissem Maße auch Armenien sehr logische Ziele für seine Gegenoffensive,
Moskau war die bürokratische, militärische und ideologische Hauptstadt der Sowjetunion. Kiew war nur eine Provinzhauptstadt und wahrscheinlich sogar weniger bedeutend als Lwiw, Odessa oder Donezk. Dass sich die Ukraine nicht in eine Diktatur verwandeln ließ, liegt daran, dass sie über sehr große Provinzen verfügt, die mit ihren verschiedenen lokalen Cliquen jeweils eigene kleine Staaten bilden könnten. Die in Lwiw und Donezk ansässigen Cliquen stritten um die Kontrolle über das größte verbleibende Stück: Kiew. Das beförderte kompetitive Wahlen. Und wir hielten das fälschlich für Demokratisierung. Aber das schwächte auch die herrschenden Eliten in der Ukraine. Sie waren zersplittert. Es gab zu viele Oligarchen. In Belarus war die Lage eine andere: keine Oligarchen, keine starken Provinzen, nur ein Mann. Daher kommt es auch, dass man nie von der belarussischen Mafia hört, aber einiges von der ukrainischen Mafia. Die unmittelbare Bedrohung für Putin besteht darin, in einer zweiten Perestroika gestürzt zu werden. Was ist das schrecklichste Wort für Moskau? Maidan. Die Ukraine ist auch ein tragisches Beispiel dafür, was passiert, wenn Revolutionen immer wieder gelingen. Das Land hat drei erfolgreiche Revolutionen in dreißig Jahren erlebt. Jedes Mal hat die Bevölkerung aktiv daran teilgenommen – aber was hat es ihr gebracht? Das ist der Grund, aus dem eine sehr kleine, aber sehr laute Gruppe von antirussischen Nationalisten aufsteigen konnte: Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen das, was sie ein europäisches »normales Leben« nennen. Das heißt, sie wollen mehr Recht und Ordnung und einen Sozialstaat, anstatt dass die Macht von lokalen Eliten vereinnahmt wird. Das ist nicht nur in der Ukraine so, sondern auch in Belarus, Georgien und Armenien. Und um dahin zu kommen, sehen die Menschen zwei Möglichkeiten: Die
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eine ist ein mythologisches Bild der Sowjetunion oder des Russischen Reichs. Die andere ist eine sehr idealisierte Vorstellung der eu.
In den ersten Wochen des Krieges herrschte ein gewisser liberaler Triumphalismus. Es hieß, Europa sei zurück. Doch das scheint nun an zwei Grenzen zu stoßen: Erstens zeigen Umfragen, dass die öffentliche Unterstützung für die Ukraine in Europa rückläufig ist. Und zweitens muss für den Winter mit einer Explosion der Energiepreise gerechnet werden. In Anbetracht der Tatsache, dass in den letzten Jahren vor allem rechtsextreme Kräfte von gesellschaftlichen Turbulenzen profitieren konnten, scheint Putin gute Chancen zu haben, in der EU Chaos zu stiften. Das ist seine Hoffnung. Kürzlich sagte er: »Wir haben noch nicht einmal angefangen.« Letztes Jahr dachten viele, Putin würde nur große Töne spucken. Aber einige Leute in den britischen und us-amerikanischen Geheimdiensten, die über Putins Pläne gut informiert waren, erkannten, dass er es ernst meinte. Es war durchaus realistisch, dass es mehr als nur kleine Gefechte entlang der Grenze geben würde. Und in der Tat: Putin ging direkt aufs Ganze. Es war ein Angriff wie aus einem HollywoodFilm, mit Kampfhubschraubern, die Spezialeinheiten in die Außenbezirke von Kiew brachten. Einheiten in Zivil waren schon lange vor dem Angriff eingeschleust worden. Und man hatte ukrainische Politikerinnen und Beamte bestochen, damit sie die Seiten wechseln würden. Der Plan war, nach Kiew reinzufahren, Selenskyj auszuschalten und durch einen eigenen Mann zu ersetzen. Putins Schachspiel ist extrem zynisch. Was er von sich gibt, sind keine leeren Drohungen. Wenn man so spielt wie Putin, dann macht man nur halt, wenn man an ein Hindernis stößt. Und das geschah dann auch. Sonst hätte es wie in Tschetschenien werden können: eine lokale Marionettenregierung mit eigener Geheimpolizei und Todesschwadronen. Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow ist ein großer Erfolg für Putin – der Westen hat weder im Irak noch in Afghanistan etwas Vergleichbares zustande gebracht. Anstatt dass Europa das sowjetische Russland liberalisiert hat, könnte nun ein konserva-
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tives, christliches Russland ein schwaches Europa noch konservativer machen. Wir sehen, wie Ungarn und als nächstes vielleicht Polen und Gott weiß wer noch alles entdeckt, dass ihre konservative Ablehnung von »Homo-Propaganda« und dem Recht auf Abtreibung sehr gut mit Putins Werten zusammenpasst. Historisch standen Ungarn und Russland stets auf gegnerischen Seiten. Aber jetzt vollzieht Viktor Orbán, der einst ein Stipendium von George Soros erhielt, um im Westen zu studieren, diese unglaubliche Annäherung an Russland. Putins Maximalziel wäre natürlich Frankreich unter Le Pen oder die afd an der Macht in Deutschland.
Wie geht es jetzt weiter? Im Moment stellen sich der Westen und Russland gegenseitig Fallen. Die russische Wirtschaft ist offensichtlich sehr verwundbar. Putin hatte nicht mit einer so massiven Reaktion gerechnet. Russland stand technologisch ohnehin schon nicht besonders gut da. Jetzt ist die Frage, ob das Land alles Notwendige über die Türkei und China einführen kann. Ich erwarte nicht, dass Putin sich mit einem Friedensabkommen zufrieden geben wird, das nicht vorsieht, dass sich Europa geschlagen gibt und die Sanktionen aufhebt. In diesem Fall hätten er und die russische Elite eine Menge Geld, das sie gern in Europa ausgeben würden. Europa wäre dann ein schöner Ort zum Shoppen. Ein Ort, wo man seine Kinder auf Privatschulen schickt, damit sie Englisch lernen. Ein Ort, wo ihnen gute Manieren und Wiener Walzer beigebracht werden. Pariser Cafés, Berliner Clubs – all die Dinge, die die Kinder der russischen Elite vor dem Krieg zu genießen pflegten. In einer solchen Situation käme der Linken die Aufgabe zu, die europäischen Eliten zu zwingen, sich an ihre eigenen Versprechen, Verfassungen und Ideologien zu halten. Denn dies ist wirklich ein Krieg um die Hegemonie.
Georgi Derluguian ist Professor für Sozialforschung an der New York University Abu Dhabi. Seine jüngste deutschsprachige Veröffentlichung ist der von ihm mitherausgegebene Band Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert (Campus, 2019).
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Simin Jawabreh
IMPERIAL SIND IMMER DIE ANDEREN Neuerdings werfen sich Großmächte gegenseitig vor, imperialistisch zu sein. Ein analytischer Begriff wird zur moralischen Empörungsfloskel degradiert. Text von Simin Jawabreh Illustration von Andy King
»DAS
ist Imperialismus!« So verurteilte Olaf Scholz die russische Invasion der Ukraine auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos, dem Marktplatz der globalen Schicht der Superreichen und politischen Eliten. Boris Johnson sprach kurz nach Kriegsausbruch von einem Kampf zwischen Demokratie und Tyrannei, zwischen »Gut und Böse«. Umgekehrt bezeichnet Wladimir Putin das westliche Militärbündnis nato als »imperial«, da es Russland bedrohe. Plötzlich ist der Imperialismus überall. Scholz spricht von einem Bruch der Ordnung, weil Russland für sich in Anspruch nimmt, als Großmacht »Grenzen neu zu ziehen«, und für eine Weltordnung steht, »in der der Stärkere diktiert, was Recht ist« und »in der Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung nicht allen zustünden«. Das klingt rigoros, aber neu daran ist eigentlich wenig, denkt man an die Öl-Kriege der letzten Jahrzehnte. Höchstens, dass zum ersten Mal seit 1991 eine Großmacht ohne Segen der usa
einen Krieg anfängt – und nun eine militärische Eskalation droht, die weit über die Ukraine hinausgehen könnte. »Imperialismus« ist zu einem inflationären Kampfbegriff verkommen. Doch auch auf der Linken mangelt es an tieferer Analyse: Imperialistisch ist alles, das in großem Stil Kriege führt oder zumindest daran beteiligt ist. Dieser Kurzschluss führt aktuell entweder dazu, sich – einer Logik des geringeren Übels folgend – der nato-Position anzuschließen oder aber den russischen Angriffskrieg zu relativieren. In beiden Fällen werden die Erzählungen Herrschender übernommen. Dabei meint der Begriff mehr als das Führen von Kriegen, wie ein Blick auf die Imperialismustheorien der letzten 120 Jahre zeigt. Geschichtlich stammt das Wort vom lateinischen imperium – wer darunter eine Expansionspolitik von Großreichen versteht, hat also schon den richtigen Riecher. Doch seine Umwandlung vom einfachen Wort zur Analysekategorie hat eine verzweigte Wurzel mit marxistischen und bürgerlich-liberalen Strängen.
Imperial sind immer die anderen
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miteinander konkurrierender Nationen. Stattdessen verortet er die Ursache von Imperialismus in der Akkumulation des Kapitals, das sich bei Banken und exportierenden Unternehmen in zu wenigen Händen konzentriere. Außerdem führten steigende Rüstungsanstrengungen des Staates zu einer höheren Staatsverschuldung, an der wiederum Banken verdienen. Hierin sieht Hobson die wirtschaftliche Triebkraft imperialistischer Politik. Komplementär zu dieser ökonomischen Analyse entstand ein ethisch-moralischer Argumentationsstrang, wonach Imperialismus nicht mit liberalen Werten vereinbar sei. So stellte sich beispielsweise die American Anti-Imperialist League 1898 gegen die us-amerikanische Annexion der Philippinen. An dieser Initiative beteiligten sich viele prominente Linksliberale wie der Gewerkschaftsführer Samuel Gompers, der Schriftsteller Mark Twain oder der spätere us-Außenminister William Jennings Bryan.
Das Kapital braucht ein Außen
Selbst Liberale waren vor hundert Jahren weiter
ERST
mit der britischen Besetzung Ägyptens 1882 und der Aufteilung Afrikas unter den europäischen Mächten kommt der Begriff im anglofonen Raum in Mode. In dieser Atmosphäre schrieb der liberale Ökonom John A. Hobson 1902 sein Buch Imperialism: A Study. Wladimir Lenin, Leo Trotzki, Hannah Arendt und weitere würden sich später auf ihn beziehen. Hobson war der erste, der den Imperialismus innerhalb eines kapitalistischen Systems analysierte. Jedoch aus einer anderen Motivation: Für Hobson stellte Krieg ein schlechtes Geschäft dar. Zwar würden einige Wenige davon profitieren, die Kosten für das System seien aber eigentlich zu hoch. Er wollte den Kapitalismus also nicht abschaffen, sondern reformieren. Das Spannende an Hobson bleibt jedoch, dass er mit der Mär brach, Kriege basierten allein auf den übersteigerten Patriotismen unvereinbar
MARX
istische Auseinandersetzungen folgten erst einige Jahre später. 1910, acht Jahre nach Hobson, erklärt Rudolf Hilferding in Das Finanzkapital, wie industrielles Kapital, Handelskapital und finanzielles Kapital zum Finanzkapital verschmelzen und damit eine neue Phase des Kapitalismus beginnt. Die freie Konkurrenz hebt sich demnach zwangsweise selbst auf und führt zu einem organisierten Monopolkapitalismus. Hilferding beschreibt also einen Imperialismus, der über die Weiterentwicklung des Kapitalismus entsteht. Rosa Luxemburg ging einen anderen Weg: Sie sah den Imperialismus als Folge des anhaltenden Drangs zu ursprünglicher Akkumulation, wie Marx sie beschrieben hatte. Sie fasst die Kapitalakkumulation durch Kolonialisierung und Expansionspolitik in Die Akkumulation des Kapitals von 1913 wie Hobson mit einer Unterkonsumtionstheorie: Weil immer mehr produziert werde,
Neu ist nur, dass eine Großmacht ohne Segen der usa einen Krieg anfängt.
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Simin Jawabreh
Damit die jeweilige Bevölkerung diese Urteile übernimmt, kommt Moral als Schmiermittel ins Spiel. als bei chronisch gedrückten Löhnen gekauft und konsumiert werden könne, müsse sich das Kapital neue Gebiete erschließen. Lenin brachte diese Gedankengänge 1917 zusammen. In Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus beschreibt er den Imperialismus zum einen als Monopolbildung, die wiederum die Herausbildung des Finanzkapitals ermöglicht, und zum anderen als koloniale Eroberung bis zur kompletten Aufteilung der Welt unter den Großkapitalisten. Im Gegensatz zur Unterkonsumtionstheorie stellt Lenin aber eine Überakkumulationstheorie auf: Nicht um den Export überschüssiger Waren, sondern um den Export überschüssigen Kapitals geht es. Daran schlossen verschiedene ImperialismustheorieSchulen an, die sich einerseits im Kontext der antikolonialen Revolutionen Mitte des 20. Jahrhunderts um die Beziehung von Zentrum und Peripherie und andererseits um die Herausbildung internationaler Regime und Institutionen drehten. Der marxistische Geograf David Harvey attestiert drei Entwicklungsphasen des Imperialismus. Die erste Phase ist der Kolonialimperialismus, der durch ein nebeneinander verschiedener Imperien geprägt ist, deren Konkurrenz letztendlich in den Weltkriegen mündet. Die zweite Phase ist bestimmt von der Blockkonfrontation des Kalten Krieges. Als das Bretton-Woods-System mit seinem Dollar-Goldstandard zusammenbricht und neue Industrien in Deutschland und Japan ausgebaut worden sind, beginnt die dritte Phase: die neoliberale Hegemonie. Harvey rettet zudem die zur Seite gelegte Luxemburgsche Theorie, indem er sie im Sinne einer Akkumulation durch Enteignung fortschreibt. Aufgrund von asymmetrischer Integration in den Weltmarkt kann es auch noch in der
kapitalistischen Totalität ein nicht-kapitalistisches Außen geben: So werden Bereiche, die zuvor in staatlicher Hand lagen, zusehends privatisiert – wie beispielsweise Krankenhäuser oder auch Teile des Wissenschaftsbetriebs.
Es reicht nicht, für Frieden zu sein
ALLEIN
im Jahr 2021 gab es 28 Kriege und bewaffnete Konflikte auf der Welt. Das lässt vermuten, dass Kriege keine Ausnahmesituationen sind. Kein Bruch also, wie Scholz meint, sondern Kontinuität: Über die Jahrzehnte hinweg ist Krieg – global betrachtet – die Norm. Über 100 Millionen Menschen befinden sich gegenwärtig auf der Flucht – das ist mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung. Einen ewigen Frieden gibt es nicht im Kapitalismus, einem System, das permanent unter Spannung steht. Diese Weltordnung als »Ordnung« zu beschreiben ist zynisch: Spätestens der sogenannte Krieg gegen den Terror hat auch die liberale Mär eines friedvollen Neoliberalismus zerstört. Imperialismus funktioniert heute genauso über die Zwangsmittel der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Die Revolutionen im Nahen Osten und in Nordafrika 2011 sind nicht ohne die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme dieser Finanzinstitutionen zu verstehen, die eine globale Peripherie in Abhängigkeit und Verschuldung stürzten. Ihre Knebelverträge für Kredite, die Privatisierung und Öffnung zum Weltmarkt vorschrieben, machten die Länder abhängig von diesen Institutionen und zerstörten zugleich die einheimischen Industrien: In Ägypten ist der Absatz lokaler Bekleidungshersteller zwischen 2000 und 2004 um die Hälfte zurückgegangen, da ausländische Konkurrenten ägyptische Firmen vom heimischen Markt verdrängten. Die Textil- und Bekleidungsimporte stiegen von 2000 bis 2008 um rund 500 Prozent, während die inländische
Imperial sind immer die anderen
Produktion stagnierte. Das führt heute dazu, dass die Produktion und der Konsum im Land von den Bedürfnissen der Kapitalakkumulation jenseits seiner Grenzen bestimmt werden. Dieses Muster zeigt sich ebenso bei den Kreditvergaben, wie sie Anfang der 2000er Jahre in Lateinamerika, weiten Teilen Asiens und Osteuropas durch us-amerikanisch angeführte Finanzinstitutionen stattfanden. Diese Verhältnisse erhalten nur wenig Aufmerksamkeit, sind aber auch Teil von Imperialismus.
Ihrer Moral entgegen
DER
russische Angriff auf die Ukraine ist nicht allein durch despotische Launen bestimmt, noch rein ideologisch – es geht um Interessen. Die Rolle ökonomischer und militämischer Dominanz des Westens muss dabei auch einbezogen werden. Nicht als moralischer Gradmesser, nicht zur Relativierung, nicht in Sinne von »Westsplaining«, wie es unverfroren heißt, sondern weil sie Teil desselben Systems sind und Kriege nicht ohne ihre Einbettung in den Kapitalismus verstanden werden können. Eine Linke, die Staaten als politisch-ökonomische Blackboxes betrachtet, statt sie als Kräfteverhältnisse von Klassen zu verstehen, ist dabei wenig hilfreich – genauso wenig wie eine, die in die Hierarchisierung schlimmer und weniger schlimmer Kriege einstimmt. Eine ernsthafte Imperialismuskritik muss immer das Ganze eines Systems zwischenstaatlicher Konkurrenz im Blick haben: die starken wie die schwachen Staaten – und nicht nur die eines bestimmten Lagers. Die deutsche Linke schweigt nicht, aber sie hat auch nicht viel zu sagen – weder analytisch noch praktisch. Imperialismus bleibt das, was man nicht mag. Und Demokratie ist das, was man mag. Das ist natürlich nicht verkehrt, aber nicht ausreichend: Die Frage von Krieg und Frieden lässt sich nicht vom Kapitalismus trennen – und wer internationalen Frieden will, muss das Ziel einer anderen
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»gut und böse; dazwischen nichts« Gesellschaftsordnung in den Mittelpunkt stellen, um nicht in der Gemengelage von Staaten und Kapitalfraktionen zerrieben zu werden. Anders als Olaf Scholz war sein spd-Kollege und ehemaliger deutscher Verteidigungsminister Peter Struck versehentlich ehrlich, als er angesichts des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan sagte, dass deutsche Interessen auch am Hindukusch verteidigt werden müssten. Imperialismus bedeutet, dass Grenzen stets verschoben und neu gezogen werden. Moralische Empörung aber ändert daran nichts. Wenn Mächte gegnerische Mächte als imperialistisch bezeichnen, dann handelt es sich zuvorderst um ideologische Interventionen. Das heißt nicht, dass es falsch ist, wenn Scholz Putin des »Imperialismus« bezichtigt oder Putin der nato »imperiale Ambitionen« unterstellt, sondern, dass es interessengetrieben ist. Damit die jeweilige Bevölkerung diese Urteile übernimmt, kommt Moral als Schmiermittel ins Spiel, »ein riesiger intellektueller und psychologischer Apparat, der darauf abzielt, unsere Welt zu vereinfachen, indem er die Handlungen der Menschen in zwei dichotome Kategorien unterteilt: gut und böse; dazwischen nichts«, wie es der Philosoph Raymond Geuss auf den Punkt brachte: »Über die Politik, die wir in unserer Welt kennen und die uns angeht, hat sie uns wenig zu sagen.«
Simin Jawabreh arbeitet an der Humboldt Universität zu Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik und in der politischen Bildung.
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l l o V f p m da
mit
Wann hat sich eigentlich in der spd das letzte Mal Prinzipientreue durchgesetzt? 1885 im Streit um die »Dampfersubventionsvorlage«. Text von Günter Regneri Illustration von Bartholomäus Zientek
Mit seiner »Zeitenwende«-Rede wischte Olaf Scholz die letzten antimilitaristischen Traditionen der spd beiseite. Musste er eine innerparteiliche Kontroverse fürchten? Eher nicht, obwohl Auseinandersetzungen um die Prinzipien der Partei schon seit ihrer Gründungsphase – sie hieß damals noch Sozialistische Arbeiterpartei – oft vorkamen und heftig geführt wurden. Eine solche Kontroverse entbrannte an der proto-kolonialistischen »Dampfersubventionsvorlage«, die Otto von Bismarck 1884 in den Reichstag einbrachte. Im Wahlkampf zur Reichstagswahl im Oktober 1884 agitierte die Sozialdemokratie noch treu ihrer internationalistischen Beschlusslage gegen die deutsche »Kolonialschwärmerei«. Trotz Mehrheitswahlrecht und Sozialistengesetz gelang es ihr, den
Stimmenanteil auf fast 10 Prozent und die Zahl ihrer Mandate auf 24 zu steigern. Dennoch blieben die sozialdemokratischen Abgeordneten politische Parias im Reichstag. Ihre Anträge wurden in der Regel abgelehnt, selbst solche mit »billigen Forderungen«, wie es Friedrich Engels einmal ausdrückte. Die sozialdemokratische Fraktion diskutierte intern, wie sie mit der Dampfersubvention umgehen sollte. Die Regierungsvorlage sah vor, »Postdampfschiffsverbindungen« privater Reedereien nach Ostasien, Afrika, Australien und Ozeanien einzurichten und mit jährlich 5,4 Millionen Mark (heutiger Wert: mindestens 40 Millionen Euro) über fünfzehn Jahre zu subventionieren. Die »Postdampfschiffe« sollten zwar auch regelmäßige Postverbindungen etablieren, doch vorrangig dienten
Mit Volldampf in die Zeitenwende
sie der Exportsicherung der deutschen Industrie. Auch der Zusammenhang mit den kolonialistischen Bestrebungen Deutschlands war evident – nur wenige Monate später begann in Berlin die sogenannte Kongokonferenz, die wie ein Brandbeschleuniger für die Kolonisierung Afrikas wirkte. Eine kleine marxistische Minderheit um August Bebel wollte die Vorlage aus prinzipiellen Gründen ablehnen. Die dreimal so starke Mehrheit aus Reformisten sprach sich hingegen für eine Zustimmung aus. Der Fraktionszwang sollte bei der Abstimmung aufgehoben werden. Besonders hervor traten dabei die Abgeordneten Karl Frohme aus Altona und J. H. W. Dietz aus Hamburg mit dem heute noch aktuellen Totschlagargument: der Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Fraktion arbeitete einen Änderungsantrag aus, der das Vorhaben auf die nicht so offensichtlich kolonialistischen Linien nach Ostasien und Festland-Australien sowie die Subventionen auf 3,75 Millionen Mark begrenzen wollte. Zudem sollten die Schiffe auf technisch höchstem Stand sein und auf deutschen Werften gebaut werden. Dieser Opportunismus ging Bebel zu weit. Er hatte bereits unmittelbar nach der erfolgreichen Reichstagswahl eine Auseinandersetzung innerhalb der Fraktion prognostiziert. Am 8. November 1884 schrieb er an Karl Kautsky: »Daß die zwei Strömungen in unserer Partei sich reiben würden, war vorauszusehen, aber kaum, daß dies jetzt schon geschehen würde.« Um seine Kontrahenten in der Fraktion auszubooten, forcierte Bebel mithilfe des Zentralorgans Der Sozialdemokrat eine parteiöffentliche Debatte. Dort tauchte am 11. Dezember 1884 eine Notiz auf, die Mehrheit der Fraktion vertrete die Meinung, bei der Dampfersubvention handle es sich um »eine Zweckmäßigkeits- und nicht um eine
in die
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Prinzipienfrage«. Was dann folgte, würde heute als »Shitstorm« klassifiziert. Diverse Parteiversammlungen verabschiedeten Protestresolutionen – der Fraktionsmehrheit wurde unter anderem unwürdiges Geschachere mit der Regierung vorgeworfen, während diese mit dem Sozialistengesetz noch immer die Arbeiterbewegung unterdrücke. Als die Fraktion versuchte, die Zeitung unter ihre Kontrolle zu bringen, um die Kritik zu unterbinden, verschärfte das den Konflikt nur. Der Druck der Parteibasis wurde so groß, dass die Fraktion letztendlich am 23. März 1885 geschlossen gegen den Gesetzentwurf stimmte. Der Dampfersubventionsstreit war die wohl letzte innerparteiliche Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie, die die »Prinzipientreuen« deutlich gewinnen konnten. Da die Parteileitung um Bebel eine Spaltung jedoch unbedingt verhindern wollte, wurden die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten nicht an das imperative Mandat gebunden, wie es etwa ein Protestbrief aus Gumbinnen forderte: »Warum legen Abgeordnete, die sich im direkten Widerspruch mit der Majorität der Wähler befinden … nicht ihr Mandat nieder?« So konnten Bebels Opponenten diese Schlacht aussitzen und langfristig die Partei vom revolutionären Sozialismus wegführen. Es ist ihr später Triumph, dass die spd heute jedes Prinzip aufgibt, wenn ein angeblicher Sachzwang es verlangt.
Günter Regneri ist Historiker und Autor mehrerer Biografien, unter anderem über die Sozialistin Luise Kautsky.
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Putin wollte den postsowjetischen Raum mit russischem Kapital beherrschen. Als das misslang, stellte sich Russland neu auf – als expansionistische Imperialmacht nach Vorbild des Zarenreichs. Text von Ilja Matweew und Ilja Budraitskis Übersetzung von Thomas Zimmermann Illustration von Piotr Dudek
In Teilen der Linken gibt es einen seltsamen Widerwillen, den russischen Imperialismus als ein eigenständiges Phänomen zu betrachten. Meistens wird er als ein Spiegelbild des westlichen Imperialismus verstanden – demnach reagiert er auf dessen Provokationen und ahmt ihn dabei im Wesentlichen nach. Diese »Imitations«-Theorie ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wie der liberale Intellektuelle Ivan Krastev feststellt, wiederholte Putin in seiner Rede zur Rechtfertigung der Annexion der Krim im Jahr 2014 zum Teil wörtlich die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, die von den usa und ihren nato-Verbündeten nach Kräften unterstützt wurde. Auch weist Krastev darauf hin, dass der russische Angriff auf Kiew mit dem Beschuss des Fernsehturms der Stadt begann, so wie die nato 1999 den Belgrader Fernsehturm bombardierte. Doch diese Ähnlichkeiten beweisen lediglich, wie
besessen Putin von der »Heuchelei des Westens« ist und wie sehr er sich wünscht, sie vor der Welt bloßzustellen. Sie ändern nichts daran, dass die Geschehnisse auf der Krim mit denen im Kosovo kaum vergleichbar sind – so wurde der Kosovo zum Beispiel nicht von den usa annektiert – und dass der Kreml in den letzten Jahren von dieser Rhetorik abgerückt ist. Die Rückkehr des russischen Imperialismus auf die Weltbühne lässt sich nicht von der globalen interimperialistischen Rivalität trennen – aber auch nicht darauf reduzieren. Russlands einzigartige Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat eine spezifische, scheinbar anachronistische Form des Imperialismus hervorgebracht, die überwiegend auf territoriale Expansion ausgerichtet ist und in der Invasion der Ukraine kulminiert.
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Der liberale Imperialismus und seine Grenzen Vor mehr als einem Jahrhundert bemerkte Leo Trotzki, dass infolge einer Kombination aus ungünstigen geografischen Bedingungen, geringer Bevölkerungsdichte und hartem internationalem Wettbewerb in Russland ein mächtiger, militaristischer Staat entstanden war. Dieser Staat versuchte, die wirtschaftliche Entwicklung durch staatliche Interventionen zu fördern, behinderte sie jedoch zugleich. Trotzkis Genosse Wladimir Lenin, der später die Oktoberrevolution anführen sollte, fügte spöttisch hinzu, der russische Staat habe einen eigenen, »beispiellos brutalen, mittelalterlichen, wirtschaftlich rückständigen, militärischbürokratischen Imperialismus« hervorgebracht. Trotzki erkannte, dass sich die historische Entwicklung Russlands aus einem Zusammenspiel spezifischer lokaler Bedingungen und der Konkurrenz der Großmächte ergab. Das trifft in vielerlei Hinsicht auch auf den heutigen russischen Imperialismus zu, der noch in einigen weiteren Punkten dem zaristischen Imperialismus ähnelt, wie Lenin ihn beschrieb. Die Einführung des Kapitalismus im Russland der 1990er Jahre verhalf einer neuen herrschenden Klasse zum Aufstieg. Diese kapitalistische Elite fungierte zugleich als eine sogenannte Kompradorenbourgeoisie – eine lokale herrschende Klasse, die den Ressourcenreichtum des Landes in ausländische Vermögenswerte und Immobilien umwandelt – und als nationale Bourgeoisie, die privatisierte Industrien schnell aufkaufte und die Lieferketten im gesamten postsowjetischen Raum dominierte. Gleichzeitig erbte Russland von der Sowjetunion ein aufgeblähtes Militär und den zweitgrößten militärisch-industriellen Komplex der Welt. Die Offiziere dieses gigantischen Apparats waren noch im strategischen Denken der Sowjetzeit geschult und übertrugen es in ihre neue Tätigkeit als russische Militärbürokraten. Eine Zeit lang konnten die Interessen der wirtschaftlichen und politischen Eliten Russlands in relativer Harmonie koexistieren. Als in den 2000er Jahren ein Wirtschaftsboom überschüssiges Kapital generierte, das russische Unternehmer mit Vorliebe in anderen Ex-Sowjetrepubliken investierten, betrachtete auch der Kreml den postsowjetischen Raum als seinen »natürlichen«
Einer der Architekten des russischen Kapitalismus sprach ganz offen davon, dass Russland ein »liberales Imperium« errichten wolle.
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Einflussbereich. Folglich arbeiteten die Führungsriegen in Staat und Wirtschaft zusammen, um mit ökonomischen Mitteln die politische Kontrolle über die Region zu erlangen – wobei sie, wenn nötig, auch politische Druckmittel anwandten. Der Außenpolitik-Experte Andrej Zygankow brachte diese Periode auf die Formel »Wenn nicht mit Panzern, dann mit Banken«. Anatoli Tschubais, einer der Architekten des russischen Kapitalismus und bis vor kurzem noch ein wichtiger Akteur im Kreml, sprach damals ganz offen davon, dass Russland ein »liberales Imperium« errichten wolle. Doch diese Strategie stieß bald an ihre Grenzen. Russlands ökonomischer Motor geriet nach der Wirtschaftskrise
2009 ins Stocken. Sein Bruttoinlandsprodukt war 2021 nur geringfügig höher als 2008. Als sich das Wachstum verlangsamte, versiegte auch das überschüssige Kapital, das im Ausland reinvestiert werden konnte, und Russlands Nachbarn begannen, sich anderweitig nach Finanzmitteln umzusehen. Politisch gesehen erwies sich das russische Modell – mit seiner dramatischen Ungleichheit, seiner dysfunktionalen Bürokratie und seinem korrupten autoritären Regime – für die Bevölkerung seiner Nachbarländer als wenig attraktiv. Daher konnte der Kreml nur mit anderen Autokratien freundschaftliche Beziehungen unterhalten – demokratische Bewegungen im postsowjetischen Raum führten hingegen unweigerlich zu einer gewissen Entfremdung von Russland.
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Ilja Matweew und Ilja Budraitskis
Putin zufolge werden die Ukraine und andere Staaten Osteuropas oder auch Afrikas niemals in der Lage sein, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. 2014 brach Putin endgültig mit der Strategie des liberalen Imperialismus. Der Kreml hatte versucht, die Bewegung zu beeinflussen, die den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch gestürzt hatte. Da dies nicht gelang, sprengte Russland seine eigenen Sicherheitsgarantien gegenüber der Ukraine, die im Budapester Memorandum von 1994 verbrieft waren: Es annektierte die Krim und unterstützte prorussische Separatisten im Donbass. Seitdem überschattet die militärische Konfrontation alle anderen Aspekte der russischen Außenpolitik. Die unmittelbaren Interessen der russischen Wirtschaftselite wurden den geopolitischen Zielen des Kremls geopfert. An die Stelle der Integration Russlands in die Weltwirtschaft traten zunehmende Isolation und direkte Konfrontation mit dem Westen. Die Entscheidung, im Februar 2022 in die Ukraine einzumarschieren, mit der russische Generäle seit Beginn des Konflikts geliebäugelt hatten, markiert den Höhepunkt der seit 2014 verfolgten Strategie.
Der neue russische Revanchismus Der heutige russische Imperialismus zeichnet sich durch zweierlei aus: Erstens denkt er obsessiv territorial, wie die ständige Rede von »Pufferzonen« und »Landkorridoren« zeigt. Seine ökonomischen Ambitionen sind höchstens indirekt und basieren ebenfalls auf Territorium. Das Endziel des Kremls ist die politische Unterwerfung des gesamten postsowjetischen Raums. Jeglicher wirtschaftliche Nutzen ergäbe sich aus dieser politischen Kontrolle. Im Vergleich stützen sich der us-amerikanische und der chinesische Imperialismus viel stärker auf wirtschaftliche Vorherrschaft, die sie durch ihre starken Währungen und Kreditkapazitäten durchsetzen. Nachdem alle anderen Versuche der Unterordnung der Ukraine gescheitert waren, entschied sich das russische Establishment für territoriale Eroberung in Reinform. Derzeit verfolgt Putin das Ziel, so viel ukrainisches Gebiet wie möglich einzunehmen.
Trotz zahlreicher militärischer Rückschläge hält er an dem Maximalziel fest, die gesamte Ukraine zu erobern. Als der ehemalige Präsident Dmitri Medwedew, einer der engsten Vertrauten Putins, die Frage in den Raum stellte, ob die Ukraine in zwei Jahren »noch auf der Weltkarte existieren wird«, war dies nicht einfach nur Säbelrasseln, sondern auch ein Einblick in Putins Denken. Zweitens ist die territoriale Logik des russischen Imperialismus mit einer Weltanschauung verknüpft, die Putin und sein Gefolge seit seiner berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 konsequent vertreten. In Putins Augen war der Zusammenbruch der Sowjetunion vor allem ein Verlust von Territorien, die »historisch« zu Russland gehörten. Das Ende des Kalten Krieges habe eine grundlegende Verletzung der Prinzipien geopolitischer »Gerechtigkeit« mit sich gebracht, die eine Aufteilung der Welt in Einflusssphären der großen Atommächte vorsehe. So erklärte Putin im Juni 2022 bei seiner Rede auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum, dass nur »mächtige und souveräne Staaten in der entstehenden Weltordnung mitreden können. Andernfalls sind sie dazu verdammt, vollkommen rechtlose Kolonien zu werden oder zu bleiben«. Putin zufolge werden die Ukraine und andere Staaten Osteuropas oder auch Afrikas niemals in der Lage sein, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Denn die Geschichte habe sie dazu verdammt, Kolonien dieses oder jenes »Souveräns« zu sein. Der Westen müsse dieser harten Realität endlich ins Auge blicken und einer Neuaufteilung der Welt zustimmen, die die Interessen der verschiedenen globalen Player berücksichtigt. Russlands Anspruch auf Großmachtstatus wird auch von Argumenten begleitet, in denen eine Gegenüberstellung »hoher« und »niederer« Kulturen mitschwingt: So betont die Kreml-Propaganda immer wieder die Grobheit der ukrainischen Sprache und die Minderwertigkeit der ukrainischen nationalen Identität. Zugleich behauptet sie, dass die
Wenn nicht mit Banken, dann mit Panzern
Eingliederung ukrainischer Gebiete in Russland die Bevölkerung in ihren authentischen »historischen und geistigen Raum« zurückführt. Eine offenere Erklärung des Imperialismus kann man sich kaum vorstellen – in der Praxis wie auch in der Ideologie. Die russische Elite hat einen Weg imperialer Eroberung eingeschlagen, auf dem es wahrscheinlich keine Umkehr mehr gibt. Da überrascht es nicht, dass ihre politische Vorstellungskraft stark auf die Vergangenheit fixiert ist. Putin vergleicht sich inzwischen offen mit Peter dem Großen, der im frühen 18. Jahrhundert russisches Territorium »zurückgeholt« und das Land »gestärkt« hat, so wie er selbst es heute vermeintlich tut. Während die russische Wirtschaft einen beispiellosen Niedergang erlebt und das Land zunehmend international isoliert wird, schwindeln Putin und seine Gefolgsleute das Heraufziehen einer »neuen Welt« vor, in der sie eine führende Rolle spielen werden.
Ein Spiel auf Zeit Im Zentrum von Putins Strategie steht derzeit nicht, die Ukraine militärisch zu besiegen – eher will er die Angst vor einem größeren Krieg nutzen, um den Westen dazu zu bringen, ihm das Land zu überlassen. Russland erzielt trotz der Sanktionen weiterhin enorme Einnahmen aus Öl- und Gasexporten, und auch die Waffenlager und die personellen Reserven seines Militärs sind noch lange nicht erschöpft. Der Krieg könnte sich also noch über Monate oder sogar Jahre hinziehen. Wie Putin selbst angemerkt hat, arbeitet die Zeit für ihn: Während die Staats- und Regierungschefs der EU der Ukraine öffentlich vollste Unterstützung zusagen, drängen sie Selenskyj hinter den Kulissen bereits dazu, so schnell wie möglich ein Friedensabkommen zu schließen – selbst wenn das die Aufgabe großer Teile des Landes oder sogar den Verlust der Unabhängigkeit der Ukraine bedeutet. Putin und die russische Elite können aus einer solchen Wendung der Ereignisse nur den Schluss ziehen, dass die Strategie der Angstmache und Erpressung funktioniert und weiterverfolgt werden sollte. Potenzielle künftige Ziele der russischen Expansion sind bereits mehrfach benannt worden: Moldawien, wo russische Truppen im nicht international anerkannten Transnistrien stationiert sind; die baltischen Staaten, da Putin kürzlich die
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estnische Stadt Narva als »inhärent russisch« bezeichnete und die Duma diskutierte, ihre Anerkennung der litauischen Unabhängigkeit zu widerrufen; und Kasachstan, dessen nördliche Provinzen Putin kürzlich als ein »Geschenk« seitens der Russischen Föderation bezeichnete. Die Hinwendung zur Aggression nach außen hat auch einen dramatischen Wandel im Inneren zur Folge. Russland steht heute de facto unter Kriegsrecht. Jede öffentliche Kritik an der Regierung wird kriminalisiert. Gleichzeitig sammelt sich die herrschende Elite um eine aggressive nationalistische Ideologie. Die erste Welle von Sanktionen hat das Regime nicht destabilisiert, sondern abgehärtet. Um die Loyalität der Eliten zu garantieren, werden die Oligarchen für ihre wirtschaftlichen Verluste mit den Vermögenswerten und Marktanteilen entschädigt, die von westlichen Unternehmen zurückgelassen wurden. Während praktisch alle unabhängigen Medien inzwischen verboten sind, läuft die Propagandamaschine auf Hochtouren. Jeder Protest wird schnell und wirksam zerschlagen. In Anbetracht der territorialen Ambitionen des heutigen russischen Imperialismus werden diplomatische Zugeständnisse Putins Aggression wahrscheinlich nicht aufhalten. Das Einzige, das ihn bisher bremsen konnte, war der hartnäckige Widerstand der Ukraine. Eine militärische Niederlage im Ausland könnte die tiefen sozialen Spaltungen im eigenen Land offenlegen und die Aggression nach innen – gegen die eigene Regierung – umlenken. Es wäre nicht das erste Mal in der russischen Geschichte.
llja Matweew ist Politikwissenschaftler mit einem Schwerpunkt auf der politischen Ökonomie Russlands. Er hat unter anderem in den Zeitschriften Europe-Asia Studies, South Atlantic Quarterly und Socialist Register publiziert. Ilja Budraitskis ist Politik- und Sozialtheoretiker und lebte bis vor kurzem in Moskau, wo er an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie am Institut für zeitgenössische Kunst unterrichtete. Sein neuestes Buch Dissidents among Dissidents über die Linke in Russland erschien Anfang 2022 bei Verso.
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Wer kann diesen Krieg wollen? Um Russlands Invasion der Ukraine zu verstehen, muss man die postsowjetischen Kapitalisten kennen. Text von Wolodymyr Ischtschenko Übersetzung von Thomas Zimmermann Fotografien von Robin Hinsch
Seit die russische Armee in die Ukraine eingefallen ist, ringen Analystinnen und Analysten des gesamten politischen Spektrums damit, zu bestimmen, wer oder was genau uns in diese Lage gebracht hat. Es wird mit Begriffen wie »Russland«, »die Ukraine«, »der Westen« oder »der Globale Süden« um sich geworfen, als bezeichneten sie einheitliche politische Akteure. Selbst auf der Linken werden die Äußerungen von Wladimir Putin, Wolodymyr Selenskyj, Joe Biden und anderen Figuren der Weltpolitik über »Sicherheitsbedenken«, »Selbstbestimmung«, »zivilisatorische Entscheidung«, »Souveränität«, »Imperialismus« oder »Antiimperialismus« oft für bare Münze genommen, als drückten sie kohärente nationale Interessen aus. Insbesondere die Debatte darüber, welches Interesse Russland – oder, genauer gesagt, seine herrschende Clique – am Krieg haben könnte, tendiert dazu, sich um fragwürdige Extrempositionen zu
Retroville, Kiew, 2022. Das Einkaufszentrum Retrovillie in Kiew wurde am Abend des 20. März durch einen Luftangriff zerstört. Dabei kamen acht Menschen ums Leben. Die russische Regierung behauptet, dass das Gebäude von den ukrainischen Streitkräften als Munitionslager genutzt wurde.
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polarisieren. Einerseits nehmen viele einfach für voll, was Putin sagt, ohne zu fragen, ob seine Besessenheit von der nato-Erweiterung oder sein Beharren darauf, dass Russinnen und Ukrainer »ein Volk« seien, Russlands nationale Interessen widerspiegeln oder von der russischen Gesellschaft insgesamt geteilt werden. Andererseits werden solche Aussagen von vielen als dreiste Lügen und strategische Kommunikation abgetan, die keinerlei Bezug zu Putins »wahren« Zielen in der Ukraine hätten. Beide Positionen tragen auf ihre Weise dazu bei, die Beweggründe des Kremls zu verschleiern, anstatt sie einsehbar zu machen. So wie heute über die russische Ideologie diskutiert wird, könnte man glauben, ins Jahr 1845 zurückversetzt worden zu sein, als sich Karl Marx und Friedrich Engels dazu veranlasst sahen, die Deutsche Ideologie zu schreiben. Die einen betrachten die in Russland dominante Ideologie als ein getreues Abbild seiner sozialen und politischen Ordnung. Andere glauben, sie müssten nur verkünden, dass der Kaiser keine Kleider trägt, um die freischwebende Blase der Ideologie zu durchstoßen und die herrschende Ordnung zu zerschlagen. Die reale Welt ist leider komplizierter. »Was Putin wirklich will«, versteht man nicht, indem man obskure Phrasen aus seinen Reden und Artikeln herauspickt, die zu den eigenen vorgefassten Urteilen passen. Der Schlüssel liegt vielmehr in den materiellen Interessen, der politischen Organisation und der ideologischen Legitimation der gesellschaftlichen Klasse, die er repräsentiert. Diese zu analysieren ist aus gutem Grund seit jeher eines der Hauptanliegen des Marxismus. Auch die Interessen, die die herrschenden Klassen im Westen und in der Ukraine in diesem Konflikt verfolgen, können und sollten in dieser Weise analysiert werden. Angesichts dessen, dass die Herrschenden in Russland die hauptsächliche Verantwortung für den Krieg tragen, ergibt es aber Sinn, auf sie zu fokussieren. Wenn wir verstehen, welches materielle Interesse sie an der laufenden Invasion haben, können wir fadenscheinige und oberflächliche Erklärungen hinter uns lassen und zu einer Langzeitperspektive gelangen. Dann werden wir sehen, wie dieser Krieg in dem ökonomischen und politischen Vakuum begründet ist, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 entstand – und warum die einzige Möglichkeit, der Region Frieden und Stabilität zu bringen, darin besteht, dieses Vakuum zu füllen.
Was ist ein Name? Seit Kriegsausbruch haben die meisten Marxistinnen und Marxisten auf den Begriff des Imperialismus zurückgegriffen, um Theorien über die Interessen des Kremls aufzustellen. Es ist natürlich wichtig, eine komplizierte Frage mit allen verfügbaren Instrumenten anzugehen – genauso wichtig ist es aber, dass man sie auch richtig anwendet. Das Problem dabei ist, dass ein Imperialismusbegriff verwendet wird, der in Bezug auf die postsowjetische Situation praktisch nicht weiterentwickelt wurde. Weder Wladimir Lenin noch irgendeiner seiner Zeitgenossen hätte sich die grundlegend neuartige Situation vorstellen können, die mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus entstand. Diese Generation marxistischer Theoretikerinnen und Theoretiker analysierte den Imperialismus der kapitalistischen Expansion und Modernisierung. Der postsowjetische Zustand hingegen stellt eine permanente Krise dar, die von wirtschaftlicher Kontraktion, Demodernisierung und Peripherisierung geprägt ist.
»Ich zeige Menschen, die überleben« Robin Hinsch ist Fotograf und beschäftigt sich in seiner Arbeit mit politischen, sozialen und ökologischen Fragestellungen. Seine Arbeiten sind unter anderem im Guardian, in der Zeit und im SZ Magazin erschienen und wurden international ausgestellt und ausgezeichnet. Seit 2016 ist er berufenes Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie. Neben seiner eigenen fotografischen Praxis gründete er 2017 den Ausstellungsraum Studio 45 in Hamburg und kuratiert und veranstaltet dort seitdem eine Ausstellungsreihe, die sich der Förderung junger internationaler Fotografie verschrieben hat. Nach Ländern wie Syrien, Nigeria und China führte ihn seine Arbeit im März 2022 in die Ukraine.
Maria, Starytschi, 2022 In der Nähe des westukrainischen Dorfes Starytschi, in dem die 65-Jährige lebt, traf am 13. März eine russische Langstreckenrakete einen Militärstützpunkt. Er diente als Sammelstelle für freiwillige Kämpfer aus dem Ausland.
Wer kann diesen Krieg wollen?
Das heißt nicht, dass sich die Analyse des russischen Imperialismus generell nicht lohnen würde. Wir müssen aber erst eine Reihe konzeptioneller Hausaufgaben erledigen, um sie fruchtbar zu machen. Darüber zu debattieren, ob das heutige Russland ein imperialistisches Land im Sinne der Lehrbuchdefinition ist, hat lediglich scholastischen Wert. »Imperialismus« droht dann, kein reales Phänomen mehr zu bezeichnen, sondern zu einem ahistorischen Etikett zu verkommen. Dieser Weg führt in eine Tautologie: »Russland ist imperialistisch, weil es einen schwächeren Nachbarn angegriffen hat«, »Russland hat einen schwächeren Nachbarn angegriffen, weil es imperialistisch ist«, und so weiter. Mit den typischen imperialistischen Motiven lässt sich die russische Invasion nicht erklären: In Anbetracht der Sanktionen, mit denen Russlands stark globalisierte Wirtschaft und die Vermögenswerte seiner »Oligarchen« im Westen belegt wurden, kann es sich nicht um den Expansionsdrang des russischen Finanzkapitals handeln. Auch die Eroberung neuer Märkte kann es nicht sein, zumal die Ukraine in der Vergangenheit praktisch keine ausländischen Direktinvestitionen anziehen konnte – mit Ausnahme der Offshore-Vermögen ihrer eigenen »Oligarchen«. Und die Kontrolle über strategische Ressourcen ist als Beweggrund ebenso unwahrscheinlich, denn Nord Stream 2 war gerade im Begriff, den Status der Ukraine als Transitland für Erdgas aufzulösen. Daher behaupten einige, der Krieg folge einer davon unabhängigen Rationalität eines »politischen« oder »kulturellen« Imperialismus. Aber diese Erklärung ist letztlich eklektisch. Unsere Aufgabe ist doch gerade, darzulegen, wie die politische und ideologische Begründung für die
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Invasion die Interessen der herrschenden Klasse widerspiegelt. Ansonsten landen wir unweigerlich bei kruden Theorien eines Strebens nach Macht um der Macht willen oder eines blanken ideologischen Fanatismus. Denn was würde das bedeuten? Russlands herrschende Klasse wäre dann von einem machthungrigen und verrückten Nationalchauvinisten als Geisel genommen worden, der von der »historischen Mission« besessen wäre, die
»Was Putin wirklich will«, versteht man nicht, indem man obskure Phrasen aus seinen Reden und Artikeln herauspickt, die zu den eigenen vorgefassten Urteilen passen. alte Größe seines Landes wiederherzustellen. Oder sie würde unter einer extremen Form von falschem Bewusstsein leiden, also Putins Sorgen gegenüber der nato und seine Leugnung ukrainischer Staatlichkeit teilen und deshalb eine Politik, die ihren Interessen objektiv widerspräche, unterstützen. Das kann beides nicht sein. Putin ist weder ein Machtbesessener, noch ein Wahnsinniger, noch ein ideologischer Eiferer – dieser Typus von Politiker kommt im gesamten postsowjetischen Raum nur am Rande vor. Vielmehr schützt er mit dem Krieg in der Ukraine die rationalen kollektiven Interessen der herrschenden Klasse seines Landes. Es ist dabei nicht ungewöhnlich, dass sich die kollektiven Klasseninteressen nur teilweise mit den Interessen der einzelnen Vertreterinnen und Vertreter dieser Klasse überschneiden oder ihnen sogar widersprechen. Aber welche Art Klasse herrscht eigentlich in Russland – und worin genau bestehen ihre kollektiven Interessen?
Diebe und Insider Vitali, Mykolajiw, 2022 Die russische Armee versuchte mehrmals, die Hafenstadt Mykolajiw im Süden der Ukraine einzunehmen. Die ukrainischen Streitkräfte konnten sie immer wieder daran hindern. Bis heute befindet sich die Stadt unter Beschuss.
Auf die Frage, wer in Russland herrscht, würden die meisten Linken wahrscheinlich fast instinktiv »Kapitalisten« antworten. Die Durchschnittsbürgerin im postsowjetischen Raum würde sie wahrscheinlich als »Diebe«, »Gauner« oder »Mafia«
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bezeichnen. Eine etwas anspruchsvollere Antwort wäre »Oligarchen«. Es ist leicht, dies als »falsches Bewusstsein« von Leuten abzutun, die die Herrschenden nicht mit den »korrekten« marxistischen Begriffen zu fassen verstehen. Produktiver wäre es jedoch, darüber nachzudenken, weshalb sie bei der Beschreibung ihrer einheimischen Eliten den »Diebstahl« und die enge Verflechtung zwischen Privatwirtschaft und Staat betonen, die das Wort »Oligarch« impliziert. Auch hier müssen wir die Besonderheiten der postsowjetischen Situation ernst nehmen, um das analytische Werkzeug des Marxismus nutzbar zu machen. Historisch gesehen hatte die postsowjetische herrschende Klasse oft Verbindungen zur alten Nomenklatura der Sowjetzeit. Die Mitglieder dieser neuen Klasse privatisierten entweder Staatseigentum – oft zu Spottpreisen – oder erhielten reichlich Gelegenheit, Gewinne aus formell öffentlichen Einrichtungen in private Taschen abzuleiten. Sie nutzten informelle Beziehungen zu Staatsbeamten und die oft mit Absicht geschaffenen Gesetzeslücken für massive Steuerhinterziehung und Kapitalflucht und führten feindliche Unternehmensübernahmen durch, um schnelle Gewinne abzustauben. Der marxistische Ökonom Ruslan Dsarassow hat dies mit dem Begriff der »Insiderrente« erfasst. Damit hebt er die Ähnlichkeit zwischen den Übergewinnen, die »Insider« dank ihrer Kontrolle über Finanzströme und ihrer Beziehungen zu hohen Regierungsbeamten eingefahren können, mit Renten – im Sinne ohne Gegenleistung erzielter Einkommen – hervor. Man kann solche Praktiken sicherlich auch in anderen Teilen der Welt antreffen, jedoch sind sie bei der Herausbildung und Reproduktion der herrschenden Klasse in Russland von ungleich größerer Bedeutung. Schließlich war die postsowjetische Transformation nichts anderes als ein zentrifugaler Zusammenbruch des Staatssozialismus mit anschließender wirtschaftlicher Rekonsolidierung auf klientelistischer Basis. Andere prominente Denker wie der Soziologe Iván Szelényi beschreiben ein ähnliches Phänomen, das als »politischer Kapitalismus« bekannt ist. Nach Max Weber ist der politische Kapitalismus dadurch gekennzeichnet, dass politische Ämter ausgenutzt werden, um privaten Reichtum anzuhäufen. Die politischen Kapitalisten sind also jener Teil der kapitalistischen Klasse, dessen wichtigster Wettbewerbsvorteil sich aus selektiven
Vergünstigungen des Staates ergibt – im Gegensatz zu anderen Kapitalisten, die aufgrund eines technologischen Vorsprungs oder besonders billiger Arbeitskräfte im Vorteil sind. Politische Kapitalisten gibt es nicht nur in den postsowjetischen Ländern, doch sie florieren besonders an Orten, an denen der Staat historisch die Hauptrolle in der Wirtschaft gespielt und immenses Kapital ange-
Auf die Frage, wer in Russland herrscht, würden die meisten Linken wahrscheinlich fast instinktiv »Kapitalisten« antworten. Die Durchschnittsbürgerin im postsowjetischen Raum würde sie wahrscheinlich als »Diebe«, »Gauner« oder »Mafia« bezeichnen. häuft hat, das nun privat angeeignet werden kann. Dass politischer Kapitalismus vorliegt, ist von entscheidender Bedeutung, um zu verstehen, warum es keineswegs Zeichen einer irrationalen Besessenheit von überholten Konzepten ist, wenn der Kreml von »Souveränität« oder »Einflusssphären« spricht. Diese Rhetorik artikuliert nicht unbedingt Russlands nationales Interesse, sondern spiegelt vielmehr die kollektiven Interessen der russischen politischen Kapitalisten wider. Die selektiven Vergünstigungen des Staates sind grundlegend dafür, wie sie ihren Reichtum akkumulieren. Daher bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das Territorium
Einschusslöcher, Mykolajiw, 2022 Der Krieg zeigt sein Gesicht an einer Betonwand.
Wer kann diesen Krieg wollen?
abzuzäunen, über das sie monopolistische Kontrolle ausüben, die sie nicht mit den anderen Fraktionen der kapitalistischen Klasse teilen wollen. Andere Arten von Kapitalisten haben kein solches Interesse daran, »Territorium zu markieren« – oder zumindest nicht in diesem Maße. Eine langandauernde Kontroverse in der marxistischen Theorie drehte sich um die Frage, »was die herrschende Klasse eigentlich tut, wenn sie herrscht«, um es mit dem Soziologen Göran Therborn zu sagen. In kapitalistischen Ländern kontrolliert die Bourgeoisie den Staat nämlich normalerweise nicht direkt. Die Staatsbürokratie genießt eine
Politische Kapitalisten können im globalen Wettbewerb nicht überleben, wenn ihnen nicht zumindest ein bescheidenes Territorium zur Verfügung steht, in dem sie ohne äußere Einmischung Insiderrenten einheimsen können. weitgehende Autonomie von der kapitalistischen Klasse, dient ihr aber nichtsdestotrotz, indem sie Regeln aufstellt und durchsetzt, die der Kapitalakkumulation zugute kommen. Politischen Kapitalisten hingegen reichen allgemeine Regeln nicht. Sie benötigen viel direktere Kontrolle über die politischen Entscheidungsträger – oder sie besetzen alternativ selbst politische Ämter und nutzen diese aus, um sich zu bereichern.
Schmutziger Eisbär, Mykolajiw, 2022 Auch die Tiere im Zoo von Mykolajiw müssen mit einer neuen Realität zurechtkommen: Mitten unter ihnen schlagen Raketen ein.
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Auch viele Ikonen des klassischen unternehmerischen Kapitalismus profitierten von staatlichen Subventionen, steuerlichen Vorzugsregelungen oder protektionistischen Maßnahmen. Doch im Gegensatz zu den politischen Kapitalisten hingen ihr Überleben und ihre Expansion auf dem Markt nur selten davon ab, dass bestimmte Personen politische Ämter innehatten, bestimmte Parteien an der Macht waren oder bestimmte Regime herrschten. Das transnationale Kapital könnte auch ohne die Nationalstaaten überleben, in denen es seine Hauptquartiere hat. Politische Kapitalisten hingegen können im globalen Wettbewerb nicht überleben, wenn ihnen nicht zumindest ein bescheidenes Territorium zur Verfügung steht, in dem sie ohne äußere Einmischung Insiderrenten einheimsen können.
Der Klassenkonflikt hinter dem Krieg Ob der politische Kapitalismus auf Dauer Bestand haben wird, bleibt eine offene Frage. Schließlich muss der Staat irgendwo Ressourcen hernehmen, um sie unter den politischen Kapitalisten zu verteilen. Vor allem in den postsowjetischen Regimen, die weitgehend auf persönlichen Klientelnetzwerken basieren, steht diese Notwendigkeit häufig Impulsen entgegen, die Wirtschaft zu modernisieren und zu professionalisieren. Wie der Ökonom Branko Milanović feststellt, ist Korruption ein endemisches Problem des politischen Kapitalismus. Um es ungeschönt zu sagen: Man kann nicht ewig aus derselben Kasse stehlen. Man muss zu einem anderen Modell von Kapitalismus übergehen, um die Profitrate aufrechtzuerhalten – indem man entweder mehr Kapital investiert oder seine Arbeiterinnen und Arbeiter intensiver ausbeutet –, oder man muss expandieren, um weitere Quellen für die Gewinnung von Insiderrenten zu erschließen. Doch sowohl Reinvestitionen als auch die Ausbeutung der Arbeit stoßen im postsowjetischen politischen Kapitalismus auf strukturelle Hindernisse. Einerseits schrecken viele davor zurück, langfristige Investitionen zu tätigen, da ihr Geschäftsmodell und sogar ihr Eigentum daran hängen, dass bestimmte Personen an der Macht bleiben. Es hat sich im Allgemeinen als günstiger erwiesen, Profite einfach auf Offshore-Konten zu verschieben. Andererseits waren die Arbeitskräfte im postsowjetischen Raum urbanisiert, gut ausgebildet und nicht billig. Die relativ niedrigen Löhne in der Region
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waren nur aufgrund der umfangreichen materiellen Infrastruktur und der sozialstaatlichen Einrichtungen möglich, die die Sowjetunion als Erbe hinterlassen hat. Dieses Erbe stellt für den Staat eine enorme Belastung dar – er kann es jedoch nicht so einfach aufgeben, ohne die Unterstützung wichtiger Wählergruppen zu verlieren. Bonapartistische Anführer wie Putin und andere postsowjetische Autokraten traten an, die räuberische Rivalität zwischen politischen Kapitalisten zu beenden, die die 1990er Jahre beherrscht hatte. Sie mäßigten den Krieg aller gegen alle, indem sie die Interessen einiger Fraktionen der Elite gegeneinander ausbalancierten und zugleich andere unterdrückten. Die Grundlagen des politischen Kapitalismus blieben jedoch unangetastet. Als ihre habgierige Expansion an innere Grenzen zu stoßen begann, versuchten die russischen Eliten, sie nach außen zu verlagern. Daher wurden von Russland geleitete Integrationsprojekte wie die Eurasische Wirtschaftsunion intensiviert. Man wollte die Raten der Insiderrenten aufrechterhalten, indem man das für die Extraktion zur Verfügung stehende Gebiet ausweitete. Dabei traf man auf zwei Hindernisse. Das eine war relativ unbedeutend: die lokalen politischen Kapitalisten. In der Ukraine zum Beispiel waren diese in der Regel an billiger russischer Energie interessiert, aber auch an ihrem eigenen souveränen Recht, auf ihrem Territorium Insiderrenten zu erzielen. Sie konnten den antirussischen Nationalismus instrumentalisieren, um ihren Anspruch auf den ukrainischen Teil des zerfallenden Sowjetstaates zu legitimieren, doch es gelang ihnen nicht, ein eigenes Projekt der nationalen Entwicklung auf den Weg zu bringen. Der Titel des berühmten Buches des zweiten ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma, Die Ukraine ist nicht Russland, veranschaulicht dieses Problem. Die Ukraine ist nicht Russland – aber was genau ist sie? Der Versuch der ukrainischen politischen Kapitalisten, die Hegemoniekrise zu überwinden, blieb erfolglos. Deshalb blieb ihre Herrschaft brüchig und letztlich abhängig von der Unterstützung Russlands, wie wir es in jüngerer Vergangenheit auch in Belarus und Kasachstan gesehen haben. Das andere, weitaus größere Hindernis für die weitere eurasische Integration war die Allianz zwischen dem transnationalen Kapital und den gebildeten Mittelschichten im postsowjetischen Raum,
die politisch durch prowestliche, NGO-isierte Zivilgesellschaften repräsentiert wurden. An ihr entzündete sich der zentrale politische Konflikt der Region, der nun in der Invasion der Ukraine kulminiert ist. Die von Putin und anderen postsowjetischen Anführern verordnete bonapartistische Stabilisierung förderte das Wachstum dieser gebildeten Mittelschicht, jedoch blieb ein großer Teil von ihr vom politischen Kapitalismus ausgeschlossen. Stattdessen sahen die Mitglieder dieser Klasse ihre beruflichen und politischen Aufstiegschancen in der Intensivierung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen mit dem Westen. Dabei fungierten sie zugleich als Vorhut westlicher Soft Power im Osten.
Wie der Ökonom Branko Milanović feststellt, ist Korruption ein endemisches Problem des politischen Kapitalismus. Um es ungeschönt zu sagen: Man kann nicht ewig aus derselben Kasse stehlen. Für diese Klasse stellte die Integration in die von der eu und den usa geführten Institutionen ein Ersatz-Modernisierungsprojekt dar, um sich sowohl dem »richtigen« Kapitalismus als auch der »zivilisierten Welt« im Allgemeinen anzuschließen. Und dies bedeutete zwangsläufig einen Bruch mit den postsowjetischen Eliten und Institutionen sowie der tief verwurzelten, aus der sozialistischen Ära stammenden Mentalität der »rückständigen« Massen. Der zutiefst elitäre Charakter dieses Projekts ist der Grund dafür, dass es in keinem postsowjetischen Land jemals wirklich hegemonial wurde – selbst wenn es, wie in der Westukraine, auf einen historisch verankerten antirussischen Nationalismus aufbauen konnte. Noch heute bedeutet die breite Koalition gegen die russische Invasion nicht, dass die ukrainische Bevölkerung um eine positive Agenda herum vereint wäre. Für die überwältigende Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer ist dieser Krieg ein Kampf zur Selbstverteidigung.
Das bedeutet aber nicht, dass sich die Interessen der gesamten Bevölkerung mit den Klasseninteressen derer decken, die in ihrem Namen sprechen. Was diese als universell präsentieren, ist nämlich in Wirklichkeit eine sehr klassenspezifische politische und ideologische Agenda. Gleichzeitig hilft dieser Elitismus, die skeptische Neutralität zu erklären, die viele Staaten des Globalen Südens an den Tag legen, wenn sie aufgefordert werden, sich mit Russland oder der Ukraine zu solidarisieren – also entweder mit einer Möchtegern-Großmacht, die anstrebt, auf Augenhöhe mit denen des Westens zu stehen, oder einer Möchtegern-Peripherie der westlichen Großmächte, die den Imperialismus nicht abschaffen, sondern sich lediglich einem besseren Imperialismus anschließen will. Die Diskussion darüber, welche Rolle der Westen im Vorlauf der russischen Invasion gespielt
Russische Rakete, Mykolajiw, 2022 Der Zoodirektor Wladimir Topchi entschied sich, die Überreste eines der Geschosse im hauseigenen Museum aufzubewahren.
hat, konzentriert sich in der Regel auf Drohgebärden der nato gegenüber Russland. Unter dem Gesichtspunkt des politischen Kapitalismus wird aber deutlich, welcher Klassenkonflikt sich hinter der nato-Erweiterung verbirgt und warum die westliche Integration Russlands ohne dessen grundlegende Umgestaltung niemals hätte funktionieren können. Es gab keine Möglichkeit, die postsowjetischen politischen Kapitalisten in westlich geführte Institutionen zu integrieren. Denn
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diese zielten explizit darauf ab, sie »als Klasse« zu eliminieren, indem sie ihren wichtigsten Wettbewerbsvorteil aufhoben – die vom postsowjetischen Staat gewährten selektiven Vergünstigungen. Die Agenda der sogenannten »Antikorruption« ist ein wesentlicher, wenn nicht sogar der wichtigste Teil der Vision westlicher Institutionen für den postsowjetischen Raum. Und sie wird von der prowestlichen Mittelschicht in der Region weitgehend geteilt. Für die politischen Kapitalisten würde der Erfolg dieser Agenda jedoch ihr politisches und wirtschaftliches Ende bedeuten. Dies erklärt, warum die Integration der Ukraine in die nato für den Kreml eine existenzielle Bedrohung darstellt, während der Beitritt Finnlands viel gelassener gesehen wird, obwohl die finnische Grenze nur 150 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt ist. Der Grund dafür ist weniger, dass Putin der festen Überzeugung ist, dass Ukrainerinnen und Russen »ein Volk« seien, nicht aber Russinnen und Finnen, sondern vielmehr, dass die Überreste der postsowjetischen Wirtschaft in der Ukraine viel leichter in den russischen politischen Kapitalismus zu integrieren wären – wie es in den prorussischen Marionettenstaaten in Donezk und Lugansk bereits geschehen ist. In der Öffentlichkeit versucht der Kreml, den Krieg als einen Kampf um das Überleben Russlands als souveräne Nation darzustellen. In Wirklichkeit geht es jedoch um das Überleben der russischen herrschenden Klasse und ihres Modells des politischen Kapitalismus.
Das Problem der Nachfolge Es waren die Interessengegensätze zwischen postsowjetischen politischen Kapitalisten, den gebildeten Mittelschichten und dem transnationalen Kapital, die die Fronten des Konflikts gezogen
Natascha, Odessa, 2022 Natascha Luschinkina ist Näherin in einer Tarnnetzfabrik in Odessa.
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haben, aus dem der laufende Krieg hervorgegangen ist. Doch was die Gefahr für die politischen Kapitalisten noch verschärfte, war eine Krise ihrer politischen Organisation. Bonapartistische Regime wie die von Putin oder Alexander Lukaschenka in Belarus stützen sich auf eine passive, entpolitisierte Unterstützung. Sie beziehen ihre Legitimität daraus, die Katastrophe des postsowjetischen Zusammenbruchs überwunden zu haben, nicht aus der Art aktiver Zustimmung, die traditionell die politische Hegemonie der herrschenden Klasse in parlamentarischen Demokratien sichert. Diese personalisierte Form autoritärer Herrschaft ist grundsätzlich fragil – und das liegt am Problem der Nachfolge: Es gibt keine klaren Regeln oder Traditionen bezüglich der Machtübergabe, keine explizite Ideologie, an die sich ein neuer Anführer halten müsste, keine Partei oder Bewegung, die ihn aufziehen und ausbilden könnte. Die Ablösung des Anführers ist der Zeitpunkt größter Verwundbarkeit, an dem interne Konflikte innerhalb der Elite gefährlich eskalieren und Aufstände der Bevölkerung am ehesten Erfolg haben können. An Russlands Peripherie haben solche Aufstände in den letzten Jahren zugenommen – mit der Euromaidan-Revolution 2014 in der Ukraine, der Revolution in Armenien 2018, der dritten Revolution in Kirgistan 2020, dem gescheiterten Aufstand in Belarus im gleichen Jahr und zuletzt dem Aufstand in Kasachstan im Januar 2022. In den beiden letzten Fällen war russische Unterstützung entscheidend, um den Fortbestand der Regime zu sichern. Auch in Russland selbst waren die Proteste nach den Parlamentswahlen von 2011 und später die von Alexej Nawalny inspirierten Mobilisierungen nicht unbedeutend. Im Vorfeld der Invasion nahmen die Arbeitskämpfe zu. Umfragen zeigten, dass das Vertrauen in Putin schwand und eine wachsende Zahl von Menschen sich seine Ablösung wünschte – je jünger die Befragten, desto größer die Ablehnung gegenüber Putin. Keine der sogenannten Maidan-Revolutionen stellte eine existenzielle Bedrohung für die Klasse der postsowjetischen politischen Kapitalisten als solche dar. Sie brachten lediglich andere Teile dieser Klasse an die Macht – und verschärften damit die Krise der politischen Repräsentation, auf die sie ursprünglich reagiert hatten. Das ist auch der Grund dafür, dass sich diese Revolutionen immerzu wiederholen. Die Revolutionen hatten jedoch
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noch einen anderen Zweck: Den Staat zu schwächen und die lokalen politischen Kapitalisten zunehmend dem Druck des transnationalen Kapitals auszusetzen – sowohl direkt als auch indirekt über prowestliche ngos. So trieben der iwf, die g7 und die »Zivilgesellschaft« nach der Euromaidan-Revolution in der Ukraine hartnäckig die Einrichtung von »Antikorruptions«-Institutionen voran. Diesen Institutionen ist es in den letzten acht Jahren nicht gelungen, auch nur einen größeren Fall von »Korruption« aufzudecken. Stattdessen haben sie die Aufsicht ausländischer Akteure und »Antikorruptions«-Aktivistinnen über wichtige Staatsunternehmen und das Justizsystem institutionalisiert und damit die Möglichkeiten der einheimischen politischen Kapitalisten beschränkt, Insiderrenten zu erzielen. Angesichts der Probleme, mit denen die einst mächtigen ukrainischen »Oligarchen« heute konfrontiert sind, haben die russischen politischen Kapitalisten allen Grund zu Nervosität.
Unbeabsichtigte Folgen In den vergangenen Monaten wurde viel über die Gründe für das Timing der Invasion und Putins Fehleinschätzung eines schnellen und einfachen Sieges diskutiert. Dabei spielten verschiedene Faktoren eine Rolle, darunter Russlands momentaner Vorsprung bei Hyperschallraketen, die Abhängigkeit Europas von russischer Energie, die Unterdrückung der sogenannten »prorussischen« Opposition in der Ukraine, die Stagnation der Minsker Verhandlungen oder auch das Versagen der russischen Geheimdienste. Der tiefere Grund für die Invasion war jedoch der Klassenkonflikt zwischen den politischen Kapitalisten, die an einer Expansion interessiert sind, um die Raten ihrer Insiderrenten aufrechtzuerhalten, und dem transnationalen Kapital, das mit den oberen Mittelschichten verbündet ist, die vom politischen Kapitalismus ausgeschlossen sind. Wir können den marxistischen Begriff des Imperialismus nur dann sinnvoll auf den laufenden Krieg anwenden, wenn wir die dahinter stehenden materiellen Interessen identifizieren können. Es geht aber zugleich um mehr als nur den russischen Imperialismus. Der Konflikt, der jetzt in der Ukraine mit Panzern, Artillerie und Raketen ausgetragen wird, ist derselbe, der in Belarus und auch in Russland selbst mit Polizeiknüppeln
niedergehalten wurde. Dass sich die postsowjetische Hegemoniekrise verschärft – die herrschende Klasse es also nicht schafft, eine politische, moralische und intellektuelle Führung mit Bestand zu etablieren – ist die Grundursache für die eskalierende Gewalt. Die russische herrschende Klasse ist vielfältig. Einige ihrer Mitglieder erleiden durch die westlichen Sanktionen schwere Verluste. Die relative Autonomie des russischen Regimes gegenüber der herrschenden Klasse erlaubt es ihm jedoch, ungeachtet der Verluste von Einzelnen oder Gruppen die langfristigen kollektiven Interessen dieser Klasse zu verfolgen. Gleichzeitig verschärft die Krise ähnlicher Regime in der russischen Peripherie die existenzielle Gefahr für die russische herrschende Klasse als Ganze.
Der Konflikt, der jetzt in der Ukraine mit Panzern, Artillerie und Raketen ausgetragen wird, ist derselbe, der in Belarus und auch in Russland selbst mit Polizeiknüppeln niedergehalten wurde. Mit dem Krieg will der Kreml diese Gefahr eindämmen und gleichzeitig die politische Organisation und ideologische Legitimation der herrschenden Klasse auf eine höhere Stufe heben. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass sich das Regime in Russland festigt und stärker auf Ideologie und Mobilisierung setzt. Für Putin ist dies eine weitere Etappe im Prozess der postsowjetischen Konsolidierung, den er Anfang der 2000er Jahre mit der Zähmung der russischen »Oligarchen« begonnen hat. Diese erste Phase war geprägt von einem losen Narrativ, man müsse weitere Katastrophen verhindern und die »Stabilität« wiederherstellen. In der zweiten herrscht jetzt ein viel ausgesprochenerer konservativer Nationalismus, der sich im Ausland gegen die Ukraine und den Westen richtet, aber auch im Inland kosmopolitische »Verräter« ins Visier nimmt. Dies ist nun die vorherrschende ideologische Sprache des Regimes.
Einige Autorinnen und Autoren, wie der Soziologe Dylan Riley, argumentieren, dass eine vehementere hegemoniale Politik von oben das Wachstum einer gegenhegemonialen Politik von unten begünstigen kann. Wenn dies zutrifft, könnte die Hinwendung des Kremls zu einer stärker ideologisierten und mobilisierenden Politik die Voraussetzungen für eine Massenopposition schaffen, die organisierter, politisch bewusster und tiefer in den populären Klassen verwurzelt ist, als dies in den postsowjetischen Ländern je der Fall war. Eine solche Bewegung wiederum könnte das Gleichgewicht der sozialen und politischen Kräfte in der Region grundlegend verschieben und möglicherweise dem Teufelskreis, in dem sie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor drei Jahrzehnten gefangen ist, ein Ende setzen.
Schutt, Kiew, 2022 Das Leben vieler Menschen liegt in Trümmern.
Wolodymyr Ischtschenko ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Publikationen sind unter anderem im Guardian, bei Al-Jazeera und in der New Left Review erschienen.
FILM
RECHERCHE
1984
1985
2007
Tag Null
Komm und sieh
I Could Tell You But Then You Would Have to Be Destroyed By Me
Mick Jackson
Elem Klimow
Trevor Paglen
Vor vierzig Jahren sah sich die westliche Welt zwei zivilisatorischen Bedrohungen ausgesetzt: der Inflation und der atomaren Vernichtung. Jetzt, wo sie beide wieder aufleben, lohnt es sich, auf eines der weniger bekannten filmischen Juwelen dieser Ära zurückzukommen. Das Dokudrama Tag Null zeigt die nordenglische Metropole Sheffield nach einem nuklearen Schlagabtausch: Das Leben der Massen ist darauf reduziert, inmitten von Trümmern nach essbaren Abfällen zu kramen. Die Reichsten hingegen leben weiterhin in Saus und Braus – in vergoldeten Bunkern Tausende Meter unter der Erde, abgeschottet von dem Elend, das ihre Politik verursacht hat.
Krieg bedeutet ein Ausmaß an schierem Terror und Trauma, das für diejenigen, die ihn nicht erlebt haben, unvorstellbar ist. Doch das hält einige Künstler nicht davon ab, zu versuchen, dieses Grauen einzufangen. Dieser Klassiker des späten Sowjet-Kinos ist genau so ein Versuch. Inspiriert durch seine eigenen Erfahrungen als Kind während der Schlacht von Stalingrad schildert der Regisseur Elem Klimow in seinem 142-minütigen halluzinatorischen Gang durch die Hölle die grausame Gewalt, mit der die Wehrmacht 1943 das belarussische Hinterland überzog. Zwar siegen am Ende die Guten, jedoch kostet es sie sowohl ihr Zuhause als auch ihren Menschenverstand.
Für Trevor Paglen sind Forschung und Kunst untrennbar. Sein künstlerischer Prozess ähnelt dem eines Detektivs: Er spricht mit ehemaligen Militärs, reist zu geheimen US-Stützpunkten, analysiert geleakte Geheimdokumente und filmt Spionagesatelliten. Bei seinen Recherchen über die »Black Ops« genannten verdeckten Operationen des Pentagons stieß Paglen auf militärische Abzeichen, die mit okkulten Symbolen, grinsenden Außerirdischen und vollbusigen Frauen verziert waren – etwas, das man eher von Studentenverbindungen als von der Regierung erwarten würde. Er hat sie katalogisiert, ihre Symbole entschlüsselt und seine Entdeckungen in einem Buch und Ausstellungen zusammengestellt.
DOKUDRAMA
KÜNSTLERBUCH
PODCAST
MUSIKVIDEO
2011
2020
2022
War Primer 2
Blowback
Apple Orchard
Broomberg, Chanarin & Brecht
Noah Kulwin & Brendan James
Shortparis & Veteranenchor »F. M. Koslow«
Als Bertolt Brecht während des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht war, schnitt er Fotos aus Zeitungen aus und kommentierte sie mit Versen über den Krieg. So entstand die Kriegsfibel. Sechzig Jahre später produzierten die Künstler Adam Broomberg und Oliver Chanarin eine Neuauflage, die sich mit dem »Krieg gegen den Terror« beschäftigt. Anstatt Zeitungen zu verwenden, suchten sie Bilder aus dem Internet und legten sie über die Originalfotos, um sie visuell zu erweitern. Indem die Künstler die Originaltexte beibehalten, unterstreichen sie deren anhaltende Relevanz. Das Ergebnis ist ein Gespräch zwischen zwei Epochen, die vom Krieg geplagt sind.
Über das US-Imperium zu sprechen, ist heute etwas aus der Mode. Aber es bleibt die Tatsache, dass es die bei weitem mächtigste und zerstörerischste Militärmaschine unserer Zeit ist. Seit zwei Jahren geht dieser Podcast der Geschichte des US-amerikanischen Imperialismus nach, beginnend mit einer Chronik der Besetzung des Iraks. Spätere Staffeln untersuchen die Einmischung der USA in die kubanische Revolution und ihre Rolle im Koreakrieg. Mit einer Mischung aus ernsthaften Diskussionen zwischen den Moderatoren Noah Kulwin und Brendan James und satirischen Sketchen des Komikers H. Jon Benjamin verkörpert Blowback, was Podcasts sein können und sollten.
Shortparis ist eine Band aus Sankt Petersburg, die eine Mischung aus Pop, Electronica und orchestralem Folk spielt, zusammengehalten durch den gespenstischen Gesang von Nikolai Komjagin. Anfang dieses Jahres wurde dieser verhaftet, weil er gegen die russische Invasion in der Ukraine protestierte. Das hielt die Band jedoch nicht davon ab, Apple Orchard zu veröffentlichen – ein kontroverses Musikvideo, in dem der Veteranenchor »F. M. Koslow« den schrecklichen Abweg ihres Landes besingt. Am Ende werfen die Weltkriegsveteranen Äpfel in ein Grab – ehemalige Helden werden zu Totengräbern der jüngeren Generationen, für deren Schutz sie einst gekämpft haben.
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Isabella Weber und Fabio De Masi
Die permane Schockthera
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Die permanente Schocktherapie
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Preisexplosionen bedrohen das Leben, wie wir es kennen. Was der Staat tun könnte, um das Schlimmste zu verhindern, und was die Ampel davon abhält, diskutieren Isabella Weber und Fabio De Masi. Interview von Lukas Scholle Collage von Markus Stumpf
Isabella Weber ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst. Als sie im Dezember 2021 im Guardian vorschlug, selektive Preiskontrollen als Mittel gegen Inflation einzusetzen, sorgte das unter wirtschaftsliberalen Ökonomen für einige Aufregung. Ihr Buch How China Escaped Shock Therapy (Routledge, 2021) erscheint 2023 in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp. Fabio De Masi ist Ökonom, ehemaliger Abgeordneter des Deutschen Bundestags und des Europäischen Parlaments für die Linkspartei und zählt zu den einflussreichsten progressiven Wirtschaftspolitikern in Deutschland. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Finanzmacht und Finanzkriminalität.
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Isabella Weber und Fabio De Masi
Seit Monaten steigen die Energiepreise, mittlerweile aber auch die Lebensmittelpreise rasant an. Welche Szenarien seht Ihr für den Winter? IW Das ist die große Frage für jegliche makroökonomische oder geopolitische Analyse zurzeit – aber gleichzeitig ein Blick in die Glaskugel. Infolge der ganzen Schocks und Krisen befinden wir uns heute in einer Situation radikaler Unsicherheit. Und in einer Situation radikaler Unsicherheit sollte man das Möglichste tun, um das schlimmste Szenario zu vermeiden. Das wären physische Gasknappheiten. Bisher haben wir ja nur Preisexplosionen gesehen, die zukünftige Knappheiten einpreisten. Physische Knappheit wäre eine ganz andere Situation. Bei solchen Schocks gilt in der Regel das Recht des Stärkeren. Schwächere Gesellschaftsgruppen sind dann nicht in der Lage, ihre Interessen durchzusetzen. Daher sollten jetzt alle Maßnahmen ergriffen werden, um Sparprogramme umzusetzen, die auf Prinzipien von Solidarität und Beteiligung beruhen. FDM Wir erleben jetzt schon so etwas wie Kriegswirtschaft. Das sehen wir an Debatten wie: Soll bei privaten Haushalten oder der Industrie rationiert werden oder nicht? Gas ist keine Coca-Cola. Wir alle können auf Coca-Cola verzichten, aber wenn die Gasversorgung abbricht, stehen die Räder in vielen Betrieben still. Wir befinden uns in einer Dauerkrise: CoronaPandemie, Ukraine-Krieg, Klimawandel und Extremwetter. In dieser Situation brauchen wir einen starken Staat.
Die steigenden Preise werden Deutschland grundlegend verändern. Das deutsche Exportmodell wird durch höhere Energie- und Lebensmittelpreise fundamental infrage gestellt. Die verhältnismäßig niedrigen Löhne waren nicht zuletzt deshalb möglich, weil auch Grundnahrungsmittel und Miete in Deutschland lange relativ niedrig waren – das weiß jeder, der mal in einem französischen Supermarkt war oder versucht hat, in England eine Wohnung zu mieten. Niedrige Preise für essenzielle Güter haben somit zur Wettbewerbsfähigkeit beigetragen. IW
Und wie wirkt sich die Krise auf den Globalen Süden aus? IW Der wird doppelt getroffen. Von den hohen Preisen und zusätzlich von den explodierenden Zinsraten. Dadurch eskalieren die Schuldenkrisen noch weiter. Anders als manche Länder Südeuropas, die an der Grenze zur Schuldenkrise stehen, stecken ja die Länder des Globalen Südens häufig schon mitten drin. FDM Der Energiepreisschock kann Staatspleiten und chaotische Hunger- und Energieaufstände befördern. Diese Gefahr wird politisch weitgehend unterschätzt. Daher sehe ich auch Energiesanktionen sehr kritisch, die Putin kurzfristig sogar eher in die Hände spielen. Zumal er den Krieg überwiegend in Rubel und nicht in Euros finanziert.
Also sehen wir eigentlich eine Schocktherapie auf ganz vielen Ebenen? IW Die Parallele mit der Schocktherapie ist wirklich wichtig. Wir erleben das ja auf den unterschiedlichsten Ebenen – bei den Energiepreisen, den Zinsen und den Engpässen bestimmter Güter. Das sind einerseits Schocks und andererseits zugleich systemische Probleme. Sie kommen von Prozessen, die sich seit Jahrzehnten anbahnen – Pandemien, dem Klimawandel und den enormen geopolitischen Spannungen.
Schocks führen doch auch immer zu Anpassungsreaktionen. IW Wir sehen ja gerade, dass es eben nicht so ohne Weiteres eine Anpassung gibt. Im Prinzip hatten wir jetzt eine co2-Schocktherapie, die die Preise für fossile Güter vervielfacht hat. Nur ein hoher Preis für fossile Energie reicht aber nicht, um die Struktur der Wirtschaft über Nacht zu verändern. Es braucht massive öffentliche Investitionen, um die Kostenstrukturen zu verändern, sodass es billigere Alternativen gibt. FDM Absolut. Preissignale können nur wirken, wenn es Alternativen gibt. Wenn man auf dem Land lebt und zum Arbeiten in die Stadt muss, aber es keine gute Anbindung im öffentlichen Nahverkehr gibt, dann muss man weiterhin
Die permanente Schocktherapie
voll tanken, um Geld zu verdienen. Spitzenverdiener juckt das hingegen kaum. All diese Schocks – von den Energiepreisen bis zu den Zinsen – zeigen, dass wir immer mehr Krisen in kürzeren Zyklen bekommen, aber in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa eine wirtschaftspolitische Ideologie dominant war, die den Staat nicht dazu befähigt, solche Krisen zu managen.
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Sollte es zu echten Knappheiten kommen, wird dann der Stahl verwendet, um Solarzellen oder um Luxuslimousinen zu bauen?
Die Probleme, die wir heute haben, fußen also auf einer verfehlten Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte? FDM Die Politik hat sie verstärkt. Der Pflegenotstand in Krankenhäusern und Altenheimen und dass der Staat keine Maskenreserven hatte, hat die ökonomischen und sozialen Kosten der Pandemie erhöht. Und die Deutsche Bahn mutierte zum Logistikkonzern mit Börsenfantasien, statt ihr Kerngeschäft zu erledigen. Das macht uns jetzt in der Energiekrise verwundbarer.
Das liegt aber nicht nur an falscher Wirtschaftspolitik. Dazu kommt, dass unser ganzer wirtschaftspolitischer Werkzeugkasten auf makroökonomische Variablen ausgerichtet ist – einerseits mit Fiskalpolitik und andererseits mit Geldpolitik. Auf diesen beiden großen makroökonomischen Steuerungsmechanismen sind unsere heutigen Institutionen aufgebaut. Letztes Jahr gingen viele Ökonominnen und Ökonomen davon aus, dass die Inflation nur übergangsweise sei – und sie dachten das, weil sie sich nur auf makroökonomische Variablen konzentrierten, also auf die Auslastung der Kapazitäten im Gesamtsystem. IW
Derzeit haben wir in Europa aber vor allem Schocks in ganz spezifischen Sektoren. Da diese teilweise systemrelevant sind, kann es geschehen, dass es zum Beispiel bei Energiemangel zu einem Produktionsstopp kommt, was Arbeitslosigkeit nach sich ziehen kann. Für solche Schocks sind unsere Notfallpläne nicht gewappnet. Und wenn Notstände nicht geplant sind, dann nehmen sie in der Regel autoritäre Formen an. Daher braucht es Pläne, die demokratische Beteiligung sicherstellen und den Staat dazu befähigen, mit dieser Art von sektoralen Krisen umzugehen. Da könnten auch Gewerkschaften eine viel größere Rolle spielen, da sie die branchenspezifische Expertise besitzen. FDM Isabella macht einen sehr wichtigen Punkt: Eine Krisenwirtschaft wie in der Pandemie oder während des Ukraine-Krieges erfordert immer auch ökonomische Planung – ob bei Masken, Impfstoffen oder Gas. Es heißt oft, dass die Leute in der Krise konservativ denken. Ich glaube daher, dass die politische Linke die Debatte über den schützenden Staat und Sicherheit führen muss. Wir werden wegen des Klimawandels etwa den Katastrophenschutz befähigen müssen. Die Architektur unserer Innenstädte muss auf Extremwetter ausgerichtet werden – zum Beispiel brauchen wir
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Isabella Weber und Fabio De Masi
mehr Unterstände gegen Hitze und ein neues Versprechen von Mobilität: Es ist schlichtweg kein effektives Verkehrssystem, wenn Millionen Menschen vereinzelt in Blechlawinen in Innenstädte pendeln. Mit den Datentechnologien, mit denen derzeit Konzerne unser Leben überwachen und ihre Märkte planen, könnten Kommunen Verkehrsströme organisieren und viele ultraflexible Kleinbusse koordinieren. Wir brauchen weniger Debatten über Verzicht und mehr Debatten über unsere staatliche Mission.
Isabella, Du hast Dich viel mit dem chinesischen Wirtschaftssystem beschäftigt. Gibt es planwirtschaftliche Maßnahmen, die wir von China übernehmen sollten? Zwar funktioniert das chinesische Staatsgefüge etwas anders als das westliche, dennoch bietet China ein Repertoire an Ideen, die über Jahrzehnte erprobt wurden – von der Teilnahme des Staates an bestimmten Märkten bis hin zum kontrollierten Platzen großer Blasen. Solche Vorgehensweisen können Denkanstöße sein. Letztendlich muss ein Umdenken der Wirtschaftspolitik aber von den konkret gegebenen Strukturen und Institutionen ausgehen.
analog auch auf den Strom- und Ölpreis übertragen. Dadurch würden kleine und mittlere Einkommen entlastet werden und gleichzeitig Einsparanreize für Vermögende erhalten bleiben. Aber das alleine reicht natürlich nicht. Ich glaube, dass man auch über die Stabilisierung von Lebensmittelpreisen nachdenken muss. Kernprinzip sollten aber auch da branchenspezifische Eingriffe sein. Was man bei Gas machen kann, geht nicht bei Weizen. Man muss sich genau anschauen, wie diese Märkte funktionieren, woher die Preiserhöhung kommt und welche Folgen sie hat. Im Idealfall wird dann gezielt und international koordiniert eingegriffen. Bei Lebensmitteln hieße das dann vor allem, internationale Pufferlager für zentrale Grundnahrungsmittel einzurichten.
IW
Wie könnten Maßnahmen gegen den Energiepreisschock aussehen? Drei große Maßnahmen müsste man kombinieren: Die erste wäre eine Stabilisierung der Großhandelspreise über ein Käuferkartell. Damit meine ich nicht, dass die Länder direkt gemeinsam einkaufen, sondern dass sie sich absprechen und Höchstpreise festlegen. Das würde an der Quelle, nämlich dem Großhandelsmarkt, einen beträchtlichen Teil des Preisdrucks rausnehmen. Zweitens braucht es klare Zielsetzungen beim Einsparen von Gas. Das Einsparungspotenzial ist natürlich extrem einkommensabhängig. Vor allem geht es um energieintensive Luxusausgaben wie Swimmingpools. Und die dritte Maßnahme würde direkt beim Gaspreis ansetzen. Im Frühjahr 2022 habe ich zusammen mit Sebastian Dullien einen Gaspreisdeckel vorgeschlagen. Dabei wird für ein Grundkontingent ein niedrigerer Preis festgesetzt. Darüber hinaus gibt es dann hohe Marktpreise mit Einsparanreizen. Das könnte man IW
Die Eskalationsspirale, die wir jetzt auf dem Energiemarkt sehen, ist ja auch eine politische Eskalationsspirale. Und ich bin nicht besonders davon überzeugt, dass die Sanktionspolitik in dieser Form sinnvoll ist. Russland führt einen verbrecherischen Angriffskrieg. Doch der Konflikt um den Einfluss über die Ukraine hat eine lange Vorgeschichte und wir verwickeln uns natürlich in Widersprüche. Wir haben bei völkerrechtswidrigen Kriegen der usa nie über Energiesanktionen nachgedacht. Das wäre auch nicht sinnvoll gewesen. Aber Sanktionen gegen Oligarchen können ein Druckmittel und Verhandlungsmasse sein, mit der man sich an den Verhandlungstisch setzt. Jetzt, wo es die Energiesanktionen gibt, könnte auch deren schrittweiser Rückbau in Verbindung mit einem Waffenstillstand ein diplomatisches Fenster öffnen und die Unsicherheit auf den Märkten reduzieren. Das Instrument der Übergewinnsteuer, die ich bereits 2021 während der Corona-Krise im Bundestag forderte, erscheint mir auch sinnvoll für die Abschöpfung von Kriegsgewinnen im Energiesektor. Ich sehe sie nicht so sehr als ein Mittel, um Einnahmen zu erzielen, sondern eher um die Marktmacht von Unternehmen zu beschränken und ihnen die Anreize für Übergewinne zu nehmen. Ich finde im Übrigen einen Punkt richtig, den Habeck macht: Neu über das Kartellrecht nachzudenken, um Konzerne zu entmachten. In den letzten Jahren wurde das Kartellrecht unterhöhlt. Wirtschaftsliberale FDM
Die permanente Schocktherapie
haben da eine offene Flanke. Sie kritisieren das vermeintliche Kartell der Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt, vor der Marktmacht von Konzernen knicken sie aber ein.
Hinter der Preissetzungsmacht von Unternehmen stehen ja oft einflussreiche Eigentümer. FDM Richtig, wir müssen auch über die langfristige Oligarchisierung der Wirtschaft sprechen. Große Vermögenskonzentration ist ein riesiges Problem. Nicht nur in Bezug auf soziale Ungleichheit, sondern weil mit Vermögen massive politische und wirtschaftliche Macht einhergeht. Das ist auch eine Frage der demokratischen Steuerung. Da haben wir in Deutschland eine ganz große Schieflage.
Dabei muss man im Blick behalten, dass die Art von Inflation, wie wir sie derzeit erleben, auch eine Umverteilung von unten nach oben ist. Wenn die Preise von essenziellen Gütern explodieren, die in armen Haushalten einen sehr großen Teil der Ausgaben ausmachen, dann haben diese eine viel höhere Inflationsbelastung als reiche Haushalte. Gleichzeitig sind im Zweifelsfall die reichen Haushalte auch die letztlichen Eigentümer derjenigen Unternehmen, deren Profite explodiert sind. IW
Für all die Maßnahmen gegen die steigenden Preise braucht es finanziellen Handlungsspielraum des Staates. Fabio, Du sagtest während der Corona-Krise, dass eine Rückkehr zur Schuldenbremse ökonomischer Selbstmord wäre. Ist das jetzt noch immer so? Ja. Angesichts der Mega-Investitionen, die wir brauchen, um ökonomische Horrorszenarien wie den Klimakollaps abzuwenden, wäre es völlig irre, das fast vollständige Kreditverbot der Schuldenbremse wieder einzuhalten. Die Schuldenbremse ist kein ökonomisches, sondern ein politisches Instrument. Finanzminister sollen sich permanent für Staatsausgaben rechtfertigen und es soll Druck gemacht werden, um alles zu privatisieren, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Und wenn man einen Finanzminister hat, der auf eine solche Dummheit schwört, dann kommt auch weiterhin keine besonders kluge Wirtschaftspolitik FDM
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heraus. Wenn Herr Lindner auf die Schuldenbremse pocht und höhere Hartz-iv-Sätze ablehnt und Herr Habeck einen Gaspreisdeckel blockiert, dann ist das eine Schocktherapie für die Schwächsten. Absolut. Geld ist nicht knapp. Ressourcen sind es hingegen schon. Die Frage der Prioritätensetzung stellt sich dann ganz anders: Sollte es zu echten Knappheiten kommen, wird dann der Stahl verwendet, um Solarzellen oder um Luxuslimousinen zu bauen? Das steht zwar nicht vor der Tür, ist aber auch nicht ausgeschlossen. Um solche Schocks zu verhindern, wäre es jetzt vielleicht mal gut, über wirtschaftspolitische Antworten nachzudenken. IW
Wenn das ausbleibt, wie sieht die Welt dann in fünfzehn Jahren aus? Die akuten Notstände im Bereich Klima, der geopolitische Meltdown und die Pandemie zeigen bereits ein wirkliches Versagen der Politik. Und da reden wir ja noch nicht mal über internationale Solidarität und Verteilungsfragen. Daher sind wir ziemlich schlecht gewappnet, um mit weiteren enormen Krisen und Schocks umzugehen, die sich schon abzeichnen. IW
Und wie siehst Du die Zukunft, Fabio? FDM Also die kurze Antwort ist: beschissen. Die Politik ist mit diesen ganzen Krisen und Schocks wirklich überfordert. Das ist ein bisschen so wie ein Hamster, der im Rad läuft, aber gar nicht beachtet, was außerhalb seines seines Käfigs passiert. Gleichzeitig gibt es im Moment keinen politischen Akteur, der sagt: Wir müssen bei diesen Krisen ganz anders gegensteuern, müssen kommende Krisen und Schocks vorbeugen und können das auch durchsetzen. Dazu muss die politische Linke diese großen ökonomischen Fragen unserer Zeit sehr viel stärker in den Mittelpunkt rücken und den Menschen Lösungen anbieten jenseits von »kürzer duschen«. Eine Industriepolitik, die Probleme löst, ist möglich. Das Problem ist nicht die Knappheit des Geldes, sondern vor allem die Knappheit des politischen Verstands.
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Jonas Junack
CODES DES KRIEGES Ein Krieg ist immer auch ein Krieg der Worte. Sie beschönigen oder dämonisieren. Aber was bedeuten sie wirklich?
»TERRITORIALE ZUGESTÄNDNISSE« Ein paar Menschen mit Macht und Waffen entscheiden, in welchem Land sich Dein Zuhause nun befindet.
Text von Jonas Junack Illustrationen von Marie Schwab
»BARBAREN« So nannten die alten Griechen jene, »die unverständlich sprechen«. Jahrtausende später twittert der inzwischen abberufene ukrainische Botschafter Andrij Melnyk: »Wir brauchen mehr deutsche Waffen, um die russischen Barbaren zu vertreiben«, während Wladimir Putin über »barbarische Angriffe von Neonazis« auf den Donbass spricht. Die Bedeutung ist die gleiche geblieben: Reden hilft nicht, diese Kulturlosen verstehen nur die Sprache der Gewalt.
»FLUGVERBOTSZONE« Leider reicht es nicht aus, Stoppschilder aufzustellen, um Militärflugzeuge am Einsatz zu hindern. Wer eine Flugverbotszone einrichten will, muss bereit sein, Flieger abzuschießen, die sich dem Verbot widersetzen.
»KRIEGSMÜDIGKEIT«
»STAATSBÜRGER IN UNIFORM«
Während Energie- und Lebensmittelpreise steigen, titelt der Spiegel »Die Angst vor der deutschen Kriegsmüdigkeit«. »Müde« kommt von »sich gemüht haben«. Wem die Kosten keine Mühe machen, der hat es auch leichter, des Krieges nicht müde zu werden, lieber Spiegel.
Die Bundeswehr möchte sich als Bringerin von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie verstanden wissen. Doch vor einigen Jahren stellte ein junger Major dieses Image im Deutschlandfunk infrage: Wer Streitkräfte als uniformierte Entwicklungshelfer darstelle, täusche Bürgerinnen und Soldaten.
Codes des Krieges
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»PUFFERZONE«
»NUKLEARER FRIEDEN«
Putin hätte gern eine gegenüber der nato und Erdogan eine in Nordsyrien. Klingt nach einer Sicherheitsvorkehrung, meint aber vor allem die Dominanz über angrenzendes Territorium.
Die Entscheidungsmacht über die sekundenschnelle Auslöschung ganzer Ballungsräume liegt in den Händen einiger weniger Machthaber – und sie haben uns auch noch dazu gebracht, diesen Zustand als Frieden zu bezeichnen.
»MATERIALSCHLACHT« »Die Ukraine ist einer massiven Materialschlacht ausgesetzt«, schrieb Ralf Fücks, der Direktor des Zentrums Liberale Moderne, auf Twitter. Tagesspiegel und FAZ nahmen den Begriff auf, ganz so, als würde das »Material« selbst in den Krieg ziehen und sich nicht unter jedem Helm und in jedem Panzer auch ein Mensch verbergen.
»BEDINGUNGSLOSE UNTERSTÜTZUNG« »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten«, wusste schon Willy Brandts linke Hand, der spd-Politiker Egon Bahr. Und diese Staaten kennen keine Bedingungslosigkeit.
»SIEG«
»DEFENSIVWAFFEN« Vom Schutzhelm über die Luftabwehr-Rakete bis zur Sicherung des Luftraums durch Militärflugzeuge: Per Definition existieren Defensivwaffen nicht, dennoch wird heute vieles so bezeichnet. Dabei geht es darum, wer das Gerät benutzt, und nicht, wofür es gebaut wurde.
Was bedeutet »Sieg« für Putin – eine zerstörte oder reicht auch eine neutrale Ukraine? Und was für den »Westen« – ein Rückzug Russlands oder erst ein Regime Change in Moskau? Fest steht: Für alle Menschen, die ihre Leben, ihre Angehörigen, ihre Wohnungen und ihre Zukunftsperspektiven verlieren, ist jeder Krieg eine Niederlage.
Jonas Junack ist Story Editor bei JACOBIN und arbeitet als freier Journalist im Hörfunk.
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Vivek Chibber
»Kapitalismus und Imperialismus sind nicht dasselbe«
»Kapitalismus und Imperialismus sind nicht dasselbe«
Vivek Chibber räumt auf mit den Irrtümern der klassischen Imperialismustheorie. Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University. In seinen Büchern Locked in Place und Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals beschäftigt er sich mit den Folgen von und dem Denken über Kolonialismus. Im Interview spricht er darüber, was eine Imperialismustheorie heute leisten muss.
Interview von Alexander Brentler Illustration von Andy King
Einfach ausgedrückt, was ist Imperialismus? Man muss zwischen Imperialismus und Kapitalismus unterscheiden. Der Marxismus verfügt über eine robuste Theorie des Kapitalismus als ein System, in dem eine Klasse die andere ausbeutet. Und Ausbeutung muss natürlich nicht an nationalen Grenzen haltmachen – es kann auch über Grenzen hinweg ausgebeutet werden. Imperialismus muss also etwas anderes bedeuten, als dass Ausbeutung grenzübergreifend stattfindet, denn das wäre einfach nur Kapitalismus. Hier herrscht mitunter Verwirrung unter Marxistinnen und Marxisten. Imperialismus erschöpft sich nicht darin, dass die kapitalistische Klasse eines Landes die arbeitende Klasse in einem anderen Land ausbeutet. Dafür haben wir bereits eine Theorie – unsere Theorie des Kapitalismus. Daher wird der Begriff des Imperialismus sowohl von Marxistinnen als auch von NichtMarxisten traditionell dazu verwendet, nicht ein ökonomisches, sondern ein politisches Phänomen zu bezeichnen. Imperialismus bedeutet, dass die herrschende Klasse eines Nationalstaats
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die Souveränität und Autonomie eines anderen Nationalstaats beschneidet. Dies kann durch verschiedene Mechanismen erfolgen, seien es wirtschaftliche, politische oder militärische. Nach dieser Definition kann Imperialismus die Form direkter Herrschaft annehmen – wie beim Kolonialismus – oder eine Form indirekter Beeinflussung. Im letzteren Fall spricht man mitunter von Neokolonialismus. Es ist aber entscheidend, dass wir den Imperialismus vom Kapitalismus an sich unterscheiden, denn ihre Vermischung verursacht viele Missverständnisse.
Das Interesse unter Sozialistinnen und Sozialisten, Theorien über Imperialismus und Kolonialismus aufzustellen, nahm in den 1910er und 20er Jahren stark zu, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Vor welchen Fragen standen Leute wie Lenin oder Luxemburg? Der Impuls, den Kolonialismus besser verstehen zu wollen, war im Wesentlichen ein politischer. Europäische Marxistinnen und Marxisten vor 1914 wollten herausfinden, was ihre Staaten dazu veranlasste, sich andere Länder als Kolonien anzueignen und sie zu beherrschen. Luxemburg und Hilferding vermuteten vor allem ökonomische Gründe. Doch die unmittelbare Motivation war politischer Natur – ein Staat wollte den anderen dominieren. Nach 1914 verschiebt sich die Problemstellung. Man fragte sich nun, weshalb die Staaten Europas untereinander Krieg führten – und das mit der aktiven Zustimmung und Teilnahme sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien, zu einer Zeit, als die globale Linke scheinbar so geeint war. Lenin stützt sich auf Hilferding, stellt sich jedoch eine andere Frage. Hilferding hatte versucht, herauszufinden, was die Kolonialmächte motivierte, die Dritte Welt zu dominieren. Für Lenin lautet die Hauptfragestellung nun: Warum bekriegen sie sich gegenseitig? Und seine Antwort schließt den Imperialismus mit ein. Er behauptet, der Konflikt zwischen Kolonialmächten rühre daher, dass jede von ihnen versucht, die Kontrolle über den Rest der Welt an sich zu reißen, um ihrer jeweils eigenen kapitalistischen Klasse zu dienen. Lenin führt damit die Konkurrenz zwischen
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Vivek Chibber
Um ein Phänomen zu erklären, das er nicht verstand, behauptete Lenin, der Kapitalismus habe sich fundamental gewandelt. seit den 1960ern haben ergeben, dass die Beweislage für ein neues Monopolstadium des Kapitalismus ab den 1920ern oder 1930ern sehr dünn ist. Der Kapitalismus war auch damals, wie zu allen Zeiten, von Konkurrenz geprägt.
Aber um ein Phänomen zu erklären, dass er nicht verstand, hat Lenin diese irrtümliche Theorie entwickelt, der Kapitalismus habe sich fundamental gewandelt. Sie war nicht nur darin fehlerhaft, dass sie besagte, die Spannungen zwischen reichen Staaten seien durch das neue Monopolstadium bedingt, denn sie prognostizierte auch, dass diese über die nächsten Jahrzehnte anhalten und sich sogar zuspitzen würden. Das war natürlich grundfalsch. Kautsky sollte in diesem Punkt eher recht behalten als Lenin, denn er hatte eine verstärkte Kooperation zwischen den kapitalistischen Staaten vorausgesagt. Auf der orthodoxen Linken leiden wir immer noch unter den Folgen dieser Fehleinschätzungen.
Staaten als neues zentrales Element der Imperialismustheorie ein. Diese Konkurrenz und die Tatsache, dass so viele sozialistische Parteien in sie hineingezogen wurden, waren neue Phänomene, die die Linke damals traumatisierten. In den 1920ern und 30ern wird die Theorie des Imperialismus also erweitert und dieser nicht mehr als reines Nord-Süd-Phänomen aufgefasst. Die Frage nach der horizontalen Dimension des Imperialismus – der Rivalität zwischen imperialistischen Staaten – hat besonders die Dritte Internationale beschäftigt, aber auch viele spätere Sozialistinnen und Sozialisten. Und bei der Beantwortung dieser Frage hat man sich dann fürchterlich verrannt.
Inwiefern? Erstens ging man fälschlich davon aus, dass sich der Kapitalismus in einer neuen Phase seiner Entwicklung – dem Monopolstadium – befinde. Dieser These haften grundsätzliche Probleme an. Jahrzehnte der Forschung und Debatten
Ein dritter Fehler bestand darin, dass diese Theorie mit einer ebenso mangelhaften Auffassung bürgerlicher Revolutionen vermengt wurde. Lenin und leninistische Parteien glaubten, dass eine echte bürgerliche Revolution von
einer authentischen nationalen Bourgeoisie angeführt wird, die zwei Eigenschaften aufweist: Sie ist antifeudal, wie es die französische und englische Bourgeoisie angeblich waren, und sie ist antiimperialistisch. Und da es nicht möglich sei, den Sozialismus aufzubauen, bevor man die kapitalistische Phase durchlaufen habe, sollten Revolutionärinnen und Revolutionäre der nationalen Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen Imperialismus und Feudalismus zur Seite eilen. Auf Grundlage dieser Überlegungen unterstützten Lenin und die Sowjetunion – letztere vor allem nach 1945 – verschiedene nationalistische Bewegungen, die mitunter ziemlich reaktionär sein konnten, solange sie auf irgendeine Weise gegen die Dominanz eines westlichen Landes aufbegehrten. Zum Beispiel bestand man darauf, dass die Kommunistische Partei Chinas Chiang Kai-Shek unterstützen sollte, weil die Nationalisten die »nationale
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Man kann den Klassenkampf im eigenen Land nicht einfach einfrieren, während man den imperialistischen Feind bekämpft.
Bourgeoisie« repräsentierten. Man rechtfertigte das, indem man sagte, es würde den globalen Kapitalismus schwächen, wenn sich Staaten aus der imperialen Kette lösten. Auch das war einfach falsch. Die Länder, die von rechtsgerichteten nationalistischen Bewegungen geführt wurden, versuchten nie, sich aus dem kapitalistischen System zurückzuziehen. Stattdessen zerschlugen sie ihre eigenen Arbeiterbewegungen und bedienten sich dabei nationalistischer Rhetorik. Leninistische Parteien konnten oft wenig dagegen ausrichten, weil sie sich zuvor der gleichen Sprache bedient hatten. Die leninistische Theorie des Imperialismus wird noch heute als Rechtfertigung für den Nationalismus in der Dritten Welt herangezogen, an dem nichts fortschrittlich ist. Einige der größten Kommunistischen Parteien der Welt – etwa die Indische, die Südafrikanische und die Philippinische kp – bekennen sich noch immer zu dieser Theorie. Das hatte und hat auch weiterhin katastrophale Folgen.
Die Begründung lautet immer: Wir müssen zuerst den Imperialismus besiegen, dann kümmern wir uns um nationale Angelegenheiten. Aber das funktioniert so nicht – man muss beide Kämpfe gleichzeitig führen. Man kann den Klassenkampf im eigenen Land nicht einfach einfrieren, während man den imperialistischen Feind bekämpft. Denn zu jedem Zeitpunkt während dieses Kampfes findet auch eine Auseinandersetzung darüber statt, welche Klasse den Ton angeben wird, wenn die Unabhängigkeit von Kolonialismus und Imperialismus erst einmal erreicht ist. In dieser Hinsicht hat das leninistische Erbe viel Schaden angerichtet. Ironischerweise hatte Lenin vollkommen recht mit seiner Kritik an der spd, der Zweiten Internationale und Arbeiterparteien in ganz Europa. Sie hätten den Krieg nicht mittragen dürfen. Seine politischen Schlussfolgerungen waren also richtig. Auch hatte er recht damit, dass die Dritte Internationale jede antikoloniale Bewegung vollumfänglich unterstützen sollte. Doch die zugrundeliegende Theorie des Kapitalismus war fehlerhaft. Ich glaube, man kann auch auf Grundlage einer genaueren Theorie des damaligen und heutigen Kapitalismus zu den gleichen politischen Schlüssen gelangen. Eine solche Theorie hätte aber zugleich einige der katastrophalen Fehlentscheidungen hinsichtlich des Nationalismus verhindern können, die die Linke in der Nachkriegszeit getroffen hat.
Hatte Lenin grundsätzlich Unrecht damit, dass sich der Kapitalismus auf ein Monopolstadium hin entwickelt? Oder hat er sich einfach nur im Zeitpunkt geirrt? Für mich sind das alles empirische Fragen. Wir sollten keine Glaubenssätze daraus machen. Der Fehler war, zu denken, dass der Kapitalismus mit zunehmender Reife in ein Monopolstadium eintritt. Der Kapitalismus, wie wir ihn bisher kennen, hat stets ausgeprägte Tendenzen zur Erosion von Monopolen aufgewiesen, nicht zu ihrer Bildung. Die Konkurrenz am Markt
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Vivek Chibber
war immer stark. Wir können die Zukunft nicht voraussagen – vielleicht wird eine Zeit kommen, in der Monopole die Wirtschaft übernehmen, aber bis jetzt ist das noch nicht geschehen. Was wir beobachten können, ist, dass bestimmte Sektoren zu bestimmten Zeiten anfällig für Monopolbildung sind, während andere Sektoren diese Tendenz permanent aufweisen. Das sind Sektoren, bei denen selbst die bürgerliche Ökonomie einsieht, dass sie reguliert werden müssen, etwa gewisse Ressourcen. Das bedeutet aber nicht, dass das System als Ganzes durch und durch monopolistisch geworden wäre. In den 1960ern, 70ern und 80ern gab es eine Menge hervorragender Forschung, die sich mit den empirischen Daten zu Konkurrenz, Profitraten und Margen beschäftigt hat. Die bedeutendste Arbeit auf diesem Gebiet hat der Ökonom Anwar Shaikh geleistet, aber viele andere haben ebenfalls Wichtiges dazu beigetragen. Ich glaube, dass diese Frage unter marxistischen Ökonominnen als geklärt angesehen wird. Es steht weitestgehend fest, dass es weder zu Lenins Zeit, noch im späten 20. oder führen 21. Jahrhundert eine systemübergreifende Tendenz zum Monopol gab. In Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus benutzt Lenin fortwährend den Begriff der Konzentration als ein Synonym oder Beleg für Monopolisierung. Aber Kapitalkonzentration und eine stark kompetitive Marktdynamik können sich gleichzeitig entwickeln – das eine schließt das andere nicht aus. Dass man es mit riesigen Unternehmen zu tun hat, heißt nicht automatisch, dass sie Monopole innehaben. Sie konkurrieren einfach als riesige Unternehmen miteinander. Lenin ist hier also ein schwerer konzeptioneller Fehler unterlaufen, der es ihm ermöglichte, empirische Daten fälschlich als Belege für Monopolbildung zu präsentieren, während sie in Wirklichkeit voll und ganz mit dem Fortbestehen scharfer Konkurrenz auf den Märkten vereinbar waren.
Die andere Komponente der klassischen marxistischen Auffassung des Imperialismus ist die Unterkonsumtionstheorie. Schneidet sie Deiner Meinung nach besser ab? Die Unterkonsumtionstheorie besagt, der Kapitalismus habe ganz grundlegend das Problem, dass er mehr Güter produziere, als er absorbieren könne. Dieser Überschuss entstünde vor allem in der sogenannten Abteilung ii, die Konsumgüter produziert. Weil permanent zu viele Güter hergestellt würden, müssten auch ständig externe Märkte gesucht werden, um
Dass man es mit riesigen Unternehmen zu tun hat, heißt nicht automatisch, dass sie Monopole innehaben. Sie konkurrieren einfach als riesige Unternehmen miteinander.
»Kapitalismus und Imperialismus sind nicht dasselbe«
Der Theorie der Arbeiteraristokratie zufolge hätte diese Zeit für die us-amerikanische Arbeiterklasse ein Festgelage an imperialer Beute sein müssen. Tatsächlich war es die längste Periode der Lohnstagnation in der Geschichte des Landes.
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diese Güter dort zu verkaufen. Hierin liegt, so die These, die Triebkraft hinter kolonialer Expansion und die Motivation dafür, dass kapitalistische Staaten um ihre Kolonien rivalisieren. Luxemburg ist dafür bekannt, diese Theorie weiterentwickelt zu haben. Ursprünglich formuliert hat sie aber John Hobson, ein britischer Linksliberaler und der vermutlich einflussreichste Theoretiker des Imperialismus zur Jahrhundertwende. Er hatte sowohl auf Lenin als auch auf Luxemburg einen großen Einfluss. Interessanterweise stammt die vernichtendste Kritik an Luxemburgs Imperialismustheorie von Bucharin. Er zeigt bald nach Ende des Ersten Weltkriegs einen frappanten Fehler dieser Theorie auf. Denn sie stellt zwar fest, dass es zwei Abteilungen der Produktion gibt – für Kapitalgüter und für Konsumgüter – unterschlägt dann jedoch, dass die Produktion von Kapitalgütern selbst eine Nachfrage nach Konsumgütern erzeugt. Auch wenn sich die Beschäftigten des Konsumgütersektors nicht alle produzierten Konsumgüter leisten können, gibt es da noch die Beschäftigten des Kapitalgütersektors, die ebenfalls einen Absatzmarkt für Konsumgüter bilden. Das bedeutet, dass zusätzliche Investitionen in Kapitalgüter auch zusätzliche Nachfrage erzeugen, die wiederum Investitionen in den Konsumgütersektor rechtfertigt. Die Unterkonsumtionstheorie begeht einen ernsthaften Fehler in der Kausalattribution. Ja, es kommt manchmal vor, dass kapitalistische Märkte von Gütern überschwemmt werden, und es stimmt, dass sich in einer Krise der Einbruch der Nachfrage darin manifestiert, dass sich bei den Firmen das Inventar stapelt. Deswegen erscheint es, als würden die überschüssigen Lagerbestände die Krise verursachen. Aber hierbei handelt es sich um ein Symptom der Krise, nicht um ihre Ursache. Was wir brauchen, ist eine marxistische Theorie, die die Ursache von Wirtschaftskrisen richtigerweise in Fluktuationen der Profitabilität verortet, welche sich aus dem Akkumulationsprozess selbst ergeben, und nicht aus der Unfähigkeit von Märkten, Güter zu absorbieren. Die überzeugendsten Ansätze fokussieren hierauf.
In diesem Zusammenhang taucht immer wieder die Frage auf, welche Rolle die Arbeiterklasse im Globalen Norden spielt. Sie wird mitunter – und das ist jetzt zu einem gewissen Grad eine Karikatur – als »Arbeiteraristokratie« diffamiert, die mit den Früchten des Imperialismus ruhiggestellt wird. War das jemals der Fall? Und wenn ja, in welchem Umfang trifft diese Diagnose heute zu? Das war niemals der Fall. Auch in diesem Punkt hat der Leninismus viel Schaden angerichtet. Wir müssen hier wieder unterscheiden zwischen bestimmten Teilen der
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Vivek Chibber
Arbeiterklasse und der Idee, die ganze Klasse sei vom Imperialismus korrumpiert. Natürlich stimmt es, dass Teile der westlichen Arbeiterklasse höhere Löhne fordern konnten, weil ihre Unternehmen besonders günstig in internationalen Handelsbeziehungen positioniert waren. Das ist offensichtlich wahr, hat aber keinerlei Bedeutung für eine generelle Analyse des Globalen Nordens oder des globalen Kapitalismus, denn man muss nur lange genug suchen, um Einzelbeispiele für so gut wie alles zu finden. Wenn man die entwickelten Volkswirtschaften in ihrer Gesamtheit betrachtet, so stimmt es zwar, dass ihre Arbeiterklassen zu bestimmten Zeiten konservativ eingestellt waren, aber dass ihr Konservatismus daher rührte, dass sie vom Imperialismus profitierten, lässt sich schwerlich belegen. Zu dieser Frage hat eine Menge empirischer Forschung stattgefunden – und sie hat ergeben, dass es keinen kontinuierlichen Strom an Einnahmen gab, der die Löhne der Arbeiterklasse in England, Deutschland oder anderswo auf Basis imperialistischer Ausbeutung subventioniert hätte. Der Konservatismus, den es unter Arbeiterinnen und Arbeitern gab, resultierte aus politischen und ökonomischen Faktoren in ihren eigenen Ländern. Am Beispiel der usa lässt sich das gut nachvollziehen. Die Ökonomin Ramaa Vasudevan zeigt in ihrem Catalyst-Artikel »The Global Class War« auf, dass die Ära ab 1980, in der die us-amerikanischen Investitionen im Ausland am schnellsten anstiegen, tatsächlich die längste Periode der Lohnstagnation in der Geschichte des Landes war. Der Theorie der Arbeiteraristokratie zufolge hätte diese Zeit für die us-amerikanische Arbeiterklasse ein Festgelage an imperialer Beute sein müssen. Natürlich könnte man sagen, dass dies ausblieb, weil die imperialistischen Profite von der Arbeiterklasse ferngehalten und anderswo gehortet wurden. Aber damit fällt das ganze Argument in sich zusammen. Hier zeigt sich, dass es keinen Automatismus gibt, der dafür sorgt, dass im Ausland erworbene Profite zu höheren Löhnen für die Arbeiterklasse in imperialistischen Ländern führen. Dass hier kein notwendiger Zusammenhang besteht, liegt daran, dass das Lohnniveau stets von zwei Faktoren abhängt: Produktivität
Dass Luxemburg und Lenin politisch recht hatten, hat verdeckt, dass sie aus den falschen Gründen recht hatten.
und Klassenkampf. Wenn man hingegen nicht daran glaubt, dass Löhne von Klassenkämpfen abhängen, welches Modell von Kapitalismus setzt man dann voraus? Dann versteht man den Kapitalismus im Wesentlichen von einem nationalen Standpunkt anstatt von einem Klassenstandpunkt aus. Und das bringt uns zurück zu der Auffassung des Imperialismus als eines Verhältnisses zwischen Nationen und nicht zwischen Klassen. Die These von der Arbeiteraristokratie hat also drei Probleme: Erstens sind internationale Kapitalströme noch kein Imperialismus, sondern einfach nur Kapitalismus. Zweitens hängen Löhne vom Ausgang von Klassen-
kämpfen ab – sie sind keine nationale Angelegenheit. Da die Anhängerinnen und Anhänger dieser Theorie beide Umstände nicht verstehen, nehmen sie drittens implizit an, dass die Arbeiterinnen und die Kapitalisten eines Landes Partnerinnen sind und keine Gegner. Mit allen drei Annahmen liegen sie falsch.
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Die klassische Imperialismustheorie hat also viele Leerstellen. Gibt es trotzdem Teile von ihr, die nützlich sind? Eine schlüssige Theorie des Imperialismus müsste zwei Dimensionen umfassen: zum einen die historische Dimension – die Evolution des Imperialismus in der Geschichte –, und zum anderen den Imperialismus der Gegenwart. Wir haben immer noch keinen adäquaten Nachfolger für die Imperialismustheorie von Lenin und Luxemburg. Beide weisen gravierende Schwachstellen auf: Luxemburgs, weil sie sich die Unterkonsumtionstheorie zu eigen macht, und Lenins wegen seiner Theorie des Monopolkapitals – zwei Positionen, die sich nur schwer verteidigen lassen. Beide zogen die richtigen politischen Konsequenzen für ihre Zeit. Doch die Tatsache, dass sie politisch recht hatten, hat den Umstand verdeckt, dass sie aus den falschen Gründen recht hatten. Wir brauchen also eine Theorie, die erklärt, warum es für Sozialistinnen und Sozialisten richtig war, 1914 gegen den Ersten Weltkrieg zu agitieren und antikoloniale Bewegungen zu unterstützen, aber falsch, in der kolonisierten Welt mit nationalistischen Eliten gemeinsame Sache zu machen, weil sie damit die Aussichten auf gesellschaftlichen Fortschritt in diesen Ländern untergruben. Die erste Herausforderung für eine solche Theorie besteht darin, den Zusammenhang
zwischen Kapitalismus und Imperialismus zu Lenins Zeiten neu zu ergründen. Sie muss außerdem konsistent erklären können, wie sich die leninsche Welt in den 1950er Jahren in eine kautskysche Welt verwandelt hat, wie also aus dem Antagonismus zwischen reichen Staaten kooperative Beziehungen wurden. Und sie muss verständlich machen, wie die gegenwärtigen Verhältnisse zustande gekommen sind. Die größte Hürde für eine neue Theorie des Imperialismus wird sein, die Ära seit dem Ende des Kalten Krieges und die Weiterentwicklung der horizontalen Dimension des Imperialismus zu erklären. Damit meine ich die Kooperation zwischen den herrschenden Klassen in der atlantischen Welt. Dazu wurde bereits gearbeitet, und wird es auch weiterhin. Aber jetzt, nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, ist es noch drängender geworden, das atlantische Bündnis – und die nato als dessen übergreifende Institution – zu analysieren und herauszufinden, was die wahren Interessen innerhalb
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Vivek Chibber
Internationalismus bedeutet einfach, dass man die Arbeiterbewegung auch außerhalb der Grenzen des eigenen Landes unterstützt. Antiimperialismus bedeutet spezifischer, dass man sich der Aggression reicher Staaten gegenüber armen Staaten entgegenstellt.
dieses Bündnisses sind. Doch um das alles auch nur ansatzweise zu verstehen, muss man einem materialistischen Ansatz folgen, der diese Prozesse als von Gruppen- und Klassendynamiken getrieben begreift.
Du hast erwähnt, dass sozialistische Organisationen oft im Namen des Antikolonialismus und Antiimperialismus nationalistische Bewegungen unterstützt haben. Wie kann stattdessen eine produktive Form des Antiimperialismus heute aussehen? Auch hier müssen wir wieder sehr genau unterscheiden, nämlich zwischen Internationalismus und Antiimperialismus. Internationalismus bedeutet einfach, dass man die Arbeiterbewegung auch außerhalb der Grenzen des eigenen Landes unterstützt. Jede Sozialistin in der entwickelten Welt sollte eine Internationalistin in diesem Sinne sein. Antiimperialismus bedeutet spezifischer, dass man sich der Aggression reicher Staaten gegenüber armen Staaten entgegenstellt. Im Globalen Norden sind das zwei sehr verschiedene Unterfangen. Denn während Internationalismus darauf abzielt, die Arbeiterbewegung in anderen Ländern zu stärken, muss sich antiimperialistische Politik hier in erster Linie gegen die eigenen Regierungen richten. Für Sozialistinnen in Deutschland, in den usa oder in Großbritannien muss Antiimperialismus bedeuten, die eigene Regierung zu einer anderen Politik zu bewegen, denn hier gibt es zumindest die Möglichkeit einer gewissen Einflussnahme. Noam Chomsky sagt das schon seit Jahrzehnten, und er hat recht damit. Eine
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antiimperialistische Bewegung baut man in erster Linie dadurch auf, dass man den Klassenkampf im eigenen Land führt. Doch ein Großteil der heutigen Linken, der stark an Universitäten und in ngos verhaftet ist, ist gegenüber dieser Strategie nicht besonders aufgeschlossen. Man ist zu sehr an symbolischer und individualistischer Politik interessiert und ist zugleich, um es offen zu sagen, tief geprägt von der Exotisierung des Südens. In der Folge wird Antiimperialismus als etwas ganz anderes als Klassenkampf im eigenen Land aufgefasst. Aber den antiimperialistischen Kampf kann man nicht individuell führen. Er ist stets ein kollektives Unterfangen. Gemeinsam gegen den Militarismus und die Aggression der eigenen Regierung vorzugehen und die Arbeiterklasse im eigenen Land davon zu überzeugen, dass ihre materiellen Interessen in der Deeskalation von Konflikten und der Demilitarisierung ihres eigenen Staates liegen – das ist Antiimperialismus.
Gebunden. 480 Seiten. € 28,– Erscheint am 5. Oktober
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Hans Thie
Text von Hans Thie llustrationen von Zane Zlemeša
Um zu verstehen, wie mächtige Staaten außerhalb ihrer Grenzen agieren, hilft ein Blick auf die Herrschaftsprinzipien der alten Römer. Vieles, was sie einst ersannen, wird bis heute praktiziert.
Von den Römern lernen
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Divide et impera
Principiis obsta
Teile und herrsche. Du musst Deine Gegner spalten, wenn Du bestimmen willst. Dieses Alpha der Politik ist allen bekannt, wird aber selten erkannt. Dabei ist es das Fundament aller Herrschaft. Sein Pendant ist die Basis des Widerstands: United we stand, divided we fall. Diese Weisheit unterdrückter Länder und aufbegehrender Klassen wirkt heute bisweilen verstaubt, der pluralen Wirklichkeit nicht angemessen. Und doch erfährt jede Allianz, jede Bewegung aufs Neue: Gegenmacht ist geballte Macht, sonst ist sie keine.
Wehre den Anfängen. Vernichte Deine Gegner, solange sie noch klein sind. Dieser Grundsatz kannte selten Gnade. Früher hieß das: Ketzer verbrennen, Kommunardinnen erschießen, Sozialisten und Kommunistinnen exekutieren, auch wenn sie noch ganz jung sind. Schlechte Schülerin der alten Römer war in diesem Punkt immer wieder die Linke: Statt den kollektiven Willen wachsen zu lassen, war man von Anfang an bei minimalen Differenzen maximal erregt.
Respice finem
Bedenke das Ende. In vollständiger Fassung: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. Was immer Du tust, tu es klug und beachte die Folgen. Wenn Du Frieden willst, bereite den Dieser Rat verhallt, wenn der Wahn Krieg vor. Wenn Du Deine Bedingungen diktieren willst, habe stets Waffen der Überlegenheit regiert. So steht auch das us-Imperium immer wieder bereit, die für Deine Gegner unkalkulierbare Risiken sind. Dabei gilt: vor den Ruinen seiner eigenen Taten: Iran, Vietnam, Afghanistan, Irak. Betone, dass Du den Frieden willst Verdammt jeden Krieg, jede Aufrüsund der Gegner Dich zur Abwehr tung, bewahrt die Lebensgrundlagen. zwingt. Sensibel und scharfsinnig Das wäre respice finem auf der Höhe schrieb Walter Benjamin 1926: »Wer der Zeit. Nicht jeder für sich und alle aber den Frieden will, der rede vom Krieg.« Wer die Schrecken des Krieges gegeneinander auf der Jagd nach den vor Augen hat, wird ihn scheuen. Aber Reichtümern dieser Welt. Nicht nach den Maßstäben der Macht erobern das ist nicht genug. Es geht um mehr: und unterdrücken. Sondern überzeuSi vis pacem para pacem. Wer den gen, für Zusammenarbeit begeistern, Frieden will, bereite den Frieden vor. der Ausbeutung von Mensch und Angesichts der beiden existentiellen Gefahren – des schnellen Atomkriegs- Natur harte und verlässliche Grenzen todes und des langsamen Klimatodes – setzen. ist globale Kooperation unverzichtbar geworden.
Si vis pacem para bellum
Hans Thie ist Publizist. Sein Buch Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft ist im VSA-Verlag erschienen.
Bereit für den Frieden
»Zeitenwende« heißt: Das Militär ist der Regierung dreimal so viel wert wie die Bevölkerung. Text von Ines Schwerdtner Collage von Andy King Infografiken von Julius Klaus und Marie Schwab
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durchaus bewusst. Wie der neue Kanzler agiert, erinnert an seine Vorgängerin Angela Merkel: kaum Bewegung, technokratisches Durchregieren, aber wenn es zu großen Erschütterungen kommt, wird auch kurzerhand mal der Atomausstieg beschlossen, werden Banken aufgefangen, wird die Autoindustrie gerettet, werden Bazookas rausgeholt. Die Zeitenwende bedeutet weit mehr als die bloße militärische Aufrüstung. Sie bringt eine lange geplante Wende in der deutschen Außenpolitik auf den Begriff und steht zugleich in einer Zeit der Krisen mit Inflation und explodierenden Energiepreisen für einen Moment, in dem die herrschende Politik des Zentrums ihre Legitimität bewahren muss. Wer wieviel entlastet wird, wer einsparen und wer frieren muss, wird nach Möglichkeit unter dem Mantel der Zeitenwende verdeckt.
Lange vorbereitet
Eines muss man Olaf Scholz lassen. Er findet in Krisensituationen stets das eine Wort, das eine neue Wirklichkeit beschreibt und das er zugleich für seine politischen Zwecke instrumentalisieren kann. So war es kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie, als sich der ökonomische Druck auf Unternehmen und Privathaushalte verstärkte. Der damalige Finanzminister setzte die Schuldenbremse aus – für einen alteingesessenen Technokraten eine überraschend schnelle Kehrtwende – und dafür die »Bazooka« ein. Diese kriegerische Metapher prägte sich sofort ein und wurde von den Medien gern zitiert. Mit einem Volumen von über einer Billion Euro umfasste die Bazooka beispiellose Wirtschaftshilfen und Entlastungspakete, also etwas Ziviles. Genau andersherum verhält es sich mit der »Zeitenwende«, die der Bundeskanzler drei Tage nach Ausbruch des Ukraine-Krieges bei einer Sondersitzung des Bundestags ausrief. Hier steht ein zwar gewaltiges, aber ganz und gar nicht martialisches Wort für ein riesiges Sondervermögen fürs Militär. Scholz selbst sagte in seiner Rede, dass es sich um eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik handele. Ihm ist die historische Tragweite also
Tatsächlich trägt bereits die Sonderausgabe des Reports der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2020 den Titel Zeitenwende | Wendezeiten. Schon dort werden eine strategische Neuorientierung und mehr Geld für das Militär gefordert. Die Konferenz, die im wesentlichen ein Zusammenkommen
Die Militärausgaben Deutschlands steigen stetig an. 80 Anteil Aufrüstungspaket
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Militärausgaben Deutschland 2017—2021, Prognose bis 2024 Quellen: NATO, Statista, Jane’s Information Group
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Ines Schwerdtner
von Regierungsvertreterinnen und Waffenlobbyisten ist, hat natürlich nicht wirklich die Aufgabe, »Sicherheit« zu schaffen – sie ist aber ein guter Indikator dafür, wohin sich die herrschende Außenund Sicherheitspolitik bewegen wird. Durch jährliche Steigerungen des Militärbudgets und eine Annäherung an das 2-Prozent-Ziel der nato hatte die Bundesregierung bereits vor dem russischen Angriff massiv auf Aufrüstung gesetzt. Die Zeitenwende begann also schon vor Jahren, vollzog sich aber eher subtil. Jahrelang beschwerte man sich über die schlechte Ausrüstung der Bundeswehr, doch die Bedrohung durch China oder Russland war eher diffus und ökonomischer Natur – es fehlte ein wirklicher Anlass, einen militärischen Paradigmenwechsel vom Zaun zu brechen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist nun genau das Möglichkeitsfenster, auf das die Waffenlobby gewartet hat. Pläne für die Aufrüstung lagen bereits in den Schubladen, sodass die Summe von 100 Milliarden Euro, die Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner ohne Absprache mit den eigenen Parteien oder dem Koalitionspartner zwei Tage nach Kriegsbeginn proklamierten, schnell in konkrete Käufe schweren Geräts umgemünzt wurde. Es ist zweifellos wahr, dass die Bundesregierung schnell reagieren musste. Ebenso wahr ist aber, dass diejenigen, die von Kriegen profitieren, nicht lange auf sich warten ließen, um ihr Geschäft anzukurbeln.
Seit Jahren wird bei der Aufrüstung der Bundeswehr davon gesprochen, dass es nicht nur an Kriegsgerät, sondern auch an langen Unterhosen mangele. Doch wie viele Unterhosen stecken in den 100 Milliarden Euro?
Wieder wer sein Ende Juli schreibt Scholz in einem Gastbeitrag in der FAZ, der den nüchternen Titel »Nach der Zeitenwende« trägt, »dass wir uns nach Ende des Kalten Krieges in falscher Sicherheit gewiegt haben«. Aus dem Angriff auf die Ukraine ergäbe sich ein Handlungsauftrag für Deutschland und die eu. Man müsse das Land »sicherer und widerstandsfähiger« machen, die eu solle – das wird im Original sogar fett gedruckt – zum »geopolitischen Akteur« werden. Energie- und Wirtschaftsminister Robert Habeck setzt etwas niedriger an, spricht aber auch davon, dass Deutschland »dienend führen« solle. Was das bedeuten soll, lässt sich nur im geopolitischen und ökonomischen Zusammenspiel der großen Wirtschaftsmächte erklären. Übersetzt könnte es heißen, dass sich Deutschland gegenüber der nato und den usa zwar weiterhin unterordnen wird, innerhalb der eu aber zu
Frankreich aufschließt und auch militärisch eine Rolle einnimmt, die es wirtschaftlich als Hegemon schon lange inne hat. Deutschland wird dadurch natürlich nicht direkt zu einer Großmacht – vielmehr versuchen Staat und Industrie wiedergutzumachen, dass es im globalen Wettstreit ins Hintertreffen geraten ist und das deutsche Modell des Exportüberschusses mit seinem Niedriglohnsektor ohne billige Energie aus dem Ausland womöglich nicht mehr funktioniert. Frankreich und Deutschland sind in diesem europäischen Rahmen die zentralen Player. Während Deutschland durch seine Wirtschaftsleistung zur politisch vorherrschenden Kraft aufstieg, investierte Frankreich schon immer mehr in seine Rüstungspolitik. Der Ökonom Claude Serfati schreibt in einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur militärischen Industriepolitik der beiden Länder:
Bereit für den Frieden
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Luft 40,9 Milliarden Euro
»Führungsfähigkeit« der Bundeswehr 20,7 Milliarden Euro
Landstreitkräfte 16,6 Milliarden Euro
See 19,3 Milliarden Euro
Bekleidung und persönliche Ausrüstung 2 Milliarden Euro
Forschung und Entwicklung 500 Millionen Euro
Quelle: AFP
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Ines Schwerdtner
Die weltweiten Rüstungsausgaben wachsen das siebte Jahr in Folge. Die USA bleiben Spitzenreiter, Deutschland rückt auf Platz 7 vor. 1. USA
Mrd. USD 1000 800 600 400
4. Vereinigtes Königreich 6. Frankreich 7. Deutschland Restl. NATO
200 0 NATO
2. China
5. Russland
Militärausgaben der Welt 2021 Quellen: NATO, Sipri Institute
»Das Engagement für eine gemeinsame Verteidigungspolitik der eu spiegelt sich in Frankreichs Bemühungen wider, seine Überlegenheit im militärischen Bereich dazu zu nutzen, weiterhin ein Schlüsselakteur innerhalb der eu zu bleiben und gleichzeitig im Inland die Anhebung der Rüstungsausgaben zu rechtfertigen und die Zustimmung für Militäreinsätze zu erhöhen.« Analog könnte es nun auch der Bundesregierung darum gehen, den Rüstungskomplex zu stärken. So stiegen gleich am ersten Handelstag nach der Zeitenwende-Rede die Börsenkurse der Rüstungskonzerne Rheinmetall, Heckler & Koch, Thyssenkrupp und Co. deutlich. Wie sich eine europäische Armee aufstellt – auch wenn es sie auch offiziell nicht gibt –, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Deutschlands Rolle wird jedenfalls eine andere sein als in den Jahrzehnten davor, zumal sich die usa zunehmend auf den Wettstreit mit China konzentrieren werden. Um sich energiepolitisch, wirtschaftlich und ideologisch von Russland abzukoppeln, gilt es nun, neue Partner in der Welt zu finden. Damit
es nicht so aussieht, als würde man auch nur beim imperialen Spiel um Macht und Ressourcen mitmachen, wird dem Ganzen ein ideologischer Überbau aufgesetzt und Deutschland als das Gegenteil von Putins Russland inszeniert. So schreibt Scholz im besagten Gastbeitrag, die eu sei »die gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie«. Dass Deutschland gleichzeitig neue Energie-Verträge mit den Autokratien in Katar oder Aserbaidschan abschließt, entlarvt diese Erzählung zwar, doch sie bleibt wirkmächtig. Die Bundesregierung und Olaf Scholz haben außerdem erkannt, dass der »klassische« Westen an Dominanz verliert. Ohne die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas geht es heute nicht mehr – und viele von ihnen tragen die Sanktionen gegen Russland nicht mit. Generell scheint der Westen hier an Einfluss zu verlieren – insbesondere gegenüber China, das nicht die Aura einer Kolonialmacht hat, sondern sich im Gegenteil wirkungsvoll als Erster unter Gleichen darstellen kann: ein Entwicklungsland, das es geschafft hat. Scholz’ Gegenhegemonieprojekt heißt »neue globale Kooperation der Demokratien« und er fügt hinzu: »Damit das gelingt, müssen wir die Anliegen des Globalen Südens zu unseren Anliegen machen.« Die Hungerhilfen an den Globalen Süden, die aufgrund der Nahrungsmittelknappheit von der Bundesregierung gezahlt werden, betragen in diesem Jahr 880 Millionen Euro, das sind 0,88 Prozent des Sondervermögens für die Bundeswehr. So weit geht das Anliegen des Globalen Südens als unser Anliegen dann auch nicht.
Zeitenwende im eigenen Land Tatsachen im eigenen Interesse zu verbiegen, ist eine beliebte Technik von Herrschenden, um sich den innenpolitischen Konsens zu sichern. Je stärker das Narrativ darauf fokussiert, sich vor äußeren Feinden abschirmen zu müssen, umso besser lassen sich im Inneren auch die größten Reformen durchsetzen. Eine ganze Reihe von us-Präsidenten haben sich auf diesem Weg die Wiederwahl gesichert. Aber auch in Deutschland ist dies nicht unüblich: Zum Beispiel begründete Gerhard Schröder 2003 in seiner Rede zur Agenda-Reform den Rückbau des Sozialstaats auch mit dem »Mut zum Frieden« und seiner Ablehnung des Irakkriegs. Die populäre Nichtteilnahme am Krieg erkaufte den sozialen Kahlschlag der Nullerjahre.
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Heute muss die Zeitenwende sowohl für Aufrüstung als auch für einen harten Sparkurs herhalten. Scholz selbst verwendet den Begriff mittlerweile in nahezu jedem Politikbereich, in dem die Ampelregierung drastische Veränderungen oder Kürzungen plant. Und der Trick funktioniert: Der Aggressor Putin eignet sich hervorragend als Figur, mit der sich noch die härtesten energiepolitischen Unterlassungen wie die Gasumlage legitimieren lassen. Statt Übergewinne der Energieunternehmen zu besteuern oder die Menschen vorausschauend zu entlasten, etwa indem die Preise gedeckelt werden, werden genau diese steigenden Preise umstandslos an Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben. Soziale Entlastungen sind dagegen mickrig. Der Krieg zwingt »uns« zum Sparen. Die Zeitenwende fordert ihre Opfer. Es ist Putins Schuld, dass wir frieren müssen; es ist Putins Schuld, dass die Preise steigen. Die Ampelregierung kann auf diesen externen Schock verweisen, um die jetzige Politik der unterlassenen Hilfen als notwendige Reaktion auf das Unwesen eines anderen darzustellen. »Wir werden einen langen Atem brauchen«, schreibt Olaf Scholz in seinem FAZ-Beitrag deshalb auch, und »der Weg ist nicht leicht, auch nicht für so ein starkes und wohlhabendes Land wie unseres«. Man habe deshalb Hilfen in Höhe von 30 Milliarden Euro für die Bürgerinnen und Bürger auf den Weg gebracht. Im Klartext: Unser Militär ist uns mehr als dreimal so viel wert wie unsere Bevölkerung. Nicht wenige linke Sozialdemokratinnen oder Grüne versuchen nun, die Zeitenwende-Metapher auch sozial- oder klimapolitisch aufzuladen, damit in ihr mehr als nur die Militarisierung steckt, was natürlich unschön wäre für eine selbsternannte Fortschrittskoalition. Die Zeitenwende wird zum leeren Signifikanten für alles, was grundsätzlich verändert werden muss. Die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal schreibt kurz vor der Abstimmung zum Sondervermögen im Spiegel, dass die Zeitenwende erst dann vollkommen sei, wenn sie sozialökologisch vorangetrieben würde. Auch Linke schmeißen relativ leichtfertig mit Forderungen um sich, was man mit den 100 Milliarden sonst noch alles finanzieren könnte. Zweifellos wäre das Geld bei erneuerbaren Energien oder in der Verkehrswende besser verwendet gewesen, doch so leicht ist es eben nicht. Die Kräfteverhältnisse in der Ampelregierung, in den staatlichen
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Institutionen und in der Öffentlichkeit lassen nicht zu, dass in gleicher Weise für Sozial- oder Klimapolitik Geld herangeschafft wird wie für die Bundeswehr. Die Regierenden wollen auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass es grundsätzlich möglich ist, auch andere Politikbereiche mit genügend Geld auszustatten. Denn je größer die Ansprüche der Bevölkerung, desto leichter kann auffliegen, dass man im Wesentlichen nur Lobbypolitik betreibt. Der Begriff der Zeitenwende ist vom Bundeskanzler geprägt worden, um die Aufrüstung und die harten energiepolitischen Entscheidungen zu rechtfertigen. Ob es uns gefällt oder nicht: Es liegt bis auf weiteres in seiner Deutungshoheit, was damit bezeichnet werden soll. Hoffnung besteht allerdings darin, dass sich gegen die massiven Preissteigerungen zurecht sozialer Protest ankündigt, der die Zeitenwende-Metapher mit ihrer beschwichtigenden Rhetorik des Gürtel-enger-Schnallens und Langen-Atem-Habens angreift. Die Streiks in den Krankenhäusern sowie an den Flug- und Seehäfen zeigen, dass die Beschäftigten nach Jahren der ökonomischen Auszehrung nicht weiter gewillt sind, auf den Lohn und die besseren Arbeitsbedingungen zu verzichten, die sie verdienen – und sich auch erkämpfen können. Auch der Agenda-Politik folgten soziale Proteste, die das politische System veränderten.
Ines Schwerdtner ist Editor-in-Chief bei JACOBIN .
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Alexander Brentler
Wie man einen Coup überlebt
Boliviens linke Regierung versuchte vierzehn Jahre lang, dem Militär politisch beizukommen. Am Ende wurde sie weggeputscht. Doch ihre Versuche, die Streitkräfte von innen zu erneuern, waren nicht völlig vergebens – denn nach 342 Tagen kehrte die Demokratie zurück. Text von Alexander Brentler Illustrationen von Yves Haltner
»
Ich musste mich innerhalb von 30 Sekunden entscheiden, ob ich in dieses Flugzeug steige oder nicht«, erinnert sich die ehemalige Gesundheitsministerin Boliviens, Gabriela Montaño Viaña, an die dramatischen Ereignisse während des Militärputsches im November 2019. In einem Interview mit der Tageszeitung La Razón aus La Paz schildert Montaño, wie sie zusammen mit Präsident Evo Morales, Vizepräsident Álvaro García Linera und weiteren politischen Vertrauten vom Flughafen in Chimoré im tropischen Teil des Departamento de Cochabamba ihre Flucht antrat, die sie zunächst nach Paraguay und schließlich nach Mexiko führen sollte. Der Tageszeitung Opinión aus Cochabamba zufolge soll es vor dem Start zu Handgreiflichkeiten zwischen Angehörigen der bolivianischen Streitkräfte und dem Piloten der mexikanischen Maschine gekommen sein. »Ich habe meinen Töchtern, meiner Mutter und meinem Partner versprochen, dass ich lebend aus der Sache herauskommen würde«, erzählt Montaño. »Álvaro hat dann mit dem Kommandanten der Luftwaffe telefoniert und von ihm eine Flugerlaubnis verlangt.« Nachdem dieser Morales und seinen Mitstreiterinnen 30 Minuten gewährte, um den bolivianischen Luftraum zu verlassen, sollen Unbekannte das Flugzeug kurz nach dem Abheben mit einem Raketenwerfer beschossen haben. Mit der Flucht der wichtigsten Regierungsmitglieder am 11. November 2019 schien Boliviens
Experiment mit dem demokratischen Sozialismus nach fast vierzehn Jahren beendet zu sein. Evo Morales Ayma, seit Januar 2006 erster Indigener Präsident des südamerikanischen Landes und Parteivorsitzender der Movimiento al Socialismo – Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos (mas-ipsp) hatte am Tag zuvor seinen Rücktritt erklärt, nachdem ihn der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Williams Kaliman Romero, dazu aufgefordert hatte.
»Ich habe meinen Töchtern, meiner Mutter und meinem Partner versprochen, dass ich lebend aus der Sache herauskommen würde.«
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Alexander Brentler
Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück Morales’ Amtszeit war in der bolivianischen Geschichte beispiellos. Die Wirtschaftsleistung des Landes verdoppelte sich und die Armutsquote fiel von über 50 auf unter 20 Prozent. Erreicht wurde dies nicht etwa durch neoliberale Strukturreformen und Kredite des Internationalen Währungsfonds, sondern durch eine drastische Erhöhung der Förderabgaben auf Erdgas, die Südamerikas ärmstem Land öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur in bisher ungekanntem Ausmaß ermöglichten. Hinzu kam eine kluge Industriepolitik, die auf wirtschaftliche Diversifizierung und Importsubstitution durch den Aufbau von Staatsbetrieben setzte – wie etwa einer Düngemittelfabrik des staatlichen Erdgaskonzerns ypfb, der staatlichen Fluggesellschaft Boliviana de Aviación oder dem Glashersteller Envibol, zu dessen Kunden inzwischen selbst Coca-Cola gehört. Auch in kultureller Hinsicht brach die masRegierung mit der Vergangenheit. Am 25. Januar 2009, drei Jahre nach Übernahme der Regierungsgeschäfte, stimmten 61,4 Prozent der Bolivianerinnen und Bolivianer einer neuen Verfassung zu: Aus der alten Republik wurde offiziell der Plurinationale Staat Bolivien, Ausdruck eines explizit antikolonialen Selbstverständnisses. Neben Spanisch wurden 36 weitere Indigene Sprachen zu Amtssprachen – darunter Quechua und Aymara mit mehr als zwei beziehungsweise eineinhalb Millionen Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern im Land. Die regenbogenfarben karierte Wiphala, ein traditionelles Symbol der Indigenen Befreiungsbewegung, wurde neben der rot-gelb-grünen Trikolore zur offiziellen Landesflagge. Nur eine kleine Minderheit der Bolivianerinnen und Bolivianer würde anderswo als weiß wahrgenommen werden. Nichtsdestotrotz wurde die Gesellschaft jahrhundertelang von einer europäisch geprägten, spanischsprachigen Oberschicht dominiert, die mit Verachtung auf die verschiedenen Indigenen Kulturen der breiten Bevölkerung blickte. Damit sollte nun Schluss sein. Über die nächsten vierzehn Jahre sollten alle Menschen in Bolivien – ganz gleich, welcher Kultur sie sich zugehörig fühlten – in einem Staat leben, der sie glaubhaft repräsentierte und für ihre Belange ansprechbar war. In diesen vierzehn Jahren wurde aus Bolivien kein sozialistisches Paradies. Es blieb ein armes,
peripheres, von Rohstoffexporten abhängiges Land mit tiefen gesellschaftlichen Problemen und sozialen Ungerechtigkeiten. Und doch zeigte die Regierung der mas einen alternativen Entwicklungspfad zum neoliberalen Washington Consensus auf, der für Millionen von Menschen nicht nur ein materiell besseres Leben, sondern auch ein neues kulturelles Selbstbewusstsein bedeutete. Doch keine dieser Errungenschaften konnte Morales davor bewahren, im November 2019 von seinem Amt zurücktreten und aus seinem Land fliehen zu müssen.
Trouble im Trópico Der Ärger begann im Februar 2016, als die mas versuchte, Morales und García Linera durch eine Verfassungsänderung eine vierte Amtszeit zu ermöglichen. Die notwendige Volksabstimmung endete in einer knappen Niederlage – 51,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler lehnten den Vorschlag ab. Hierin schlug sich zum ersten Mal eine schwelende Legitimitätskrise für die mas-Regierung greifbar nieder, die erst zwei Jahre zuvor mit fulminanten 61,4 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden war. Zwar konnte die bolivianische Wirtschaft dank ihrer Diversifizierung die ab 2014 fallenden Rohstoffpreise deutlich besser verkraften als etwa die venezolanische oder brasilianische, doch auch an ihr gingen sie nicht spurlos vorüber. Hinzu kam Unmut über teure Prestigeprojekte der Regierung – etwa den repräsentativen Regierungssitz Casa Grande del Pueblo in La Paz – die die öffentliche Meinung spalteten. Auch gab es nach zehn Jahren Evo einen gewissen natürlichen Überdruss, gerade in der jüngeren Generation. Später kippte das Verfassungsgericht jedoch die Limitierung sämtlicher politischen Amtszeiten, was einer erneuten Kandidatur von Morales und García Linera den Weg ebnete. Bei den Wahlen am 20. Oktober 2019 erhielten Morales und die mas 47,1 Prozent der Stimmen. Lange war unklar, ob sie eine Stichwahl vermeiden können würden, indem sie mehr als 10 Prozent Abstand zum zweitplatzierten Oppositionskandidaten Carlos Mesa erzielten – am Ende reichte es knapp. Doch als die Organisation Amerikanischer Staaten einen Bericht veröffentlichte, der Wahlbetrug unterstellte, heizte das die bereits geladene politische Stimmung im Land weiter an. Die Anschuldigungen sollten sich zwar letztendlich
Wie man einen Coup überlebt
als größtenteils haltlos herausstellen – direkte Beweise für Betrug gibt es bis heute keine. Sie taten aber dennoch ihren Zweck: Vor allem die Mittelschicht in den Großstädten, die wichtigste Basis der Opposition, machte ihrem Unmut mit massiven Protesten Luft. Wie fast bei jedem Coup, war auch hier der Moment entscheidend, in dem der mas die Kontrolle über die Staatsgewalt entglitt. Am 8. November verweigerten Polizeikräfte, die mit der Bewachung des Präsidenten beauftragt waren, ihren Dienst. Doch es war General Kalimans Rücktrittsforderung, die Morales’ Schicksal besiegelte. Das Militär hatte das letzte Wort gesprochen. Nicht für alle Sozialistinnen und Sozialisten im Land ging der Militärputsch so glimpflich aus wie für Montaño, García Linera und Morales. Nachdem sich die konservative Senatorin Jeanine Áñez vor einem nicht beschlussfähigen, zu zwei Dritteln leeren Parlament in Abwesenheit der mas-Abgeordneten illegal als Interimspräsidentin vereidigen lassen hatte, unterzeichnete sie ein Dekret, dass Polizei und Militär vollständige Immunität bei der Gewaltanwendung gegen mas-Demonstrationen einräumte. Vor allem in den Großstädten rissen sich Polizeieinheiten massenhaft die Wiphala von der Uniform und stellten sich in den blutigen Dienst der Reaktion. Bei den Massakern von Sacaba und Senkata töteten Sicherheitskräfte zwanzig Menschen, Hunderte wurden verletzt und etliche im Nachgang gefoltert. Die mas-Politikerin Patricia Arce, Bürgermeisterin von Vinto, einer Vorstadt von Cochabamba, wurde von einem Mob entführt und durch die Straßen geschleift, geschlagen, rasiert und mit roter Farbe übergossen.
Gas schildert, herrscht innerhalb der Streitkräfte des Landes seit Jahrzehnten ein ideologisches Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite steht eine konservative Fraktion des Militärs, die sich Großgrundbesitzern, dem ausländischen Kapital und dem Sicherheitsapparat der usa verbunden fühlt. Sie rekrutiert sich vor allem, aber nicht ausschließlich, aus den Eliten der Tieflandprovinzen, insbesondere des Departamento de Santa Cruz und seiner Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra, dem Zentrum der bolivianischen Erdgas- und Rindfleischindustrie. Ihr gegenüber steht eine Fraktion von Offizieren, die sich auf eine Tradition nationalistischer Modernisierer beruft. Mit Alfredo Ovando Candía und Juan José Torres herrschten in Bolivien zwischen 1969 und 1971 zwei Generäle, die diesem Lager nahe standen. Insbesondere Torres versuchte während seiner kurzen Amtszeit, die Öl- und Gasförderung unter die Kontrolle des Staates zu bringen und die Wirtschaft zu modernisieren – zum Unmut ausländischer Investoren. Gustavson beschreibt, wie der Chaco-Krieg, den Bolivien in den 1930er Jahren mit Paraguay um die Ölvorkommen im südlichen Tiefland führte, die Vorstellung des Militärs als Garant nationaler wirtschaftlicher Selbstbestimmung begründete, auf die sich Figuren wie Ovando und Torres – und schließlich auch die mas – beriefen. Auch innerhalb der mas-ipsp sieht man die Armee in erster Linie als Hüterin nationalstaatlicher
Schild und Schwert Es ist keinesfalls so, als hätte in den vierzehn Jahren Regierungszeit der mas niemand kommen sehen, dass so etwas passieren könnte. Wie viele seiner Nachbarländer – etwa Brasilien, Argentinien und nicht zuletzt Chile – hat auch Bolivien eine traurige Geschichte militärischer Machtergreifungen. Einer der blutigsten Putsche erfolgte 1971 durch den rechten General Hugo Banzer Suárez. Doch das Verhältnis der mas zum Militär war und ist ambivalenter, als man denken könnte. Auch dafür gibt es historische Gründe. Wie der Anthropologe Bret Gustavson in Bolivia in the Age of
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Die rechte Opposition streute gezielt Mythen, es gäbe Pläne, die Armee durch venezolanische und kubanische Söldnertruppen zu ersetzen.
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Souveränität – hierfür steht das s in ipsp, und auch die Parteizeitung heißt Soberanía. Die Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit des Staates gilt der mas als Grundvoraussetzung für das eigene emanzipatorische Projekt. Sie ist eine hohe Priorität, wenn man über Jahrzehnte mitansehen musste, wie Regierungen als Handlanger ausländischer Kapitalinteressen fungierten. Aber auch aus pragmatischen Erwägungen ließ die mas-Regierung die militärischen Strukturen des Landes unangetastet. Die rechte Opposition streute gezielt Mythen, es gäbe Pläne, die Armee durch venezolanische und kubanische Söldnertruppen zu ersetzen. Das tat sie in dem Bewusstsein, dass das Militär stets ein eigenes Machtzentrum
im Staat bildete, dem die mas niemals vollständig Herr werden konnte. In der Tat waren Beschwerden der Generäle über zu niedrige Militärausgaben an der Tagesordnung, obwohl sich die mas offen zur Armee als Teil der nationalen Infrastruktur bekannte und kräftig in sie investierte. Ein Kampagnenvideo aus dem Wahlkampf von 2014 zeigt – neben anderen Errungenschaften wie dem Start des ersten nationalen Kommunikationssatelliten Túpac Katari 1 und dem Seilbahnsystem Mi Teleférico für den Großraum La Paz und El Alto – den Präsidenten stolz und ganz selbstverständlich bei der Mitfahrt auf einem Panzer. Doch die Einstellungen innerhalb des Militärs gegenüber der mas unterschieden sich von Departamento zu Departamento, Teilstreitkraft und Einheit. Bolivien erhebt territoriale Ansprüche auf die chilenische Region Antofagasta und damit auf einen Zugang zum Pazifik. Nationalistische Kräfte verschiedenster politischer Ausrichtung schätzten es, dass die mas dieses Anliegen – auf friedlichem und diplomatischem Weg – verfolgte. Insbesondere die Marine, die Bolivien weiterhin unterhält, obwohl es de facto ein Binnenland ist, sah diese Anstrengungen mit Wohlwollen. Und die Luftwaffe freute sich über eine Expansion ihrer Flotte durch eine finanziell deutlich besser ausgestattete Zentralregierung. Die mas beschränkte sich während ihrer Regierungszeit jedoch nicht darauf, die Streitkräfte durch Mehrausgaben ruhig zu halten. Wohl wissend, dass sie mit der Polizei und dem Militär leben musste, trug sie den ideologischen Kampf direkt in die Organe der Staatsgewalt. García Linera fasste die Strategie in einem Interview wie folgt zusammen: »Die Frage von Polizei und Militär ist komplizierter. Man wird einen reichen Geschäftsmann niemals davon abhalten können, sie mit Millionen von Dollar zu bestechen. Das Militär ist ein Bestandteil des Staates, und es hat seine eigene Dynamik. Aber die Politik muss auf diese Dynamik einwirken können, indem sie die Institution des Militärs zwar respektiert, zugleich aber Einfluss auf die Ausbildung von Soldatinnen und Soldaten nimmt, um einen Korpsgeist zu schaffen, der weniger bestechlich ist und sich stattdessen mit den Interessen der Bevölkerung solidarisch zeigt. Mit anderen Worten: Man muss die Klassenzusammensetzung der Streitkräfte verändern.« Ein Schritt dahin war 2011 die Gründung einer eigenen antiimperialistischen Militärakademie – seit
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»Wenn das Imperium in seinen Militärschulen lehrt, wie man die Welt beherrscht, werden wir in dieser Schule lernen, wie wir uns von der imperialen Unterdrückung befreien können.«
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Wie Morales in seiner Rede anklingen ließ, gibt es in der Region eine lange Geschichte direkter ideologischer Beeinflussung der Offizierskorps durch die usa. An der berüchtigten School of the Americas wurden über die Jahre Zehntausende lateinamerikanische Militärangehörige ausgebildet, einige von ihnen verübten später schwerste Menschenrechtsverletzungen. Doch die ideologische Zugehörigkeit einzelner Offiziere ist oft schwierig zu bestimmen und noch schwieriger aktiv zu beeinflussen. General Kaliman zum Beispiel war Absolvent der School of the Americas, bezeichnete sich aber noch im August 2019 als »Soldat des Wandels« – im Sinne der sozialistischen Transformation unter der mas. Sein Bruch mit Morales war auch ein persönlicher Verrat.
Druck von außen, Einfluss von innen
2016 mit Torres als Namenspatron. An der Escuela Antiimperialista de los Pueblos del Abya Yala y de las Fuerzas Armadas »Juan José Torres« in Warnes vor den Toren von Santa Cruz müssen Militärkader seither ein halbes Jahr geostrategische Fortbildung absolvieren. Damit soll der ideologische Einfluss der Rechten innerhalb des Militärs zurückgedrängt werden. Etwa 2.000 hochrangige Militärangehörige haben die Einrichtung bisher durchlaufen – eine Voraussetzung, um Hauptmann in der bolivianischen Armee werden zu können. »Wenn das Imperium in seinen Militärschulen lehrt, wie man die Welt beherrscht, werden wir in dieser Schule lernen, wie wir uns von der imperialen Unterdrückung befreien können; es wird eine Schule zur Verteidigung des Volkes und nicht des Imperiums sein«, so Morales zur Einweihung des neuen Campus in Warnes 2016. Zu den Lehrinhalten gehörten auch »die philosophischen Leitlinien und das Wissen über die neue politische Verfassung des Staates«, also die politische Bildung eines Offizierskorps, das einem demokratischen und sozialistischen Staat dienen soll, wie das spanischsprachige Online-Militärmagazin Info Defensa damals berichtete. Die Zeitschrift América Economía zitierte Verteidigungsminister Reymi Ferreira, der zur Eröffnung ankündigte, dass Fächer wie »Theorie des Imperialismus, Geopolitik des Imperialismus, Geopolitik der natürlichen Ressourcen und bolivianische Sozialstruktur« unterrichtet werden sollten.
Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass die Bemühungen der mas, die ideologische Durchmischung des Militärapparats zu ihren Gunsten zu verbessern, zumindest Schlimmeres verhindert haben. Die »Interimsregierung« von Áñez schob immer wieder die Corona-Pandemie vor, um Neuwahlen hinauszuzögern und in der Zwischenzeit die Staatskasse zu plündern und Privatisierungen durchzuboxen. Schließlich erzwangen jedoch die mas und ihre Verbündeten durch großflächige Blockaden einen Urnengang im Oktober 2020. Nach weniger als einem Jahr hatte die Mehrheit in Bolivien schon wieder genug von den neoliberalen Experimenten. Die mas und ihr Präsidentschaftskandidat Luis Arce gewannen deutlich, mit 55,1 Prozent. Doch der Kampf war noch nicht ausgestanden. Wie The Intercept berichtet, sollen Offiziere und Mitglieder des Áñez-Kabinetts nach der Wahl geplant haben, Arce zu ermorden. Auch sollen Pläne geschmiedet worden sein, Tausende Söldner aus den usa heranzuschaffen. Aus den mitgeschnittenen Telefonaten gehen neben der Inkompetenz der Verschwörer zwei Hauptgründe dafür hervor, warum das Vorhaben letztlich nicht umgesetzt wurde: Erstens nahm die Deutlichkeit von Arces Wahlsieg dem Unterfangen jeden Anschein von Legitimität. Und zweitens verwiesen die Möchtegern-Putschisten explizit auf die Präsenz von »Blauen« – Kobaltblau ist die Parteifarbe der mas – unter den Offizieren, seien sie auch in der Minderheit. Es ist in erster Linie dem Mut einfacher Bolivianerinnen und Bolivianer zu verdanken, dass
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Britische Soldaten wurden im Frühjahr 2019 dabei erwischt, wie sie ein Porträt des damaligen LabourVorsitzenden Jeremy Corbyn auf die Zielscheibe eines Schießstands montierten.
die Demokratie nach einem Jahr illegitimer Herrschaft wieder in ihr Land zurückkehrte. Doch auch die durch die Escuela Antiimperialista und andere Maßnahmen erreichte ideologische Diversität des Militärs hat ihren Anteil dazu beigetragen, dass Luis Alberto Arce Catacora heute demokratisch gewählter sozialistischer Präsident von Bolivien – und am Leben – ist. »Es gibt Gesellschaften, in denen gewisse Teile des Offizierskorps von radikalen, ›modernisierenden‹ Impulsen bestimmt wurden, und wo Militärs Bewegungen leiteten, die dazu geplant waren, archaische soziale, ökonomische und politische Strukturen zu stürzen oder doch wenigstens zu reformieren«, schreibt der marxistische Staatstheoretiker Ralph Miliband in Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft. »Andererseits haben sich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die militärischen Eliten immer für das ›nationale Interesse‹ eingesetzt, das sie in höchst konservativer Weise verstanden, was eine meist eingeschränkte und zufällige Billigung ›demokratischer‹ Prozesse nicht unbedingt ausschloß, was aber eine unbeugsame Feindschaft gegenüber radikalen Ideen, Bewegungen und Parteien nach sich zog.« Miliband geht also davon aus, dass das Militär in entwickelten Ländern tendenziell eher noch konservativer ist als in der globalen Peripherie. Bolivien befindet sich irgendwo in der Mitte zwischen beiden Extrempolen, was der mas eine eigene, kreative Strategie abverlangt, mit dem Machtfaktor Militär umzugehen.
Luis Arce erfreut sich im zweiten Jahr seiner Präsidentschaft hoher Beliebtheitswerte – die Krise ist überwunden, die Wirtschaft wächst und Bolivien genießt die niedrigste Inflationsrate der westlichen Hemisphäre. Auf einer Kundgebung am 4. Juli 2021 in Shinahota, unweit des Flughafens von Chimoré, wo Morales wenige Monate zuvor seine triumphale Rückkehr vor Hunderttausenden Anhängerinnen und Anhängern gefeiert hatte, würdigte Arce Morales’ antiimperialistische Anstrengungen und bezeichnete sie als »zentralen Faktor für weitere Siege in zukünftigen Kämpfen«. Sozialistische Regierungen bewegen sich immer in einem Spannungsverhältnis zwischen einerseits den alten Institutionen, die sie vorfinden, und andererseits ihrer Basis sowie der neuen Gesellschaft, die sie errichten wollen. Zu den etablierten Machtzentren, mit denen sie sich früher oder später unweigerlich auseinandersetzen müssen, gehört auch das Militär. In Deutschland gerät die Bundeswehr immer wieder in die Schlagzeilen, wenn sich Militärangehörige an Vorbereitungen rechter Terroranschläge beteiligen; britische Soldaten wurden im Frühjahr 2019 dabei erwischt, wie sie ein Porträt des damaligen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn auf die Zielscheibe eines Schießstands montierten. Wenn Sozialistinnen und Sozialisten jemals in Ländern wie Deutschland oder Großbritannien an die Regierung gewählt werden sollten, wird die zutiefst reaktionäre Institution des Militärs etwas sein, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen – und sie sollten sich frühzeitig Gedanken machen, wie ein solcher Umgang aussehen könnte. Das bolivianische Beispiel zeigt, dass sich dies selbst dann auszahlen kann, wenn die Kräfteverhältnisse innerhalb der Organe der Staatsgewalt für die Linke zunächst sehr ungünstig gelagert sind. Wie Miliband zurecht warnt, agieren die Streitkräfte nicht nur in Ländern des Globalen Südens nach ihrer eigenen politischen Logik. Dies zu ignorieren, wäre für jede linke Regierung gefährlich.
Alexander Brentler ist Editor bei JACOBIN .
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und Russland eine Al ternative zum Westen bie ten. Der Krieg in der Uk raine wirs nun Probleme auf .
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Julia Damphouse
Flucht durchs Nadelöhr
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Freiwillige haben Großes geleistet, um Geflüchteten aus der Ukraine zu helfen – doch ohne starke staatliche Strukturen geht viel Energie verloren. Erfahrungen aus dem Drehkreuz Berlin Hauptbahnhof. Text von Julia Damphouse Übersetzung von Ines Schwerdtner Illustrationen von Marie Schwab
Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn konnte man in deutschen Medien Bilder von Freiwilligen am Berliner Hauptbahnhof sehen, die ukrainische Geflüchtete beim Aussteigen aus den Zügen begrüßten oder mit Lebensmitteln und Hilfsgütern versorgten. Man hätte denken können, hinter ihnen stünde der Berliner Senat oder eine etablierte Hilfsorganisation. In Wirklichkeit stemmte diese selbstorganisierte Struktur in den ersten Wochen alles alleine: Sie stellte Kinderbetreuung, organisierte Verpflegung, brachte Unmengen von Menschen dorthin, wo sie hin mussten, und traf alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen – ganz zu schweigen von der Übersetzungsarbeit für Angestellte der Stadt, Fahrkartenverkäuferinnen und Polizisten. Das kalte Labyrinth des Hauptbahnhofs war unser ständiger Feind. Das Ziel war eigentlich, den Menschen einen warmen Empfang zu bieten.
Die anfängliche Willkommenskultur in der EU basierte auf dem idealisierten Bild einer weiblichen, unschuldigen und hilflosen, kurz einer »richtigen« Geflüchteten.
Doch der gute Wille stieß auf harte Grenzen bei den staatlichen Kapazitäten und den bestehenden Strukturen der Geflüchtetenhilfe.
Die »richtigen« Geflüchteten Die Situation, die die Ankommenden aus der Ukraine erwartete – vom erleichterten Rechtsweg zu Unterkunft und Beschäftigung bis hin zu einer Flut von Angeboten, sie in Privathaushalten aufzunehmen – war für Geflüchtete zuvor unvorstellbar. Rassismus spielt bei dieser Ungleichbehandlung eine nicht unwesentliche Rolle. Die MainstreamMedien haben sich bei der Beschreibung der ukrainischen Geflüchteten stark auf Euphemismen wie »Europäer«, »sie sind genau wie wir« und manchmal sogar »christlich« gestützt, um das Publikum immer wieder daran zu erinnern, dass diese Geflüchteten – im Gegensatz zu anderen – weiß sind. Doch das Problem ist komplizierter. Kurz nach Beginn der russischen Invasion verhängte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Kriegsrecht und damit ein Ausreiseverbot für Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren. Infolgedessen waren Ende Juli die allermeisten der 6,2 Millionen Geflüchteten Frauen und Kinder; hinzu kommen ältere oder beeinträchtigte Männer. Auch hunderttausende Menschen ohne ukrainischen Pass, internationale Studierende, ausländische Arbeitskräfte und Väter von drei oder mehr Kindern durften fliehen. Und trotz Ausreiseverbot gelang auch einigen Männern im wehrfähigen Alter die Flucht – sei es im Chaos der ersten Tage, indem sie Grenzbeamte bestachen oder über einen unbewachten Grenzstreifen zu Moldawien. Die anfängliche Willkommenskultur in der eu basierte auf dem idealisierten Bild einer weiblichen,
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unschuldigen und hilflosen, kurz einer »richtigen« Geflüchteten. Ein Bild, das sich nur im (meist unausgesprochenen) Gegensatz zu anderen Geflüchteten verstehen lässt, die als überwiegend männlich und nicht-weiß dargestellt werden. Es ist wichtig, auf die Ungerechtigkeit dieser Bevorzugung hinzuweisen – man darf aber nicht dabei stehen bleiben. Denn während Geflüchtete aus anderen Ländern in der Regel Vernachlässigung erfuhren, unterliegen diese Frauen einem erhöhten Maß an Bevormundung und sexistischer Kontrolle. In anderen Worten: Ukrainische Geflüchtete sind besonders anfällig für jene Formen der Diskriminierung und Ausbeutung, denen osteuropäische Frauen in Westeuropa seit Jahrzehnten ausgesetzt sind.
Ein Reisezentrum der Deutschen Bahn kann schon unter normalen Bedingungen die Hölle sein – jetzt waren da Tausende von Menschen, die weder Englisch noch Deutsch sprachen und ein kostenloses Ticket buchen mussten.
Hölle Reisezentrum Die seit März geltende eu-Richtlinie für den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen soll vermeiden, dass die Aufnahmeinfrastruktur in den an die Ukraine angrenzenden Ländern überlastet wird. Daher dürfen ukrainische Geflüchtete im Gegensatz zu normalen Asylbewerbern innerhalb des Schengen-Raums frei reisen und selbst entscheiden, wo sie sich niederlassen möchten. Im besten Fall heißt das, dass die Menschen dorthin fahren, wo sie bereits über ein kleines persönliches Netzwerk verfügen. Das bedeutet aber auch, dass niemand für sie verantwortlich ist und sie im schlimmsten Fall einfach verloren gehen können. Europaweite Mobilität wurde durch kostenlose Fahrkarten für Züge und Busse erleichtert. Dies sollte besonders unbürokratisch sein, war aber in Wirklichkeit ziemlich chaotisch und verlagerte die Verantwortung von der Regierung auf freiwillige Helferinnen, überarbeitete Bahnmitarbeiter und die traumatisierten Geflüchteten selbst, von denen viele noch nie zuvor international gereist waren. Die fast durchweg positive Medienberichterstattung über Zug- und Busunternehmen, die kostenlose Fahrten für Geflüchtete anbieten, verunmöglichte es, grundlegende Kritik an dieser Praxis zu äußern. Die Verkehrssysteme und ihr Personal waren nicht auf diese Situation vorbereitet. Ein Reisezentrum der Deutschen Bahn kann schon unter normalen Bedingungen die Hölle sein – jetzt waren da Tausende von Menschen, die weder Englisch noch Deutsch sprachen und ein kostenloses Ticket buchen mussten. Da die Bahnangestellten nicht auf wundersame Weise über Nacht
Ukrainisch oder Russisch lernten (oder besondere Geduld entwickelten), mussten auch hier Freiwillige helfend zur Seite stehen. Bald schienen einige Angestellte nach Gründen zu suchen, um die Ausgabe von kostenlosen Fahrkarten zu verweigern. Die Verdachtsmomente waren oft geschlechtsspezifisch: Frauen wurden argwöhnisch unter die Lupe genommen, weil sie zu viel oder zu wenig Gepäck oder eine teure Handtasche dabei hatten oder zu gut gekleidet und geschminkt waren, als dass sie wirklich bedürftig sein könnten. Mitunter wurde ihnen vorgeworfen, mit den Tickets »Urlaub zu machen« und »den deutschen Steuerzahler auszunehmen«. Dass diese Frauen gerade im Gegenteil vom Staat im Stich gelassen wurden, kam diesen Menschen nicht in den Sinn.
Platz für eine Frau mit Kind In den ersten anderthalb Wochen konnte im Grunde jeder mit einem Schild mit einer Aufschrift wie »Platz für eine Frau mit Kind« in den Bahnhof reinlaufen und mit einer Familie im Gepäck wieder rauskommen. Die einzige Kontrolle bestand in einem kurzen Gespräch mit einer Freiwilligen und der Erfassung des Personalausweises. Obwohl die allermeisten Menschen nur Gutes im Sinn hatten, bereitete das Verfahren uns Freiwilligen, die Leitungsfunktionen übernommen hatten, große Sorgen.
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Wir hatten selten Zeit zu fragen, warum Menschen ein Ticket zu einem bestimmten Zielort wollten und mussten einfach hoffen, dass sie dort jemanden kannten. Gelegentlich erzählten sie uns von Angeboten, die sich einfach zu gut anhörten, um wahr zu sein. In einem Fall wurde einer Frau und ihrem kleinen Kind angeblich von einem älteren Ehepaar ein ganzer Flügel ihres Hauses angeboten. Sie brauchten nur noch ein Ticket in die abgelegene Küstenstadt. Allerdings hatte die Frau noch nie mit dem Ehepaar gesprochen und kannte auch ihre Namen nicht. Als der deutschsprachige Mann, der vermeintlich bei der Vermittlung geholfen hatte, widersprüchliche Angaben machte und sich weigerte, das großzügige Paar anzurufen, schritten die Freiwilligen ein. Wir können nur schwer abschätzen, wie viele solcher zwielichtigen Angebote nicht abgefangen werden konnten. In
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diesem chaotischen dezentralisierten System war die Gefahr des Menschenhandels nicht nur an den Grenzen groß. Eine Zeit lang schien es, als würden die verschiedenen Websites, die schnell eingerichtet wurden, um Hilfesuchende und Gastgeberinnen zusammenzubringen, all unsere logistischen Probleme lösen. Doch immer wieder kamen Geflüchtete zum Bahnhof zurück und beschwerten sich, dass
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sie ihre Daten eingegeben, aber nie eine Antwort erhalten hatten. Auch Monate später ist nicht klar, in welchem Maße solche Websites wirklich bei der Vermittlung von Unterkünften geholfen haben. Es war auch nicht für alle gleich einfach, privat unterzukommen. Personen und Familien, die nicht in das Muster »ukrainische Frau mit Kind« passten, wurden buchstäblich im Regen stehen gelassen. Es ist zwar verständlich, dass eine alleinstehende Frau keine Männer aufnehmen möchte, aber es erwies sich insgesamt als schwierig, Gastgeber zu finden, die bereit waren, große Familien, Familien mit Männern, ältere Paare und die Tausenden NichtUkrainerinnen aufzunehmen, die vor demselben Krieg geflohen waren. Um die letzteren zu vermitteln, mussten antirassistische Organisationen eine ganze Parallelstruktur aufbauen. Angesichts des Chaos und der Wartezeiten ist es verständlich, dass jedes Angebot einer privaten Autofahrt oder eines Schlafplatzes verlockend war. Doch das hätte auch anders sein können: Gleich zu Beginn der Krise forderten Migrationsexpertinnen, die westlichen eu-Länder sollten Verantwortung übernehmen und Züge oder Busse chartern, um die Verteilung der Geflüchteten zu erleichtern. Doch es war billiger und einfacher, diese Rufe zu überhören. Wohlmeinende Schilderträger abzuweisen wurde zu einer Vollzeitbeschäftigung für die langsam schrumpfende Zahl von Freiwilligen.
Aber hier leben? Anfang März ließ der Berliner Senat ein Zelt vor dem Bahnhof aufbauen, von dem aus Angestellte der Stadt und Freiwillige die Menschen in Busse zu Aufnahmezentren in anderen Bundesländern verfrachteten. Später im März wurden Drehkreuze für Sonderzüge in Hannover und Cottbus eingerichtet, um den Engpass in Berlin zu entschärfen. Auch wurden die Zielorte erheblich ausgeweitet, als die Bundesregierung festlegte, dass die Aufteilung nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel erfolgen sollte. Das bedeutete, dass Berlin nur noch für etwa 5 Prozent der Neuankömmlinge zuständig sein würde. Dies führte jedoch zu Spannungen, da Ukrainerinnen und Ukrainer keine regulären Geflüchteten sind und daher nicht gezwungen werden können, irgendwohin zu reisen. In der Praxis hing es an uns Freiwilligen, die Leute davon zu überzeugen, in Busse zu Orten zu steigen, von denen wir zum Teil selbst noch nie gehört hatten.
Vorher hieß es, ein syrischer Geflüchteter würde einem den Job wegnehmen, jetzt sind es ukrainische Geflüchtete, die vermeintlich dem eigenen Kind die Tagesbetreuung streitig machen.
Den Ukrainerinnen und Ukrainern wurde zwar ein Sonderstatus eingeräumt und Freizügigkeit versprochen, doch die Infrastruktur für die Unterbringung von Geflüchteten wurde nicht über Nacht ausgewechselt. Wir sollten uns keine Illusionen machen: Abgesehen von den wenigen Glücklichen, die eine kostenlose langfristige Privatunterkunft bekamen, wurden diese Schutzsuchenden nach denselben entmenschlichenden Regeln behandelt, die für Geflüchtete in diesem Land seit langem gelten. Sie mögen weiße Frauen sein und nicht arabische Männer, die Ankerzentren und Gemeinschaftsunterkünfte sind aber dieselben, die von der Organisation Pro Asyl als »gefängnisähnlich« bezeichnet werden. Der einzige Unterschied besteht darin, dass den ukrainischen Frauen vorgegaukelt wurde, dass Europa etwas Besseres für sie wolle und sie ein Recht auf mehr hätten. Die Annahme, dass diese Frauen mit jedem Ort, an den man sie schickte, zufrieden sein würden, erwies sich sehr schnell als falsch. Einige, die in Ankerzentren gesteckt wurden, brachen aus und kamen wieder nach Berlin oder versuchten nach Polen oder später in die Westukraine zurückzukehren. In einem bemerkenswerten Fall verließ eine Gruppe von Frauen und Kindern Berlin am späten Abend in einem Bus in Richtung Bielefeld und kam gegen Mitternacht in einer abgelegenen Gegend an. Eine Frau konnte durch das Fenster ausmachen, dass es sich um einen Erdbeerhof handelte. Panik brach aus. Die Frau verlangte, über die Unterbringungsbedingungen informiert zu werden, bevor sie zustimmte – doch das wurde verweigert. Würden sie auf dem Hof arbeiten müssen? Die Frauen weigerten sich, den Bus zu verlassen, bevor sie nicht in eine richtige Stadt gebracht wurden. Frühmorgens um 3:30 Uhr war die Pattsituation beendet. Die Frauen hatten sich durchgesetzt.
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Ich habe diese Geschichte schon viele Male erzählt und unterschiedliche Reaktionen bekommen: Hatten diese Frauen das Recht, die Unterkunft abzulehnen? Hätten sie sich einfach damit zufrieden geben sollen? Mitunter scheint der Auffassung, sie hätten das Angebot annehmen sollen, die beunruhigende Annahme zugrunde zu liegen, es seien doch ohnehin Frauen wie diese, die üblicherweise als Saisonarbeiterinnen auf solchen Höfen beschäftigt werden. Natürlich ist es äußerst unwahrscheinlich, dass man sie zur Arbeit gezwungen hätte. Aber wenn sie dort untergebracht worden wären: Wo hätten sie sonst Arbeit finden können? Die Sonderrichtlinie besagt, dass sie das Recht haben, mehr oder weniger sofort zu arbeiten. Doch unter ihnen waren Studentinnen, die Zoom-Seminare zu besuchen hatten, junge Frauen mit einer it-Ausbildung, die aus der Ferne arbeiten konnten, und medizinische Fachkräfte. In einer abgelegenen Kaserne ohne Internet hätten sie nichts anderes tun können als zu warten. Selbst bei denjenigen, die das Glück hatten, in einer Stadt unterzukommen, konnte es mitunter einen Monat dauern, bis sie eine Arbeitserlaubnis erhielten. Und die Suche nach einem seriösen Job in dem Meer von Betrügereien und Schwarzarbeit ist eine Aufgabe für sich. Eine Aufgabe, die durch Sprachbarrieren und fehlende Kenntnis des deutschen Arbeitsrechts noch erschwert wird. Allein in Hamburg wurden den Behörden Hunderte von besonders ausbeuterischen und eindeutig illegalen Jobangeboten gemeldet. Die Dunkelziffer ist zweifellos noch um einiges höher. Natürlich bilden solche Fälle nicht die Mehrheit – doch es bleibt die Frage, ob diese Ausbeutung nicht auch zum Lohndumping in bestimmten Niedriglohnsektoren beiträgt. Die Beschäftigungsaussichten von migrantischen Arbeitskräften sind statistisch gesehen viel stärker von den Schwankungen der Arbeitslosenzahlen betroffen als die der einheimischen Bevölkerung. Vor dem Hintergrund der Inflation und eines drohenden Wirtschaftsabschwungs reichen Wohlwollen und bevorzugte Behandlung auf dem Arbeitsmarkt nur bedingt aus. Die Kinderbetreuung stellt eine weitere Hürde dar. Zwar ist hier durchaus politischer Wille vorhanden, doch es ist bezeichnend, wie alte Ressentiments in neuem Gewand wiederkehren. Man braucht nur die Kommentare zu einem beliebigen Artikel zu lesen, in dem es darum geht, dass der
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Staat Kita- und Schulplätze für ukrainische Geflüchtete sicherstellt. Der Tenor lautet: Wo war dieser Wille, als wir ein Jahr lang auf einen Kitaplatz gewartet haben? Vorher hieß es, ein syrischer Geflüchteter würde einem den Job wegnehmen, jetzt sind es ukrainische Geflüchtete, die vermeintlich dem eigenen Kind die Tagesbetreuung streitig machen.
Die richtigen Lehren Das Gefühl der Dringlichkeit in dieser Krise muss in eine konstruktive Richtung gelenkt werden, um dauerhaft bessere Lösungen für die Menschen zu finden, die vor diesem Krieg und vor künftigen Katastrophen fliehen werden. Geschlossene Hotels sollten in hochwertige Unterkünfte umgewandelt und Abschlüsse – insbesondere in Bereichen wie Kinderbetreuung und Bildung – schneller anerkannt werden. Das wäre ein Anfang. Um das meiste aus der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung machen zu können, müssen aber insbesondere die staatlichen Kapazitäten ausgeweitet werden. Nach einem Höchststand von etwa 8.000 ankommenden Geflüchteten pro Tag im März empfing Berlin im Hochsommer nur noch einige hundert Menschen täglich. Die Anstrengungen der Freiwilligen verlagern sich nun darauf, Ressourcen bereitzustellen, aber auch die wachsende Zahl von Menschen zu unterstützen, die wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen. Im Gegensatz zu ihrer Reise gen Westen ist die Rückfahrt nicht kostenlos, und günstige Routen sind sehr umständlich. Monate nach Kriegsbeginn lässt der gute Wille allmählich nach und es wird immer schwieriger, Freiwillige zu rekrutieren. Die für die Erstunterbringung errichteten Zelte werden in mehreren deutschen Städten bereits wieder abgebaut. Es bleibt unklar, wie wir mit künftigen Fluchtbewegungen umgehen und ob wir die richtigen Lehren aus dieser Erfahrung ziehen werden.
Julia Damphouse studiert Europäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und hat in den ersten Monaten nach dem Überfall auf die Ukraine Ehrenamtliche am Berliner Hauptbahnhof koordiniert.
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Von Kabul nach Kiew Der »Krieg gegen den Terror« in Afghanistan hat nicht nur sein Ziel verfehlt. Seine Verwerfungen reichen bis in die Ukraine. Text von Emran Feroz Fotomontagen von Julius Klaus
»
Fahrzeugpapiere?«, fragt ein TalibanKämpfer an einem Checkpoint im Westen Kabuls. Walid, der eigentlich anders heißt, überreicht sie ihm. Der Talib wirft einen kurzen Blick darauf und lässt ihn passieren. Meist fahnden die Taliban nach Dieben oder bewaffneten Männern. Wer keine gültigen Papiere vorzeigen kann, dem droht außerdem, sein Fahrzeug zu verlieren. Vor allem Pick-ups und die großen Toyota-Kombis sind bei den neuen Machthabern beliebt. »Mich erkennen die hier in Kabul zum Glück nicht«, sagt Walid. Was er damit meint, erklärt er später in der Wohnung seines Bruders. Walid wickelt sich in einen langen Schal ein und trinkt einen Schluck Ananassaft. Er ist kräftig gebaut und hat ein rundes Gesicht. Mittlerweile trägt er lange Haare. An sein neues Leben muss sich der 27-Jährige erst gewöhnen. Mehr als sieben Jahre lang hat er im Norden des Landes für eine Spezialeinheit der Afghanischen Nationalarmee (ana) gekämpft. Sein Alltag war rau und tödlich. Walids Aufgabe war es, Gebiete wieder einzunehmen, die von den Taliban kontrolliert wurden. Oft agierten er und seine Kameraden
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wie eine Art Himmelfahrtskommando. Viele seiner Weggefährten sind heute tot, während Walid und andere Ex-Soldaten im Schatten leben. Er ist untergetaucht im anonymen Kabul, wo er sich sicherer fühlt. Seine Heimat im Norden Afghanistans meidet er. Dort kennen zu viele Menschen sein Gesicht. Das gilt auch für die Taliban, die er jahrelang unerbittlich bekämpft hat.
Geschlechterapartheid bestimmt zunehmend den Alltag. Hinzu kommt, dass Männer wie Walid gejagt, Wohnungen und Häuser durchsucht werden. An das eigene Amnestiegebot für ehemalige Sicherheitskräfte halten sich die Taliban nicht. Vielmehr dürfte es sich dabei um ein Lippenbekenntnis für die internationale Staatengemeinschaft gehandelt haben.
Während viele seiner einstigen Führer aus dem sicheren Ausland große Reden auf Facebook schwingen, muss der Ex-Soldat mit der neuen Realität leben.
Demokratie herbeibombardieren Im August 2021 haben die Taliban nach zwei Jahrzehnten Krieg die Macht im Land zurückerobert. Mit dem Abzug der internationalen Truppen verließen viele führende Politiker das Land. Der ehemalige Präsident Ashraf Ghani flüchtete, kurz bevor die Taliban in die Hauptstadt einzogen. Für Walid war das ein bitterer Tag, den er nie vergessen wird. »Ich wünschte, ich wäre damals gestorben. Dann müsste ich diese Schande nicht ertragen«, sagt er mit ernstem Gesichtsausdruck. Vor allem die letzten Tage und Wochen haben verdeutlicht, dass es sich bei den vermeintlich »neuen« Taliban noch immer um die alten handelt. Mädchen wird trotz zahlreicher Versprechen weiterhin verwehrt, die Oberstufe zu besuchen. Medien werden bedroht und zensiert. Eine strikte
Mit dem Sieg der Taliban will sich Walid nicht abfinden. »Es war kein militärischer Sieg. Unsere Einheit hat bis zum letzten Moment gekämpft«, sagt er. Walid macht die politische Führung, die mit Hilfe des Westens in Kabul regierte, für das Scheitern verantwortlich. Die Flucht des Präsidenten und die vorherigen Verhandlungen der usa mit den Taliban in Katar hätten nicht nur die Moral der Soldaten gebrochen, sondern auch die Extremisten gestärkt und ihre Rückkehr ermöglicht. An die mindestens 4.000 Afghanen, die auch im Frühjahr 2021 gekämpft und im Kampf gegen die Taliban getötet worden seien, würde heute kaum jemand denken. Weitere Probleme, die den afghanischen Militärapparat bis zuletzt belasteten, waren fehlende Solde, unter anderem aufgrund der vorherrschenden Korruption, sowie schlechte Logistik und Versorgung. Walid fühlte sich verraten, als die politische Elite ihre eigenen Männer im Kampf gegen die Taliban im Stich ließ. Während viele seiner einstigen Führer aus dem sicheren Ausland große Reden auf Facebook schwingen, muss der Ex-Soldat mit der neuen Realität leben. In Kabul sind heute nicht nur irgendwelche Extremisten an der Macht. Es sind Männer, die in den letzten zwanzig Jahren im Zuge des us-amerikanischen »Kriegs gegen den Terror« regelmäßig für
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tot erklärt wurden – etwa nach Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien, die von führenden westlichen Politikerinnen oder Militär- und Geheimdienstoffiziellen stets als »präzise« gepriesen wurden. Prominente Beispiele hierfür sind etwa Sirajuddin Haqqani, der aktuelle Innenminister des Taliban-Emirats, oder dessen Onkel, Khalil ur-Rahman Haqqani, der als Flüchtlingsminister agiert. Das fbi hatte auf Onkel und Neffe einst insgesamt fünfzehn Millionen us-Dollar Kopfgeld ausgesetzt. In den letzten Jahren wurden sie seitens des us-Militärs, der cia oder der gestürzten Kabuler Regierung mehrfach für tot erklärt – bis sie schließlich immer wieder lebendig auftauchten. Ähnlich verhielt es sich mit anderen prominenten Taliban-Köpfen wie dem Gründer der Bewegung, Mullah Mohammad Omar, der 2013 eines natürlichen Todes starb, oder dessen Sohn, Mullah Yaqub, dem aktuellen Verteidigungsminister. Die eigentlich offensichtliche Frage, wer an ihrer Stelle getötet wurde, stellt bis heute kaum jemand. Dabei machte der letzte Drohnenangriff des us-Militärs im vergangenen August noch einmal deutlich, dass die meisten Opfer dieses Vorgehens Zivilpersonen waren. Der Angriff, der mitten in Kabul stattfand, tötete entgegen den Behauptungen des Pentagons keine Terroristen des Islamischen Staates, sondern zehn Zivilistinnen und Zivilisten. Unter den Opfern befanden sich ein Familienvater, der für eine us-amerikanische ngo tätig war, sowie dessen Kinder, Nichten und Neffen. Die Brüder des Opfers hatten unter anderem für die afghanische Armee und das us-Militär als Dolmetscher gearbeitet. Eine umfangreiche Recherche der New York Times zwang die us-Regierung, ihr Narrativ zu korrigieren. Plötzlich sprach man von einem »Fehler«. Doch solche gab es in den letzten zwanzig Jahren zuhauf in Afghanistan. Während der »Operation Haymaker« – einem gemeinsamen Einsatz von us-Spezialeinheiten und der cia, um die Führung der Taliban auszuschalten – wurden allein zwischen Januar 2012 und Februar 2013 im Nordosten des Landes mindestens 200 Menschen getötet. Doch bei über 80 Prozent der Opfer handelte es sich nicht um die ursprünglichen Ziele. Während die gejagten Taliban-Köpfe fast nie getroffen wurden, radikalisierten sich ganze Dörfer aufgrund der zivilen Opfer und schlossen sich den Extremisten an.
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Neue Feinde schaffen Auch Walid ist für viele zivile Opfer verantwortlich, wie er heute betont. Der Ex-Soldat bereut seine Taten. »Womöglich habe ich mehr Zivilisten als Taliban-Kämpfer getötet. Ich weiß es nicht genau. Es war Krieg und wir bekamen unsere Befehle«, sagt er. Für die »Fehler« macht er falsche Informationen oder Taliban-Kämpfer, die Zivilpersonen als menschliche Schutzschilder missbrauchten, verantwortlich. Doch auch die Rücksichtslosigkeit der Armee und der Bombenwahn vieler Generäle und Kommandanten führten zu Blutbädern. Etwa wurden im Norden des Landes, wo Walid kämpfte, regelmäßig paschtunische Dörfer blindlings bombardiert, weil man die Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer starken Präsenz innerhalb der Taliban mit den Extremisten gleichsetzte.
Ob man im Westen auch russische Drohnenschläge in der Ukraine als die Zivilbevölkerung schonende Präzisionsangriffe loben wird, bleibt abzuwarten. Seine Heimatprovinz hat Walid seit dem Fall Kabuls nicht mehr besucht. Während Männer wie er sich verstecken und um ihr Leben fürchten, werden sie ausgerechnet in jenen nato-Staaten, die zwanzig Jahre in Afghanistan Krieg führten und sie praktisch als Kanonenfutter missbrauchten, als »Feiglinge« abgestempelt. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wird in westlichen Leitmedien über das Heldentum der Ukrainer schwadroniert, während man für das Versagen am Hindukusch in erster Linie den Durchschnittsafghanen verantwortlich macht und die eigenen Fehler reinwäscht. Die Afghanen – hauptsächlich ist von Männern die Rede – hätten sich entweder nicht ausreichend angestrengt oder wären nach Europa geflüchtet, anstatt richtig anzupacken und den Feind zu bekämpfen.
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Doch dieser realitätsverzerrende Vergleich ist nicht die einzige Verbindung zwischen Afghanistan und dem Krieg in der Ukraine. Zahlreiche Waffen, die gegenwärtig in der Ukraine gegen Russland angewendet werden, kamen in den letzten zwei Jahrzehnten in Afghanistan zum Einsatz. Für das us-Militär war das Land mitsamt Bevölkerung ein großes Waffentestgelände, auf dem etwa die erwähnten Drohnen massenhaft zum Einsatz kamen und Menschenleben per Knopfdruck ausradierten. Während der Amtszeit Barack Obamas wurde Afghanistan das am meisten von Drohnen bombardierte Land der Welt. Dass diese Waffensysteme in vielerlei Hinsicht versagt und in erster Linie Zivilpersonen getötet haben, können nicht nur die Menschen in Afghanistan bestätigen, sondern auch jene us-Soldatinnen und Soldaten, die einst Teil des Killer-Programms waren. »Wir haben mit diesen Waffen keinen Frieden gestiftet, sondern unschuldige Menschen getötet und neue Feinde geschaffen«, betont etwa die Whistleblowerin Lisa Ling, die einst als Technikerin bei der us-Luftwaffe diente und Drohnen wartete. Heute zählt sie zu den lautesten Kritikerinnen und Kritikern der Kriegsführung ihrer Regierung und fordert eine Aufarbeitung der zahlreichen zivilen Opfer, über die niemand mehr sprechen will.
Gute Drohnen, gute Soldaten Mehreren Berichten zufolge sollen nun ausgerechnet jene Drohnen, die Tausende von Afghaninnen und Afghanen umbrachten, in der Ukraine zum Einsatz kommen. Die Biden-Administration zieht die Lieferung von bewaffneten Gray-Eagle-Drohnen in Erwägung. Andere fliegen schon jetzt über den ukrainischen Himmel und werden zelebriert. Besonders prominent sind mittlerweile die türkischen Bayraktar-Drohnen, die in der Ukraine zwar meist russisches Militärgerät treffen, allerdings von der Türkei in kurdischen Gebieten ausgetestet wurden und dort regelmäßig Zivilistinnen und Zivilisten töteten. Für diese Tatsachen interessiert man sich heute allerdings kaum. Stattdessen wurde der Mythos der präzisen Superwaffe wiederbelebt. Doch Drohnen werden mittlerweile auch von Zahlreichen autoritären Staaten eingesetzt. Ob man im Westen auch mögliche russische Drohnenschläge in der Ukraine als die Zivilbevölkerung schonende Präzisionsangriffe loben wird, bleibt abzuwarten.
Von Kabul nach Kiew
Auch die Mythen der guten nato und des heldenhaften Demokratiesöldners werden reaktiviert. In den deutschen Leitmedien fallen auffallend viele Stimmen auf, die mehr Waffen für die Ukraine fordern und sich gleichzeitig dagegen wehren, die russische Invasion mit dem westlichen Angriff auf Afghanistan oder dem Überfall auf den Irak zu vergleichen. Wer dergleichen wagt, wird schnell niedergebrüllt und diffamiert. Dabei war es der »Krieg gegen den Terror«, der die Pforten in diese Dystopie des 21. Jahrhunderts überhaupt erst aufgestoßen hat, wie zuletzt etwa auch Agnès Callamard, Direktorin von Amnesty International, feststellte. Der Antiterrorkrieg Washingtons, so Callamard, habe zu einem globalen Abbau von Völkerrecht und demokratischen Errungenschaften geführt und autoritäre Regime gestärkt. Dies mache unter anderem auch der Angriff auf die Ukraine deutlich. Putin bedient schon länger die Sprache der Terrorbekämpfung, um seine Vorstöße in Grenzgebiete zu rechtfertigen. Ähnliches gilt auch für Saudi-Arabien, das den Jemen bombardiert, oder China, das bei der Unterdrückung der muslimischen Uiguren das Schema anlegt, das einst von der Bush-Administration erdacht wurde.
Zeuginnen und Opfer galten per se als unglaubwürdig, während man die offiziellen Aussagen der Militärs und Geheimdienste reichlich zitierte und kaum infrage stellte. Der Teufelskreis des Terrors Einem breiten Schema folgten auch jene Gräuel, die im vergangenen Juli aufgedeckt wurden. Laut einer Recherche der bbc haben britische Elitesoldaten während ihres Einsatzes in Afghanistan zahlreiche Kriegsverbrechen begangen und Dutzende von unschuldigen Menschen ermordet. Die blutige
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Jagd auf Afghanen, die von den Tätern völlig entmenschlicht wurden, wurde als eine Art Sport betrachtet – und sie war keineswegs ein Einzelfall. Zu den Tätern gehörten auch andere nato-Soldaten unter anderem aus den usa und Australien, die in Afghanistan für Ordnung sorgen sollten. In abgelegenen Dörfern hörte man regelmäßig von den Gräueln der westlichen Besatzer, doch meist wurde den Zeuginnen und Opfern kaum Gehör geschenkt. Sie galten per se als unglaubwürdig, während man die offiziellen Aussagen der Militärs und Geheimdienste reichlich zitierte und kaum infrage stellte. In Anbetracht der letzten zwei Jahrzehnte »Krieg gegen den Terror« ist es umso erstaunlicher, dass viele Kommentatoren seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine von einem angeblichen Ende der »regelbasierten Weltordnung« sprechen. Westliche Aggressionen und Kriegsverbrechen werden relativiert oder es wird sogar versucht, diese komplett reinzuwaschen. Die Invasion Afghanistans wird weiterhin kaum hinterfragt. Auch der brutale Überfall auf den Irak sei zwar irgendwie schlimm gewesen, letztendlich habe Saddam Hussein aber weggemusst. Man ist stets geneigt, sich selbst als »die Guten« zu porträtieren – und allem Anschein nach bemerkt man dabei gar nicht, zu was für einem Monster man mittlerweile geworden ist. Dass diese verfehlte Selbstwahrnehmung immer weniger von anderen Ländern geteilt wird, hat sich in den Wochen und Monaten nach dem Überfall auf die Ukraine gezeigt, als Aufrufe westlicher Staaten, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, in weiten Teilen der Welt auf taube Ohren stießen. Im Globalen Süden hat sich die Sicht auf den Westen in den letzten Jahren maßgeblich verändert. Dort gibt es immer weniger Menschen, die den usa oder Europa ihre vermeintliche Rolle als Demokratiehelden oder Menschenrechtsverteidiger abkaufen. Das wird auch der Krieg in der Ukraine nicht ändern. Die regelbasierte Weltordnung, sofern es sie überhaupt jemals gab, ist längst Geschichte.
Emran Feroz ist Journalist, Initiator der virtuellen Gedenkstätte Drone Memorial und Autor von Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror (Westend, 2021).
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Robert Maisey
Die wahre Dritte Welt
»Dritte Welt« klingt heute abwertend. Doch ursprünglich stand das Wort für ein politisches Projekt jenseits der Rivalitäten des Kalten Krieges.
Die wahre Dritte Welt
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Text von Robert Maisey Übersetzung von Thomas Zimmermann Collage von Andy King
Rede in Accra am 7. April 1960
»Wir blicken weder nach Osten noch nach Westen. Wir blicken nach vorn.«
Kwame Nkrumah
Im Jahr 1955 trafen sich in der indonesischen Stadt Bandung Delegationen aus 29 neuerdings unabhängigen Ländern zur ersten asiatisch-afrikanischen Konferenz. Sie hatten sich im Kalten Krieg keinem der beiden Blöcke angeschlossen und berieten nun, wie sie sich abseits dieser Rahmenordnung für friedliche Koexistenz und internationale Zusammenarbeit einsetzen konnten. Bandung war ein symbolträchtiger Ort: Die Bevölkerung hatte die Stadt 1946 verlassen und niedergebrannt – im Protest gegen die Pläne der britischen Regierung, sie nach der Niederlage des Japanischen Kaiserreichs wieder der niederländischen Kolonialherrschaft zu überantworten. Sie wurde unter der antiimperialistischen Regierung von Sukarno, dem ersten Präsidenten Indonesiens, wieder aufgebaut. Das, was als Dritte Welt bekannt werden sollte, nahm hier seinen Anfang. »Dritte Welt« war damals kein abwertender Begriff, sondern bezeichnete ein ehrgeiziges politisches Projekt, das auf einer moralischen Allianz antiimperialistischer Staaten beruhte, die eine Agenda der wirtschaftlichen Entwicklung, nationalen Souveränität und friedlichen Koexistenz verfolgten. Da diese jungen Staaten weder militärische noch wirtschaftliche Schlagkraft besaßen, fokussierten sie sich auf gegenseitige Hilfe – untereinander und gegenüber jenen Ländern, die den Kolonialismus noch nicht überwunden hatten. Außerdem versuchte diese Gruppe von Staaten, die uno zu demokratisieren und mit ihren Stimmen zu verhindern, dass die Organisation zu einem weiteren Instrument des Großmachtimperialismus wurde. Das politische Zentrum des Dritte-Welt-Projekts wanderte entlang der Brennpunkte des antiimperialistischen Kampfes rund um den Globus: von Kairo über Belgrad und Algier bis nach Havanna. Die Unterstützung, die es für die Befreiungskämpfe in Vietnam, Angola, Südafrika, Palästina und zahllosen weiteren Ländern mobilisierte, ist von bleibender Bedeutung. Die schwerwiegendste Frage, die sich den Führungen der Dritten Welt stellte, war jedoch nicht unbedingt eine des bewaffneten Kampfes, sondern betraf die politische Ökonomie: Wie konnten sie die Industrialisierung vorantreiben, um den Lebensstandard ihrer Bevölkerungen zu erhöhen, während die Weltwirtschaft noch immer auf imperialen Herrschaftsverhältnissen beruhte?
Kartoffelchips statt Mikrochips Alle Staaten der Dritten Welt, unabhängig von ihrer politischen Couleur, standen vor der Herausforderung, die grundlegenden Kapitalreserven zu akkumulieren, die eine fortgeschrittene
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Industrialisierung erfordert. Ihre Volkswirtschaften waren infolge der imperialistischen Herrschaft auf Landwirtschaft und Rohstoffabbau ausgerichtet – also auf die Produktion von Grundstoffen für den Export in den industrialisierten Westen. Das zwang diese Länder dazu, Fertigwaren zu importieren, einschließlich der für ihre eigenen Industrien notwendigen Maschinen, was katastrophale Auswirkungen auf ihre Terms of Trade hatte: Ihre Exporte waren zwangsläufig immer weniger wert als ihre Importe. Obwohl die direkte koloniale Kontrolle überwunden worden war, blieb diese Ordnung aufgrund des politischen und wirtschaftlichen Einflusses der alten Imperialmächte erhalten. Der ghanaische Präsident Kwame Nkrumah, einer der führenden Theoretiker der frühen Dritten Welt, bezeichnete dies als »Neokolonialismus«. Kapital konnte entweder in Form von Hilfen oder Krediten internationaler Finanzinstitutionen oder direkt von reicheren Ländern beschafft werden. Aber diese Methode stellte ein Risiko für die nationale Souveränität dar: Die Staaten waren dann nämlich gezwungen, ihre Politik nach den Vorstellungen internationaler Gläubiger und nicht nach den unmittelbaren Bedürfnissen ihrer eigenen Bevölkerung auszurichten. Alternativ konnten sie sich um Direktinvestitionen aus dem Ausland bemühen – aber da die meisten ausländischen Investoren in ihren Herkunftsländern bereits hochwertige Produktionskapazitäten besaßen, zementierten diese Investitionen eher den Status der Dritten Welt als Produzentin billiger Rohstoffe. Um es mit den Worten des Ökonomen Ha-Joon Chang zu sagen: Internationale Unternehmen wollten von der Dritten Welt »Holzchips und Kartoffelchips, nicht Mikrochips«. Um genug Kapitalreserven für die nächste Stufe der Industrialisierung aufzubauen – also selbst Mikrochips herzustellen –, versuchten viele Entwicklungsländer, ihre Landwirtschaft und ihren Bergbausektor zu modernisieren und auszubauen. Dadurch brachten sie jedoch immer größere Mengen effizient produzierter Rohstoffe auf den Weltmarkt, was die Preise drückte und die Staaten in ihrer zweitrangigen Position in der Weltwirtschaft festhielt. Hinzu kam, dass die größten internationalen Konzerne oftmals nicht um den Zugang zu Rohstoffen konkurrierten, indem sie höhere Preise boten. Stattdessen schlossen sie sich zu Kartellen zusammen, um den Erzeugerländern niedrige Preise diktieren zu können.
Rede zur Unabhängigkeitserklärung des Kongo von Belgien am 30. Juni 1960
»Wir stützen uns nicht nur auf unsere eigenen großen Kräfte und unermesslichen Reichtümer, sondern auch auf die Hilfe vieler anderer Länder, deren Kooperation wir akzeptieren werden, solange sie loyal ist und nicht versucht, uns irgendeine Politik aufzuzwingen.«
Patrice Lumumba
In der Folge waren die Staaten der Dritten Welt in erster Linie den Forderungen der Finanzinvestoren und ihrer Exportkunden verpflichtet und immer weniger ihrer Bevölkerung. Die Aushöhlung der Demokratie, die damit einhergeht, dass staatliche Politik nach den Erfordernissen der Finanzwirtschaft gestaltet wird, mag heute auch im deindustrialisierten Westen zu beobachten sein, hat sich aber als erstes und am stärksten in der Dritten Welt vollzogen. Politische Institutionen wie die Bewegung der Blockfreien Staaten und die unctad, die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, förderten eine globale Neugewichtung der wirtschaftlichen Kräfte zugunsten der Dritten Welt. Durch die Bildung von Erzeugerkartellen wollte man etwa die Macht von Megakonzernen eindämmen, die ihre Kontrolle über die globalen Kapitalströme als politische Waffe gebrauchten. Die meisten dieser Kartelle, wie zum Beispiel die auf Initiative des sozialdemokratischen jamaikanischen Premierminister Michael Manley gegründete International Bauxite Association, scheiterten jedoch, da die teilnehmenden Länder die Regelungen zur Preisbindung ausnutzten, um ihre Konkurrenten zu unterbieten – eine Art Gefangenendilemma internationaler Handelsbeziehungen.
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Der einzige größere Erfolg war die opec, die Organisation der Erdöl exportierenden Länder. Jene Länder, die über die damals lukrativste natürliche Ressource verfügten, konnten durch diesen Zusammenschluss die Dominanz der »Seven Sisters« der großen Ölkonzerne zurückzudrängen. Anstatt jedoch die Entwicklung der Dritten Welt insgesamt voranzutreiben, gaben die Erdöl produzierenden Länder die politischen Ziele der Bewegung auf und gingen ein korporatives Verhältnis zu ihren Gegenspielern im Kartell der privaten Erdölmonopole ein.
Das kommunistische Modell
Verteidigung gegen die Klage Großbritanniens vor dem Internationalen Schiedsgericht in Den Haag im Juni 1952
»Die Entscheidung, die Ölindustrie zu verstaatlichen, ist das Ergebnis des politischen Willens einer unabhängigen und freien Nation ... Wir bitten Sie, sich in dieser Angelegenheit nicht einzumischen, und zwar auf Grundlage der Erklärung der Vereinten Nationen.«
Mohammad Mossadegh
Die andere Option, die den Staaten der Dritten Welt offen stand, war das kommunistische Entwicklungsmodell. Diese Form wirtschaftlicher Autarkie ermöglichte es ihnen, sich der Ausbeutung durch ausländische Akteure zu verwehren und ein Mindestmaß an wirklicher Souveränität zurückzugewinnen. Das kommunistische Entwicklungsmodell bot ihnen ein Schnellverfahren zur selbstsuffizienten Industrialisierung. Dabei wurden bestimmte liberal-demokratische Freiheiten geopfert, damit der Staat direkt über den von den Arbeiterinnen und Arbeitern erwirtschafteten Mehrwert verfügen konnte. Von diesem Kapital leitete er dann so viel wie möglich durch geplante Investitionen in strategische Wirtschaftsbereiche. In Abwesenheit einer Mehrparteiendemokratie stützten sich diese Regime auf die Reduktion von Armut als Quelle politischer Legitimität. In den ersten Jahren der Dekolonisierung, bevor westliche »Entwicklungsökonomen« eine Strategie formuliert hatten, wie sich der Kapitalismus auch ohne imperiale Kontrolle exportieren lässt, profitierte das kommunistische Wirtschaftsmodell davon, das einzige kohärente politische Instrumentarium zu sein, das den Führungen der Dritten Welt zur Verfügung stand. Der sozialistische Idealismus stand im Einklang mit den egalitären Zielen der neuen nationalrevolutionären Staaten. Außerdem suchte die Sowjetunion (wie in geringerem Maße auch China) verzweifelt nach einem Ausweg aus dem Belagerungszustand, in dem sie während des Kalten Krieges gefangen war. In der Folge waren die Bedingungen der sowjetischen Entwicklungshilfe oft viel günstiger als die der westlichen Mächte, die sich in einer sichereren Position befanden. Nach dem Abzug der Imperialmächte fehlte es den neuen Nationalstaaten der Dritten Welt in den ersten Jahren der Unabhängigkeit an adäquater Regierungsbürokratie, technischem Personal und entwickelten politischen Institutionen. In vielen Fällen stellten die kommunistischen Untergrundparteien, die in der kolonisierten Welt entstanden waren, seit die Komintern in den frühen 1920er Jahren zum Kampf gegen den Imperialismus aufgerufen hatte, die einzigen brauchbaren Organisationsstrukturen. Außerdem waren sie oft die einzigen, die ein
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Wirtschaftsprogramm hatten, das über die Erlangung der Unabhängigkeit hinausreichte. Abgesehen von China entstanden in der ersten Welle der Dekolonisierung jedoch kaum kommunistische Staaten. Die nationalistischen Revolutionsführer der Dritten Welt kamen in der Regel aus der winzigen einheimischen Bourgeoisie, die die imperialistischen Mächte aufgebaut hatten, um zwischen ihnen und ihren kolonialen Untertanen zu vermitteln. Sie hatten weder den politischen Willen noch die wirtschaftlichen Möglichkeiten, eine Diktatur der industriellen Arbeiterklasse zu errichten – zumal dort, wo es keine industrielle Arbeiterklasse gab. Die meisten von ihnen unterdrückten ihre lokalen kommunistischen Bewegungen oder absorbierten sie in einem klassenübergreifenden revolutionär-nationalistischen Staat. Die Sowjetunion drückte dabei ein Auge zu oder unterstützte dieses Vorgehen sogar implizit, indem sie ihren neuen nationalistischen Verbündeten günstige Bedingungen für Handel und Entwicklungshilfe anbot.
Die Ermordung der Dritten Welt Die neuen nationalistischen Staaten fanden sich in einer prekären politischen Lage innerhalb des labilen Gleichgewichts des Kalten Krieges wieder. Staaten, die auf einem guten Weg zu einer egalitären Entwicklung zu sein schienen, waren nun wieder einer neuen Bedrohung durch die alten Imperialmächte ausgesetzt. Wenn politische Überzeugungsarbeit und wirtschaftlicher Zwang nicht ausreichten, um die Interessen westlicher Mächte auf den rohstoffproduzierenden Märkten durchzusetzen, griffen sie auf direkte Intervention zurück. Eine Reihe von Putschen und Militäreinsätzen, die fast immer auf Versuche folgten, natürliche Ressourcen zu verstaatlichen, radikalisierten die Dritte Welt und führten zu einer eskalierenden Konfliktspirale. Diese Putsche und Interventionen des Westens fanden in der Dritten Welt selbst willige Verbündete. Die traditionell herrschenden Klassen, vor allem die oberen Ränge des Militärs und Großgrundbesitzer, fühlten sich durch den zunehmenden Radikalismus der nationalistischen Regierungen bedroht und nutzten die antikommunistische Paranoia der usa, um für ihre blutigen Machtübernahmen Unterstützung zu gewinnen. Staaten, die aus nationalen Befreiungsbewegungen hervorgegangen waren und in denen
Letzte Radioansprache während des Putsches am 11. September 1973
»Sie haben die Macht, sie können uns unterjochen. Doch sozialer Fortschritt lässt sich mit Verbrechen nicht aufhalten, und auch nicht mit Gewalt. Die Geschichte gehört uns, sie wird von den Völkern gemacht.« Salvador Allende
die Macht extrem zentralisiert war, zeigten sich für solche Akte politischer Enthauptung äußerst anfällig. Oft war die Bevölkerung seit Erlangung der Unabhängigkeit so weit demobilisiert, dass sie entweder nicht in der Lage oder nicht willens war, sich zur Verteidigung ihrer Regierungen zu erheben. Und wo es doch eine hochpolitisierte und tatkräftige Bevölkerung gab, die ihre Regierung zu verteidigen versuchte, war sie Massakern und anderen Formen gewaltsamer Unterdrückung ausgesetzt. Der Umsturz der demokratisch-sozialistischen Regierung von Mohammad Mossadegh im Iran 1953, die Ermordung des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba 1961, der Völkermord in Indonesien 1965–66 und der Putsch gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende 1973 sind allesamt Beispiele für die sehr realen Risiken, denen Regierungen ausgesetzt waren, wenn sie ihre eigene Souveränität gegenüber westlichen Interessen priorisierten. Interventionen dieser Art zogen die Errichtung brutaler Diktaturen nach sich, die ihre Bevölkerungen dem nach Bodenschätzen suchenden ausländischen Kapital als Quelle billiger Arbeitskraft auslieferten. Vor diesem Hintergrund rechtfertigten die Kommunisten der Dritten Welt ihre eigenen, nicht sonderlich demokratischen Experimente im State Building. Als die eher liberalen nationalistischen Regierungen durch rigorose Militärdiktaturen verdrängt
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wurden, kehrte die Linke dem Prinzip der Blockfreiheit zunehmend den Rücken und schloss sich dem sowjetischen Lager an. Nach den Beispielen der kommunistischen Bewegungen in China, Kuba und Vietnam, die die Souveränität ihrer Länder erfolgreich verteidigten, tauchte in den 1970er Jahren eine Reihe explizit marxistisch-leninistischer Regierungen auf, insbesondere in Afrika. Diese letzte Welle des extremen Radikalismus fiel jedoch in eine Zeit, in der auch die Wirtschaft der Sowjetunion von Rezession und Stagnation gezeichnet war. So konnte die Dritte Welt bei ihrem letzten militanten Aufbäumen nicht mehr lange auf die Unterstützung des kommunistischen Lagers zählen. Die Regime in Angola, Äthiopien und Afghanistan wurden schnell in verheerende Bürgerkriege verwickelt, wobei der letzte schließlich die Kapazitäten der Sowjetunion überstrapazierte, überhaupt noch irgendwem zu helfen.
Die Entwicklungsfalle schnappt zu Ohne das wirtschaftliche Gegengewicht des sowjetischen Lagers waren die Staaten, die dem kommunistischen Entwicklungsmodell gefolgt waren, gezwungen, sich an kapitalistische Finanzinstitutionen wie den iwf zu wenden, um kurzfristige Kredite zu erhalten, mit denen sie ihre langfristigen Schulden bedienen konnten. Der iwf nutzte die Gunst der Stunde und koppelte den Zugang zu Kapital an eine Reihe von Bedingungen: die Deregulierung der Märkte, die Abschaffung von Subventionen für Grundgüter und die massenhafte Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen und staatlichen Industrien. Diese »Strukturanpassungskredite« machten Jahre des sozialen Fortschritts der jungen, unabhängigen Nationalstaaten zunichte und warfen sie zurück in eine extreme Armut, wie es sie seit den tyrannischsten Episoden der alten Imperialreiche nicht mehr gegeben hatte. Da die Vermögenswerte der Staaten im Namen der »Umstrukturierung« ausgeschlachtet wurden, fielen innerhalb kurzer Zeit viele der aufstrebenden Industrienationen auf Rohstoffproduktion oder sogar auf Subsistenzlandwirtschaft zurück. Am schwersten traf das die Frauen, die oft auf Soziallöhne angewiesen waren, um ihrer unterprivilegierten Rolle innerhalb der traditionellen sozialen Strukturen zu entfliehen. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass das Bild hungernder
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Kinder so eng mit dem Afrika der späten 1980er und frühen 90er Jahre verbunden ist. Zwar war es einigen Staaten gelungen, eine industrielle Basis aufzubauen, die stabil genug war, um unter diesen neuen Bedingungen wettbewerbsfähig zu sein – zum Beispiel Brasilien und Südkorea. Doch das sollte die Ausnahme bleiben: Anstelle von Wachstum folgte in den meisten Fällen ein rascher wirtschaftlicher Abschwung. In den 1990er Jahren bezuschussten die Ruinen der Dritten Welt effektiv die Volkswirtschaften der Ersten Welt – jeder Anschein sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung wurde geopfert, um stattdessen unvorstellbar hohe Schuldenlasten zu bedienen. Unter diesen ökonomischen Bedingungen traten religiöser Fundamentalismus und knallharter Ethnonationalismus an die Stelle des eher fortschrittlichen und egalitären Nationalismus, der die antikolonialen Befreiungsbewegungen angetrieben hatte. In einer Zeit, die durch den finsteren Zynismus des Supermachtkonflikts gekennzeichnet war, stellte das politische Projekt der Dritten Welt eine Quelle von Stolz und Optimismus dar. Doch egal welchen Weg die neuen Staaten einschlugen – letztlich konnten sie der Entwicklungsfalle nicht entkommen. Einige, wie Puerto Rico, gaben ihre Souveränität an die usa ab und fanden sich im Tausch gegen den Zugang zu Investitionen und Konsumgütern der Ersten Welt mit ihrer Armut ab. Andere, wie Kuba, wurden vom kapitalistischen Weltmarkt abgeschnitten und waren nun vollständig von ihren eigenen Ressourcen und dem politischen Pflichtgefühl ihrer Bevölkerung abhängig. Der Kalte Krieg mag vorbei und die Dritte Welt einen tragischen Tod gestorben sein – die Entwicklungsfalle hat jedoch bis heute überdauert. Sie lebt fort in den gescheiterten Staaten, die sich nie vom Zusammenbruch des Kommunismus erholt haben, und in den Erzeugerwirtschaften, die in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems festhängen. Sie wirkt aber auch zunehmend in den imperialen Kernländern, wo Regierungen im Dienste des internationalen Finanzkapitals die arbeitende Bevölkerung im Stich lassen.
Robert Maisey ist Eisenbahner und Gewerkschafter bei der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT).
Christian Baron Schön ist die Nacht Claassen Verlag, 2022
Caitlin Rosenthal Sklaverei bilanzieren: Herrschaft und Management Matthes & Seitz, 2022
Nils C. Kumkar Alternative Fakten Suhrkamp, 2022
Der gelernte Zimmermann Willy geht am Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft kaputt, während sein guter Freund Horst längst weiß, dass dieses Versprechen eine Lüge ist. Nach oben schaffen es beide nicht. Christian Barons zweiter Roman ist eine Abrechnung mit der BRD der 1970er Jahre, die als goldene Ära des Wohlfahrtsstaats und der sozialen Mobilität verklärt wird. Schön ist die Nacht erzählt von denen, für die all das schon damals illusorisch war. Baron schafft, was nur wenigen gelingt: Er schreibt ohne weichzeichnende Romantisierung oder sozialvoyeuristische Überspitzung über Armut – ehrlich, hart und manchmal ganz innig und zart.
Die wissenschaftliche Betriebsführung hat ihren Ursprung in der Plantagensklaverei. Die heutige Managementliteratur würde diesen Umstand am liebsten vergessen machen, doch die Historikerin Caitlin Rosenthal lässt das nicht gelten. Die Vorreiter dieser Disziplin machten noch keinen Hehl daraus, dass sie ihre Methoden an ihnen schutzlos ausgelieferten Menschen entwickelt hatten. Als das moderne Management erstmals auf freie Arbeiterinnen und Arbeiter angewandt wurde, wussten auch diese, was los war: Es ging darum, ihre Arbeit zu kontrollieren und abzuwerten. Wahrscheinlich wäre eine Lagerarbeiterin bei Amazon ebenso wenig erstaunt zu erfahren, in welcher Tradition das »smarte« Monitoringsystem ihres Chefs steht.
Was ist das Problem mit Querdenkerinnen, Klimawandelleugnern und Trumpisten? Für viele Liberale ist die Antwort, dass sie nicht an die Fakten glauben. Dem Soziologen Nils Kumkar zufolge übersieht diese Sichtweise jedoch einen entscheidenden Punkt. Kumkar hat sich Alternative Fakten genauer angeschaut und eine fulminante Analyse vorgelegt: Der Streit um unsere Realität ist weniger ein Problem des Wissens, sondern Ausdruck von politischen und sozialen Konflikten. Kumkar zeigt, dass der Kampf gegen Verschwörungstheorien aller Art nicht auf der Ebene des Be- und Widerlegens gewonnen werden kann. Vielmehr müssen wir uns auf das politische Schlachtfeld begeben, das von den ideologischen Rauchwolken verdeckt wird.
Marion Messina Fehlstart Dtv, broschiert 2022
David McNally Blut und Geld: Krieg, Sklaverei, Finanzen und Empire Dietz Verlag, 2022
Vorschau aus unserem Verlag: Mark Fisher Sehnsucht nach dem Kapitalismus Brumaire Verlag, 2022
Endlich schreibt eine junge Frau nicht so sentimental wie Sally Rooney über die feinen Unterschiede zwischen Klassen und Geschlechtern, von jungen Menschen, die ihren Platz nicht finden, einem beschissenen Arbeitsmarkt und viel zu hohen Mieten. Messina gelingt es, das sinnlose Studentenleben in der mittelgroßen Stadt Grenoble genauso unerbittlich zu schildern wie den Dreck in der Metropole Paris. Aurélie läuft mit einem gnadenlosen Fehlstart ins Leben. Sie bleibt, wie viele von uns, eingequetscht zwischen einem unterwürfigen Arbeitermilieu und einer seelenlosen Mittelklasse.
»Sind wir nicht euer Geld?« Diese Frage stellt ein fiktiver Sklave seinem Unterdrücker in einem Ratgeber für Plantagenbesitzer von 1684. David McNally zeigt, wie die Geschichte des Geldes untrennbar mit Gewalt und Herrschaft verbunden ist – und es bereits lange vor dem Entstehen des Kapitalismus war. Dabei geht es ihm nicht darum, eine allumfassende Großtheorie zu formulieren, sondern darzustellen, wie die spezifischen Formen des Geldes – von Münzen des römischen Reichs bis zum enormen Macht der Dollar-Hegemonie – mit ihrer jeweiligen imperialen Ordnung verknüpft waren.
Warum kommen wir vom Kapitalismus nicht los? Liegt es nur daran, das wir in seinen strukturellen Zwängen gefangen sind? Oder hegen wir ein heimliches Begehren nach ihm? Und wenn das so ist, welcher Affekt könnte es ersetzen? In seinen letzten fünf Vorträgen widmet sich der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher diesen Fragen. Fisher sichtet das Erbe der Counterculture, des Akzelerationismus sowie das Denken von Theoretikern wie Lukács und Lyotard. Dabei untersucht er, warum wir bei unseren bisherigen Versuchen, aus der Gefangenschaft des Kapitals auszubrechen, auch an uns selbst gescheitert sind – und wie wir wirkliche Freiheit erlangen könnten. Vorbestellen: shop.jacobin.de
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Laura Bartkowiak und Brian J. Sullivan
Zocken für das Pentagon
Millionen spielen Kriegsspiele. Das Militär weiß das zu schätzen. Dabei müssten Shooter keine Propaganda sein. Text von Laura Bartkowiak und Brian J. Sullivan Übersetzung von Astrid Zimmermann Renderings von Steffen Ullmann
Zocken für das Pentagon
Am 8. Juli 2020, während sich Millionen von Menschen vor der Monotonie des Corona-Lockdowns in Videospiele flüchteten, streamte das E-Sport-Team des us-Militärs Call of Duty: Warzone auf Twitch. Ein Aktivist aus Washington D.C. loggte sich in den Chat des Livestreams ein und fragte: »what’s your favorite u.s. w4r cr1me?«. Dazu postete er einen Link zu einem WikipediaArtikel über die Kriegsverbrechen der usa. Er wurde sofort aus dem Chat gekickt. Der Vorfall schaffte es in den usa landesweit in die Medien. Die demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez brachte sogar einen Gesetzentwurf ein, der es dem Militär verbieten sollte, die Streamingplattform Twitch zur Rekrutierung zu nutzen. Auch wenn dieser eher symbolische Vorstoß scheiterte, so rückte er doch die jahrzehntelange Zusammenarbeit zwischen der us-Armee und der Gaming-Industrie ins Licht der Öffentlichkeit. Hollywood hängt seine engen Beziehungen zum us-Militär gern an die große Glocke. Die Spielehersteller hingegen schweigen lieber über ihre Kollaborationen mit der größten Kriegsmaschine der Welt. So werden Game-Designerinnen etwa von Militärs bei der Entwicklung des Plots und der Level beraten. Insbesondere im Genre der Taktik-Shooter sollen die Spiele »authentisch« wirken. Das Militär wiederum verwendet diese Spiele zur Rekrutierung und als Propaganda. Manchmal ist das offensichtlich, meistens allerdings nicht – etwa wenn Militärs die Handlung eines Blockbuster-Spiels wie Call of Duty mitgestalten. Erfolgreiche Ego-Shooter wie Call of Duty, die in der Öffentlichkeit inzwischen als Inbegriff von Gaming im Allgemeinen gelten, fahren extrem hohe Profite ein. Der Umsatz von Call of Duty beläuft sich auf über 27 Milliarden us-Dollar, die Spiele der Tom-Clancy-Serie wurden schätzungsweise 76 Millionen Mal verkauft. Diese Games idealisieren in der Regel den Typus des einsamen Soldaten, der mit dem Sturmgewehr die Probleme der Welt löst. Selbst die zweifelhaftesten militärischen Handlungen erscheinen in bestem Licht. Diese Dauerwerbung für die Militärmacht der usa wird von Hunderten Millionen von Menschen weltweit konsumiert.
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Propaganda-Partner Die Grundlagen dieser Gaming-Industrie hat das us-Militär mitgeschaffen – von der Einrichtung von Forschungszentren bis hin zum Erstellen der ersten Trainings- und Kampfeinsatz-Simulationen in den 1980ern. Inzwischen beteiligt sich das Militär aktiv am Design von Videospielen. Der Umsatz der Branche wächst schon seit einem Jahrzehnt stetig, machte 2020 aber nochmals einen Sprung um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und wird 2022 voraussichtlich die Marke von 222 Milliarden us-Dollar knacken. Games werden also immer beliebter – und das Militär will sichergehen, dass es dabei möglichst positiv dargestellt wird. Aus diesem Grund wurde 2002 die Serie America’s Army gestartet. Mit diesem kostenlosen Spiel, das zu Beginn des sogenannten Kriegs gegen den Terror veröffentlicht wurde, wollte man die breite Beliebtheit des Militär-Shooter-Genres für Kriegspropaganda nutzen und Gamer für die us-Armee rekrutieren. Als America’s Army im Mai 2022 eingestellt wurde, hatten es schätzungsweise 20 Millionen Menschen gespielt. Mit ihren Vorbildern Call of Duty und Battlefield konnte sich die Serie jedoch in keinerlei Hinsicht messen. Diese beiden kommerziellen Schwergewichte spielen Milliarden von Dollar ein und erzählen Geschichten über bewaffnete Konflikte, die Mut und Heldentum glorifizieren. Call of Duty: Black Ops Cold War stellte sogar Ronald Reagan als eine Art ehrenwerten Kameraden dar, der nicht davor zurückschreckt, internationales Recht zu brechen, um den »freien Männern und Frauen dieser Welt« zu dienen. In einem früheren Teil von Call of Duty wurden die Spielenden auf verdeckte Einsätze in Lateinamerika geschickt. An der Entwicklung dieses Spiels wirkte der in Ungnade gefallene Colonel Oliver North, der in den 1980ern bei den schmutzigen Verwicklungen der usa in Nicaragua eine Schlüsselrolle spielte, als Berater mit. Der Ende 2022 erscheinende Shooter Six Days in Fallujah soll dagegen größere Aufmerksamkeit auf die Realitäten des Krieges legen. Das Setting versetzt die Spielenden in die zweite Schlacht von Falludscha. In gewisser Weise ist es ein typischer Militär-Shooter – wie auch bei Call of Duty wird man mit realistischen Waffen ausgerüstet und soll diesen Militäreinsatz voranbringen, indem man auf dem virtuellen Schlachtfeld alles wegballert, was sich einem in den Weg stellt.
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In anderen Hinsichten ist das Spiel ein Ausreißer, der bereits vor Erscheinen heftige Kritik auf sich gezogen hat. Denn die Gefechte in Falludscha waren die tödlichsten des Irakkriegs. Es kamen schätzungsweise 1.300 Soldatinnen und Soldaten auf beiden Seiten ums Leben, 800 Zivilistinnen und Zivilisten starben im Kreuzfeuer. Bei den Kämpfen setzten die us-Streitkräfte Munition mit weißem Phosphor ein, der menschliches Fleisch bis auf die Knochen abbrennt. Den Schauplatz dieser Gräueltaten zur Szenerie eines EgoShooters zu machen – ein Genre, das nicht gerade für Nuanciertheit bekannt ist – hat erwartungsgemäß Bedenken hervorgerufen. Entwicklerinnen und Entwickler solcher Spiele beschreiben ihre Arbeit als einen gestalterischen Balanceakt zwischen Fiktion und Authentizität. In der Sorge um schlechte pr betonen sie und auch die Firmen, die diese Shooter vertreiben, immer wieder, wie unpolitisch ihre Spiele seien. Mark Lamia, der Chef von Treyarch – dem Studio
Krieg, der Spaß macht Es gibt einigen Grund, den Studios zu misstrauen, wenn sie behaupten, ihre Spiele seien unpolitisch. Allein schon die Struktur moderner Taktik-Shooter normalisiert die imperialistische Weltordnung: Das nächste Level erreicht man, indem man in feindliches Territorium vordringt und gesichtslose (oft nicht-weiße) Feinde niederschießt. Wie Jamie Woodcock in seinem Buch Marx at the Arcade schreibt, werden Militär-Shooter »in einer Ego-Perspektive erlebt, die es den Spielern nicht nur ermöglicht, den Krieg mit virtuellen Augen zu ›sehen‹, sondern zumeist auch aus dem Blickwinkel des us-amerikanischen Imperialismus. Obwohl diese Erfahrungen von den Spielern auf vielfältige Weise interpretiert werden können, sind sie trotzdem stets in irgendeiner Weise aufgefordert, die Ideologie des militärischen Konflikts und des Imperialismus wiederzugeben und dementsprechend zu handeln.«
Was bedeutet es, mit den Invasoren mitzufühlen, die unter falschen Vorwänden in ein Land einmarschieren? hinter Call of Duty – entgegnete auf die Frage nach der Beziehung zwischen seinem Unternehmen und Oliver North: »Wir haben nicht die Absicht, uns mit unserem Spiel politisch zu positionieren. Wir versuchen Kunst und Unterhaltung zu machen ... dass wir uns mit ihm ausgetauscht haben, als wir unsere Fiktion entwickelten, ist vollkommen angemessen.« Ähnlich äußerte sich Peter Tamte, ceo des Unternehmens, das Six Days in Fallujah veröffentlicht. Er behauptete, es gehe in diesem Spiel eigentlich um Empathie und Verständnis. »Ob der Krieg an sich gut oder schlecht war, wollen wir politisch gar nicht kommentieren«, betonte er. »Wir wollen den Spielern helfen, die Komplexität militärischer Kampfhandlungen in Städten zu verstehen. Es geht hier um die Erfahrungen eines Einzelnen, der aufgrund politischer Entscheidungen im Krieg ist.«
Ein gut konzipiertes Videospiel gibt dieser Ideologie ein positives, unterhaltsames und faszinierendes Image. Ein Spiel muss also gar nicht explizit politisch sein, um politische Wirkung zu entfalten. Militär-Shooter tragen dazu bei, kollektives Verständnis für staatliche Gewaltanwendung zu schaffen. Die Spielenden haben beinahe vollständige Kontrolle darüber, wie sie sich durch die virtuelle Welt bewegen. Wenn sie scheitern, sind die Folgen unerheblich und von kurzer Dauer. Das Medium vermittelt eine idealisierte Fantasie militärischer Kampfhandlungen. Damit bekräftigt es bestimmte Einstellungen dazu, wie eine moderne Imperialmacht Kriege führt, während es den realen Horror und die Verwüstung, die damit einhergehen, ausblendet. Serien wie Call of Duty setzen auf realitätsge treue Ausrüstung und Taktik, um das Spiel möglichst eindringlich erlebbar zu machen. Für einen der letzten Teile nutzte Treyarch 3d-Scan-Tech-
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nologie, um digitale Kopien realer Objekte zu generieren. Um maximale Detailtreue zu gewährleisten, griff das Studio auf das Fachwissen ehemaliger Navy seals – einer Spezialeinheit der usMarine – zurück. Das Spiel Call of Duty: Modern Warfare, das so entstand, war nicht nur eine bemerkenswerte technische Leistung, sondern hob auch ausgeklügelte Militärpropaganda in Videospielform auf ein neues Level. Das soll nicht heißen, dass die Spiele nicht unterhaltsam wären. Call of Duty ist dort am stärksten, wo sich Geschicklichkeit auszahlt. Es macht durchaus Spaß, Feinde aufzuspüren und auszuschalten, strategische Stützpunkte ausfindig zu machen, neue Fähigkeiten zu erlangen und neue Waffen zu erhalten. Woodcock argumentiert: »Diese starke Feedbackschleife hat Ego-Shootern ein Massenpublikum eingebracht … Eine solche Erfahrung macht man beim Konsum anderer Formen von Gegenwartskultur viel seltener.« In den Multiplayer-Modi, die in der Regel beliebter sind als Singleplayer-Kampagnen, sind auch der Plot und die Politik weniger zentral. Doch unabhängig von der politischen Gesinnung der Entwicklerinnen werfen Games, die sich mit Krieg beschäftigen, unweigerlich politische Fragen auf. Wie zuvor schon Filme und Bücher, so sind auch Videospiele zu einem Medium geworden,
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durch das Millionen von Menschen kollektive Erinnerung und Mythenbildung durchleben. Ob sie wollen oder nicht – die Entwickler dieser Videospiele erzeugen zwei Jahrzehnte nach den us-Invasionen in Afghanistan und im Irak auch ein Narrativ, wie sich die Gesellschaft an diese Kriege erinnern soll und welche Motive dahinterstanden. Vielleicht will Six Days in Fallujah den Spielenden wirklich dabei helfen, sich in die Erfahrung von Soldatinnen und Soldaten einzufühlen. Aber Empathie hat immer auch eine politische Komponente. Was bedeutet es, mit den Invasoren mitzufühlen, die unter falschen Vorwänden in ein Land einmarschieren? Und was besagt das über unser Verhältnis zu denjenigen, die unter diesem Krieg am meisten gelitten haben, nämlich der irakischen Bevölkerung?
Ein anderes Kriegsspiel ist möglich In Videospielen den Krieg zu thematisieren, ist nicht grundsätzlich verkehrt und nicht alle Kriegsspiele müssen zwangsläufig propagandistisch sein. So nutzt etwa This War of Mine von 11 Bit Studios die Mechanismen eines SurvivalGames, um das Leben von Zivilisten im Krieg darzustellen. Und das Handyspiel Bury Me, My Love versetzt die Spielenden in die Lage syrischer
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VERNETZTE WAFFENSCHMIEDEN – RÜSTUNGSINDUSTRIE IN DEUTSCHLAND Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat in Deutschland eine neue Rüstungsdebatte entfacht. Nach Planung der Bundesregierung soll künftig das umstrittene 2-Prozent-Ziel der NATO für Militärausgaben (über-)erfüllt und zusätzlich durch ein «Sondervermögen» von 100 Milliarden Euro abgesichert werden. Diese zumindest in absoluten Zahlen größte Ausgabensteigerung in der Geschichte der Bundesrepublik wird unter den Bedingungen der Schuldenbremse zu Lasten sozialer Ausgaben und notwendiger Investitionen wie z. B. in den Klimaschutz erfolgen. Profitieren wird von dieser Politik vor allem die deutsche Rüstungsindustrie. Wir stellen in einem kleinen Who-is-Who der Waffenschmieden die wichtigsten Akteure vor.
www.rosalux.de/ vernetzte-waffenschmieden
Er s tma ls in Deut sc hland
WERK 12.4.–– 26.8.22 SCHAU BRIAN STAUFFER
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Straße der Pariser Kommune 8A, 10243 Berlin Die Ausstellung kann Montag bis Freitag von 10:00 bis 18:00 Uhr besucht werden.
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Geflüchteter, die versuchen, mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben. Das Genre Militär-Shooter eignet sich prinzipiell dazu, die Schattenseiten des Krieges zu erforschen und die pro-militärischen Botschaften zu untergraben, die in den meisten dieser Spiele verbreitet werden. 2012 veröffentlichten das Studio Yager und das Vertriebslabel 2k das Spiel Spec Ops: The Line. Auf den ersten Blick gleicht es einem klassischen Ego-Shooter: Man schlüpft in die Rolle von Captain Walker, der eine us-amerikanische Eliteeinheit anführt. Im postapokalyptischen Dubai sollen sie eine Rettungsaktion durchführen und wichtige Informationen beschaffen. Die Mission nimmt jedoch eine düstere Wendung: Walker dringt immer weiter in die Stadt vor und tötet fast alle Menschen, die dem Team begegnen, auch Zivilisten. Während er den Verstand verliert, wird das Spiel hektisch und halluzinativ. Spec Ops: The Line war bahnbrechend, indem es Plot und Spielmechanik nutzte, um das MilitärShooter-Genre selbst zu kritisieren. In Anlehnung an den Antikriegsfilm Apocalypse Now ergründet das Spiel die psychischen Schäden, die der Krieg bei denjenigen hinterlässt, die töten, und thematisiert, was es bedeutet, diese Gewalt in Videospielen oberflächlich zu simulieren. Immer wieder durchbricht das Spiel die vierte Wand und stellt dem Spieler Fragen wie: »Fühlst Du Dich schon wie ein Held?« Auch wenn Militär-Shooter bekanntermaßen auf Realismus aus sind, bleibt ihre Darstellung des Krieges dennoch selektiv und unauthentisch. Sie sind zwar zwanghaft darum bemüht, die Waffen und die Taktiken des Krieges nachzubilden, aber sie fragen nicht danach, warum es diese überhaupt gibt oder weshalb der Krieg jemanden
Während er den Verstand verliert, wird das Spiel hektisch und halluzinativ.
zum Schlechten verändern kann. Damit wird die Chance verpasst, etwas über die Gesellschaft zu sagen, in der diese Spiele gespielt werden. Walt Williams, der Hauptautor von Spec Ops, hat selbst Familienmitglieder und Freunde, die beim Militär arbeiten, und er hat miterlebt, wie der Krieg sie veränderte. Er sagt: »Als sie zurückkamen und mir die kleinen Veränderungen an ihnen auffielen, fühlte es sich irgendwie komisch an, Militär-Shooter zu spielen. Denn das, was die Leute, die ich kenne, tatsächlich durchgemacht haben, ist damit nicht vergleichbar.« Abseits von Design und Ästhetik kann die Rolle des Militärs in der Gaming-Industrie aber auch materiell herausgefordert werden. In der Videospiel-Branche gibt es immer mehr gewerkschaftliche Organisierung, die Arbeiterinnen und Arbeitern mehr Möglichkeiten verschafft, dubiose Praktiken und Beziehungen abzulehnen. Die technischen Angestellten bei Google legten 2018 die Arbeit nieder, um dagegen zu protestieren, dass das Unternehmen im Bereich Künstliche Intelligenz mit dem Pentagon kooperiert. Ein Jahr zuvor schlossen sich Mitarbeitende von Facebook, Intel und Google zusammen und hielten eine Kundgebung vor dem Datenanalyseunternehmen Palantir ab, dessen Software unter Präsident Trump von der Polizei- und Zollbehörde ice eingesetzt wurde. Auch die Beschäftigten in der Gaming-Industrie könnten sich gegen den Einfluss des Militärs in der Branche auflehnen. Videospiele sind beliebter denn je. Wer sich über die zunehmende Militarisierung unserer Welt Sorgen macht, muss den Verstrickungen zwischen Militär und Videospiel-Unternehmen ins Auge sehen. Man sollte das Medium aber nicht als hoffnungslos reaktionär aufgeben, nur weil die Branche Verbindungen zu den Streitkräften unterhält. Die Inhalte, die sie transportieren und die Bedeutung, die ihnen die Gesellschaft beimisst, werden von den Bedingungen ihrer Produktion beeinflusst, aber nicht vollkommen bestimmt. Der militärisch-industrielle Komplex beherrscht unsere Gesellschaft – da sollte es niemanden verwundern, wenn sich diese Dominanz auch in den imaginierten Welten von Videospielen niederschlägt. Ob das so bleibt, hängt von den Menschen ab, ohne deren Arbeit es diese Spiele nicht gäbe, und von den Millionen von Spielerinnen und Spielern, deren Geld die Produktion am Laufen hält.
Laura Bartkowiak ist Datenanalystin und lebt in New York. Brian J. Sullivan ist Anwalt für Wohnungswesen und Gewerkschaftsaktivist. Er lebt in New York.
Verkörperung der Macht in Lettern: Capitalis Monumentalis der Trajanssäule, errichtet in den Jahren 112/113 in Rom.
Trajans Säule, Hitlers Fetisch Mit der Capitalis Monumentalis fand der Imperialismus bereits vor über 2000 Jahren seinen endgültigen Ausdruck in der abendländischen Typografie. Text von Andreas Faust
Von Karl dem Großen über Napoleon Bonaparte bis Adolf Hitler – die mondäne Ästhetik des Imperium Romanum war der feuchte Traum eines jeden Imperialisten von Weltrang. Die Römer statuierten nicht nur ein beeindruckendes Exempel, wie man Herrschaft durch Sklavenhaltung und kontinuierliche Kriegsführung konstituiert, sondern auch darin, diese Barbarei visuell äußerst geschmackvoll einzurichten. Für monumentale Inschriften an Säulen, Wänden und Gräbern entwickelten sie eine eigene Schriftart, die heute als »Capitalis Monumentalis« bezeichnet wird. Wie die Architektur, in die ihre Lettern eingemeißelt wurden, basiert sie auf den geometrischen Grundfiguren Quadrat, Kreis und Dreieck. Was
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Gerade die präzise Abweichung von Idealformen – als optische Korrektur und Ausdruck gestalterischer Intuition und Schöpfungskraft – macht die Formgebung für das menschliche Auge erhaben. könnte dem Anspruch ewiger Herrschaft besser Ausdruck verleihen als diese Signifikanten unverrückbarer, mathematischer Logik? Doch typografische Schönheit lässt sich nicht algorithmisch herbeizaubern. Wie jede andere relevante Schrifttype in der Geschichte ist auch die Capitalis nicht einfach mathematisch konstruiert. Gerade die präzise Abweichung von Idealformen – als optische Korrektur und Ausdruck gestalterischer Intuition und Schöpfungskraft – macht die Formgebung für das menschliche Auge erhaben.
Romain du Rois Diese Erfahrung mussten auch die Gelehrten der Akadémie Royale des Sciences machen, als sie im Jahre 1692 vom Sonnenkönig Ludwig xiv. damit beauftragt wurden, eine exklusive Variante der Capitalis zu zeichnen. Vom Geiste cartesianischer Vernunft durchdrungen, gingen sie daran, in jahrelanger Arbeit eine 500-seitige technokratische Konstruktionsanleitung für die königlichen Kupferstecher, Stempelschneider und Buchdrucker auszuarbeiten, die auf einem 2304-teiligen Raster basierte. Herausgekommen ist ein plumpes Machwerk, dessen Stümperhaftigkeit nur dank seiner »unpräzisen« Anwendung durch erfahrene Handwerker kaschiert werden konnte. Ein Treppenwitz der Geschichte: Die »Romain du Rois« getaufte Schriftart wurde der Öffentlichkeit zugänglich, als sich die Revolutionäre nach 1789 der königlichen Druckerei bemächtigten. Unter anderem wurde der Beschluss zur Hinrichtung von Ludwig xvi. in ihr gesetzt. Von der Säule des römischen Kaisers Trajan bis zum Todesurteil des Neubürgers wider Willen, Louis Capet, wandelte die Capitalis auf verschlungenen Pfaden: Nach dem Zerfall des Römischen Reichs entwickelte die europäische Typografie
Die Antiqua im Embryonalstadium: Die Humanistische Minuskel mit farbigen Initialen der Capitalis Monumentalis. Seite aus dem noch handgeschriebenen Stundenbuch von Giovanni II. Bentivoglio, Bologna, circa 1497–1500.
einen gigantischen Formenreichtum aus Minuskeln und gebrochenen Schriften, der mit den romanischen Lettern wenig gemein hat. Die Capitalis Monumentalis verschwand jedoch niemals von der Bildfläche, denn sowohl die weltliche als auch die kirchliche Herrschaft bedienten sich ihrer überall dort, wo erhabenste Repräsentation gefordert war. In ihrer Klarheit und Schnörkellosigkeit konnten diese nackten Lettern, die übergroß und unversehrt die Jahrhunderte auf den römischen Prachtbauten überdauerten, sich jederzeit gegen den ornamentalen Zeitgeist durchsetzen – zumindest wo es um die Verkörperung absoluter Macht ging. Für alles andere gab es Minuskel und Gebrochene und die wildesten Mischungen ihrer Genres und Subgenres, deren Vielgestalt und Schönheit für die heutige Typografie außerhalb der Rechtsrock- und Mittelalterszene bedauerlicherweise weitgehend verloren sind. Beispielhaft ist hier wiederum Karl der Große, der zwar einerseits den Klöstern und
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Schreibstuben der eroberten Länder seine neu entwickelte Hausschrift, die »Karolingische Minuskel«, auferlegte, es sich andererseits aber nicht nehmen ließ, Headlines und Titelsatz in der – you name it – Capitalis schreiben zu lassen.
Die Geburt der Antiqua Deren erneute, bis heute ungebrochene Herrschaft nahm im 15. Jahrhundert mit der Geburt der »Antiqua« in Venedig ihren Anfang: Um die Neuauflage der Werke der antiken und humanistischen Literatur im Verfahren des Buchdrucks mit beweglichen Lettern dem Inhalt angemessen zu gestalten, kombinierte man die damals angesagte »Humanistische Minuskel« mit der Capitalis Monumentalis. Erstere war eine Weiterentwicklung der Karolingischen Minuskel (die man fälschlicherweise für eine römische Schrift hielt) und letztere zu klobig für den Satz von Mengentexten, weshalb sie nur für Anfangsbuchstaben verwendet wurde – was nicht passt, wird passend gemacht. So schrieben die Designer des aufstrebenden Bürgertums den römischen Herrschaftspomp in die dna jener Schriftgattung ein, die selbst wie eine imperialistische Macht nach und nach die abendländische Typografie vereinnahmen sollte: der Antiqua eben. Doch genug der Paläographie. Was haben die Filme Titanic und The Human Centipede gemeinsam? Einer ein Meilenstein der Kinogeschichte, der andere kruder Sozialkitsch mit Leonardo DiCaprio – richtig: den Font. Wie wahrscheinlich Zehntausende Filme aller erdenklichen Genres auch, verwenden sie »Trajan« für die Titelgestaltung ihrer Filmplakate. Ende der 1980er Jahre, als das Digital Publishing aufkam, ließ die Firma Adobe die Capitalis Monumentalis von der Trajanssäule in Rom abpausen und von der Designerin Carol Twombly gekonnt digitalisieren. Damit wurden diese Lettern, die jahrtausendelang allem vermeintlich und tatsächlich Pracht- und Würdevollen – Bibeln, Psalmen, Wappen, Kirchen, Palästen, Regierungsgebäuden – vorbehalten waren, für die Allgemeinheit verfügbar. »It became the Arial of movie posters«, wie es der Designer Yves Peters ausdrückt – bis die großen Produktionen
Was haben diese Filme gemeinsam? Die Monumental-Schmonzette Titanic (1997) und der Bodyhorror-Alptraum The Human Centipede (2009).
Durch den Font »Trajan« wurde die Capitalis, die jahrtausendelang allem vermeintlich und tatsächlich Pracht- und Würdevollen vorbehalten war, endgültig für die Allgemeinheit verfügbar. sich davon abwandten und das Feld den B-Movies überließen. Zugegeben, auch der Logo-Schriftzug dieses Magazins ist nichts anderes als eine moderne Interpretation der Capitalis Monumentalis im Stile der Geometrischen Serifenlosen, die mit Paul Renners »Futura« 1927 ihren Siegeszug antrat. Auch jacobin zehrt also vom Glanze des Imperium Romanum. Ducunt fata volentem, nolentem trahunt, Genosse! Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen schleift es dahin.
Andreas Faust ist Grafikdesigner und Creative Director bei JACOBIN .
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V.i.S.d.P. Herausgeber: Ole Rauch (V.i.S.d.P.), [email protected] Kontakt zur Redaktion: [email protected] Auflage 8.000 Exemplare
Bildrechte S.28-43: Robin Hinsch, S.47: Isabel Estevez, S.47: Olaf Kostritz, S.108/109: Wikimedia Commons, David Harris, The Art of Calligraphy, Dorling Kindersley 1995, Albert Kapr: Ästhetik der Schriftkunst. Thesen und Marginalien. Leipzig: Fachbuchverlag, 1977, S.110: Six Entertainment Company, Paramount Pictures, 20th Century Fox, Lightstorm Entertainment
Druck Papier: Enviro Clever U, 100% Recycling aus Altpapier, Blauer Engel Druckerei: Oktoberdruck GmbH, Grenzgrabenstraße 4, 13053 Berlin Versand Heftwerk / oml gmbh & co. kg, Holzhauser Str. 140i, 13509 Berlin Anzeigen Online & Print-Werbung: [email protected] Buchhandel Buchhandelsbestellungen: [email protected] Verlag Brumaire Verlag gmbh Geschäftsführer: Ole Rauch, [email protected] Brumaire Verlag Erkelenzdamm 59/61 10999 Berlin www.brumaireverlag.de © Brumaire Verlag
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