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German Pages [558] Year 2015
Kompendium psycholodscher Theorien Herausgegeben von Mark Galliker und Uwe Wolfradt suhrkamp taschenbuch Wissenschaft
Das Kompendium bietet allen an psychologischen Themen Interessierten, Fachleuten wie Laien, einen breiten Überblick über mehr als 120 sowohl klassische als auch neuere und zukunftsweisende psychologische Theorien von der Abbild- und Widerspiegelungstheorie über Gerontopsychologie und Neopsychoanalyse bis hin zur Zeichentheorie der Sprache.
stw
Originalausgabe
www.suhrkamp.de
suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2154
Die Psychologie hat im Laufe ihrer Geschichte als eigenständige Disziplin eine Vielzahl von Theorien hervorgebracht, die unser Denken in Wissenschaft und Alltagsleben verändert haben. Erstmals werden nun die maßgeblichen Konzepte und Zusammenhänge in einem Band kompakt präsentiert und gut verständlich dargestellt, mit dem Ziel, eine Übersicht über das vielfältige Gebiet der Psychologie, den derzeitigen Stand der Theoriebildung sowie über die Vernetzung der einzelnen Theorien zu bieten. Entstanden ist ein unverzichtbares Kompendium fiir Studierende des Fachs und seiner Nachbardisziplinen, aber auch fiir Lehrende, Praktiker sowie alle, die an psychologischen Themen interessiert sind. Mark Galliker ist Professor fiir Psychologie bei den Universitären Fernstudien Schweiz. Uwe Wolfradt ist Professor fiir Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Kompendium psychologischer Theorien Herausgegeben von Mark Galliker und Uwe Wolfradt
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2154 Erste Auflage 2015 © Suhrkamp Verlag Berlin 2015 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 978-3-518-29754-4
Inhalt Vorwort
n
THEORIEN
Abbild- und Widerspiegelungstheorie Mark Galliker . Affiliationstheorie Lysann Zander Akkulturations- und Migrationstheorien Andrea Riecken . . . Aktionstheorie des Gehirns Mark Galliker Analytische Psychologie Uwe Wolfradt Anerkennungstheorie Walter Herzog Assoziationstheorien Uwe Wolfradt Attributionstheorie Mark Galliker Austauschtheorie Walter Herzog Autoritarismus-Theorie Bernd Six
15 20 24 28 32 36 39 44 48 53
Bedürfnispyramide Uwe P. Kanning Beeinflussungstheorien Hans-Peter Erb Bindungstheorie Alexander Kochinka Biologische Psychologie Mark Galliker
57 62 66 70
Coping Guy Bodenmann
75
Deliberationstheorie mentaler Evolution Werner Loh Denktheorien Uwe Wolfradt Dialogmodelle Margot Klein Diskurstheorie Carina Lopez Uribe
79 83 87 91
Emotionstheorien Mark Galliker 95 Entscheidungstheorien Arndt Bröder 100 Entwicklungstheorie der Emotionsregulation Marc Schipper 105 Entwicklungstheorien Chirly dos Santos-Stubbe 108 Erlernte Hilflosigkeit Mike Lüdmann 113 Evolutionstheorie und Evolutionäre Psychologie Walter Herzog 116 Existentialistische und daseinsanalytische Ansätze Mark Galliker 120
Feldtheorien Wolfgang Schönpflug Feministische Theorien in der Psychologie Julia Scholz und Anna Sieben Führungstheorien Susanne Braun und Dieter Frey Ganzheitstheorie Susanne Guski-Leinwand Gedächtnistheorien Jürgen Bredenkamp Geisteswissenschaftliche Psychologie Mark Galliker . . . . . . . Gelernte Sorglosigkeit Dieter Frey und Stefan Schulz-Hardt Genetische Epistemologie Georg W. Oesterdiekhoff . Gerechtigkeitstheorien Mike Lüdmann Gerontopsychologische Theorien Christiane Bahr Geschichtswissenschaftliche Ansätze Mark Galliker Gestalttheorie Uwe Wolfradt
125
128 133
137 141 146 ... 1 15 159 164 169 172
Handlungskontrolltheorie Peter Gräpel und Tom Nicolas Kossak 17 Hebbsche Lernregel Mark Galliker 181 Hermeneutik als Theorie des Verstehens Jobst Finke 185 Historische Psychologie als allgemeine Psychogenesetheorie GerdJüttemann 189 Humanistische Psychologie Mark Galliker 192 Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung Dieter Frey und Stephanie Draschil 19 Ideomotorische Verhaltens- und Handlungssteuerung Armin Stock Impression-Management-Theorie Petia Genkova Individualpsychologie Mark Galliker Interaktionsbasierte Theorien der Face-to-face-Kommunikation Uta Quasthoff Interdependenztheorie Silvia Macher; Ursula Athenstaedt und Paul A. M. Van Lange Klinische Psychologie Mark Galliker Kognitive Emotionstheorien Mark Galliker Kognitive Dissonanztheorie Claudia Vogrincic Kognitiv-physiologische Theorie der Emotionen Marc Schipper Konnektionismus Beat Meier
201 205 209 213 217 221 226 231 236 239
Konstruktivistische Ansätze der Psychologie Lisa Schönberg . 243 Konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung Margarete Imhof 246 Kreativitätstheorien Norbert Groeben 251 Kritische Psychologie Morus Markard 255 Kritische Theorie Elena Demke 259 Kulturvergleichende Psychologie Hannes Stubbe 263 Kulturhistorischer Ansatz Carlos Kölbl 267 Leib-Seele-Problem Mark Galliker Lerntheorien Jürgen Bredenkamp Lesekompetenz Norbert Groeben und Ursula Christmann Libidotheorie Horst Gundlach Linguistisches Relativitätsprinzip Mark Galliker
271 276 281 285 288
Medienpsychologische Theorien Petia Genkova 292 Menschenbilder der Psychologie Mark Galliker 297 Modell der Extension Dieter Frey und Stefan Schulz-Hardt . . . 302 Morphologische Psychologie Herbert Fitzek 306 Motivationstheorien Mark Galliker 310 Neopsychoanalyse Mark Galliker
315
Neuropsychologische Theorien UweWolfradt
319
Organisationspsychologische Theorien Mark Galliker
3 24
Pädagogisch-psychologische Theorien Mark Galliker Personzentrierte Entwicklungstheorie Eva-Maria Biermann-Ratjen Personzentrierte Persönlichkeitstheorie Jochen Eckert Personzentrierte Systemtheorie Jürgen Kriz Phänomenologische Psychologie Uwe Wolfradt Positive Psychologie Marc Schipper Problemlösungstheorien Joachim Funke Produktionstheorie des Denkens Mark Galliker Produktionstheorie des Sprechens Mark Galliker Psychoanalyse Daniel Weimer Psychoanalytische Beziehungstheorie Daniel Weimer Psychoanalytische Kulturtheorie Norbert Rath
329 334 338 342 346 350 353 356 360 365 370 374
Psychoanalytische Theorien des Unbewussten Florian Geyer Psychologik Walter Herzog Psychologische Ansätze moralischer Entwicklung Fabio Sticca
378 383 387
Religionspsychologische Theorien UweWolfradt 391 Risikowahl-Modell Jürgen Beckmann 395 Rollentheorie der religiösen Erfahrung Bernhard Lang 399 Rubikon-Modell der Handlungsphasen Jürgen Beckmann . . . 402
Selbstaufmerksamkeitstheorie Petia Genkova 406 Selbstbeobachtungskonzepte Michael Schwarz 410 Selbstbestimmungstheorie Lysann Zander 414 Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung Andreas Höjler und Ursula Athenstaedt. . . ; 418 Semiotisch-ökologische Psychologie Christian Allesch 422 Sinntheorie Stefan Schulz-Hardt und Dieter Frey 425 Soziale-Dominanz-Theorie Bernd Six 429 Soziale Kategorisierung und Diskriminierung Franc Wagner 433 Soziale Vergleichstheorie Katja Corcoran 437 Sozialisationstheorie des Lesens Norbert Groeben und Ursula Christmann 441 Sozialpsychologie des sozialen Urteils Chirly dos Santos-Stubbe 445 Sozialpsychologische Theorien Hans-Peter Erb 448 Sozialwissenschaftlicher Ansatz der Psychologie Norbert Groeben 453 Spracherwerbstheorien Uta Quasthoff 457 Sprachliche Diskriminierung Franc Wagner 461 Sprachpsychologische Theorien Mark Galliker 464 Strukturalistische Entwicklungstheorie Burkhard Vollmers . . . 469 Subjektive Theorien Mark Galliker 473 Symbolische Handlungstheorie Christian Allesch 478
Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit Carlos Kölbl 482 Theoretische Psychologie Uwe Woljradt und Mike Lüdmann . . 486 Theorie der Sozialen Identität Christine Flaßbeck und Hans-Peter Erb 491 Theorien der Psychologie und Empirie Mark Galliker . . . . . . 495
Theorie-Praxis-Transfer Margot Klein Traumatheorie Elena Demke Traumtheorien Mark Galliker Überredungstheorien Birga Mareen Schumpe und Hans-Peter Erb Valenz-Instrumentalitäts-ErwartungsTheorie Uwe P. Kanning Völkerpsychologie Susanne Guski-Leinwand Vulnerabilitäts-Stress-Theorie Elena Demke
500 . 505 509 514 517 521 525
Wahrnehmungstheorien Uwe Wolfradt Wertetheorie Paul H. P Hanel Willensfreiheit Norbert Groeben Wissenschaftstheorie Norbert Groeben Wohlbefindenstheorien Pasqualina Perrig-Chiello und Stefanie Spahni
528 533 537 541
Zeichentheorie der Sprache Elfriede Billmann-Mahecha
550
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Vorwort
Mit dem vorliegenden Band wird zum ersten Mal ein umfangreiches Kompendium der relevanten Theorien der wissenschaftlichen Psychologie vorgelegt. Der Schwerpunkt liegt auf den Theorien der akademischen Psychologie, doch werden auch Theorien einbezogen, die von praktischer Relevanz ftir die Psychotherapie-Ausbildung sind. Innerhalb der akademischen Psychologie wird insbesondere der Allgemeinen Psychologie und der Sozialpsychologie eine zentrale Bedeutung zuerkannt. Das Kompendium psychologischer Theorien bringt allen psychologisch Interessierten - Studierenden der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen, Lehrenden, Praktikern und einem breiteren Leserkreis - die vielfach rezipierten und verwendeten klassischen, aber auch die neueren und und besonders interessanten zukunftsweisenden Theorien der Psychologie näher. Es versteht sich als hilfreicher Begleiter zur Vorbereitung von Lehrveranstaltungen und zur Konzipierung schriftlicher Arbeiten im Studium, in der Forschung sowie in der Berufspraxis. Hinweise zu Rezeptionsgeschichte, Sekundärliteratur und weiterführender Literatur bieten einen optimalen Einstieg in das jeweilige Theoriefeld. Die Gliederung der Beiträge folgt daher einer bestimmten Struktur: (i) Wichtige Vertreter/innen, (2) Theorien, (3) Rezeption und (4) Literatur/ Quellen. Im Allgemeinen beziehen sich Lexika und Kompendien der Psychologie auf einzelne Termini, Experimente und/oder Personen. Diese Ausrichtung gründet in einer langen und bewährten Tradition, die mit der empirisch-experimentellen Forschung der Psychologie begonnen und sich mit der theoretischen Einordnung psychologischer Wissensinhalte etabliert hat. Bereits im Jahr 1732 unterschied Christian Wolff (1679-1754) indes zwischen einer empirischen Psychologie (psychologia empiricä) und einer theoretischen Psychologie (psychologia rationalis) und hob die Bedeutung von Theorien für die Psychologie hervor. Und Wilhelm Wundt (1832-1920) prognostizierte kurz vor dem ErstenWeltkrieg, dass Psychologen, die sich nicht mit Theorie und insbesondere mit Erkenntnistheorie auseinandersetzten, sich in Handwerker verwan11
dein würden, »aber nicht gerade in Handwerker der nützlichsten Gattung« (vgl. Wundt, W. [1913/1921]. Die Psychologie im Kampf ums Dasein. Kleine Schrifien. Bd. 3. Stuttgart: Kröner, S. 533). Theo Herrmann (1928-2013) betonte in seinem 1979 erschienenen Werk Psychologie als Problem ebenfalls die Wichtigkeit von Theorien fiir das psychologische Forschungsprogramm. Seiner Meinung nach erfüllen Theorien nicht nur heuristische Aufgaben, sondern es kommen ihnen auch elementare Funktionen bei der Rekonstruktion von psychologischen Bereichen zu. Indessen wird bis heute den fiir die psychologische Forschung zur Verfügung stehenden Theorien und Modellen erstaunlicherweise relativ wenig Beachtung geschenkt. Dies ist sicherlich dem komplexen Gegenstand der psychologischen Forschung, dem individuellen Erleben und Verhalten, geschuldet. Die Psychologie konzentrierte sich lange Zeit eher auf experimentelle Untersuchungen und vernachlässigte das Feld der Theorien. Das genaue Studium der Theorien im Original kann das vorliegende Kompendium selbstverständlich nicht ersetzen; es kann allerdings wichtige Hinweise geben, um die Leser/innen zum Studium der Quellen anzuregen. Die Herausgeber sind der Ansicht, dass die oft theoretisch sehr interessierten Studierenden allzu selten auf die Quellen alternativer Erklärungen in der Psychologie aufmerksam gemacht werden und sich so mit der Vielzahl psychologischer Ansätze kaum je ausreichend auseinandersetzen können. Das Kompendium möchte in diesem Sinne nicht nur dem bestehenden großen Informationsbedürfnis entsprechen, sondern auch zu einem pluralistischen Verständnis der Psychologie beitragen. Die Psychologie reicht erheblich über ihren experimentellen Bereich hinaus. Eine lebhafte Diskussion ihrer vielfältigen theoretischen Ansätze sollte daher möglich werden; nicht zuletzt deshalb, weil sinnvolles Experimentieren darin besteht, alternative Theorien und ihre Hypothesen gegeneinander zu testen. Die Auswahl von Theorien fiir das Kompendium fiel erwartungsgemäß schwer. Zwar wurde ein Gesamtbild psychologischer Theorien angestrebt, doch konnten natürlich nicht sämtliche Theorien berücksichtigt werden, und die einzelnen Theorien konnten über die globale Darstellung hinaus nur stellenweise differenzierter und konkreter wiedergegeben werden. Der vorliegende Band vermag daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Reprasenta12
tivität zu erheben. Verschiedene Bereiche der Psychologie werden in Übersichtsbeiträgen mit ihren zentralen Paradigmen kurz vorgestellt, die nur ausschnittsweise näher beleuchtet und in besonderen Beiträgen vertieft werden können. Ein wichtiges Anliegen der Herausgeber ist es, eine Vernetzung der vielen theoretischen Ansätze zu schaffen, gilt es doch zunächst, eine Übersicht zu gewinnen, um im Weiteren zu einer bereichsübergreifenden Einordnung und längerfristig zu einer theoretisch fundierten Integration zu gelangen. Sämtliche Artikel sind mit Verweisen auf andere Beiträge sowie mit weiterführenden bibliographischen Hinweisen ausgestattet, um den Benutzer/innen die selbständige Einarbeitung in größere Problemzusammenhänge zu erleichtern. Auf eine hierarchische Gliederung der einzelnen Kapitel wurde verzichtet, da eine solche nach diversen, sich teilweise widersprechenden Kriterien hätte vorgenommen werden müssen und der Charakter eines alphabetisch geordneten Nachschlagewerks verlorengegangen wäre. Zu jedem Beitrag wären sehr viele Literaturangaben möglich gewesen. Die Autoren und Autorinnen mussten sich jedoch im Literaturverzeichnis der Übersicht halber sowie aus Platzgründen auf maximal vier Titel beschränken. Dazu gehören die ersten Arbeiten zur Theorie, weitere Texte wichtiger Repräsentanten der Theorie und besonders auch die aktuelle und weiterfuhrende Literatur. In den meisten Beiträgen wird mit Namen, Jahreszahl und/oder Titel auf zusätzliche Literatur hingewiesen. Bei wörtlichen Zitaten wurden indes die Literaturangaben immer vollständig im Literaturverzeichnis ausgewiesen. Die formale Darstellung der in diesem Band präsentierten psychologischen Theorien orientiert sich an den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft fiir Psychologie (DGPs). Die Artikel wurden von Autorinnen und Autoren verfasst, die in ihrer Forschung und Lehre und/oder in ihrer Praxis mit den betreffenden psychologischen Ansätzen bestens vertraut sind. In den meisten Fällen handelt es sich um renommierte Spezialisten. Auch einige vielversprechende Nachwuchswissenschaftler/innen beteiligten sich am »Theorie-Projekt«. Ohne die engagierten Autoren und Autorinnen hätten wir unser Anliegen niemals realisieren können. Allen Beteiligten an der Verwirklichung des Kompendiums psychologischer Theorien möchten wir an dieser Stelle herzlich danken. Unser besonderer Dank gilt Christian Heß und Marc Münster 13
(beide Halle/Saale) sowie Andrea Heiß und Werner Zimmermann (beide Mannheim) für ihre Hilfe bei Lektoratsarbeiten und bei der Manuskripterstellung.
Mark Galliker (Mannheim) und Uwe Wolfradt (Halle/Saale
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ABBILD- UND WIDERSPIEGELUNGSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Abbild- und spätere Widerspiegelungstheorie setzt einen konsequenten materialistischen Monismus voraus (-»• Leib-Seele-Problem). Ein materialistisch-monistischer Ansatz wurde bereits von dem griechischen Philosophen Demokrit formuliert. Nach seiner Auffassung werden sämtliche Dinge durch ein Ensemble von Atomen gebildet, die sich durch Ordnung, besondere Qualitäten und Quantitäten voneinander unterscheiden und fortwährend Atomgruppen (eidola) aussenden, die als feinste Abbilder derselben im Kontakt mit den Sinnesorganen der Menschen deren Erkenntnis ermöglichen. Dem römischen Denker Titus Lucretius Carus zufolge besteht das Universum aus Körpern und Leere. Letztere ist auch zwischen den mehr oder weniger dichtgedrängten Elementarteilchen innerhalb der sieht- und greifbaren Körper vorhanden (sogenannte Poren). Etwas Drittes außerhalb der Körper und der mit ihnen konstituierten (Innen-) Räume existiert nach Lukrez nicht. Auch das der menschlichen Wahrnehmung nicht zugängliche, sublimale Seelische besteht aus feinsten Partikeln, indes in minimaler Konzentration, und wird durch sich (mitunter wellenförmig) fortbewegende Korpuskel (u.a. Licht, Gerüche, Geräusche und Stimmen) über die Sinnesorgane der Organismen angestoßen und mit denselben (wenn man will: auch durch dieselben) in Bewegung versetzt und beständig verändert. Die Wahrnehmung erfolgt ausschließlich stofflich vermittelt, wobei als Inneres der Reize die Empfindungen den Wahrnehmungen zugrunde liegen. Lukrez fasst die Seele der Lebewesen als Stoffliches sowie als Stoffliches in Relation zum Nichtstofflichen auf, wobei Letzteres nicht etwa mit irgendeiner positiven Lehre (z. B. des Übersinnlichen), sondern ausschließlich mit Leere gleichgesetzt wird (vgl. Lukrez, 60 v. u. Z./2014, S. 135-169). Eine Weiterentwicklung des materialistischen Ansatzes und der Abbildtheorie erfolgte durch den englischen Empirismus und Sensualismus (John Locke) und den an ihn anknüpfenden französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts (u.a. Denis Diderot). Nach Diderot besteht ein organischer Zusammenhang zwischen 15
Empfindung, Wahrnehmung und Denken - Funktionen des Gehirns, welche durch die Einwirkung der externen Dinge evoziert werden. Zur Weiterentwicklung der Widerspiegelungstheorie im 19. Jahrhundert trugen diverse Autoren bei (u. a. Baruch de Spinoza, Ludwig Feuerbach sowie die Klassiker des historischen und dialektischen Materialismus). Von Naturwissenschaftlern wurde die Widerspiegelungstheorie in der Form einer einfachen Abbildtheorie ohne gesellschaftliche Einbettung oft wie selbstverständlich bekräftigt, was von philosophischer Seite zuweilen als >naiver Realismus< kritisiert wurde.
Theorie Die historisch-materialistisch versierte Widerspiegelungstheorie geht von den Wechselwirkungen organischer Systeme mit ihrer Umwelt aus, wobei externe Einwirkungen auf den Organismus durch diesen intern reproduziert werden. Dies setzt eine spezifische Eigenschaft der organischen Systeme voraus, die als Irritabilität bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um eine somatisch höchst verfeinerte Wiedergabe der materiellen Außenwelt und des eigenen Leibes, wobei die Kompositionen der somatischen Bestandteile, die gegebenenfalls subtile Darstellungen erbringen, für die Wahrnehmung sublimal bleiben. Die Widerspiegelung erfolgt nicht nur durch passive Rezeption, sondern auch (selbst) tätig bzw. durch weit entwickelte, differenzierende Aktivitäten des Kleinhirns sowie der Großhirnrinde, welche den Tonus der Motorik regulieren und zwischenzeitlich auch jene durch unwillkürliche oder willkürliche Aufmerksamkeit gekennzeichnete Ruhe gewährleisten, die fiir die Beobachtung notwendig ist (-»Aktionstheorie des Gehirns). Die Widerspiegelung setzt die Möglichkeit voraus, nicht nur automatisch auf sensorische Reize zu reagieren, sondern in Auseinandersetzung mit den Gegenständen in koordinierten Tätigkeiten zu operieren. Leitend für diese Abbildung ist die externe Gegenständlichkeit in ihrer Gestalthaftigkeit. Das sich entlang der materiellen Gegenständlichkeit konstituierende Bewusstsein wird durch die Lebensvoraussetzungen, Interessen und Tätigkeiten bestimmt, die sich auf ebendieselbe beziehen, sie einbinden und zugleich deren 16
Bedeutungshaftigkeit und Relevanz explizieren (-• Motivationstheorien). Mithin umfasst es in psychologischer Hinsicht weit mehr als das Gehirn, den Organismus und dessen natürliche Besonderheiten. Die neurologischen Mechanismen werden durch Gegenstände und ihre Verhältnisse abgestimmt und in den Gesamtprozess einbezogen. Nach Sergej L. Rubinstein (1940/1971) entwickeln die Menschen im Verlauf der Phylogenese immer höhere Formen der Widerspiegelung. »[Es] geht [...] von der sensorischen Differenzierung eines äußeren Reizes zur Wahrnehmung eines Gegenstandes beziehungsweise einer Situation und von da zum Denken über, welches die Verbindungen und wechselseitigen Beziehungen des Seins erkennt Dabei hebt es sich immer mehr von seiner nächsten Umgebung ab und verbindet sich mit einer immer größeren Sphäre der Wirklichkeit« (ebd., S. 131; Hervorhebungen im Original). Vergleichbare Entwicklungsschritte wurden auch in ontogenetischer Hinsicht postuliert (u.a. von Lurija, 1973/1996). Bewusstsein ist dabei die höchste Stufe der Widerspiegelung; es bedeutet bewusstes Sein respektive bewusst gewordenes Sein. Die Widerspiegelung wird letztlich als Moment gesellschaftlicher Praxis intersubjektiv bestimmt und setzt Beziehungen der Menschen zu ihren Objekten voraus; hierin sind auch die neuronalen Prozesse eingebunden. Die >Gegenständlichkeit< dieser Praxis ist in letzter Instanz Kriterium der Erkenntnis. Sie erlaubt es zu überprüfen, inwieweit die Wirklichkeit »tatsächlich« wahrgenommen wird. Dabei wird zwischen bereits Erkanntem und noch nicht Erkanntem unterschieden und unterstellt, dass objektive Erkenntnis möglich ist, aber nicht in einem absoluten Sinne, sondern nur in bestimmten Grenzen, die immer wieder in Frage gestellt und neu bestimmt werden. Der Widerspiegelungstheorie zufolge existiert nur eine einheitliche Wirklichkeit, die indes aus mehr oder weniger natürlichen Elementen besteht. Zu den un- oder übernatürlichen Bestandteilen der Realität gehören jedoch >nur< die von den Menschen produzierten künstlichen materiellen und ideellen Gegenstände, die Verhältnisse der Menschen, die diese Gegenstände produzieren, untereinander sowie die Verhältnisse ihrer Produkte, die sich wiederum in neuen Gegenständen (z.B. Geld) und ihren Relationen verselbständigen. Die Widerspiegelung selbst ist ebenfalls lediglich 17
als materielle intersubjektiv manifestierbar (Schriftsprache, Zeichnungen u.Ä.) und drückt ausschließlich Stoffliches im Verhältnis zu anderem Stofflichen sowie zum Nichtstofflichen aus, wobei Letzteres an sich nie positiv bestimmbar ist. Rezeption Rubinstein beeinflusste die Psychologen der russischen Kulturhistorischen Schule (-• Kulturhistorischer Ansatz) und über dieselben auch jene der -•Kritischen Psychologie (u.a. Klaus Holzkamp). Die Wahrnehmungspsychologie wurde mitunter im Sinne der Widerspiegelungstheorie ausgearbeitet, wobei in Anbetracht der Kognitiven Wende insbesondere die aktive Komponente des Gesamtprozesses hervorgehoben und näher untersucht wurde (vgl. u.a. Stadler, Seeger & Raeithel, 1975). In den letzten Jahrzehnten wurde der Kern der Widerspiegelungstheorie, die Abbildtheorie, zugunsten mehr konstruktivistischer Ansätze in Frage gestellt (-+ Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). Mit der Abbildtheorie wird angenommen, dass zumindest im Prinzip adäquate Bilder des Originals auch unabhängig vom Prozess der Abbildung feststellbar sind, obgleich den Menschen die Wirklichkeit sprachlich respektive begrifflich vorgegeben ist. Diese Kritik trifft insbesondere die naturwissenschaftlich reduzierte Abbildtheorie, die von den historischen Voraussetzungen der Erkenntnis abstrahiert. Das Wahrheitskriterium der elaborierten Widerspiegelungstheorie ist die (gesamt)gesellschaftliche Praxis, die u. a. auch die Sprache involviert. Das dialektische Verhältnis zwischen Theorie und Praxis lässt sich am Beispiel der Uberprüfung von Darwins Selektionstheorie illustrieren und konkretisieren (—> Theorie-Praxis-Transfer). Literatur
Lukrez (um 60 v. u. Z./2014). Über die Natur der Dinge. Berlin: Galiani. Rubinstein, S. L. (1940/1971). Grundlagen der allgemeinen Psycholo gie. Berlin: Volk und Wissen. 18
Stadler, M., Seeger, F. & Raeithel, A. (1975). Psychologie der Wahrnehmung. Grundfragen der Psychologie. München: Juventa.
Weiterführend Lurija, A. R. (1973/1996). Das Gehirn in Aktion: Einführung in die Neuropsychologic. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Mark Galliker
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AFFILIATIONSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen
Als Affiliation wird Gesellung bezeichnet, das Aufsuchen sozialer Interaktion (-• Interaktionsbasierte Theorien der Face-to-face-Kommunikation). Stanley Schachter leistete 1959 mit der frühesten systematischen Publikation The Psychology of Affiliation Pionierarbeit. Wesentliche Präzisierungen der ursprünglichen Affiliationstheorie folgten 1984 durch Yakob Rofe mit der Kognitiven Nutzen-Theorie (engl.: utility affiliation theory) und 1996 durch Shawn O'Connor und Lome Rosenblood mit dem Sozialen Affiliationsmodell. Die Forschung zur Erklärung von Ursachen, Wirkungen und des Ausmaßes affiliativer Tendenzen lässt sich zwei Traditionen zuordnen. Persönlichkeitspsychologische Ansätze (—• Personzentrie Persönlichkeitstheorie) beschäftigen sich vorrangig mit situational überdauernden Affiliationstendenzen, bezüglich deren sich Personen unterscheiden. In Sozialpsychologischen Ansätzen - wie de Affiliationstheorie von Schachter - wird das Bedürfnis nach Affiliation als situationsabhängig untersucht. Integrative Ansätze wie das Soziale Affiliationsmodell von O'Connor und Rosenblood (1996) verbinden beide Sichtweisen, indem sie dem Affiliationsbedürfnis sowohl situational Variabilität als auch interindividuelle Unterschiede zugrunde legen.
Theorien Die Forschungstradition der persönlichkeitspsychologischen Ansätze ist begründet durch Henry Murrays (1938) Diskussion eines affiliativen Bedürfnisses, das er als einen Sinn fiir Verbundenheit und die Tendenz verstand, harmonische zwischenmenschliche Kontakte als angenehm und befriedigend wahrzunehmen. Diese persönlichkeitspsychologische Tradition quantifiziert und untersucht, entsprechend das Bedürfnis nach Affiliation als Motiv (need for affiliation), das bei Menschen über verschiedene Kulturen und Nationen hinweg unterschiedlich stark ausgeprägt ist. So verbringen Personen mit starkem Affiliationsmotiv mehr Zeit mit anderen 20
Personen, sind aufmerksamer in Bezug auf soziale Reize und kommunizieren, beispielsweise über ihre Körperhaltung und Augenkontakt, sogenannte nonverbale Reize der Unmittelbarkeit, und damit ihre Bereitschaft zum Kontakt. Die von Schachter (1959) formulierte Affiliationstheorie gilt als wegbereitend fiir die sozialpsychologische Forschungstradition (-» Sozialpsychologische Theorien). Zentrale Annahme ist, dass Menschen vor allem in bedrohlichen oder angstauslösenden Situationen Kontakt zu anderen Personen suchen. Bestätigung fiir diese Annahme fand Schachter beispielsweise darin, dass Versuchspersonen, denen angekündigt wurde, dass ihnen in einem Experiment schmerzhafte elektrische Schocks verabreicht würden, sich gegenüber (oder: im Vergleich zu) Personen, denen die elektrischen Schocks als angenehm beschrieben wurden, häufiger dafiir entschieden, mit anderen Personen (und nicht allein) zu warten. Schachter wertete dies als Bestätigung seiner Annahme des engen Zusammenhangs von Furcht und Affiliation. Er vermutete, dass Personen in bedrohlichen Situationen Nähe zu anderen Personen suchen, weil sie ihre Furcht reduzieren und die Angemessenheit ihrer Emotionen und Gedanken durch den Vergleich mit anderen Personen beurteilen möchten. Schachter knüpft damit eng an die —• Soziale Vergleichstheorie an. Entsprechend konnte er zeigen, dass es Personen nicht gleichgültig ist, mit wem sie in Kontakt treten, sondern dass sie bevorzugt den Kontakt mit anderen Personen suchen, die das gleiche Schicksal teilen. Schachters Forschungsarbeiten zum Zusammenhang von Furcht und Affiliation wurden in zahlreichen Experimenten ergänzt und präzisiert, z.T. allerdings mit widersprüchlichen Ergebnissen (-•Theorien der Psychologie und Empirie). Entsprechend schlug Rofe (1984) eine Kognitive Nutzen-Theorie (engl.: utility affiliation theory) zum Zusammenhang von Stress und Affiliation vor. Diese Theorie liegt an der Schnittstelle der sozialpsychologischen und persönlichkeitspsychologischen Forschungstradition, besitzt jedoch auch Relevanz fiir die -»Klinische Psychologie. Hiernach resultiert die Stärke des Affiliationsbedürfnisses aus dem Verhältnis der in einer Situation wahrgenommenen Kosten und Nutzen der Kontaktaufnahme. Die Affiliation mit Personen kann sowohl positive Konsequenzen (z. B. Erleichterung) als auch negative Konsequenzen (z. B. Beschä21
mung) nach sich ziehen. Das entsprechende Kosten-Nutzen-Verhältnis variiert in Abhängigkeit von Merkmalen der Person selbst (z.B. Sensibilität, Geschlecht), der Situation (vermeidbar-gefährlich, vermeidbar-peinlich, unvermeidbar) und der verfugbaren oder gewünschten Kontaktperson (z.B. Einfuhlsamkeit). Demnach wägen Personen in Abhängigkeit von ihren eigenen Merkmalen, den vermuteten Merkmalen der Kontaktperson und der Situation ab, ob Affiliation positive Konsequenzen bzw. eine Verbesserung des Erlebens mit sich bringen würde. So prognostiziert Rofe beispielsweise eine stärkere Affiliationstendenz, wenn sich eine Person in einer vermeidbar-gefährlichen Situation befindet und einer Kontaktperson gegenübersteht, von der sie annimmt, dass sie kompetent sei, die empfundene Furcht zu reduzieren. Das Soziale Affiliationsmodell von O'Connor und Rosenblood (1996) konzeptualisiert das Bedürfnis nach Affiliation alltagsnah als ein homöostatisches Modell (-•Motivationstheorien), wonach Personen versuchen, ein optimales Level an Sozialkontakt herzustellen. Ausgehend von einem bevorzugten Level der Kontaktmotivation, welches von Person zu Person verschieden ist, regulieren Personen ihr Kontaktverhalten vergleichbar mit einer Ist-Soll-Diskrepanz: Nach Phasen intensiven Kontaktes mit anderen Personen folgt Rückzug, nach kontaktarmen Phasen steigt das Affiliationsbedürfnis. Personen streben also nicht nach Konstanz, sondern oszillieren - in Abhängigkeit von ihrem optimalen Kontaktniveau und der Intensität des interpersonellen Kontakts in der jeweils vorangegangenen Situation - zwischen Einsamkeit und Geselligkeit. Rezeption Der größte Teil der Affiliationsforschung fand zwischen den 1950er und 1970er Jahren statt. In der gegenwärtigen Sozialpsychologie spielt die Affiliationsforschung keine so wichtige Rolle mehr. Allerdings lässt sich gegenwärtig wieder ein Anstieg des Interesses an der Entwicklung neuer Verfahren zur Messung des Bedürfnisses nach Affiliation verzeichnen, z.B. in der psychophysiologischen und persönlichkeitspsychologischen Forschung. Im Zusammenhang mit den oben genannten nonverbalen Unmittelbarkeitsreizen finden sich aktuell interessante Anwendungen in der schulpsycho22
logischen Forschung (-»Pädagogisch-psychologische Theorien). So zeigte sich, dass Lehrpersonen, die stärker ihre Affiliationsbereitschaft signalisieren, bei ihren Schüler/innen Verbesserungen von Lernmotivation und kognitiven Leistungen bewirken können.
Literatur Murray, H. A. (1938). Explorations in personality. New York, NY: Oxford University Press. Rofe, Y. (1984). Stress and affiliation: A utility theory. Psychological Review, pi, 235-250. Schachter, S. (1959). The psychology of affiliation. Stanford, CA: Stanford University Press.
Weiterfuhrend O'Connor, S. C. & Rosenblood, L. K. (1996). Affiliation motivation in everyday experience: A theoretical comparison. Journal ofPersonality and Social Psychology, 70, 513-522. Lysann Zander
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AKKULTURATIONS- UND MIGRATIONSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen
Psychologische Akkulturations- und Migrationstheorien beschäftigen sich mit subjektiven Verarbeitungsprozessen von Migration und Akkulturation. Die Anpassungsanforderungen, die aus Kulturkontakten und Eingliederungsprozessen entstehen, werden theoretisch unterschiedlich eingeordnet. Persönlichkeitspsychologische un psychoanalytisch orientierte Theorien gehen von einer dispositione verankerten Wanderungsbereitschaft aus, welche die Verarbeitung der Migration positiv beeinflusst. Transkulturelly ethnopsychologis und interkulturell geprägte Theorien stellen kulturelle Differenzen heraus, aus denen sich psychische Adaptationsprobleme ableiten. Akkulturationsstress entsteht durch einen >KulturschockIch selbst< zu sagen, müssen wir auch die Grenzen dieses Selbst erkennen« (Benjamin, 2004, S.35). Den Wunsch, wir selbst zu sein, vermögen wir nur zu realisieren, wenn wir erkennen, dass wir von anderen abhängig sind, die ihrerseits sie selbst sein wollen. In dieser Paradoxie liegt der Grund, weshalb das Ringen um unsere Identität so verwirrend sein kann. Die Paradoxie der Anerkennung begleitet unser Leben von Geburt an. Gemäß Benjamin (2004) besteht das zentrale Problem der menschlichen Entwicklung darin, dass nicht nur das Kind, sondern auch seine Eltern mit der Einsicht fertigwerden müssen, dass ihre Freiheit von der Freiheit des Anderen abhängig ist. Anerkennung ist daher keine Sequenz von Ereignissen, wie im Falle der Stufen der kognitiven oder moralischen Entwicklung, sondern eine Anforderung, die den Verlauf der menschlichen Entwicklung insgesamt bestimmt. Kommen wir der Anforderung nicht nach, kann eine Negativspirale in Gang gesetzt werden, die in einen Kampf um Anerkennung (Hegel) mündet, aus dem wir aus eigener Kraft kaum mehr herausfinden. 37
1
Rezeption Entsprechend ihrer Herkunft aus der Sozialphilosophie ist die Anerkennungstheorie in der Sozialpsychologie stärker vertreten als in anderen psychologischen Teildisziplinen. In der Psychoanalyse ist ihre Rezeption praktisch auf das Werk von Benjamin beschränkt. Außerhalb der Psychologie ist sie im Feminismus (etwa bei Seyla Benhabib oder Nancy Fräser), in der politischen Theorie und in jüngster Zeit auch in der Erziehungswissenschaft (vor allem im Kontext der Allgemeinen und der Interkulturellen Pädagogik) rezipiert worden. Dabei wird die Möglichkeit genutzt, dass sich der Begriff der Anerkennung nicht nur auf individuelle, sondern auch auf kollektive Merkmale von Personen beziehen lässt. So postuliert beispielsweise Charles Taylor eine Politik der Anerkennung, die ethnischen oder sprachlichen Minderheiten ein Recht einräumt, in ihrer Differenz gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheit anerkannt zu werden. Gleiches lässt sich für andere kollektive Merkmale wie Religion oder sexuelle Orientierung fordern. Empirische Uberprüfungen der Theorie liegen eher wenige vor, was an ihrer zum Teil abstrakten Begrifflichkeit liegt, finden sich jedoch im Rahmen der Rezeption Meads im Symbolischen Interaktionismus, wie er von Herbert Blumer, Howard S. Becker und Anselm L. Strauss entwickelt wurde. Literatur
Benjamin, J. (2004). Die Fesseln der Liebe: Psychoanalyse, Feminis mus und das Problem der Macht. Frankfurt/M.: Stroemfeld. Hegel, G.W. F. (1974). Frühe politische Systeme (hrsg. von G. Göhler). Frankfurt/M.: Ullstein. Mead, G.H. (1934/2008). Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiterfuhrend Honneth, A. (2002). Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Walter Herzog 38
ASSOZIATIONSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Die Assoziationstheorien haben ihren Ursprung in der Philosophie der griechischen Antike, bei Piaton und Aristoteles. Gedanken und Sinnesempfindungen sind demnach nicht göttlichen Ursprungs, sondern werden durch äußere Ereignisse veranlasst, stehen also in enger Verbindung mit der Umwelt (Assoziation kommt von lat. associare: beigesellen, vereinigen). Die sinnliche Verknüpfung (Assoziation) von psychischen Elementen wie Vorstellungen {ideas) fand schließlich Eingang in die Philosophie und die Psychologie und wurde auch von John Locke und David Hume im britischen Empirismus aufgegriffen. Locke betonte die natürliche Wechselbeziehung und Verbindung zwischen den Ideen (natural correspondence and connexion) und machte deutlich, dass diese Verbindung durch Zufall oder Gewöhnung zustande kommt, gleichermaßen die Grundlagen fiir Gewohnheiten im Denken und Handeln. David Hume fragte nach der Gesetzhaftigkeit und Kausalität von Assoziationen und formulierte die Prinzipien der Ähnlichkeit (resemblance), der zeitlichen Nähe (contiguity in time and space) und von Ursache/Wirkung (cause/effect), um auch komplexere Vorstellungen (association of impression) durch einfache Assoziationen (association of ideas) erklären zu können. In die Psychologie wurde die Assoziationstheorie durch Johann Friedrich Herbart (1776-1841) eingeführt. Ihre wichtigsten Vertreter waren Hermann Ebbinghaus (1850-1909) und Theodor Ziehen (1862-1950). Durch das Aufkommen von struktur-, gestalt- und ganzheitspsychologischen Ansätzen Anfang des 20. Jahrhunderts verloren die Assoziationstheorien in der Psychologie jedoch an Bedeutung (siehe -•Gestalttheorie). Lediglich in den behavioristischen Lerntheorien, denen ein Reiz-Reaktions-Modell zugrunde lag, erlebte das Assoziationsprinzip eine Renaissance (-•Lerntheorien). Hier wurde es zum dominanten Erklärungsmodell für die Beziehung zwischen der Physiologie neuronaler Reflexe und experimentell evozierter Verhaltensreaktionen. Ende des 19. Jahrhunderts kamen Dissoziationstheorien auf (z. B. bei Pierre Janet), welche den Zerfall der Assoziationen von Vorstellungen unter psychopathologischen 39
Gesichtspunkten studierten (sogenannte psychologische Automatismen): Personen könnten bei erheblicher Bewusstseinstrübung (abaisement du niveau mental) durch Hypnose, Krankheiten, Drogen, physischen Stress unterschiedliche Aspekte der psychischen Funktionen (Wahrnehmen, Fühlen, Handeln) unabhängig voneinander erleben.
Theorien
Ansatz von Johann Friedrich Herbart: Die Assoziation von Vorstellungen wurde in der Psychologie erstmals bei Herbart als Erklärungsmodell fur deren Reproduktion verwendet. Hierbei wurde die äußere Berührungsassoziation, welche auf der zeitlichen Abfolge (Kontiguität oder Sukzession) der erinnerten Ideeninhalte basiert, von der innerenÄhnlichkeitsassoziation (z.B. Klangähnlichkeit von Begriffen) unterschieden. Herbart berücksichtigte zum einen die Gegensätzlichkeit im Verhältnis von Vorstellungen, die sich gegenseitig hemmen können (Verdunkelung), zum anderen die Notwendigkeit einer gewissen Erregungssumme von Vorstellungen, damit diese in das Bewusstsein gelangen (Reproduktion). Vorstellungen, welche innerhalb eines Kontinuums gegensätzlich sind (z. B. die Farben Schwarz und Rot), können sich vereinigen (Verschmelzung). Bei Vorstellungen aus unterschiedlichen Kontinua (Farben und Gerüche) ist aber auch eine qualitative Vereinigung (Komplikation) möglich. »Jede neu auftretende Wahrnehmung übt eine Wirkung auf vorhandene ältere Vorstellungen aus. Sie reproduziert diese, verschmilzt mit ihnen, hemmt sie oder wird von ihnen gehemmt, wenn zwischen der älteren vorhandenen oder reproduzierten und der neuen Vorstellung ein Gegensatz besteht« (Weiss, 1928, S. 96). Wenn neue Vorstellungsreihen in das Bewusstsein gelangen, treffen diese auf vorhandene, bereits reproduzierte Vorstellungen und gehen mit diesen eine Verbindung ein (Apperzeption). Ansatz von Ebbinghaus: Hermann Ebbinghaus griff die Überlegungen Herbarts in seiner Gedächtnispsychologie auf. Hierbei interessierten ihn die Reproduktionen, also die Bewusstseinsvorgänge und Vorstellungen, die nicht durch äußere Reize, sondern durch Dispositionen wie Motive und Interessen veranlasst werden. Assoziationen spielen eine Rolle, wenn man sich an etwas erinnert, das 40
mit einer Vielzahl von bereits gespeicherten Gedächtniselementen (z. B. Wortvorstellungen) verbunden ist und einen lebendigen Eindruck vermittelt. Hierzu schreibt er: »[W]enn beliebige seelische Gebilde einmal oder in naher Aufeinanderfolge das Bewusstsein erfüllt haben, so ruft hinterher die Wiederkehr einiger Glieder des früheren Erlebnisses auch die übrigen Glieder hervor, ohne daß fiir sie die ursprünglichen Ursachen gegeben zu sein brauchen« (Ebbinghaus, 1911, S.633). Die Reproduktion von psychischen Phänomenen, deren gemeinsames Auftreten man früher erlebt hat, lässt sich auf eine gedachte Verbindung, die Assoziation, zurückfuhren. Assoziationen können in ihrer Stärke variieren; durch die wiederholte Verknüpfung von Vorstellungsinhalten (auch ohne Bedeutungsinhalt, wie bei sinnfreien Silben) kann die Assoziation verstärkt werden, so dass die Memorierung anderer Vorstellungsassoziationen gehemmt wird. Ansatz von Theodor Ziehen: Ziehen, der sich selbst weniger als Assoziationspsychologe verstand, kam als Mediziner aus der Physiologie. Ihn interessierte die Analyse kleinster psychischer Einheiten auf psychophysiologischer Grundlage. Bereits in seiner Kinderpsychologie vertrat er einen assoziationspsychologischen Ansatz, nach dem Kinder Dinge durch die Assoziation von Wortelementen erlernen. Ihm zufolge beruhen Assoziationen auf zerebralen Prozessen (Koordination, Leitungsprozesse); Erinnerungsbilder werden neuronal gespeichert (Retentionen) und im Denken miteinander verknüpft. Hierbei betont er, dass die Assoziationsgesetze nicht die Inhalte des Denkens bestimmen, sondern lediglich eine Beschreibung der Entstehungsprozesse von Denkvorgängen ermöglichen. In seiner Erkenntnistheorie formulierte Ziehen eine Lehre von dem Gegebenen (Gignomenologie). Gignomene lassen sich als psychische Grundeinheiten verstehen (wie Vorstellungen und Empfindungen). Ziehen analysierte die Gignomene und formulierte, ausgehend von den Assoziationsprinzipien, kausalgesetzliche Verknüpfungen, z.B. zwischen Erregungen und Empfindungen (Ziehen, 1934).
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Rezeption Die Assoziationstheorien fanden ihren Niederschlag in den behavioristischen Lerntheorien. Pawlow erkannte, ausgehend von seinen physiologischen Experimenten zur Speicheldrüsenfunktion bei Hunden, Gesetzmäßigkeiten des Zusammenhangs zwischen Reizen und Reaktionen. Insbesondere die zeitliche Verknüpfung zwischen Reizen unterschiedlicher Qualität (z. B. die Verknüpfung von Futter - als Reiz zur Auslösung einer physiologischen Reaktion - mit Reizen wie Tönen, die zuvor keine physiologische Reaktion auslösten) wurde als Lernprozess (Konditionierung) mit der Reiz-Assoziation erklärt. Ferner wurde der Begriff Freie Assoziation in der -•Psychoanalyse Sigmund Freuds als psychotherapeutische Methode (zunächst bei der Traumdeutung) eingeführt: Der Patient erzählt frei, was ihm momentan unmittelbar ins Bewusstsein kommt. Ein Gedanke ist mit einem anderen verknüpft (assoziiert) und legt unbewusste verdrängte Persönlichkeitsanteile offen. Ebenso hat Carl Gustav Jung in eigenen Assoziationsexperimenten (-•Analytische Psychologie), bei denen er Reizwörter vorgab und fiir die spontanen Assoziationen von Patienten die Reaktionszeiten erfasste, gefühlsbetonte Komplexe feststellen können, welche für die Diagnose psychiatrischer Störungen (wie der Schizophrenie) bedeutsam wurden. Die Assoziationstheorien verloren schließlich zunehmend an Bedeutung, weil der ihnen zugrunde liegende Elementarismus zur Erklärung komplexer Strukturen psychischer Phänomene (z.B. Denken, Kultur) nicht geeignet war. In der Denkpsychologie wurde der assoziationspsychologische Ansatz durch Otto Selz (1881-1943) überwunden, indem dieser produktive und reproduktive Denkoperationen einführte, welche Ausdruck von Schemata des Erkennens, Wissens und Problemlösens .sind (-• Produktionstheorie des Denkens). Hierbei wurde die Bedeutung von Wissensstrukturen gegenüber einfachen assoziativen Verknüpfungen hervorgehoben. Da die Assoziationstheorien mit einfachen physiologischen Modellen der Verhaltenserklärung kompatibel sind, kommen sie im Zusammenhang mit neurobiologischen Befunden wieder zunehmend in Mode. Wegen der Betonung monokausaler Verbindungen können sie gegenüber konnektionistisch-systemischen Theorien (-•Konnektionismus), welche die Komplexität der neuronalen 42
Vernetzung hervorheben, in der Psychologie des 21. Jahrhunderts in ihrem Erklärungswert nicht konkurrieren. Literatur Ebbinghaus, H. (1911). Grundzüge der Psychologie. 2 Bde. (3. Aufl.) Leipzig: Veit & Comp. Weiss, G. (1928). Herhart und seine Schule. München: Reinhardt. Ziehen, T. (1934). Erkenntnistheorie. 1. Teil. Jena: G. Fischer. Weiterführend Lunk, G. (1929). Die Stellung der Assoziation im Seelenleben: Ein Beitrag zur Krise der Psychologie. Leipzig: Klinkhardt. Uwe Wolfradt
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ATTRIBUTIONSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen
Die Attributionstheorie bezieht sich auf Beeigenschaftungen von Ereignissen, insbesondere auf Ursachenzuschreibungen, so wie sie im Alltag von Personen ohne besondere psychologische .Kenntnisse vorgenommen werden (>naive Psychologen Kognitive Emotionstheorien). Literatur Heider, F. (1958/1977). Psychologie der interpersonalen Beziehungen. Stuttgart: Klett-Cotta. Kelley, H. H. (1967). Attribution theory in social psychology. In D. Levine (Ed.), Nebraska Symposium on Motivation (pp. 192-238). Lincoln, NB: University of Nebraska Press. Mill, J. S. (1843/1862). System der deductiven und inductiven Logik. Braunschweig: Vieweg. Weiterführend Bierbrauer, G. (2005). Sozialpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Mark Galliker
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AUSTAUSCHTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen
Die Wurzeln der Austauschtheorie lassen sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen, der im Fünften Buch der Nikomachischen Ethik bemerkte, dass es Sozialität ohne Austausch nicht gebe. »Man muss dem, der uns gefällig gewesen ist, Gegendienste erweisen und auch seinerseits mit Freundlichkeit beginnen« (NE 1132 a 5). In ihrer modernen Form ist die Austauschtheorie im Überschneidungsfeld von Psychologie und Soziologie entstanden (-•Sozialpsychologische Theorien). Einerseits ist es das behavioristische Paradigma der operanten Konditionierung (-•Lerntheorien), auf dem John W. Thibaut und Harold H. Kelley (1959) sowie George C.Homans im Jahre 1961 ihre sozialpsychologischen Austauschtheorien entwickelten. Andererseits ist es die ethnographische Studie von Marcel Mauss (1923/24) über die Gabe (Essai sur le dort), die von Peter M. Blau aufgegriffen und zu einer soziologischen Austauschtheorie ausgearbeitet wurde, die allerdings ebenfalls ein lernpsychologisches Standbein aufweist. Wichtige Beiträge zur Grundlegung der Austauschtheorie stammen von einer Reihe weiterer Sozialwissenschaftler wie insbesondere James G. Frazer, Bronislaw Malinowski, Claude Levi-Strauss, Alvin Gouldner, Marshall Sahlins und Maurice Godelier.
Theorie Die Austauschtheorie geht davon aus, dass soziale Interaktionen (-* Interaktionsbasierte Theorien) auf Ressourcen basieren, die zwischen den Interagierenden ausgetauscht werden, was auf beiden Seiten mit Kosten und Aufwand verbunden ist, aufgrund der Gegenseitigkeit der Beziehung aber auch beidseitig belohnend und befriedigend sein kann. Aufgrund seiner weitverzweigten Analyse der sozialen Interaktionen in archaischen Gesellschaften postulierte Mauss (1923/24) die Existenz dreier Verpflichtungen, die Menschen auferlegt sind: Geben, Nehmen und Erwidern. Wir stehen in der Pflicht, (1) anderen von dem zu geben, was wir haben, (2) anzuneh48
men, was uns gegeben wird, und (3) angemessen zu erwidern, wenn wir etwas erhalten haben. Der normative Aspekt von Interaktionen spielte in den psychologischen Austauschtheorien ursprünglich eine geringe Rolle. Basierend auf dem Prinzip der operanten Konditionierung, wurden soziale Interaktionen danach beurteilt, inwiefern sie fiir beide Seiten verstärkend oder bestrafend sind. In Analogie zum Geld bei ökonomischen Transaktionen sah Homans in den Belohnungen und Bestrafungen, die den Menschen von anderen zuteilwerden, die Währung des sozialen Austauschs. Was als belohnend oder bestrafend wirkt, wurde von Homans allerdings offengelassen. Gemäß einer Klassifikation von Uriel G. Foa können dies sein: Liebe, Status, Dienstleistungen, Informationen, Güter und Geld. Zu unterscheiden ist zwischen Aktivitäten, die für beide Seiten befriedigend sind, weil sie nur gemeinsam ausgeübt werden können wie im Falle eines Gesprächs, und solchen, die nur der einen Seite einen Nutzen bringen, während fur die andere Seite Kosten anfallen wie im Falle einer Hilfeleistung. Es ist die zweite Art von Aktivitäten, die im Fokus der Austauschtheorie steht. Da Menschen nicht nur Beziehungen erstreben, die lohnend sind, sondern auch einen fairen Ausgleich wünschen, sollte das Verhältnis von Geben und Nehmen über eine gewisse Zeit betrachtet im Gleichgewicht sein. Damit kommt die von Aristoteles und Mauss angesprochene Norm ins Spiel, wonach Leistungen durch Gegenleistungen auszugleichen sind und das Verhältnis von Aufwand und Ertrag auf beiden Seiten vergleichbar sein sollte (ausgleichende Gerechtigkeit). Die Norm der Reziprozität, wie sie von Gouldner (1984) genannt wird, stellt ein universelles Prinzip menschlichen Zusammenlebens dar. Ihr Kern liegt in der Forderung, dass man denjenigen helfen soll, die einem geholfen haben, und dass man diejenigen, die einem geholfen haben, nicht kränken darf. Aufgrund ihrer Tauschkomponente weist die Austauschtheorie Berührungspunkte mit einer ökonomischen Betrachtung menschlichen Verhaltens auf. Jedoch ist ihr Anspruch umfassender. Gemäß Homans beruht die Austauschtheorie auf Gesetzmäßigkeiten, die das ökonomische Verhalten als Spezialfall umfassen. Treffender lässt sich die Austauschtheorie allerdings von einer ökonomischen Theorie abgrenzen, wenn der Zeitaspekt von Beziehungen 49
in Betracht gezogen wird. Während ökonomische Transaktionen in der Regel im Moment ihres Vollzugs abgeschlossen sind (wie im Falle von Kauf und Verkauf), gilt für Austauschprozesse, dass sie sich über längere Zeit erstrecken. Die Unabhängigkeit von der Zeit gilt im ökonomischen Fall selbst dann, wenn in einer Handelsbeziehung Schulden anfallen, da sich deren Betrag aufgrund der Geldförmigkeit der Transaktion exakt berechnen lässt, womit über den weiteren Verlauf der Interaktion keine Ungewissheit besteht. Genau dies trifft auf Austauschbeziehungen nicht zu, da der Wert einer erbrachten Leistung aufgrund ihres zumeist immateriellen Charakters nicht quantifizierbar ist. Weil die exakte Form der Gegenleistung unspezifiziert bleibt, ergibt sich eine Verbindlichkeit, die ökonomischen Transaktionen nicht zukommt. Auf beiden Seiten kann Ungewissheit aufkommen, wer in wessen Schuld steht, was der Beziehung eine hohe Stabilität verleiht. Neben der Norm der Reziprozität spielen auch Erwartungen hinsichtlich der Angemessenheit einer Gegenleistung eine wichtige Rolle. Thibaut und Kelley (1959) postulieren ein Vergleichsniveau, das auf die bisherigen Erfahrungen eines Individuums mit sozialen Beziehungen zurückgeht und den Anspruch festlegt, der an eine neue Beziehung gestellt wird. Daneben machen sie ein Vergleichsniveau für Alternativen geltend, das ebenfalls auf Erfahrungen beruht und dem Individuum anzeigt, welche Möglichkeiten ihm verfugbar wären, falls es die Beziehung wechseln will. Sowohl die Norm der Reziprozität als auch die beiden Vergleichsniveaus verweisen darauf, dass der Anwendungsbereich der Austauschtheorie soziale Interaktionen sind, die erstens persönlichen und zweitens wiederkehrenden Charakter haben - Beziehungen zwischen Bekannten, Nachbarn, Freunden, Paaren etc. Die Austauschtheorie eignet sich auch für die Analyse von unausgeglichenen Beziehungen. Da Menschen nicht nur über ungleiche Bedürfnisse, sondern auch über ungleiche Ressourcen verfugen, können sich Konstellationen ergeben, bei denen der eine hat, wessen der andere bedarf, ohne dass der Bedürftige in der Lage wäre, einen erwiesenen Dienst zu begleichen. Unter solchen Umständen gewinnt der Gebende Macht über den Nehmenden. Macht kann auch daraus hervorgehen, dass dem anderen mehr gegeben wird, als er benötigt. Umgekehrt kann der andere mehr zurückgeben, als ihm gegeben wurde. Möglich ist auch, dass der 50
eine die Frequenz der Austauschbewegungen erhöht, bis der andere nicht mehr mithalten kann. In all diesen Fällen gerät die Gegenseite unter Zugzwang, was mit Gefühlen von Kränkung, Beschämung und Demütigung verbunden sein kann. In seiner Politik der Würde zeigt Avishai Margalit, dass wohltätigen Handlungen eine fundamentale Paradoxie innewohnt. Handelt der Wohltäter aus egoistischen Motiven, kann seine Hilfe ohne Kränkung angenommen werden, da die Gegenleistung durch den Egoismus des Gebenden bereits abgegolten ist; handelt er jedoch aus altruistischen Motiven, kann er nicht vermeiden, den Empfänger zu beschämen, da dieser nicht in der Lage ist, die Hilfe, die ihm zuteilwurde, durch eine Gegenleistung zu begleichen.
Rezeption Die Grundprinzipien der Austauschtheorie haben in viele soziologische und psychologische Theorien Eingang gefunden. In der Psychologie kann die Equity- Theorie, wie sie von John S. Adams, Ellen S. Berscheid und Elaine H. Walster entwickelt wurde, als Ausdifferenzierung der Austauschtheorie bezeichnet werden. Dabei stehen normative Aspekte von sozialen Interaktionen, wie die Beurteilung der Gerechtigkeit (fairness) und Ausgewogenheit von Beziehungen, im Vordergrund (-*Gerechtigkeitstheorien). Anwendungen der Austauschtheorie finden sich auch in der Organisations- und Konsumpsychologie, der Konformitäts- und Attraktivitätsforschung sowie in der Psychologie dyadischer Beziehungen (Freundschaften, Liebes- und Paarbeziehungen etc.). Insofern der Norm der Reziprozität der Anspruch auf Ausgleich bzw. ausgeglichene Verhältnisse zugrunde liegt, bestehen auch Berührungspunkte mit den sozialpsychologischen Konsistenztheorien (-»> Kognitive Dissonanztheorie). Die Forschung, die von experimentellen Laboruntersuchungen bis zu ethnographischen Feldstudien reicht, bestätigt im Allgemeinen die Grundprinzipien der Austauschtheorie.
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Literatur
Chadwick-Jones, J. K. (1976). Social exchange theory: Its structu and influence in social psychology. London, UK: Academic Press Gouldner, A.W. (1984). Reziprozität und Autonomie: Ausgewähl Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Thibaut, J. W. & Kelley, H. H. (1959). The socialpsychology of group New York, NY: Wiley.
Weiterfuhrend
Godelier, M. (1999). Das Rätsel der Gabe: Geld, Geschenke, heilig Objekte. München: C. H. Beck.
Walter Herzog
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AUTORITARISMUS-THEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die fast iooo Seiten umfassende Original-Publikation zur autoritären Persönlichkeit, verfasst von Theodor W. Adorno, der österreichischen Psychologin Else Frenkel-Brunswick, die wie Adorno ebenfalls 1938 in die USA emigrieren musste, und zwei amerikanischen Psychologen der University of Berkeley, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford, erschien 1950 und hatte trotz erheblicher Kritik eine Fülle von Publikationen zur Folge, die sich von 1950 bis 2013 auf immerhin über 2500 bibliographische Nachweise aufsummieren. Dass die Theorie (-• Kritische Theorie) bei allem konzeptuellen Wandel und aller Kritik bis heute weder an ihrer Aktualität noch an ihrer Produktivität verloren hat, liegt vor allem an der rekonzeptualisierten Version von Altemeyer (1981). Theorie In der historischen Aufeinanderfolge ihres Erscheinens lassen sich primär drei Theorie-Varianten unterscheiden: (1) In der klassischen Version von 1950 ist Autoritarismus nichts anderes als ein Faschismus-Syndrom, das sich aus (a) Konventionalismus, (b) Autoritärer Unterwürfigkeit, (c) Autoritärer Aggression, (d) Anti-Intrazeption (Abwehr des Subjektiven und Phantasievollen), (e) Aberglaube und Stereotypie, (f) Macht und Stärke, (g) Destruktivität und Zynismus, (h) Projektivität (Projektion unbewusster Triebimpulse nach außen) und (i) Sexualität (übertriebene Beschäftigung mit sexuellen Thematiken) zusammensetzt. Von den insgesamt fünfTeilen des Buches ist eigentlich nur der erste Teil mit dem Titel »Die Messung ideologischer Trends« bekannt geworden, in dem die Entwicklung und Darstellung der Skalen einen breiten Raum einnehmen, die zur Messung ebendieser ideologischen Trends konstruiert wurden. Neben der Faschismus-Skala (F-Skala), die als zentrales Messinstrument zur Erfassung des Autoritarismus verwendet wird, sind dies eine Antisemitismus-Skala (AS-Skala), eine Ethnozentrismus-Skala (E-Skala) und eine Politisch-Ökonomischer-Konservatismus-Skala (PEC-Skala). 53
(2) Zweite Version: Einen neuen Aufschwung nahm die Autoritarismusforschung, deren Ende man zwischenzeidich schon proklamiert hatte, durch Bob Altemeyers erste Publikation von 1981, der weitere folgten. Er löste das Autoritarismus-Konzept aus der psychoanalytischen Tradition der Entstehung und Erklärung heraus und gab ihm in der Sozialen Lerntheorie und einer darauf basierenden Persönlichkeitstheorie ein neues theoretisches Fundament. Als ausschließlich Rechtsgerichteter Autoritarismus (RWA - Right Wing Authoritarianism) konzipiert, besteht er aus drei Einstellungs-Clustern. Altemeyer (1981, S. 148): »[...] die Kovariation von drei Einstellungsclustern: Autoritäre Unterwürfigkeit - ein hohes Ausmaß an Unterwürfigkeit unter die Autoritäten, die in der Gesellschaft, in der man lebt, als etabliert und legitimiert wahrgenommen werden; Autoritäre Aggression - eine generelle Form der Aggressivität, die sich gegen unterschiedliche Personen richtet und die als von den etablierten Autoritäten akzeptiert wahrgenommen wird; und Konventionalismus - ein hohes Ausmaß an Identifikation mit den sozialen Konventionen, die von der Gesellschaft und durch die etablierten Autoritäten befürwortet werden«. (3) Die dritte Variante, wie sie z. B. von John Duckitt vertreten wird, versteht unter Autoritarismus eine ideologische Einstellung. In der Frühform dieser Konzeption wird er als eine Struktur normativer Überzeugungen definiert, die festlegt, in welchem Ausmaß man sich mit seiner Gruppe identifiziert. In neueren Varianten (Duckitt, 2001) ist er Resultat einer Weltansicht, in der die Welt als voller Gefahren wahrgenommen wird, die nur durch ein Maximum an Kontrolle, Stabilität und Kohäsion beherrscht werden können. Die Bedrohung der individuellen Sicherheit realisiert sich dann auch in entsprechenden Vorurteilen gegenüber Gruppen, die in der Wahrnehmung autoritärer Personen ebendiese Sicherheit bedrohen. Bereits bei Adorno et al. (1950) und bis heute wird elterliches Erziehungsverhalten im Sinne einer strengen und strafenden Sozialisation als wichtigste Entstehungskomponente einer autoritären Persönlichkeit genannt.
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Rezeption Die Autoritarismustheorie ist eine der meistzitierten sozialpsychologischen Theorien, und dies vor allem deshalb, weil Autoritarismus als generalisierte Einstellung eine Art Generalfaktor im Kanon der soziopolitischen Einstellungen ist, der sowohl mit generellen Konzeptionen wie Rassismus, Sexismus, Sozialer Dominanz, Nationalismus, Rechtsradikalismus und fundamentalistischer Religiosität und Traditionalismus korreliert, aber auch mit einer Vielzahl von spezifischen Vorurteilen wie Antisemitismus, Homophobie und fremdenfeindlichen Einstellungen gegenüber Gruppierungen, die als Bedrohung wahrgenommen werden (-• Soziale Kategorisierung und Diskriminierung). Es gibt zwar eine Vielzahl unterschiedlicher Messverfahren zur Erfassung von Autoritarismus, die seit einigen Jahren international am häufigsten eingesetzte Skala ist jedoch die von Altemeyer entwickelte RWA-Skala. Vor allem in der neueren Literatur wird die Theorie der autoritären Persönlichkeit und die Soziale Dominanz-Theorie (SDT) als eine Art »Prädiktorgespann« gesehen, dass in der Lage ist, die Mehrzahl der Vorurteile, Stereotypen und diskriminierenden Verhaltensweisen zu erklären, da sie sich auf unterschiedliche Aspekte soziopolitischer Einstellungen beziehen. Die SDT bezieht sich auf wahrgenommene Bedrohungen in den hierarchischen Verhältnissen einer Gesellschaft, die RWA auf Bedrohungsaspekte des sozialen Zusammenhalts, der Andersartigkeit und der etablierten Werte. Die hierzu vorliegenden internationalen Publikationen sind in ihren Ergebnissen von erstaunlicher Ergebnis-Homogenität.
Literatur Adorno, T. W., Frenkel-Brunswick, E., Levinson, D. J. & Sanford, R. N. (1950). The authoritarian personality. New York, NY: Harper & Row. Altemeyer, R. (1981). Enemies of freedom — Understanding right-wing authoritarianism. Winnipeg, MB: The University of Manitoba Press. Duckitt, J. (2001). A dual process cognitive-motivational theory 55
of ideology and prejudice. In M.P. Zanna (Ed.), Advances in experimental socialpsychology, Vol. 33 (pp. 41-113). San Diego, CA Academic Press. Weiterführend
Six, B. (2015). Autoritarismus und Soziale Dominanz. In Enzyklopädie der Psychologie: Sozialpsychologie, Band: Seihst und Soz Kognition. Göttingen: Hogrefe. Bernd Six
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BEDÜRFNISPYRAMIDE
Wichtige Vertreter/innen Die Bedürfnispyramide ist auf das Engste verknüpft mit dem Namen ihres Entwicklers, dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow (1908-1970). Maslow gilt als einer der prominentesten Vertreter der —• Humanistischen Psychologie, deren Anhänger davon ausgehen, dass der Mensch von Natur aus positiv orientiert sei und dabei nach individueller Selbstverwirklichung strebe. Erst die Zwänge der Gesellschaft, die man im Widerspruch zu den Bestrebungen des Individuums sieht, sollen dafiir verantwortlich sein, dass etwas Negatives wie etwa Aggression oder eine psychische Störung entsteht. Maslow entwickelte seine Theorie in der Mitte des letzten Jahrhunderts auf der Basis seiner Auseinandersetzung mit den Biographien bekannter Persönlichkeiten und nicht etwa vor dem Hintergrund empirischer Studien.
Theorie Die Bedürfnispyramide zählt zu den Inhaltstheorien der Motivationsforschung; das heißt, es werden konkrete Bedürfnisse bzw. Bedürfnisgruppen definiert, die allen Menschen zu eigen sein sollen. Im Gegensatz dazu beschreiben Prozesstheorien wie etwa die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungs-Theorie den kognitiven Prozess, der zu einem motivierten Handeln fuhrt, ohne sich dabei auf konkrete Bedürfnisse oder Motive zu beziehen. Die Besonderheit des Ansatzes besteht darin, dass nicht nur bestimmte Bedürfnisse - dem heutigen Sprachgebrauch folgend würde man eher von Motiven sprechen - aufgelistet, sondern diese auch in eine Beziehung zueinander gebracht werden. Maslow (1954) beschreibt eine fiinfstufige Hierarchie der Bedürfnisse, wobei er eine Universalität der Stufenabfolge postuliert. Bei jedem Menschen sollen die Bedürfnisse, dem hierarchischen Aufbau folgend, von unten nach oben das eigene Handeln bestimmen. Je nach Entwicklungsstadium befindet sich ein Individuum weiter unten oder oben in der Hierarchie. Um von einer niedrige57
ren Stufe (z. B. Stufe 2) in eine höhere (Stufe 3) wechseln zu können, müssen zuvor die Bedürfnisse der vorherigen Stufen (Stufen 1 und 2) weitgehend befriedigt sein. Auf jeder Stufe gibt es mehrere Bedürfnisse, die gemeinsam unter einem Oberbegriff zusammengefasst werden. Auf Stufe 1 befinden sich die physiologischen Bedürfnisse (auch Grundbedürfnisse oder Existenzbedürfnisse genannt). Ihre Befriedigung legt die Grundlage dafür, dass der Mensch biologisch überlebt. Es geht darum, genügend Nahrung aufzunehmen, zu trinken, zu schlafen und Sexualität auszuleben. Sind die physiologischen Bedürfnisse nicht hinreichend befriedigt, treten sie in den Vordergrund und dominieren das Denken und Handeln des Individuums. Die betroffene Person sucht dann z. B. Nahrung oder legt sich schlafen. In dem Maße, in dem eine Befriedigung erfolgt, gewinnen die Bedürfnisse der zweiten Stufe an Relevanz. Stufe 2 fasst die Sicherheitsbedürfnisse zusammen. Es geht um den Schutz vor jedweder Gefahr und darum, gesund zu bleiben. Ein Mensch, der allein auf einer einsamen Insel strandet, würde sich - nachdem er seinen Hunger gestillt hat - eine Behausung fiir die Nacht suchen und vielleicht eine Waffe bauen, mit der er sich vor gefährlichen Tieren schützen könnte. In dieser Stufe geht es darum, Angstfreiheit herzustellen und Rückzugsräume zu schaffen. Abstrakter ausgedrückt, das Individuum strebt nach Ordnung, Regelhaftigkeit und Durchschaubarkeit der Welt. Es will wissen, wie die Dinge funktionieren, um sich auf sie einstellen zu können. In wirtschaftlich hochentwickelten Gesellschaften gehört zu den Sicherheitsmotiven auch das Streben nach Sicherheit des Arbeitsplatzes, Kranken- oder Rentenversicherung etc. Bedürfnisse der Stufe 3 treten in den Vordergrund, wenn die Sicherheit im Wesentlichen gewährleistet ist. Das Individuum strebt nun nach Zugehörigkeit und Liebe. Man möchte nicht allein durchs Leben gehen, sondern sich in soziale Gruppen begeben, Freunde finden und darüber hinaus eine Partnerschaft aufbauen, Liebe geben und Liebe empfangen. Es geht letztlich darum, dauerhaft zufriedenstellende Bindungen einzugehen. Ist auch dies hinreichend realisiert, werden auf Stufe 4 die Bedürfnisse der Achtung aktualisiert. Man möchte jetzt Wertschätzung von anderen Menschen erfahren und sich selbst wertschätzen können. Hieraus leiten sich nach Maslow mehrere spezifische Mo58
tive ab. Das Individuum will etwas leisten, Stärke zeigen, Kompetenzen entwickeln, frei und unabhängig sein, einen guten Ruf genießen, Status und Ruhm erwerben, Aufmerksamkeit finden und fiir andere Menschen bedeutsam sein. Stufe 5 beinhaltet die Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung. Maslow geht davon aus, dass in jedem Menschen individuell verschiedene Potentiale schlummern, die darauf drängen, sich zu entfalten. Manche Menschen wären demzufolge z. B. musisch begabt, andere hingegen eher technisch. Wurden die Bedürfnisse der ersten vier Stufen hinreichend befriedigt, geht es nun darum, ebendiese Potentiale so weit wie möglich auszuleben. In den meisten Darstellungen der Theorie endet das Modell bei der fünften Stufe. Ein Jahr nach Maslows Tod wurde jedoch eine Erweiterung des Modells veröffentlicht (Koltko-Rivera, 2006). Maslow definiert hierin die Stufe 6, auf der Menschen nach Transzendenz streben. Hierbei bezieht er sich auf den Übergang vom irdischen Leben in ein jenseitiges Leben und die Suche der Menschen nach einem Gott. Die ersten vier Stufen des Modells werden der übergeordneten Gruppe der Defizitbedürfnisse zugeordnet. Sie funktionieren nach dem Prinzip der Homöostase: Das Individuum peilt dabei einen bestimmten Zielzustand an. Eine Untererfüllung wie auch eine Übererfüllung werden als unangenehm erlebt. Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei den Bedürfnissen der fünften Stufe um Wachstumsbedürfnisse. Hier gilt: »Je mehr, desto besser.« Rezeption Die Bedürfnispyramide hat große Aufmerksamkeit über die Grenzen der Psychologie hinaus (z. B. in den Wirtschaftswissenschaften oder der Pädagogik) gefunden. Ihr hoher Bekanntheitsgrad steht allerdings im Widerspruch zur Bewertung des Modells in der Psychologie. Die Kritikpunkte sind ebenso vielfältig wie grundlegend (vgl. Fox, 1982): Die verwendeten Konstrukte werden durch Maslow weder klar definiert noch operationalisiert. Die Einteilung in fünf Stufen ist weder theoretisch noch empirisch abgesichert. Man könnte ebenso gut acht oder zwölf Stufen 59
beschreiben. Manche Bedürfnisse, wie etwa Achtung und Zugehörigkeit, scheinen aufs Engste miteinander verbunden zu sein, obwohl sie verschiedenen Stufen angehören sollen. Die Universalität der Stufenabfolge ist nicht empirisch belegt und durchaus fraglich. Das Modell kann nicht erklären, warum beispielsweise ein Straßenmaler sein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung auslebt, obwohl die Sicherheitsbedürfnisse nicht erfüllt werden, oder manche Künstler (z. B. Beethoven oder van Gogh) trotz Krankheit schöpferisch tätig sind. Das Modell berücksichtigt keine interindividuellen Unterschiede. Die Stufen sind immer nur zeitweise befriedigt. Besonders deutlich wird dies bei den physiologischen Bedürfnissen. Es fehlt an Modellannahmen, wie das Individuum mit dem eigentlich notwendigen häufigen Wechsel der Stufen umgeht. Das Prinzip der Homöostase ist fraglich. Bezogen auf die physiologischen Bedürfnisse dürfte es eigentlich weder Übergewicht noch Magersucht geben. Zudem ist es denkbar, dass manche Menschen nach immer mehr Ruhm und Ehre streben. Der Theorie zufolge dürfte dies aber nicht möglich sein, weil es sich hier um ein Defizit- und nicht um ein Wachstumsbedürfnis handelt. Die Annahme, dass Menschen generell nach Selbstverwirklichung streben, ist nicht belegt. Menschen, deren Defizitbedürfnisse befriedigt sind, müssen nicht zwangsläufig ein Wachstumsbedürfnis verspüren. Der postulierte Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft übersieht, dass sich Persönlichkeit in Interaktion mit der Umwelt entwickelt. Trotz dieser grundlegenden Kritik gibt es immer wieder auch einzelne Studien, deren Ergebnisse im Einklang mit dem Modell von Maslow stehen (vgl. Taormina & Gao, 2013). Alles in allem handelt es sich bei der Bedürfnispyramide um ein historisches Modell, das keine große Relevanz für die aktuelle Motivationsforschung hat (-• Motivationstheorien). Literatur
Fox, W. M. (1982). Why we should abandon Maslows Need Hierarchy Theory. Journal of Humanistic Counseling, Education & Development,
2J,
29-32.
Koltko-Rivera, M.E. 60
(2006).
Rediscovering the later version of
Maslows hierarchy of needs: Self-Transcendence and opportunities for theory, research, and unification. Review of General Psychology, 10, 302-317. Maslow, A. (1954). Motivation andpersonality. New York, NY: Harper.
Weiterführend Taormina, R. J. & Gao, J. H. (2013). Maslow and the motivation hierarchy: Measuring satisfaction of the needs. The American Journal ofPsychology, 126,155-177. Uwe P. Kanning
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BEEINFLUSSUNGSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen In der früheren Forschung (u. a. Muzafer Sherif, 1935) untersuchte man zunächst das Phänomen der Konformität mit den Vorgaben der Mehrheit. Morton Deutsch und Harold Gerard entwickelten 1955 ein Modell zur Erklärung von Konformität, in dem zwischen normativem und informativem Einfluss unterschieden wird. Neuere Ansätze rekurrierten auf Annahmen zur sozialen Identität oder auf Prozesse der Informationsverarbeitung. Sozialer Einfluss durch Minderheiten ist eng mit der Konversionstheorie von Serge Moscovici aus dem Jahre 1980 verknüpft (-+ Sozialpsychologische Theorien). Theorien
In der Arbeit von Sherif (1935) wurden mehrdeutige Stimuli dargeboten und Versuchspersonen gebeten, das Ausmaß von nur scheinbaren Bewegungen eines Lichtpunkts (autokinetischer Effekt) zu beurteilen. Es zeigte sich, dass in Gruppensitzungen die Urteile der Beteiligten auf eine gemeinsame Norm hin konvergierten. Die Reize waren mehrdeutig, weshalb die Orientierung am Urteil der anderen wohl wenig überrascht. Anders gestaltet war die Situation in den 1956 von Solomon Asch durchgeführten Experimenten. Bei einer einfachen Aufgabe mit eindeutiger Lösung, bei der die Länge von Linien einzuschätzen war, gaben Verbündete des Versuchsleiters geschlossen falsche Urteile ab. Etwa ein Drittel der Versuchspersonen ließ sich so von der anwesenden Mehrheit zu einem offensichtlichen Fehlurteil verleiten. Deutsch und Gerard präsentierten 1955 zur Erklärung ein einflussreiches Zwei-Prozesse-Modell. Der angenommene Unterschie zwischen den Prozessen beruht auf der motivationalen Grundlage fiir die Anpassung. Normativer Einfluss gründet auf dem Bedürfnis, die eigene Einstellung zu verändern, um nicht mit der Einflussquelle in sozialen Konflikt zu geraten. Bei informativem Einfluss dagegen bildet die Einstellung der anderen eine subjektiv verläss62
liehe Quelle valider Information. So signalisiert der hohe Konsens der Mehrheit, »dass wir wissen, dass wir wissen«. Vorstellungen entsprechend der Sozialen-Identität-Theorie sind eng mit dem Konzept des normativen Einflusses verknüpft. Eine geteilte Einstellung ist häufig ein definitorisches Merkmal von Gruppen, so dass diese Einstellung die soziale Identität des einzelnen Gruppenmitglieds bestimmt. Dissens mit der Eigengruppe bedroht die soziale Identität und erzeugt Unsicherheit und eventuell auch die Befürchtung, von der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Es ergibt sich die Vorhersage, dass insbesondere Mehrheiten in der Eigengruppe sozialen Einfluss ausüben. Diane Mackie postulierte 1987 in ihrem Objective consensus approach, dass die Mehrheitsmeinung subjektiv die wahrscheinlich zutreffende Position darstellt (objective consensus). Daher verarbeiten Rezipienten die Mehrheitsbotschaft mit hohem kognitiven Aufwand und werden von diesen Argumenten stärker beeinflusst als von Argumenten einer Minderheit, die vergleichsweise wenig Beachtung finden. Als Erklärung für den Einfluss von Mehrheiten werden kognitive Verzerrungen angeführt. Die dargebotene Information erscheint positiver und überzeugender, wenn sie von einer Majorität vorgetragen wird, während dieselbe Information negativ verzerrt verarbeitet wird, wenn sie von einer Minorität stammt. Vermittelt über die Valenz selbstberichteter Gedanken zum Thema, werden entsprechend positivere bzw. negativere Einstellungsurteile getroffen (vgl. u. a. Erb & Bohner, 2010). Folgten alle Mitglieder eines sozialen Aggregats immer der Mehrheit, würde sozialer Wandel unmöglich. Anders als Konformität wurde Innovation durch Minderheiten erst relativ spät Gegenstand sozialpsychologischer Überlegungen. Die Forschung zum Einfluss durch Minderheiten ist stark von Serge Moscovici beeinflusst. Seine Konversionstheorie gilt noch heute als das einflussreichste Modell. Dieser Theorie nach muss eine Minorität ihren Standpunkt konsistent und unnachgiebig gegenüber der Majorität vertreten, um erfolgreich Einfluss auszuüben. Die Unnachgiebigkeit bewirkt den Eindruck, dass sich die Minderheit ihrer Sache sicher ist. In der Folge denken Rezipienten über das zur Debatte stehende Thema ausführlich nach. Dabei geht es um einen inhaltlichen Konflikt (»Was ist richtig?«), denn die Meinungsverschiedenheit mit einer Minorität ist für das Individuum sozial unbedeutend. Die kogni63
tiv aufwendige Verarbeitung der von der Minderheit präsentierten Argumente fuhrt zu einem langsamen Prozess der Einstellungsänderung, Konversion genannt. Sie ist durch »wahre«, langlebige und resistente Einstellungsänderung gekennzeichnet.
Rezeption Sozialer Einfluss durch Mehrheiten und Minderheiten wurde empirisch sehr häufig demonstriert (z.B. u.a. Smith & Bond, 1993). Inzwischen ist überzeugend belegt, dass hoher Konsens - selbst über offensichtliche Fehlurteile - individuelle Urteile und Einstellungen nachhaltig beeinflusst. Aber auch Minderheiten können unter bestimmten Bedingungen Einfluss auf die Mehrheit ausüben, etwa wenn sie als Teil der Eigengruppe wahrgenommen werden. Neuere Ansätze nähern sich dem Thema mit physiologischen Maßen, oder es werden bekannte Theorien in Anwendungskontexten untersucht. So ist es etwa eine in Organisationen wichtige Frage, welche Persönlichkeitseigenschaften mit der Bereitschaft einhergehen, Innovation durch Widerspruch gegen den herrschenden Konsens zu garantieren. Literatur
Erb, H.-P. & Bohner, G. (2010). Consensus as a key: Towards parsimony in explaining minority and majority influence. In R. Martin & M. Hewstone (Eds.), Minority influence and innovation: Antecedents, processes and consequences (pp. 79-103). Hove, U Psychology Press. Sherif, M. (1935). A study of some social factors in perception. Archives ofPsychology, 27,187. Smith, P. B. & Bond, M. H. (1993). Socialpsychology across culture Analysis and perspectives. Hemel Hempstead, UK: Harvester Wheatsheaf.
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Weiterfuhrend
Erb, H.-P. (2015). Minoritäten - Majoritäten. In H.-W. Bierhoff & D. Frey (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie — Sozialpsychologie. Göttingen: Hogrefe. Hans-Peter Erb
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BINDUNGSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Unter Bindung versteht man die besondere Form einer engen Beziehung, die zwischen Kleinkindern und ihren wichtigsten Bezugspersonen - meist Müttern und/oder Vätern - entsteht. Die Bindungstheorie hat unterschiedliche Typen dieser Bindung identifiziert und beschäftigt sich mit den Ursachen für sie, vor allem aber auch mit den vielfältigen und weitreichenden Auswirkungen dieser Bindungstypen (-•Affiliationstheorie). Die Grundlagen der Bindungstheorie wurden von John Bowlby (1907-1990) gelegt, der nach seinem Medizinstudium eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolviert hatte. Bereits in Studienzeiten sammelte er Erfahrungen in einer Schule für verhaltensgestörte Kinder und warnte während des Zweiten Weltkriegs in Vorträgen vor den Folgen längerer Trennungen von Mutter und Kind. Nach dem Krieg beauftragte ihn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Untersuchung der psychischen Situation heimatloser Kinder; 19 51 erschien Bowlbys Bericht unter dem Titel Maternal Care and Mental Health. Dieser Bericht erreichte eine Auflage von einer halben Million Exemplaren, wurde vielfach übersetzt und machte Bowlby und die Bindungstheorie schnell bekannt. Entscheidende Impulse verdankt die Bindungstheorie der Psychologin Mary D. Salter Ainsworth (1913-1999), die ab 1950 fur drei Jahre Mitarbeiterin John Bowlbys an der Tavistock-Klinik in London war. Sie lernte dort James Robertson (1911-1988) kennen, der bereits genaue Beobachtungen kindlicher Patienten angestellt und schriftlich festgehalten hatte. Dadurch angeregt, nutzte Ainsworth ein ähnliches Vorgehen fur ihre ersten Studien >im Feldantwortendes< Verhaltenssystem (Blickkontakt, Hochnehmen, Umarmen, Beruhigen etc.). Das wechselseitige Wirken dieser Systeme konkretisiert sich in sozialen Interaktionen, aus denen die Bindung erwächst (-> Interaktionsbasierte Theorien der Face-to-face-Kommunikation). In den Interaktionen von Kleinkind und Bezugsperson erhält die Bindungstheorie zudem ein empirisch untersuchbares Fundament. Abgesehen von direkten Beobachtungen wurde dazu die bereits angesprochene »Fremde Situation« genutzt: eine standardisierte Abfolge von Trennungs- und Wiedersehenssituationen, in der das Verhalten des Kindes beobachtet wird. In einem Raum, in dem sich auch Spielsachen befinden, werden acht (in der Regel dreiminütige) Episoden inszeniert: (1) die Bezugsperson (meist die Mutter) und das Kind werden begrüßt, (2) Mutter und Kind werden im Raum allein gelassen, (3) eine fremde Person kommt hinzu und nimmt Kontakt auf, (4) die Mutter verlässt unauffällig den Raum, (5) die Mutter kehrt zurück und die fremde Person verlässt den Raum, (6) die Mutter verlässt erneut den Raum, das Kleinkind ist nun allein, (7) die Fremde kehrt zurück und bietet Spiel und Trost an, (8) die Mutter kehrt erneut zurück und die Fremde verlässt den Raum. Aussagekräftig ist dabei, wie Kind und Mutter miteinander umgehen, wie sich das Kind gegenüber der Fremden verhält, vor allem aber, wie das Kind auf die Mutter reagiert, wenn sie in den Raum zurückkommt. Es wurden verschiedene Bindungstypen identifiziert: (1) Sicher gebundene Kinder sind nach dem Weggang der Mutter traurig oder verängstigt, lassen sich kaum von der fremden Person ablenken, zeigen bei der Rückkehr der Mutter Freude, suchen ihre Nähe und beginnen dann bald wieder mit ihrem Spiel. (2) Unsicher vermeidend gebundene Kinder scheinen sich nicht um den Weggang der Mutter zu kümmern, spielen mit der frem67
den Person weiter, begrüßen die Mutter kaum, wenn sie zurückkehrt, und suchen auch kaum ihre Nähe. (3) Unsicher ambivalent gebundene Kinder werden (wie die sicher gebundenen) beim Weggang der Mutter unruhig und lassen sich kaum von der fremden Person trösten. Sie suchen nach der Rückkehr auch die Nähe der Mutter, zeigen jedoch gleichzeitig Zeichen von Ärger oder Aggressivität und lassen sich kaum beruhigen. In der Baltimore-Studie Ainsworth' waren knapp 70 Prozent der Kinder sicher gebunden, 20 Prozent unsicher-vermeidend und gut 10 Prozent unsicher-ambivalent. Spätere Studien in anderen Kulturen erbrachten etwas andere Verteilungen; gemeinsam ist ihnen aber, dass die Formen unsicherer Bindung kein randständiges, pathologisches Phänomen darstellen. Inzwischen hat man mehrere Unterformen der genannten Typen gefunden, außerdem einen vierten Typ (desorganisiert/desorientiert gebunden), der uneindeutige Fälle enthält und stets zusammen mit einem der drei Grundtypen klassifiziert wird. Auf der Suche nach den Ursachen für die unterschiedlichen Bindungstypen wurde vor allem die mütterliche Feinfuhligkeit in den Blick genommen: das Ausmaß, in dem kindliche Bedürfnisse wahrgenommen, zutreffend verstanden und prompt und angemessen beantwortet werden. Dabei haben sich Belege dafür ergeben, dass eine hohe Feinfühligkeit eine sichere Bindung begünstigt; erfährt das Kind jedoch insgesamt eher zurückhaltende und zurückweisende Reaktionen auf Bitten um Nähe und Trost, resultiert eine unsicher-vermeidende Bindung (weil das Kind bald lernt, entsprechende Bedürfnisse nicht zu zeigen). Reagiert die Bezugsperson teilweise angemessen, teilweise aber auch kaum oder im Gegenteil überbehütend - also uneinheitlich und für das Kind nicht vorhersehbar - , dann stellt sich eine unsicher-ambivalente Bindung ein. Man geht daher von einem Einfluss der mütterlichen Feinfühligkeit auf den Bindungstyp aus. Weniger klar ist jedoch der Einfluss von angeborenen Temperamentsunterschieden der Kinder - sicher auch, weil dieser deutlich schwerer zu untersuchen ist. Ein weiteres Feld, das in der Bindungstheorie untersucht wird, betrifft die Auswirkungen, die ein Bindungstyp im weiteren Lebenslauf hat. Dabei interessieren sowohl eher kurzfristige Auswirkungen - so zeigen sicher gebundene Kinder beispielsweise angemesseneres Sozialverhalten im Kindergartenalter, sind kon68
zentrierter und frustrationstoleranter - als auch längerfristige, bis hin zur Bindungsrepräsentation von Erwachsenen und den Bindungstypen, die sich dann in der Interaktion mit den eigenen Kindern zeigen. Hierzu finden sich Hinweise fiir eine intergenerationelle Weitergabe von Bindungstypen. Eine allzu deterministische Sicht auf diese Befunde verbietet sich jedoch. Rezeption Die Bindungstheorie gehört heute zu den anerkannten Theorien der Entwicklungspsychologie (-•Entwicklungstheorien). Im deutschen Sprachraum haben zunächst Klaus und Karin Grossmann mit ihrer Arbeitsgruppe wesentlich zur Verbreitung und Verankerung dieser Theorie beigetragen. Inzwischen liegt eine große Anzahl von Untersuchungen und Weiterentwicklungen vor. Die Bindungstheorie veränderte auch den »institutionellen« Umgang mit Eltern-KindBeziehungen nachhaltig - so ist es längst nicht mehr üblich, etwa in Krankenhäusern kranke Kleinkinder und ihre Eltern tagelang voneinander zu trennen. Literatur Ainsworth, M. D.S. & Wittig, B. (1969): Attachment and the exploratory behavior of one-year-olds in a strange situation. Deutsch: Bindungs- und Explorationsverhalten einjähriger Kinder in einer fremden Situation. In K. Grossmann & K. Grossmann (2009) (Hrsg.), Bindung und menschliche Entwicklung: John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. (2. Aufl., S.112-145). Stuttgart: Klett-Cotta. Bowlby, J. (2001). Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. München: Reinhardt. Holmes, J. (2006). John Bowlby und die Bindungstheorie. München: Reinhardt. Weiterfuhrend Ahnert, L. (Hrsg.). (2008). Frühe Bindung: Entstehung und Entwicklung. (2. Aufl.) München: Reinhardt. Alexander Kochinka 69
BIOLOGISCHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Charles Darwins Evolutionstheorie war eine der bedeutendsten Theorien des 19. Jahrhunderts und entfaltete wie kaum eine andere Theorie eine nachhaltige Wirkung in den Geistes- sowie in den Naturwissenschaften. In den USA orientierten sich die Pragmatisten (insbesondere William James und John Dewey) an der Selektionstheorie. Hingegen setzte sich die europäische Psychologie, die sich im 19. Jahrhundert allmählich als eigenständige Disziplin formierte, relativ selten direkt mit ihr auseinander. Offenbar versprachen sich die deutschen Psychologen mehr von einem fest umrissenen stationären Zustand des Menschen und einer an Physiologie und letztlich Physik ausgerichteten experimentellen Methodik. Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu untersuchen blieb der vergleichenden Verhaltensforschung, der Ethologie, überlassen. In seinem 1874 erschienenen Werk Grundzüge der physiologischen Psychologie ging Wilhelm Wundt von der Annahme aus, dass physische und psychische Vorgänge parallelgeschaltet sind und auch stets einander entsprechend verlaufen (psychophysischer Parallelismus -•Leib-Seele-Problem). Wundts Paradigma enthob die Psychologie einer geschlossenen Naturgesetzlichkeit, wenngleich nicht der Naturgesetzlichkeit überhaupt. Indessen konnte sie sich als selbständige Wissenschaft konstituieren. Die reduktionistische Ansicht blieb nun lange Zeit randständig. Während die Erforschung des Verhaltens in der Biologie eine lange Geschichte hat, bildete sich die Biopsychologie erst relativ spät zu einer psychologischen Disziplin heraus, wobei das 1949 publizierte Werk von Donald Olding Hebb Organisation of behavior eine wichtige Rolle spielte (—• Hebbsche Lernregel). Heute gehören neben der Vergleichenden Psychologie und der Physiologischen Psychologie auch die Psychopharmakologie sowie die Neuropsychologic zur Biologischen Psychologie (auch Psychobiologie und Verhaltensbiologie genannt). Erst in den 1980er Jahren tauchte mit dem Aufkommen der kognitiven Neurowissenschaften wiederum die Tendenz auf, die neurologische Ebene als die maßgebende der Psychologie zu unterstellen. Die Biologische 70
Psychologie wurde zu einem zentralen Gebiet der Psychologie und bot sich an, Sachverhalte der Allgemeinen Psychologie zu erklären und zu fundieren. Der besondere Beitrag dieses Zweigs der Naturwissenschaften und insbesondere der Neurowissenschaften, der sich mit der Biologie des Verhaltens beschäftigt, besteht darin, die anatomischen Erkenntnisse über Aufbau und Funktion des Gehirns mit Kenntnissen über das Verhalten und den Methoden der Verhaltenswissenschaften zu verbinden. Biologische Psychologie integriert auch Wissen aus anderen Neurowissenschaften wie aus der Neuroanatomie, der Neurochemie und der Neuropathologie in die Untersuchung des Verhaltens (-• Neuropsychologische Theorien). Theorien
Diverse Wissenschaftler/innen befassten sich mit dem Verhältnis von Biologie und Psychologie und fragten sich insbesondere, wie aus der Perspektive der Psychologie biologische Befunde wissenschaftlich einzuordnen sind. Dabei lassen sich zwei grundlegende wissenschaftstheoretische Ansätze bzw. Paradigmen voneinander unterscheiden: Materiewissenschaftliches Paradigma: Die meisten Repräsentanten der Biologischen Psychologie betrachten das Verhältnis zwischen Psychologie und Biologie >materiewissenschaftlich< in dem Sinne, dass Letztere als materiale Grundlage der Ersteren aufgefasst wird. Allerdings fragten sich Lutz Jäncke und Franz Petermann 2010 im Editorial des Sonderheftes Wie viel Biologie braucht die Psychologie? der Psychologischen Rundschau, ob die Gefahr besteht dass mit diesem Reduktionismus die Psychologie durch biologische Disziplinen ersetzt wird. Doch die meisten biologisch interessierten Psychologen neigten eher zur 2013 von Niels Birbaumer vertretenen Meinung, dass eine Psychologie ohne biologische Wurzeln schnell insgesamt an Bedeutung verlieren würde. Wenn die Psychologie noch stärker als Naturwissenschaft verstanden und ihr Gegenstand neurobiologisch verankert werden soll, stellt sich die Frage, was dies fiir den Praxisbezug der Psychologie bedeutet (-•Theorie-PraxisTransfer). Wächst die Neuropsychologic zum zentralen Gebiet der Biologischen Psychologie heran, erhält auch die Psychopharmakologie immer größere Relevanz als Teilgebiet dieser Wissenschaft. 71
Wird hinsichtlich des Verhaltens und dessen Störungen routinemäßig auf neuronale Prozesse rekurriert, ergibt sich die Tendenz, Ursachen sowie Maßnahmen losgelöst von menschlichen Produktionen und deren Verhältnissen zu bestimmen. Strukturwissenschaftliches Paradigma: Jäncke (2010) schlug vor die Psychologie nicht länger als »Materiewissenschaft«, sondern als »Strukturwissenschaft:« zu verstehen, die sich als solche mit den Wirkmechanismen zwischen Elementen befasst, wobei die jeweiligen Strukturelemente in mehr oder weniger komplexen Beziehungen zueinander stehen und auch mit anderen Strukturwissenschaften wie der Biologie vereinigt werden können. Bei einer Psychologie als Strukturwissenschaft würde es keine Probleme mehr geben, biologische oder neurowissenschaftliche Inhalte psychologisch zu bearbeiten, lägen doch mit diesen Inhalten nur verschiedene Ebenen der Strukturanalyse mit unterschiedlicher Auflösung vor, wobei sich die einzelnen Ebenen ergänzen und gegenseitig befruchten könnten. »Die Psychologie als Strukturwissenschaft sollte neben dem Wie auch das Warum des menschlichen Erlebens und Verhaltens zum Forschungsthema haben. Sie würde sich dann mit Strukturen und deren Wirkungsgefiige auseinandersetzen. Wie die Biologie würde sie sich um das Wie der jeweiligen Strukturen auf unterschiedlichen Ebenen kümmern. Wie funktioniert das Arbeitsgedächtnis, und welche Elemente müssen zusammenwirken, um die Arbeitsgedächtnisfunktion zu unterstützen? Auf einer anderen Ebene könnte man sich fragen, wie das Arbeitsgedächtnis neuronal organisiert ist und welche neuronalen Strukturen zusammenwirken müssen, damit die Arbeitsgedächtnisfunktion möglich wird. In einem weiteren Schritt würde man sich fragen, welche Funktion für das Überleben das Arbeitsgedächtnis ausüben soll« (ebd., S.197; Hervorhebungen i. Orig.).
Rezeption Die neuroreduktionistische These, dass die Antwort auf die Frage nach Möglichkeiten von Verhaltensänderungen auf der Ebene der Neuronen zu suchen sei, wird kritisch-rationalistisch als dogmatischer Abbruch eines Regresses betrachtet, der ebenso berechtigt auf der chemischen oder physikalischen Ebene haltmachen könnte 72
(-•Theorien der Psychologie und Empirie). Strack (2010) stellte den Erkenntnisgewinn insbesondere lokationsorientierter Hirnforschung in Frage und bezweifelte die Güte der bildgebenden Verfahren. Der Autor wies u. a. auf das Problem der Trennschärfe der identifizierten Gehirnareale hin. Auch wenn eine bestimmte Hirnregion mit einem psychischen Phänomen in einen Zusammenhang gebracht werden könne, hänge dessen Bedeutung davon ab, welche anderen Sachverhalte mit diesem Areal in Verbindung stehen. Beispielsweise lasse der Befund, dass die Region der Insula aktiviert sei, wenn Probanden faire Entscheidungen treffen, nicht auf eine Einszu-eins-Verbindung zwischen Hirn und Psyche schließen, denn Aktivitäten der Insula seien auch bei vielen anderen psychischen Phänomen involviert (vgl. ebd., S. 202). Felix Hasler wies in seiner 2012 erschienenen Schrift Neuromythologie daraufhin, dass die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) de facto nur die jeweilige Veränderung des Blutflusses und des Sauerstoffverbrauchs im Hirn im Zusammenhang mit Erleben oder Verhalten der Probanden manifestiert. Die Aktivität der Nervenzellen sei jedoch viel schneller als die Blutzirkulation. »Was mit fMRT wirklich erfasst wird, sind die zeitlich aufsummierten und überlagerten Aktivitäten all dessen, was sich im Bereich von einigen Sekunden im Gehirn abgespielt hat« (S. 48). Die zeitliche Auflösung der MRT-Methoden sei um Größenordnungen zu schlecht, um effektive Vorgänge überhaupt erfassen zu können. Auch habe sich gezeigt, dass erhöhte Aktivität in einem Hirnareal nicht unbedingt mit erhöhter Durchblutung einhergehe. Zudem gehörten zu vielen neuropsychologist relevanten Vorgängen auch Hemmungen, also nicht nur Aktivierungen. Das fMRT-Bild spiegle nicht wider, was sich hier und jetzt im Umfeld eines Probanden abspiele, sondern basiere auf der statistischen Zusammenfiihrung verschiedener Probandendaten. Der Kortex kann eben nicht unabhängig vom Kontext verstanden werden, sondern nur als >Kortext< (-•Aktionstheorie des Gehirns), wenn man nicht auf vulgärmaterialistische Positionen der meisten Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert zurückfallen will (-•Abbild- und Widerspiegelungstheorie).
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Literatur
Jäncke, L. (2010). Hirnforschung: sinnvolle Ergänzung oder überflüssiges Anhängsel der Psychologie? Psychologische Rundscha 61,191-198. Mausfeld, R. (2010). Psychologie, Biologie, kognitive Neurowissenschaften: Zur gegenwärtigen Dominanz neuroreduktionistischer Positionen und zu ihren stillschweigenden Grundannahmen. Psychologische Rundschau, 61,180-190. Strack, F. (2010). Wo die Liebe wohnt: Überlegungen zur Bedeutung der bildgebenden Hirnforschung für die Psychologie. Psychologische Rundschau, 61, 203-205. Weiterführend Gauggel, S. & Herrmann, M. (Hrsg.). (2008). Handbuch der Neuro- und Biopsychologie. Göttingen: Hogrefe. Mark Galliker
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COPING
Wichtige Vertreter/innen Seit den 1960er Jahren werden Stress und Coping als eine Interaktion zwischen Situations- und Persönlichkeitsmerkmalen sowie situativen Einschätzungsprozessen definiert. Dieser transaktionale Ansatz von Stress und Coping von Richard Lazarus (1966) ist heute am weitesten verbreitet. In diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass Stress eine Folge von Einschätzungsprozessen ist (-* Kognitive Emotionstheorien). Eine Situation wird von der Person hinsichtlich ihrer subjektiven Bedeutung fiir das Wohlbefinden eingeschätzt und im Falle einer wahrgenommenen Bedrohung, Schädigung, Herausforderung oder eines Verlusts dahingehend überprüft, ob man geeignete Bewältigungsmöglichkeiten hat, um angemessen auf die Anforderungen reagieren zu können. Seit den frühen 1990er Jahren wird dyadisches Coping als Erweiterung der individuellen Stressbewältigung thematisiert. Theoretische Ansätze dazu wurden von Guy Bodenmann, James Coyne, Anita DeLongis und Tracey Revenson vorgelegt.
Theorie Da sich Stress selten in einem sozialen Vakuum abspielt, wurde das transaktionale Modell interpersonell erweitert. Bei Paaren wird schnell evident, dass der Stress des einen auch zum Stress des anderen wird und eine hohe Interdependenz zwischen den Partnern besteht (-•Interdependenztheorie). Im Konzept des dyadischen Coping wird damit Stress als ein gemeinsames Problem gesehen, welches eine gemeinsame Bewältigung erfordert. Dies gilt fiir tägliche Widrigkeiten ebenso wie für kritische Lebensereignisse. Bei täglichen Widrigkeiten (kleineren Alltagsstressoren wie einen wichtigen Termin verpassen oder zu spät kommen, im Stau stehen, Kritik eines Vorgesetzten, Spannungen mit Nachbarn, Freunden etc.) kumuliert der Stress häufig beim einen Partner, oder gewisse Situationen treffen ihn dermaßen nachhaltig, dass es bei einer späteren Begegnung mit dem anderen Partner zu einem »Über75
schwappen« von Stress auf diesen kommt. Der gestresste Partner ist häufig verschlossener als üblich, gereizter oder aggressiver, was auf den anderen Partner abfärbt und bei diesem zu Enttäuschung und Frustration, häufig aber auch zu Konflikten fuhren kann (-• Vulnerabilitäts-Stress-Theorie). Was fur kleinere Stressoren gilt, trifft erst recht bei kritischen Lebensereignissen zu, bei denen die Belastungen infolge eines Todesfalls, einer schweren Krankheit, eines Unfalls, einer massiven Veränderung der beruflichen Situation etc. unmittelbar auch den Partner betreffen, indem das Ereignis Einschränkungen fiir ihn mit sich bringt, wie erhöhte Fürsorge oder Pflegehandlungen, Sorgen und Ängste, eine unsichere individuelle und dyadische Zukunft sowie häufigfinanzielleund soziale Veränderungen. Die psychische Störung (z. B. Depression) eines Partners betrifft das Leben des anderen Partners genauso wie eine somatische Erkrankung, beispielsweise ein Magengeschwür eines Partners, wodurch auch der andere Rücksicht auf die Ernährung des Kranken nehmen muss; gewisse frühere Verstärker (z.B. gemeinsame kulinarische Höhepunkte, gemeinsame Restaurantbesuche, Einladungen und Feste) werden seltener oder fallen ganz weg. Entsprechend postuliert das Konzept des dyadischen Coping, dass Paare diese gemeinsamen Stressoren auch gemeinsam zu bewältigen versuchen und ihre Synergien beim Copingprozess in Ergänzung zum individuellen Coping nutzen. Unter dyadischem Coping wird im systemisch-transaktionalen Ansatz (Bodenmann, 2000 ein Prozess verstanden, in dessen Rahmen verbale und nonverbale Stresssignale des einen Partners, die Wahrnehmung dieser Signale durch den anderen Partner und dessen Antwortreaktionen berücksichtigt werden. Je nach Situation bzw. Problemkonstellation (Wer ist direkt betroffen vom Stressereignis? Wer oder was trägt Schuld am Stressereignis?) und in Abhängigkeit der jeweiligen aktuellen bzw. stabilen Copingressourcen beider Partner (Verfügbarkeit von Copingressourcen bei beiden Partnern, Qualität dieser Ressourcen, Zusammenspiel der Ressourcen), der individuellen und dyadischen Ziele (Wiedererlangung der Homöostase, gesundheitsbezogene oder soziale Ziele) sowie der aktuellen oder globalen Motivation (z.B. Partnerschaftszufriedenheit, Bedeutung der Partnerschaft, Commitment etc.) können Formen des gemeinsamen dyadischen Coping (beide Partner engagieren sich symmetrisch im Coping76
prozess), des supportiven dyadischen Coping (ein Partner unterstützt den anderen Partner in seinen Bewältigungsbemühungen) oder des an den Partner delegierten dyadischen Coping (ein Partner nimmt dem anderen Aufgaben ab) unterschieden werden. Das dyadische Coping kann emotions- und/oder problembezogen erfolgen und positiven oder negativen Charakter haben. Negatives supportives dyadisches Coping liegt dann vor, wenn die Unterstützung des Partners hostil (kritisierend, abwertend, respektlos), ambivalent (mit gemischten oder gar unguten Gefühlen, mit Bedauern oder Ärger) oder floskelhaft (oberflächlich, ohne wirkliches, echtes Engagement, fadenscheinig) erfolgt. Funktionen des dyadischen Coping sind zum einen die Stressregulation bei beiden Partnern, zum anderen die Förderung von Nähe, Intimität und des Wir-Gefühls (-• Emotionstheorien).
Rezeption Studien zu individuellem Coping (heute häufig auch unter dem Begriff Emotionsregulation) sind in allen Bereichen der Psychologie zu finden, und das transaktionale Stresskonzept von Lazarus gehört zu den wichtigen psychologischen Stresstheorien. Das Konzept des dyadischen Coping hat in den letzten zwanzig Jahren ebenfalls ein zunehmendes Forschungsinteresse erfahren und bildet als Erweiterung des individuellen Coping eine wichtige Größe im Verständnis von Copingprozessen bei Paaren oder Familien. Eine Vielzahl von Studien zeigt die Bedeutung des dyadischen Coping über das individuelle Coping hinaus bei Paaren mit einer psychischen oder somatischen Erkrankung im Hinblick auf eine bessere und schnellere Genesung sowie eine Förderung der Partnerschaftsqualität und -Stabilität. In einer Meta-Analyse und einer internationalen Studie in 35 Nationen wurden mittelstarke Zusammenhänge zwischen dyadischem Coping und Partnerschaftszufriedenheit gefunden, womit sich dyadisches Coping auch interkulturell als bedeutsam erweist. Die Förderung von dyadischem Coping wird auch in der Paartherapie und im Rahmen von Präventionskursen für Paare mit Erfolg berücksichtigt. Neuere Studien fokussieren nun mehr die Wirkmechanismen und Prozesse (z. B. Motive) innerhalb des dyadischen Coping. Das Konzept wird in der -»• Klinischen Psycho77
logie, Sozialpsychologie, Gesundheitspsychologie und neuerdings auch in der Allgemeinen Psychologie verwendet.
Literatur
Bodenmann, G. (2000). Stress und Coping bei Paaren. Göttingen: Hogrefe. Lazarus, R. S. (1966). Psychological stress and the coping process. N York, NY: McGraw-Hill. Lazarus, R. S. & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping New York, NY: Springer. Weiterfuhrend
Revenson, T., Kayser, K. & Bodenmann, G. (Eds.). (2005). Emerging perspectives on couples' coping with stress. Washington, D American Psychological Association. Guy Bodenmann
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DELIBERATIONSTHEORIE MENTALER EVOLUTION
Wichtige Vertreter/innen Der Ubergang von aristokratisch-herrschaftlichen Kulturen der letzten Jahrhunderte zu demokratischen und menschenrechtsorientierten Kulturen ist auch ein psychisch tiefgreifender Mentalitätswandel von Vorgabeverhältnissen (z. B. Hörigkeit) zu Entscheidungsverhältnissen, der sowohl die psychologische Forschung als auch ihre Gegenstände betrifft. In dem Maße, wie man fiir das Erwägen von Alternativen bei Entscheidungen nicht mehr auf überkommene Vorgaben zurückgreifen kann, wird Erwägung zu einem eigenen Problemgebiet. In diesem Zusammenhang sind die weltweiten Bemühungen um Deliberation zu sehen. John Dewey (1859-1952) ist ein Hauptvertreter, auch deswegen, weil er umfassend die angegebenen Problemlagen bis hin zu einer psychologisch ausgerichteten deliberativen Prozesslogik (Dewey, 1938) behandelt hat.
Theorie Das Objektivitätsideal neuzeitlicher Wissenschaftsverständnisse orientiert sich vor allem an den Naturwissenschaften (-•Wissenschaftstheorie). Diese befassen sich mit Atomen, Molekülen etc. und nicht mit Entscheidungsverhältnissen von Subjekten als zu erforschenden psychologischen Gegenständen. Die kulturellgeschichtliche Subjektivität (Mentalität) wird zu neutralisieren versucht, wenn z.B. zwischen primären Qualitäten (etwa mathematischer Art) und sekundären Qualitäten (wie Sinnesqualitäten) unterschieden wird. Erfolg und Vorbild der Naturwissenschaften prägen bis in die Gegenwart Auseinandersetzungen in der Psychologie, auch in Bezug auf Abgrenzungen. Werden aber Entscheidungsverhältnisse Gegenstandsbereich von Forschungen, dann ist zu reflektieren, dass sich Forschungen selbst durch Entscheidungen verwirklichen und in Gegenstandsbereiche aus Entscheidungen kulturell eingebunden sind (-•Entscheidungstheorien). Neutralisierungsversuche werden hierdurch illusionär. 79
Wie aber ist ohne Neutralisierung von Subjektivität Objektivität dennoch anstrebbar - auch im Alltag? Hier setzt diejenige Variante der Deliberationstheorien an, die Deliberation selbst reflexiv zum Gegenstand von Erwägung macht. Damit erreicht man eine Zuordnung zur -•Evolutionstheorie. Denn das Erwägen von Alternativen ist mit der von der Biologie erfassten organismischen Variation und die Bewertung der Alternativen im Entscheidungsprozess mit der organismischen Selektion analogisierbar. Solche Analogisierung ist in die vielfältigen Bestrebungen einzugliedern, allgemeine Evolutionstheorien zu entwickeln. Diese verlassen damit jeglichen Biologismus, etwa den Sozialdarwinismus, und führen zu einem umfassenderen Evolutionsverständnis. Es sind somit in diesem Zusammenhang zwei Arten von evolutionärer Psychologie zu unterscheiden: Einmal bezieht man sich auf Psychisches, das wesentlich vom Angeborenen her geprägt ist, und zum anderen auf Psychisches, das aus Problembewältigungen in evolutionärkulturellen Kontexten hervorgeht, auch wenn es auf Angeborenem beruht, was Wechselwirkungen nicht ausschließt. Evolutionen von Mentalitäten werden vornehmlich von der zweiten Art von Psychologie behandelt. Psychologische Forschung kann hierdurch selbstreferentiell werden und Objektivität anstreben: Die selbstreferentielle Problemlage, Erwägen zu erwägen, ist alltäglich und wird von der Evolutorischen Deliberationstheorie in besonderer Weise zum Wissenschaftsverständnis erhoben. Ein einfaches Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn man behauptet, der Weg b sei der geeignetste, um von X nach Y zu gelangen, weil die erwogenen Wege a und c vergleichsweise weniger geeignet seien, dann kann schon der Einwand, dass doch auch die Wege d und e zu berücksichtigen seien, die Behauptung fragwürdig werden lassen. Demnach hängt die Geltung der Behauptung, Weg b sei der geeignetste, von den erwogenen Alternativen ab. Erwogene Alternativen werden so zu Geltungsbedingungen von Lösungen, die dann auch verbessert werden können. Die Subjektivität von Mentalitäten wird in ihrer Objektivitätsfähigkeit dadurch gestärkt, dass sie zunehmend problemadäquate Alternativen erschließt und als Geltungsbedingungen von Ergebnissen fur kritische Wiederholungsreflexionen bewahrt (vgl. Blanck, 2012, S. 38-41). Die Vielfalt geschichtlicher Positionen ist somit ergebnisoffen in Prozesse einzugliedern, die von einem Stadium ins nächste über80
leiten, aber methodisch an Verbesserungen des Erwägens orientiert sind. Deliberation hat unter spezifischen Bedingungen, die zu erwägen sind, etwa bei hoher Überprüfungsanforderung, Vorrang vor der Setzung von Lösungen. Nicht jede Problembewältigung führt zu Lösungen. Erwägung ist in Prozessen des Erwägens Garant fiir Objektivitätszuwachs, wenn sie Geltungsbedingungen in Genesen schafft. Die radikale Trennung (Dichotomie) von Genese und Geltung lebt von einer Lösungsfixierung. Sie ist Grundlage des im 20. Jahrhundert dominant gewordenen Antipsychologismus. Dies zu problematisieren fuhrt zu Grundlagenfragen der Logik, die auch die Kleinkindforschung betreffen. Ein Wissenschaftsverständnis, das Subjektivität neutralisieren möchte, wird keine Logik verfolgen, die im Erwägen von Alternativen eine Basis hat. Erwägen von Alternativen kommt in Oder-Sätzen zum Ausdruck und wird traditionell unter dem Stichwort Disjunktion abgehandelt. Aber der im 20. Jahrhundert dominant gewordenen mathematisch orientierten Logik misslingt deren Formalisierung in der Klassischen Aussagenlogik, wobei jene antipsychologische Logik auch noch von der psychologischen Forschung unbekümmert übernommen wird (Loh, 2012). Psychologische Forschungen müssen dem deliberativen Verständnis nach eigenständige Grundlagen für Logiken erarbeiten, was auch als Konsequenz des evolutorischen Ansatzes zu begreifen ist. Rezeption Deliberation ist ein mentaler Prozess und insofern vornehmlich Gegenstand der Psychologie. Da er aber alle Lebensbereiche einschließlich ihrer wissenschaftlichen Erfassung betrifft, hat seine explizite konzeptionelle Thematisierung mit unterschiedlichen Ausprägungen keine Grenzen. Sie reicht z. B. von politischer Philosophie über Erwägungsseminare bis hin zu qualitativ-empirischen Methoden (etwa erwägungsorientierte Pyramidendiskussion), weswegen eigene Zeitschriften hierfür gegründet worden sind: in Deutschland Erwägen Wissen Ethik {Deliberation Knowledge Ethics) und in den USA das Journal ofPublic Deliberation. Im Rahmen der Psychologie wurde der Deliberations- bzw. Erwägungsansatz aus unterschiedlichen Perspektiven in dem von Gerd Jüttemann (2008) 81
herausgegebenen Band Suchprozesse der Seele - Die Psychologie Erwägens erörtert. Literatur
Blanck, B. (2012). Vielfaltsbewusste Pädagogik und Denken in M lichkeiten: Theoretische Grundlagen und Handlungsperspek Stuttgart: Lucius & Lucius. Dewey, J. (1938/2008). Logic: The theory of inquiry (The later wor 1925-1953, Vol. 12: ipß8, ed. by J. A. Boydston). Carbondale, JL: SIU Press. Jüttemann, G. (Hrsg.). (2008). Suchprozesse der Seele: Die Psycho gie des Erwägens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weiterfuhrend Loh, W. (2012). Behinderung der Psychologie durch Antipsychologismus. Evolutionäre Logik und Lösungsepoche. e-Journal Philosophie der Psychologie, November 2012. Werner Loh
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DENKTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Denken kann im weitesten Sinne als ein Prozess der internalen symbolischen Repräsentierung von Ereignissen und Gegenständen über die Bildung von Kategorien und Konzepten verstanden werden. Denken beruht auf dem Vorwissen, bestimmten Fähigkeiten (wie abstraktes Schlussfolgern), Absichten (Ziele des Prozesses) und Denkinhalten (Produkte) (vgl. Bourne, Ekstrand & Dominowski, 1971). Hierbei kann Denken in produktives, reproduktives und problemlösendes Denken unterteilt werden. Carl F. Graumann nennt in seinem 1965 erschienenen Buch Denken u. a. die folgenden phänomenologischen Merkmale des Denkens: (1) Vergegenwärtigung von Denkinhalten (z. B. Zukünftigem) unabhängig von der sinnlichen Erfahrung, (2) Ordnungsleistung durch die Bildung abstrakter Begriffe, (3) Innerlichkeit, da dieser Prozess in der inneren Vorstellungswelt stattfindet. Joachim Funke (2003) sieht als wichtige Komponenten das Ziel des Denkprozesses, die eingesetzten Mittel, die Randbedingungen und Beschränkungen, die Abfolge der Denkoperationen, die Art der Repräsentierung und die Eleganz der Lösung. Wichtige Vertreter von traditionellen Denktheorien sind Oswald Külpe (1862-1915), Max Wertheimer (1880-1943), Otto Selz (1881-1941) und Karl Duncker (1903-1940). Theorien Historisch entwickelten sich die Denktheorien in der Psychologie von der Würzburger Schule her kommend. Etwas später standen sich lern- und gestaltpsychologische Ansätze in den Denktheorien gegenüber, ehe mit der Produktionstheorie des Denkens von Selz und der Theorie des produktiven Denkens von Duncker ein expliziter Ansatz entwickelt wurde. Würzburger Schule: Oswald Külpe entwickelte einen eigenständigen denkpsychologischen Ansatz: Mittels introspektiver Methoden, bei denen die Versuchspersonen ihre Denkwege erläuterten (lautes Denken), wurden kognitive Prozesse beim Lösen von Auf83
gaben und Problemen untersucht (-•Selbstbeobachtungskonzepte). Denken wurde als ein Prozess verstanden, bei dem Denkinhalte Zeichen fiir oder Repräsentanten von Gegenständen waren. In diesem Kontext entwickelte Otto Selz eine Denktheorie, die kognitive Operationen innerhalb eines Problemraums auf einem Kontinuum von Reproduktionen und Produktionen von Ideen anordnete. Hierbei postulierte er Schemata des Denkens, die bei Problemen (unvollständigen Wissensstrukturen) aktiviert werden, indem über Ziel-Mittel-Analysen Lösungen antizipiert werden (-•Produktionstheorie des Denkens). Lernpsychologie: Im Behaviorismus wurde Denken mit Lernen gleichgesetzt (-•Lerntheorien). Durch Wiederholung von ReizReaktions-Beziehungen im Sinne der Assoziationspsychologie (-•Assoziationstheorien) wird nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum eine Reaktionshierarchie aufgebaut, die die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Reaktion auf eine bestimmte Reizkonstellation erhöht (z. B. beim Experiment mit Katzen von Edward L. Thorndike). Gestaltpsychologie: Der Gestaltpsychologie zufolge geht es im Denkprozess um die Lösung einer Aufgabe oder eines Problems als Suche nach der guten Gestalt. Hierbei stehen, basierend auf dem Erkennen des Lösungswegs (Einsicht), neue Lösungswege (produktives Denken) im Gegensatz zur Anwendung bekannter Lösungsstrategien (ireproduktives Denken). Besonders das produktive Denken stand im Zentrum der Gestaltpsychologie. Max Wertheimer unterschied am Beispiel der Relativitätstheorie Albert Einsteins grundlegende Komponenten des produktiven Denkens: Am Anfang steht ihm zufolge das Bemerken und Erfassen struktureller Züge und der Anforderungen des Problems. Hierdurch wird das weitere Vorgehen bestimmt. Strukturelle Verbesserungen werden durch die Veränderung der Problemsituation angeregt (Unklarheiten und Diskrepanzen werden durch Gruppierung und Zentrierung reduziert; auch die Denkoperationen werden strukturell dem Problem angepasst). Operationen werden hierarchisiert und auf andere Strukturen übertragen (Transponierbarkeit). Wertheimer geht bei seiner Beschreibung der Denkvorgänge davon aus, dass sowohl das Material als auch die Situation dem Denken die eigentliche Struktur und Richtung geben (-•Gestalttheorie). Theorie des produktiven Denkens: Ähnlich finden bei Karl Dun 84
cker in seiner Theorie des produktiven Denkens gestaltpsychologische Prinzipien ihre Anwendung. Hierbei finden auch frühere Überlegungen der Produktionstheorie von Selz Eingang. Duncker geht es beim Denkvorgang um das Finden einer Problemlösung. Basierend auf der Methode der Selbstbeobachtung (lautes Denken) nimmt er sich verschiedener Problemstellungen an. Hierbei betont er den Funktionalwert (Güte der gefundenen Lösung), das heißt, inwieweit sich gefundene Lösungsansätze (z. B. die Berücksichtigung von Hindernissen) auf veränderte Umstände übertragen (transponieren) lassen. Bei der Lösungsfindung wendet der laut Denkende entweder eine Situationsanalyse (Was ist das konkrete Problem?) und/oder eine Zielanalyse (Was soll erreicht werden?) an. Dabei ist im Sinne der Gestaltpsychologie ganz entscheidend, was die Signalelemente (Hinweise auf die Problemlösung) sind und was die Gesamtstruktur des Problems ist. Ein Denkender kann sich auf ein Einzelelement fixieren, ohne das Gesamtgefüge des Problems zu erkennen. Dieses Problem der Fixierung oder der funktionalen Gebundenheit verhindert die Lösung von kreativen Aufgaben (z. B. das Neun-Punkte-Problem - Verbinden von allen Punkten mit vier geraden Linien in einem Strich). Um zu der deutlichsten Lösung zu gelangen (Prägnanzprinzip), spielt die Struktur der Problemsituation mit Signalelementen eine wichtige Rolle: Vollständigkeit (Bestimmungsreichtum der Signalelemente), Knappheit (Überflüssigkeit von Signalelementen), Richtigkeit (Eindeutigkeit des Signalelements) und Triftigkeit (Herausgehobenheit des Signalelements).
Rezeption Die traditionellen Denktheorien wurden maßgeblich sowohl theoretisch als auch aufgrund neuer empirischer Befunde erweitert. Innerhalb des Informationsverarbeitungsansatzes wird Denken als Problemlösen verstanden, um komplexe Probleme mit sukzessiven Denkoperationen zu lösen (-•Problemlösungstheorien). Transformationsprobleme (Turm von Hanoi) oder kybernetische Aufgaben (z. B. Leitung einer Uhrenfabrik) berücksichtigen u. a. die systemische Vernetzung von zahlreichen Einflussgrößen und definieren verschiedene Zielvorgaben (z.B. bei Dietrich Dörner). Innerhalb 85
der Intelligenzforschung wurde das schlussfolgernde Denken {reasoning} als eine wichtige Facette der kognitiven Leistungsfähigkeit angesehen (z.B. bei Louis Leon Thurstone). Joy Paul Guilford unterschied innerhalb seines Intelligenzmodells konvergentes und divergentes Denken, also reproduktives Denken (Anwendung von Analogie-Regeln auf ein Problem) und produktives Denken (Erfinden von neuen Regeln zur Lösung des Problems). Denktheorien betreffen jedoch auch das heuristische Urteilen. Derartige Urteilsheuristiken basieren auf der Logik und auf dem Problem fehlerhafter Analysen im Alltag. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Ereignisses aufgrund prototypischer Merkmale (Repräsentationsheuristik) oder der leichteren Zugänglichkeit von Gedächtnisinhalten (Verfixgbarkeitsheuristik) über- oder unterschätzt (z.B. Arnos Tversky und Daniel Kahneman). Gerd Gigerenzer (2007) betont den Einfluss der Intuition beim Denken - der Mensch urteilt unter emotionalen Bedingungen zumeist ökonomisch (-•Entscheidungstheorien). Literatur
Bourne, K. E., Ekstrand, B.R. & Dominowski, E. F. (1971). The psychology of thinking. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. Gigerenzer, G. (2007). Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des U hewussten und die Macht der Intuition. München: Bertelsmann Selz, O. (1924). Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Gei testätigkeit. Bonn: Cohen. Weiterführend
Funke, J. (2003). Problemlösendes Denken. Stuttgart: Kohlhammer UweWolfradt
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DIALOGMODELLE
Wichtige Vertreter/innen Unter einem Dialog versteht man ein Gespräch zwischen Partner/ innen mit der Intention, ein bestimmtes Ziel zu erreichen (z.B. die »Wahrheit« zu finden; Einigung zu erzielen; eine Person möglichst gut zu verstehen). In der vorliegenden Darstellung steht das Verstehen eines Gesprächspartners (z.B. eines/einer Klient/in oder Patient/in) durch den Dialog im Vordergrund. Pioniere des Dialogs im Dienste der Verständigung waren Martin Buber mit seinem Konzept der Ich-Du-Beziehung und der Zwischen-Menschlichkeit aus dem Jahre 1923 und Carl Rogers mit seinem Konzept der Zentrierung auf den Gesprächspartner aus dem Jahre 1942. Rogers wies in seiner Schrift Die nicht-direktive Beratung darauf hin, dass die nicht-direktive Vorgehensweise des Beraters einerseits durch das Überwiegen der Aktivität des Klienten und andererseits durch äußerste Zurückhaltung des Beraters gekennzeichnet sei. Es ist ausschließlich die Klientin, die den Fortgang der Beratung bestimmt, weshalb die Beratung oder auch die Therapie von Rogers als »klienit-bezogen« (in späteren Schriften: als »person-bezogen«) bezeichnet wurde (-•Personzentrierte Persönlichkeitstheorie).
Theorie Im Folgenden werden die wesentlichen Bausteine des dialogischen Verständnisses, so wie sie im Rahmen der Akademischen Psychologie und der Humanistischen Psychologie entwickelt wurden, angeführt: Dialogischer Dreischritt: Hans Hörmann (1976) schreibt in seinem grundlegenden Werk Meinen und Verstehen: »Der Erfolg, der Verstandenhaben kennzeichnet, kann >eigentlich< nur vom Sender der Mitteilung attestiert werden, z. B. indem er eine Äußerung des Hörers als Paraphrase seiner eigenen Mitteilung akzeptiert; ja, so habe ich es gemeint« (Hörmann, 1976, S.206). Hörmann versteht unter einer Paraphrase eine verdeutlichende Umschreibung von etwas Gesagtem (dem Interpretandum) mit anderen Worten. 87
Eine Paraphrase weicht vom Interpretandum möglichst wenig ab (minimale Interpretation). Beispielsweise folgt eine Therapeutin möglichst genau dem, was die Klientin verbalisiert (vor allem in emotionaler Hinsicht). Schließlich qualifiziert die Klientin, ob die Interpretation der Therapeutin mit dem von der Klientin Vorgebrachten übereinstimmt oder nicht. Demnach setzt sich die Interaktion zwischen Klientin und Therapeutin, der sogenannte Dreischritt, aus den folgenden drei Schritten zusammen: (i) Interpretandum des Klienten; (2) Interpretation des Therapeuten; (3) Qualifikation des Klienten. Dialogische Resonanz: Peter E Schmid entwickelte 2009 in der Fachzeitschrift PERSON unter Bezugnahme auf Buber und Rogers das Konzept der Dialogischen Resonanz. Mit diesem Konzept wird die Bezugnahme nicht einseitig auf nur eine Person reduziert wie beim Dialogischen Dreischritt. Die »Resonanz auf das Erleben beider in der Beziehung«, also der Klientin und der Therapeutin, kommt zum Zuge (ebd., S.27). Ähnlich wie der Klangkörper einer Gitarre durch Resonanz die Schwingungen der Saiten verstärkt und mit einem besonderen Klang einfärbt, gerät auch die Gesprächspsychotherapeutin quasi als Resonanzkörper der Klientin in Schwingung und wird infolgedessen mit ihrem emotionalen Beitrag unwillkürlich auch in das momentane Erleben der Klientin einbezogen. Die Therapeutin zentriert die Klientin und zugleich sich selbst (bzw. eigene emotionale Momente). Während bei der paraphrasierenden Wiedergabe im Sinne des Dreischritts noch ausschließlich auf die Klientin »gehört« wird, ist Schmids Konzept insofern intersubjektiv, als die Therapeutin auf die Klientin und zugleich auf sich selbst eingeht. Demnach ist die personale Resonanz immer Koresonanz, d. h. Resonanz auf das Erleben beider in der Beziehung. Kommunikatives Dreieck: Zum Dialog gehören nicht nur Vorgabe «W Wiedergabe, empathische Resonanz und personale Resonanz, sondern auch Ansprache und Antwort, die eigentliche Intersubjektivität. Der Dialog schließt immer Antworten auf Ansprachen ein, die die Kommunikation weiterfuhren. Es handelt sich um »Antworten«, insofern die »Ansprachen« häufig als explizite Fragen erscheinen. Ansprachen können aber auch ohne Frageform vorkommen und dennoch als Fragen oder entsprechende Ansprüche aufgefasst werden. Beim Kommunikativen Dreieck von Jenny und 88
Schär aus dem Jahre 2010 ist wesentlich, dass eine angesprochene Person jeweils die mit dem Interpretandum immer schon mitgegebene (oft aber nur implizite) Frage versteht und eine Antwort darauf gibt, der noch ein Kommentar (im Sinne persönlicher Zusatzbemerkungen zur Antwort) angefugt wird, um an diesen doch schon recht komplexen Beitrag schließlich noch eine neue Frage, eine sogenannte Fortsetzungsfrage, anzuhängen, womit das Wort an den ersten Sprecher zurückgegeben werden kann. Das kommunikative Dreieck wird durch die Fortsetzungsfrage abgeschlossen, die gleichzeitig die Einleitungsfrage fiir ein neues kommunikatives Dreieck bildet. Mit der damit weitergeführten Kommunikation wird dem Gegenüber erneut die Chance gegeben, sich zu äußern. Demnach ist hinsichtlich der Gesprächsgestaltung wesentlich, dass die Gesprächsteilnehmerin versteht, dass ihr Gegenüber das Thema vermutlich vor allem deshalb angeschnitten hat, weil es sich selbst dazu äußern möchte. Somit erzeugt oder erzwingt das kommunikative Dreieck wechselseitige Kommunikation. Eine der ersten Aufgaben einer Therapeutin im Dialog mit der Klientin ist, herauszufinden, was diese Kommunikation im Hier und Jetzt mit dem Gegenüber macht: ob eine Klientin der Therapeutin zuhört, die Gesprächspartnerin in ihre Monologe einbezieht, ihr antwortet etc. (-•Klinische Psychologie). Rezeption Die personzentrierten Dialogmodelle wurden in der Zeitschrift PERSON sowie in anderen Organen diverser Gesellschaften der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie behandelt. Galliker und Weimer (2006) haben den Dreischritt hinsichtlich der verbalen, nonverbalen und paralingualen Verständigung ausgearbeitet. Benesch (2011) hat eine Psychologie des Dialogs vorgelegt, in der auch die Rahmenbedingungen dialogischer Gesprächsführung und Anwendungsfelder des Dialogs behandelt werden.
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Literatur Benesch, M. (2011). Psychologie des Dialogs. Wien: Facultas. Hörmann, H. (1976). Meinen und Verstehen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Klein, M. (2011). Dialogisches Prinzip und Personzentrierter Ansatz. PERSON; jy, 138-149.
Weiterführend
Galliker, M. & Weimer, D. (2006). Psychologie der Verständigung Stuttgart: Kohlhammer. Margot Klein
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DISKURSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Diskurstheorie entstand in den 1960er Jahren in Frankreich im Kontext des Strukturalismus (-•Strukturalistische Entwicklungstheorie). Während der Psychoanalytiker Jacques Lacan das Unbewusste in der Struktur der Sprache und des Sprechens analysiert, geht der Philosoph Michel Foucault von einem System aus, das er »Discours« nennt. Sein theoretisch-epistemologischer Beitrag zur Diskurstheorie unterscheidet sich sowohl von den linguistischpragmatischen und semiotischen Analysen (-»Zeichentheorie der Sprache) sowie dem Ansatz der psychoanalytischen Gespräche (-• Psychoanalytische Beziehungstheorie) als auch von der Diskursethik Jürgen Habermas'. Diese setzt einen bestimmten Typ von Verständigungshandeln voraus, auf den sich die Sprecher mit kritisierbaren »Geltungsansprüchen« berufen. Der Gebrauch der »idealen Sprechsituation« ermöglicht es, einen normativen Diskurs zu entwerfen, in dem die Teilnehmer kommunizieren, um einen »Konsens« zu schaffen. Jean-Fran^ois Lyotard meint indes, dass es keinen allgemeinen, herrschaftsfreien Metadiskurs geben könne, vielmehr gehe es darum, welcher Diskurs sich im Konflikt behaupte. Für Foucault beschränkt sich der Diskurs nicht auf das Habermassche Argumentationsmodell und bezieht sich nicht auf das »denkende Subjekt«, sondern auf die gesellschaftlichen (Macht-) Verhältnisse, in denen er sich abspielt.
Theorie Mit Archäologie bezeichnet Foucault sowohl das Forschungsfeld als auch die Vorgehensweise. Die Archäologie beschreibt ein »Archiv«, ein bestimmtes Wissen, das in einer bestimmten Epoche und Gesellschaft existiert. In Wahnsinn und Gesellschaft stellt er ein Wissen über soziale Teilung dar, das Ende des 18. Jahrhunderts die Entstehung von Einschließungszentren ermöglicht habe. Dieses Wissen definiert Foucault als historisch-gesellschaftliche »Bedingungen der Möglichkeit von Kenntnissen, Institutionen und Praktiken«. 91
In Archäologie des Wissens spricht Foucault von Diskurs im Sinn einer diskursiven Formation. Dazu gehören Gegenstände; Äußerungsmodalitäten, Begriffe und thematische Entscheidungen (vgl. Foucault, 1981, S. 58). Mit »Formationsregeln« meint Foucault die »Existenzbedingungen« eines Diskurses, in dem die Aussagen auftauchen und zirkulieren. Mit der Archäologie versucht Foucault, Aussagen in ihrer »Regelmäßigkeit« zu beschreiben. Foucault bezeichnet Diskurs als eine Menge von sprachlichen Performanzen, die auf der Ebene der Aussagen miteinander verbunden sind (vgl. ebd., S.168). Die Aussage stelle weder eine Einheit noch eine Struktur dar, sie sei vielmehr »eine Funktion, die ein Gebiet von Strukturen und möglichen Einheiten durchkreuzt und sie mit konkreten Inhalten in der Zeit und im Raum erscheinen läßt« (ebd., S. 126f.). Sie lasse sich »in ihrer Auswirkung, in ihren Bedingungen, die sie und das Feld, in dem sie sich bemerkbar macht«, beschreiben (ebd., S. 127). Sie habe eine materielle Existenz, sie zirkuliere. So »ist sie gelehrig oder rebellisch gegenüber Interessen, tritt sie in die Ordnung der Infragestellungen und der Kämpfe ein, wird sie zum Thema der Aneignung oder der Rivalität« (ebd., S. 153). Die Diskursanalyse versucht, »die Aussage in der Enge und Besonderheit ihres Ereignisses zu erfassen« (ebd., S.43). Die »Bedingungen ihrer Existenz« und »ihre[r] Grenzen« müssten fixiert werden, um »ihre Korrelationen mit den anderen Aussagen« festzustellen. Dadurch könne man das, was sie ausschließen, aufzeigen (ebd.). Die Beschreibung der Aussagen ist weder transzendental noch anthropologisch, sondern historisch. Diskursanalyse fragt nach den gesagten Dingen in ihrer Materialität, sucht nach ihren »Spuren« und eventueller »Wiederverwendung«. »Von diesem Gesichtspunkt her kennt man keine verborgene Aussage: denn das, woran man sich wendet, ist die Evidenz der effektiven Sprache« (ebd., S. 159). Aussagen erscheinen als einzelne Ereignisse, die sich in der Wirklichkeit auswirken. In seinem Werk Die Ordnung des Diskurses spricht Foucault von Diskurs als »Ensemble diskursiver Ereignisse« (Foucault 1991, S.37). Das Ereignis ist »immer auf der Ebene der Materialität wirksam«. Es handelt sich nicht um »die Aufeinanderfolge der Augenblicke der Zeit und nicht um die Vielzahl der verschiedenen denkenden Subjekte«, sondern um »die Zäsuren, 92
die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen« (ebd.). Aussagen als Ereignisse zu behandeln bedeutet also, die unterschiedlichen Positionen und Funktionen, die das Subjekt in den diskursiven Praktiken eingenommen hat, zu betrachten. Sie werden in ihrer Funktionsweise analysiert: in ihrem Verhältnis zu anderen Äußerungen, Machtverhältnissen, gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen.
Rezeption Das wissenschaftliche Interesse an Diskurstheorie basiert auf Foucaults Erkenntnis, dass die Produktion von Diskursen stets an Machtverhältnisse gebunden ist. So sucht der semiotische Ansatz von Link (1999), Foucaults Ansätze mit einer Interdiskursanalyse zu kombinieren. Diese fragt nach den Reproduktionsmöglichkeiten von Diskurs-Komplexen wie z. B. »Normalität«. In seinen Arbeiten zur Geschichte des psychologischen Diskurses seit dem 19. Jahrhundert nimmt Bruder (2004) im Sinne Foucaults Bezug auf andere Diskurse wie den der Medizin und den philosophischen von Immanuel Kant bis zur Postmoderne. Der »Diskurs der Psychologie« sei an gesellschaftliche Praktiken und Institutionen einer bestimmten Epoche gebunden, die Formen von Subjektivität schaffen. Diese lasse sich durch das Sprechen erkennen. Lacan habe das »Sprechen des Subjekts« ins Zentrum gesellschaftstheoretischer Reflexionen gestellt, aber »die Psychoanalyse habe keinen Begriff der Macht« (Bruder, 2004, S.170). Solange die -*• Psychoanalyse die Machtverhältnisse verleugne, blieben gesellschaftliche Zwänge (z. B. zur Selbstbestimmung und -kontrolle) sowie soziale Ungleichheit versteckt. Die Macht sei der Ausgangspunkt des Diskurses und seine Funktion die Aufrechterhaltung der Zustimmung. Die Struktur des Diskurses stelle die »Machtpositionen« dar: die des »autorisierten Sprechers«, von der aus der Diskurs geführt werden dürfe. Im Sinne Foucaults ließe sich fragen: Wer kann sich den (wissenschaftlichen) Diskurs aneignen? Wer kann im Diskurs der Psychologie die »Subjekt-Funktion« erfüllen? (-• Subjektive Theorien) 93
Literatur Bruder, K.-J. (2004). Zustimmung zum Diskurs der Macht. In A. Bruder-Bezzel & K.-J. Bruder (Hrsg.), Kreativität und Determination (S. 170-193). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Foucault, M. (1981). Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1991). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Weiterführend Link, J. (1999). Diskursive Ereignisse, Diskurse, Interdiskurse. In H. Bublitz, Bührmann, A.D., Hanke, C. & Seier, A. (Hrsg.), Das Wuchern der Diskurse (S. 148-161). Frankfurt/M.: Campus. Carina Lopez Uribe
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EMOTIONSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Charles Darwin hat 1872 in seinem psychologischen Hauptwerk Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und bei den Thieren diverse Emotionen (u.a. Furcht, Wut) auf der Basis seiner Selektionstheorie behandelt. Phylogenetisch betrachtet, werden Emotionen mit der Anpassung der Organismen an die Umwelt geformt. Sie dienen der Erhaltung der Art sowie des individuellen Lebens. William James und Friedrich Lang vermuteten in den Jahren 1884 resp. 1885 in ihrer Ereignis-Körperreaktion-Emotions-Theorie (auch James-Langsche-Theorie genannt), dass Emotionen primär als körperliche Reaktionen auf Ereignisse registriert werden (vereinfacht ausgedrückt: »Man weint nicht, weil man traurig ist, sondern weil man weint, ist man traurig«) (-• Kognitiv-physiologische Theorie der Emotionen).
Theorien Die Emotionstheorien entwickelten sich von Darwin kommend (insbesondere Instinkttheorien) über die behavioristischen Ansätze bis hin zu den kognitivistischen Ansätzen. Evolutionäre Instinkt- und Emotionstheorien: Nach der von William McDougall 1908 vorgestellten Instinkttheorie basieren Emotionen auf Instinkten, worunter er spezifische Dispositionen bzw. Neigungen verstand, die im Verlauf der Naturgeschichte bei der Anpassung an die Umwelt durch die Selektion formiert worden sind. Diese Tendenzen lösen festgefügte, teilweise komplexe Verhaltensketten aus, die angeboren sind. Jeder Instinkt (z. B. Flucht) hat einen bestimmten Auslöser (z.B. ein besonderes Geräusch) und fuhrt zu einer bestimmten Emotion (Furcht); mithin zu einem Handlungsimpuls (Davonlaufen), wobei der Handlung eine biologische Funktion zukommt (Schutz des eigenen Lebens). Robert Plutchik (1993) betrachtete die Aktualgenese der Emotionen im Sinne eines beweglichen Modells bzw. Flussdiagramms mit den Schritten (1M5): (1) Wahrnehmung eines Ereignisses. (2) Bewer95
tung desselben hinsichdich Nützlichkeit oder Schädlichkeit für den Organismus. (3) Auslösung einer physiologischen Reaktion über das autonome Nervensystem, die sich gleichzeitig in einem Gefiihl (z. B. Furcht) auswirkt, das auch direkt über die Bewertung beeinflusst wird. (4) Handlungsimpuls (Flucht-Impuls) infolge physiologischer Reaktion und Gefühl. (5) Veranlassung der Handlung (Flucht) durch den Handlungsimpuls. Bei den Emotionen handelt es sich um komplexe Ketten von Reaktionen mit Rückmeldeschleifen, die stabilisierend wirken und einen Gleichgewichtszustand (wieder)herstellen (Homöostase des Verhaltens). Behavioristische Emotionstheorien: John Broadus Watson formu lierte 1919 in seinem Artikel »A schematic outline of the emotions« eine Theorie, nach der Emotionen intersubjektiv beobachtbare Reaktionsmuster darstellen. Sie werden durch bestimmte Umweltgegebenheiten bzw. Reizkomplexe ausgelöst. Die Basisemotionen (Wut, Furcht und Liebe) sind ungelernte, erbliche Reaktionsmuster, die tiefgreifende Veränderungen des gesamten Organismus umfassen. Hierzu gehören v. a. Veränderungen der Drüsensysteme und der viszeralen Systeme (d. h. die Eingeweide betreffender Systeme wie Lunge, Herz, Magen). Beispiel: Bei einem Kind wird Furcht durch laute Geräusche und den Verlust von Halt ausgelöst, was zu Reaktionen wie Auffahren des ganzen Körpers, Anhalten des Atems und Schreien fiihrt. Aufgrund der Basisemotionen werden auch komplexere Emotionen konstituiert; ein Lernprozess, der nach Watson durch bedingte Reflexe im Sinne der klassischen Konditionierung erfolgt. Nach der von Orval Hobart Möwrer 1939 erstmals publizierten neobehavioristischen Zwei-Faktoren-Theorie können nur erworbene Reiz-Reaktions-Verbindungen zu eigentlichen Emotionen fuhren. Der Vorgang setzt sich aus einer Kombination von zwei verschiedenen Konditionierungsarten zusammen: (1) Klassische Konditionierung: Ein Lebewesen flüchtet vor einem Schmerzreiz, indem es ein entsprechendes Warnsignal zu beachten lernt und so schließlich dem Schmerz rechtzeitig ausweicht. (2) Instrumentelle Konditionierung: Rechtzeitiges Vermeidungsverhalten wird durch Ausbleiben des Schmerzreizes verstärkt. Kulturhistorischer Ansatz der Regulation von Emotionen: Lew Vygotskij hat zwar in seinem 1934 veröffentlichten Sammelband Denken und Sprechen keine eigentliche Emotionstheorie vorgestellt, indes anhand verschiedener Sachverhalte aufgezeigt, dass die Spra96
che ein Mittel zur Regulation von Emotionen ist. Sein grundlegendes Konzept der Interiorisierung sprachlicher Verhaltensweisen in kognitive Tätigkeit wird über die sogenannte egozentrische Sprache vermittelt, die er im Unterschied zu Jean Piaget nicht als noch unzureichende Sozialisierung, sondern als noch nicht zureichende Individualisierung versteht. Je besser ein Kind sozial eingebunden und akzeptiert wird, desto mehr entwickelt sich seine Fähigkeit, Emotionen zu regulieren. Ontogenetisch betrachtet setzt sich die Emotionsregulierung nach dem -•Kulturhistorischen Ansatz wie folgt zusammen: (i) Sprachliche Fähigkeiten: Sprachliche Ressourcen bzw. eine elaborierte Sprache (u. a. großer Wortschatz) erlauben es im Prinzip, Emotionen (u. a. auch heftige wie Wut) zu verbalisieren und differenziert auszudrücken; mithin auch, an andere zu appellieren. (2) Sprachliche Selbststeuerung: Je weiter die Sprache entwickelt ist, desto mehr wird das eigene Verhalten durch »Vordenken« und auch »Nachdenken« gesteuert. (3) Kognitive Selbstimpulse: Durch Rückbezug auf die egozentrische Sprache kann im Moment eines Affektes dem Agieren Einhalt geboten werden. Der emotionale Vorgang wird mit selbstgegebenen und schließlich völlig interiorisierten »Hilfsreizen« reguliert, so dass die Stresssituation bewältigt werden kann. Zur Emotionsregulation Vygotskijs und anderer Psychologen gibt es inzwischen zahlreiche empirische Untersuchungen (vgl. u.a. Gross, 2007). In der modernen Entwicklungspsychologie und der Kognitiven Psychologie, die sich in den letzten Jahrzehnten auch stark mit Emotionen beschäftigt hat (-•Kognitive Emotionstheorien), ist mittlerweile auch die Regulation von Emotionen relevant (-*• Entwicklungstheorie der Emotionsregulation). Humanistische Emotionstheorien: Elliotts Prozess-Erlebnisorientierte Emotionstheorie aus dem Jahre 1999, die humanistisch geprägt ist (-•Humanistische Psychologie), beinhaltet sowohl Schemata wie auch Prozesse. Unter »emotionalen Schemata« werden implizite Organisationen von Erfahrungen höherer Ordnung verstanden, die unter der Voraussetzung ihrer Aktivierung expliziert werden. Ein Schema setzt sich aus folgenden Elementen zusammen: (1) Symbolische Elemente: Verbale und/oder visuelle Repräsentanzen, die den anderen Repräsentanzen des Schemas eine bestimmte Bedeutung verleihen. (2) Perzeptive Elemente: Situativ wahrgenommene Komponenten, die Erfahrungen der Person repräsentieren. 97
(3) Körperliche Elemente: Sie machen aufgrund unmittelbarer Körperempfindungen das emotionale Körperschema bewusst. (4) Motivationale Elemente: Aktiviert werden motivationale Repräsentanzen des Schemas in Form von Wünschen, Bedürfnissen oder Handlungsintentionen. Diese Elemente werden durch ein Zentrum des Schemas organisiert, das als sich konstituierende Einheit schließlich eine Emotion (z.B. Furcht) >ausmachtMotivationstheorien). Das Originalpapier zur Prospect Theory von Kahneman und Tversky (1979) wurde gemäß Social Science Citation Index bereits mehr als 9500 mal zitiert (Februar 2014), was die enorme Bedeutung dieser Theorie ebenso eindrucksvoll demonstriert wie die Tatsache, dass der Psychologe Daniel Kahneman 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Dass der kognitiv orientierten »behavioralen« Entscheidungsforschung zunehmend mehr Gewicht beigemessen wird, zeigt sich an der Gründung neuer spezialisierter Zeitschriften, wie im Jahre 2006 Judgment and Decision Makings 2010 Frontiers in Decision Neuroscience und 2013 Decision.
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Literatur Kahneman, D. &Tversky, A. (1979). Prospect theory: An analysis of decision under risk. Econometricay 47, 263-291. Payne, J. W., Bettman, J. R. & Johnson, E. J. (1993). The adaptive decision maker. New York, NY: Cambridge University Press. Weber, E. U. & Johnson, E. J. (2009). Mindful judgment and decision making. Annual Review ofPsychology, 60, 53-85.
Weiterführend Jungermann, H., Pfister, H.-R. & Fischer, K. (2010). Die Psychologie der Entscheidung: Eine Einfiihrung (3. Aufl.). Heidelberg: Springer. Arndt Bröder
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ENTWICKLUNGSTHEORIE DER EMOTIONSREGULATION
Wichtige Vertreter/innen Die Emotionsregulation (-> Emotionsheorien) bezieht sich auf Strategien, mit Emotionen umzugehen, die Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren und diese zu beeinflussen. Sigmund Freud beschrieb 1933 die Regulation von Emotionen zunächst als unbewussten Prozess, in dem Abwehrmechanismen wie Verdrängung und Projektion eine wichtige Rolle spielen (-• Psychoanalyse). Dieser psychoanalytische Ansatz wurde von seiner Tochter Anna Freud weiter differenziert. Einen empirischen Beleg für die Beeinflussung emotionaler Reaktionen durch kognitive Deutungsprozesse lieferten rund dreißig Jahre später Richard Lazarus und Kollegen (-• Coping): Beim Betrachten eines angsteinflößenden Films führte die Instruktion der kognitiven Distanzierung vom Inhalt des Films (»Das ist doch nur gespielt«) zu einer Reduktion der Intensität sowohl der selbstberichteten Emotionen als auch der physiologischen Reaktionen. Unter anderem diese Ergebnisse haben belegt, dass sich Emotionen durch bestimmte Strategien wie etwa die kognitive Neubewertung beeinflussen lassen.
Theorie Bei Säuglingen und Kleinkindern wird die Emotionsregulation von den Bezugspersonen (Eltern) übernommen; erst mit fortschreitendem Alter können Kinder ihre Emotionen zunehmend selbständig regulieren (-•Entwicklungstheorien). Es erfolgt ein Übergang von interpsychischer zu intrapsychischer Emotionsregulation (-•Kognitive Emotionstheorien). Bei der interpsychischen Emotionsregulation spielt die Beziehung des Kindes zu seiner Umwelt die entscheidende Rolle, da hier z. B. die Mutter bei der Regulation unterstützt oder im Falle des Säuglings das Erregungsniveau stellvertretend reguliert. Bei der intrapsychischen Emotionsregulation liegt das Haupt105
augenmerk auf der Entwicklung des Emotionsausdrucks, des Emotionswissens, des Emotionsverständnisses sowie der Moral. Nach Friedlmeier (1999) vollzieht sich der Wechsel von einer interpsychischen zu einer intrapsychischen Emotionsregulation zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr, wobei in diesem Zeitraum die Präsenz der Bezugsperson noch sehr wichtig ist. Erst ab etwa fünf Jahren lernt ein Kind, zunehmend ohne soziale Rückversicherung selbständig Emotionen zu regulieren. Das Emotionswissen und -Verständnis nimmt mit dem Alter nun stetig zu, was in immer vielfältigeren Regulationsstrategien resultiert. Laut Petermann und Wiedebusch (2008) ist das Emotionsverständnis von den Faktoren Alter, individuelles Entwicklungstempo, Sprachkompetenz und Bindungsverhalten abhängig. Als wichtigste Emotionsregulationsstrategien in der frühen Kindheit (Kleinkind- bis Vorschulalter) gelten: (1) interaktive Regulationsstrategien (Unterstützung durch Eltern oder Peers), (2) Aufmerksamkeitslenkung (Aufmerksamkeit umlenken auf anderen Reiz), (3) Selbstberuhigungsstrategien (u.a. Selbstgespräche), (4) Rückzug aus der emotionsauslösenden Situation (Wegkrabbeln oder Weglaufen), (5) Manipulation der emotionsauslösenden Situation (z.B. durch spielerische Aktivität), (6) kognitive Regulationsstrategien (u.a. Neubewertung), (7) externale Regulationsstrategien (u. a. körperliches Ausagieren), (8) Einhaltung von Darbietungsregeln beim Emotionsausdruck (erlebte Emotion im Ausdruck maskieren). Im Bereich der Emotionsregulation im Jugend- und Erwachsenenalter stellen die kognitive Neubewertung (reappraisal) und die Unterdrückung des Emotionsausdrucks (suppression) die bisher am häufigsten erforschten Regulationsstrategien dar. Die Forschung fokussiert häufig deren jeweilige Effektivität. Verschiedene Studien belegen eine gegenüber der Unterdrückung höhere Effektivität der kognitiven Neubewertung.
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Rezeption Die aktuelle psychologische Forschung belegt zunehmend Zusammenhänge zwischen dysfunktionaler Emotionsregulation und verschiedensten psychischen Störungen. Sowohl im Bereich der internalisierenden als auch im Bereich der externalisierenden Störungen scheint die Emotionsdysregulation eine entscheidende Rolle zu spielen. Somit ist Wissen über die Entwicklung der Emotionsregulation sowie über ihre Bedeutung im Kontext der Psychopathologie fiir Psychologie und Psychotherapie heutzutage bedeutender als je zuvor. Dies erklärt auch den immensen Anstieg der auf diesem Gebiet entstehenden (und notwendigen) Forschungsarbeiten. Gerade die Untersuchung der Effektivität verschiedener Emotionsregulationsstrategien ist von großem Interesse fiir die moderne Psychotherapie. Durch solche Studien erzielte Ergebnisse können die gezielte Anwendung (bzw. das Training oder das Erlernen) effektiver Regulationsstrategien im Rahmen der Behandlung psychischer Störungen ermöglichen (-*• Klinische Psychologie) und so das psychotherapeutische Behandlungsrepertoire erweitern. Literatur Friedlmeier, W. (1999). Emotionsregulation in der Kindheit. In W. Friedlmeier & M. Holodynski (Hrsg.), Emotionale Entwicklung (S. 197-218). Heidelberg: Spektrum. Lazarus, R. S., Opton, E. M., Nomikos, M. S. & Rankin, N. O. (1965). The principle of shortcircuiting of threat: Further evidence. Journal ofPersonality, 33, 622-635. Petermann, F. & Wiedebusch, S. (2008). Emotionale Kompetenz bei Kindern. Göttingen: Hogrefe. Weiterführend Gross, J. J. (2008). Emotion regulation. In M. Lewis, J. M. Haviland-Jones & L. Feldman Barrett (Eds.), Handbook of emotions, 3. Ed. (pp. 497-512). New York, NY: Guilford. Marc Schipper 107
ENTWICKLUNGSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Vertreter/innen der Entwicklungstheorien betrachten die menschliche Entwicklung aus unterschiedlichen Perspektiven und sehen dabei den Entwicklungsprozess von zahlreichen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst, was zur Bildung von vielseitigen Theorierichtungen gefuhrt hat. Bedeutende Vertreter/innen sind Sigmund Freud, William und Clara Stern, Oswald Kroh, Charlotte Bühler und Jean Piaget. Diese Wissenschaftler/innen betrachteten im Unterschied zu den lerntheoretisch orientierten die Entwicklung als ein Stufen- (oder Phasen-)Modell, das sich wie eine Treppe von unten nach oben aufbaut, wobei die Vorstellung vorherrscht, dass die höherwertige Entwicklung universell und irreversibel hinsichtlich der Qualität und Quantität emporsteigt. Entwicklung wurde in dieser Tradition in einzelnen Entwicklungsbereichen untersucht, so dass gesonderte Theorien zur Entwicklung der Motorik, der Sprache, der Intelligenz und der Emotion entstanden.
Theorien
Entwicklungstheorien versuchen, eine Erklärung für den intra» und interindividuellen Entwicklungsprozess von Erleben und Verhalten zu geben. Aufgrund der Vielseitigkeit der Einflussfaktoren auf die menschliche Entwicklung existiert in der Entwicklungspsychologie nicht »die« Theorie fiir die Erklärung der menschlichen Entwicklung, sondern es gibt unterschiedliche Theorie-Richtungen. Die Vertreter/innen der endogenen Entwicklungstheorien sind der Auffassung, dass die Entwicklung von innen, von der Anlage und vorhandenen inneren Strukturen gesteuert wird und sich durch Reifung konsolidiert. Sowohl Individuum als auch Umwelt sind im Entwicklungsgeschehen passiv. Auf der anderen Seite sehen die Vertreterinnen und Vertreter der exogenen Entwicklungstheorien den Einfluss der sozialen Umwelt als zentrale Kraft der menschlichen Entwicklung an. Hier sind vor allem die Lerntheorien angesiedelt. Der Mensch 108
entwickelt sich passiv gegenüber der aktiven Beeinflussung der Umwelt. Weitere Richtungen der Entwicklungstheorien bilden interaktionistische Theorien und die konstruktivistischen Theorien. Die interaktionistischen Entwicklungstheorien betrachten das Individuum und seine Umwelt als aktiv interagierende Instanzen im Entwicklungsprozess. Konstruktivistische Theorien betrachten das Individuum als aktiven Produzenten des Entwicklungsgeschehens. Hier wird die Umwelt mit berücksichtigt, aber nicht als bestimmend betrachtet. Der Mensch ist aktiv und setzt sich in Abhängigkeit von seinem Entwicklungsstand mit den Gegebenheiten seiner Umwelt auseinander (-•Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). Die Triebtheorie der Entwicklung von Freud begründete die psychoanalytische Theoriebildung (-»"Psychoanalyse). Sie stellt das Modell der psychosexuellen Entwicklung dar, die jede Person durchläuft. Die psychoanalytischen Entwicklungsphasen haben einen lebenslangen Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung des Individuums, sind Ausgangspunkt der Bildung von Neurosen und für die Entwicklung von potentiellen psychischen Störungen im Erwachsenenalter. Die Wirkung der psychoanalytischen Entwicklungstheorie ist in verschiedenen weiteren entwicklungspsychologischen Theorien als Fundament bis heute zu erkennen. Auch in der Psychiatrie und Psychotherapie ist das psychoanalytische Verständnis für die Entstehung von psychischen Störungen im Lebenslauf grundlegend. In diesem Kontext ist auch die -•Bindungstheorie, die in den Bereich der Humanistischen Psychologie überfuhrt, von Interesse. In dieser Theorie wird die Interaktion zwischen primärer Bezugsperson und Kind als Basis für die psychische Stabilität im Erwachsenenalter betrachtet. Erik H. Erikson baute seine Theorie der psychosozialen Entwicklung ebenfalls auf der psychoanalytischen Theorie auf, wobei er den Fokus vom Sexuellen auf das Soziale verlegte und Letzteres als >Triebinstanz< betrachtete. Erikson arbeitete mit einem Entwicklungsmodell, das sich an einer sukzessiven Abfolge von Phasen orientierte und in dieser Hinsicht vergleichbar mit dem Modell Freuds war. Jede Phase birgt indes einen Konflikt zwischen inneren Bestrebungen und äußeren sozialen Bedingungen. Nach dem Autor müssen diese Konflikte in jeder Entwicklungsphase bewältigt werden, damit die nächste Stufe erreicht werden kann. Erikson 109
ging von acht Entwicklungsphasen aus, die sich von der Geburt bis zum Tod auf die gesamte menschliche Entwicklung aufteilen. Die Phasen werden mit polarisierenden Begriffen charakterisiert. In der ersten Phase (den ersten anderthalb Jahren ab der Geburt) geht es um den Konflikt Vertrauen versus Misstrauen. Der Säugling z. B. schreit, um seine soziale Umwelt auf seine inneren Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Werden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, kann Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten bzw. in die soziale Umwelt aufkommen. Als letzte Entwicklungsphase, im hohen Erwachsenenalter, bezeichnet Erikson den Konflikt von Ich-Integrität versus Verzweiflung und kennzeichnet das Gefühl der Zufriedenheit und der Ganzheit als Ich-Integrität (z.B. »Obwohl ich nicht erreicht habe, was ich mir so sehr gewünscht habe, bin ich dennoch mit meinem Leben insgesamt zufrieden«). Als Verzweiflung gilt das Gefühl der Vergeblichkeit und ein hohes Maß an Enttäuschung (z. B. »Warum habe ich all das getan, es hat mir nichts gebracht«). Nach den Lerntheorien unterliegt Entwicklung einer Funktion des Lernens. Hierbei spielt der Umwelt- bzw. soziale Einfluss die entscheidende Rolle, was durch die Position John B. Watsons (1913) besonders deutlich wurde. Entwicklung ist das Ergebnis von unterschiedlichen Konditionierungen, die zu spezifischen Erfahrungen führen. Das gegenwärtige Konzept des lebenslangen Lernens kann hier angesiedelt werden, da diese Entwicklungstheorie das Lernen als eine unbegrenzte entwicklungsbezogene Fähigkeit ansieht. Besonders Albert Bandura berücksichtigte in seiner Social learning analysis die Interaktion zwischen Organismus und Umwelt, d.h. das soziale Lernen, wobei das Lernen neuer Handlungen durch die Beobachtung anderer erfolgt (Lernen am Modell). Die Lerntheoretiker gehören zu den wenigen entwicklungspsychologischen Theoretikern, die kein Phasen- oder Stufenmodell in der Entwicklung zugrunde legen. In der Kognitionspsychologie steht die Entwicklungstheorie Jean Piagets (2003) im Mittelpunkt. Der Mensch legt in seinem Entwicklungsverlauf sein Verständnis der Welt selbst fest, indem er aktiv die Richtung seiner Denkprozesse anstößt und erweitert. Die kognitive Entwicklungstheorie Piagets geht von einem Modell der Entwicklung nach Phasen oder Stadien aus, die untergliedert sind und mit der Geburt anfangen. Wissen über die Welt wird im ganzen Lebenslauf aufgrund dieser kognitiven Entwicklungsprozesse 110
aufgebaut und erweitert. Piagets Entwicklungstheorie wurde von Lawrence Kohlberg (1996) weitergeführt und insbesondere hinsichtlich des moralischen Urteilens spezifiziert. Rezeption Entwicklung wird gegenwärtig aus einer multikausalen, multidimensionalen und multidirektionalen Sicht betrachtet. Berücksichtigt werden Raum, Individuum und Entwicklungskontext als prozesshaft aufeinander wirkend. Stufen oder Phasenmodelle sind veraltete Konzepte, da die unterschiedlichen Entwicklungsleitungen strukturell asynchron verlaufen und nicht Schritt fur Schritt altersbezogen. Außerdem ist hier kritisch anzumerken, dass die unidimensionale Betrachtung der menschlichen Entwicklung (z. B. Phasenmodell der kognitiven, der moralischen, der psychosexuellen Entwicklung) die holistische Sicht der Entwicklung in der Kombination mit mehreren Entwicklungsaspekten, die sich gleichzeitig entwickeln, vernachlässigt (ein Kind verfeinert seine Motorik, differenziert seine Sprache und erweitert seine Beziehungsfähigkeit zu verschiedenen Personen seiner Umwelt gleichzeitig). Die Berücksichtigung sozialer Aspekte und der Fähigkeit, im ganzen Entwicklungsverlauf zu lernen, lässt die Lerntheorien im Kontext der Entwicklungstheorien gegenwärtig erneut in den Vordergrund treten. Kritisch zu sehen ist die äußerst seltene Betrachtung der Entwicklung aus kulturhistorischer und transkultureller Sicht. Lloyd DeMause vertrat 2005 die These, dass Entwicklung nicht getrennt von einem psychohistorischen Verständnis betrachtet werden kann. In seine psychohistorische Perspektive inkludierte er historische und politische Aspekte als entwicklungsbeeinflussende psychische Faktoren. Literatur Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Piaget, J. (2003). Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Weinheim: Beltz. in
Watson, J. B. (1913). Psychology as the behaviorist views. Psychological Review, 20,158-177.
Weiterfuhrend
Flammer, A. (2002). Entwicklungstheorien: Psychologische Theori der menschlichen Entwicklung. Bern: Huber. Chirly dos Santos-Stubbe
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ERLERNTE HILFLOSIGKEIT
Wichtige Vertreter/innen Ausgehend von Studien von Jay M. Weiss aus dem Jahr 1972 wurde das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit vor allem von Martin E. P. Seligman propagiert und mittels verhaltenspsychologischer Experimente (vor allem an Tieren) belegt. Allerdings konnten die Ergebnisse auch bei Studien mit Menschen bestätigt werden (Hiroto & Seligman, 1975). In späteren Arbeiten wurde die Theorie auch attributionstheoretisch fundiert (-•Attributionstheorie). In gegenwärtigen Lehrbuchdarstellungen wird die Erlernte Hilflosigkeit zumeist mit dem Konzept der Selbstwirksamkeit kontrastiert. Vor allem in der Klinischen Psychologie und Psychotherapie hat das Konzept als eine Form kognitiver Verzerrung im Rahmen des depressiven Formenkreises einen Widerhall gefunden.
Theorie Nach Seligmans Arbeit Helplessness aus dem Jahr 1975 ist Erlernte Hilflosigkeit der psychische Zustand eines Individuums, das bemerkt, dass das Auftreten bedrohlicher Ereignisse unkontrollierbar ist. Unkontrollierbar bedeutet, dass eine bedrohliche Situation nicht vom Individuum vermieden bzw. verändert werden kann. Es kommt der Eindruck auf, bestimmten Konsequenzen hilflos gegenüberzustehen, die - subjektiv oder objektiv - unabhängig von den Verhaltenstendenzen des Individuums auftreten. Diese Art von Hilflosigkeit entsteht also, wenn das Individuum keinen Zusammenhang zwischen eigenem Handeln und den Konsequenzen seines Handelns in der Umwelt wahrnimmt. Sie ist ein motivationaler, kognitiver und emotionaler Zustand, der auf der wiederholten Erfahrung von Unkontrollierbarkeit beruht. Das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit wurde ursprünglich im lern theoretischen Paradigma entwickelt (-•Lerntheorien). Ein klassisches Experiment von Weiss aus dem Jahr 1972 zeigte, dass Ratten, denen man jede Kontrollmöglichkeit und Vorhersehbarkeit bei der Verabreichung von Elektroschocks entzieht, häufiger 113
Magengeschwüre entwickeln als solche, bei denen Elektroschocks vorhersehbar (durch ein Signal) und kontrollierbar (z. B. durch Bewegung im Laufrad) sind. Martin E. P. Seligman hat drei Jahre später das Untersuchungsdesign von Weiss aufgegriffen und weitergeführt. Eine erste Gruppe von Versuchstieren (nun Hunde) erhielt in einem Vortraining Elektroschocks, die durch Drücken eines Hebels oder Überspringen einer Barriere vermieden werden konnten (Kontrollmöglichkeit). Die zweite Gruppe erhielt ein gleichartiges Vortraining mit dem Unterschied, dass hier die Reaktionen nicht kontrollierbar waren (unbeeinflussbare Verabreichung der Elektroschocks). Eine dritte Gruppe (Kontrollgruppe) erhielt kein Vortraining. In der zweiten Phase des Experiments nahmen alle drei Gruppen an einem Fluchtvermeidungstraining teil, bei dem sie lernen sollten, auf die Ankündigung eines Schocks hin in die andere Hälfte des Käfigs zu springen. Dabei zeigte sich, dass die Tiere der ersten und der dritten Gruppe schon nach wenigen Versuchsdurchgängen dieses Bewältigungsverhalten gelernt hatten, während die Tiere der zweiten Gruppe aufgaben und passiv die Schmerzreize über sich ergehen ließen. Offensichtlich hat die Erfahrung von Nichtkontrollierbarkeit im Vortraining die Tiere der zweiten Gruppe hilflos werden lassen. Ein strukturell ähnliches Experiment von Hiroto und Seligman (1975) bestätigte die Befunde bei Menschen. Eine Gruppe von Studierenden erhielt hierbei eine lösbare, die andere Gruppe eine unlösbare Aufgabe (z. B. ein Puzzle). Außerdem gab es eine Kontrollgruppe, bei der die Probanden eine andere Tätigkeit ausführten. In einer zweiten Phase erhielten nun alle Versuchsteilnehmer ein lösbares Puzzle, und es wurde nun die Anzahl der zusammengesetzten Puzzlestücke erhoben. Hiroto und Seligman ermittelten, dass die Probanden, die zuvor stetig Misserfolg gehabt hatten, gegenüber den Versuchspersonen der beiden übrigen Gruppen gravierend schlechter abschnitten. Rezeption Bereits Seligman hatte das Konzept der Unkontrollierbarkeit auf klinische Fälle angewendet und versucht, die Entstehung von Hilflosigkeit und Depression damit zu erklären. Auch wenn dieses Vorgehen Früchte getragen hat, kann man nicht davon ausgehen, däss 114
es sämtliche Erscheinungsformen depressiver Störungen zu erklären vermag. Vielmehr wird eine bestimmte Facette oder Variante erklärt, die Abramson, Metalsky und Elloy (1989) als Hoffnungslosigkeitsdepression bezeichnen. Hoffnungslosigkeit meint hier, dass man einerseits das künftige Auftreten unerwünschter Ereignisse als wahrscheinlich und das künftige Auftreten erwünschter Ereignisse als unwahrscheinlich ansieht und andererseits erwartet, über keine Handlungsmöglichkeiten zu verfugen, diese Auftretenswahrscheinlichkeiten zu ändern. Des Weiteren spielt das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit in den Pädagogisch-psychologischen Theorien eine bedeutsame Rolle. So ergibt sich aus einem ungünstigen Zusammenspiel von u.a. Attributionen und Selbstwirksamkeit eine Misserfolg akzeptierende Motivationslage (-• Motivationstheorien). Verstärkt durch Vermeidungsstrategien, erleben Schüler immer wieder ein Versagen und erkennen zunehmend, dass sie nicht mehr die nötigen Kompetenzen für einen Handlungserfolg aufweisen. Selbstwertgefiihl und Selbstwirksamkeit schwinden, das Versagen wird auf mangelnde Fähigkeiten zurückgeführt, die als nicht veränderbar eingeschätzt werden. Die Folge ist Apathie, eine erlernte Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Literatur Abramson, L. Y., Seligman, M. E. P. & Teasdale, J. D. (1978). Learned helplessness in humans: Critique and reformulation. Journal of Abnormal Psychology, #7, 49-74. Hiroto, D. S. & Seligman, M. E. P. (1975). Generality of learned helplessness in man. Journal ofPersonality and Social Psychology, 31, 311-327. Seligman, M.E.P. (1975). Helplessness: On depression, development and death. San Francisco, CA: Freeman. Weiterfuhrend Weiner, B. (2009). Motivationspsychologie. Weinheim: Beltz. Mike Lüdmann 115
EVOLUTIONSTHEORIE UND EVOLUTIONÄRE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen
Die Evolutionstheorie wurde von Charles Darwin begründet. In seinem 1859 publizierten Hauptwerk On the origin of species by means of natural selection, or the preservation offavoured races the struggle for life postulierte er unter anderem die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen. Neben Darwin haben Alfred Rüssel Wallace, Herbert Spencer, Thomas Henry Huxley und Ernst Haeckel wichtige Beiträge zur Entwicklung und Verbreitung der Evolutionstheorie geleistet. Anders als die Darwinsche Evolutionstheorie und ihre Weiterentwicklungen im 20. Jahrhundert gilt die Evolutionstheorie Jean-Baptiste de Lamarcks heute als widerlegt.
Theorie
Indem die Evolutionstheorie die Fülle von Lebenserscheinungen über einen Prozess der Abstammung erklärt, erweist sie sich als historische Wissenschaft, die ursprünglich auf die belebte Natur beschränkt war (-•Biologische Psychologie), heute aber oft auch zur Erklärung des Wandels von gesellschaftlichen, kulturellen und psychischen Phänomenen herangezogen wird. Darwin postulierte als Mechanismen der (biologischen) Evolution die Variation von Lebensformen und deren Selektion durch die Umwelt (natürliche Auslese). Lebewesen, die im »Kampf ums Dasein« erfolgreicher sind als andere, haben mehr Nachkommen und können sich dadurch weiter verbreiten als weniger erfolgreiche. Die Grundlagen der Vererbung waren Darwin noch nicht bekannt. Auch nachdem Gregor Mendel 1866 die Ergebnisse seiner Kreuzungsversuche an Erbsen veröffentlicht hatte, dauerte es noch mehrere Jahrzehnte, bis Darwins Selektionstheorie mit den Erkenntnissen von Genetik, Populationsbiologie und Paläontologie zur sogenannten Synthetischen Evolutionstheorie zusammengeführ wurde. Deren Grundprinzipien sind: (1) Prinzip der Variation: Die 116
Individuen einer Spezies unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Physiologie, ihrer Morphologie und ihres Verhaltens. (2) Prinzip der Heredität: Die Nachkommen ähneln im Durchschnitt den Eltern mehr als irgendwelchen anderen Exemplaren der Gattung, das heißt, ein Teil der Variation zwischen den Individuen wird durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen. (3) Prinzip der differentiellen Fitness: Die Individuen einer Spezies unterscheiden sich in der Zahl ihrer Nachkommen. (4) Prinzip der Überproduktion von Nachkommen: Es werden mehr Nachkommen geboren, als Überlebens- bzw. reproduktionsfähig sind. Keines dieser Prinzipien impliziert einen genetischen Reduktionismus (-• Biologische Psychologie). Zwar zahlt die Evolution ihre Gewinne gleichsam in Form von Nachkommen aus, doch die Anlage zum biologischen Erfolg liegt nicht ausschließlich in den Genen. Die Evolutionstheorie beruht auf einem prozessualen Verständnis von Wirklichkeit. Veränderung wird nicht wie in der biblischen Schöpfungslehre oder im Kreationismus auf einen festen Ursprung (Gott) zurückgeführt, sondern aus der Dynamik der Lebensprozesse heraus erklärt. Als Prozess, der Zeit in Anspruch nimmt, ist die Evolution weder vorherbestimmt noch vorhersehbar. Da die evolutionären Grundmechanismen der Variation und der Selektion unabhängig voneinander wirken, unterliegen evolutionäre Veränderungen einem nicht reduzierbaren Moment von Zufall. Zwar macht es den Eindruck, als würden im Zuge der Evolution komplexere Lebensformen entstehen, jedoch lässt sich daraus nicht ableiten, dass die Evolution auf ein Ziel ausgerichtet ist. Gegen die Evolutionstheorie Darwins und ihre Weiterentwicklung zur Synthetischen Evolutionstheorie wird eingewandt, dass beliebige Modifikationen von organischen Strukturen durch Variation und Selektion nicht möglich seien, da Lebewesen gewissen Konstruktionsprinzipien genügen müssten. Komplexe Merkmale wie ein Organ lassen sich auch nicht unbegrenzt optimieren, da sie in Strukturen eingebunden sind, die als Ganzes funktionieren müssen, soll das Lebewesen überleben. Wenn Organismen außerdem als Systeme betrachtet werden, die ihre Organisation aus eigener Kraft aufrechterhalten, ist davon auszugehen, dass sie der Umwelt nicht passiv ausgeliefert sind, sondern diese durch ihr Verhalten aktiv beeinflussen. 117
Rezeption Darwins Kernaussagen über die Abstammung der Lebewesen werden heute in weiten Kreisen nicht mehr als Hypothesen, sondern als Tatsachen anerkannt (-•Theorien der Psychologie und Empirie). Weniger einmütig wird die Aufnahme evolutionstheoretischer Konzepte in anderen Disziplinen wie der Soziologie, Ethnologie, Philosophie (vor allem Ethik und Erkenntnistheorie) und Psychologie beurteilt. Fragwürdig ist insbesondere die zum Teil falsche Übertragung Darwinscher Prinzipien auf die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Sozialdarwinismus erfolgte (-•Theorie-Praxis-Transfer). In der Psychologie wandten sich Autoren wie Francis Galton, William James, Stanley Hall, James Mark Baldwin, William McDougall und Edward Thorndike schon früh Darwins Werk zu, das sie allerdings oft nur selektiv rezipierten. Während der Hegemonie des Behaviorismus (-•Lerntheorien) geriet die Evolutionstheorie weitgehend in Vergessenheit. Erst ab den 1980er Jahren erfolgte im Rahmen der Evolutionären Psychologie eine erneute Zuwendung zu Darwin, wobei Vorläufer in der Humanethologie (Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt) und in der Soziobiologie (Edward O. Wilson) zu nennen sind. Die Evolutionäre Psychologie (auch Evolutionspsychologie genannt) untersucht die Strukturen und Mechanismen, die menschlichem Verhalten als Folge der jahrtausendelangen Anpassung unserer Vorfahren an die Lebensbedingungen im Pleistozän (2,5 Millionen bis 10 000 Jahre vor unserer Zeit) zugrunde liegen. Obwohl natürliche Selektion beim heutigen Menschen kaum noch stattfindet, da es ihm aufgrund seiner kulturellen Entwicklung (die vor rund 50 000 Jahren einsetzte) gelungen ist, sich den eliminierenden Effekten der Umwelt zu entziehen, ist anzunehmen, dass die Verhaltensdeterminanten, über die wir als Ergebnis früherer Selektionsprozesse verfügen, noch heute wirksam sind. Allerdings erweist sich die Rekonstruktion der Umwelt, in der unsere Vorfahren als Jäger und Sammler lebten, als schwierig, genauso wie sich Aussagen über ihre kognitiven und motivationalen Dispositionen oft als spekulativ herausstellen.
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Literatur Darwin, C. (1859/2007). Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Stuttgart: Reclam. Dupre, J. (2005). Darwins Vermächtnis: Die Bedeutung der Evolution fur die Gegenwart des Menschen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Mayr, E. (1984). Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt: Vielfalt, Evolution und Vererbung. Berlin: Springer.
Weiterfuhrend Dunbar, R. I.M. & Barrett, L. (2007). The Oxford handbook ofevolutionary psychology. Oxford, UK: Oxford University Press. Walter Herzog
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EXISTENTIALISTISCHE UND DASEINSANALYTISCHE ANSÄTZE
Wichtige Vertreter/innen Der in der häuslichen Atmosphäre christlichen Schuldbewusstseins aufgewachsene Soren Aabye Kierkegaard (1813-1855) gilt als wichtigster Pionier des Existentialismus in seiner psychologischen und philosophischen Ausprägung. Ludwig Binswanger (1881-1966), der sich bis 1927, dem Erscheinungsjahr von Martin Heideggers Sein und Zeit, noch vorwiegend an der Phänomenologie Edmund Husserls (1859-1938) sowie an Sigmund Freud (1856-1939) orientierte, dem er bis an dessen Lebensende freundschaftlich verbunden blieb (vgl. Binswanger, 2014), arbeitete die Daseinsanalyse fur die Psychopathologie der Psychosen und Neurosen aus. Damit eröffnete sich für ihn die Möglichkeit; krankhafte Phänomene als Existentialien zu verstehen. Weitere Repräsentanten Existentieller Psycho- ' logie und Psychotherapie sind Medard Boss, Rollo May, Viktor Frankl, Victor Emil, Roland Kuhn und Irvin Yalom.
Theorien
Subjektivistisch-individualistische Existenzdeutung: Im Jahre 18 stellte Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode die Frage, was der Mensch sei, auf die er antwortete: das Selbst. Darunter verstand er ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält; eine Bestimmung, die nicht nur intellektuell, sondern auch emotional abgründig ist. Wenn der Mensch sich selbst vergesse, nicht er selbst sein wolle oder sich bewusst werde, weshalb er nicht er selbst sein könne, verliere er jegliche Zuversicht und verzweifelt schließlich. Kierkegaard war der erste Philosoph, der zwischen gegenstandsbezogener Furcht und nackter Angst unterschied. Er stellte die Furcht vor einer Sache der Angst gegenüber, die weder unmittelbar verständlich noch lokalisierbar ist: der Angst vor dem Nichts. Fundamentalontologie: Die Fundamentalontologie (aus lat. fundamentum, Grundlage, griech. on, Sein, und logos, Lehre) ist 120
die Lehre von der Grundlage des Seins. Indem Martin Heidegger (1889-1976) von Objektivierungen zum »In-der-Welt-Sein« des Menschen gelangte, vollzog er einen Paradigmenwechsel von der Phänomenologie Husserls zur Existentialontologie. Nach Heidegger sind die Menschen zunächst noch in der Alltäglichkeit des Daseins verloren; in der »Durchschnittlichkeit« des anonymen »Man«, welche das Selbst-Sein zu beherrschen sucht. Die Gefahr besteht, dass jeder wie der Andere wird im Sinne der Formel: »Jeder ist der Andere und Keiner er selbst« (Heidegger 1927/2006, S. 128). Das »Miteinander« löse das eigene Dasein in die Seinsart der anderen auf, so dass das eigentliche Sein nicht mehr als vorhanden begriffen werden könne (-> Phänomenologische Psychologie). Existenzerhellung: Karl Jaspers (1883-1969), der in Heidelberg und Basel lehrte und mit Heidegger bis zu Beginn des Nationalsozialismus befreundet war, zielte in seiner 1932 in Berlin erschienenen Philosophie II auf Existenzerhellung, die allenfalls in Grenzsituationen nahegelegt wird. Unter einer Grenzsituation verstand er eine eindringliche Erfahrung, die ein Mensch in Auseinandersetzung mit einer fiir ihn existentiell bedeutsamen Lebenssituation macht. Das Selbst eines Menschen sei im Verhältnis mit jenem anderer Menschen zu betrachten: »Wie Bewußtsein nicht ohne Gegenstand ist, so ist Selbstbewußtsein nicht ohne anderes Selbstbewußtsein. Ein einziges isoliertes Bewußtsein wäre ohne Mitteilung, ohne Frage und Antwort, daher ohne S*7&rtbewußtsein« (Jaspers, 1932/1973, S. 55; Hervorhebung i. Orig.). Kommunikationspartner wachsen in ihrem Selbst erst durch gegenseitiges Anerkennen. Die Kommunikation werde unterminiert, wenn sich die Gesprächspartner als feste »Seinssubstanzen« betrachteten. Der »Andere« ist bei Jaspers nicht ausschließlich der Mitmensch innerhalb der eigenen Gemeinschaft wie bei Heidegger, sondern er ist auch der andere, der aus der Fremde kommt. Humanistischer Existentialismus: Jean-Paul Sartre vertrat 1946 in seiner Schrift Der Existentialismus ist ein Humanismus die These, dass die Existenz der Essenz vorausgehe. Der Mensch sei nicht definierbar. Er werde so sein, wie er sich entscheiden und realisieren werde. Indem der Mensch sich selbst wähle, wähle er auch andere Menschen und umgekehrt. Auch fur seine Versäumnisse zu handeln sei er verantwortlich. Damit muss der zur Freiheit verurteilte Mensch für sein gesamtes Leben die Verantwortung übernehmen 121
(und entsprechend auch der Patient in der Therapie bei der Revision seines bisherigen Lebens und bei seinen neuen Entscheidungen). Solange eine Person vor ihrer Freiheit fliehe, lebe sie nicht authentisch, sondern »in Unwahrheit« (mauvaise foi). Christlicher Existentialismus: Nach dem französischen Philosophen Gabriel Marcel (1889-1973) können Personen sich kommunikativ öffnen und sich gegenseitig bereichern durch ihre Gegenwärtigkeit, die als solche zwar nicht begriffen, wohl aber erfahren werden kann. Gegenwärtigkeit setze nichtobjektivierendes Verhalten sowie zweckfreies Verhalten der Interaktionspartner voraus. Wenn indes über einen Menschen eine egozentrische Erwägung Macht ausübe, schließe sie ihn von anderen Menschen ab; zugleich verdecke er sich die eigene Erfahrung, denn dieselbe sei mit der Erfahrung anderer real verbunden. Die Seinsdichte nehme in dem Ausmaß zu, wie das Ego dezentralisiert werde. Daseinsanalytischer Ansatz: Ludwig Binswanger (1881-1966) thematisierte in seinen 1947 publizierten Vorträgen undAufiätzen das Verhältnis von Therapeut und Patient. Der Daseinsanalytiker sieht im Patienten vor allem den Daseinspartner, dem er so gut wie möglich beizustehen versucht. Das Verbindende zwischen beiden Partnern fasst Binswanger als »Miteinandersein in der Welt« auf. Das Symptom eines Patienten ist ein Ausdrucksmittel seiner existentiellen Situation und als Abwandlung des üblichen In-der-Welt-seins zu verstehen. Eine Psychotherapie auf daseinsanalytischer Basis lässt den Patienten interaktiv erfahren, inwiefern er die allgemeine Struktur des Menschseins im Laufe seines Lebens individuell ausgestaltet hat. Beispielsweise kann er sich, wie der Baumeister Solness von Henrik Ibsen, in eine »ätherische Phantasiewelt« verstiegen haben, was einem Therapeuten nahelegt, ihn auf den Boden der Wirklichkeit zurückzubegleiten. Psychosomatische Medizin: Medard Boss verdeutlichte 1957 in seinem Buch Psychoanalyse und Daseinsanalytik, dass in der Exis tenzontologie der Leib zusammen mit seinen sogenannten animalischen Aspekten, seinen vegetativen und hormonalen Einrichtungen, als menschlicher Leib betrachtet wird, der als solcher in die intersubjektive und überindividuelle Existenz des Menschen involviert ist. Beispielsweise lege Asthma nahe, die Angst vor dem Ersticken-Müssen sowie dem Steckenbleiben-Müssen der Atemschwingungen als Verleiblichung einer besonderen Existenzweise 122
in einer mit unerträglichen Reizen übersättigten Welt zu interpretieren. Durch Begegnung im Sinne des Mit-Seins mit anderen finde der Patient den Weg aus den Einschränkungen seines bisherigen Daseins. Existentielle Psychotherapie: Nach Irvin D. Yalom sucht der existenziell orientierte Therapeut einen dynamischen Zugang zum Patienten und konzentriert sich auf Gegebenheiten, die in dessen Existenz verwurzelt sind. Das Bewusstsein über die letzten Dinge (insbesondere den Tod) fuhrt zu großen Ängsten und in der Folge zur Abwehr derselben. Mit der Verleugnung des Todes verlagern sich die Ängste auf gegenstandsbezogene Befürchtungen, was Yalom als »Verkleidung der Todesangst« versteht; gleichzeitig schrumpfe das Lebensgefühl. »Tod und Leben sind interdependent: Obwohl die Physikalität des Todes uns zerstört, rettet uns die Idee des Todes« (vgl. Yalom 1990/2010, S. 58; Hervorhebung von Yalom). Yalom berücksichtigt in seiner therapeutischen Arbeit (u.a. Gruppentherapie mit Krebskranken), dass Individuen sich selbst über Gruppen aufrechterhalten können.
Rezeption
Existentielle und daseinsanalytische Ansätze weisen einige Gemeinsamkeiten mit der humanistisch geprägten Psychologie und insbesondere mit dem in den USA und auch im deutschsprachigen Raum verbreiteten Personzentrierten gesprächspsychotherapeutischen Ansatz auf (vgl. Galliker, 2011). Daseinsanalytiker machen jedoch im Unterschied zu den Gesprächspsychotherapeuten auch inhaltliche Vorgaben. So interessiert sich Yalom vor allem iur Themenbereiche wie Todesfurcht, Verantwortung, Isolation und Sinnlosigkeit. Auf diese Weise hinterlässt der stärker in der europäischen Philosophie wurzelnde existentielle Ansatz einen tieferen und oft auch pessimistischeren Eindruck als die durch den amerikanischen Pragmatismus geprägte, eher optimistische -•Humanistische Psychologie.
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Literatur
Binswanger, L. (1956/2014). Erinnerungen an Sigmund Freud. Tübingen: Francke. Heidegger, M. (1927/2006). Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer. Yalom, I.D. (1990/2010). Existenzielle Psychotherapie. Bergisch Gladbach: EHP.
Weiterfuhrend Galliker, M. (2011). Existenzphilosophie und Personzentrierter Ansatz. PERSON; IJ, 126-137. Mark Galliker
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FELDTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Wolfgang Köhler (1887-1967) hat den Begriff des Feldes in die Wahrnehmungstheorie eingeführt; als Felder betrachtete er (phänomenologisch) das erlebte Wahrnehmungsbild, (psychophysiologisch) die mit der Wahrnehmung einhergehenden Hirnprozesse sowie (physikalisch) die in der Wahrnehmung abgebildete Wirklichkeit (-•Widerspiegelungstheorie). Anders als Köhler hat Kurt Lewin (1890-1947) das Individuum in seinem Lebensraum stets als individuell erlebtes Feld konzipiert; es sei nur in der Wahrnehmung oder der Vorstellung der Betroffenen verwirklicht. Psychologisch ergiebig sei daher nur die phänomenologische Analyse, nicht die physikalische Analyse des realen Umfeldes und ebenso wenig die psychophysiologische Analyse begleitender nervöser Prozesse. Lewin hat seine Feldtheorie zunächst angewandt in Untersuchungen zu Handlungen in Leistungs- und Spielsituationen sowie zur Persönlichkeit und Entwicklung von Individuen, später in Studien zur Einstellung und zum Verhalten von Individuen und Gruppen in verschiedenen sozialen Situationen und kulturellen Zusammenhängen.
Theorie Der Begriff des Feldes, wie er innerhalb der Wissenschaft mit Aufkommen der Moderne bestimmt wurde, stammt aus der Physik (-•Wissenschaftstheorie). Er bezeichnet ein räumlich bestimmbares Ganzes (z.B. Magnetfeld, Gravitationsfeld), dessen Zustände sich nicht aus den materiellen Eigenschaften seiner Teile ergeben, sondern aus den wechselseitigen Beziehungen der Teile; die Zustände des Feldes sind ihrerseits als Kräfte zu beschreiben (z.B. Anziehungskraft). Nach dem Vorbild der modernen Physik sollten auch die Geistes- und Kulturwissenschaften nach Gefiigen von Beziehungen suchen, forderte der neukantianische Philosoph Ernst Cassirer (1874-1945). An der modernen Naturphilosophie ausgerichtet, suchte Köh125
ler in ganzheitlich aufzufassenden Wahrnehmungserlebnissen (z. B. geometrischen Figuren, Melodien) Wirkkräfte zu ermitteln, wie sie aus deren Einzelmerkmalen (z. B. Farben, Tönen) nicht erklärbar sind. Er nannte die Kräfte »Gestalttendenzen«; als ihre Wirkungen deutete er das Entstehen »guter Gestalten« (z. B. erkennbar an der Bildung durchgehender Linien, an Abrundungen von Konturen und überhaupt an der Gliederung des Wahrnehmungsfeldes nach Figur und Grund). Das Wirken von Gestalttendenzen nahm Köhler bereits im Nervensystem an (z. B. bei der Ausbreitung von elektrischen Feldern an der Hirnrinde); auch in der Natur sah er Anzeichen fiir Gestalttendenzen (z.B. bei der Ausbreitung von Wellen in Flüssigkeiten). Ebenfalls im Sinne Cassirers hat Lewin als Lebensraum die Gesamtheit der fiir das Verhalten und das Denken eines Individuums maßgeblichen Teile von dessen Umwelt analysiert; Lebensraum und Individuum seien durch wechselseitige Beziehungen zu einem Feld verbunden (z.B. bestünde eine Wechselwirkung zwischen Bedürfnissen des Individuums und dem Aufforderungscharakter von Umweltgegebenheiten). Zur Analyse des Lebensraums entwarf Lewin eine Reihe von Begriffen wie Regionen (z.B. Lernen und Spielen), Lokomotionen (z.B. Übergang von Lernen zu Spielen), Barrieren (z.B. Verbote), Anspruchsniveau (z.B. das Streben nach Bestleistung) und Realitätsebene, d.h. Angepasstheit der erlebten Welt an die reale Welt (z. B. peinliches Beachten von Vorschriften oder Freizügigkeit einer Fantasiewelt). Im Feld wirksame Kräfte wurden als Vektoren unterschiedlicher Stärke und Richtung dargestellt; damit wurde die Dynamik von Handlung und Entwicklung zum zentralen Thema der Lewinschen Feldtheorie (vor allem Konflikt, Frustration, Spannung bei unerledigten Aufgaben, Regression in der kindlichen Entwicklung). Die feldtheoretische Betrachtung erwies sich schließlich auch als fruchtbar fiir die Behandlung sozialer Fragen (z.B. Minoritätenprobleme, autoritäre und demokratische Führung, Kohäsion und Konformität in Gruppen, Einstellung und Einstellungsänderung) (-• Sozialpsychologische Theorien).
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Rezeption Die Feldtheorien Köhlers und Lewins sowie die von ihnen angeregten (meist experimentellen) Untersuchungen gelten als vorbildliche Beiträge zur modernen Psychologie; sie gehören zu den Standardinhalten psychologischer Lehrbücher. Zahlreiche Forschungsarbeiten und Studientexte behandeln insbesondere Köhlers Ansatz unter der Bezeichnung Gestalttheorie. Für Lewins Ansatz ist auch die Bezeichnung Topologische Psychologie gebräuchlich. Das Engagement, mit dem Lewin (unterstützt von einer schnell wachsenden Zahl von Mitarbeitern und Schülern) seine Feldtheorie auf anhaltend aktuelle soziale Probleme anwandte und dabei (auch unter den Namen Aktionsforschung und Gruppendynamik) Modelle fiir eine praxisorientierte Forschung erprobte, die als Ergebnis wirkungsvolle Problemlösungen hervorbringen sollte, hat ihn zu einer Leitfigur von Sozialforschern werden lassen.
Literatur Cassirer, E. (1910/2000). Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Gesammelte Werke. Bd. 6. Hrsg. von B. Recki. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Köhler, W. (1920). Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Braunschweig: Vieweg. Lewin, K. (2012). Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. (2. Aufl.) Bern: Huber.
Weiterfuhrend Trempala, J., Pepitone, A. & Raven, B. H. (Eds.). (2006). Lewinian Psychology. Bydgoszcz, Poland: Kazimierz Wielki University Press. Wolfgang Schönpflug
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FEMINISTISCHE THEORIEN IN DER PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen
Feministische Theorien in der Psychologie stehen in engem Kontakt mit politischen Bewegungen und haben sich im Zuge der Artikulation politischer Ziele wie Gleichberechtigung der Geschlechter oder Abschaffung von Sexismus entwickelt. Auch wenn einzelne Werke einer Psychologie der Frau bereits während der ersten Frauenbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen, institutionalisierten sich feministische Psychologien schwerpunktmäßig im Kontext der zweiten Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren in den USA, Großbritannien und Kanada. So wurden die Society for the Psychology of Women in de American Psychological Association (APA) 1973, die Psychology Women Section in der British Psychological Society 1987 gegründ Als feministisch orientierte Zeitschriften sind u. a. aufzuzählen: Sex Roles (seit 1975), Psychology of Women Quarterly (seit 1977), Wom & Therapy (seit 1982) und Feminism & Psychology (seit 1991). Im deutschsprachigen Raum konnten sich feministische Psychologien bislang bis auf einzelne Beiträge, u. a. im Rahmen der Kritischen Psychologie, Kulturpsychologie, Psychotherapieforschung und Sprachforschung, nicht etablieren. Auch aktuell entwickeln sich feministische Psychologien weiter. Ein Beispiel ist das 2011 gegründete Internet-Archiv Psychologys Feminist Voices. Feministische Psychologien waren - wie die Frauenbewegung selbst - von Anfang an heterogene Projekte, die verschiedene Voraussetzungen, Standpunkte und Zielsetzungen vereinen. Dies zeigt sich an der Verwendung unterschiedlicher Bezeichnungen wie Psychologie der Frau, Feministische Psychologie oder Queer-feministis Psychologie. Streitfragen sind beispielsweise das Verhältnis zur Gay and Lesbian Psychology, zur Männerforschung und die Verwendung der binären Geschlechterkategorie in der Forschung. Der Vielfalt entsprechend ist auch die Liste wichtiger Vertreter/innen lang, hier seien exemplarisch genannt: Judith Bardwick, Sandra Bern, Jessica Benjamin, Erica Burman, Nancy Chodorow, Mary Crawford, Alice Eagly, Mary Gergen, Carol Gilligan, Rachel Hare-Mustin, Frigga Haug, Peter Hegarty, Janet Hyde, Luce Irigaray, Celia Kitzinger, 128
Jeanne Marecek, Margaret Matlin, Deborah Prentice, Rhoda linger und Sue Wilkinson. Theorie Feministische Psychologien teilen keine theoretische Orientierung, aber eine gemeinsame kritische Perspektive: Sie problematisieren strukturelle Hierarchien zwischen Geschlechtern und heben deren Machtverflechtungen sowie intersektionalen Verknüpfungen mit weiteren Differenzdimensionen (wie ethnische Zugehörigkeit und Klasse) hervor. Sie begegnen psychologischen Theorien auf zweierlei Weise: Erstens nutzen sie diese, um Geschlechterfragen zu untersuchen. Zweitens betrachten sie psychologische Theorien selbst in kritischer Perspektive und weisen auf Androzentrismus, Heterozentrismus oder Geschlechterinsensitivität hin. Einige Vertreter/innen verwerfen die Psychologie auch gänzlich als relevanten wissenschaftlichen Rahmen für feministische Fragestellungen. Als Strukturierung der unterschiedlichen feministischen Psychologien bietet sich weniger eine Aufteilung nach Theorien als nach Forschungsprogrammen an, die sich im Hinblick auf wissenschaftstheoretische Grundlagen, Methoden, Forschungsthemen und politische Positionen voneinander unterscheiden. An anderer Stelle haben wir (Sieben & Scholz, 2012) fiinf Ansätze differenziert: (1) die. sogenannte Psychologie der Frau, die sich der Erforschung psychologischer Phänomene bei Frauen widmet und an der Unterrepräsentation von »Frauenthemen« in der Psychologie kritisch ansetzt. Themen sind beispielsweise Schwangerschaft, Sexualität, psychische Erkrankungen oder Berufskarrieren von Frauen; (2) die Forschung zu psychologischen Geschlechterunterschieden und -gemeinsamkeiten, die sich im Rahmen gängiger methodischer Standards der Psychologie um eine elaborierte empirische Erforschung von Unterschieden zwischen Männern und Frauen bemüht. Als Maßnahmen zur Zurückdrängung stereotyper Überbetonungen von Geschlechterunterschieden schlagen die Vertreterinnen und Vertreter u.a. Meta-Analysen, Berechnungen von Effektstärken, Publikationen von Befunden zu Gemeinsamkeiten, gezielte Suche nach Gemeinsamkeiten und die Weiterentwicklung von theoretischen Erklärungsansätzen vor; 129
(3) Bereiche der sozialpsychologischen Kognitionsforschung, die Einblick in kognitive Mechanismen der Geschlechterkonstruktion bieten. Zentrale Konzepte aus diesem Forschungsbereich sind Stereotyp, selbsterfiillende Prophezeiung und psychologischer Essentialismus, Diskriminierung (-•Sprachliche Diskriminierung); (4) an den Geistes- und Sozialwissenschaften orientierte sozialkonstruktionistische, dekonstruktivistische und diskursanalytische Ansätze (—• Diskurstheorie), die sich insbesondere mit den konstruktiven, »wirklichkeitsschaffenden« Wirkungen psychologischer Theorien auseinandersetzen und auf eine Veränderung gängiger Diskurse hinarbeiten; (5) die queere Psychologie, die sich schwerpunktmäßig mit Abweichungen von den Normen der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität auseinandersetzt und dementsprechend vor allem über Homo-, Hetero- und Bisexualität sowie zu Transmenschen und Intersexuellen arbeitet. Nicht in allen Forschungsprogrammen wurden feministische Theorien im engeren Sinne entwickelt. Auf zwei besonders gut ausgearbeitete Theorien sei hier hingewiesen. Erstens wurde zur Erklärung von Geschlechterunterschieden und -gemeinsamkeiten von Alice Eagly die Social Role Theory entwickelt, die mittlerweile auf einer breiten empirischen Basis steht und insbesondere als Alternative zu evolutionspsychologischen Ansätzen fungiert. Zweitens wurden intensive theoretische Arbeiten im Bereich der -> Psychoanalyse getätigt. Diese lassen sich zum Teil der Psychologie der Frau zuordnen, zum Teil aber auch den sozialkonstruktionistischen Ansätzen (-• Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). Hinzuweisen ist zuletzt auf die interdisziplinäre Ausrichtung feministischer Psychologien: Häufig ist der Ubergang zwischen psychologischen, geisteswissenschaftlichen Theorien (-»• Geisteswissenschaftliche Psychologie) und sozialwissenschaftlichen Theorien (-* Sozialwissenschaftlicher Ansatz der Psychologie) fließend.
Rezeption Eine umfassende wissenschaftliche Etablierung wie etwa im Fall der Gender Studies in den Sozialwissenschaften hat die feministische Psychologie bisher nicht erlebt. Bis heute gibt es innerhalb der 130
Psychologie Vorbehalte gegenüber politisch motivierten, kritischen Wissenschaften. Auch antifeministische Positionen werden in psychologischen Theorien artikuliert, insbesondere im Bereich der Evolutionspsychologie bzw. -»Evolutionstheorie (siehe beispielsweise David Buss' Arbeiten zu Partnerwahlstrategien von Männern und Frauen). Dennoch haben die verschiedenen feministischen Forschungsprogramme bis heute Bestand und haben in den letzten Jahrzehnten psychologische Forschung und Praxis erfolgreich beeinflusst. Hier seien nur einige Beispiele genannt: Die Arbeiten zu Geschlechterunterschieden und -gemeinsamkeiten haben sich durch den Einbezug von Meta-Analysen und Effektstärken massiv verbessert. Für Testverfahren, insbesondere Intelligenztests, gelten mittlerweile hohe Standards der Geschlechterfairness. Die Erkenntnisse der sozialpsychologischen Kognitionsforschung prägen unter anderem Antidiskriminierungsprogramme. In den Manuskriptrichtlinien der APA wird seit 1977 das generische Maskulinum verboten, in der aktuellen Auflage wird zusätzlich eine erhöhte Sensibilität gegenüber impliziten Bedeutungen eingefordert, z.B. sollte der Ausdruck opposite sex nicht mehr verwendet werden, weil er eine größere Verschiedenheit der Geschlechter impliziere, als sich empirisch belegen lasse (im Gegensatz zur APA fordert die DGfP in ihren Richtlinien keine geschlechtergerechte Sprache ein). Der Psychologie der Frau ist es u. a. zu verdanken, dass es mittlerweile gezielte Bildungs- und Unterstützungsangebote ftir Frauen in Führungspositionen gibt. Auch die umfangreiche Beachtung frauenspezifischer psychischer Erkrankungsformen geht auf diese Tradition zurück. Heute werden feministische Perspektiven besonders intensiv im Rahmen sogenannter LGBTIQ-Psychologies diskutiert (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Inter and Queer Psychologies). Literatur Gergen, M. (2001). Feminist reconstructions in psychology: Narrative, gender and performance. Thousand Oaks, CA: Sage. Maccoby, E. & Jacklin, C. (1974). The psychology of sex differences. Stanford, CA: Stanford University Press. 131
Sieben, A. & Scholz, J. (2012). (Queer-)Feministische Psychologien Gießen: Psychosozial-Verlag.
Weiterfuhrend
Clarke, V., Ellis, S. J., Peel, E. & Riggs, D. W. (2010). Lesbian, gay bisexual, trans & queer psychology: An introduction. Cambridg UK: Cambridge University Press. Julia Scholz und Anna Sieben
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FÜHRUNGSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Kurt T. Lewin differenzierte demokratische, autoritäre und Laissezfaire-Führung. Beeinflusst durch seine Arbeiten wendeten sich die Ohio-Gruppe (um Ralph M. Stogdill, Carroll L. Shartle, John Hemphill) und die Michigan-Gruppe (um Rensis Likert, Daniel Katz, Robert L. Kahn) den verhaltensorientierten Führungstheorien zu. Robert J. House und James MacGregor Burns brachten das Konzept des Charismas in die Führungsforschung ein. Bernard M. Bass entwickelte das Full Range ofLeadership Model> die empirisch am besten belegte Führungstheorie. Theorie Führungstheorien gehen davon aus, dass aus einer bewussten, zielbezogenen Einflussnahme von Führungspersonen auf die Geführten positive Konsequenzen für Individuen (z. B. Arbeitszufriedenheit), Teams (z.B. Innovationsklima), Organisationen (z.B. Profitabilität) und die Gesellschaft (z.B. Fortschritt) resultieren (-•Organisationspsychologische Theorien). Die wichtigsten Führungstheorien lassen sich in sechs Theoriestränge gliedern, die nachfolgend kurz erläutert und anhand ausgewählter Theorien veranschaulicht werden (eine detaillierte Darstellung bei: Brodbeck, Maier & Frey, 2002). Personalistische Theorien: In der frühen Führungsforschung galten stabile Merkmale einer Person als zentraler Erfolgsfaktor (great man theories). Die Verbindung von Persönlichkeitstheorien und Führungserfolg ist aktuell wieder populär. Erfolgreiche Führungskräfte zeichnen sich den Ubersichtsarbeiten von Timothy A. Judge und Kollegen zufolge durch Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrung, emotionale Stabilität und Intelligenz aus. Verhaltensorientierte Theorien: Aus Studien an der Ohio University resultierten zwei Kategorien von Verhaltensweisen, die effektive von ineffektiven Führungskräften unterscheiden: Mitarbeiterorientierung (consideration), wobei die Führungskraft ihre Geführten 133
unterstützt und ihre Bedürfnisse berücksichtigt, sowie Aufgabenorientierung {initiating structure), wobei die Führungskraft ihr Verhalten an Aufgabenerfiillung und Zielerreichung ausrichtet. Timothy A. Judge, Ronald F. Piccolo und Remus Ilies untersuchten die Konsequenzen dieser Verhaltensweisen: Während Mitarbeiterorientierung Zufriedenheit und Motivation der Geführten mehr fördert als Aufgabenorientierung, sind beide Dimensionen für die Leistung von Führungskräften, Teams und Organisationen relevant. Kontingenztheorien: Um der Komplexität menschlichen Verhaltens gerecht zu werden, spezifizieren Kontingenztheorien, wie Personenmerkmale und Verhaltensweisen von Führungskräften zusammenwirken. Das Kontingenzmodell der Führung nach Fred E. Fiedler nimmt drei Situationsmerkmale an, die die Kontrollmöglichkeiten der Führungskraft beeinflussen: die Qualität der Beziehung zwischen Führungskraft und Geführten, die Positionsmacht der Führungskraft und die Struktur der Aufgaben. Aus der Kombination dieser Faktoren leitet sich ab, ob mitarbeiter- bzw. aufgabenorientierte Führung in der Situation erfolgreich ist. Werteorientierte Führungstheorien: Werteorientierte Führungskräfte zeichnen sich aus durch aufrichtiges Interesse und Fürsorge fiir die Belange der von ihnen Geführten, genuin moralische Werte, die ihrem Verhalten zugrunde liegen, sowie eine bewusste Übernahme ihrer Vorbildfunktion. Infolge von Skandalen in Unternehmen erfahren gerade werteorientierte Theorien (u. a. transformationale, authentische, ethische Führung; eine Ubersicht bei: Braun & Peus, 2014) aktuell viel Aufmerksamkeit. Das Prinzipienmodell ethikorientierter Führung von Frey und Kollegen (z. B. Frey, Nikitopoulos, Peus, Weisweiler & Kastenmüller, 2010) beruht auf dem Ideal einer werteorientierten Führungskraft, die ihr Handeln an genuin moralischen Werten und hohen Leistungsstandards ausrichtet. Basierend auf psychologischen Theorien, postuliert das Modell zwölf Prinzipien, darunter Sinn und Visionen, Partizipation, Zielklarheit, Feedback und Wertschätzung. Die Prinzipien verbinden Leistung und Exzellenz mit humanistischen Grundideen und fördern die intrinsische Motivation. Macht-/Einflusstheorien: Führung und Macht sind nicht gleichzusetzen. Obgleich gute Führungskräfte ihren Einfluss durch Macht ausüben können, genügt das Innehaben von Macht für gute 134
Führung nicht. Führungskräfte üben John R. P. French und Bertram Raven zufolge Macht durch Belohnung, Bestrafung, Legitimation, Expertise und Identifikation aus. Charisma ist eine Form der Einflussnahme durch symbolisches, visionäres und inspirierendes Handeln. Negative Führungsansätze: Wenn Geführte von ihrer Führungskraft wiederholt in einer Art behandelt werden, die von ihnen als feindselig oder behindernd wahrgenommen wird, sinken Arbeitsund Lebenszufriedenheit, und die Arbeitsleistung leidet. Dies zeigte eine meta-analytische Untersuchung, die 2013 von Birgit Schyns und Jan Schilling veröffentlicht wurde. Diese »dunkle Seite der Führung« ist auch gekennzeichnet durch Persönlichkeitsmerkmale der Führungskraft wie Narzissmus, Dominanz und Machiavellismus. Rezeption Neben den Personenmerkmalen der Führungskraft tritt immer mehr die Interaktion zwischen Führungskraft und Geführten in den Vordergrund (—• Interaktionsbasierte Theorien der Face-to Kommunikation). Die besondere Stärke der werteorientierten Führungstheorien liegt in der Betonung der Verantwortlichkeit einer Führungskraft: im Hinblick auf vorbildhaftes, moralisches Handeln. Entsprechend lassen sich Empfehlungen fur die Führungskräfiteauswahl und -entwicklung ableiten. Führungskräfte sollten nicht nur nach ihrer fachlichen Kompetenz beurteilt und geschult werden. Denn zu kompetenter Führung gehört neben Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung insbesondere die Werteorientierung der Führungskraft. Literatur Braun, S. & Peus, C. (2014). Wertschöpfung durch Werte? Vom Nutzen ethikorientierter Führung. PERSONALquarterly, 1/2014, 28-33. Brodbeck, F. C., Maier, G. W. & Frey, D. (2002). Führungstheorien. In D. Frey & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie. 135
Bd. II: Gruppen, Interaktions- und Lerntheorien (2. Aufl., S.329365). Bern: Huber. Frey, D., Nikitopoulos, A., Peus, C., Weisweiler S. & Kastenmüller, A. (2010). Unternehmenserfolg durch ethikorientierte Unternehmens- und Mitarbeiterfiihrung. In U. Meier & B. Sill (Hrsg.), Führung. Macht. Sinn (S. 637-656). Regensburg: Pustet. Weiterfuhrend Yukl, G. (2012). Leadership in organizations. Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall. Susanne Braun und Dieter Frey
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GANZHEITSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Ganzheit war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein sehr unterschiedlich verwendeter Begriff, in der Psychologie wie auch in anderen Disziplinen (z.B. Biologie, Politik). In der Psychologie wurde Ganzheit sowohl in -•Wahrnehmungstheorien und Persönlichkeitstheorien als auch in Theorien zur menschlichen Entwicklung mit erkenntnistheoretischen Überlegungen benutzt (Wolfradt, 2013). Ganzheit war ein zentraler Begriff in wahrnehmungstheoretischen Untersuchungen der Gestaltpsychologie der sogenannten Berliner Schule (-•Gestalttheorie). Im Rahmen persönlichkeitspsychologischer Ansätze verwendeten diesen Begriff u. a. William Stern, Jan Christiaan Smuth und Alfred Adler (-• Individualpsychologie). Pierre Janet integrierte diesen Begriff, bezogen auf Persönlichkeitsaspekte, in die Emotionsforschung (-•Emotionstheorien). Eine andere Ausrichtung stellt die Verwendung von Ganzheit in einer kollektivistischen Theorie dar: Dieser widmeten sich neben Felix Krueger besonders auch Friedrich Sander und Albert Wellek, die Mikroaspekten der Strukturtheorie Kruegers als einer genetischen Ganzheitspsychologie nachgingen. Sander führte dazu zunächst auf dem Kongress fiir experimentelle Psychologie 1927 basierend auf Wahrnehmungsexperimenten den Begriff Aktualgenese ein, der das aktuelle Werden einer Ganzheit im entwickelten Bewusstsein bezeichnet und den Prozess von diffusen Vorgestalten hin zu einer Endgestalt als sogenanntes gegliedert wahrgenommenes Ganzes beschrieb. Innerhalb des Kreises um Krueger orientierte sich neben diesem auch Hans Volkelt an den biologischen Grundlagen der Entwicklung. So wurden psychische Erlebnisweisen mit organischen Funktionsweisen gleichgesetzt und in ihren angeborenen wie erworbenen Anlagen als ein dispositionell geeintes Ganzes betrachtet.
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Theorie Infolge der zwei unterschiedlichen Linien der Persönlichkeitspsychologie und einer sozialen Entwicklungspsychologie wie bei Krueger lässt sich weder ein einheitliches Verständnis bzw. eine einheitliche Theorie einer Ganzheitspsychologie beschreiben, noch kann man terminologisch eindeutig von einer Ganzheitspsychologie sprechen. Der Terminus ist mehrdeutig und lässt sich nur in seinem jeweiligen Bezugsrahmen erschließen. Es liegen inzwischen auch vielfältige Untersuchungen der einzelnen Ansätze vor, welche diese fiir sich oder in Verbindung untereinander betrachten. Besonders kontrovers und kritisch muss jedoch der kollektive Ganzheitsbegriff Kruegers diskutiert werden. Dieser wurde von Krueger seit 1913 in seiner neuen Ausrichtung der Psychologie als einer genetischen Theorie der Zivilisation (genetic theory of civilization) verwendet. Somit verfolgte Krueger nach seinen eigenen Worten auch keine Stmkturpsychologie (die Krueger eher Eduard Spranger zuschrieb), sondern eine Sttvikxmtheorie, in der er biotheoretische ebenso wie seelische Aspekte vereint sah. Eine Disposition zur Ganzheit sollte demnach auch (völker)spezifische Werte und Wertungen fiir die soziale und kulturelle Entwicklung in sich tragen. Er beabsichtigte, eine Geschichte der Menschheitsentwicklung bzw. -fortentwicklung zu schreiben (the progress of mankind), wie die New York Times 1912 schrieb. Krueger betonte 1911 die dazu notwendige Integration der ethnologischen Methode in die Psychologie, arbeitete aber die Einseitigkeiten bzw. Gefahren dieses Ansatzes nicht heraus, sondern breitete seinen Theorieansatz — oft verdeckt - auf politische Aspekte aus (Krueger, 1932). So bezeichnete Krueger seine Lehre auch als »soziale Entwicklungspsychologie« und »genetische Kulturpsychologie«. Damit verließ er das von ihm viele Jahre lang intensiv bearbeitete Gebiet der experimentellen Psychologie. Methodisch handelte es sich bei Kruegers Arbeiten um einen Ansatz, der sich durch Reziprozität, d. h. durch Rückbezüglichkeit auf Ansätze und Ergebnisse anderer Disziplinen oder Gesellschaftsfelder, auszeichnete und auch ethnozentristische Züge aufwies, weshalb in diesem Zusammenhang sozialdarwinistische Züge in Kruegers Lehrgebäude erkannt wurden (Guski-Leinwand, 2014). Hiermit lässt sich dessen Indienstnahme fiir politische Zielsetzungen erklären, wie sie im Nationalsozialis138
mus unter dem Stichwort »Ganzheitsstaat« geschehen ist, auch befördert aus Kreisen der Psychologie. Rezeption Jüngere Arbeiten zeigen, dass verschiedene Aspekte aus ganzheitspsychologischen Arbeiten bis in die heutige Zeit Anerkennung und weitere Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden haben (Diriwächter, 2004). Dabei handelt es sich jedoch besonders um Ansätze der Persönlichkeitspsychologie. Eine erweiterte Rezeption erfährt der Ganzheitsbegriff in der heutigen Evolutionstheorie und Evolutionären Psychologie: Hier werden genetische Interaktionen mit Bewusstseins- und Entwicklungsaspekten untersucht, welche die Mannigfaltigkeit der Einflüsse und Umgebungsbedingungen sowie die Bedeutung fiir die Gehirnentwicklung über die Jahrtausende einbeziehen. Die heutige Orientierung liegt dabei auf der Developmental System Theory (DST) unter der Hauptfragestellung der Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung. Verhalten wird dabei nicht als isoliertes Ereignis oder in eine festgelegte Richtung gehend, sondern stets in Abhängigkeit zu anderen und anderem gesehen. Literatur Diriwächter, R. (Ed.). (2004). Ganzheitspsychologie & otherforms of holism. From past tofuture, 5 (1). Worcester/MA: Glark University Press. Krueger, F. (1932). Das Problem der Ganzheit. Berlin: Junker & Dünnhaupt. Wolfradt, U. (2013). Der Einfluss des Entwicklungsgedankens nach Herbert Spencer auf Psychologie und Soziologie. In G. Jüttemann (Hrsg.), Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Auf dem Weg zu einem integrativen Ansatz (S. 81-92). Lengerich: Pabst. Weiterfuhrend Guski-Leinwand, S. (2014). Felix Krueger und seine Ziele in der Psychologie - Ein Blick zurück an den Anfang. In W. Mack, 139
K.-H. Renner, H.-E. Lück & U. Wolfradt (Hrsg.), Behaviorismus und Erkenntnistheorie im psychologisch-historischen Kont (S. 197-213). (Reihe »Beiträge zur Geschichte der Psychologie«, Bd. 27) Frankfurt/M.: Lang. Susanne Guski-Leinwand
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GEDÄCHTNISTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Mit dem Aufkommen der Kognitiven Psychologie rückte das Gedächtnis in das Zentrum umfangreicher Forschungsbemühungen (kennzeichnend für das behavioristische Forschungsparadigma waren -•Lerntheorien). In den 1960er Jahren häuften sich Befunde, die dafür sprachen, dass kurzfristigen Erinnerungen ein anderes System zugrunde liegt als längerfristigen Gedächtnisleistungen. Die Trennung zwischen einem Kurzzeit- und einem Langzeitspeicher ist Bestandteil des von Richard Atkinson und Richard Shiffrin (1968) publizierten Gedächtnismodells, das von den Modellen, die ebenfalls diese Unterscheidung treffen, am einflussreichsten war. Später aber brachten experimentelle Befunde diese Modelle in Schwierigkeiten. Eine Reaktion darauf war 1974, den Kurzzeitspeicher (KZS) als Arbeitsgedächtnis aufzufassen und in verschiedene Komponenten zu zerlegen. Endel Tulving hat 1985 den Langzeitspeicher (LZS) in verschiedene Komponenten aufgeteilt. Insbesondere im Bereich des semantischen Gedächtnisses sind einige Theorien entwickelt worden, von denen im Folgenden die Theorie von Joseph W. Alba und Lynn Hasher aus dem Jahr 1983 kurz behandelt wird. Die folgende Darstellung fokussiert auf die psychologische Gedächtnisforschung. Theorien Theorien im Bereich des Gedächtnisses werden oftmals auch Modelle genannt. Für die Trennung von KZS und LZS sprachen u. a. Befunde aus der Amnesieforschung, denen zufolge bei einer organischen Amnesie zwar Kurzzeitgedächtnisleistungen intakt bleiben, das längerfristige Erinnern von Ereignissen, die sich nach der Schädigung bestimmter Regionen des Gehirns ereignet haben, aber gestört ist (anterograde Amnesie). Das Modell von Atkinson und Shiffrin sah diese Trennung vor; zusätzlich wurden Ultrakurzzeitspeicher (UKZS) oder sensorische Register postuliert, in denen die zu verarbeitenden Informationen zuerst registriert werden. Die 141
UKZS sind modalitätsspezifisch, das heißt, es wurden fiir visuelle, akustische und andere Reize unterschiedliche Register angenommen, die eine im Vergleich zum KZS große Kapazität, aber eine extrem kurze Dauer der Gedächtnisspur aufweisen. Die UKZS dienen der kurzzeitigen Präsenthaltung der Information fiir weitere Analysen, die im KZS durchgeführt werden. Dieser KZS, von anderen Autoren primäres Gedächtnis genannt, hat eine eng begrenzte Kapazität. Durch das stille Wiederholen (Memorieren) der Informationen können diese beliebig lange im KZS gehalten werden, während sie ohne Memorieren schnell vergessen werden. Das Memorieren dient außerdem der Übertragung der Information in den LZS. Ein derartiges modales Mehrspeicher-Modell des Gedächtnisses wurde zunächst durch zahlreiche experimentalpsychologische Befunde und Beobachtungen an Amnestikern gestützt. Nach und nach stellten sich aber auch Befunde ein, die kritisch fiir dieses Modell waren. Eine, aber nicht die einzige Reaktion auf diese kritischen Befunde war, bei einer Mehr-Speicher-Konzeption zu bleiben, die Speicher aber weiter zu unterteilen. Kritisch fiir das modale Modell mit einem hinsichtlich der Kapazität begrenzten KZS ist etwa der Befund, dass Probanden in der Lage sind, neben einer Gedächtnisspannenaufgabe fiir visuell präsentierte Ziffern die Reproduktion akustisch dargebotener Wörter zu leisten (Baddeley, 1997). Da beide Aufgaben um dieselbe begrenzte Ressource konkurrieren, sollte aber nur eine Aufgabe bewältigt werden können. Das Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley und Hitch kann diesem Befund und weiteren kritischen Ergebnissen Rechnung tragen. Es zerlegt den KZS in eine zentrale Exekutive und zwei sogenannte Sklavensysteme, die phonologische Schleife und den räumlich-visuellen Notizblock. Die phonologische Schleife ist auf die Verarbeitung sprachlicher, der Notizblock auf die Verarbeitung räumlicher und visueller Informationen spezialisiert. Die zentrale Exekutive reguliert den Abruf der Informationen aus dem LZS und den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Komponenten des Arbeitsgedächtnisses. Sie ist ein Aufmerksamkeitssystem mit begrenzter Verarbeitungsressource und kann bei Überlastung Aufgaben an die Sklavensysteme delegieren. Auf Tulving geht die Unterteilung des Langzeitgedächtnisses in ein episodisches, ein semantisches und ein prozeduyales Gedäch 142
zurück. Das episodische Gedächtnis ist ein autobiographisches Gedächtnis, das die Beantwortung von Fragen wie »Wann war ich das letzte Mal im Kino?« oder »Was habe ich gestern zu Mittag gegessen?« ermöglicht. Im semantischen Gedächtnis ist das allgemeine Wissen ohne Bezug auf Episoden des eigenen Lebens abgespeichert. Informationen darüber, wann und unter welchen Bedingungen ein bestimmtes Wissen (z.B. Rom als Hauptstadt Italiens) erworben wurde, sind nicht Bestandteil dieses Systems. Das prozedurale Gedächtnis schließlich speichert ein Wissen über Prozeduren, das der bewussten Inspektion nicht zugänglich ist. Die korrekte Produktion von Sätzen der deutschen Sprache z. B. setzt ein linguistisches Wissen voraus, das nicht unmittelbar verbalisiert werden kann. Das episodische und das semantische Gedächtnis werden häufig als deklaratives, das prozedurale Gedächtnis als nichtdeklaratives Gedächtnis bezeichnet. Bei organischen Amnesien ist das deklarative Gedächtnis gestört, während das nichtdeklarative Gedächtnis intakt bleibt. Zur Struktur des semantischen Gedächtnisses sind zahlreiche Modelle entworfen und empirisch geprüft worden, die sich auf das begriffliche Wissen z. B. über Tiere {Netzwerk-, Merkmalsvergleichs- und Aktivationsausbreitungsmodelle), zum Teil aber auch auf größere Wissenseinheiten beziehen (-»Konnektionismus). Diese werden seit Bartletts (1932) Buch Remembering Schemata genannt. Es gibt unterschiedliche Schemata (z. B. Skripts und Geschichtengrammatiken) und deshalb auch verschiedene Schematheorien des Gedächtnisses. Eine Theorie, die die Kernannahmen verschiedener Schematheorien in sich vereinigt, stammt von Alba und Hasher. Sie benennt vier Prozesse, die sich während der Informationsaufnahme (Enkodierung) ereignen: die Selektion, Abstraktion, Interpretation und Integration. Nach dieser Theorie werden nicht alle Informationen verarbeitet; einige werden selektiert. So werden etwa in einer Geschichte Informationen, die typisch fur das Schema »Restaurantbesuch« sind (z. B., dass ein Gast fiir die Mahlzeit, die er verzehrt, bezahlt), nicht enkodiert, da sie jederzeit aus dem Wissen über einen Restaurantbesuch abgeleitet werden können. Das fiihrt dazu, dass bei der Prüfung des Gedächtnisses für die Geschichte über einen Restaurantbesuch das Bezahlen selbst dann erinnert wird, wenn es in der Geschichte nicht ausdrücklich erwähnt wurde. 143
Eine weitere Reduktion der zu verarbeitenden Informationen findet durch den Prozess der Abstraktion statt. Damit ist gemeint, dass die Bedeutung, nicht der genaue Wortlaut behalten wird. Wegen der Reduktion der Informationen aufgrund von Selektion und Abstraktion können Texte nicht reproduziert, sondern müssen rekonstruiert werden: Erinnert werden nur einige Ideen, anhand deren der Text rekonstruiert wird. Weiter betont die Theorie die Prozesse der Interpretation und Integration. Während der Enkodierung werden auf der Basis des vorhandenen Wissens Schlüsse gezogen, die später häufig fälschlich als Bestandteil der dargebotenen Informationen erinnert werden. Mit Integration ist gemeint, dass aus Informationsbruchstücken semantische Ganzheiten konstruiert werden.
Rezeption Das Gedächtnismodell von Atkinson und Shiffrin spielt heute in dieser Form kaum noch eine Rolle, während die von Tulving vorgenommenen Unterteilungen des Langzeitgedächtnisses fester Bestandteil der neueren Literatur sind. Die Theorie des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley und Hitch ist in vielen Bereichen der Kognitiven Psychologie wie z.B. der Denkpsychologie (—• Denktheorien) oder der Sprachpsychologie (-• Sprachpsychologische Theorien) einflussreich und häufig empirisch überprüft worden. Aufgrund der Prüfergebnisse sah Baddeley sich selbst veranlasst, diese Theorie um eine Gedächtniskomponente zu erweitern. Inzwischen existieren noch andere Konzeptionen des Arbeitsgedächtnisses. Auch zu den Schematheorien des Gedächtnisses wurde viel geforscht. Erwiesen ist inzwischen, dass die von Alba und Hasher genannten Prozesse nicht so zwangsläufig auftreten wie behauptet und nicht nur während der Enkodierung, sondern auch während des Abrufs der Informationen vorkommen. Unabhängig davon eröffnet diese Theorie wichtige Anwendungsperspektiven außerhalb der Forschung, wenn es etwa um den Wahrheitsgehalt der Aussagen von Zeugen geht, die mit größter subjektiver Sicherheit etwas erinnern können, was sich tatsächlich nicht ereignet hat.
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Literatur Atkinson, R. C. & Shiffrin, R. M. (1968). Human memory: A proposes system and its control processes. In K. W. Spence & T. Spence (Eds.), The psychology oflearning and motivation (pp. 89195). New York, NY: Academic Press. Baddeley, A. D. (1997). Human memory. Hove, UK: Erlbaum. Bartlett, E C. (1932). Remembering Cambridge, UK: University Press.
Weiterfuhrend Bredenkamp, J. (1998). Lernen, Erinnern, Vergessen. München: Beck. fürgen Bredenkamp
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GEISTESWISSENSCHAFTLICHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen
Die Aufgabe, die sich Wilhelm Dilthey (1833-1911) in den 1894 erstmals erschienenen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie stellte, war die der Unterscheidung einer geisteswissenschaftlichen verstehenden Psychologie von der naturwissenschaftlich orientierten erklärenden Psychologie. Erstere war partiell von den Begründern der Völkerpsychologie Moritz Lazarus (1824-1903) und Hajim (Heymann) Steinthal (1823-1899) sowie von Wilhelm Wundt (1832-1920) beeinflusst, dessen Werk nicht nur von naturwissenschaftlicher, sondern auch von geisteswissenschaftlicher Relevanz ist (vgl. u.a. Jüttemann, 2006). Dilthey verstand die erklärende Psychologie als unberechtigte Erweiterung naturwissenschaftlicher Konzepte auf das Gebiet des Seelenlebens. »Dieser Zusammenhang der Natur nach Kausalgleichungen ist durch die in der äußeren Wahrnehmung repräsentierte objektive Ordnung der Natur unserem lebendigen Denken aufgedrungen worden« (ebd., S.195). Im 20. Jahrhundert firmieren unter dem Titel Geisteswissenschaftliche Psychologie u.a. Eduard Spranger, David Riesman und Alexander Pfänder. Theorie Dilthey fasste in den Ideen seine geisteswissenschaftliche Psychologie in erster Linie als verstehende Psychologie auf: Da die Personen gesellschaftliche Zusammenhänge in der Gesellschaft selbst erfahren, können sie dieselben erlebensmäßig und gedanklich nachvollziehen und damit auch verstehen. An die vorwissenschaftliche Erfahrung schließe sich die geisteswissenschaftliche Erfahrung und Erkenntnis an. Mit dem Verstehen versucht Dilthey, den bestehenden Dualismus von Kausalerklärung und Darstellung des anschaulich erfahrbaren Partikularen zu überwinden. Die Geisteswissenschaften untersuchen Tatsachen, die als gesellschaftliche Realität »von innen« erscheinen, mithin in einem lebendigen Zusammen146
hang stehen. Wenn Menschen in diesem Lebenszusammenhang zur »Besinnung« kämen - ein Begriff, den schon Johann Gottfried Herder verwandte - , werde ihnen auch das »Innenleben« dieses Lebenszusammenhangs in seinem Strukturzusammenhang zugänglich (—• Ganzheitsheorie). Dil they verstand die innere Welt als Inneres der äußerenWelt und gerade nicht als innere Welt im Sinne eines Ausschlusses der äußeren Welt. Menschliche Beziehungen werden primär in gesellschaftlichen Zusammenhängen erfahren bzw. erlebt. Aus den übergreifenden Relationen gehen die psychischen Phänomene in ihrer Bedeutung hervor und können entsprechend auch untersucht werden, und zwar primär in ihren unmittelbar erlebbaren Zusammenhängen, wobei mit ihnen nicht nur bewusste, sondern auch weniger bewusste Züge derselben zum Vorschein kommen. Als Beispiel führte Dilthey die Phänomene des Willens an: »Wir studieren Natur, Gesetze, Zusammenhang unserer Willenshandlungen an der äußeren Organisation der Gesellschaft, an der wirtschaftlichen und rechtlichen Ordnung. Hier haben wir dieselbe Objektivation des Zusammenhangs in unserem praktischen Verhalten vor uns, welche in Zahl, Zeit und Raum und den anderen Formen unserer Welterkenntnis fiir unser Wahrnehmen, Vorstellen und Denken vorliegt. Die einzelne Willenshandlung ist ja selbst im Individuum nur der Ausdruck einer dauernden Willensrichtung, welche das ganze Leben erfüllen kann, ohne uns beständig gegenwärtig zu sein« (ebd., 190). Nach Dilthey beginnt eine Forschungsarbeit mit der Beschreibung bedeutungsvoller Strukturzusammenhänge. Im Fortgang der Forschung erfolgt die Analyse von den zunächst deskriptiv erfassten Relationen her und im Weiteren auf dieselben hin. Dabei werden die Strukturzusammenhänge als »Wirkungszusammenhänge« verstanden, in denen jeweils kausale und finale Momente aufgehoben sind. Die realen Bedingungen und Konsequenzen menschlicher Erfahrungen werden untersucht, und zwar unter der besonderen Berücksichtigung, dass die Konsequenzen wiederum zu neuen Bedingungen führen. Demnach wird der Gegenstand der Forschung in seinen Bewegungen analysiert, wobei insbesondere beachtet wird, wie die Phänomene ineinander übergehen (-•Phänomenologische Psychologie). Die Übergänge werden in der Linie des Geschehens bzw. der Veränderungen studiert, wobei von den Ergebnissen zum vorerst nur deskriptiv erfassten Strukturzusammenhang 147
zurückgegangen, mithin eine Synthese vollzogen und schließlich der Gesamtprozess verstanden wird. Von Menschen verstanden werden können nicht nur die mit der Menschwerdung entstandenen Institutionen, sondern auch die (Kultur-)Güter (u.a. Malerei, Musik), wurden diese doch von ihnen geschaffen und werden auch weiterhin reproduziert und/ oder neu produziert: Bei den Transformationen der Struktur-, Wirkungs- sowie Kulturzusammenhänge sind die Übertragungen aus der gegenständlichen in die psychische Welt (und umgekehrt) von besonderem Interesse. So könnten auch die persönlichen Verhältnisse der Menschen, die als solche in den und durch die von ihnen geschaffenen Institutionen, Kulturgüter bzw. Objektivationen lebten, zu denen auch die Sprache gehört (-* Sprachpsychologische Theorien), zunächst zwar nur implizit erfasst, im Weiteren indes sukzessive theoretisch aufgearbeitet und schließlich - sozusagen >von innen her< - expliziert werden. Dilthey versuchte in seiner 1890 veröffentlichten Arbeit zur Entstehung der Hermeneutik, die Ideen in methodologischer Hinsicht zu ergänzen. Die hermeneutische Vorgehensweise (—• Hermeneutik als Theorie des Verstehens) diene dazu, Objektivationen (u. a. Kunstwerke, Literatur) auszulegen, wobei der sich damit ergebende Zirkel zwar (rein logisch) nicht auflösbar, indes praktisch überwindbar sei (-•Theorie-Praxis-Transfer). Die Explikation bestehe primär im Beschreiben des Gegenstandes. Von dieser Deskription ausgehend erfolgten die Schritte der Analyse (u. a. intersubjektive Überprüfung des beschränkten Materials und Interpretation). Dabei zeige sich, dass nichts Ganzes schon als etwas Definitives vorliege, sondern es erst mit seiner ausschließlich methodologisch zu denkenden Gliederung und Erfassung einzelner Elemente Profil gewinne und somit aufschlussreich (nach) gestaltet werden könne. Ein semiotisches Verständnis der Strukturzusammenhänge sei Voraussetzung der Hermeneutik. Hingegen agiere die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie ohne Berücksichtigung von Bedeutung und Sinn.
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Rezeption Hermann Ebbinghaus (1850-1909), der in seiner Berliner Zeit Dilthey noch nahestand, indes durch die 1885 publizierte Habilitationsschrift zur experimentellen Untersuchung des Gedächtnisses zu einem der wichtigsten Repräsentanten der naturwissenschaftlich ausgerichteten erklärenden Psychologie wurde, reagierte ablehnend auf Diltheys Ideen. In der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane veröffentlichte er 1896 einen 45-seitigen Artikel »Uber erklärende und beschreibende Psychologie«, in dem er die Kritik Diltheys an der naturwissenschaftlichen Psychologie zurückwies. Ebbinghaus warf Dilthey vor, dass die von ihm bemühten Strukturzusammenhänge nicht als unmittelbare Gegebenheiten vorliegen könnten, denn sie müssten zunächst konstruiert werden und könnten nicht durchweg selbst erlebt werden, weil dies nur bei Einzelereignissen und allenfalls bei Zustandsveränderungen der Fall sei. Trotz des Einspruchs der naturwissenschaftlichen Psychologie blieb die geisteswissenschaftliche Psychologie nicht ohne Einfluss. Immerhin gehörten verstehende Ansätze bis in die 1960er Jahre hinein zur Lehre und Forschung an deutschsprachigen Universitäten. In der UdSSR waren die Pioniere des Kulturhistorischen Ansatzes zwar von Diltheys >realer Psychologie< angetan, bemängelten jedoch die nicht unbedingt auf das Erkennen eigentlicher Gesetzmäßigkeiten ausgerichtete Methodologie. Vielleicht den stärksten Einfluss übte die Geisteswissenschaftliche Psychologie auf die in den USA unter europäischem Einfluss entstehende Humanistische Psychologie aus. Eugene T. Gendlin, neben Carl R. Rogers wohl der wichtigste Vertreter des Personzentrierten Ansatzes, beruft sich ausdrücklich auf Dilthey. Seit 1992 erscheinen im Journal fur Psychologie, der Fachzeitschrift der Neuen Gesellschaftfur Psychologie (NGfP), auch im deutschsprachigen Raum regelmäßig Beiträge, die einen geisteswissenschaftlichen Charakter aufweisen.
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Literatur
Dilthey, W. (1900/1990). Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Gesammelte Schriften. Bd. 5: Die geistige W Einleitung in die Philosophie des Lebens (S. 136-240). Stuttgart: Teubner. Jüttemann, G. (2006). Wilhelm Wundts anderes Erbe: Ein Missver ständnis löst sich auf. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Oelrich, W. (1950). Geisteswissenschaftliche Psychologie und Bildu des Menschen. Stuttgart: Klett.
Weiterführend
Galliker, M. (2013). Das geisteswissenschaftliche Forschungsprogramm. In G. Scholtz (Hrsg.), Diltheys Werk und die Wissen schaften: Neue Aspekte (S. 193-207). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mark Galliker
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GELERNTE SORGLOSIGKEIT
Wichtige Vertreter/innen Dieter Frey und Stefan Schulz-Hardt haben 1997 eine Theorie der Gelernten Sorglosigkeit vorgelegt (Frey & Schulz-Hardt, 1997). Sie geht von der Beobachtung aus, dass Menschen bestimmte Risiken ignorieren bzw. überhöhte Risiken eingehen, elementare Vorsichtsregeln missachten, gedankenlos handeln und aus Gefahrensignalen nicht lernen. Für ein solches dysfunktional riskantes Verhalten bietet die Theorie der Gelernten Sorglosigkeit einen allgemeinen Rahmen der Erklärung und Vorhersage. Als wichtigste Grundlage der Theorie gelten die Lerntheorien sowie das hedonistische Grundmodell; andere Quellen der Sorglosigkeitstheorie sind Theorien zum Optimismus und zur Kontrollillusion.
Theorie Sorglosigkeit stellt eine affektiv-kognitive Monopolhypothese für einen bestimmten Lebensbereich dar, die sinngemäß lautet: »Alles ist gut und wird auch in Zukunft (von selbst) gut bleiben.« Die Sorglosigkeitshypothese wird durch Lernprozesse erworben und verstärkt. Sie entsteht unter zwei Anfangsbedingungen: (1) wenn Menschen ohne großen Aufwand Erfolge erzielen (die Erfolge »fallen ihnen in den Schoß«) und/oder (2) wenn wiederholt gefährliches Verhalten ohne negative Konsequenzen bleibt. Sorglosigkeit wird durch soziale Faktoren unterstützt, zum einen durch Modelle, die mit sorglosem Verhalten Erfolg haben oder hatten und die nachgeahmt werden, und zum anderen durch Sorglosigkeit fördernde Normen und Werte, die im sozialen Netzwerk einer Person vorhanden sind. Hedonismus ist der zentrale vermittelnde motivationale Faktor fur Sorglosigkeit: Sorglosigkeit ist ein als angenehm erlebter Zustand, in dem man keine mit Aufwand verbundenen Maßnahmen ergreifen muss. Sorglosigkeit äußert sich durch Symptome wie verringerte Motivation und Fähigkeit zur Gefahrenaufdeckung, un151
kritisch gehobene Stimmung und eine verkürzte Zeitperspektive (-• Motivationstheorien). Als Konsequenzen gelernter Sorglosigkeit ergeben sich verzögertes Lernen bzw. eine fehlende Bereitschaft zur Verhaltensänderung, schnellstmögliche Revision erzwungener Verhaltensänderungen, unangemessen waghalsige Handlungen sowie eine Gefahr der Generalisierung auf andere Bereiche. Sorglosigkeit wird durch Defensivstrategien aufrechterhalten. Zu solchen Defensivstrategien gehören beispielsweise: Vermeidung, Verleugnung, Verdrängung, Überoptimismus, Kontrollillusionen und Alibihandlungen. Die postulierten Thesen der Theorie implizieren gewisse Zusammenhänge. So treten sorglosigkeitsförderliche Attributionsfehler und Verzerrungen der Wahrnehmung auf (-•Attributionstheorie). Beispiele hierzu sind Kontrollillusionen, Selbstüberschätzung, egozentrische Verzerrungen oder unrealistischer Optimismus sowohl bei den Anfangsbedingungen, die zur Monopolhypothese fuhren, als auch bei den Defensivstrategien zur Aufrechterhaltung von Sorglosigkeit. Die Wahrnehmungsverzerrungen stecken aber natürlich auch in der resultierenden Monopolhypothese »Alles ist gut und wird auch gut bleiben«. Die Besonderheit der Theorie liegt in der Betonung negativer Wirkungen von positiv verzerrten Wahrnehmungs- und Urteilsprozessen (-• Sozialpsychologie des sozialen Urteils). Rezeption Für die Thesen der Theorie lassen sich umfangreiche Forschungen aus verschiedenen Forschungsbereichen der Psychologie anfuhren, so zum Beispiel Forschungen über Ursachen von Unfällen (Skiund Bergunfälle bzw. Unfälle im Straßenverkehr), Forschungen über Katastrophen (z.B. Tschernobyl und Challenger-Unglück), Forschungen über Sorglosigkeit an den Finanzmärkten und der Wirtschaft sowie über Gesundheits- und Altersvorsorge (Schubert, 1995; Schulz-Hardt, Frey & Lüthgens, 1996).
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Literatur Frey, D. & Schulz-Hardt, S. (1997). Eine Theorie der gelernten Sorglosigkeit. In H. Mandl (Hrsg.), Bericht über den 40. Kongreß der Deutschen GesellschaftfiirPsychologie (S. 604-611). Göttingen: Hogrefe. Schubert, K. (1995). Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz als Arbeitsfeld fur beratende Psychologen. In C. Graf Hoyos & G. Wenninger (Hrsg.), Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in Organisationen (S. 149-177). Göttingen: Verlag fiir Angewandte Psychologie. Schulz-Hardt, S., Frey, D. & Lüthgens, C. (1996). Sorglosigkeit und Risikoakzeptanz. In G. Wenninger & C. Graf Hoyos (Hrsg.), ArbeitsGesundheits- und Umweltschutz — Handwörterbuch verhaltenswissenschaftlicher Grundbegriffe (S. 468-479). Heidelberg: Asanger.
Weiterführend Fischer, P., Kubitzki, J., Guter, S. & Frey, D. (2007). Virtual driving and risk taking: Do racing games increase risk-taking cognitions, affect, and behaviors? Journal of Experimental Psychology: Applied\ is, 22-31. Dieter Frey und Stefan Schulz-Hardt
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GENETISCHE EPISTEMOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Die genetische Epistemologie ist vor allem mit dem Namen des Genfer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896-1980) verbunden. Das Programm der genetischen Epistemologie beabsichtigt, einen Lösungsbeitrag zu den philosophischen Grundfragen Bewusstein, Denken, Verstand und Logik zu liefern. Im Gefolge der neukantianischen Wendung der Erkenntnistheorie gilt es, zuvor unbeantwortete Fragen nach dem Wesen und den Grundlagen der Erkenntnis in behandelbare und erforschbare Tatsachen zu verwandeln. Erkennen und Denken sind sich in Ontogenese und Geschichte entwickelnde Phänomene. Die wissenschaftliche Rekonstruktion der entsprechenden Entwicklungsschritte liefert einen wissenschaftlichen Zugang zu Fragen, die zuvor als nur philosophisch analysierbar galten. Insofern beansprucht die Genetische Epistemologie, Erbe der neuzeitlichen Erkenntnistheorien zu sein (—• Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). Es ist strittig, ob Piaget gut beraten war, seinem Forschungsprogramm den Namen Genetische Epistemologie zu geben. Denn zunächst einmal ist seine Forschung vorrangig Kinder- und Entwicklungspsychologie (-*Entwicklungstheorien). Seine gesamte Arbeit ist dem Ziel gewidmet, die psychologische Entwicklung vom Säugling über das Kind zum Jugendlichen möglichst umfassend zu beschreiben und zu analysieren. So gilt Piaget auch bis heute als bedeutendster Vertreter der Kinder- und Entwicklungspsychologie in ihrer gesamten Geschichte. Nur ein verschwindend kleiner Teil seines Werkes bemüht sich um eine Rekonstruktion der philosophischen Erkenntnistheorie. In jedem Falle war Piaget bemüht, die Kinder- und Entwicklungspsychologie zu nutzen, um den Geistes- und Sozialwissenschaften eine allgemeine Theorie der Entwicklung des menschlichen Denkens zu liefern. Er war der Auffassung, dass sowohl der Mensch der Altsteinzeit als auch derjenige archaischer und antiker Gesellschaften in Kategorien und Strukturen gedacht hat, die man heute nur noch bei Kindern studieren kann und muss. Insofern 154
meint genetische Epistemologie eigentlich die Übertragung der Erkenntnisse der Kinder- und Entwicklungspsychologie auf die Rekonstruktion der Geschichte des Denkens, der Psyche, des Bewusstseins, der Philosophie, der Wissenschaft, der Religion, der Moral, der Politik und des Rechts. Weitere wichtige Vertreter der Genetischen Epistemologie sind vorrangig Bärbel Inhelder, die den Großteil der empirischen Forschung in Genf organisierte, und John Flavell, der die wohl umfassendste Einführung in englischer Sprache geschrieben hat. Theorien Piagets Denken wurde u.a. durch James Mark Baldwin, Pierre Janet und Edouard Claparede beeinflusst. Es wurzelt in dem bereits in den 1920er Jahren fortgeschrittenen Stand der Kinder- und Entwicklungspsychologie, die schon damals auf eine Geschichte von zwei Forschergenerationen zurückblicken konnte. Piaget unterschied vier Stufen der psychologischen Entwicklung des Menschen. (1) Das sensomotorische Stadium beschreibt die Entwicklung vom Neugeborenen bis zum 18 Monate alten Kleinkind, das sprechen lernt. (2) Das präoperationale Stadium umfasst die Kompetenzen, die sich dann bis zum sechsten oder achten Jahr entwickeln. Es ist durch den Erwerb von Sprache und Denken charakterisiert. (3) Erst auf der dritten Stufe, der der konkreten Operationen, entwickelt sich die Fähigkeit der logischen Koordination von Objekten, Das Kind denkt bis zum zehnten Jahr noch magisch, animistisch und erkenntnisrealistisch. Das Konzept des Erkenntnisrealismus verweist auf die Konfusion von Subjekt und Objekt, Name und Objekt sowie Traum und Wirklichkeit. Das Kind lebt noch in einer Märchenwelt. Neben einem empirischen Denken pflegt es ein »autistisches Denken«. (4) Erst auf der vierten Stufe, jener des formal-operationalen Denkens, werden diese Formen des autistischen Denkens überwunden zugunsten eines dominant rationalen und empirischen Denkens. Diese letzte Stufe ist durch Kombinatorik, Reflexivität, Logik und Tatsachenbezug definiert. Sie ist die Voraussetzung für wissenschaftliches Denken. Piaget und seine Schüler haben diese Stadientheorie auf die Analyse der Ontogenese des logischen, physikalischen, sozialen 155
und moralischen Denkens appliziert, au f die Gesamtheit der Entwicklung der Denkfunktionen und des Wirklichkeitsverständnisses. Genetische und soziale Faktoren z igleich sind die Motoren dieser ontogenetischen Entwicklung. Au 5 der Dialektik von Assimilation und Akkomodation erwächst diesogenannte Äquilibration, das immer bessere Gleichgewicht zwisc len Mensch und Umwelt in Konsequenz seiner Reifung und Entvs icklung. Piaget hat selbst später einen Bru Abbild- und Widerspiegelungstheorie). Seitdem haben sich zwar Philosophen und Psychologen immer wieder Zeit genommen, auf frühere Darstellungen der Seele zu verweisen, doch eine eigentliche Geschichtsschreibung der Psychologie bildete sich erst im 20. Jahrhundert heraus. Zu den Meilensteinen der Psychologiegeschichtsschreibung gehören Edwin Borings (1929/1950) History of experimental psychology und die Problemgeschichte der Psychologie von Ludwig J. Pongratz (1967) - Werke, in denen die Geschichte der Psychologie in unterschiedlicher Art und Weise aufgerollt wurde.
Theorie* Helmut E. Lück (1991/2009, S. 20-24) zufolge kann die Darstellung der Geschichte der Psychologie nach vier verschiedenen »Modellen« (oder wenn man will: Ansätzen oder Paradigmen) realisiert werden. Individualgeschichte: Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass die Psychologiegeschichte von einzelnen großen Forschern geprägt wurde. Ein Beispiel fiir diese individualistische Psychologiegeschichtsschreibung ist Borings (1929) History ofexperimental psychology. Natürlich kann man bezweifeln, ob kulturelle Entwicklungen wie die Entstehung einer Wissenschaft einzelnen großen Personen zuzuschreiben sind. Eine Theorie fällt nicht einfach vom Himmel einer einzelnen Person zu, wie es der >Greatmen approach< unterstellt. Sigmund Freud musste den antiken Traumforscher Artemidor von Daldis genau studiert und von ihm 169
auch viel übernommen haben, doch wies er auf diesen in seiner Traumdeutung nur am Rande und in einem kritischen Sinne hin (-•Traumtheorien). In der Regel sind viele Personen an einem Forschungsprozess direkt oder indirekt beteiligt. So verdankte Jean Piaget sehr viel Bärbel Inhelder (-•Genetische Epistemologie). Ideengeschichte: Bei diesem Ansatz wird mehr auf die kulturgeschichtlichen Strömungen Bezug genommen als beim individualistischen Ansatz. Eine ideengeschichtliche Darstellung erfolgt in chronologischer Abfolge. Wird die Psychologiegeschichte als Kultur- und Geistesgeschichte begriffen, liegt ein Problem indes darin, die jeweiligen geistigen Strömungen (den sogenannten >Zeitgeist Attributionstheorie), in der die Zuschreibung von Ursachen im Vordergrund steht (z. B. internal: Fähigkeit oder Anstrengung, oder external: Glück oder Schwierigkeit). Rezeption Die Gestalttheorie fand durch die Vermittlung der emigrierten Psychologen Koffka, Heider, Wertheimer, Köhler und Lewin eine große Verbreitung in den USA und damit in der internationalen Psychologie. Beispielhaft soll die Einführung kognitiver Bestandteile in den Behaviorismus durch Edward Tolman genannt werden, welcher durch Koffka beeinflusst wurde. Die Betonung von Zweckmäßigkeit und Zielbereitschaft wie auch der kognitiven Repräsentationen (kognitive Landkarten) bei Lernexperimenten mit Ratten leitete die Kognitive Wende im Behaviorismus ein. Lewin und Heider beeinflussten Studien zur Eindrucksbildung bei Solomon Asch oder sozialpsychologische Theorien wie die Kognitive Dissonanztheorie von Leon Festinger.
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Literatur
Fitzek, H. & Salber, W. (1996). Gestaltpsychologie. Geschichte un Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Köhler, W. (1971). Die Aufgabe der Gestaltpsychologie. Berlin: De Gruyter. Wertheimer, M. (1922/1923). Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. Psychologische Forschung, /, 47-58, 301-350.
Weiterführend
Aschermann, E. & Kaiser-El-Safti, M. (Hrsg.). (2014). Gestalt und Gestaltung in interdisziplinärer Perspektive. Frankfurt/M.: Lang Uwe Wolfradt
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HANDLUNGSKONTROLLTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Theorie der Handlungskontrolle (action control theory) wurde von Julius Kühl im Jahre 1983 entwickelt und ausdifferenziert. Den Ausgangspunkt der Theorie bildete die Kritik am Erwartungs- WertModell, welches besagt, dass besonders attraktive Handlungsziele (Wert) mit guten Erfolgsaussichten (Erwartung) gewählt und auch in die Tat umgesetzt werden. Werden solche Handlungsziele allerdings nicht realisiert, vielleicht weil man derzeit Unlust verspürt, wird dies dem Erwartungs-Wert-Modell zufolge einem Motivationsdefizit zugeschrieben. Der Auffassung eines Motivationsdefizits stellt Kühl das volitionale Defizit entgegen. Ihm zufolge mangelt es nicht an Motivation (d. h. das attraktive Ziel mit guten Erfolgsaussichten ist vorhanden), sondern volitionale (willentliche) Prozesse werden nicht genutzt, um die Handlungsausfiihrung des Ziels zu unterstützen. Weiterfuhrende Darstellungen der Handlungskontrolltheorie finden sich u. a. bei Goschke (2007) sowie bei Koole, Jostmann und Baumann (2012).
Theorie Meist müssen wir aus einer Vielfalt möglicher Absichten eine auswählen und entscheiden uns damit gleichzeitig gegen alternativ auftretende Intentionen. Bei der Absicht, einen wichtigen Lernstoff zu bewältigen, muss der Schüler sich beispielsweise den widerstreitenden Alternativen entgegensetzen, auf eine Party zu gehen oder fernzusehen. Dies entspricht laut Kühl einer Selektionsmotivation. Da die Entscheidung für eine Handlungsalternative jedoch noch nicht ihre Umsetzung bedeutet, wird die Theorie an dieser Stelle um die Realisierungsmotivation erweitert. Diese bestimmt, ob und wann Handlungsschritte zur Realisierung der Absicht ausgeführt werden (-•Motivationstheorien). Solange bei der Umsetzung der Handlung keine Schwierigkeiten auftauchen, reicht die Realisierungsmotivation allein aus, um der ausgewählten Absicht nachzugehen. Tauchen jedoch Schwie177
rigkeiten auf, muss die Motivation durch volitionale Aspekte der Handlungskontrolle unterstützt werden. Wird der Lernstoff fiir den Schüler zu langweilig oder zu schwer, werden konkurrierende Impulse in ihm laut, die mehr auf Vergnügen ausgerichtet sind (-•Lerntheorien). Die Absicht »Lernen« muss daher gegenüber konkurrierenden Impulsen abgeschirmt werden, damit die Verfolgung der ursprünglichen Absicht sichergestellt werden kann. Kühl (2001) postuliert sechs Handlungskontrollstrategien, die genutzt werden können: (1) Die Aufinerksamkeitskontrolle besteht in der selektiven Fokussierung der Aufmerksamkeit auf solche Informationen, die förderlich für die Realisierung der Absicht sind, während ablenkende oder störende Reize ausgeblendet werden. (2) Die Enkodierkontrolle besteht darin, dass solche Informationen und Reize bevorzugt und tiefer gehend enkodiert werden, die relevant für die aktuelle Absicht sind. (3) Unter Emotiönskontrolle wird eine selbstgesteuerte Veränderung der Gefiihlslage verstanden (-•Emotionstheorien). Während manche Gefiihlszustände das Beibehalten der gefassten Absicht erschweren (z. B. Angst, Langweile), sind andere fiir die Realisierung der Absicht förderlich (z. B. Freude, Neugier). (4) Die Motivationskontrolle dient der Stärkung der aktuellen Ansicht, indem positive (motivierende) Anreize, die mit der Absicht verbunden sind, gezielt beachtet bzw. imaginiert werden. (5) Die Umweltkontrolle besteht darin, dass man äußere Bedingungen schafft, die das Durchhalten bei der Zielverfolgung fördern (z. B. Lernen in der Bibliothek). (6) Die Sparsamkeit der Informationsverarbeitung besteht in de Begrenzung der aufzunehmenden Informationsmenge und im Vermeiden zu langen Abwägens, um Entschlüsse fassen und Aktivitäten aufrechterhalten zu können. Die genannten Strategien können umso effizienter eingesetzt werden, je handlungsfähiger die Person bleibt, wenn sie sich in einer schwierigen Situation befindet oder unter Druck gerät. Die Bereitschaft, schwierige Situationen zu meistern, wird laut Kühl durch die persönliche Disposition zur Handlungs- vs. Lageorientierung bestimmt. Handlungsorientierung beschreibt eine aktive Reaktion 178
auf belastende und stressreiche Stimuli, während Lageorientierung eine passive Reaktion darstellt und durch Fixierung auf die negative Lage gekennzeichnet wird. Der zugrunde liegende Mechanismus ist die Affektregulation. Durch schwierige, belastende und stressreiche Situationen werden aversive Affekte hervorgerufen. Werden die aversiven Affekte nicht herabreguliert, drängen sich die mit der schwierigen Situation verbundenen Informationen ins Bewusstsein. Dies fuhrt zu unkontrollierbarem Grübeln und Zögern, was zur Folge hat, dass die zur Handlungsausfiihrung benötigte Verarbeitungskapazität beeinträchtigt wird. Gelingt es andererseits, die aversiven Affekte zu regulieren, wird die Konzentration auf das Ausfuhren der Handlung beibehalten. Kühl unterscheidet zwei Formen der Handlungsorientierung: Prospektive Handlungsorientierung beschreibt die Fähigkeit, den verlorengegangenen positiven Affekt wiederherzustellen, und misserfolgsbezogene Handlungsorientierung die Fähigkeit, den negativen Affekt herabzuregulieren (Entwicklungstheorie der Emotionsregulation).
Rezeption Die Handlungskontrolltheorie fand in Europa und in den USA eine große Resonanz. Bald wurden Handlungs- und Lageorientierung sowie die Strategien der Handlungskontrolle in angewandten psychologischen Feldern (z. B. klinische Psychologie, Sportpsychologie, Arbeitspsychologie) auf ihre Bedeutung getestet. Empirische Evidenz zeigt klar, dass handlungsorientierte Menschen im Vergleich zu lageorientierten ihre Absichten häufiger realisieren, unter Stress aktives -•Coping einsetzen und ihre kognitiven sowie physiologischen Ressourcen effizienter nutzen, weniger psychosomatische Symptome entwickeln und generell die Strategien der Handlungskontrolle erfolgreicher nutzen. Die Action Control Theory ist später von Kühl zu der wesentlich differenzierteren Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie) erweitert worden.
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Literatur
Goschke, T. (2007). Volition und kognitive Kontrolle. Inj. Müsseier (Hrsg.), Allgemeine Psychologie. (2. Aufl., S. 271-335) Heidelberg: Spektrum. Kühl, J. (1983). Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle. Heidelberg: Springer. Kühl, J. (2001). Motivation und Persönlichkeit: Interaktionen psych scher Systeme. Göttingen: Hogrefe. Weiterführend Koole, S. L., Jostmann, N. B. & Baumann, N. (2012). Do demanding conditions help or hurt self-regulation? Social and Personality Psychology Compass, 6, 328-346.
Peter Gräpel und Tom Nicolas Kossak
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HEBBSCHE LERNREGEL
Wichtige Vertreter/innen Donald Olding Hebb (1904-1985) dachte und forschte in der Tradition von Aristoteles, der britischen Empiristen und vieler anderer Denker, die der Ansicht waren, dass Lernen und Gedächtnis aus der Fähigkeit erwachsen, dauerhafte Verknüpfungen zwischen verbalen Einheiten, Gedanken oder Reizen herzustellen. Ab 1934 studierte er bei Karl Spencer Lashley an der University of Chicago. 1947 wurde er Professor an der McGill University in Montreal. Zwei Jahre später veröffentlichte er das Werk The organization of behavior, in dem er seine Theorie vorstellte. Bei der Hebbschen Lernregel handelt es sich um eine einfache, aber theoretisch sowie praktisch relevante Erkenntnis aus der klassischen Lernpsychologie (-• Lerntheorien).
Theorie Hebb (1949/2002) vertrat die Auffassung, dass Lernen und Gedächtnis von der Wahrnehmung nicht getrennt sind (-•Wahrnehmungstheorien). Seine Theorie der Vereinigung von Zellen {cell assembly theory), kurz auch Hebbs postulate oder Hebbs rule genannt, wird meistens unter Abstraktion der Zeitdauer des Prozesses wie folgt zusammengefasst: »Cells that fire together, wire together.« Hebb fasste Ereignisse oder Vorkommnisse in der Umgebung einer Person (occurrences), die zugleich mit anderen Vorkommnissen in ebendieser Umgebung erscheinen, als miteinander auftretende oder »gemeinsame Vorkommnisse« auf (co-occurrences), die er psychologisch und zugleich neuronal verstand. Wenn eine Person einen Bleistift wahrnimmt, der auf einem Tisch liegt, verbindet sie die beiden Perzeptionen, so dass sie auch später die Frage einer anderen Person »Wo ist der Bleistift?« in der Regel problemlos mit »Der Bleistift liegt auf dem Tisch« beantworten kann. Offenbar hat sich zwischen »Bleistift« und »Tisch« bzw. zwischen den Bedeutungen der beiden Gegenstände eine Verbindung ergeben - neurologisch sowie psychologisch. Bei der erneuten Perzeption des 181
einen Elements (Bleistift) werde auch das andere Element (Tisch) vergegenwärtigt; respektive wenn ein Axon von Zelle A Zelle B errege und an deren Aktivität teilnehme, finde eine Stoffwechselveränderung bzw. ein Wachstumsprozess in den betreffenden Zellen statt, wodurch sich die Effizienz von A hinsichtlich B erhöhe. Im Einzelfall hänge die Vergegenwärtigung vom Ausmaß des Kontaktes der beteiligten Elemente ab: »The greater the area of contact the greater the likelihood that action in one cell will be decisive in firing another« (ebd., S. 66). Jede Aktivierung einer Verbindung bewirkt eine Stärkung und in Zukunft entsprechend eine leichtere (Re-)Aktivierung derselben. Demgegenüber erschwert eine seltene oder fehlende Nutzung die künftige Zugänglichkeit {>Use-it or-lose-iuprinciple). Die Kontaktnahme hängt indes nicht nur von der möglichst zeitgleichen Perzeption, sondern auch von der räumlichen Nähe erregter Nervenzellen ab. Hebbs Konzeption ständig aufrechterhaltener »Schwingkreise« legt nahe, dass Reize nicht in der Empfindung ihr Ende haben, sondern fortwirken. Damit thematisiert der Autor die biologischen und letztlich physikalischen Veränderungen in Synapsen als Gedächtnisspeicherung (-•Gedächtnistheorien). Bei Aufgaben des unmittelbaren Behaltens (Kurzzeitgedächtnis) kommt es zu einer kreisenden Aktivität in bestimmten neuronalen Schaltkreisen. Nach einmaliger Vorgabe von Lernmaterial ergeben sich noch keine strukturellen Veränderungen in den Gangliensystemen, sondern lediglich Erregungskreise (reverberating circuits), die kurzfristig fortbestehen und unmittelbare Wiedergabe ermöglichen. Konstitution und Stärke längerfristiger neuronaler Verbindungen (Langzeitgedächtnis) hängen von der Wiederholung gemeinsam aufgetretener Eindrücke ab. Mit der Entwicklung neuronaler Netzwerkmodelle erfolgte eine Weiterfuhrung von Hebbs Ansatz. Netzwerke werden als theoretische Konstrukte aufgefasst, mit denen »Repräsentationen« von sogenannten Entitäten (Wortformen, Morphemen, Begriffen etc.) beziehungsweise Gegebenheiten (weniger: eigentliche Sachverhalte) dargestellt (bzw. im Kortex vorgestellt) werden. Die einzelnen Entitäten werden als Knoten innerhalb eines Netzes (-> Konnektionismus) vorgestellt (vgl. Schade, 1992). 182
Rezeption Hebb hat die neuronale Grundlage der Assoziationen (-•Assoziationstheorien) aufgezeigt, auf die zelluläre Basis der Gedächtnismechanismen hingewiesen (-• Gedächtnistheorien) sowie das Konzept der synaptischen Plastizität (bzw. der Neuroplastizität) ansatzweise vorweggenommen. Der Nobelpreisträger Eric Kandel, der Hebbs neuronalen Koinzidenzdetektor besonders hervorhob, schloss aus seinen Experimenten mit Meeresschnecken, dass die Plastizität des Nervensystems - die Fähigkeit der Nervenzellen, die Stärke und sogar die Anzahl der Synapsen zu verändern - der Mechanismus ist, der dem Langzeitgedächtnis sowie dem Lernen zugrunde liegt (-»Neuropsychologische Theorien). Da jeder Mensch in einer anderen Umgebung aufwächst und unterschiedliche Erfahrungen macht, besitzt das Gehirn jedes Menschen eine einzigartige Architektur. Sogar eineiige Zwillinge mit identischen Genen haben aufgrund ihrer jeweils doch auch besonderen Lebenserfahrungen verschiedene Gehirne. Damit erwies sich ein Prinzip der Zellbiologie, das erstmals bei der Untersuchung einer einfachen Schnecke zutage trat, als ein wichtiger Hinweis auf die biologische Grundlage der menschlichen Individualität (Kandel, 2006/2014, S.240). Mit dem individuellen Verhalten in sich verändernden Kontexten verändern sich auch deren neuronale Substrate - ein Ansatz, der fiir die Psychologie vielversprechend zu sein scheint, weil mit ihm psychische Phänomene nicht ausschließlich aus der Perspektive des Gehirns betrachtet werden, sondern ihrer Einbettung ebenso große Bedeutung beigemessen wird. Neuronale Verbindungen sind veränderlich und auch im Alter nie defintiv bestimmt. Hebbs Prinzip der gemeinsamen Vorkommnisse ist auch in methodischer Hinsicht relevant. Verbale Co-occurrences sind die grundlegenden Einheiten von Inhaltsanalysen, die es ermöglichen, Aufzeichnungen ganzer Therapien bestehend aus vielen Sitzungen oder Sequenzen textuell vollständiger Jahrgänge von Tageszeitungen auf elektronischer Basis zu erfassen und flächendeckend auf psychologisch relevante Verbindungen hin systematisch zu untersuchen (vgl. u.a. Galliker, Herman, Imminger & Weimer, 1998).
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Literatur
Galliker, M., Herman, J., Imminger, K. & Weimer, D. (1998). The investigation of contiguity: Co-occurrence analysis of print media using CD-ROMs as a new data source. Journal of Language and Social Psychology, 17, 200-219. Hebb, D. O. (1949/2002). The organization of behavior. London UK: Erlbaum. Kandel, E. (2006/2014). Auf der Suche nach dem Gedächtnis. München: Goldmann.
Weiterführend
Schade, U. (1992). Konnektionismus: Zur Modellierung der Sprach produktion. Opladen: Westdeutscher Verlag. Mark Galliker
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HERMENEUTIK ALS THEORIE DES VERSTEHENS
Wichtige Vertreter/innen Friedrich Schleiermacher, oft als Begründer einer systematischen Hermeneutik betrachtet, sieht die Aufgabe des Verstehens im Vermeiden von Missverständnissen bei dem Versuch, sich in das Erleben und Denken eines Autors einzufühlen, um so seinen Text umfassend zu verstehen. Dieses »Einleben« in den Autor ist nötig, weil dieser zwar aus einem allgemeinen, kulturell vermittelten und geschichtlich konstituierten Sinnhorizont verstanden werden muss, aber eben auch aus der Einzigartigkeit seiner Individualität. Der Gegenstand des Verstehens ist also nicht, worauf später Wilhelm Dilthey hinweist, ein geistloses »Naturding« wie in den erklärenden Naturwissenschaften, sondern ein erlebendes und seinerseits verstehendes Individuum, z. B. in Gestalt eines Autors. Die spezifische Aufgabe des Verstehens besteht also darin, ein jeweils anderes, etwa lyrische Texte oder historische Werke, zu verstehen, d. h. in seiner wesentlichen Aussage und Bedeutung zu erfassen. Dies ist nach Dilthey die Methode der Geisteswissenschaften: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (Dilthey, 1924, S. 144). Bei Dilthey deutet sich bereits zaghaft an, was im 20. Jahrhundert bei Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer ein zentrales Thema wird: das Verstehen als ein Grundmerkmal, als ein »Existenzial« menschlichen Daseins zu konzipieren (-»Existentialistische und daseinsanalytische Ansätze). Im Umgang mit der Welt, und zwar nicht nur mit der sogenannten geistigen Welt, sondern auch mit ihren ganz lebenspraktischen Aspekten, ist der Mensch immer schon auf ein Verstehen dieser Welt angewiesen und hat sich insofern bereits ein »Bild« von ihr gemacht, das heißt, er versteht sie aus einem bestimmten, kulturell-sozial vermittelten Sinn- bzw. Interpretationshorizont (-• Geisteswissenschaftliche Psychologie). Theorie Die Grenzen zwischen Einfühlen und Verstehen sind fließend. Man könnte im Einfühlen, in der Empathie, mehr den emotionalintuitiven und im Verstehen mehr den kognitiv-rationalen Pol des 185
Erfassens von Bedeutungen sehen. Der Begriff Einfühlung wird zwar bereits bei Johann Gottfried Herder erwähnt (Scholtz, 2011), kommt aber systematisch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Gebrauch (durch Theodor Lipps), jedoch ist die Thematisierung der Sache wesentlich älter. Schleiermacher unterscheidet ein divinatorisches Verstehen von einem komparativen Verstehen. Beim Vollzug des divinatorischen Verstehens (bzw. des ahnenden Verste hens) geht es darum, »sich gleichsam in den anderen zu verwandeln« (Schleiermacher, 1838/1977, S.169), also »die innere Welt des Klienten mit dessen Augen zu sehen«, wie später Carl Rogers (1977, S. 116), der Begründer der Personzentrierten Psychotherapie, sagen wird (-• Personzentrierte Persönlichkeitstheorie). Hier ist also vor allem der Einfühlungsaspekt angesprochen. Beim komparativen Verstehen dagegen kommt es darauf an, einen Sinnzusammenhang in einem jeweils fachspezifischen Kontext vergleichend zu erschließen. Hier wird also eher die rational-konstruierende Seite des Verstehens akzentuiert (-•Humanistische Psychologie). Dil they (1927) unterscheidet ein elementares Verstehen, ein hö heres Verstehen sowie ein Interpretieren. Beim elementaren Verste hen wird der Sinn der Äußerung einer Person unmittelbar und intuitiv erfasst, was auch ermöglicht wird durch den gemeinsamen kulturell-sozialen Hintergrund bzw. Sinn-Horizont. Beim höheren Verstehen wird dieser Hintergrund erweitert um den Lebenszusammenhang dieser Person, das heißt, ihre Äußerung soll verstanden werden im Kontext des gesamten Lebens. Eine Voraussetzung hierfür ist ein Sich-Hineinversetzen, ein Nacherleben und sodann ein Nachbilden dieses inneren Lebenszusammenhanges der Person durch ein imaginativ konstruierendes Entwerfen eines solchen möglichen Zusammenhanges. Die systematische Ausarbeitung dieses höheren Verstehens nennt Dilthey Auslegung bzw. Interpretation. Interpretieren bedeutet, einen bestimmten Aspekt einer Person aus dem Ganzen des Zusammenhangs ihres Lebens zu verstehen. Das imaginative Konstruieren eines Modells eines solchen Lebenszusammenhanges ist natürlich nie voraussetzungslos. Dilthey selbst hatte schon auf den kulturell-sozial vorgegebenen Sinnhorizont verwiesen, aus dem heraus der um Verstehen Bemühte die mündliche oder schriftliche Äußerung einer anderen Person erschließt. So ist auch das imaginative Entwerfen eines Lebenszusammenhanges und die darauf gründende Interpretation einer Äuße186
rung bzw. einer Verhaltensweise immer schon theorieimprägniert. Die einen solchen Zusammenhang begründende Vorstellung stellt in der Regel einen bestimmten Aspekt einer psychologischen oder historischen Theorie dar. Hier zeigt sich der von Gadamer im Anschluss an Heidegger eindringlich dargestellte hermeneutische Zirkel, nach dem alles Verstehen schon ein Vorverständnis, d.h. einen Vorentwurf, ein Vorwissen von dem voraussetzt, was ich erst verstehen will. Ich kann nicht voraussetzungslos verstehen, da ich immer schon von einem bestimmten Horizont möglichen Verstehens, möglichen Auslegens umgeben bin. Rezeption Der -•Psychoanalyse attestierte Jürgen Habermas ein »szientistisches Selbstmissverständnis«, und er verortete sie, ebenso wie Paul Ricoeur das tat, als ein Verfahren systematischer Selbstreflexion methodologisch in der Hermeneutik. Spezifischer formuliert: sie sei, da es ihr um das Verstehen von bisher systematisch aus der Selbstkommunikation ausgeschlossenen Bedeutungen gehe, als eine »Tiefenhermeneutik« zu charakterisieren. In dem von Alfred Lorenzer konzipierten szenischen Verstehen könnte man eine Operationalisierung dieser Charakterisierung sehen, sofern hier der Patient gewissermaßen unterhalb der Sprachebene aus den unbewussten Inszenierungen seines Beziehungsverhaltens verstanden werden soll. Will man die Psychoanalyse zur Personzentrierten Psychotherapie vergleichend in ein Verhältnis setzen, könnte man sich eines berühmten Wortes von Schleiermacher (1838/1977, S. 94) bedienen, wonach es beim Verstehen darauf ankomme, »die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«. Neigen vielleicht die Psychoanalytiker eher dazu, den Patienten sofort »besser« verstehen zu wollen, so nehmen es die Personzentrierten Therapeuten mit der ersten Forderung Schleiermachers sehr genau und schrecken vor der zweiten eher zurück. Denn sie befürchten, dass der Patient durch die Mitteilung dieses »Besser-Verstehens« in seinem Meinen und Erleben fremdbestimmt werden könnte. Da jedoch auch nach der Personzentrierten Persönlichkeitstheorie der Patient aufgrund der Rigidität seines Selbstkonzeptes sein eigenes Erleben nicht mehr »exakt«, sondern nur »verzerrt symbolisieren« 187
kann und sich so selbst missversteht, sich über sich selbst täuscht, kommt es auch fiir den Gesprächspsychotherapeuten darauf an, dass er den Patienten »besser« versteht als dieser sich selbst. Interpretierend verständigt sich der Therapeut mit dem Klienten, um ein zunächst Unverständliches verständlich werden zu lassen, um eine implizite Bedeutung zu explizieren, um eine verzerrte Symbolisierung in eine exakte zu überfuhren. Da aber alles Verstehen ein Vorurteil oder besser ein Vorverständnis zur Voraussetzung hat, fiih.lt sich der Personzentrierte Therapeut besonders verpflichtet, die Angemessenheit seines Vorverständnisses in der verstehenden Auseinandersetzung mit seinem Klienten immer wieder zu überprüfen.
Literatur Dilthey, W. (1924 und 1927). Gesammelte Schriften. Bd. V und VII. Leipzig, Berlin: Teubner. Rogers, C. R. (1977). Therapeut und Klient. München: Kindler. Schleiermacher, F. D. E. (1838/1977). Hermeneutik und Kritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Weiterführend Scholtz, G. (2011). Die Wurzeln des »Einfühlenden Verstehens«. Konzepte des Verstehens in den Geisteswissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. PERSON\ 2, 93-102. Jobst Finke
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HISTORISCHE PSYCHOLOGIE ALS ALLGEMEINE PSYCHOGENESETHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Der Begriff Historische Psychologie verweist nicht auf die Psychologiegeschichte (-* Geschichtswissenschaftliche Ansätze), sondern auf Prozesse des kollektiven psychischen Wandels und kennzeichnet vor allem das Bemühen um die Gewinnung einer kulturellen Entwicklungstheorie. Der Aufsatz von Luden Febvre über Geschichte und Psychologie erschien 1938 und trug maßgeblich zum Aufbau der »Mentalitätsgeschichte« bei, in der - gleichsam stellvertretend für die Psychologie, aber auch in Konkurrenz zu ihr - über viele Jahrzehnte hinweg der »vergessene« Gegenstand der Historischen Psychologie erforscht werden sollte. 2008 gab Peter Dinzelbacher dazu den Sammelband Europäische Mentalitätsgeschichte heraus. William Stern hatte in seinem Buch Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage den Versuch unternommen, eine explizit so bezeichnete »Historische Psychologie« zu konzipieren, war damit jedoch über ein programmatisches Bemühen nicht hinausgekommen. 1956 begründete der Niederländer Jan Hendrik van den Berg eine auch in inhaltlicher Hinsicht konkretisierte Historische Psychologie. Etwa zur gleichen Zeit war mit Erik Erikson (-• Entwicklungstheorien) die Psychohistory-Bewegung entstanden, die schnell an Bedeutung gewann, aber ausschließlich psychoanalytisch geprägt war (-»Psychoanalyse). Einen besonderen Aufschwung erfuhr die Historische Psychologie im Anschluss an die Durchführung eines größeren Forschungsprojekts zum Thema Zivilisationsgeschichte und Historische Psychologie an der Technischen Universität Berlin (1982-1985). Aus diesem Vorhaben sind die Zeitschrift Psychologie und Geschichte, die Buchreihe Historische Psychologie sowie mehrere historischpsychologisch einzuordnende Buchpublikationen hervorgegangen (u.a. Sonntag & Jüttemann, 1993).
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Theorie Eine große Rahmentheorie der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung wurde von Wilhelm Wundt zwischen 1900 und 1920 auf einer breiten Grundlage unter der Bezeichnung Völkerpsychologie konzipiert. In einer aktuellen historisch-psychologischen Entwicklungstheorie werden drei Grundformen der Psychogenese zu einem Drei-Stufen-Modell zusammengefasst (Jüttemann, 2013): Primär wären danach die seelischen Veränderungen, die wir an uns selbst und bei den Menschen unserer Zeit erleben, sekundär die Sozialisationsgeschichte des Individuums und der menschlichen Kulturgemeinschaft sowie die damit einhergehenden Umbrüche im Erleben und Verhalten und tertiär der Wandlungsprozess, der - jenseits der Bewusstseinsebene - im Hinblick auf die psychisch relevanten Anteile unseres Genoms stattfindet. (1) Das primäre Seelische zeigt sich im aktuellen Weltgeschehen und in den verschiedenen menschlichen Lebensformen, die wir zurzeit auf unserer Erde antreffen, und könnte deshalb vielleicht das >aktuelle soziokulturelle Psychische< genannt werden. Dessen Historizität kommt zum Beispiel in den Prozessen des intergenerationdlen Wandels und der interkulturellen Transmission zum Ausdruck. (2) Das sekundäre Seelische ist das Ergebnis von Vorgängen der Bildung und Erziehung und findet sowohl in den vielfältigen Ausdrucksformen als auch in der allgemeinen Grundstruktur der Persönlichkeit des Menschen seinen Niederschlag. Es könnte möglicherweise adäquat als >das phänotypische Psychische< bezeichnet werden. (3) Das tertiär Seelische: Eine nicht direkt wahrnehmbare Relevanz besitzt das menschliche Genom. Es kann als das tertiäre Seelische gelten, und vielleicht wäre es angemessen, dafür die Bezeichnung >das genotypische Psychische< einzuführen. Die hiermit vorgeschlagenen drei Begriffsprägungen sind lediglich als Versuch einer vorläufigen Deklaration zu verstehen, und der Differenzierung kommt unter Umständen nur ein heuristischer Wert zu. Schließlich geht es dabei nicht darum, eine neue Konstruktion festzuschreiben, die eine störende Systemimmanenz gewinnen könnte, sondern eine Rahmentheorie zu entwickeln, die zunächst einmal für korrigierende Veränderungen offen bleibt 190
und einer diachron-diagnostischen Prüfung unterzogen werden kann. Rezeption Die Rezeptionsgeschichte der als eine frühe Form der Historischen Psychologie identifizierbaren Wundtschen Völkerpsychologie hat Fahrenberg (2011) beschrieben. Als von grundlegender Bedeutung fiir die neuere Entwicklung der Historischen Psychologie hat sich indessen ein Sammelband (Jüttemann [2013]) zur Vorbereitung einer Buchreihe mit dem Titel Die Psychogenese der Menschheit erwiesen. Der damit etablierte Ansatz wird vom Vorstand der Deutschen Gesellschaftfiir Psychologie und von der Fachgruppe Entwicklungspsychologie (in dieser Gesellschaft) nachdrücklich unterstützt. Historische Psychologie wird nunmehr als der menschheitsgeschichtlich orientierte Teil der Entwicklungspsychologie verstanden. Literatur
Fahrenberg,). (2011). Wilhelm Wundt — Pionier der Psychologie und Außenseiter? Leitgedanken der Wissenschaftskonzeption und dere Rezeptionsgeschichte, e-book. Dokumentenserver der Universität des Saarlandes, (http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/ 2011/2901/), letzter Zugriff 15.06.2015. Jüttemann, G. (2013). Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich: Pabst. Sonntag, M. & Jüttemann G. (Hrsg.). (1993). Individuum und Geschichte: Beiträge zur Diskussion um eine »Historische Psychologie Heidelberg: Asanger. Weiterführend Jüttemann, G. (2011). Historische Psychologie und die Entwicklung der Menschheit: Die Perspektive einer Fundamentaltheorie. Erwägen — Wissen — Ethik, 22, 3-145. GerdJüttemann 191
HUMANISTISCHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen
Die Humanistische Psychologie bildete sich in den USA seit den frühen 1960er Jahren als Third Force zwischen der orthodoxen Psychoanalyse und dem eher lebensfremden, die Menschen objektivierenden Behaviorismus heraus. Sie stellte sich gegen die Übertragung des naturwissenschaftlichen Paradigmas auf die Psychologie und besann sich auf Wilhelm Diltheys geisteswissenschaftliches Diktum aus dem Jahre 1894: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« Die aus Deutschland und anderen europäischen faschistischen Ländern in die USA geflüchteten Intellektuellen leisteten dort einen nicht zu unterschätzenden Beitrag fur die Entwicklung der Humanistischen Psychologie. Zwei Motive standen an deren Beginn im Vordergrund: (1) die Erforschung des Gesunden im Sinne einer Distanzierung von der Dominanz des Pathologischen in der Psychoanalyse und in der Psychiatrie; (2) die Erforschung des Schöpferischen im Menschen als Abgrenzung gegenüber dem mechanistischen Denken im Behaviorismus und Neobehaviorismus. Die Basis der Humanistischen Psychologie bilden die besonderen Lebensvoraussetzungen der Menschen im Unterschied zum infrahumanen Lebensbereich, indes nicht in Absetzung von demselben. Hierzu gehören die -•Willensfreiheit des Menschen, seine Sprachfähigkeit, seine Kompetenz zur Selbstreflexion, seine Fähigkeit zur Wertsetzung durch Eigenverantwortlichkeit, sein Bestreben nach Selbstverwirklichung sowie die Aufgabe, seine organismischen Probleme angesichts gesellschaftlich teilweise widersprüchlicher Anforderungen zu fokussieren. 1962 gründeten Abraham Harold Maslow (1908-1970), Charlotte Bühler (1893-1974), Carl Ramson Rogers (1902-1987) und andere humanistisch gesinnte Psychologen die American Association for Humanistic Psychology. Sitz der neuen Gesellschaft war San Francisco, ihr erster Präsident war James Bugental. Das Gründungsmanifest sah als Ziel der neuen Vereinigung vor, die Psychologie in der Tradition des Humanismus, der humanitären Wissenschaft, der 192
Lebensphilosophie, der -•Geisteswissenschaftlichen Psychologie, der -• Phänomenologischen Psychologie sowie der —• Existentialistischen und daseinsanalytischen Ansätze zu erneuern. Im Weiteren wurde sie von der -•Analytischen Psychologie, der -• Individualpsychologie und der -+ Neopsychoanalyse beeinflusst sowie von der akademischen Psychologie, insbesondere von einigen ihrer Theorien wie z. B. der Gestalttheorie und den -• Feldtheorien. In den USA wurde die Humanistische Psychologie in erster Linie durch den Pragmatismus geprägt, auch Auswirkungen des Funktionalismus sind erkennbar. Indes wies ihr Forschungsprogramm über die vorwiegend anhand von Experimenten im infrahumanen Bereich entwickelten Anreiz- und Homöostasemodelle hinaus und maß der Realisierung von Bedürfnissen und dem Erleben von Gefühlen in der zwischenmenschlichen Beziehung sowie der Kreativität besondere Bedeutung zu. Als Repräsentant/innen der Humanistischen Psychologie seien neben den bereits genannten Begründer/ innen der amerikanischen Gesellschaft auch Fritz Perls, Eugene Gendlin, Rollo May, Hans Swildens, Reinhard Tausch, Jobst Finke, Jochen Eckert, Eva-Maria Biermann-Ratjen, Jürgen Kriz und Wolfgang W. Keil angeführt.
Theorie Die ganzheitliche Erfassung des Menschen ist ein ständiger Bestandteil des Problembewusstseins der Humanistischen Psychologie. Es handelt sich um die auch in anderen Wissenschaftsbereichen wichtige Frage der Erfassung und Bewältigung von Komplexität. Durch die Berücksichtung der systemtheoretischen Sichtweise hat das Problem der Ganzheit (-•Ganzheitstheorie) eine neue Wendung genommen (-•Personzentrierte Systemtheorie). Indessen liegt der Schwerpunkt des Profils der Humanistischen Psychologie bei der erlebenden Person. Das Erleben ist Ausgangs- und Endpunkt ihres Verständnisses, sei es in wissenschaftlicher oder in therapeutischer Hinsicht. Zu den zentralen Konzepten der Humanistischen Psychologie gehört auch der Begriff des Verstehens (-• Hermeneutik als Theorie des Verstehens). Inhaltlich stehen die Person und die Struktur ihrer Persönlichkeit im Zentrum der Humanistischen Psychologie. Die Ak193
tualisierung des Potentials des Menschen, die Entfaltung seiner Individualität unter Beachtung seiner Subjektivität konstituieren ihr Menschenbild (-• Menschenbilder der Psychologie). Zentrale Begriffe sind Organismus, Bewusstsein und Selbst. Der menschliche Organismus bewegt sich nicht nur aufgrund einer unbefriedigten Bedürfnislage im Sinne der Psychoanalyse Sigmund Freuds oder der behavioristischen Triebtheorie eines Glark Leonard Hull (-• Motivationstheorien). Maslow (19 54/1977) unterschied in seinem fiir die Humanistische Psychologie grundlegenden Werk Motivation und Persönlichkeit zwischen Mangel- und Wachstumsbedürfnissen. Die Befriedigung der Wachstumsbedürfnisse bewirkt nicht nur reichhaltigeres Erleben und größere seelische Ausgeglichenheit, sondern auch eine verbesserte biologische Leistungsfähigkeit, eine bessere körperliche Gesundheit und ein längeres Leben (-• Bedürfnispyramide). Charlotte Bühler befasste sich in ihrem 1933 erschienenen Werk Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in dem zahlreiche Biographien analysierte, vor allem mit den extern erkennbaren Daten menschlichen Wachstums. Grundlage fiir einen ausgeglichenen emotionalen Haushalt war für sie der Dominanzwechsel von einer überwiegend funktionalen, bedürfnisorientierten zu einer überwiegend selbstbestimmten Auffassung des menschlichen Lebens: Letzteres fasste sie als Produktivität im Sinne einer aufgabenbezogenen Tätigkeit auf. Nach der Autorin hat dieselbe anfänglich einen Vorbereitungs- und Bedürfnisbefriedigungscharakter, später jedoch den Charakter einer planmäßigen Aufgabenerfüllung. Während Bühler dem Subjekt vor allem in extensionaler Hinsicht Geltung verschaffte, war dies bei Rogers (1961/2006) in intensionaler Hinsicht der Fall. Wie andere Humanistische Psychologen versuchte er die traditionelle Gegenüberstellung von Körper und Geist zu überwinden (-•Leib-Seele-Problem). Er betrachtete diverse Formen des Zusammenspiels von Organismus, Bewusstsein und Selbst als Grundlage von Phänomenen menschlichen Wohlbefindens bzw. psychischer Störungen. Seine Personzentrierte Persönlichkeitstheorie setzte bei allen Organismen eine Aktualisierungstendenz voraus, die sich in Bezug auf den menschlichen Organismus als Tendenz zur Selbstverwirklichung und Selbstaktualisierung zeigt. Damit wird die Spannung zwischen Verborgenem 194
und Aktuellem, zwischen Latentem und Manifestem aufgegriffen. Im Wachstumsprozess der Person werden ihre Intention sowie ihre Beachtung und Wertschätzung berücksichtigt; und somit ein teleologisches Moment in den Prozess integriert (-+ Personzentrierte Entwicklungstheorie). Die Humanistische Psychologie misst auch der zwischenmenschlichen Beziehung fiir die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen große Bedeutung zu (-•Dialogmodelle). Authentizität wird als Voraussetzung psychischer Gesundheit betrachtet. Das Konzept bedeutet nicht Anpassung an bestehende Normen, sondern die Ubereinstimmung der Person mit sich selbst. Zentral fiir den Personzentrierten Ansatz ist das Konzept der Kongruenz bzw. der Inkongruenz, der Übereinstimmung von Erfahrungen und Intentionen mit organismischen Impulsen respektive der Nichtübereinstimmung von Bewusstsein mit dem Erleben des Organismus, insbesondere wenn Letzteres teilweise ausgeblendet wird.
Rezeption Mit ihren transdisziplinären und interdisziplinären Verwurzelungen hat die Humanistische Psychologie einen großen Einfluss auf die Theorie und Praxis der Psychotherapie, auf die Erwachsenenbildung sowie auf die Klinische Psychologie. Der humanistische Ansatz umfasst ein ganzes Spektrum an Therapieverfahren. Es zählen hierzu u.a. die Gesprächspsychotherapie, die Gestalttherapie und die Themenzentrierte Interaktion. Die Grundlagenforschung ist phänomenologisch ausgerichtet (-•Phänomenologische Psychologie) und bezieht sich mitunter auch auf allgemeinpsychologische Fragestellungen etwa im Bereich des Sprechens und Erinnerns (vgl. u.a. Galliker, 1990). In methodischer Hinsicht sind die teilnehmende Beobachtung und die Selbstbeobachtung relevant (-»• Selbstbeobachtungskonzepte). Die Person wird nicht einfach als Versuchsperson behandelt, sondern als gleichgestellte/r Partner/in. Mit ihrem interdisziplinären Ansatz hat die Humanistische Psychologie u. a. viel zum Verständnis der Plastizität des Menschen beigetragen. Dennoch ist sie von mehreren Seiten mit Kritik bedacht worden. Die Kontroversen um das Konzept der Aktualisierungs195
tendenz sowie der menschlichen Destruktivität betreffen zentrale Positionen der Humanistischen Psychologie.
Literatur Galliker, M. (1990). Sprechen und Erinnern. Göttingen: Hogrefe. Maslow, A. H. (1954/1977). Motivation und Persönlichkeit. Ölten: Walter. Rogers, C. R. (1961/2006). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta. .
Weiterfuhrend
Hutterer, R. (1998/2006). Das Paradigma der Humanistischen Psychologie: Entwicklung, Ideengeschichte und Produktivität. Wie Springer. Mark Galliker
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HYPOTHESENTHEORIE DER SOZIALEN WAHRNEHMUNG
Wichtige Vertreter/innen Jerome Bruner legte mit seinem Buchbeitrag Personality dynamics and the process ofperceiving, der 19 51 in New York erschien, den Grundstein der Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung, die er dann zusammen mit Leo Postman ausgearbeitet hat. Weitere wichtige Forscher, die sich mit dieser sozialpsychologischen Theorie auseinandergesetzt haben (-• Sozialpsychologische Theorien), sind Gordon Allport, Solomon Asch, Dieter Frey und Waldemar Lilli.
Theorie Kernannahme der Hypothesentheorie ist, dass Wahrnehmung selten objektiv, sondern meist gefiltert ist. Jeder Wahrnehmungsvorgang beginnt mit einer Hypothese {perceptual set oder cognitive predisposition), die die Richtung der eigenen Aufmerksamkeit beeinflusst bzw. lenkt und bis zu einem gewissen Grad auch Informationen liefert, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Auftreten bestimmter Objekte (Ereignisse etc.) zu erwarten ist. Erwartungshypothesen werden demnach als wahrnehmungsdeterminierende Faktoren verstanden, das heißt, sie schränken die eigene Wahrnehmung ein. Man könnte auch sagen: »Wir laufen alle mit einer individuellen Brille durch die Welt.« Dabei werden die Hypothesen hinsichtlich ihrer Stärke unterschieden. Im Extremfall gibt es nur eine Hypothese - eine sogenannte Monopolhypothese, die alles erklären soll und keine Ausnahmen zulässt (z.B. »Alle Frauen sind schlechte Autofahrer«). Oder es gibt mehrere schwache Hypothesen, die alternative Wahrnehmungen ermöglichen. Diese Wahrnehmungs-Erwartungs-Hypothesen entstammen u.a. gespeicherten früheren Perzeptionen aus Selbst- oder Fremderfahrungen bzw. klassischem oder instrumentellem Lernen, Modell- oder Gruppenlernen. 197
Die Wahrnehmung ist ein Entscheidungsvorgang (-• Entscheidungstheorien), der einem dreistufigen Zyklus folgt. Auf der ersten Stufe befindet sich die Erwartungshypothese. Anschließend werden die vorhandenen Reizinformationen aus der Umwelt aufgenommen und abgeglichen. Am Ende des Wahrnehmungsvorgangs steht die Bestätigung der Hypothese bzw. die Hypothesenfalsifizierung oder ein Wechsel der Perspektive des Beobachters. Das zentrale Konstrukt der Theorie, die Stärke der Hypothese, entscheidet, wie sehr das Wahrnehmungsergebnis durch die Erwartungshypothese bestimmt wird. Zwischen der (Stärke der) Erwartungshypothese und der (Verfügbarkeit von) Reizinformation besteht ein kontinuierliches Beziehungsverhältnis: Je stärker eine Hypothese ist, desto geringer die Menge der zu ihrer Bestätigung benötigten Reizinformation; je schwächer die in Frage kommenden Hypothesen, desto mehr Reizinformation ist nötig, um eine davon zu bestätigen. Hinsichtlich der Hypothesenstärke sind fünf Determinanten zu nennen: (1) Häufigkeit, mit der eine Hypothese früher bestätigt worden ist. (2) Anzahl in einer Situation verfügbarer Hypothesen: Je höher die Anzahl, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass eine davon zum Zuge kommt. Die Entscheidungszeit verlängert sich, und die Entscheidungssicherheit nimmt ab (Perspektiven- und Strategiewechsel des Beobachters wahrscheinlich). (3) Motivationale Einflüsse: Motivation wirkt selektiv. Hinlenkung auf hypothesenunterstützende und Weglenkung von hypothesenwidersprechenden Informationen. Je stärker die motivationale Unterstützung für eine Hypothese ist, desto geringer ist die Menge der passenden Reizinformationen, die zu ihrer Bestätigung, und desto größer die Menge der widersprechenden Informationen, die zu ihrer Widerlegung nötig sind. (4) Kognitive Einflüsse: Je fester eine Hypothese im kognitiven System des Beobachters verankert ist, desto geringer ist die Menge passender Reizinformationen, die zu ihrer Bestätigung nötig ist, und desto größer ist die Resistenz dieser Hypothese gegen Änderung. (5) Soziale Einflüsse: In Abwesenheit von passenden Reizinformationen kann die Ubereinstimmung von Mitgliedern einer Gruppe als Bestätigung einer Hypothese dienen. 198
Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung scheint eine erklärungskräftige Theorie zu sein, die eine Vielzahl von heterogenen Phänomenen erklären und vorhersagen kann. Wie eine Person wahrgenommen wird, hängt z. B. davon ab, welche Hypothese man über den Menschen hat. Bei starken Hypothesen, z. B. motivational durch Neid, Eifersucht oder Hass bedingten, reichen schon minimale Anhaltspunkte aus, um ein Bild zu vervollständigen, das nicht der Realität entsprechen muss. Wird dieses Bild von anderen akzeptiert, steigt die Sicherheit bezüglich der Richtigkeit der Hypothese. So wurde beispielsweise Juden im Mittelalter vorgeworfen, die Brunnen vergiftet zu haben, als Erklärung fiir die todbringende Pest. Die Hypothese war nahezu Allgemeingut, auch wenn niemand je einen Juden bei der Brunnenvergiftung beobachtet hatte. Die seit Bruner undTagiuri (1954) mit dem Namen Implicit Personality Theory belegten Forschungen zu gruppen-, schicht- oder kulturspezifischen Meinungen über zusammenpassende oder nicht zusammenpassende Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale können im Sinne eines Systems von festgelegten Hypothesen verstanden werden. Einstellungen (wie z. B. Stereotype) können ebenfalls mit Hilfe der Hypothesentheorie erklärt werden (-•Motivationstheorien). Rezeption Die Theorie wurde von Bruner (19 51) von Anfang an als eine Einstellungstheorie verstanden, da sie die Erwartungshypothese im Sinne einer kognitiven Prädisposition zur Vorhersage künftiger Ereignisse auffasst. Stereotype können demnach als monopolistische Hypothesen in einer bestimmten Situation verstanden werden, die die Aufmerksamkeit auf bestimmte Klassen von Informationen beschränken (Urteilssimplifizierung). Seit der Entdeckung des Pygmalion-Effektes durch Rosenthal und Jacobson (1968) sind Hunderte von Beiträgen zur Self-Fulfilling-Prophecy erschienen, in denen u. a. gezeigt wurde, dass die Tendenz zur Wunscherfiillung in der interpersonalen Erwartung die Art und Häufigkeit der Interaktion verändert. Zum Beispiel schenken Lehrer Schülern mit guten Noten bzw. mit Eltern von ge199
hobenerem Status mehr Aufmerksamkeit als Schülern mit schlechten Noten bzw. mit Eltern von niedrigerem Status. Die Verbindung zur Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung ergibt sich durch die Hypothesenstärke: Je höher der Wunsch nach dem Eintritt des Ereignisses, desto mehr Verhaltensenergie wird (unbewusst) in diese Richtung gelenkt. Literatur Bruner, J. S. (1951). Personality dynamics and the process of perceiving. In R.R. Blake & G.V. Ramsey (Eds.), Perception, an approach to personality (S.121-147). New York, NY: The Ronald Press. Bruner, J. S. &Tagiuri, R. (1954). Person Perception. In G. Lindzey (Ed.), Handbook of social psychology (Vol. 2, pp. 634-654). Reading, MA: Addison-Wesley. Rosenthal, R. & Jacobson, L. (1968). Pygmalion in the classroom. New York, NY: Holt, Rinehart & Winston. Weiterführend
Lilli, W. & Frey, D. (2002). Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung. In D. Frey & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie. Bd. I: Kognitive Theorien (S. 49-78). Bern: Huber Dieter Frey und Stephanie Draschil
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IDEOMOTORISCHE VERHALTENS- UND HANDLUNGSSTEUERUNG
Wichtige Vertreter/innen Die ideomotorische Theorie (IMT) der Verhaltens- und Handlungssteuerung, d.h. die Vorstellung, dass motorische Aktionen durch eine mentale Repräsentation antizipierter und in der Regel auch intendierter Handlungseffekte ausgelöst werden, lässt sich relativ weit in der Geschichte der Psychologie zurückverfolgen (-* Geschichtswissenschaftliche Ansätze). Bereits Robert Hooke vertrat im 17. Jahrhundert die Auffassung, dass Empfindungen und Handlungen eine Einheit sind und der Mensch im Laufe seines Lebens zahlreiche ideogenetisch-kinetische Verbindungen in seinem Gedächtnis speichern kann, die einer ideomotorischen Handlungssteuerung zur Verfugung stehen. Als ein weiterer der frühen und in der Ausformulierung der IMT elaboriertesten Vertreter kann Johann Friedrich Herbart genannt werden, der 1825 in der IMT einen Ansatz zur Lösung des Leib-Seele-Problems sah. Zwei Jahrzehnte später erkannte der britische Neurophysiologe Thomas Laycock bei Tollwutpatienten den Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Reflexhandlungen des Gehirns. William Benjamin Carpenter schließlich prägte am 12. März 1852 in einem Vortrag vor der Royal Institution of Great Britain den Begriff der Ideomotorik. Ähnlich wie Laycock sah Carpenter zunächst die ideomotorischen Aktionen als zerebrale Reflexhandlungen an, die insbesondere dann ausgelöst werden, wenn das Gehirn durch Krankheit, wie bei der Tollwut, oder durch externe Einflüsse, wie z. B. bei Seancen, in seiner willentlichen Kontrolle eingeschränkt ist. Herbart war in diesem Punkt den beiden Briten deutlich voraus, denn seiner Auffassung nach wird jegliche menschliche Handlung ideomotorisch gesteuert. Erst der amerikanische Psychologe William James schloss sich 1890 der Herbartschen Auffassung an. Er unterschied bei den ideomotorischen Handlungen jedoch zwischen denjenigen, die automatisch ablaufen und die große Mehrheit bilden, und denjenigen, die zusätzlich eine bewusste Hand201
lungsfreigabe benötigen. Weitere historisch bedeutsame Vertreter der IMT waren Hermann Rudolf Lotze und Emil Harleß.
Theorie Nach Herbart belehrt im frühesten Kindesalter zunächst der Körper durch Spontanbewegungen das Gehirn über seine noch rudimentären Verhaltensmöglichkeiten, und Letztere verbinden sich mit den dabei erlebten Sinneseindrücken. Sobald ein Kind nach dieser initialen Belehrungsphase den Wunsch verspürt, einen in der Vergangenheit erlebten Sinneseindruck erneut wahrzunehmen, löst dies automatisch die dazugehörigen motorischen Kommandos aus, die den gewünschten Sinneseindruck zuvor hervorgebracht haben. Auf diese Weise wird es möglich, den Körper über die Vorstellung gewünschter, d. h. in der Zukunft: liegender Sinneseindrücke (Effektantizipationen) zu steuern. Das dazu passende motorische Programm läuft dann automatisch ab. Unser Wollen, so Herbart, hat keinen direkten Einfluss auf die Motorik und kein Wissen über deren Funktionsweise. Es kann sie nur indirekt über antizipierte Effekte ansprechen. Sobald der Körper einigermaßen auf diese Art und Weise gesteuert werden kann, entstehen über ein sich stetig erweiterndes Aktionsfeld kontinuierlich neue Effekte, die automatisch mit den entsprechenden motorischen Kommandos verbunden werden. Bis zum Erwachsenenalter bilden sich so Handlungskompetenzen aus, die vom einfachen Greifen einer Flasche bis hin zu motorischen Höchstleistungen, z. B. beim Eiskunstlauf, reichen können. Physiologisch muss es im Gehirn fiir einen solchen Lernprozess Einheiten geben, die die Verbindungen zwischen gewünschten Effekten und motorischen Kommandos speichern. Laycock sprach in diesem Zusammenhang von ideogenetischen und kinetischen Substraten, die durch Assoziationen miteinander in Verbindung stehen, und auch Harleß entwarf eine Modellvorstellung sensorisch-motorischer Substrate. Hinzu kommen bei Harleß noch die Annahmen, dass der Erwerb von Bewegungskompetenz bereits pränatal beginnt und dass die Willentlichkeit der Handlungsfreigabe notwendig ist. Denn reale oder antizipierte Effekte dürfen seiner Auffassung nach keine direkt handlungsinitiierende Funktion ha202
ben, da wir uns ansonsten »... an unseren Vorstellungen sehr bald zu Tode gezappelt haben« (Harleß, 1861, S. 58). Rezeption Die Konzeption der IMT war bereits im 19. Jahrhundert weit gediehen und hätte insbesondere durch James' Aufnahme in seine 1890 publizierten Principles of psychology einen Niederschlag in der experimentellen Forschung finden können. Die zunehmende Hinwendung der amerikanischen Psychologie zum Behaviorismus, der Handlungen als reizgetrieben ansah und mentale Aspekte aus der Welt des Psychischen verbannte, sowie eine deutlich Kritik Edward Lee Thorndikes an der IMT verhinderten dies über viele Jahrzehnte. Eine bis heute andauernde Renaissance der IMT wurde 1970 durch Anthony Greenwald ausgelöst und Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre durch Wolfgang Prinz und Joachim Hoffmann verstärkt (vgl. Shin, Procter & Capaldi 2010). Greenwald schlug ein aus einer Trainings- und einer Testphase bestehendes experimentelles Design zur Untersuchung der IMT vor, mit dem sich nachweisen lässt, dass irrelevante Reize, sofern sie zuvor in einer Trainingsphase als kontingente Handlungseffekte erlernt wurden, in einer Testphase eine reaktionsbeschleunigende Wirkung haben. Der Gedanke dahinter ist derjenige, dass sich in der Trainingsphase automatisch Handlungs-Effekt-Codes ausbilden, die in der Testphase durch die Darbietung der Effekte als irrelevante Reize angesprochen werden und es so ermöglichen, die zugehörige Handlung schneller zu aktivieren als in der Kontrollgruppe. Einen ersten experimentellen Beleg, dass die mit frei gewählten Handlungen einhergehenden Effekterwartungen tatsächlich handlungsrelevant sind, erbrachte Wilfried Kunde zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch ohne den Einsatz irrelevanter Reize (vgl. Stock, 2004).
Literatur Harleß, E. (1861). Der Apparat des Willens. Zeitschrift fur Philosophie undphilosophische Kritik, 38, 50-73. 203
Herbart, J. F. (1825). Psychologie als Wissenschaft neu gegründet a Erfahrung\ Metaphysik und Mathematik: .Königsberg: Unzer. Stock, A. (2004). Intentionalität und Ideo-Motorik: Eine handlungstheoretisch-psychologische Synthese. Lengerich: Pabst. Weiterfuhrend Shin, Y. K., Procter, R. W. & Capaldi, E. J. (2010). A review of contemporary ideomotor theory. Psychological Bulletin, 136, 943974. Armin Stock
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IMPRESSION-MANAGEMENT-THEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Impression-Management-Theorie ist ein Erklärungskonzept der Sozialpsychologie (-* Sozialpsychologische Theorien), das Anfang der 1970er Jahre im Kontext der Auseinandersetzung mit der -•Kognitiven Dissonanztheorie entwickelt wurde. Bereits Erving Goffman verwies in seinem Buch The presentation of selfin everyday life aus dem Jahre 1959 auf das Sozialverhalten der Menschen; er ging davon aus, dass der Mensch jeden Tag in Interaktionen eine Art Rolle wie in einem Theaterstück spiele. Dies entspricht den Aussagen des Symbolischen Interaktionismus. Hierbei werden soziale Interaktionen durch wechselseitige Erwartungen der beteiligten Personen beeinflusst. Die Impression-Management-Theorie geht zurück auf das Konzept der Sozialen Erwünschtheit {social desirability). Die Prozesse der Impression-Management-Theorie wurden bereits 1972 u. a. von James T. Tedeschi in der Sozialpsychologie als Beeinflussungstheorien beschrieben.
Theorie Unter der Impression-Management-Theorie werden sogenannte Inszenierungsstrategien verstanden, mit denen ein bestimmtes Ansehen in der Öffentlichkeit hervorgerufen werden soll, z. B. ein guter Ruf. Grundmotiv ist hierbei, dass durch diese Selbstdarstellung die Aufmerksamkeit der Umwelt erregt wird und das Ansehen und der Einfluss gesteigert werden. Die Menschen sind laut der Theorie ständig bemüht, den äußeren Eindruck gegenüber anderen Personen zu kontrollieren. Jede Person antizipiert vor einer Handlung die möglichen Reaktionen, die die Verhaltensweise auslösen kann, und je nach möglicher Reaktion wird diese ausgeführt, modifiziert oder unterlassen. Fast alle Verhaltensweisen des Menschen werden letztlich bewusst oder unbewusst durch das Impression-Management beeinflusst. Schlenker (1980) verdeutlichte, dass Impression-Management nicht nur vor anwesenden Personen vollzogen wird, sondern auch 205
in imaginären Situationen oder gegenüber abwesenden Personen. Einfluss nehmen verschiedene Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. Self-Monitoring (die Fähigkeit, sein eigenes Verhalten zu kontrollieren) oder Machiavellismus (die Neigung, über andere Personen Macht auszuüben). Oftmals werden die Begriffe Impression-Management und SelfPresentation synonym verwendet. Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Strategien bezüglich der Impression-ManagementTheorie entwickelt. Während Taktik eher kurzfristige und spontane Techniken beinhaltet, werden unter Strategie die langfristigen und situationsübergreifenden Techniken verstanden. Zudem können diese zusätzlich als >durchsetzungsfähig< {assertiv) oder - im Gegenteil - >defensiv< unterschieden werden. Die Wahl der Strategie hängt sowohl von der Persönlichkeit als auch von den gegebenen Umständen ab. Zu den assertiven Taktiken gehören u.a. Self-Enhancement, durch das eigene Leistungen und das eigene Selbstwertgefuhl herausgestellt werden sollen. Eine weitere assertive Technik ist die Self-Promotion, mit der die Menschen versuchen, kompetent und intelligent zu erscheinen, und Eigenwerbung betreiben. Ebenso gehören Entitlement (hohe Ansprüche signalisieren), Overstatement (übertreiben), Basking in Reflected Glory (BIRGing; sich über Kontakte aufwerten) und Boosting (sich über Kontakte positiv abheben) zu diesen Techniken. Im Gegensatz dazu stehen die defensiven Taktiken, mit denen ein Ansehensverlust bei anderen Menschen verhindert werden soll. Darunter fallen u. a. Excuses, Justifications und Apologies. Mit Excuses versucht sich der Akteur aus der Verantwortung zu ziehen, während er mit Justification versucht, sich zu rechtfertigen oder sich zu entschuldigen (Apologies). Weitere Taktiken sind Accounts (sich rechtfertigen in misslichen Lagen), Disclaimers (widerrufen, ableugnen, dementieren, vorsorglich abschwächen), Self-Handicapping (sich als unvollkommen darstellen) und Understatement (untertreiben). Durch assertive Selbstpräsentationsstrategien wird versucht, nicht nur kurzfristig, sondern langfristig ein gutes Bild von sich zu erzeugen. Hierunter werden z. B. Attractiveness oder Competence verstanden. Der Akteur will attraktiv und liebenswert oder auch kompetent auf seine Mitmenschen wirken. Eine weitere Strategie 206
ist Ingratiations. Hierunter werden nach Rosenfeld, Giacalone und Riordan (2002) Taktiken und Strategien verstanden, die auf »making others like you« (S. 29) abzielen. Teile der Strategie sind Favor Doing (Gefallen tun), Self- and Other-enhancing Communication und Opinion Conformity (Meinungkonformität). Durch defensive Strategien wird ebenso wie bei den defensiven Taktiken versucht, die Verantwortung für das eigene Handeln zu mindern. Dies kann z. B. durch Helplessness und Anxiety passieren. Der Akteur stellt sich hierbei als ängstlich und hilflos dar. Rezeption Bislang liegen in Bezug auf die Impression-Management-Theorien wenig empirische Belege vor. Vielmehr berufen sich die Theoretiker auf bereits bestehende Theorien der differentiellen und diagnostischen Psychologie. Zudem wurde die Theorie so umfassend definiert, dass kaum eine Verhaltensweise nicht auf das ImpressionManagement zurückzuführen ist. Dennoch hat die Theorie ein positives Ansehen und ist weit verbreitet. Aktuelle Forschungen beziehen sich überwiegend auf Bereiche der Wirtschaft wie z. B. das Marketing. Zudem wird das Impression-Management immer häufiger in Verbindung mit Unternehmensstrukturen gebracht. Aktuelle Anwendungsbereiche sind u. a. Führung (-> Führungstheorien), PR oder Social Media. Dennoch sind weitere empirische Untersuchungen der Theorie nötig, vor allem im Hinblick auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, die durch eine häufige Anwendung des Impression-Management entstehen können.
Literatur Rosenfeld, P., Giacalone, R. & Riordan, C. (2002). Impression management: building and enhancing reputations at work. Lincolnshire, UK: Thomson. Schlenker, B. R. (1980). Impression management: the self-concept, social identity and interpersonal relations. Belmont, CA: Brooks & Coole. 207
Tedeschi, J. T. & Riess, M. (1981). Verbal strategies in impression management. In C. Antaki (Ed.), The psychology of ordinary explanations of social behavior (S. 271-309). London, UK: Academic Press. Weiterführend
Mummendey, H. D. (1995). Psychologie der Selbstdarstellung. Göt tingen: Hogrefe. Petia Genkova
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INDIVIDUALPSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Alfred Adler (1870-1937) verließ Anfang Februar 1911 nach drei Vorträgen, die er im Wiener Psychoanalytischen Verein gehalten hatte, gefolgt von anderen Heterodoxen wie Carl Furtmüller, Alexander Neuer und Erwin Wexberg, den Kreis der Psychoanalytiker/innen und gründete eine tiefenpsychologische Schule, die Sigmund Freuds Unbewusstes als weniger zentral erachtete (-• Psychoanalyse). Zu den weiteren Vertretern der Individualpsychologie gehören neben vielen anderen Psychologen, Pädagogen und Analytikern auch Sofie Lazarsfeld und Lydia Sicher. Adler versuchte nicht, die fiir Freud so wichtigen seelischen Mechanismen auszumachen, sondern umgekehrt alles, was man als Mechanismus ansehen konnte, als eine Wirkung der individuellen Ganzheit zu verstehen. Adler ging »von der unlöslichen Einheit und Ganzheit des Individuums« aus (vgl. Sperber, 1983, S. 277; Hervorhebung i. Orig.). 1912 erschien Adlers Indivdual-Psychologie und Psychotherapie, 1927 sein bekanntestes Buch, die Menschenkenntnis, die Quintessenz seiner psychologischen Erkenntnisse. Adler setzte sich mit seiner Individualpsychologie nicht etwa das Ziel, das Individuum ausschließlich als isoliertes Einzelwesen zu erfassen, sondern viel eher als gesellschaftliches Produkt sowie als selbstverantwortlichen Produzenten seiner Lebensumstände zu untersuchen. Eine Person ist prospektiv ausgerichtet, was nicht heißt, dass zum Vorangegangenen kein Zusammenhang besteht. So bestand Adler auf dem Kompromissbegriff der »kausalen Finalität« (Adler 1927/2007, S. 91). Jede Bewusstwerdung ist auch eine Bewusstmachung. Für Adler ist bedeutsamer als ein kindliches Erlebnis an sich, wie dasselbe aufgefasst, (um) gedeutet und mit anderen Erlebnissen - eigenen und jenen von Mitmenschen - verglichen und verwoben wird. Personen versuchen häufig durch Kunstgriffe, Tricks oder Arrangements die frühkindliche Verwöhnungssituation aufrechtzuerhalten, anstatt von einem ausschließlich »Nehmenden« zu einem Mutuellen, einem »Gebenden-Nehmenden«, zu werden. 209
Theorie
Die Individualpsychologie fuhrt menschliches Verhalten auf zwei Prinzipien zurück, nämlich auf das in erster Linie gegenwartsbezogene und situationsbedingte Minderwertigkeitsgefühl und auf den Versuch, dasselbe durch besondere Anstrengungen auszugleichen bzw. zu kompensieren. (1) Gefühl der Minderwertigkeit: Das aufgrund von Organminderwertigkeit hilflose Kind ist von seinen primären Bezugspersonen vollkommen abhängig, daher wird es vom Minderwertigkeitsgefühl so sehr geprägt, dass seine spätere Entwicklung immer als ein Versuch angesehen werden muss, dieses primäre Erleben von Minderwertigkeit zu überwinden. (2) Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls: Der Mensch i bestrebt, seine schmerzlich zur Kenntnis genommenen frühen Defizite so weit wie möglich auszugleichen bzw. zu kompensieren. Diese treibende Kraft menschlichen Handelns kann sich langfristig positiv auswirken. Populäre Beispiele sind kleine Männer, die große Feldherren, Stotterer, die brillante Redner, und Depressive, die berühmte Clowns wurden. Aufgrund der Entdeckung solcher »Überleistungen« gelangte Adler zu seiner skeptischen Haltung gegenüber der Bedeutung der seelischen Heredität. Seiner Meinung nach kommt es nicht so sehr darauf an, was ein Mensch mitbringt, als vielmehr darauf, was er aus dem ihm Mitgegebenen macht. Indessen ist nicht jeder Ausgleichsversuch ein den gesellschaftlichen Voraussetzungen angemessener. Ein Beispiel einer inadäquaten Kompensation ist der »männliche Protest«; eine Haltung, die zwar mit betonter Männlichkeit imponiert, die aber Adler zufolge gerade auch Frauen einnehmen können, um ihre materielle und gesellschaftliche Benachteiligung verbal und/oder nonverbal zu verkleiden, anstatt sie aufzudecken und zu bekämpfen. Im Unterschied zu Friedrich Nietzsche betrachtete Adler den »Willen zur Macht« nicht als Ausdruck von Selbstsicherheit und Stärke, sondern als überkompensatorisches Streben bzw. als »Übersicherung« durch die Unterdrückung anderer Personen aufgrund ausgeprägter Entmutigung in den frühen Lebensjahren. Manes Sperber fiihrt das Beispiel einer jungen Frau an, die seit Langem unter ihrem Aussehen litt und schließlich vorgab, dass es ernied210
rigend fiir eine Frau sei, allzu lange passiv auf einen Tanzpartner zu warten. Als sie eines Tages nicht umhinkam, ihre Freundinnen in ein Tanzlokal zu begleiten, gab sie zu verstehen, dass sie die feuchten Hände der Tänzer nicht vertrage. Schließlich erlitt sie einen Erstickungsanfall, der zunächst von den Freundinnen nicht wahrgenommen wurde, da diese sich auf der Tanzfläche befanden. An die Stelle der Kompensation trat die Dekompensation, die neurotische, weil falsche und kurzgeschlossene Lösung eines Problems. Damit erreichte die junge Frau, dass sie ihren Rückzug nicht mehr begründen musste, durfte sie sich doch nicht noch einmal der Erstickungsgefahr aussetzen. »Was da vorliegt, ist ein Spiel des Selbstbetrugs, der sozusagen im Dämmerlicht vollfuhrt wird, also keineswegs unerkennbar oder völlig unbewusst ist: ein Monolog, den man als Dialog zwischen einer unschuldigen, gewissermaßen fugsamen Seele und einem souveränen, rücksichtslos störenden Körper maskiert« (ebd., S. 119). Nach individualpsychologischer Auffassung erzeugt ein nicht aktiv verarbeitetes und überwundenes Minderwertigkeitsgefühl einen Minderwertigkeitskomplex. Die Flucht in die Neurose hat nach Adlers Dafürhalten einen gegen die Gemeinschaft gerichteten Charakter, der kurzfristig einen Gewinn bringt (sogenannter Krankheitsgewinn), langfristig aber das Leiden potenziert. Der Kreis der Gemeinschaft wird durch ein Arrangement von Überempfindlichkeit und Intoleranz immer weiter reduziert und zwischenzeitlich durch den Versuch der mehr oder weniger bewussten Anbindung eines Partners oder eines Kindes kompensiert. Zur Überwindung der Neurose ist es nötig, die konkreten Lebensumstände der Patienten mikroskopisch genau zu untersuchen, die einst nicht eingeschlagenen Lösungsmöglichkeiten zu erkennen sowie die bisherige Pseudolösung zu revidieren. Die Lösung besteht demnach im revidierenden Wiedererleben früherer Entscheidungssituationen (-> Entscheidungstheorien). Indem sich eine Person ihrer Vergangenheit im Sinne eines Subjekts bemächtigt, befreit sie sich von ihr.
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Rezeption Freud und seine Schüler setzten sich mit der Individualpsychologie kritisch auseinander. Die Individualpsychologie wird oft mit dem Beginn der sogenannten Ich-Therapie identifiziert. Die klassischen Psychoanalytiker warfen den Individualpsychologen u. a. vor, dass sie sämtliche menschlichen Beziehungen, inklusive sexueller Verhältnisse und Probleme, aus dem Machtstreben erklärten und fiir den Therapeuten nicht zuletzt auch erzieherische Funktionen vorsahen. Für den individualpsychologischen Ansatz interessierten sich neben den Psychologen auch Ärzte, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter. Adlers Schriften fanden eine große Verbreitung und bereiteten den Weg zur -»• Neopsychoanalyse. Literatur
Adler, A. (1927/2007). Menschenkenntnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1974). Individualpsychologie und dialektische Charakte kunde. Frankfurt/M.: S. Fischer. Sperber, M. (1983). Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Frankfurt/M.: Ullstein. Weiterführend
Wyss, D. (1977). Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfang bis zur Gegenwart: Entwicklung, Probleme, Krisen. Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht. Mark Galliker
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INTERAKTIONSBASIERTE THEORIEN DER FACE-TO-FACE-KOMMUNIKATION
Wichtige Vertreter/innen Die mündliche, nicht medial vermittelte sprachlich-kommunikative Interaktion zwischen ko-präsenten Teilnehmern gilt als prototypische Form der zwischenmenschlichen Interaktion. Gegenwärtig einflussreiche Theorien lassen sich von ihren Grundansätzen her zurückführen auf Konzepte des sozialen Konstruktivismus (-•Konstruktivistische Ansätze der Psychologie) und Alfred Schütz' phänomenologische Soziologie. Letztere versucht eine theoretische Grundlegung der Konstitution des Sozialen als handlungstheoretische Ausleuchtung der Herstellung von Sinn im Alltagshandeln. Da menschliche Interaktion weitgehend sprachlich verläuft, spielt Sprache in den theoretischen Zugängen eine wesentliche Rolle, so dass das Forschungsfeld interdisziplinär von soziologischen und linguistischen Theorieformaten bestimmt wird. Im Folgenden wird besonders auf die Ethnomethodologie und ihre Ausprägung der Konversationsanalyse (Conversation Analysis: CA) eingegangen; ethnographische Formen der Interaktionsbeschreibung sowie linguistische Ansätze der Gesprächsforschung werden berücksichtigt. Theorien Die Ethnomethodologie geht zurück auf den amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel und wurde in den 1960er Jahren wirksam. Sie setzt sich zum Ziel, die Geordnetheit der interaktiven Organisation des Alltagshandelns, die den routinemäßig Handelnden selbst als unproblematisch und uninteressant verdeckt bleibt, als eine Methodologie der gemeinsamen Herstellung von Sinn unter Mitgliedern einer Sprach-/Kulturgemeinschaft (members) zu beschreiben (-•Linguistisches Relativitätsprinzip). Diese Ethnomethodologie zeigt sich im und durch den Vollzug der Interaktion selbst in Form von sieht- und hörbaren (audible 213
and visible) Praktiken, die selbstreflexiv fur die Interaktanten die Erzeugung geteilter Bedeutung leisten. Soziale Wirklichkeit entsteht auf diese Weise immer wieder aufs Neue, d. h. manifest und aushandelbar fiir die Beteiligten und nur deshalb verfügbar fur die Analyse. Grundlage dieser Geordnetheit in der gemeinsamen Herstellung von Sinn ist das unter members als geteilt unterstellte, nicht explikationsbedürftige Alltagswissen. Harvey Sacks, später auch Emanuel Schegloff und Gail Jefferson entwickelten diesen Ansatz in den frühen 1970er Jahren weiter zur Analyseform der Conversation Analysis, die zur Abgrenzung von anderen Ansätzen der Gesprächsforschung im Deutschen oft ethnomethodologische Konversationsanalyse genannt wird. Obwohl es inzwischen durchaus programmatische Darstellungen der CA gibt, haben Hauptvertreter sich lange gegen eine systematische Explikation des Ansatzes im Sinne eines Theorieformats gewehrt; es ging ihnen um die Einhaltung analytischer Prinzipien und deren jeweils sensible Anwendung auf die vorfindlichen Gesprächsdaten (»from the data themselves«). Zu den wichtigsten dieser Prinzipien gehören: (1) Die genaue Dokumentation des Gesprächsverlaufi in Form vo Transkripten, die nach einer jeweils festgelegten Notation den auditiv (und visuell) wahrnehmbaren Gesprächsverlauf (unter Einschluss beispielsweise unterschiedlich langer Pausen, Überlappungen von Redebeiträgen, intonatorischen Merkmalen, Neustarts) festhalten und damit der Flüchtigkeit des Höreindrucks entziehen. In Deutschland hat sich im Rahmen konversationsanalytischer Arbeiten das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT (Selting et al., 2009) durchgesetzt. (2) Die strikt Sequentielle Analyse, die den Zug-um-Zug Aufbau des wechselseitigen Verstehens als Prozess aus der jeweiligen Perspektive der Beteiligten nachvollzieht. (3) Die gemeinsame Hervorbringung von Sinn, d. h. die Rekonstruktion manifester Bedeutungen als ko-konstruierte Leistung der Gesprächsteilnehmer. Der lokale Zuschnitt jeder Äußerung auf den Adressaten (recipient design) und dessen Dynamik in Gesprächen mit mehreren Beteiligten macht dies manifest. Jede Einzeläußerung muss damit als ausgelöst durch Vorgängeräußerungen des Gesprächspartners und als steuernd im Hinblick auf Nachfolgeäußerungen sowie als unmittelbar zugeschnitten auf das Rezepti214
onsbedürfnis des jeweils angesprochenen Adressaten analysiert werden. Kodierende Verfahren der kategoriengebundenen inhaltlichen Analyse von Gesprächen etwa lassen sich mit diesem Prinzip kaum vereinen. Rezeption Die CA wurde weltweit rezipiert und - entgegen ihrem dezidiert deskriptiv-grundlagenorientierten Charakter - in unterschiedlichen, auch psychologischen Anwendungskontexten genutzt. Ethnographische Zugänge, die kulturelles Wissen nicht nur aus den aufgezeichneten Interaktionsprozessen selbst, sondern auch durch andere Zugänge (langfristige teilnehmende Beobachtung, Interviews) breiter zu erfassen suchten, wurden häufig mit CA-orientierten Verfahren der Rekonstruktion kombiniert. In Deutschland erfolgte die Rezeption der CA weitgehend durch die Sprachwissenschaft, wodurch ihr Programm als Explikation der Verfahren sozialer Prozesse zum Teil in den Hintergrund rückte (-•Interdependenztheorie): Obwohl die CA sich rekonstruktiv, auf der Basis genauester Transkripte des entsprechenden sprachlichen Geschehens, mit Gesprächen beschäftigt, darf nicht vergessen werden, dass sie nicht eigentlich an Sprache, sondern an den interaktiven Verfahren zur jeweils lokalen Herstellung von Verständigung (talk in interaction) unter Nutzung allgemein verfügbarer (sprachlicher und anderer) Ressourcen interessiert ist (-* Dialogmodelle). Das Interesse von Linguisten und psycholinguistischen Gesprächsforschern an Sprache (-•Sprachpsychologische Theorien) führte zu einer Reihe von gesprächsanalytischen Richtungen, die unterschiedliche Aspekte des Gesprächsgeschehens zentral setzen, etwa grammatische, prosodische oder diskursorientierte Phänomene (-•Diskurstheorie), also solche, die - im Unterschied zur klassischen CA - die Organisation größerer Einheiten in Gesprächen, zum Teil in Auseinandersetzung mit der Gattungstheorie, untersuchen. Interdisziplinär ist gegenwärtig in anwendungsorientierten Disziplinen (Erziehungswissenschaft, Fachdidaktiken, Kommunikationstrainings) oft eine CA-orientierte Rhetorik festzustellen, die aber nicht unbedingt den Rückschluss auf die entsprechende theoretische Orientierung zulässt. 215
Literatur
Garfinkel, H. (1967). Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. Sacks, H. (1992). Lectures on conversation, 2 Vol. Oxford, UK: Black well. Selting, M. et al. (2009). Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). Gesprächsforschung — Online-Zeitschrift zur v balen Interaktion, 10, 353-402. Weiterführend Sidnell, J. & Stivers, T. (Eds.). (2013). Handbook of conversation analysis. Boston, MA: Wiley. Uta Quasthoff
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INTERDEPENDENZTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Harold Kelley und John Thibaut beschrieben 1954 in ihrem Kapitel des Handbook of social psychology erstmals die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Personen (Interdependent) beim Verfolgen von Gruppenzielen« In The socialpsychology of groups (Kelley & Thibaut, 1959) analysierten sie Interaktionen und deren Interdependenzelemente in Dyaden und Kleingruppen nach Prinzipien des sozialen Austauschs mit Hilfe von Spielen. 1978 befanden Kelley und Thibaut, dass ihre neue Interdependenzanalyse nunmehr den Standards einer Theorie entspreche, und die Theorie sozialer Interdependenz war offiziell geboren. Die Interdependenztheorie umfasst die Analyse von Situationen, in denen Personen miteinander interagieren, anhand bestimmter Strukturmerkmale der Situation sowie verschiedener Arten von Motivationstransformationen, die dazu fuhren, dass Menschen nicht nur ihrem unmittelbaren Eigeninteresse folgen, sondern u. a. auch mögliche Konsequenzen ihres Handelns in Verhaltensentscheidungen einbeziehen. 2003 wurde die Interdependenztheorie von Kelly und Kollegen im Atlas ofinterpersonal situations um zwei weitere Strukturmerkmale von Interdependenzsituationen ergänzt. Theorie Das Verhalten von Personen im sozialen Umfeld ist ein zentrales Element menschlicher Existenz. Die Ergebnisse, die wir durch Interaktionen mit anderen Personen erzielen (z.B. Wohlbefinden), können fiir uns besser oder schlechter sein, je nachdem, in welchem Verhältnis die aus der Interaktion resultierenden Belohnungen (z. B. Wertschätzung) und Kosten (z. B. Anstrengungen) zueinander stehen. Unser Verhalten in Interaktionen beeinflusst dabei nicht nur die Ergebnisse, die wir selbst erzielen, sondern auch die Ergebnisse unserer Interaktionspartner; wir sind also wechselseitig voneinander abhängig (interdependent). Die Art der Kontrolle, die Personen über 217
ihre eigenen und über die Ergebnisse ihrer Interaktionspartner haben, ist eines der wesentlichen Elemente der Interdependenztheorie. So können die Ergebnisse einer Person von ihrem eigenen Verhalten (Akteurkontrolle), vom Verhalten des Interaktionspartners (Partnerkontrolle) oder durch das Zusammenspiel des Verhaltens beider Interaktionspartner (gemeinsame Kontrolle) bedingt sein. Personen sind umso abhängiger, je weniger Kontrolle sie selbst über ihre Ergebnisse haben. »Abhängigkeit« ist somit das Gegenteil von »Macht«; das heißt, Personen sind umso abhängiger, je mehr Macht der Partner über ihre Ergebnisse hat. Inwiefern wir durch unser Verhalten beeinflussen können, ob wir selbst und unsere Interaktionspartner bessere oder schlechtere Ergebnisse erzielen, hängt wiederum von Merkmalen der Situation und von Personenmerkmalen ab. Laut Kelley und Thibaut (1978) können Interaktionssituationen vier Strukturmerkmale aufweisen: (1) das Ausmaß an Abhängigkeit (ob und wie sehr eine Person zur Erlangung positiver Ergebnisse von Interaktionspartnern abhängig ist), (2) die Wechselseitigkeit der Abhängigkeit (inwieweit die Abhängigkeit der Partner einseitig oder wechselseitig ist), (3) die Basis der Abhängigkeit (ob die Abhängigkeit einer Person auf Partnerkontrolle und/oder auf gemeinsamer Kontrolle beruht) und (4) die Korrespondenz der Ergebnisse (inwiefern die Ergebnisse der Partner in einer Situation übereinstimmen oder nicht). Kelley et al. (2003) bezeichneten Letzteres als Kovariation der Interessen und fugten zwei weitere Strukturmerkmale hinzu: die Festgelegtheit der Handlungsabfolge (wann und in welcher Abfolge bestimmte Verhaltensweisen gezeigt werden können) und das Informationsausmaß (inwieweit Interaktionspartner über Informationen bzw. die Möglichkeit zur Kommunikation verfugen). Wie Personen mit diesen Strukturmerkmalen umgehen, hängt in der weiteren Folge von Personenmerkmalen ab. Grundsätzlich sind wir bestrebt, unsere Ergebnisse zu maximieren, indem wir unserem unmittelbaren Eigeninteresse folgen (-> Motivationstheorien). Allerdings kann dieses Eigeninteresse durch andere Motive verändert werden, was als Motivationstransformation bezeichnet wird. So können Personen motiviert sein, die eigenen und die Ergebnisse des Interaktionspartners zu maximieren (max joint), während andere Personen versuchen, die Differenz zwischen ihren 218
eigenen und den Ergebnissen des Interaktionspartners zu maximieren (max ret) oder aber zu minimieren, also Gleichheit anzustreben (min diffi. Welche Motivationstransformation stattfindet, wird sowohl durch situationsbedingte (sogenannte proximale Determinanten, z.B. Attributionen, Gefühle, Selbstpräsentationsmotive) als auch durch personale Ursachen (distale Determinanten, z. B. Persönlichkeitseigenschaften, soziale Wertorientierungen, beziehungsspezifische Motive, soziale Normen) bestimmt. Rezeption Die Interdependenztheorie hat als eine der umfassendsten und wichtigsten Theorien der Sozialpsychologie (-•Sozialpsychologische Theorien) bis heute Generationen von Sozialpsychologen beeinflusst und inspiriert. Forscher aus aller Welt bedien(t)en sich interdependenztheoretischer Annahmen zur Untersuchung verschiedenster sozialpsychologischer Phänomene (z. B. soziale Wertorientierungen, Altruismus, Konflikt, Wettbewerb, Fairness und Gerechtigkeit, Liebe, Macht, Attribution, prosoziales Verhalten, Vertrauen, Stereotype und Vorurteile, Aggression) im Kontext von Dyaden, (engen) zwischenmenschlichen Beziehungen und (Klein-) Gruppen. Das Investitionsmodell von Caryl Rusbult basiert auf interdependenztheoretischen Annahmen und stellt heute eine der bedeutsamsten Grundlagen zur Erklärung des Erlebens und Verhaltens in zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Außerdem fand die Interdependenztheorie Eingang in die Forschung zu Umwelt, Wirtschaft und Politik. Literatur Kelley, H. H. & Thibaut, J. V. (1978). Interpersonal relations: A theory ofinterdependence. New York, NY: Wiley. Kelley, H. H., Holmes, J. G., Kerr, N. L., Reis, H. T., Rusbult, C. E. & Van Lange, P. A. M. (2003). An atlas ofinterpersonal situations. New York, NY: Cambridge University Press. Thibaut, J. V. & Kelley, H. H. (1959). The socialpsychology of groups. New York, NY: Wiley. 219
Weiterführend
Van Lange, P. A. M. & Rusbult C. E. (2012). Interdependence theory. In P. Van Lange, A. Kruglanski & E.T. Higgins (Eds.), Handbook of theories of social psychology, Vol. 2 (pp. 252-272 Thousand Oaks, CA: Sage. Silvia Machen Ursula Athenstaedt und Paul A. M. Van Lange
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KLINISCHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Bereits der in Neustrelitz geborene Psychiater Emil Kraepelin (18561926), Professor in Dorpat, Heidelberg und München, der die Psychosen in die Formenkreise Dementia praecox, manisch-depressives Irresein und Depression einteilte, fasste die Klinische Psychologie als Anwendung von Befunden der empirischen Psychologie für die Psychiatrie auf. Zur Entwicklung der Klinischen Psychotherapie haben neben akademischen Psychologen der Allgemeinen Psychologie (u.a. -•Gestalttheorie), der Persönlichkeitspsychologie, der Differentiellen Psychologie und der -•Sozialpsychologie auch viele Analytiker und Psychotherapeuten beigetragen: u. a. Sigmund Freud, Ludwig Binswanger und Carl Rogers. Gegenstand der modernen Klinischen Psychologie ist die Störung des Erlebens und Verhaltens. Die Klinische Psychologie erarbeitet Kenntnisse und Methoden zur Vorbeugung, Beurteilung und Behandlung psychischer Störungen. Stellvertretend für viele Klinische Psycholog/innen können hier nur einige wenige angeführt werden: Kenneth Howard, David Orlinsky, Hans Strupp, Walter Schraml, Martin Perrez, Hans Reinecker, Franz Petermann und Jürgen Margraf. Theorien Historisch betrachtet domininierten nach den religiösen Vorstellungen über psychische Auffälligkeiten lange Zeit medizinische Ansätze. Beispielsweise wurde das Infektionsmodell der Medizin auf psychische Störungen übertragen. Dabei wurde die eigentliche Ursache der Krankheit im Kranken lokalisiert. An den psychopathologisch diagnostizierten Krankheitsursachen setzte die entsprechende Behandlung an (u.a. Operationen, Pharmaka). Von den ursprünglichen medizinischen Modellen lassen sich die späteren psychosozialen Modelle unterscheiden, bei denen an die Stelle von »Krankheit« Konzepte wie »psychische Störung« oder »abweichendes Verhalten« treten: 221
Neobehavioristisches Modell: Zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung posttraumatischer Störungen (-•Traumatheorie) wird oft das von Orval Hobart Mowrer bereits 1939 konstruierte Zwei-Stufen-Modell herangezogen, das aus klassischen und instrumentellen Bausteinen besteht und neben externer Fluchtbewegung und interner Hemmung auch externe Annäherungsbewegung und interne Reaktionserleichterung (»Befürchtung« respektive »Hoffnung«) thematisiert. Hinsichtlich der internen emotionalen Reaktionen wurden propriozeptive Signale in das Modell eingebaut. 1947 erschien eine praxisrelevante Fassung des Modells, das auch Zwei-Stufen-Theorie genannt wird. In dieser Publikation wurde eine Kombination von Konditionierung und Problemlösung dargestellt, die hinsichtlich der Entwicklung der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) von Bedeutung war. Sozialpsychologische Modelle: Psychische Störungen sind dysfunktionale Verhaltensweisen einer Person, die von ihr selbst und/ oder ihrer sozialen Umgebung negativ bewertet werden (Bastine, 1990). Ein Beispiel eines sozialpsychologischen Modells ist das Rollentheoretische Modell. Psychische Störungen werden als inadäquates Rollenverhalten betrachtet. Die Störung wird auf widersprüchliche Erwartungen an eine Rolle, konflikthafte Rollenanforderungen, besonders belastende Rollen und/oder mangelnde Ressourcen einer überforderten Person zurückgeführt. Mit dem Marital Schism and Marital Skew-Modell versuchte man Rollenverhalten und Kommunikation in Familien zu verstehen, bei deren Nachwuchs sich abweichendes Verhalten zeigte sowie Identifikation und IchEntwicklung gestört waren (Lidz, Fleck & Cornelison, 1965). Alltagspsychologisches Modell: Personen erklären ihre Verhaltens weisen und Probleme durch Attributionen auf mögliche Ursachen und planen Veränderungen ihrer Lebenssituation durch Beeigenschaftung und Kontrolle dieser Situation. Dabei entsprechen sogenannte Kausalattributionen dem Bedürfnis von Personen, Ursachen für eigenes und fremdes Verhalten zu suchen (-•Attributionstheorie). Erste Hypothesen werden mehr oder weniger bewusst überprüft, bis sich eine Überzeugung herausbildet. Diese wird eingefroren und dient der Abwehr anderer >DogmenAktionstheorie des Gehirns), fur die herkömmliche regelbasierte Modelle nicht zureichend waren, da diese Modelle typischerweise entweder perfekt funktionieren oder zusammenbrechen. Im Gegensatz dazu können konnektionistische Modelle das suboptimale Funktionieren von Patienten einfach erklären (Shallice, Glasspool & Houghten, 1995). Der theoretische Anspruch der Vertreter des Konnektionismus, die Ende des 20. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel herbeiführen wollten, hat sich indes nicht erfüllt. Das heißt, die konnektionistische Sichtweise hat diejenigen theoretischen Ansätze, die auf regelbasierten Symbolrepräsentationen und -manipulationen beruhen, nicht vollständig ablösen können (-•Denktheorien). Allerdings sind konnektionistische Methoden in der Kognitiven Psychologie zur Modellierung weit verbreitet, und in den Kognitiven Neurowissenschaften haben sie sich unter dem Begriff Computational Neuroscience als eigenständige Subdisziplin etabliert. Literatur McClelland, J. L., Rumelhart, D. E. & the PDP Research Group (1986). Parallel distributed processing: Explorations in the microstructure of cognition. Vol. 2: Psychological and biological models. Cambridge, MA: MIT Press. 241
Rumelhart, D. E., McClelland, J. L. & the PDP Research Group (1986). Parallel distributed processing: Explorations in the micr structure of cognition, Vol. 1: Foundations. Cambridge, MA: MIT Press. Shallice, T., Glasspool, D. & Houghton, G. (1995). Can neuropsychological evidence inform connectionist modelling? Analyses from spelling. Language and Cognitive Processes, 10,195-225. Weiterfuhrend Fodor, J. A. & Pylyshyn, Z. (1988). Connectionism and cognitive architecture: A critical analysis. Cognition> 28, 3-71. Beat Meier
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KONSTRUKTIVISTISCHE ANSÄTZE DER PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Der Konstruktivismus ist keine einheitliche Theorie oder einheitliche Schule, sondern muss als Diskurs verstanden werden. Der Begriff des Konstruktivismus wird in unterschiedlichen Disziplinen verwendet und ist ein in Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften übergreifender Ansatz des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam ist allen konstruktivistischen Ansätzen die Vorstellung, dass unser Wissen über uns selbst und über unsere Welt das Resultat von Konstruktionsprozessen ist. Erkenntnis betrifft nicht mehr eine objektive ontologische Wirklichkeit, sondern die subjektive Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens. Das bedeutet, die Vorstellung von einer objektiven Welt auf der einen Seite und einem diese Welt durch seine Sinnesorgane wahrnehmenden Subjekt auf der anderen Seite wird im Konstruktivismus abgelehnt. Die Vorstellung einer absoluten Wahrheit und einer empirischen Objektivität wird kritisiert, weil der Beobachter im Konstruktivismus nicht als unabhängig von der Erkenntnis angesehen werden kann. Wissen ist eine erfahrungs- und kontextbasierte Konstruktion. Auch unser Selbst ist das Produkt von Konstruktionsprozessen; es geht innerhalb unserer sozialen Einbettung aus sprachlichen Konstruktionen (Narrationen) hervor und wird als eben solch eine narrative Konstruktion gesehen. Theorie In der Psychologie lassen sich unterschiedliche Entwicklungen und Theorien aufzeigen, die sich auf die Annahmen konstruktivistischer Konzepte stützen. Auch innerhalb der Psychologie kann daher nicht von einem einheitlichen konstruktivistischen Ansatz gesprochen werden. Eine bedeutende Strömung beschäftigt sich vor allem mit den sprachlichen Konstruktionen und Erzählweisen des Menschen. Dieser Ansatz wird oftmals als Narrative Psychologie bezeichnet. Identität, menschliche Interaktionen und die Organisation von Erlebtem werden aus narrativ-konstruktivistischer 243
Perspektive betrachtet, 1990 im Bereich der Kognitionspsychologie mit der Arbeit von Jerome Bruner Acts ofmeaning, in der Sozialpsychologie mit dem Sozialen Konstruktionismus von Kenneth Gergen (2002) und in der Psychoanalyse mit den Arbeiten von Klaus J. Bruder (2003) und Roy Schafer (1992). Vertreterinnen und Vertreter narrativ-konstruktivistischer Ansätze gehen davon aus, dass Menschen ihrem Leben Sinn und Bedeutung verleihen, indem sie Erlebnisse in Form von Geschichten und Erzählungen wiedergeben bzw. Sinn und Bedeutung sich erst im Moment des Erzählens, im Sprechen konstituieren. Die Erzählungen bestimmen nicht nur die Bedeutungen, die Menschen ihren Erfahrungen geben, sondern bestimmen zudem weitgehend, welche Aspekte ihrer Erfahrungen ausgewählt werden und zum Ausdruck kommen. Wir konstruieren also uns selbst und die »Wirklichkeit«, in der wir leben, in der Sprache und in Form von Erzählungen. Diese Erzählungen müssen immer wieder aufs Neue untereinander ausgehandelt, wiedererzählt und umgewandelt werden. Die Erzählungen über unser Selbst und unser Leben sind kein »wahres« Abbild des Erlebten oder der Wirklichkeit (-»Abbildund Widerspiegelungstheorie), sondern der Versuch des Erzählers, eine fiir sich selbst (und den Zuhörer) kohärente Geschichte über die Welt und sein Leben zu erzählen. Dadurch, dass aus der konstruktivistischen Perspektive das »Selbst« aus narrativen Konstruktionen hervorgeht, wird auch das Identitätskonzept als Entität aufgelöst. Identität wird als narrative Konstruktion, als Selbsterzählung betrachtet. Wir erzählen zahlreiche Selbstformen, je nachdem, in welchem Lebenskontext wir uns bewegen. Das Selbst kann man »als eine Reihe erzählerischer Strategien oder Handlungsstränge betrachten, denen jeder Mensch folgt in dem Versuch, eine emotional zusammenhängende Darstellung seines Lebens unter anderen Menschen zu entwickeln« (Schafer, 1992, S. 63). Rezeption Konstruktivistische Ansätze werden zunehmend innerhalb der Psychologie vertreten, aber auch kritisch rezipiert (zu den unterschiedlichen Ansätzen und Rezeptionen innerhalb der Psychologie vgl. 244
Westmeyer, 1999). Auch in den Anwendungsfeldern der Psychologie (-• Klinische Psychologie, Organisationspsychologie) werden konstruktivistische Ansätze aufgegriffen und umgesetzt. Einen Anwendungsbereich stellt beispielsweise die Psychotherapie dar. Narrativ-konstruktivistische Psychotherapieansätze beschäftigen sich mit der Möglichkeit der Veränderung von problematischen Wirklichkeitskonstruktionen und Selbstnarrationen der Patient/innen. Dabei wird der therapeutische Prozess selbst als ein gemeinsamer Konstruktionsprozess von Patient/in und Therapeut/ in betrachtet. Ziel dieses gemeinsamen Konstruktionsprozesses ist der Wandel der leidvollen Selbstnarration des Patienten bzw. der Patientin. In dem therapeutischen Prozess sollen die Bedingungen des Entstehens der bisherigen Erzählungen betrachtet und ins Wanken gebracht (dekonstruiert) werden. Die Dekonstruktion der leidvollen Erzählung soll es den Patient/innen ermöglichen, die Ereignisse ihres Lebens in den Kontext neuer Bedeutungen zu stellen und alternative Erzählformen zu entwickeln. Literatur Gergen, K. J. (2002). Konstruierte Wirklichkeiten: Eine Hinfuhrung zum sozialen Konstruktionismus. Stuttgart: Kohlhammer. Schafer, R. (1992). Erzähltes Leben: Narration und Dialog in der Psychoanalyse. München: Pfeiffer. Westmeyer, H. (1999). Konstruktivismus und Psychologie. Zeitschriftfür Erziehungswissenschaft, 4, 507-525. Weiterführend Bruder, K.-J. (2003). Semiotik und Psychoanalyse. In R. Posner, K. Robering & T. A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik: Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Bd. 3 (S. 2483-2520). Berlin: De Gruyter. Lisa Schönberg M5
KONZEPTGESTEUERTE INFORMATIONSVERARBEITUNG
Wichtige Vertreter/innen Theorien der konzeptgesteuerten Informationsverarbeitung gehen von der Annahme aus, dass das psychische System langfristig gespeicherte und systematisch geordnete Wissensbestände (Schemata, Skripts, Frames) nutzt, um komplexe sprachliche Informationen aus Texten zu verarbeiten, neue Informationen daraus zu abstrahieren, diese in das bestehende Wissensnetz zu integrieren und wieder abzurufen. Bereits 1932 hat Frederic Charles Bartlett in Remembering festgehalten, dass Personen narrative Texte nicht wörtlich erinnern, sondern sie mit Hilfe eines Schemas, d. h. einer stereotypen Vorstellung davon, was zu einer Situation oder in einen Kontext gehört, abspeichern und wiedergeben (-• Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). Richard Anderson (1978) definiert das Schema als eine übergeordnete Rahmenvorstellung, die Personen nutzen, um zusammenhängende Texte zu erschließen und zu verstehen. Aktivierte Schemata determinieren, welche Informationen ausgewählt, welche Schlussfolgerungen gezogen und wie eventuell bestehende Ambiguitäten aufgelöst werden. Nancy Stein und Tom Trabasso (1982) entwickelten die Theorie auf der Basis empirischer Befunde weiter und zeigten, wie Vorerfahrung und Erwartungen Textverstehen beeinflussen, denn erwartungskonforme Inhalte wurden schneller gelesen und besser behalten als erwartungswidrige Inhalte. Roger Schank und Robert Abelson (1977) nehmen an, dass Personen sogenannte Skripts, die ähnlich einem Drehbuch Repräsentationen von typischen Handlungsabläufen enthalten, abrufen, um Texte zu verstehen. Das Vorwissen darüber, welche Handlungsschritte in einer Situation zu erwarten sind, erleichtert das Verstehen einer entsprechenden Darstellung (wenn z. B. jemand von einem Besuch in einem Restaurant berichtet, muss er nicht jede Einzelheit darstellen, damit der Zuhörer eine Vorstellung davon hat, was der Reihe nach passiert sein muss). Marvin Minsky postulierte 1975, dass der Mensch generell, 246
nicht nur in der Textverarbeitung, im Gedächtnis abgelegte Repräsentationen über charakteristische und wiederkehrende Merkmale definierter Situationen (frames) nutzt, um sich in der Welt zu orientieren und Problemlösungen herbeizuführen. Diese Vor-' Stellungen leiten einerseits die Wahrnehmung, indem bestimmte (nämlich die erwarteten) Aspekte einer Situation salient werden, und beeinflussen andererseits die Entscheidungen darüber, was als Nächstes zu tun ist (-•Wahrnehmungstheorien). Theorien Die Schema-Theorie geht davon aus, dass Menschen beim Verstehen von Texten auf systematisch geordnete Gedächtnisinhalte zurückgreifen und neue Informationen in genau diesen Rahmen einpassen. Ein Schema ist eine mentale Repräsentation, die (stereo)type Merkmale einer Situation, eines Gegenstandes oder einer Person enthält. Die Aktivierung eines Schemas in einer Situation bewirkt, dass bestimmte Aspekte des Textes als relevant erscheinen und andere nicht, so dass die Selektion und Interpretation der Information entsprechend gelenkt wird. Richard Anderson und James W. Pichert haben 1978 in einem Experiment die Versuchspersonen gebeten, sich die Beschreibung eines Hauses durchzulesen, und zwar entweder mit der Perspektive, dass sie dieses Haus kaufen (Käufer), oder mit der Perspektive, dass sie in dieses Haus einbrechen wollen (Einbrecher). In Abhängigkeit vom induzierten Schema behielten sich Versuchspersonen spezifisch unterschiedliche Informationseinheiten und konnten auch auf Aufforderung später die nicht beachteten Details nicht rekonstruieren. Zuweilen werden auf der Basis eines Schemas auch Details ergänzt, die objektiv nicht vorhanden waren, weil sie zwangsläufig zu einer präsentierten Szene zu gehören schienen, z. B. wenn über einen Autounfall berichtet wurde, müssen auch Glasscherben auf der Straße erwähnt worden sein. Diese Effekte dürften verstärkt auftreten, wenn die Information nur kurze Zeit zur Verfugung steht und flüchtig ist, wie z. B. beim Zuhören. Herbert H. Clark argumentierte 1996, dass Sprachhandeln und das Führen eines Gesprächs darauf beruhen, dass die Beteiligten einem impliziten oder expliziten Ablaufplan folgen. Die Verstän7
digung zwischen den Kommunikationspartnern beruht daher wesentlich darauf, dass sich die beteiligten Personen auf dasselbe Skript beziehen und vergleichbare Vorstellungen von den typischen Merkmalen ihrer Handlungen haben (common ground). Das ist zwar besonders gut an hochgradig formalisierten Äußerungen zu erkennen (Guten Tag, wie geht's? - Danke gut!), gilt aber auch fiir weniger standardisierte Gespräche (z.B. Interviews, LehrerSchüler-Interaktion, Arzt-Patienten-Gespräch, Verkaufskommunikation). Wie Herbert Paul Grice schon 1976 bemerkte, wird das Verstehen von Sprache durch konventionalisierte, oft implizite Skripts gesteuert. So sollen Zuhörer davon ausgehen, dass die Äußerungen eines Sprechers relevant, vollständig und sachlich richtig sind; falls dies nicht sofort offensichtlich ist, werden die erforderlichen Aspekte gegebenenfalls ergänzt. Eine Korrektur des Skripts wird erst vorgenommen, wenn das Verständnis nicht mehr herzustellen ist und die Person realisiert, dass sie »auf dem Holzweg ist«. Die Möglichkeit, bei der Verarbeitung von gehörten oder gelesenen Informationen auf bereits vorhandene Konzepte - in welcher Form auch immer - zurückgreifen zu können, erfüllt folgende Funktionen: (1) Orientierung der Aufmerksamkeit (Worum geht es? Was ist wichtig? Was kann ich vergessen?), (2) flexibles Überbrücken von Informationslücken durch Bildung von Inferenzen, (3) Auflösung von Ambiguität, (4) ökonomisches Zusammenfassen von Informationen, (5) Erleichterung des Zugriffs auf die komplexe Information beim Abruf. Die Effekte vorab aktivierter Schemata sind auch in der Sozialpsychologie unter dem Stichwort Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung ausführlich untersucht worden. So führen beispielsweise Vorinformationen über einen Sprecher dazu, dass die Ausführungen dieses Sprechers und dessen Persönlichkeit entsprechend eingefärbt beurteilt werden. Ein Schema ist in der Regel relativ robust gegen widersprüchliche Informationen. Ein guter Unterrichtsbeitrag eines »schlechten« Schülers wird wahrscheinlich eher als »Ausnahme« beurteilt, als dass das Schema über diesen Schüler revidiert und erwartungswidrige Informationen erkannt werden.
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Rezeption Die Theorie der konzeptgesteuerten Informationsverarbeitung ist fiir die mangelnde Klarheit in der Definition ihrer Konstrukte kritisiert worden. In der Tat ist nicht haarscharf abzugrenzen, was zu einem Schema oder einem Skript gehört, zumal situative Einflüsse und individuelle Unterschiede deren Form und Inhalt entscheidend verändern können. Auch der Versuch, starke und schwache Skripts zu unterscheiden, beseitigt die Unschärfe nicht. Ebenso ist nicht von der Hand zu weisen, dass konzept- und datengesteuerte Informationsverarbeitung ineinander übergehen bzw. in Interaktion auftreten können. Die theoretischen und empirischen Grundlagen der Theorien zur konzeptgesteuerten Informationsverarbeitung sind in verschiedenen Anwendungskontexten weiterentwickelt worden. Guthrie (2004) und Mitarbeiter haben ein Programm zur sogenannten Concept oriented reading instruction (CORI) entwickelt, das die Entwicklung von Lesekompetenzen unterstützt, indem systematisch Schemata zur Vorstrukturierung, Organisation, Integration und zum Abruf von Informationen aus Texten genutzt werden. In der sozialpsychologischen und kommunikationspsychologischen Forschung spielen die Ansätze konzeptgesteuerter Informationsverarbeitung bei Arbeiten zur sozialen Kognition und Urteilsbildung eine zentrale Rolle (vgl. z. B. Filtereffekte und Urteilsverzerrungen im Sinne des Rosenthal-Effekts und Halo-Effekte). Vermutlich hat sogar die Aktivierung (negativer) Stereotype über die eigene Person einen Effekt auf die Wahrnehmung und die Verarbeitung von Informationen, die in Relation zum aktivierten Stereotyp stehen (Hat mein Physiklehrer das ernst gemeint, als er mich [als Mädchen] fiir meine Leistung gelobt hat?).
Literatur Anderson, R. C. (1978). Schema-directed processes in language comprehension. In A. M. Lesgold, J. W. Pellegrino, S. D. Fokkema & R. Glaser (Eds.), Cognitive psychology and instruction (pp. 67-82). New York, NY: Plenum. 249
Schank, R. C. & Abelson, R. (1977). Scripts, plans, goals, and understanding. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Stein, N. & Trabasso, T. (1982). Whats in a story: An approach to comprehension and instruction. In R. Glaser (Ed.), Advances in instructional psychology, Vol. 26 (pp. 213-267). Hillsdale, NJ: Erlbaum. Weiterfuhrend
Guthrie, J. T., Wigfield, A. & Perencevich, K. C. (Ed.). (2004). Motivating reading comprehension: Concept-oriented reading i struction. Mahwah, NJ: Erlbaum. Margarete Imhof
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KREATIVITÄTSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Die Psychologie der Kreativität unterzieht die seit dem Sturm und Drang (ausgehendes 18. Jahrhundert) herrschende Genieästhetik einer empirischen Prüfung und ersetzt deren elitären Ansatz durch ein Demokratieprinzip. Dieses versteht Kreativität als Kompetenz aller, indem sie als eine besonders konstruktive Qualität von Problemlöseprozessen konzipiert und untersucht wird. Insofern beschäftigen sich alle Vertreter der Psychologie des Problemlösens indirekt auch mit der Kreativität. Das reicht von den frühen -•Assoziationstheorien (mit der Behandlung von einfachen Interpolationsproblemen: bekannte Lösungsoperatoren müssen nur richtig kombiniert werden) über die Gestalttheorie (Umstrukturierung bei Syntheseproblemen: Operatoren müssen neu gefunden werden) bis zum Informationsverarbeitungsansatz bei der Lösung komplexer (dialektischer) Probleme (Lösungsoperatoren und -ziel müssen gefunden werden). Einen besonderen Anstoß erfuhr die Forschung historisch durch die Antrittsrede von Joy Paul Guilford als Präsident der Amerikanischen Psychologenvereinigung (Presidental address von 1950), in der er u. a. die gesellschaftliche Notwendigkeit von Kreativitätsforschung hervorhob. Die folgende Blüte der Kreativitätsforschung stellte zunächst das Verhältnis von Intelligenz und Kreativität in den Mittelpunkt (Guilfords Intelligenzmodell mit der Betonung des divergenten Denkens). Es kamen dann aber rasch auch persönlichkeitsorientierte Perspektiven hinzu, gefolgt von sozialpsychologischen Fragestellungen und Anwendungsproblemen der Kreativitätstestung sowie Techniken zur Kreativitätssteigerung. In der Folge ist heute unbestritten, dass sich eine vollgültige Kreativitätspsychologie mit den Dimensionen von Produkt, Prozess, Persönlichkeit und (kreativitätsfördernder oder -hemmender) Umgebung beschäftigen muss.
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Theorien In Bezug auf die Kriterien des kreativen Produkts sind sich Alltagspsychologie und wissenschaftliche Forschung einig: Neuheit ist ein unverzichtbares Merkmal. Allerdings nicht (wie in der Genieästhetik) als objektive, historische Neuheit, denn dann müsste man bei den vielen Parallel-Entdeckungen (z. B. der fast gleichzeitigen Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton) einer Person die Kreativität absprechen. Es geht also um die subjektive Neuheit in Relation zum bisherigen Wissen, zu den Fähigkeiten und Fertigkeiten. Damit wird Kreativität (entsprechend dem Demokratieprinzip) als eine Kompetenz von allen und auf allen möglichen inhaltlichen Bereichen eingeführt und nachgewiesen. Allerdings gehört dazu als Zweites auch die Brauchbarkeit der jeweiligen Problemlösung. Neuheit und Brauchbarkeit sind beides notwendige Kriterien von Kreativität; erst ihre Kombination ist hinreichend dafür, einem Produkt das Merkmal der Kreativität zuzuschreiben. Für die Perspektive des kreativen Prozesses hat sich die frühe introspektive Selbstbeschreibung von Raymond Poincare als fruchtbar erwiesen, der vier Prozessphasen unterscheidet: Präparation (Vorbereitung), Inkubation (Lösungssuche), Inspiration (Einfall) und Elaboration (Ausarbeitung). Am Anfang der Kreativitätsforschung haben die Teilphasen der Inkubation und Inspiration im Aufmerksamkeitsfökus gestanden, weil hier mit dem divergenten, auf verschiedene Lösungsmöglichkeiten ausgerichteten Denken der größte Kontrast zur (bisherigen) Intelligenzforschung vorlag, die vor allem auf das konvergente, die eine richtige Lösungsmöglichkeit anstrebende Denken konzentriert war. Die umfassende Erforschung des kreativen Prozesses hat jedoch schnell deutlich gemacht, dass auch das konvergente Denken (z. B. fiir die Präparation und besonders die Elaboration) unverzichtbar ist (-• Denktheorien). Daher kommt es auch hier auf die konstruktive Kombination beider an, allerdings unter Umständen nicht in einfacher linearer Abfolge, sondern in flexibler Wiederaufnahme einzelner Teilphasen, so wie es die jeweilige kreative Problemlösung notwendig macht (-+ Problemlösungstheorien). Diese Verbindung von ansonsten gegenläufigen, sich scheinbar ausschließenden Dynamiken ist dann von der Forschung zur krea252
tiven Persönlichkeit als das zentrale Charakteristikum von Kreativität herausgearbeitet worden. Am Anfang standen in den 1960er Jahren Studien von Frank Barron mit lebenden Wissenschaftlern und Künstlern zur Frage der Psychopathologie von Kreativen, die durch die klassische These des Zusammenhangs von »Genie und Wahnsinn« - so Cesare Lombroso 1887 - behauptet worden ist. Dabei zeigte sich, dass die Kreativen in der Tat überdurchschnittlich durch Ängste belastet waren, aber zugleich eine ebenfalls überdurchschnittliche Ich-Stärke aufwiesen, während normalerweise Angst und Ich-Stärke negativ korreliert sind. Die positive, konstruktive Verbindung von ansonsten gegenläufigen Eigenschaften ist in der Folgezeit für eine Fülle von kognitiven, emotionalen und motivationalen Persönlichkeitsmerkmalen gesichert worden (von unangepasster Anpassung bis zu maskuliner Femininität). Diese Verbindung überwindet im Prinzip unnötige, lediglich durch die gesellschaftliche Sozialisation zustande gekommene Gegensätze, die keine (sich ausschließenden) logischen Widersprüche darstellen. Insofern ist von einer paradoxalen (nicht paradoxen) Verbindung gegensätzlicher Merkmale zu sprechen, was zugleich die (Freudsche) Neurosen-These der Kreativität überwindet, weil Neurosen durch widersprüchliche Motivationen gekennzeichnet sind (—• Psychoanalyse). In der Dimension der (kreativitätsfördernden vs. -hemmenden) Umgebung ist ein Hauptproblem, dass die Sozialisation in der Familie und besonders auch in der Schule gewöhnlich keine optimalen Bedingungen für die Entwicklung von Kreativität aufweist. Die dazu nötige Verbindung von Unterstützung und Herausforderung, intrinsischer Motivierung und Fehlertoleranz ist vor allem fiir das auf Anpassung und Konkurrenz ausgerichtete unterschwellige Curriculum unseres Schulsystems eine Überforderung, so dass die Schule bisher eher als Kreativitätshindernis denn als -förderinstanz fungiert. Daraus ziehen vor allem alternative Pädagogik-Konzepte (z.B. der Montessori- oder Waldorfschulen) ihre Berechtigung. Allerdings gibt es hier ebenfalls paradoxale Effekte, indem z. B. die Lebenslaufanalyse von Kreativen nachweist, dass auch die Überwindung von teilweise recht starken Kreativitätshindernissen förderlich wirken kann.
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Rezeption Die Entwicklung der Kreativitätstheorien hat, von der individualpsychologischen Perspektive ausgehend, zunehmend auch die soziale Einbettung thematisiert. Das lässt aber wohl relevante Fragen offen und kontrovers, z. B. in Bezug auf die system theoretische These, dass Kreativität nur als Zuschreibung durch das jeweilige (Experten-)Feld zu fassen sei. Das fuhrt zu der kontraintuitiven Feststellung, dass eine Person (z.B. van Gogh) zu Lebzeiten als unkreativ erachtet wurde und erst nach dem Tod für kreativ gehalten wird. Abgesehen von solchen Theoriekontroversen liegt die stärkste gesellschaftliche Rezeption jedoch in praktischen Ratgebern zur Kreativitätssteigerung (Kreativitätstechniken von Brainstorming über Matrix- bis zu synektischen Methoden), die mittlerweile mehr als die Hälfte der zur Kreativität erscheinenden Literatur ausmachen. Literatur Sternberg, R. J. (Ed.). (1999). Handbook of creativity. Cambridge, UK: Cambridge University Press. Weiterfuhrend
Groeben, N. (2013). Kreativität: Originalität diesseits des Genialen Darmstadt: Primus. Norbert Groeben
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KRITISCHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Während sich vielfältige Arbeitsrichtungen jenseits des psychologischen Mainstreams als kritisch ansehen {criticalpsychology), steht Kritische Psychologie speziell fiir einen Ansatz, den vor allem Klaus Holzkamp, angeregt durch die Wissenschafts- und Psychologiekritik der Studentenbewegung, Anfang der 1970er Jahre auf den Weg gebracht hat. Selbst Experimentalpsychologe, kritisierte Holzkamp am psychologischen Experiment, dass damit nur erfasst werden könne, wie Menschen unter vorgegebenen Bedingungen reagieren, nicht aber, dass und wie sie Bedingungen verändern. Indem die Struktur dieser methodischen Anordnung dieselbe wie bei Herrschaftsverhältnissen sei, sei sie für ebendiese funktional. Der damit hergestellte Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik steht im Zentrum des Ansatzes der Kritischen Psychologie. Die Unergiebigkeit bloßer methodologischer Auseinandersetzungen (vor allem mit dem Kritischen Rationalismus -•Theorien der Psychologie und Empirie) und die Rezeption marxistischen Denkens brachten Holzkamp (1983, S.19) zu der Perspektive, die »gesamte Psychologie durch Kritik und Revision ihrer Grundbegriffe und darin eingeschlossenen methodischen Vorstellungen auf eine neue wissenschaftliche Basis zu stellen« und zwar durch eine »historisch-empirische« Rekonstruktion des Psychischen in Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte, die sich an Marx' logisch-historischer Methode sowie am Kulturhistorischen Ansatz orientierte. Entsprechende Studien, etwa zu Wahrnehmung (Klaus Holzkamp), Motivation und Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse (Ute Holzkamp-Osterkamp), Entstehung des Bewusstseins (Volker Schurig), wurden von Holzkamp 1983 in seinem Hauptwerk Grundlegung der Psychologie zusammengeführt, in dem die Kritische Psychologie zur »Subjektwissenschaft:« entwickelt wurde: zu einer »Psychologie vom Standpunkt des Subjekts«, deren Gegenstand die Welt ist, wie die Subjekte sie erfahren (-•Subjektive Theorien). Analysen psychologischer Praxis (Morus Markard und Klaus Holzkamp) bzw. speziell von Therapie (Ole Dreier), 255-
subjektwissenschaftliche Methoden (Morus Markard), kindliche Entwicklung (Gisela Ulmann), Rassismus/Diskriminierung (Ute Holzkamp-Osterkamp, Josef Held) und Lernen (Klaus Holzkamp) gehören zu den Bereichen, zu denen die Kritische Psychologie beigetragen hat.
Theorie Die zentrale Frage der Kritischen Psychologie ist, wie menschliches Empfinden, Denken und Handeln so aufgeschlüsselt werden können, dass sie einerseits nicht als bloße Effekte von Bedingungen erscheinen, andererseits aber die konkreten Lebensumstände der Menschen systematisch berücksichtigt werden. Sie unterscheidet dazu zwischen Bedingungen, Bedeutungen, Prämissen und Gründen. Bedingungen meinen die objektiv-ökonomischen Lebensverhältnisse, Bedeutungen die darin enthaltenen Handlungsmöglichkeiten oder -behinderungen, und Prämissen sind die subjektiv akzentuierten Handlungsbedeutungen nach Maßgabe der je individuellen Handlungsgründe (Interessen, Intentionen, innere Zwänge etc.), die nicht bewusst sein müssen, aber bewusstseinsfähig sind. Danach ist Handeln also weder als gegenüber gesellschaftlichen Bedingungen beliebig noch als durch diese Bedingungen determiniert gedacht, sondern als in Prämissen begründet. Zum psychologischen Verstehen von Handlungsbegründungen ist eine interdisziplinäre - Analyse gesellschaftlicher (hier und jetzt: kapitalistischer) Lebensbedingungen psychologisch unverzichtbar; deren konkrete psychologische Bedeutung hat sich aber vom Standpunkt des Subjekts aus zu erweisen. Handlungsfähigkeit ist die zentrale Kategorie, mit der die Prozesse individueller Lebensführung analysiert werden sollen. Um systematisch zu berücksichtigen, dass angesichts bestehender Herrschaftsverhältnisse den Individuen Handlungsmöglichkeiten nicht ungebrochen gegeben sind, wird zwischen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit unterschieden. Damit soll fiir die Individuen bei fiir sie problematischen Situationen analysierbar werden, inwieweit deren Bewältigung dazu dient, ihre Handlungsmöglichkeiten in Richtung (kollektiver) Selbstbestimmung zu erweitern, oder inwieweit sie letztlich zu einem »restriktiven« Arran256
gement mit dem Status quo führt, das auf Kosten anderer gehen und für die Betreffenden selbstschädigend sein kann. Bei der Verfolgung dieser Leitfragestellungen kritisch-psychologischer Forschung werden auch kognitive (vordergründiges Deuten vs. Begreifen), emotionale (Innerlichkeit vs. Bewertung der Umwelt), motivationale (innerer Zwang vs. Motivation) und interpersonale Aspekte (Instrumentalverhältnisse vs. Subjektbeziehungen) unter dem Aspekt des Widerspruchs zwischen Selbstbestimmung und restriktivem Arrangement analysiert. Einerseits ist die Analyse von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen (Begründungsdiskurs) ein Gegenentwurf zur Analyse von Reiz-Reaktions- oder Bedingungs-Ereignis-Konstellationen (Bedingtheitsdiskurs). Holzkamp hatte aber 1986 argumentiert, dass auch in »offiziellen« Reiz-Reaktions-Formulierungen verborgene Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (oder Begründungsmuster) enthalten seien, und zwar immer dann, wenn sich zwischen die Wenn- und die Dann-Komponente von Hypothesen/Theorien ein »subjektiv funktionalerweise« setzen lasse. Entsprechend könne der Begründungsdiskurs nicht in eine hermeneutische Exklave abgeschoben werden, sondern er ziehe sich durch die gesamte Psychologie. Methodisch macht die Kritische Psychologie geltend, dass grundsätzlich bei einem Prämissen-Gründe-Zusammenhang empirische Daten nicht die Funktion haben können, den betreffenden Zusammenhang zu prüfen; sie können ihn nur veranschaulichen bzw. konkretisieren. Derartige Aussagen sind durch beliebig viele Fälle weder zu beweisen noch zu widerlegen, und es können damit keine Bestimmungen zur Häufigkeit bzw. Verbreitung der in ihnen behandelten Phänomene vorgenommen werden. Einzelfälle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander »verrechnet« werden (—• Psychologik). In subjektwissenschaftlicher Perspektive gilt: Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt. Es sind die individuellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Subjektwissenschaftliche Geltung und Verallgemeinerung bezieht sich auf praktische Lebensvollzüge der Individuen in ihren historisch-konkreten Konstellationen, auf Handlungsmöglichkeiten, nicht auf Merkmale: Die subjektive Befindlichkeit bzw. (begrenzte) Handlungsmöglichkeit soll als »Verhältnis 257-
zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und meiner besonderen Weise ihrer Realisierung« (Holzkamp 1983, S. 548) verstanden werden. Methodisch läuft dies auf qualitative (insbesondere Handlungs-)Forschung hinaus, bei der die nichtprofessionellen Beteiligten als Mitforschende in ihre Lebensverhältnisse eingreifen, ihre Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen reflektieren und auf den Begriff bringen. Rezeption Als marxistischer Ansatz ist die Kritische Psychologie institutionell marginalisiert worden. Ihre Rezeption in der akademischen Psychologie blieb bis auf frühere methodologische Debatten gering. Stärkere Beachtung erfuhr bzw. erfährt sie in - interdisziplinären anwendungsbezogenen Forschungen zu Lernen und Bildung, Geschlechterverhältnissen, Delinquenz, Jugend und Therapie sowie Beratung. Literatur
Holzkamp, K. (1983). Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M.: Campus. Holzkamp, K. (1991). Schriften I-V. Hamburg: Meiner. Huck, L., Kaindl, Ch., Lux, K., Pappritz, Th., Reimer, K. & Zander, M. (Hrsg.). (2008). Abstrakt negiert ist halb kapiert: Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft. Marburg: BdWi- Verlag. Weiterführend
Markard, M. (2009). Einfuhrung in die Kritische Psychologie. Hamburg: Argument. Morus Markard
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KRITISCHE THEORIE
Wichtige Vertreter/innen Mit der Kritischen Theorie verbinden sich insbesondere die Namen der Soziologen Max Horkheimer (1895-1973), Theodor W. Adorno (1903-1969) sowie (in der späteren Zeit) Jürgen Habermas (geb. 1929). Sie war jedoch stets inter- und transdisziplinär ausgerichtet. So umfassten die Untersuchungsfelder der Arbeiten von Horkheimer und Adorno neben Philosophie, Politik und Soziologie Fragen der Sozialpsychologie, Literatur- und Musikwissenschaft. Zur Gründungsgeneration der Kritischen Theorie zählen weiterhin Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Otto Kirchheimer, Friedrich Pollock und Erich Fromm - Schriftsteller, Politologen, Literaturwissenschaftler, Juristen, Wirtschaftswissenschaftler und Psychoanalytiker. Sie gehörten dem 1923 durch eine private Stiftung begründeten Frankfurter Institutfür Sozialforschung an, das seit 1930 von Horkheimer geleitet wurde. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierten seine Mitarbeiter und führten es ab 1935 als Institute of Social Research an der Columbia University in New York fort. Die Kritische Theorie beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen der Gesellschafts- und -•Wissenschaftstheorie. Sie bildete den Rahmen verschiedener empirischer Forschungen, etwa zum autoritären Charakter, ohne dass sie auf ein empirisch zu prüfendes Set theoretischer Annahmen einzugrenzen wäre. Für Fragen psychologischer Theoriebildung und Forschung ist die Kritische Theorie in vielerlei Hinsicht relevant. Erstens liegt mit ihr eine (u. a. durch Horkheimers Interesse an Freud und den Einfluss von Erich Fromm) auf Kategorien der Psychoanalyse zurückgreifende Gesellschaftstheorie vor, die zu den einflussreichsten des 20. Jahrhunderts gehört. Zweitens problematisiert sie als eine normative Wissenschaftstheorie die gesellschaftliche Bedeutung empirischer Sozialforschung und somit auch der psychologischen Forschung. Drittens kooperierten Vertreter der Kritischen Theorie in psychologischen Forschungsprojekten. Hier sind die (konfliktreiche) Mitarbeit Adornos 1937 bis 1941 am von Paul Lazarsfeld geleiteten Princeton Radio Project zu nennen und insbesondere die 259-
Theorie der autoritären Persönlichkeit (Adorno u. a., 1950) sowie die zugehörige F-Skala zu deren Messung, die durch die sogenannte Berkeley Gruppe um Adorno, Frenkel-Brunswik, Sanford u. a. entwickelt wurde (-• Autoritarismus-Theorie). Sie stimulierte ihrerseits weitere bedeutsame sozialpsychologische Forschungen (u.a. Stanley Milgrams Experimente über Autoritäts-Gehorsam).
Theorie Bei der Kritischen Theorie handelt es sich um eine komplexe und entsprechend den unterschiedlichen Autoren und verschiedenen Phasen ihrer Arbeiten höchst facettenreiche Auseinandersetzung mit und Weiterentwicklung von abendländischer Philosophie, Ökonomie und Sozialwissenschaften. Die Schaffung eines geschlossenen Theoriegebäudes wurde von ihren Autoren in Abgrenzung zur Philosophie des 19. Jhs aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt. Der Erfolg von Kapitalismus und Liberalismus in den USA zeigte, dass die Verwirklichung bürgerlicher Freiheit nicht unbedingt eine Zunahme individueller Autonomie und Optionen mündiger Lebensgestaltung implizierte, sondern dass im Namen der allgemeinen Nutzen-Rationalität neue Zwänge entstanden, indem der Tauschwert als universaler Maßstab alle Lebensbereiche durchdrang. Zugleich führten die totalitären Systeme seit den 1930er Jahren die Option einer Verschränkung von (industriellem) Fortschritt mit Gewalt und Vernichtung vor Augen und erschütterten die Hoffnung auf eine fortschreitende Humanität menschlicher Gesellschaften. Humanität als Maßstab dennoch nicht aufzugeben ist eine wichtige Forderung der Kritischen Theorie. Sie fragt, inwiefern das Projekt der Aufklärung - im Sinne des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit und der fortschreitenden Emanzipation - als gescheitert zu betrachten sei und wie es neu zu entwerfen und zu verfolgen wäre. Für ihre Überlegungen zur Frage nach der Autonomie des Individuums bezieht sich die Kritische Theorie wesentlich auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Herrschaft und Unterdrückung sieht sie nicht nur im Marxschen Sinne als ökonomisch fundiert, sondern wesentlich als kulturell verankert. Ideologiekritik wird insofern Kulturkritik. Diese interessiert sich für die Funktionsweise 260-
von kulturellen Institutionen wie der Familie, der Massenmedien und der populären Kultur als Orten der Vermittlung - und zugleich Verschleierung - von Herrschaft. Psychoanalytische Kategorien wie Projektion, Sublimierung, Repression werden in diesem Zusammenhang systematisch für die Gesellschaftstheorie herangezogen. Die Annahme einer wertfreien Wissenschaft erscheint als einer der Mythen der Aufklärung. Insbesondere der Positivismus unterliegt aus dieser Perspektive der Mystifizierung. Themen der Forschung werden den Methoden und der forschungstechnischen Machbarkeit untergeordnet. So reproduzieren sie die herrschaftsgeprägte Wirklichkeit, anstatt sie kritisch zu analysieren und zur Emanzipation des Menschen beizutragen. Das mittlerweile geflügelte Wort Adornos von der Unmöglichkeit des richtigen Leben im falschen kann somit auch auf die Wissenschaft gewendet werden: Methodischer Exaktheit im Rahmen von irrelevanten Fragestellungen Wert beizumessen ist Folge von Mystifizierungen bzw. in rationale Form verpackte Irrationalität. Um komplexe gesellschaftliche Phänomene zu erforschen, muss zuweilen auf scharf umrissene Operationalisierungen verzichtet und die Unschärfe qualitativer Analysen in Kauf genommen werden (-»Theorien der Psychologie und Empirie). Rezeption Der Hamburger Psychologe Peter R. Hofstätter kritisierte 1957 die Forschungen des 1950 nach Frankfurt am Main zurückgekehrten Instituts für Sozialforschung über Demokratiefeindlichkeit und Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung (die sogenannten Gruppenexperimente) wegen methodischer Unzulänglichkeit. Adorno bekräftigte die Position der Kritischen Theorie in seiner Replik: »Die empirische Sozialforschung steht einer Art Antinomie gegenüber. Je exakter ihre Methoden sind, um so mehr sind [sie] in Gefahr, an Stelle des eigentlich erfragten Gegenstandes einen in operational terms< definierten zu setzen [...], das gesellschaftlich Relevante zu vernachlässigen« (Adorno, 1957, S. 107). Zu den Wirkungen der Kritischen Theorie auf die Psychologie gehört auch die Entwicklung der Kritischen Psychologie, die 261-
nach einer Phase der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit der experimentellen Psychologie und unter dem Einfluss der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre wesentlich von Klaus Holzkamp an der Freien Universität in Westberlin geprägt wurde. Holzkamp versucht, im Rückgriff auf Karl Marx die Chance des Menschen auf Emanzipation und Humanität aus einer psychologischen Theorie der Phylogenese abzuleiten. Handlungsfähigkeit wird zur zentralen Kategorie und zugleich zum Ziel einer Psychologie, die partizipative Ansätze bevorzugt und sich als Subjektwissenschaft versteht (-•Subjektive Theorien). Literatur
Adorno, T. W. (1957). Replik auf Peter R. Hofstätter. Kölner Zeitschriftfur Soziologie und Sozialpsychologie, 105-117. Honneth, A. (Hrsg.). (2006). Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Horkheimer, M. & Adorno, T. W. (1947). Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Amsterdam: Querido. Weiterführend Klein, R., Kreuzer, J. & Müller-Doohm, S. (2011). Adorno-Handbuch: Leben - Werk — Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler. Elena Demke
262-
KULTURVERGLEICHENDE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Kulturvergleichende Psychologie (engl, cross-cultural psychology) bezeichnet ein Untergebiet der Psychologie, welches »die Beziehungen zwischen psychologischen Variablen einerseits und soziokulturellen, ökologischen und biologischen Variablen andererseits untersucht. Impliziert ist die Annahme, dass es universelle psychische Strukturen und Prozesse gibt, die aber kulturspezifische Modifikationen aufweisen« (Helfrich, 2013, S.18). Eine klare Definition des Begriffs wird durch zahlreiche Synonyme aus unterschiedlichen interdisziplinären Kontexten erschwert, wie beispielsweise Ethnopsychologie oder Transkulturelle Psychologie. Im deutschsprachigen Raum plädiert Stubbe (2012) fiir den Begriff Psychologische Anthropologie, der als ein Teil der Cultural Anthropology betrachtet wird. Im Zentrum der Kulturvergleichenden Psychologie stehen: (1) Beschreibung und Analyse psychologisch relevanter Unterschiede im Verhalten und Erleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen; (2) Überprüfung der universellen bzw. kulturspezifischen Gültigkeit psychologischer Hypothesen; (3) Theorien, Analyse und Identifizierung der kulturellen Grundlagen psychischer Prozesse (Thomas, 1993/2003). Die Ursprünge der Kulturvergleichenden Psychologie gehen auf verschiedene Forscher und Disziplinen zurück: Adolf Bastian (1826-1905), Franz Boas (1858-1942), Richard Thurnwald (18691954) und die Völkerkunde, Wilhelm Wundt (1832-1920) und die -•Völkerpsychologie, Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und die Sprachwissenschaft, Charles Darwin (1809-1882) und die Evolutionistische Biologie (-•Evolutionstheorie), Georges Devereux (19081985) und die Ethnopsychoanalyse (-•Psychoanalytische Kulturtheorie) wie auch Emile Dürkheim (1858-1917) und die Soziologie. Abzugrenzen ist die Kulturvergleichende Psychologie, die angesichts ihres universalistischen Anspruchs eher quantitative Methoden verwendet, von der Kulturpsychologie, die eher eine hermeneutisch-phänomenologische Interpretation mittels qualitativer Methoden versucht. 263-
Theorien Innerhalb der Kulturvergleichenden Psychologie konnte sich kein einheitlicher psychologischer Kulturbegriff etablieren. Kultur wird als eine mögliche Einflussgröße auf individuelles Denken, Fühlen und Handeln aufgefasst - und wird daher methodisch als Treatment-Variable verstanden, die bezüglich bestimmter Verhaltensweisen zu nichtäquivalenten Versuchskontexten fuhrt. Nur durch strenge methodische Verfahren lässt sich linguistische, konzeptuelle, funktionale und psychometrische Äquivalenz herstellen. Hierfür werden verschiedene kulturdifferenzierende Wertetypologien oder Kulturdimensionen eingeführt. Theoretische Perspektiven: In der kulturvergleichenden Forschung existieren drei grundlegende theoretische Perspektiven: (i) absolute psychologische Phänomene (invariant über Kulturen im Ursprung und Ausdruck - wie biologische Grundlagen); (2) universelle psychologische Phänomene (in allen Kulturen vorkommend, aber im Ausdruck kulturell determiniert); (3) kulturell relative psychologische Phänomene (einzigartig in einer bestimmten Kultur und nur mit Begriffen dieser Kultur verstehbar). Während in der Kulturvergleichenden Psychologie eine kulturuniversalistische Sicht vorherrscht, vertritt die Ethnologie eher eine kulturrelativistische Perspektive. Die Kulturvergleichende Psychologie geht vom Grundsatz aus, dass alle Kulturen aufgrund der gemeinsamen biologischen Abstammung der Menschheit gewisse psychische Erlebens- und Verhaltensweisen teilen. Daraus ergibt sich zwischen allen Kulturen eine gemeinsame Schnittmenge (tertium comparationis), die psychologisch analysiert werden kann. Adolf Bastian als Begründer der deutschen Ethnologie und Ethnopsychologie vertrat bereits im 19. Jahrhundert die Lehre von der psychischen Einheit der Menschheit. Als Universalist und Monophyletiker war Bastian ein überzeugter Antirassist, der heftig der damals vorherrschenden Überzeugung widersprach, dass »Rassenmischung« schädlich sei. Sein »rationales Programm« (vgl. Stubbe, 2012, S. 67) lief auf die Schaffung einer naturwissenschaftlichen Psychologie hinaus, deren Tatsachenbasis jedoch nicht auf die. wenigen Jahrtausende dokumentierter abendländischer Geschichte oder auf die Erfahrungen der westlichen Psychiater und Psychologen, der Introspektion etc. 264
beschränkt sein sollte, sondern der Ethnographie der gesamten Menschheit entnommen werden müsse. Bastian verneint auch einen stetigen Fortschritt in einmaliger Kulturentwicklung (eine einmalig moderne Auffassung) und tritt der Lehre entgegen, dass jede spätere Kultur einen Fortschritt gegenüber der früheren bedeute. In der Kulturvergleichenden Psychologie existiert trotz Kritik an vereinfachenden Typologien der Wunsch, feste Dimensionen oder Typen von Kulturen zu identifizieren, um Unterschiede im Erleben und Verhalten empirisch untersuchen und begründen zu können. Beispielhaft sollen zwei Taxonomien herausgegriffen werden. Edward T. Hall war ein amerikanischer Kulturanthropologe, der bezüglich des Kommunikationsverhaltens sowie des Verhältnisses verschiedener Kulturen zu Zeit und Raum Unterschiede beschrieb. So differenzierte er monochrone (lineare) versus polychrone (ereignisorientierte) Zeitauffassung und unterschiedliche körperliche Distanzen beim persönlichen Gespräch. Unterschiede fanden sich auch im Konversationskontext: Hoch-Kontext-Kulturen (z.B. asiatische Kulturen) müssen Informationen stärker paralinguistisch (d. h. stärker den Sinn »zwischen den Worten«) erfassen als NiedrigKontext-Kulturen, die sich eher nach der expliziten verbalen Botschaft (d. h. nach dem gesprochenen Wort) richten. Geert Hofstede fand bei einer Wertestudie (-•Wertetheorie) Anfang der 1980er Jahre verschiedene Kulturdimensionen wie Machtdistanz, Unsicherheitsvermeidung, Maskulinität/Femininität, oder Individualismus/Kollektivismus. Besonders die ideal typische Unterscheidung von individualistischen Kulturen wie den westlichen Gesellschaften, die individuelle Freiheit und Einzigartigkeit hervorheben, und kollektivistischen Kulturen wie den asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Gesellschaften, die Harmonie mit und Unterordnung unter die Regeln der familiären Kerngruppe (ingroup) betonen, setzte sich in der Kulturvergleichenden Psychologie als festes kulturelles Differenzierungsmerkmal durch. Indessen reicht keines der beschriebenen Klassifikationssysteme der Kulturvergleichenden Psychologie zur Beschreibung von Kulturen aus, orientieren sie sich doch vornehmlich an der westlichen Lebens- und Arbeitswelt, der nur ca. ein Fünftel der Menschheit angehört.
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Rezeption Die theoretischen Grundlagen und Ergebnisse der Kulturvergleichenden Psychologie sind bislang im Hinblick auf die Menschheit und die Gesamtheit der Kulturen noch rudimentär. In den Gebieten der Allgemeinen Psychologie, der -* Klinischen Psychologie und Psychotherapie, der Entwicklungspsychologie, Arbeits- und Wirtschaftspsychologie (interkulturelles Management, Kulturstandards), Persönlichkeitspsychologie und Fremdheitstheorien (vgl. Van Quekelberghe, 1991; Stubbe, 2012; Helfrich, 2013) sind bereits einige mehr oder minder gesicherte theoretische Annahmen entstanden - daher auch die allgemeine Forderung, dass jede psychologische Theorie, Technik, Methodik, Therapie, Psychodiagnostik etc. hinsichtlich eines potentiellen Ethnozentrismus hinterfragt werden sollte. Kritiker werfen der Kulturvergleichenden Psychologie vor, dass sie vor allem den wirtschaftlichen und militärischen Interessen der westlichen Kulturen (vgl. frühere NationalcharakterForschung) diene und die vielgepriesenen völkerverbindenden Motive bislang eher im Hintergrund stünden. Literatur
Helfrich, H. (2013). Kulturvergleichende Psychologie. Wiesbaden: VS Springer. Quekelberghe, R. van (1991). Klinische Ethnopsychologie. Heidelberg: Asanger. Stubbe, H. (2012). Lexikon der Psychologischen Anthropologie: Eth nopsychologiey Transkulturelle und Interkulturelle Psychologie. ßen: Psychosozial. Weiterführend
Thomas, A. (Hrsg.). (1993/2003). Kulturvergleichende Psychologie. Göttingen: Hogrefe. Hannes Stubbe 2 66
KULTURHISTORISCHER ANSATZ
Wichtige Vertreter/innen Der Kulturhistorische Ansatz gehört zu den klassischen theoretischen Ansätzen der modernen Psychologie und verfolgt das Anliegen einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen jenseits biologistischer oder kulturalistischer Reduktionismen. In der jungen Sowjetunion entstanden und dort zeitweise Repressionen ausgesetzt, entwickelte sich der Ansatz bis zum heutigen Tag in unterschiedlichen Richtungen weiter. Zentrale Theorien sind bereits von den drei >Gründungsvätern< - Lew Semjönowitsch Vygotskij (1896-1934), Alexander Romanowitsch Lurija (1902-1977) und Alexej Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) - erarbeitet worden, sie stehen auch im Fokus der folgenden Darstellung.
Theorie Im Rahmen des Kulturhistorischen Ansatzes ist eine Fülle von Theorien entwickelt worden, die in unterschiedlichen psychologischen Teildisziplinen, aber auch über die Psychologie hinaus, etwa in der Linguistik, der Pädagogik oder den Neurowissenschaften, Beachtung gefunden haben. Erwähnt werden können hier beispielsweise Vygotskijs Theorie der Denk- und Sprach-, speziell der Begriffsentwicklung, Leontjews Tätigkeitstheorie (-•Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit) oder Lurijas neuropsychologische Theoriebildung (-•Aktionstheorie des Gehirns). Zum theoretischen Kernbestand des Ansatzes gehören Arbeiten, die die Genese des Psychischen im Hinblick auf ihre Natur-, ihre Gesellschafts- und Kultur- sowie ihre Individualgeschichte rekonstruieren, mithin um »drei Entwicklungslinien des Psychischen« kreisen und die umfassende historische Herangehensweise der Troika dokumentieren. Wie sehen diese Entwicklungslinien aus? Naturgeschichte des Psychischen: Im Kulturhistorischen Ansatz wird nicht allein dem Menschen eine »Psyche« zugeschrieben, sondern bereits nichtmenschlichen Organismen. Freilich stellt sich die schwierige Frage nach den Kriterien fiir solch eine Zuschreibung. 267
Darüber hinaus ist die Psyche nicht schlicht vorhanden, sondern unterliegt verschiedenen Weiterentwicklungen. Insbesondere Leontjew (1959/1971) hat zu diesem Fragenkomplex gearbeitet. Dazu hat er elaborierte theoretische Modellierungen vorgelegt, die auf eigenen experimentellen Studien basieren, gerade aber auch der Reanalyse theoretischer Einsichten und empirischer Befunde anderer Autoren entstammen. Leontjew gliedert im Zuge seiner Beschäftigung mit dieser Entwicklungslinie die Naturgeschichte des Psychischen in vier Hauptschritte: (1) Die Reizbarkeit eines Organismus ist eine wichtige Voraussetzung, um ihm eine Psyche zuschreiben zu können. (2) Zu dieser Reizbarkeit kommen Empfindungsfähigkeit und Sensibilität hinzu. Empfindungsfähigen Organismen ist eine sensorische Psyche eigen. (3) Die Ausbildung einer perzeptiven Psyche erfolgt im Zuge des Übergangs vom Wasser zum Land. (4) Das Stadium des Intellekts erreichen manche Organismen im Verlauf des Werkzeuggebrauchs. Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Psychischen: Das zuletzt nannte Phänomen, der Werkzeuggebrauch, sowie die Zusammenarbeit von Menschen stellen den zentralen Hebel für die Entwicklung des Bewusstseins dar. Bei »Werkzeugen« ist allerdings nicht allein an Werkzeuge als Arbeitsmittel - Hammer, Säge, Schraubenzieher etc. - gedacht, sondern auch an »psychische« Werkzeuge. Zu diesen gehören alle möglichen Formen komplexer Zeichensysteme. Erst die Nutzung psychischer Werkzeuge erlaubt den Übergang von bloß »niederen« oder »biologischen« zu »höheren« oder »kulturellen« Formen des Psychischen. Dieser Differenzierung kommt im Kulturhistorischen Ansatz der Status einer grundbegrifflichen Unterscheidung zu, weshalb ihre Vertreter bisweilen auch scherzhaft davon sprachen, sie würden im Unterschied zur Tiefen- eine »Höhenpsychologie« vorlegen. Die Gedächtnisentwicklung soll verdeutlichen, worum es hier geht. Der Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass Erinnern und Vergessen von den sozialen Formen des menschlichen Lebens abhängen. »Primitive« - so Leontjew (1959/1971, S.315) »verfugen über ein natürliches Gedächtnis und leben deswegen hauptsächlich in der Gegenwart. Ihr Gedächtnis ist den Zufälligkeiten der gerade auf sie einströmenden Reize ausgesetzt. Erst im weiteren geschichtlichen Verlauf erlebt das menschliche Gedächtnis wichtige Transformationen. Nun verbessern nämlich die Nutzung von >Zwischen268-
Stimuli< (als Spezialfall psychischer Werkzeuge) wie Knoten oder Kerben die Erinnerungsleistungen. Am Ende der Entwicklung steht die Transformation des externalen in ein >innerliches< Einprägen ohne alle äußeren Hilfen.« Individualgeschichte des Psychischen: Auch in dieser Entwicklungslinie kommt der Transformation der »niederen« in die »höheren« Formen des Psychischen eine wichtige Rolle zu. Insbesondere die Nutzung des Zeichensystems Sprache (-•Sprachpsychologische Theorien) ist hier entscheidend, da ihr Erwerb die Entwicklung aller psychischen Funktionen beeinflusst und der Kulturhistorische Ansatz ohnehin den interfunktionellen Charakter der Entwicklung betont (Vygotskij, 1934/2007). Da die von den Individuen genutzten Zeichensysteme notwendigerweise einer jeweiligen Kultur entstammen, ist der Prozess der Entwicklung immer auch einer der Enkulturation. Am Ende dieses Prozesses steht die Verinnerlichung, die Interiorisierung psychischer Funktionen; dem Interpsychischen kommt der Primat vor dem Intrapsyischen zu. Eine zentrale Rolle nehmen kompetente soziale Andere ein. Dies wird nicht zuletzt im Konzept der Zone der proximalen (nächsthöheren) Entwicklung deutlich. Zu welchen Leistungen ist ein Kind selbständig und zu welchen ist es mit Unterstützung durch kompetentere Peers oder durch Erwachsene in der Lage? Jenes stellt die Zone der aktuellen, dieses die Zone der proximalen Entwicklung dar. Die Zone der proximalen Entwicklung ist deswegen so relevant, weil sie zeigt, wie das Kind in absehbarer Zukunft selbständig Aufgaben lösen wird. Rezeption Weiterentwicklungen des Kulturhistorischen Ansatzes sind etwa den sprachpsychologischen Arbeiten Aleksej A. Leontjews und Dimitrij A. Leontjews oder den Lehr-Lernexperimenten Vladimir V. Davydovs geschuldet, die u. a. von Joachim Lompscher aufgegriffen werden. Der Ansatz wird in verschiedenen Spielarten einer Kultur inkludierenden Psychologie genutzt; die Vertreter der Troika, insbesondere Vygotskij und Lurija, sind zu Pionieren sowohl einer interpretativen Kulturpsychologie als auch einer stärker am naturwissenschaftlichen Ideal orientierten Kulturvergleichenden Psychologie erklärt worden. 269
Aber auch die -•Kritische Psychologie im Sinne Klaus Holzkamps ist ohne den Kulturhistorischen Ansatz, speziell ohne die naturgeschichtlichen und tätigkeitstheoretischen Arbeiten A. N. Leontjews (-•Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit) nicht denkbar. Erwähnenswert sind ferner die vielfältigen Bezugnahmen in der Pädagogischen Psychologie im Zuge der Theoretisierung förderlicher Lehr-/Lernkontexte, beispielsweise von Barbara Rogoff oder Ann Brown, auf den Kulturhistorischen Ansatz. Schließlich sei auf die Entwicklungspsychologie hingewiesen; hier nutzt etwa Jerome Bruner in seinem Interaktionistischen Modell des Spracherwerbs Vy gotskijs Arbeiten zur Sprach- und Denkentwicklung oder rekonstruiert Michael Tomasello die Entwicklung der Intentionalität auch auf der Grundlage des Kulturhistorischen Ansatzes; speziell in der Entwicklungspsychologie wird der Kulturhistorische Ansatz oftmals auch als attraktive Alternative zum genetischen Strukturalismus Jean Piagets in Stellung gebracht (-• Genetische Epistemologie). Literatur
Kölbl, C. (2006). Die Psychologie der kulturhistorischen Schule: V gotskij, Lurija, Leont'ev. Mit einem Nachwort von A. Metraux. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Leontjew, A. N. (1959/1971). Probleme der Entwicklung des Psychischen. Königstein/Ts.: Athenäum. Vygotskij, L. S. (1934/2007). Denken und Sprechen: Psychologische Untersuchungen. Weinheim: Beltz. Weiterführend
Daniels, H., Cole, M. & Wertsch, J. (Ed.). (2007). The Cambridge companion to Vygotsky. Cambridge, MA: Cambridge University Press. Carlos Kölbl
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LEIB-SEELE-PROBLEM
Wichtige Vertreter/innen In der 1637 veröffentlichten Schrift Discours de la Methode stellte Rene Descartes Geist und Körper als zwei verschiedene Substanzen (bzw. »Wirklichkeiten«) einander gegenüber. Beim Descartesschen Dualismus handelte es sich einerseits - jedenfalls bezüglich des Geistes - um einen idealistischen (letztlich theologischen) und andererseits - bezüglich des Körpers - um einen materialistischen (insbesondere mechanistischen) Ansatz. Beide Ansätze blieben im Grunde genommen eigenständig bestehen, was nicht heißt, dass Wechselwirkungen ausgeschlossen waren. Elf Jahrzehnte später konzentrierte sich Julien Offray de La Mettrie auf die materielle Seite des Cartesianischen Dualismus und stellte demselben seinen Monismus gegenüber.
Theorien Unter Monismus bzw. der Einheitslehre wird die Lehre von der Existenz nur eines Grundprinzips des Lebens verstanden. Dabei kann es sich um den Geist oder die Materie handeln, wobei in wissenschaftlicher Hinsicht meistens nur der zweite Modus von Interesse ist. Dieser würde indes einen konsequenten Materialismus voraussetzen, nicht zuletzt was das Verständnis des Seelischen anbelangt (-•Abbild- und Widerspiegelungstheorie). Im Folgenden werden einige monistische Positionen angeführt, unabhängig davon, welche >Lösungen< sie fiir das Grundproblem des Materialismus vorsehen. Reduktionistische Position: In Iwan Michailowitsch Sechenows 1863 publiziertem Werk Reflexe des Gehirns waren Gedanken bloße Reflexe des zwischen Reiz und Reaktion vermittelnden Gehirns. Deren motorische Bestandteile konnten gegebenenfalls unterdrückt werden, so dass auf die Auslöser nicht mehr direkt Reaktionen folgten. In Wladimir Michailowitsch Bechterews Werk Objektive Psychologie wurden sämtliche Erscheinungsformen des Psychischen nur mehr als Reflexe oder Reflexverbindungen verstanden. Bewusste Erlebnisse waren fiir ihn Neben- oder allenfalls Begleiterschei271-
nungen der Nerventätigkeit (sogenannte Epiphänomene). Iwan Petrowitsch Pawlow in der UdSSR und John Broadus Watson, der Pionier des Behaviorismus, in den USA reduzierten das Psychische auf bedingte Reflexe und angeborene Reiz-Reaktions-Verbindungen. Introspektion vermag demnach nichts zum Verständnis naturwissenschaftlich feststellbarer materieller bzw. neuronaler Prozesse beizutragen (-* Selbstbeobachtungskonzepte). Psychophysischer Funktionalismus: Gustav Theodor Fechner (1860/1964) verstand unter seiner Psychophysik die Lehre von der Abhängigkeitsbeziehung der Psyche zur Physis. Er nahm zwischen Körper und Geist einefiinktionelleBeziehung an und bekannte sich selbst zum Monismus bzw. zur Identitätsthese, nach der in der Psychophysik Psychisches und Physisches letztlich eins sind (eine Auffassung, die aber nicht von allen Kritikern geteilt wurde). Körperliche und geistige Zustände sind nach Fechner Aspekte derselben (somatischen) Sachverhalte, indes von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet (-•Wahrnehmungstheorien). Psychophysischer Parallelismus: Wilhelm Wundt ging in seinem 1874 erschienenen Werk Grundzüge der physiologischen Psycholog von der Annahme aus, dass physische und psychische Vorgänge parallelgeschaltet sind und entsprechend verlaufen. Dies bedeutete fiir ihn ursprünglich, dass zur psychischen Dynamik eigentlich beständig physiologische Korrelatprozesse zu suchen sind. Physische und mentale Zustände entsprechen einander, doch werden keine kausalen Beziehungen zwischen beiden unterstellt. Dieser Parallelismus entband die Psychologen schließlich von der Aufgabe, zu den psychischen Phänomenen physiologische Entsprechungen zu suchen, und machte den Weg frei, psychologische Gesetzmäßigkeiten ausschließlich im psychischen Bereich zu etablieren (-• Theoretische Psychologie). Phänomenologischer Ansatz: Nach Alfred Schöpf (1990), der sich weitgehend am frühen Edmund Husserl sowie an dem französischen Denker Maurice Merleau-Ponty orientierte, darf von der praktischen Bedeutung des Leib-Seelischen nicht abstrahiert werden (-•Theorie-Praxis-Transfer). Bei einem sogenannten wertfreien naturwissenschaftlichen Verständnis des Leibes werde derselbe nicht in seiner Bedeutung empfindungs-/gefiihlsmäßig und im tätigen Umgang wertmäßig betrachtet, sondern zu einem Objekt stilisiert. Für ein personal erlebendes Subjekt trenne sich der Leib nicht in 272
»Bewußtseinsintention und Leibobjekt, sondern es erfaßt eben verleiblichte Intentionen« (ebd., S.196). Die ursprüngliche Einheit von Leib und Seele sei exemplarisch aufzuzeigen, doch dürfe dabei auch nicht die sich schon im Keim andeutende Differenz verkannt werden, so dass analysiert werden könne, wie Leib und Seele sich im Laufe der Zeit unterscheiden, ja in Gegensatz zueinander treten und auch entsprechende Einstellungen im Bewusstsein entstünden (-•Phänomenologische Psychologie). Widerspiegelungstheorie: Aus den Wechselwirkungen organischer Systeme und ihrer Umwelt erfolgen auf Erstere Einwirkungen, die intern reproduziert werden. Dies setzt eine spezifische Eigenschaft der Systeme voraus, die als Irritabilität bezeichnet wird. Dieser Begriff verweist auf die Möglichkeit bestimmter organismischer Strukturen (u. a. in Sinnesorganen), physikalische Energien als Träger von Informationen über Zustände in der Umwelt aufzunehmen und organismusspezifisch zu transformieren, wahrnehmungsmäßig und konzeptuell zu verarbeiten und das ideell aufgenommene, aufgearbeitete und aufgelöste Materielle wiederum in gegenstandsbezogenes Verhalten umzusetzen (-•Abbild- und Widerspiegelungstheorie). Unter Dualismus bzw. der Zweiheitslehre wird die Lehre von der Existenz von eben zwei Grundprinzipien des Lebens verstanden. Er beruht ontologisch betrachtet auf zwei unabhängig voneinander bestehenden Seinsprinzipien. Im Unterschied zum Monismus kann der Dualismus nicht entweder ausschließlich materialistisch oder ausschließlich idealistisch verstanden werden. In epistemologischer Hinsicht kann es sich allenfalls um einen (wenn auch inkonsequenten) Materialismus oder um einen (wenn auch inkonsequenten) Idealismus handeln. Im Folgenden wurden aus der Vielzahl dualistischer Ansätze nur die drei folgenden ausgewählt, wobei die beiden letzten u. a. beim Würzburger Symposium ausfuhrlich vorgestellt und diskutiert wurden (vgl. u. a. Bonsack, 1990; Schöpf, 1990). Psychosomatischer Ansatz: Im Unterschied etwa zum psychophysischen Funktionalismus handelt es sich beim psychosomatischen Ansatz um einen dualistischen Ansatz. Psychologische und physiologische Prozesse gehören zu zwei kategorial (und damit auch ontologisch) grundsätzlich verschiedenen Bezugssystemen, die indes aufeinander einwirken. 273-
Dualismus der Eigenschaften: Phänomene des Psychischen unterscheiden sich grundsätzlich von physischen Phänomenen (vgl. z. B. die subjektive Schmerzempfindung und die diesbezüglichen neurophysiologischen Vorgänge). Allerdings werden beide nur als Attribution der einen physischen Substanz verstanden. Psychische Phänomene werden somit zwar prinzipiell auf physikalisch-chemische Prozesse zurückgeführt, aber zugleich auch mit einer Bedeutungshaftigkeit versehen, die als solche aus den materiellen Prozessen heraus nicht erklärt, prognostiziert und verstanden werden kann. Es handelt sich zwar um einen materialistischen Erkenntnisansatz, der aber inkonsequent ist, da die Beeigenschaftung ausschließlich auf ideeller Basis erfolgen kann. Epistemologischer Dualismus: Mit der Bezeichung dieses Ansatzes wird in erster Linie die Differenz der erkenntnismäßigen Zugänglichkeiten beachtet; indessen wird die ontologische Frage monistisch beantwortet, weshalb dieser Ansatz ebenso gut als (inkonsequenter) Monismus bezeichnet werden könnte. Angesichts des grundlegenden Leib-Seele-Problems besteht fiir den Forscher nur die Möglichkeit, auf beiden Seiten, auf der materiellen sowie auf der ideellen, aktiv zu werden, »beispielsweise einen Menschen zu fragen, was er empfindet, während man auf der objektiven Seite eine Stelle im Gehirn elektrisch reizt« (Bonsack, 1990, S. 83). Zumindest in Bezug auf die Forschungspraxis handelt es sich also durchaus um einen dualistischen Ansatz; allerdings müssen nach dem Autor in ebendieser Forschungspraxis beide Seiten des Erkenntnisprozesses objektiviert werden; das heißt, auch der subjektive Vorgang wird unter der Perspektive des Objekts betrachtet, denn nur objektive Ereignisse können mit anderen Sachverhalten kausal verbunden sein. Die Erkenntnis erfolgt also auf materialistischer Basis, wird jedoch durch ideelle Beiträge ergänzt.
Rezeption
Der Leib-Seele-Diskurs, wie er u. a. beim Würzburger Symposium geführt wurde, fand relativ wenig Beachtung unter den akademischen Psychologen, obwohl die experimentell ausgerichtete Kognitive Psychologie, die von Charles Darwins monistischer Evolutionstheorie weitgehend abstrahiert (-•Biologische Psychologie), 274-
bei der Operationalisierung ihrer Konstrukte einen impliziten Dualismus zu überwinden hat, da sich ihr das Problem der Übersetzung des mentalen in den körperlichen Bereich stellt und umgekehrt (-•Theorien der Psychologie und Empirie).
Literatur Bonsack, E (1990). Trotz epistemologischer Diskontinuität, ontologische Kontinuität zwischen Leib und Seele. In K.-E. Bühler (Hrsg.), Aspekte des Leib-Seele-Problems (S. 81-94).Würzburg: Königshausen & Neumann. Fechner, G. T. (1860/1964). Elemente der Psychophysik. Bd. 1. Basel: Schwabe. Schöpf, A. (1990). Das Leib-Seele-Problem in phänomenologischer Sicht. In K.-E. Bühler (Hrsg.), Aspekte des Leib-Seele-Problems (S. 193-205). Würzburg: Königshausen & Neumann.
Weiterfuhrend Beckermann, A. (1999). Leib-Seele-Problem. In H. J. Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie der Philosophie. Bd. 1 (S. 766-774). Hamburg: Meiner. Mark Galliker
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LERNTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Der Behaviorismus geht auf John B. Watson zurück, der 1913 verkündete: »Die Psychologie, wie der Behaviorist sie sieht, ist ein rein objektiver experimenteller Zweig der Naturwissenschaften ... Introspektion ist kein wesentlicher Bestandteil ihrer Methoden« (zitiert nach Sanders 1978, S.47). Da nur das Verhalten legitimer Gegenstand der psychologischen Wissenschaft war und im Vertrauen auf Darwins Evolutionstheorie kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier gesehen wurde, sind viele behavioristische Experimente mit Versuchstieren durchgeführt und ihre Ergebnisse auf den Menschen extrapoliert worden. Die angestrebte Objektivität einer Naturwissenschaft auf theoretischem Niveau zu verwirklichen blieb allerdings erst den späteren Neobehavioristen wie Clark Hull und Edward Tolman vorbehalten. Auf ihre Theorien sowie auf Burrhus Skinner und Erwin Guthrie wird im Folgenden Bezug genommen. Mit dem Aufleben der Kognitiven Psychologie Ende der 1950er Jahre wurde neben dem Verhalten das Bewusstsein wieder legitimer Untersuchungsgegenstand der psychologischen Wissenschaft. Lernen ist auch Gegenstand der Kognitiven Psychologie, hat dort aber nicht zur Bildung von Theorien gefuhrt, die alles Lernen auf eines oder wenige Grundprinzipien zurückfuhren. Das Zeitalter der Theorie, wie die neobehavioristische Periode von etwa 1930 bis Ende der 1950er Jahre genannt wurde, war vorbei.
Theorien
Der sicherlich bedeutsamste und am häufigsten zitierte neobehavioristische Lerntheoretiker war Clark Hull mit seinen 1943 und 1952 publizierten Büchern Principles of behavior und A behavior system. Er vertrat einen methodologischen Behaviorismus, der die Existenz des Bewusstseins aus methodologischen Gründen ausklammert. Seine Verhaltenstheorie besteht aus Postulaten und daraus resul276-
tierenden Folgerungen. Mehrfach wurde die Theorie modifiziert, wenn sich die Folgerungen experimentell nicht bestätigen ließen (-•Theorien der Psychologie und Empirie). In verschiedenen Versionen der Theorie wurden antezedente Variablen über sogenannte intervenierende Variablen (IV) mit konsequenten Variablen verbunden. Nur die erst- und letztgenannten Variablen sind der Beobachtung zugänglich. Die IV sind theoretische Größen, fiir die keine reale Existenz postuliert wird. Sie lassen sich also auch nicht auf physiologische Prozesse zurückfuhren. In der letzten Version seiner Theorie ist eine einzige dieser IV auf das Lernen bezogen: das sogenannte Gewohnheitspotential H, das von der Zahl der Verstärkungen (antezedente Variable) abhängig ist. Zwei IV sind auf die Motivation bezogen: der Antrieb D, abhängig von der Deprivationsdauer (z. B. Dauer des Nahrungsentzugs), und der Anreiz K, abhängig von der Verstärkungsmenge (z. B. Anzahl der Futterpillen). Die multiplikative Verknüpfung dieser IV fuhrt zu einer neuen IV, dem sogenannten Reaktionspotential, das mit beobachtbaren Aspekten des Verhaltens (z. B. Latenzzeit und Löschungsresistenz des Verhaltens als konsequente Variablen) in Beziehung steht. Das Lernen ist also von der Verstärkung abhängig, deren Wirkung Hull zu verschiedenen Zeitpunkten auf die Reduktion des Antriebs oder die Reduktion der mit dem Antrieb verbundenen Triebreize zurückführte (-•Motivationstheorien). Skinner war ein Gegner des hypothetisch-deduktiven Forschungsansatzes, der Hulls Psychologie kennzeichnet. Deshalb ist Skinners Psychologie gelegentlich als antitheoretisch bezeichnet worden. Allerdings betont Skinner (1974, S.7) selbst, dass »die experimentelle Psychologie eigentlich unvermeidlich zur Entwicklung einer Verhaltenstheorie verpflichtet ist [...]. Eine Theorie ist zum wissenschaftlichen Verständnis des Gegenstandes >Verhalten< unerläßlich.« Diese Theorie hat Skinner nicht entwickelt, sein Ansatz bleibt deskriptiv. Skinner unterscheidet zwischen Antwort- und Wirkreaktionen. Wirkreaktionen haben im Unterschied zu den Antwortreaktionen keinen bekannten Auslöser. Diesen Reaktionen ordnet Skinner verschiedene Konditionierungsarten zu. Antwortreaktionen (AR) sind klassisch konditionierbar: Geht ein neutraler Reiz (z. B. Ton) einem Reiz (z. B. Futter), der eine Reaktion (Speichelfluss) auslöst, mehrfach in kurzem Zeitabstand (Prinzip der Kontiguität) voraus^ 277-
so wird dieser neutrale Reiz selbst zum Auslöser der Reaktion. Die Entdeckung dieses Gesetzes geht auf den russischen Physiologen Iwan Pawlow zurück. Skinner selbst beschäftigte sich aber mit den Wirkreaktionen (WR) und deren operanter Konditionierung. Folgt einer WR ein Verstärker (z.B. Futter), so steigt die Auftrittswahrscheinlichkeit dieses Verhaltens. Im Unterschied zu Hull hat Skinner fiir die verstärkende Wirkung keine Erklärung abgegeben. In zahlreichen Experimenten mit Tauben und Ratten hat er in speziell dafür entwickelten Käfigen (sogenannte Skinner-Box) untersucht, wie sich verschiedene Verstärkungspläne auf Aspekte des Verhaltens, wie etwa seine Persistenz, auswirken. Wie Skinner lehnte Guthrie (193 5/1952) den hypothetisch-deduktiven Forschungsansatz und Theorien des Lernens, die mit IV arbeiten, ab. Unter einem einzigen Gesetz subsumiert er alle Lernvorgänge. Danach werden Reiz-Reaktionsverbindungen nach dem Prinzip der Kontiguität in einem einzigen Versuch etabliert. Dem scheint die Beobachtung zu widersprechen, dass Übung zum Lernfortschritt fuhrt. Aber Guthrie kann zeigen, dass Lernfortschritte auch nach seinem Prinzip des Ein-Versuch-Lernens erklärbar sind. Als eigentliche Alternative zu Hulls Lerntheorie wurde oftmals Edward Tolmans Zeichen-Gestalt-Theorie angesehen. Diese Theorie arbeitet ebenfalls mit verschiedenen IV, zu denen aber, anders als bei Hull, Kognitionen und Zwecksetzungen gehören. Demgemäß ist Tolmans methodologischer Behaviorismus manchmal als kognitiver Behaviorismus bezeichnet worden. Tolman ist zwar der Erfinder der IV, hat aber seine Theorie nicht so systematisch aufgebaut wie Hull.
Rezeption Die behavioristischen Psychologien sind sehr verschieden voneinander und weitgehend veraltet. Die Zeit der großen Theorien ist heute vorbei, und der Behaviorismus ist durch die Kognitionspsychologie abgelöst worden. Dennoch sind gewisse Einflüsse der hier behandelten Theoretiker bis in die heutige Zeit auszumachen. Der deskriptive Behaviorismus von Skinner dürfte noch am aktuellsten sein. Skinner selbst hat ihn auf so unterschiedliche Bereiche wie Religion, Volkswirtschaft, Erziehung, Kultur und Psychotherapie 278-
ausgedehnt. Dass diese Anwendungen Grenzen haben, hat z.B. Noam Chomsky mit seiner Kritik an Skinners Analysen verbalen Lernens gezeigt. Weniger einflussreich ist Guthrie geblieben. Auf der Basis seiner Theorie hat William Estes allerdings eines der ersten mathematisch formulierten Lernmodelle entwickelt. Derartige Modelle ermöglichen die Ableitung genauer Prognosen fiir lernpsychologische Experimente und sind eher einem hypothetischdeduktiven Forschungsansatz verpflichtet. Hull ist hauptsächlich über seine Schüler einflussreich geblieben. Zu ihnen gehörte Neal Miller, der entgegen Skinners Annahme nachweisen konnte, dass auch vom vegetativen Nervensystem vermittelte AR operant konditionierbar sind. Dieser Nachweis steht nicht nur im Einklang mit Hulls Theorie, nach der das Kontiguitätsprinzip keine hinreichende Bedingung für das Lernen ist, sondern war auch der Beginn der Entwicklung neuer Techniken der Verhaltenstherapie (Biofeedback). Hull selbst war an der Beziehung seiner Theorie zur Psychoanalyse interessiert. Neal Miller und John Dollard haben die in einem der Hullschen Seminare entwickelten Ideen zu einem Buch über diesen Gegenstandsbereich ausgearbeitet. Beide Autoren waren an der Entwicklung der Frustrations-Aggressions-Theorie beteiligt und haben eine Theorie des Imitationslernens auf der Basis der Hullschen Theorie entwickelt. Eine ganz andere, nämlich kognitive Theorie des Imitationslernens hat Albert Bandura ausgearbeitet. Sie scheint heute allgemein akzeptiert zu sein und ist eine wichtige Ergänzung zu allen Ansätzen, die das Lernen auf die selbsterfahrenen Konsequenzen des Verhaltens zurückfuhren. Nach Bandura genügt die Beobachtung eines Modells, das bestimmte Verhaltensweisen vormacht, unter bestimmten Bedingungen zum Erwerb neuen Verhaltens und sogar der Regeln, die es leiten. Die Verstärkung ist bei Bandura keine Bedingung des Lernens, sondern eine motivationale Voraussetzung für die Umsetzung des Gelernten in Verhalten (-* Motivationstheorien). Mit dieser Unterscheidung zwischen Lernen und Performanz basiert diese Theorie ganz deutlich auf der Theorie von Tolman.
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Literatur
Bower, G. H. & Hilgard, E. R. (1981). Theories of learning. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. Guthrie, E.R. (193 5/19 52). The psychology of learning. New York NY: Harper. Skinner, B. E (1974). Die Funktion der Verstärkung in der Verhaltens wissenschaft. München: Kindler.
Weiterführend
Sanders, C. (1978). Die behavioristische Revolution in der Psychologi Salzburg: Müller. Jürgen Bredenkamp
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LESEKOMPETENZ
Wichtige Vertreter/innen Nachdem die PISA-Untersuchung von 2000 (in Deutschland) auch gerade in Bezug auf die Lesekompetenz der Jugendlichen ernüchternde Ergebnisse erbracht hat, steht die Lesefähigkeit nicht nur im Aufmerksamkeitsfokus der Politik, sondern auch der Wissenschaft. Dabei kann die Modellierung der interindividuellen KompetenzUnterschiede auf ein halbes Jahrhundert linguistische und kognitionspsychologische Forschung zum Leseprozess zurückgreifen (-• Sprachpsychologische Theorien). Deren zentrales Ergebnis besteht darin, dass Lesen kein passivrezeptiver Prozess ist, sondern eine kognitiv-konstruktive Aktivität. Diese Konstruktivität ist fiir alle Teilprozesse des Lesens nachgewiesen worden: von der Buchstaben- und Worterkennung (vgl. Max Coltheart, Mark Seidenberg und James McClelland) über die syntaktische und semantische (Satz-)Analyse (Gerry Altman und Mark Steedman sowie Fernanda Ferreira) bis hin zu den Inferenzen auf der Textebene (Art Graesser und Joseph Magliano sowie Tobias Richter) und dem Aufbau von (situationsbezogenen) mentalen Modellen (Arthur Glenberg, David Rapp, Rolf Zwaan). Die Modellierung der individuellen Lesekompetenz bezieht in die Kompetenzdiagnostik dieser Dimensionen auch noch die fiir das globale Textverständnis relevanten Qualitäten des Vorwissens und Arbeitsgedächtnisses ein (-• Gedächtnistheorien). Die (Lese-) Kompetenz-Modelle fokussieren dann entweder die hierarchieniedrigeren Teilprozesse (auf Wort- und Satz-Ebene Theorie der verbalen Effizienz und Interaktiv-kompensatorisches Modell: Charles Perfetti, Keith Stanovich) oder die hierarchie-höhere Textebene {Schema-Theorie und Integrations-Ansatz: Rand Spiro, Jane Oakhill sowie Alan Garnham) bzw. die Verbindung mit den außertextuellen Variablen {Kapazitätstheorie: Marcel Just und Patricia Carpenter).
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Theorien
Schon auf der Ebene der einzelnen Teilprozesse des Lesens sind interindividuelle Kompetenzunterschiede erkenn- und diagnostizierbar. Das betrifft auf der Wortebene den effizienten Zugriff auf Wortbedeutungen, der bei schlechten Lesern/innen eingeschränkter ist und nur teilweise durch den Rückgriff auf den Satzkontext kompensiert werden kann. Auf der Satzebene geht es um Unterschiede im allgemeinen Leseverständnis und bei der Lesegeschwindigkeit, die sich im Zusammenspiel von syntaktischer und semantischer Analyse manifestieren; deren Qualität kann allerdings ihrerseits von der Verarbeitung auf Wort- wie Textebene oder auch von der Arbeitsgedächtniskapazität beeinflusst sein. Die wesentlichste Quelle für interindividuelle Unterschiede stellt aber eindeutig die Verarbeitung auf Textebene dar, nicht zuletzt weil Defizite bei den hierarchie-niedrigen Teilprozessen (der Worterkennung und Satzverarbeitung) durch gute Kompetenzen bei der Bildung globaler Textkohärenzen zumindest teilweise kompensiert werden können. Allerdings ist hier der Einfluss leseunspezifischer Fähigkeitskomponenten groß, insbesondere des Vorwissens und der Arbeitsgedächtniskapazität, die auch für Problemlöseprozesse allgemein essentiell sind. Weil die Interaktion zwischen hierarchie-niedrigen und -hohen Teilprozessen des Lesens sowie den lese-externen Einflussvariablen noch nicht zureichend geklärt ist, gibt es auch eine Mehrzahl von Modellen zur Beschreibung und Erklärung der Lesekompetenzunterschiede. Die Theorie der verbalen Effizienz geht vor allem von der Wortebene aus und sieht die Kompetenzunterschiede im Automatisierungsgrad der Worterkennung begründet, wodurch Ressourcen fur die hierarchie-hohen Teilprozesse frei werden. Damit widerspricht sie der Schema- Theorie, die (vor)wissengeleitete Top-down-Ptozcss in den Mittelpunkt stellt, während für die Effizienz-Theorie die niedrigeren Teilprozesse des Lesens nicht durch die höherstufigen beeinflussbar sind. Die - wenn auch nicht weit ausgreifende - Wechselwirkung zwischen einzelnen Ebenen steht dagegen im Fokus des interaktiv-kompensatorischen Modells. Es geht (wie d Effizienz-Theorie) von den Problemen (der schlechten Leser/innen) beim lexikalischen Zugriff aus, postuliert jedoch, dass solche 282-
Defizite durch Rückgriffe auf den Satzkontext ausgeglichen werden können. Allerdings werden dadurch Ressourcen gebunden, die dann bei der Textverarbeitung auf höherer Ebene fehlen (und so die Qualitätsunterschiede in der Lesekompetenz verursachen). Das Modell der Integrationsprozesse konzentriert sich daher gleich auf diese hierarchie-höheren Teilprozesse des Lesens. Die Lesekompetenz spiegelt demnach vor allem die Fähigkeit wider, aus der Textlektüre ein adäquates mentales Modell (qua Situationsmodell) zu entwickeln; dazu sind zwei kognitive Teilfähigkeiten entscheidend, nämlich die Herleitung verstehensrelevanter Inferenzen und das Erkennen übergreifender Textstrukturen, außerdem das permanente Überwachen des eigenen Verstehensprozesses als zentraler metakognitiver Variable. Noch weiter greift die Kapazitätstheorie aus, nach der vor allem die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses Rir die interindividuellen Unterschiede auf allen Ebenen (von den hierarchie-niedrigen über die -hohen Prozesse bis zur Bildung von mentalen Modellen) verantwortlich ist; diese Theorie hat den Vorteil, dass es für sie mit dem Lesespannen-Test ein effektives diagnostisches Instrumentarium gibt.
Rezeption Die linguistische und kognitionspsychologische Forschung zum Leseprozess und der Lesekompetenz hat sich insbesondere in der Konzeption der nationalen und internationalen Lesestand-Untersuchungen (PISA, DESI etc.) ausgewirkt. Allerdings sind damit klassische Lehr- und Lernziele der Lese- und Literaturdidaktik wie die Persönlichkeitsentwicklung (durch Lektüre) nicht abgedeckt (-•Pädagogisch-psychologische Theorien), weswegen gerade von der Unterrichtsforschung her auch die emotionalen und motivationalen Faktoren (-• Motivationstheorien) des Lesens und der Kompetenzentwicklung in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt werden, was aber bisher weder in der Wissenschaft noch in der (Bildungs-) Politik zu einem integrativen Ansatz geführt hat.
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Literatur Christmann, U. & Groeben, N. (1999). Psychologie des Lesens. In B. Franzmann et al. (Hrsg.), Handbuch Lesen (S. 145-223). München: Saur. Groeben, N. & Hurrelmann, B. (Hrsg.). (2009). Lesekompetenz: Bedingungen Dimensionen, Funktionen. (3. Aufl.) Weinheim: Juventa. Weiterführend Christmann, U. (im Druck). Kognitionspsychologische Ansätze des Lesens. In U. Rautenberg & U. Schneider (Hrsg.), Lesen Ein Handbuch. Berlin: De Gruyter.
Norbert Groeben und Ursula Christmann
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LIBIDOTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Libidotheorie wurde von Sigmund Freud entwickelt (-•Psychoanalyse). Den Begriff Libido (lat.) will er von Albert Molls Titel Untersuchungen über die Libido sexualis (1896/97) übernommen haben. Er war aber bereits in der Fachsprache der Mediziner als Bezeichnung des Geschlechtstriebes üblich und ist es heute noch. Freuds abtrünniger Schüler Carl Gustav Jung übernahm den Ausdruck und erweiterte seine Bedeutung bis zur Unbestimmbarkeit (-•Analytische Psychologie). In der Neopsychoanalyse wird das Libido-Konzept nicht mehr verwendet.
Theorie Freuds Libido-Theorie postulierte eine die sexuelle Lust betreffende Energie, die in einer bestimmbaren, wenn auch »derzeit nicht messbaren« Quantität auftritt. Sie ist das Substrat der Umwandlungen des Sexualtriebes bezüglich der Quelle der sexuellen Erregung (erogene Zonen), des Objekts (Besetzung), und des Ziels (sexuelle Befriedigung bis Sublimierung). Die Libido weist unterschiedliche Grade der >Klebrigkeit< oder >Zähigkeit< und der Plastizität auf, aus denen Freud die Unterschiede in der Anhänglichkeit an bestimmte Objekte, Ziele oder Entwicklungsstadien erklären will. Die Freudsche Libidotheorie besagt nun, dass diese Energie, etwa als affektive Zuneigung, im Verlaufe der Entwicklung auf verschiedene Personen, Gegenstände (etwa bei Fetischismen) und Phantasmen verteilt und wieder umverteilt wird. So wird beispielsweise die ausschließliche Zentrierung des Affektes auf den Partner bei Frischverliebten als gesammelte Besetzung durch Libido aufgefasst; eine bei länger andauernder Partnerschaft sich meist wieder einstellende affektive Verbundenheit auch mit anderen Objekten als Umverteilung der Libido. Die Verfolgung scheinbar nichtsexueller, schöpferischer geistiger, künstlerischer und intellektueller Interessen betrachtet Freud als Resultat sogenannter Sublimierung libidinöser Energie, bei der 285-
die ursprünglich sexuelle Zielrichtung durchaus noch erfassbar sein kann. Kulturarbeit erfolgt somit auf Kosten der im engeren Sinne sexuellen Betätigung. Die Libido durchläuft in der Ontogenese verschiedene Stadien, die Freud nach der jeweiligen Vorherrschaft einer erogenen Zone als oral, anal und phallisch bezeichnete. Ihnen sollen eine Latenzphase und eine genitale Phase folgen. Die Berechtigung dieser Entwicklungshypothese sieht Freud in Ernst Haeckels Biogenetischem Grundgesetz, der unhaltbaren Hypothese, nach der die Ontogenese die Phylogenese wiederholt. Allerdings hält Freud auch eine rückläufige Veränderung für möglich, die er Regression nennt. In Freuds erster Triebtheorie erscheint die Libido als Antagonist der Selbsterhaltungstriebe. Dies wird durch seine zweite Triebtheorie überholt, in der die jetzt auch Eros genannte Libido, die nun zusätzlich die Selbsterhaltungstriebe einschließt, als Antagonist des auch Thanatos genannten Todestriebes auftritt. Aus Bahnung und Hemmung der Libidoströme und resultierenden Variationen in Quelle, Objekt und Ziel soll sich die Vielfalt der menschlichen Vita sexualis erklären lassen. Eine Verdrängung der Libido soll nur scheinbar möglich sein. Sie mache sich, zu Angst mutiert, bemerkbar. Jung verwendete den Ausdruck Libido für unspezifische allgemeine seelische Energie, für einen »kontinuierlichen Lebens trieb«, und beruft sich dabei auf altchinesische und indische Vorstellungen. Libido wird bei Freud wie bei Jung als quantitativer Begriff aufgefasst. Rezeption Der Ausdruck Libido fand weite Verbreitung. Im Einzelfall ist es jedoch schwierig bis unmöglich zu bestimmen, ob der jeweilige Autor damit unspezifische seelische Energie, Streben nach Lust in jedweder Form oder den Geschlechtstrieb im engeren Sinne bezeichnet. Für die Quantität der Energie Libido wurden bisher keinerlei folgenunabhängige Messmethoden oder auch nur Schätzmöglichkeiten der jeweils bestehenden Größe entwickelt, vielmehr wurden Schätzwerte aus angeblichen Folgen ebendieser als ursächlich aufgefassten Größe vorgebracht. Das gleiche Problem liegt bei ihren Eigenschaften Klebrigkeit und Plastizität vor. Daher muss 286-
der Theoriecharakter der sogenannten Libidotheorie als fragwürdig bezeichnet werden. Sie lässt sich eher als ein Modell in Analogie zu hydromechanischen und Dampfmaschinen auffassen. Freud selbst verwendet solche Vergleiche zur Erläuterung seiner Vorstellungen. Wie Freuds Ausdrücke Bahnung und Hemmung zeigen, verwendet er auch Analogien zu einer seinerzeit verbreiteten, doch veralteten Sicht der neuralen Prozesse, in der nur die energetischen Abläufe betrachtet werden, nicht aber die informationsübertragenden. Die Verwendung der Freudschen Libidotheorie beschränkt sich heute auf freudianisch-psychoanalytisch orientierte Kreise. Literatur Abraham, K. (1924). Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Freud, S. (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Jung, C. G. (1912). Wandlungen und Symbole der Libido: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Weiterführend Macmillan, M. (1997). Freud evaluated: The completed arc. Amsterdam: North Holland. Horst Gundlach
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LINGUISTISCHES RELATIVITÄTSPRINZIP
Wichtige Vertreter/innen Neben Edward Sapir und Franz Boas gilt Benjamin Lee Whorf, ein Schüler von Sapir, als bedeutendster amerikanischer Wissenschaftler im Bereich der linguistisch orientierten Kulturanthropologie. Er beschäftigte sich insbesondere mit der Sprache der Hopi-Indianer und gelangte aufgrund seiner langjährigen Forschungen zu dem Schluss, dass enge Zusammenhänge zwischen Kultur und Sprache einerseits und Kultur und Denken andererseits bestehen. In Whorfs 1956 veröffentlichten Aufsätzen werden Sapirs Überlegungen zur Abhängigkeit der Erfahrung von der Sprache anhand ethnolinguistischer Vergleiche zur Sapir-Whorf-Hypothese entwickelt, nach der die jeweilige Sprache die Gedanken ihrer Verwender in der Art eines »tradierten Kanalsystems« vorstrukturiert, leitet und formt.
Theorien
Im Folgenden werden je nach angenommenem Grad des Einflusses der Sprache auf das Denken verschiedene theoretische Ansätze angeführt: Linguistische Determinismushypothese: Mit dieser Hypothes (oder vielmehr These), einer ausdifferenzierten Form der SapirWhorf-Hypothese, wird postuliert, dass die Sprache die Wahrnehmung der Welt bestimmt. Das heißt, dass Sprechende verschiedener Sprachen zwingend verschiedene »Weltanschauungen« haben müssen. Meistens wird die Sprache als kulturell vermitteltes Gut betrachtet. Allerdings gibt es auch Wissenschaftler, die zwischen Sprache und Kultur unterscheiden und annehmen, dass die Kultur, nicht die Sprache, die eigentliche Quelle des Denkens sei. Wäre die Determinismushypothese zutreffend - sie wird in ihrer extremen Form heute kaum mehr vertreten - , würde dies bedeuten, dass es fur die Sprecher einer bestimmten Sprache kaum möglich wäre, so zu denken wie die Sprecher einer anderen Sprache. Auch müsste die kognitive Differenz zwischen den verschiedenen Sprachkultu288-
ren übereinstimmendes logisches Denken ausschließen (vgl. Pinker, 2008). Linguistische Relativitätshypothese: Die moderatere Form der Sapir-Whorf-Hypothese behauptet nicht, dass Sprache Denken determiniert, sondern sie macht lediglich geltend, dass Sprache Denken regelmäßig beeinflusst. Nach dem linguistischen Relativitätsprinzip können Beobachter mit unterschiedlichen sprachlichen Hintergründen gewöhnlich nicht zur gleichen Weltsicht und zu gleichen Kognitionen gelangen. Die Kontrastierung von nordamerikanischen Indianersprachen mit den indogermanischen Standard-Average-European-Sprzchen (SAE-Sprachen) zeigt an der Art, die Natur aufzugliedern, die Relativität der begrifflichen Systeme auf. Grammatischen Strukturen der SAE-Sprachen entsprechen Besonderheiten der Kulturen (u.a. Suche nach »Tätern« in der Natur wegen der Subjekt-Prädikat-Struktur, Verräumlichung des Nichträumlichen, lineare Zeitauffassung). Boas-Jakobson-Prinzip: Deutscher (2010) beurteilte den Unterschied zwischen verschiedenen Sprachen hinsichtlich möglicher Wahrnehmungen und Kognitionen unter Bezugnahme auf ein ansatzweise von Franz Boas thematisiertes und später auch von Roman Jakobson formuliertes grammatisches Prinzip wie folgt: »Sprachen unterscheiden sich hauptsächlich durch das, was sie vermitteln müssen, und nicht durch das, was sie vermitteln können« (ebd., S.173; Hervorhebungen i. Orig.). Dem Autor zufolge liegt die entscheidende Differenz zwischen Sprachen nicht darin, was jede Sprache ihren Sprechern auszudrücken gestattet, sondern im Zwang, bestimmte Sachverhalte wiederzugeben. Dieser Ansatz berücksichtigt, dass in einer bestimmten Sprache ursprünglich kanalisierte Gedanken in zweiter Linie auch in einer anderen, kognitiv anders vorstrukturierten Sprache ausformuliert werden können. Thinking-for-speaking-Hypothese: Nach Slobin (1996) beeinflusst Sprache Denken nur dann, wenn sie gerade aktiv angewandt wird. Die Hypothese bezieht sich also ausschließlich auf die Aktivitätskonzepte (Denken und Sprechen). Darüber hinaus ist keine Veränderung des Denkens zu verzeichnen. Die Verwendung der Sprache bahnt bestimmten kognitiven Konzepten den Weg. Die Effekte während des Sprechens beeinflussen indes das Denken nur im Verlauf des Sprechens. Die Einschränkung der ursprünglichen Hypothese bezieht sich nicht wie bei Deutscher (2010) auf die sprachli289-
chen, insbesondere grammatischen Vorschriften, sondern auf die Kurzfristigkeit der Beeinflussung respektive auf die Aktualgenese. Language-on-language-Hypothese: Wörter sind semantisch so allgemein, dass sie an sich feine kognitive Differenzierungen nicht zu repräsentieren vermögen, doch können sie über ihren Gebrauch bzw. im Kontext konkretisiert und richtig verstanden werden. Da die Sprache den Reichtum der Gedanken nur skizziert, sind konzeptuelle Inhalte linguistisch unterbestimmt. Sprachspezifische Schemen kognitiver Leistung sind nur ein Produkt der Sprachverarbeitung, die während der Lösung von Problemen auftritt. Diese Schemen sind tatsächlich insofern vorübergehend, als sie die »nature of the domain« selbst (bzw. das Denken als solches) nicht verändern (Gleitman & Papafragou, 2013, S. 518). Die Online-Einflüsse der Sprache können kognitive Repräsentationsformate allenfalls einstimmen und tönen, und zwar je nachdem, welche sprachlichen Elemente aktuell verwendet werden und wie diese unmittelbar folgende Sprechtätigkeiten beeinflussen. Mentalistischer Ansatz: Denkprozesse finden innerhalb eines (oft als angeboren angenommenen) Repräsentationssystems statt. Dabei bedienen sie sich nicht der Umgangssprache als Medium. Wort- und Satzbedeutungen erscheinen in einer anderen Sprache, nämlich in der Sprache des Geistes oder der sogenannten mentalen Sprache. Um eine Sprache z. B. zu verstehen, muss sie jedenfalls in die mentale Sprache übersetzt werden; eine Vorstellung, die nach der Kognitiven Wende in gewisser Weise auch innerhalb des Mainstreams der Psychologie und der Sprachpsychologie relevant wurde (-• Sprachpsychologische Theorien). Linguistischer Universalismus: Lange Zeit herrschte in der Linguistik und Psycholinguistik die mit der Sapir-Whorf-Hypothese unvereinbare Meinung vor, dass die sprachliche Kompetenz zur biologischen Ausstattung des Menschen gehöre, dass also die Fähigkeit, über Sprache zu verfugen, im Wesentlichen angeboren sei. So betrachtete Noam Chomsky sämtliche Differenzen zwischen den syntaktischen Strukturen verschiedener Sprachen als arbiträr und unterstellte ein genetisch angelegtes System einer Universalgrammatik, für das die einzelnen »Weltsprachen« nur besondere Manifestationen darstellten (-• Spracherwerbstheorien). Während beim -•Kulturhistorischen Ansatz tendenzielle Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen erarbeitet werden, besteht bei der 290-
Kulturvergleichenden Psychologie die Tendenz, so weit von Besonderheiten der einzelnen Kulturen zu abstrahieren, dass Gemeinsamkeiten zwischen ihnen sichtbar werden. Rezeption Im deutschsprachigen Raum wurden Whorfs Aufsätze 1984 als Taschenbuch unter dem Titel Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie publiziert und einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht. Whorfs Untersuchungen stimulierten die Debatte über Denken und Sprache; die hohe Relevanz von Sprachuntersuchungen für die Psychologie und die Sozialwissenschaften geht zu einem guten Teil auf sie zurück. Indessen wurde die Relativitätshypothese lange Zeit verworfen, erst in den letzten Jahren hat sie eine Renaissance erfahren, allerdings vor allem in der modifizierten Ausgestaltung von Deutscher (2010), der das Boas-Jakobson-Prinzip unter Bezugnahme auf teilweise eindrückliche Experimente, insbesondere zum sprachabhängigen Farbensehen, belegte. Literatur Deutscher, G. (2010). Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. München: dtv. Pinker, S. (2008). The stuff of thought: Language as a window into human nature. London, UK: Penguin Books. Slobin, D. L. (1996). From »thought and language« to »thinking for speaking«. Inj. J. Gumperz & S. C. Levinson (Eds.), Rethinking linguistic relativity (pp. 70-96). Cambridge, MA: Cambridge University Press. Weiterführend Gleitman, L. & Papafragou, A. (2013). Relations between language and thought. In D. Reisberg (Ed.), Handbook of cognitive psychology (pp. 504-523). New York, NY: Oxford University Press. Mark Galliker 291-
MEDIENPSYCHOLOGISCHE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Bei der Medienpsychologie handelt es sich um eine psychologische Teildisziplin, die die Aufgabe hat, eine Beschreibung und Erklärung desjenigen Verhaltens von Individuen zu geben, das durch die Medien beeinflusst wird (Winterhoff-Spurk, 1999). Hierbei stand die Beschreibung des Verhaltens der Mediennutzer anhand von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Merkmalen im Vordergrund. Die Medienpsychologie etablierte sich durch bedeutende Forschungen insbesondere Ende der 1970er Jahre als wissenschaftliche Disziplin. Zu Beginn lag das Hauptaugenmerk neben dem Fernsehen auf computergestützten Medien. Herbert Marshall McLuhan entwickelte 1962 verschiedene Kultivierungsansätze. Annahme der Kultivierungshypothese ist, dass ein häufiger Medienkonsum aufgrund bestimmter Eigenschaften des Mediums diverse Veränderungen herbeifuhren kann, wie z.B. Cultivation ofMental Skills (Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten) oder auch Cultivation of Beließ (Veränderungen der Einstellungen). Peter Winterhoff-Spurk ergänzte 2005 diesen Ansatz mit überdauernden Veränderungen der Persönlichkeit (Cultivation of Personality) und Emotionen (Cultivation ofEmotions). In Bezug auf die Cultivation of Mental Skills wird angenommen, dass bestimmte filmische Effekte sowohl die Detailwahrnehmung als auch die Perspektivenübernahme bei kleinen Kindern verbessern. Georg Gerbner formulierte 1978 in Bezug auf die Veränderung der Einstellung die Scary World Hypothese. Hierbei wird behauptet, dass übermäßiger Fernsehkonsum bei den Rezipienten zu starken Ängsten führe, da im Fernsehen die soziale Welt einseitig dargestellt werde. Zudem zeigten sich Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und der Einschätzung von Gewalt, zur Entfremdung und Hilflosigkeit sowie sozialem Argwohn und allgemeinem Lebensgefühl. Der Mainstream-Hypothese zufolge fuhrt häufiger Fernsehkonsum zu einer Vereinheitlichung der Einstellungen der Personen. Hiermit ist gemeint, dass z.B. ein erhöhter Konsum einen leistungshomogenisierenden Effekt auf unterschiedlich intelligente Individuen haben kann. Bislang konnten Studien diese 292-
Hypothese nur teilweise bestätigen. Einen bedeutenden Einfluss erlangte des Weiteren das u. a. von Paul Felix Lazarsfeld 1944 entwickelte Konzept der Defensiven Selektivität, d.h., überzeugte Anhänger/innen einer Partei rezipieren hauptsächlich auch diejenigen Medieninhalte, mit denen sie schon vorher übereinstimmten. Theorie Die Medienpsychologie greift größtenteils auf Theorien aus den Grundlagendisziplinen der Psychologie wie z. B. der Psychophysiologic, der Kognitionspsychologie, der Differentiellen Psychologie und sehr stark der Sozialpsychologie (-• Sozialpsychologische Theorien) zurück. Die medienpsychologische Forschung umfasst drei Ebenen: (1) Die Wirkung auf den/die Rezipient/in, (2) die Motive der Mediennutzung und (3) die Rezeption medial vermittelter Informationen. Auf der letzten Ebene werden primär Informationsverarbeitungsschemata betrachtet wie z. B. das kognitive Schema, bei dem davon ausgegangen wird, dass medial vermittelte Informationen an kognitive Voraussetzungen des/der Rezipient/in anknüpfen. Die drei Ebenen bedingen sich mit wechselseitigen Beziehungen. Ein zentrales Motiv der Mediennutzung ist die Suche nach sozialen Vergleichsinformationen, was auf der klassischen Theorie sozialer Vergleichsprozesse von Leon Festinger aus dem Jahr 1954 beruht. Diese geht davon aus, dass Menschen danach streben, die Gültigkeit ihrer Meinungen über die Welt und ihre Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zu überprüfen. Somit dienen die Medien (Bücher, Fernsehen, Radio, computergestützte Medien, Internet) als Validierung der eigenen Denk-und Verhaltensmuster (-• Soziale Vergleichstheorie). Medien können entweder den Informations- oder den (unterhaltenden) Bildungsangeboten zugeordnet werden. Dies wird begrifflich mit Info- und Edutainment abgegrenzt. Elisabeth Klaus definierte 1996 die beiden Begriffe wie folgt: Beim Infotainment liegt der Schwerpunkt der Medienbotschaft auf der kognitiven Wirkung mit dem Ziel der Unterhaltung und des Informierens des Rezipienten. Beim Edutainment hingegen liegt der Schwerpunkt 293-
der Medienbotschaft auf emotionaler und erregender Wirkung mit dem Ziel der Unterhaltung und Bildung. Untersuchungen von Ursula Dehrn und Elisabeth Klaus zeigten jedoch, dass Rezipient/ innen kaum relevante Unterscheidungen bei den Medienprodukten in Bezug auf die Einteilung in Informations-, Bildungs- oder Unterhaltungsangebote machen. Zudem setzt sich die Medienpsychologie mit Werbewirkungsmodellen und Methoden der Mediennutzung auseinander. Eine Methode ist z. B. das usability testing, bei dem getestet wird, ob und inwieweit Personen mit technischen Produkten umgehen können. Dabei werden die Produkte auf Effizienz, Effektivität und Zufriedenstellung der Benutzer untersucht. Weitere Methoden sind z. B. telemetrische Verfahren, Online-Forschungen oder die Analyse der Blickbewegungen. Die Theorie der Schweigespirale ist eine der Theorien der Medienpsychologie. Sie wurde von Elisabeth Noelle-Neumann (1989) entwickelt. Hierbei verbergen Individuen, die die öffentlich herrschende Meinung gegen sich glauben, ihre eigene Meinung, wodurch die öffentlich herrschende Meinung bzw. das, was als solche empfunden wird, immer stärker wird. Auch medial präsentierte Informationen werden häufig als Mehrheitsmeinung wahrgenommen, so dass es, bedingt durch die Informationsselektion der Medien, zu einer indirekten Beeinflussung der Meinungsbildung kommt (-•Beeinflussungstheorien). Empirischer Ursprung der Schweigespirale war die Bundestagswahl 1965. In diesem Kontext steht ebenso der Third-Person-Effekt, der erstmals 1983 von W. Phillips Davison beschrieben wurde. In Versuchen konnte Davison nachweisen, dass Menschen den Einfluss der Medien auf ihre persönlichen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen fiir kleiner halten als den Einfluss auf die Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen anderer Personen. Der Third-Person-Effekt ist die Konsequenz abwärtsgerichteter sozialer Vergleiche. Die im Folgenden aufgeführten Theorien und Hypothesen stammen nicht direkt aus der Medienpsychologie, werden aber zur Erklärung medienpsychologischer Effekte in Betracht gezogen, wie z.B. die Agenda-Setting-Hypothese. Maxwell McCombs und Donald Shaw untersuchten den Präsidentschaftswahlkampf 1968 in Bezug auf die Annahme, dass die Rangordnung der Berichter294-
stattung mit der Rangordnung der Themen in der Bevölkerung übereinstimmt. Die Ergebnisse zeigten, dass die Medien- und die Publikumsagenda stark miteinander korrelierten. Unter der Agenda-Setting-Hypothese versteht man, dass die Medien nicht bewirken, wie, sondern worüber die Rezipienten nachdenken. Im Bereich der Mediennutzung, insbesondere der Fernsehnutzung, gilt der User-and-Gratification-Ansatz als eine bekannte Theorie. Dieser versucht Entscheidungen der Mediennutzer für bestimmte Angebote zu klären, so dass die Entscheidung für die erneute Nutzung des Mediums erleichtert wird. Dolf Zillmann und Jennings Bryant verwiesen 1985 zudem auf den Selective-Exposure-Ansatz, der besagt, dass Personen sich meistens ihrer Bedürfnisse nicht bewusst sind und sich folglich an Programme durch channel surfing herantasten. Ein weiteres Forschungsfeld befasst sich mit Nachrichten in den Medien. Durch die Nachrichten soll mit Hilfe der Medieninformationen jeder Mensch in der Lage sein, seine Interessenlage zu erkennen, die demokratische Verfassungsordnung zu begreifen und ökonomische, ökologische, soziale und politische Zusammenhänge zu verstehen. Allerdings kann ein Mensch nicht alle Nachrichten aufnehmen. Aufgrund dessen prägte 1922 Walter Lippmann den Begriff Gatekeeper. Gatekeeper sind Einflussfaktoren, die bei einem Entscheidungsfindungsprozess eine wichtige Position einnehmen, z. B. Journalisten.
Rezeption Gegenwärtige Forschungsfelder beziehen sich größtenteils auf die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, also zum Beispiel die Fernsehwirkung auf die schulischen Leistungen. Zudem wurden weitere Hypothesen aufgestellt und erforscht, wie z.B. die Hypothese der Wissenskluft. Diese Hypothese wurde erstmals 1970 von Phillip Tichenor et al. beschrieben und im Laufe der Zeit von weiteren Autoren modifiziert. Sie besagt, dass die Effektivität, die Effizienz und das Ziel der Mediennutzung vom sozioökonomischen Status der Konsumenten beeinflusst wird. Dadurch entsteht eine zunehmende Wissenskluft zwischen Menschen mit einem höheren und solchen mit einem niedrigeren Bildungsgrad bei gleichem Informationsangebot. Die Bedeutung der Medienpsy295-
chologie nimmt, bedingt durch die steigende Nutzung verschiedener Medien, ständig zu. Allerdings sind noch weitere Schritte wie eigenständige Theoriebildlung, spezifische Methodenanwendung und stärkere Abgrenzung von anderen Teildisziplinen nötig, damit die Medienpsychologie als ein gleichberechtigtes Anwendungsfach der Psychologie, wie etwa die Sozialpsychologie, angesehen wird. Literatur Noelle-Neumann, E. (1989). Die Theorie der Schweigespirale als Instrument der Medienwirkungsforschung. Kölner Zeitschriftfür Soziologie und Sozialpsychologie, 30, 418-440. Scholz, C. (2006). Handbuch Medienmanagement. Berlin: Springer. Winterhoff-Spurk, P. (1999). Medienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
Weiterführend Bente, G., Mangold, R. & Vorderer, P. (2004). Lehrbuch der Medienpsychologie. Göttingen: Hogrefe. Petia Genkova
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MENSCHENBILDER DER PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Menschenbilder sind nicht beweisbare Modell- bzw. Glaubensannahmen (basic beließ). Sie bilden sich unter bestimmten kulturhistorischen Voraussetzungen aus menschlichen Erfahrungen und spielen im Alltagsleben der Menschen (-• Subjektive Theorien) sowie bei der psychologischen Theoriebildung eine wichtige Rolle. Zur Explikation der in wissenschaftlichen Theorien der Psychologie meistens stillschweigend implizierten Menschenbilder haben u.a. folgende Wissenschaftler/innen beigetragen: Erich Fromm, Morus Markard, Uwe Kirschenmann, Robert Hutterer, Eva Jaeggi und Jürgen Kriz. Theorien Im Folgenden kann nur kurz auf einige relevante Menschenbilder in fünf Bereichen der Psychologie hingewiesen werden. Allgemeine Psychologie: Gustav Theodor Fechner (1801-1887) nahm in seinem i860 erschienenen Werk Elemente der Psychophysik einefiinktionelleBeziehung zwischen Physis und Psyche an (-•LeibSeele-Problem). Wilhelm Wundts (1832-1920) psychophysischer Parallelismus bahnte den Weg fiir die Untersuchung ausschließlich psychologischer Funktionen. In den Augen von John Broadus Watson (1878-1958), der den Pragmatismus eines William James (1842-1910) und eines John Dewey (1859-1952) von gesellschaftlichen Inhalten reinigte, war der Behaviorismus der einzig konsequente Funktionalismus. Paradebeispiel des junktionalistischen Menschenbildes, das auf den Homme machine des klassischen Rationalismus zurückweist, ist das Konzept der Konditionierung: Unter Ausschaltung des reflektierenden Subjekts wird die Psychologie, »vom Standpunkt des >behavior shapersocial engineer«< aus betrachtet und zu einer entsprechenden Technologie umformuliert (vgl. Bruder, 2014, S.19). - Auch nach der Kognitiven Wende blieb Erkenntnisinteresse und Ziel der zumeist auf einfache Wenn-DannBeziehungen ausgerichteten Allgemeinen Psychologie die mental 297-
und emotional angepasste, keine Probleme verursachende Person, derfiinktionierendeMensch. Differentielle Psychologie: Francis Galton (1822-1911), ein Sozialdarwinist und Förderer der Eugenik, untersuchte die von ihm primär biologistisch verstandenen Individuen isoliert voneinander und setzte sie nachträglich im Hinblick auf bestimmte Merkmale in ein Verhältnis. Somit wurden die Personen als Kennwertträger/ innen vergleichbar gemacht und - zunächst fiktional - in eine Wettbewerbsstellung gebracht. Galton wandte als erster Psychologe die Statistik auf die Persönlichkeitsforschung an. Seitdem kommt ihr hinsichtlich der Erfassung psychischer Realität Modellcharakter zu. Zu den am häufigsten verwendeten Modellen gehört die Normalverteilung, die eine verdatete Gesellschaft (re-)generiert. Es entsteht das Bild der normierten Person, des Norm-Menschen - der Mensch als Homo statisticus. Mit ihm stellt sich die Frage, wo im Verteilungsbereich der mittlere Bereich bzw. das Normalspektrum aufhört und wo der Bereich der Anormalität beginnt. »Wo liegen die Normälitätsgrenzen, die Inklusion und Exklusion regeln?« (Link, 2014, S.184). Biologische Psychologie: Viele akademische Psychologen verstehen sich heute ausschließlich als Naturwissenschaftler. In diesem Sinne wird die Hirnaktivität als >Begründungsinstanz< psychischer Aktivitäten betrachtet. Der Homo neurobiologies ist indes kein richtiger Mensch, jedenfalls keine vollwertige Person, die sich als solche mit ihrer Umwelt - mithin >sinnvoll< - auseinandersetzen könnte. Nach Arnold Gehlen (1904-1976) sind Menschen >sinnesarme< Mängelwesen, die auf stabile Institutionen sowie auf kulturell und gesellschaftlich vermittelte Hilfimittel angewiesen sind. So nutzt er technische Errungenschaften zur Organentlastung, -Verstärkung und als Organersatz; ein Sachverhalt, der auch in Anbetracht des Gehirns respektive bezüglich dessen immer gegenstandsbezogenen neuronalen Aktivitäten mit zu berücksichtigen wäre (-• Aktionstheorie des Gehirns). Sozialpsychologie: Schon Aristoteles (384-322 v. Chr.) fasste in der Nikomachischen Ethik den Menschen als Gemeinschaftswesen auf, das sozial zu handeln vermag und in der Lage ist, bestimmte Ziele zu verfolgen. Der griechische Philosoph charakterisierte den Menschen als Lebewesen in der Polisgemeinschaft. Der Mensch ist fur ihn ein Zoon politikön: ein geselliges Tier, das sich gegebenenfalls 298-
in dieser Gesellschaft auch vereinzeln kann. Aristoteles' Menschenbild liegt den modernen sozialpsychologischen Gruppentheorien zugrunde, die von streitbaren, teilweise stark interessengebundenen, teilweise auch altruistisch ausgerichteten, letztlich aber doch friedlichen Menschen ausgehen, die sich wechselseitig imitieren {Homo imitans) und gelegentlich auch provozieren {Homo provocans). - Einigen Psychologen zufolge gibt es indes gute Gründe, die Rousseausche These vom friedfertigen Menschen aufzugeben, um sich der Auffassung von Thomas Hobbes (1588-1679) anzuschließen, dass zu Beginn der menschlichen Entwicklung die Gewalt aller gegen alle vorherrschend gewesen sei, was schließlich zu einer staatlichen Gewaltmonopolisierung gefuhrt habe. In den Gewalttheorien der Psychologie wird ein Homo bellicus vorausgesetzt, der nicht nur kurzfristig destruktive, sondern angeblich langfristig auch produktive Ziele verfolge. - Demgegenüber beinhalten die sozialpsychologischen Austauschtheorien das Menschenbild des Homo oeconomicus. Dieses Modell beschreibt nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkende, entscheidende und rational handelnde Menschen. Die Orientierung am Kosten-Nutzen-Kalkül setzt rationales Denken und Verhalten voraus, das permanent von der Sinnlichkeit abstrahiert. Das Streben nach Nutzenmaximierung ist handlungsbestimmend für Konsumenten und Produzenten in materiellen sowie in ideellen und zwischenemenschlichen Bereichen (-»•Austauschtheorie). Humanistische Psychologie: Wegleitend sind der auf Friedrich Schiller (1759-1805) zurückgehende Homo ludens, der spielerische, schöpferische sowie ästhetische Mensch, und der Homo faber, der mit Hilfe technologischer Mittel die Natur kultiviert. Nach den optimistischen humanistischen Vorstellungen der Menschen befinden sich dieselben in einem andauernden Prozess der Veränderung und besitzen die Fähigkeit, sich selbst zu verwirklichen, die Verantwortung für ihre Ideen, Gefühle und Handlungen zu übernehmen und die in ihrem Leben auftretenden Probleme selbst zu lösen. Charlotte Bühler (1893-1974) wies in ihren Werken auf das produktive Potential im Menschen hin. Zumindest unter günstigen Voraussetzungen können Personen sich in der Arbeit ausdrücken und ihre individuellen physischen und geistigen Kräfte realisieren. Die Arbeit ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern sie ist zugleich Selbstzweck; der Ausdruck der eigenen Energie, mit der ein 299-
Produkt hergestellt wird, was zugleich emotional befriedigend sein kann (-•Organisationspsychologische Theorien).
Rezeption
Nach Haefner (1999) ist der Homo sapiens nicht mehr bloß ein Vernunftmensch wie im französischen Rationalismus, in der deutschen Aufklärung und auch noch in der frühen Kognitiven Psychologie, sondern inzwischen ein Homo sapiens informaticus - komplementieren sich doch menschliches Denken und technisch bestimmte Informationsverarbeitung immer mehr. »Betrachtet man die breite Fülle von realen soziotechnischen Infrastrukturen - an deren erstem Anfang wir ja erst stehen - , so wird deutlich, wo die Reise hingeht: Homo sapiens verabschiedet sich, Homo sapiens informaticus - tie verflochten in soziotechnischen Megastrukturen - übernimmt das ungewisse Schicksal der Menschen« (ebd., S.128; Hervorhebungen i. Orig.). Trotz des oftmals erhobenen Anspruchs auf universelle Geltung gehen Menschenbilder immer aus einem bestimmten geschichtlichen Kontext hervor und sind daher historisch kontingent. Der Prozess ihrer Veränderung verweist auf den Wandel des menschlichen Selbstverständnisses und spiegelt gesamtgesellschaftliche Veränderungen wider. Die in Wissenschaft und Alltag oft wie selbstverständlich zum Zuge kommenden Menschenbilder gilt es zu explizieren und zu reflektieren, werden doch mit ihnen mitunter bestehende Herrschaftsverhältnisse legitimiert, Teile der Gesellschaft ausgegrenzt und Fremde oder Feinde als defizitäre Menschen stigmatisiert (-•Soziale Kategorisierung und Diskriminierung).
Literatur
Bruder, K.-J. (2014). Gedanken zu Watsons (behavioristischem) Manifest - revisited. In: W. Mack, H. E. Lück, K.-H. Renner & U. Wolfradt (Hrsg.), Behaviorismus und Erkenntnistheorie im psychologisch-historischen Kontext (S. 11-25). Frankfurt/M.: Lang Link, J. (2014). Soziologie ist Psychologie und umgekehrt? Norma300-
listische Subjektbildung in der Krise. In E. Meyerhof, T. Bernges, M. Block, N. Niehoff & C. Schultz (Hrsg.), Menschenbilder in der Psychologie. Erfahrungen und Inhalte eines selbstorganisierten Seminars (S. 183-193). Hamburg: Argument. Haefner, K. (1999). Homo sapiens informaticus - Endlich befreit von der Bürde der Aufklärung? In R. Oerter (Hrsg.), Menschenbilder in der modernen Gesellschaft (S. 116-130). Stuttgart: Enke.
Weiterführend Galliker, M. (2012). Emotion und Motivation: Diskurse, Menschenbilder, Lebenshilfe. Stuttgart: Kröner. Mark Galliker
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MODELL DER EXTENSION
Wichtige Vertreter/innen Frey und Schulz-Hardt (1999) stellten ein Modell vor, das ein bei Individuen wie bei Kleingruppen und größeren sozialen Verbänden gleichermaßen zu beobachtendes Phänomen beschreibt: das Bestreben, den eigenen Einflussbereich auszuweiten, wenn immer es möglich ist - oftmals auf Kosten anderer Individuen, Gruppen und/oder sozialer Verbände. Dieses Modell basiert einerseits auf der Theorie der kognizierten Kontrolle, andererseits auf sogenannten organismischen Theorien. Die Ursachen des Extensionsbestrebens bestehen darin, dass die Ausdehnung von Macht und Kontrolle einen höheren Grad an Bedürfnisbefriedigung ermöglicht und präventiv flir mögliche Verluste im eigenen Macht- und Kontrollpotential ist (-•Sozialpsychologische Theorien).
Theorie
Die Grundannahme des Modells besteht darin, dass soziale Systeme eine ständige Neigung besitzen, ihren Macht- und Koritrollbereich auszuweiten; dies wird durch den Begriff Extensionsmotiv gekennzeichnet. Träger dieses Motivs sind die Akteure des betreffenden sozialen Systems (-•Motivationstheorien). Damit man also von einem Motiv auf Systemebene sprechen kann, muss es unter den entscheidungsrelevanten Akteuren sozial geteilt sein. Folgende Randbedingungen entscheiden über eine Aktualisierung des Extensionsmotivs: (1) Wahrgenommener Nutzen bzw. Attraktivität des Ausdehnung objektes: Hierunter ist das wahrgenommene Ausmaß der möglichen Macht- bzw. Kontrollerweiterung zu verstehen, das der soziale Agent dem potentiellen Ausdehnungsziel bei Durchführung einer Ausdehnung zuschreibt. (2) Erwartung ausbleibender Vergeltungsmaßnahmen: In der Re alität existiert kaum ein Vakuum, in das hinein Extension unproblematisch möglich wäre, das heißt, die Ausdehnung eines Systems 302-
geht zulasten eines oder mehrerer anderer. Je höher die Erwartung ausbleibender Vergeltungsmaßnahmen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, sich auszudehnen. (3) Antizipierte Bedrohung durch Kontrolleinengung bzw. Kontrollverlust: Die Befürchtung, der eigene Macht- und Kontrollbereich könne eingeschränkt werden oder gar völlig verlorengehen, fördert die Aktualisierung des Extensionsmotivs. Kontrolleinbußen müssen defacto noch nicht stattgefunden haben, um auf das Extensionsmotiv zu wirken; die Antizipation solcher Einbußen genügt zu diesem Zweck. (4) Wahrgenommene teilweise oder vollständige Anonymität: Je stärker ein sozialer Agent Macht und Kontrolle ausdehnt, desto mehr Macht und Kontrolle gehen zumindest einem anderen sozialen Agenten verloren. Friedliche Koexistenz von Individuen, von Gruppen und von größeren sozialen Systemen wäre indessen nicht möglich, wenn nicht moralische Schranken bei jedem Handelnden eine gewisse Achtung bzw. Respekt fiir den Kontrollbereich der anderen bewirken würden. Diese Schranken sind unter Anonymität herabgesetzt oder sogar gänzlich ausgeschaltet. (5) Wahrgenommene Rechtfertigung: An erster Stelle ist die Rechtfertigung fur das Handlungsziel zu nennen. Diese Rechtfertigung bedeutet fiir den Handelnden, dass er sich ein Anrecht auf das Ausdehnungsobjekt zuschreibt; dieses kann unterschiedliche Ursprünge haben. Je stärker dieser Anspruch wahrgenommen wird, desto stärker wird das Extensionsmotiv in Richtung auf das Objekt aktualisiert. Von der Rechtfertigung fur das Handlungsziel ist die Rechtfertigung für die Vorgehensweise zu unterscheiden. Das soziale System mag das Ziel seines Extensionswunsches als gerechtfertigt ansehen (z. B. mag eine Regierung glauben, dass die Menschen in ihrem Nachbarstaat unterdrückt werden und daher befreit werden sollten), jedoch fiir die einzig mögliche Handlungsumsetzung (gewaltsame Besetzung) keine Rechtfertigung erkennen. Unter diesen Umständen unterbleibt eine Realisierung des Extensionsmotivs. Je eher es nun Gründe gibt, die das spezifische Verfahren auch rechtfertigen (zum Beispiel Gewaltanwendung aufgrund chaotischer Zustände), umso wahrscheinlicher ist die Umsetzung des Extensionsmotivs (-* Handlungskontrolltheorie). Nach Ansicht der Autoren lässt sich das Modell der Extension auf eine Vielzahl heterogener Phänomene des Ausdehnungsverhal303-
tens auf der Individual- wie auf der Makroebene anwenden, indem vorhergesagt werden kann, unter welchen Bedingungen Ausdehnung stattfindet und wie sie gegebenenfalls zu verhindern ist. Allerdings ist das Modell gegenwärtig vor allem als Diskussionsgrundlage und Anregung fiir die Forschung zu verstehen; systematische empirische Testungen in Experimenten oder Feldstudien haben noch nicht stattgefunden. Rezeption Für das Modell der Extension lassen sich viele Beispiele aus Geschichte und Politik, Religion und Wirtschaft, aber auch im Individual- und Gruppenbereich anfuhren. Zahlreiche Aspekte der Geschichte der Menschheit können als Demonstration des Extensionsmotivs gelten, so zum Beispiel die Entstehung und Ausweitung, aber auch der Zusammenbruch von Weltreichen (Kennedy, 1987). Sowohl Staaten wie Gruppen und oft auch Weltreligionen dehnen sich auf Kosten anderer aus, wo immer es möglich ist; ebenso global agierende kommerzielle Organisationen, die jedes Vakuum im Wettbewerb ausnutzen, um sich auszudehnen. Aber auch auf der Individualebene zeigt sich - insbesondere bei Personen, die von hohem Dominanz- und Machtmotiv geprägt sind - eine Tendenz des Bemühens und fortwährenden Strebens, die eigene Einflusssphäre auszuweiten, wenn immer dies möglich ist (vgl. Keltner, Gruenfeld & Anderson, 2003). Literatur Frey, D. & Schulz-Hardt, S. (1999). Extension: Ein Modell zur Erklärung und Vorhersage der Ausdehnungsbestrebungen von Individuen, Gruppen und größeren sozialen Systemen. In W. Hacker & M. Rinck (Hrsg.), Bericht über den 41. Kongreß der Deutschen Gesellschaft fiir Psychologie in Dresden: »Zukunft gestalten« (S. 216-228). Lengerich: Pabst. Kennedy, P. (1987). Aufstieg und Fall der großen Mächte. Frankfurt/M.: S. Fischer. 304-
Weiterführend Magee, J. C., Gruenfeld, D. H., Keltner, D. J. & Galinsky, A. D. (2005). Leadership and the psychology of power. In D. M. Messick & R. M. Kramer (Eds.), The psychology of leadership: New perspectives on research (pp. 275-293). Mahwah, NJ: Erlbaum. Dieter Frey und Stefan Schulz-Hardt
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MORPHOLOGISCHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen
Auf der Suche nach einem gegenstandsangemessenen Konzept des Seelischen kam Wilhelm Salber 1958 in seiner Habilitationsschrift Der psychische Gegenstand nach Durcharbeitung der wichtigsten Schriften der zeitgenössischen Psychologie wie auch des kompletten Archivs der Psychologie mit über 100 Bänden zu dem Entschluss, einen eigenen Neuanfang zu wagen. Seinem der anthropologischen und verstehenspsychologischen Tradition verpflichteten wissenschaftlichen Lehrer Erich Rothacker folgend und in Übereinstimmung mit dem von der Ganzheits- und Gestaltpsychologie geprägten Friedrich Sander in Bonn (-• Ganzheitstheorie) entschied sich Salber fiir Johann Wolfgang Goethes Wissenschaftsverständnis als Bezugsrahmen, um psychologische Erfahrung unmittelbar aus der Eigenart ihres Gegenstandes zu gewinnen. Eine von Goethe ausgehende Morphologische Psychologie sucht ihr Konzept des Psychischen - als Formenbildung in »Gestaltung/ Umgestaltung« (Goethe) - direkt aus dem Sinnzusammenhang des Seelischen abzuleiten (Gegenstandsbildung). Was in Azv Morphologie des seelischen Geschehens aus dem Jahr 1965 als Modell fiir seeli sche Abläufe generiert war, erweiterte Salber während der mehr als drei Jahrzehnte seiner Tätigkeit an der Universität Köln (1961-1993) zu einer Morphologie von überdauernden Wirkungseinheiten, von individuellen Lebensgestalten, von Kultivierungsverhältnissen des Alltags und der Menschheitsgeschichte im Ganzen. Seine Schüler/ innen (Dirk Blothner, Herbert Fitzek, Stephan Grünewald, Andreas Mariovits, Christoph B. Melchers, Gisela Rascher, Daniel Salber, Armin Schulte) haben die Morphologische Psychologie im akademischen Rahmen als Kultur-, Wirtschafts- und Medienpsychologie, in der psychologischen Praxis als qualitative Marktforschung und tiefenpsychologisch fundierte Behandlung fortgesetzt.
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Theorie Die aus dem Erlebenszusammenhang des Seelischen hervorgehenden Kategorien der Morphologischen Psychologie kommen ohne ein gegenständlich gefasstes Wirkungszentrum (Ich, Individuum, Selbst) und dessen Funktionen (Wahrnehmung, Kognition, Motivation) aus und zentrieren das seelische Geschehen um die bereits in Goethes Morphologie identifizierten Produktionsgesetze lebendiger Einheiten: Gestalten in Verhältnissen von Bildung und Umbildung (-•Gestalttheorie). Salbers psychologische Morphologie sichtete die seelischen Erscheinungen nach Gestaltmomenten im sich entwickelnden, organisierenden und verstehenden Ablauf des Erlebens und Verhaltens und fand als Referenzpunkte phänomenologisch, anthropologisch und gestaltpsychologisch orientierte Positionen. In erkennbarer Nähe zu den von der Gestaltpsychologie (-• Gestalttheorie) aufgewiesenen Organisationsgesetzen von Wahrnehmung und Denken identifizierte Salber zunächst immanente, d. h. erlebte Produktions- oder Entwicklungsbedingungen seelischer Abläufe. Alltagstätigkeiten, Spielhandlungen, Werbeanzeigen, Kunstund Filmerleben bedürfen der Einübung, Metamorphose, Historisierung, Organisation und einer von Fall zu Fall einheitlichen Verfassung. Entsprechend der von Goethe gesehenen Entwicklungsdynamik von »Polarität und Steigerung« in allem Lebendigen stellte Salber sie seit seinen Wirkungseinheiten aus dem Jahr 1969 in drei polaren Verhältnissen gegenüber: Aneignung versus Umbildung, Einwirkung versus Anordnung, Ausbreitung versus Ausrüstung. Mit Blick auf die ebenfalls an Goethe orientierten Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Wilhelm Dilthey (-•Geisteswissenschaftliche Psychologie) modifizierte er seine Gestaltenlehre immer deutlicher zur Verwandlungslehre und entwickelte daraus ein psychologisch-empirisches Vorgehen in vier methodischen Versionen: (1) Alle Untersuchungen (zur Alltags-, Medien- und Wirtschaftspsychologie wie zur psychologischen Beratung) dringen von grundlegenden Qualitäten (Gestaltlogik) über (2) Spannungsverhältnisse eines Wirkungsraums (Gestalttransformation) zu (3) gestalthaften Problemkernen (Gestaltkonstruktion) vor, um von hier aus (4) typische, jeweils unvollkommene Lösungsformen {Gestaltparadox) herauszuarbeiten. 307-
Als Königsweg zum Seelischen und Instrument psychologischer Selbsterfahrung dienen der Morphologie Kunstwerke. So zeigen Rezeptionsanalysen von van Goghs berühmt gewordenen »Schuhen« die Qualität des »Mühseligen«, die in einem Wirkungsraum von Gleich und Ungleich auf Chancen und Begrenzungen selbstbeschrittener (Lebens-)Wege aufmerksam macht. Demgegenüber geht es beim Erleben des »Moses« von .Michelangelo um Führungsgestalten, die sich im Wirkungsraum von Durchsetzung (Einwirkung) und Fürsorge (Anordnung) bewegen. Ähnlich kunstvolle Erlebens-»Figurationen« arbeiten morphologische Wirkungsanalysen auch in literarischen oder filmischen Kontexten wie in der tiefenpsychologischen Beratung (analytische Intensivberatung) heraus (-• Neopsychoanalyse). Rezeption
Wegen ihrer von vornherein den zeitgenössischen Tendenzen entgegenlaufenden Sonderstellung (Stichwort: Amerikanisierung der deutschen Universitätspsychologie Ende der 1950er Jahre) und Eigensinnigkeit (Einverleibung verwandter, Ablehnung gegenläufiger Auffassungen) ist die Morphologische Psychologie im akademischen Diskurs lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen worden, obwohl sie unter Auftraggebern, Studierenden und auch in der Öffentlichkeit wegen ihrer phänomengerechten Beschreibungssprache (-•Phänomenologische Psychologie) und ihrer kunstvollen Analytik als praktische Psychologie (z. B. in der Marktforschung) geschätzt ist. Salber ordnete sich erst spät zeitgenössischen Traditionen zu: durch den Kontakt mit Anna Freud, der Diskussion mit Psychoanalytikern (-•Psychoanalyse), durch die Präsenz in der Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen, dem Forum der Gestaltpsychologen, sowie durch die Gründung der Gesellschaft für Kulturpsychologie mit Wilhelm Revers und Hans Werbik (1986) und dem kulturpsychologischen Diskurs.
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Literatur Blothner, D. & Endres, N. (1993). Entschieden psychologisch: Festschriftfür Wilhelm Salber. Bonn: Bouvier. Salber, W. (1965). Morphologie des seelischen Geschehens. Ratingen: Henn. Salber, W. (1969). Wirkungseinheiten. Wuppertal: Henn. Weiterführend
Fitzek, H. (2008). Inhalt und Form seelischer Ausdrucksbildungen als Zugangswege zur seelischen Wirklichkeit: Ein Vergleich von Inhaltsanalyse und Morphologie als Methodenkonzepten der qualitativen Sozialforschung. Lengerich: Pabst. Herbert Fitzek
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MOTIVATIONSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen
Bereits Aristoteles (335-323 v. Chr.) betrachtete das Streben neben der Sinneswahrnehmung und dem Verstand als grundlegendes Vermögen der Seele, und zwar auch zur Handlungssteuerung. Handeln setzt die Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten und den Entschluss zur Realisierung derselben voraus, also ein von Überlegung geleitetes Streben. Es handelt sich hierbei um einen Ansatz, der von Kurt Lewin in seinen 1926 publizierten Untersuchungen zur Handlungs- und Affekttheorie ausgeführt wurde. Lewin ging in seinem Konfliktmodell von einem Kampf anziehender und/oder abstoßender Motive aus. Bei der resultierenden Dominanz eines Motivs wird die Spannung reduziert, so dass die Handlung vollzogen werden kann. Die Handlungsmotivation lässt sich als Beweggrund verstehen, indessen gibt es auch Situationen, in denen Verhaltensweisen unbewusst motiviert werden, worauf vor allem Sigmund Freud hinwies. Theorien
Psychoanalytische Triebtheorie: Nach Freud (1915) ist der Trieb ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem. Bei der »Triebabfuhr« handelt sich um einen »kräftigen Vorgang«, der geeignet ist, Bedürfnisspannungen herabzusetzen. Ziel ist die Aufhebung oder wenigstens Reduktion des Reizzustandes, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, was als lustvoll und befriedigend erlebt wird (Homöostase; siehe unten). Der Trieb selbst kann nie Gegenstand des Bewusstseins werden, sondern ausschließlich die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Um Triebbefriedigung zu erreichen, ist ein geeignetes Objekt nötig. Triebobjekte können Personen, auch die eigene Person, sowie Gegenstände sein. Freud unterschied zwischen Selbsterhaltungstrieb und Sexualtrieb. Beim Sexualtrieb differenzierte er zwischen den frühkindlichen prägenitalen (oralen, analen und phallischen) Trieben und dem genitalen Trieb, in dem die prägenitalen Triebe aufgehoben werden 310-
können. Die Triebenergien sind flexibel und können im Laufe der Entwicklung auf verschiedene Personen ausgebreitet und auch wieder zusammengezogen und umverteilt werden (-• Libidotheorie). Behavioristische Triebtheorie: Im Unterschied zu früheren Behavioristen (wie z. B. John Broadus Watson) untersuchte Clark Hull die zum Organismus gehörenden Rezeptor-Effektor-Verbindungen unter dem Einfluss eines Antriebes (drive). Ein weiteres Konzept seiner in New York 1943 erschienenen Principles of behavior ist die Gewohnheit {habit). Damit sich ein Verhalten tätsächlich zeigt (insbesondere der Lauf einer Ratte im Labyrinth), müssen sowohl angeborener Trieb als auch gelernte Gewohnheit gegeben sein. Das Produkt von aktuellem Trieb und Gewohnheit ergibt die Verhaltenstendenz, von deren Stärke die Triebstärke unterschieden wird. Hull unterscheidet vom allgemeinen Trieb die besonderen Bedürfnisse (z.B. Durst, Hunger, Sexualität), die durch die Länge der Entzugszeiten operationalisiert werden. Nach Hull sind Ratten, deren Bedürfnisse nicht gestillt wurden, aktiver, und bei ihnen vergrößert sich der allgemeine, unspezifische Trieb bzw. dessen »antreibende Wirkung«. Der Trieb energetisiert die der aktuellen Situation angemessene Gewohnheit. Demnach können sich qualitativ verschiedene Bedürfnisse in ihrem Effekt zu einer bestimmten Triebstärke in einem quantitativen Sinne aufsummieren. Im Unterschied zu Lewins Vorstellungen, die die Reduktion der Spannung als Voraussetzung des Verhaltens vorsehen (siehe oben), ist bei Hull die Spannungsreduktion das Ergebnis des Verhaltens (-* Lerntheorien). Humanistische Theorie der Bedürfhisse: Abraham Maslow (1954/ 1977) versuchte eine positive Theorie der Motivation zu entwickeln, indem er das bei behavioristischen sowie psychoanalytischen Ansätzen meistens favorisierte Konzept der Homöostase (Erhaltung und Wiederherstellung des physiologischen Gleichgewichts durch Spannungsausgleich) relativierte. Organismen reduzieren nicht nur Spannungen (im Sinne der Triebreduktionshypothese), sondern suchen bei einem zu geringen Reizstrom aktiv nach Stimuli, um dadurch ein ihnen angemessenes Niveau an Erregung sicherzustellen. Personen suchen vor allem dann Spannung, wenn die primären Bedürfnisse befriedigt sind. Maslow unterschied zwischen physiologischen Bedürfnissen, Sicherheitsbedürfnissen, Bindungsbedürfnissen, Selbstachtungsbedürfnissen und Selbst311-
verwirklichungs- bzw. Wachstumsbedürfnissen, die er in einem Pyramidenmodellhierarchisch anordnete (-•Bedürfnispyramide). Die in der Evolution zuletzt auftretenden und deshalb in der Bedürfnishierarchie oben stehenden Wachstumsbedürfnisse sind weniger überlebensnotwendig und dementsprechend auch weniger dranghaft als die Mangelbedürfnisse, zu denen neben den grundlegenden physiologischen Bedürfnissen auch die darauf aufbauenden Sicherheits-, Bindungs- und Selbstachtungsbedürfnisse gezählt werden. Die Befriedigung der Wachstumsbedürfnisse trägt Maslow zufolge zu einem reichhaltigeren Erleben und zur seelischen und körperlichen Gesundheit bei (-•Humanistische Psychologie). Kulturhistorische Theorie der Bedürfnisse: Wie Alexej Nikolaje witsch Leontjew in seinem 1959 publizierten Werk Probleme der Entwicklung des Psychischen darlegte, vermag ein Bedürfnis eine Tätigkeit zu lenken, wenn es auf einen das Bedürfnis befriedigenden Gegenstand trifft. Das Bedürfnis als rein interne Bedingung ist ein Mangelzustand des Organismus (im Sinne von Freud oder auch Hull), der als solcher noch ausschließlich physiologischer Natur ist. Soweit Gegenstände von Menschenhand hergestellt sind, entstehen bei Personen Bedürfnisse, die bei Tieren noch nicht vorhanden und mit den physiologischen Bedürfnissen nicht mehr oder nur noch entfernt verbunden sind (sogenannte autonome Bedürfnisse). Mit den von Menschen produzierten Gegenständen werden diese spezifisch menschlichen Bedürfnisse produziert, reproduziert und verändert. Das Motiv einer Tätigkeit und ihr Gegenstand sind bei Tieren stets miteinander verschmolzen. In der arbeitsteiligen Gesellschaft der Menschen aber kann eine Teiltätigkeit bzw. eine fiir die Gesamttätigkeit notwendige Handlung ein Ziel haben, das vom Motiv der Gesamttätigkeit abweicht (-•Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit). Kognitive Motivationstheorien: Heinz Heckhausen stellte 1963 beim Tübinger Symposium über Motivation eine Person-UmweltRahmentheorie der Motivation vor. Motivationen basieren auf hochorganisierten kognitiven Systemen von Person-Umwelt-Bezügen, verstanden als komplexe Gefiige von Ansichten, Überzeugungen und Wertungen. In das Reizkonstellation-Reaktions-Gefiige sind Konstrukte einsetzbar, was indes von behavioristischer Seite in Frage gestellt wurde (damals insbesondere von Klaus Foppa). Heckhausen befasste sich u.a. mit der Leistungsmotivation, wor312-
unter er das Bestreben verstand, die eigene Tüchtigkeit in all jenen Tätigkeitsbereichen zu erhöhen oder möglichst hochzuhalten, in denen man einen Gütemaßstab für verbindlich hält und deren Ausfuhrung deshalb gelingen oder misslingen kann. In seinem Selbstbewertungsmodell bezog sich Heckhausen auf das -* Risikowahl-Modell von John Atkinson aus dem Jahr 1957, das postuliert, dass erfolgszuversichtliche Personen sich meistens solchen Aufgaben stellen, die sie herausfordern, aber fiir sie noch lösbar sind, während misserfolgsorientierte Personen entweder fiir sie zu schwierige oder zu leichte Aufgaben wählen, also solche, die sie nicht weiterbringen können. Das von Heckhausen 1972 vorgelegte Modell der Leistungsmotivation ist ein sich selbst stabilisierendes System aus drei Teilprozessen der Selbstbewertung: (1) Kausalsattribution des Ergebnisses: Das Handlungsergebnis wird auf internale Faktoren (z. B. eigene Fähigkeiten) oder externale bzw zeitvariable Faktoren (z. B. mangelnde Anstrengung) zurückgeführt. (2) Vergleich des Ergebnisses mit dem Standard: Das Ergebnis des Verhaltens wird auf der Basis des Anspruchsniveaus betrachtet. (3) Selbstbewertungsaffekt: Die eigene Leistung wird mit Zufriedenheit oder Unzufriedenheit belegt (-»Risiko-Modell der Handlungsphasen). Rezeption In der Nachfolge Heckhausens und anderer Wissenschaftler wurde eine Reihe weiterer kognitiver Motivationstheorien entwickelt, insbesondere solche, in denen die Motivation im Zusammenhang mit Emotionen thematisiert wird oder Emotionen sogar Priorität zukommt (z.B. die Motivational-relationale Emotionstheorie von Richard Lazarus oder die Motivational-attributionale Emotionstheorie von Bernard Weiner). Aus phänomenologischer Sicht sind die Übergänge zwischen Motivation und Emotion relevant. Die Motivation kann zur Emotion (Emotionalisierung) und die Emotion zur Motivation (Motivierung) führen (-•Emotionstheorien).
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Literatur
Freud, S. (1915). Triebe und Triebschicksale. Studienausgabe. Bd. I Frankfurt/M.: S. Fischer. Heckhausen, J. & Heckhausen, H. (2010). Motivation und Handeln. Berlin: Springer. Maslow, A. H. (1954/1977). Motivation und Persönlichkeit. Ölten: Walter. Weiterführend Galliker, M. (2012). Emotion und Motivation. Stuttgart: Kohlhammer. Mark Galliker
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NEOPSYCHOANALYSE
Wichtige Vertreter/innen Als Neopsychoanalytiker werden jene Schüler Sigmund Freuds bezeichnet, die sich von seiner Person und/oder seiner Lehre (-•Psychoanalyse) aufgrund tiefgreifender theoretischer Differenzen abwandten (darunter Karen Horney, Harry Stack Sullivan, Sandor Rado und Erich Fromm). Bei allen Unterschieden haben die meisten von ihnen folgende Schnittstellen gemeinsam: Die Instanzenlehre (Ich, Über-Ich, Es) wird nur teilweise übernommen, das Unbewusste in seiner Bedeutung geschmälert oder verändert, der Ödipuskomplex zumindest in seiner generellen Form in Frage gestellt und die Libidotheorie abgelehnt. Einige Autoren (z.B. Thomas French) verstehen individuelles Fehlverhalten manchmal fast schon in einem behavioristischen Sinne, wobei die dazugehörige »Verhaltensforschung« oft nicht auf Kausalität ausgerichtet, sondern teleologisch verstanden wird. Hinsichtlich der Entwicklung von Personen wird in der Neopsychoanalyse der Umwelt (von der unmittelbaren Umgebung bis hin zur Kultur) mehr Bedeutung beigemessen als instinktiven und anderen biologischen Voraussetzungen des Verhaltens. Theorien Es kann hier nur eine kleine Auswahl der vielfältigen neoanalytischen Theorien vorgestellt werden, wobei die manchmal auch schon zur Neopsychoanalyse gezählte -»• Individualpsychologie Alfred Adlers in einem gesonderten Beitrag dargestellt wird. Aggression-Angst-Abwehr-Ansatz: Nach Horney sind Angstabwehr und Angstüberwindung das Agens menschlichen Handelns. Neurosen sind durch Deformierungen des Verhaltens aufgrund von Angstabwehr konstituierte Charakterstörungen. Von entscheidender Bedeutung ist, in welchen Situationen diese Störung sich anfänglich zeigte und auch in der Gegenwart wieder vorkommt; hingegen nicht, wie sie konstituiert worden ist. Hauptsächliche Quelle der Angst sind abgewehrte feindselige Impulse. Das übertrieben 315-
unterwürfige Verhalten eines Mitarbeiters seinem Vorgesetzten gegenüber ist Angst als Reaktion auf seine gegen ihn gerichtete, unter Umständen nicht bewusste Aggression. Die Situation bietet den Schlüssel zum Verständnis seines Problems, da durch sie die. nicht bewussten Aggressionen, die Angstreaktion und schließlich das unterwürfige Verhalten bewusst werden. In Auseinandersetzung mit der orthodoxen Psychoanalytikerin Helene Deutsch, die den sogenannten Penisneid der Frauen als Ursache neurotischer Störungen im Sinne Freuds verteidigte, gelangte Horney zu dem Schluss, dass es zwischen Mann und Frau in psychologischer Hinsicht keine wesentliche Differenz gibt: Jeder Unterschied sei kulturell geprägt, mithin relativ. Frauen würden am Manne nicht dessen Glied beneiden, sondern die ihm durch Kultur und Gesellschaft gebotenen (besseren) Eingliederungsmöglichkeiten in die Gesellschaft mit all ihren sozialen, beruflichen und politischen Möglichkeiten. Perception- und Affekt-Ansatz: Der u. a. auch von den —• Existentialistischen und daseinsanalytischen Ansätzen beeinflusste Ernest G. Schachtel betrachtete die Grundstruktur menschlichen Daseins im Konflikt zwischen der Einbettung der Person in ihre Umgebung und der Ausschöpfung ihrer Ressourcen bzw. der Realisierung ihrer Potenzen. Der Autor unterschied zwischen zwei Wahrnehmungen: (i) Autozentrische Wahrnehmung: Diese ist subjektbezogen; sie hat den eher passiven Charakter des Empfindens. Dominiert diese Wahrnehmung, werden Fremdwahrnehmung und das Einfühlen in andere Personen behindert. Mittels Phantasien wird eine intrauterine Existenz fortgesetzt respektive wieder herbeigeführt, so dass die Welt schließlich nur noch unter dem Aspekt des unmittelbaren Nutzens und der diesbezüglichen Angst gesehen wird. (2) Albzentrische Wahrnehmung: Sie ist gegenstandsbezogen, führt zur Objektivierung und hat mehr Erkenntnischarakter als die autozentrische Wahrnehmung. Sie transzendiert die Welt des Gewohnten und Zweckmäßigen und vermag so zur Wirklichkeit und Gegenständlichkeit vorzudringen. Affektiv führt sie zu Aktivität und zur Umgestaltung der Umwelt im Sinne der Selbstverwirklichung. Selbst-System-Ansatz: Nach Jane Pearce und Saul Newton ist hinsichtlich der menschlichen Entwicklung die Ich-Psychologie wesentlich, insbesondere in ihrem Verhältnis von Selbst-System und Selbstbild. Das Selbst-System (self-system) konstituiert sich durch die Totalität aller persönlichen Erfahrungen. Nach die316-
sem Ansatz, der vergleichbar mit dem Humanistischen Ansatz ist (-•Personzentrierte Persönlichkeitstheorie), werden einerseits vom System jene Erfahrungen ausgeschlossen, die es in Frage stellen; andererseits werden konforme Erfahrungen eingeschlossen und logisch geordnet, wodurch tendenziell Täuschungen über die Welt und die Person reproduziert werden. Innerhalb des Selbst-Systems können sich widersprüchliche Tendenzen herausbilden, die sich in Spannungen manifestieren, z. B. wenn sich Sicherungsbedürfnisse gegen unbefriedigte Wünsche stellen. Von zentraler Bedeutung fiir das Selbst-System ist die Selbst- und Fremdachtung. Ein zu starkes Sicherungsbedürfnis kann der Konsolidierung des Selbst-Systems abträglich sein. Im Extremfall können alle anderen Faktoren der Entwicklung verkümmern. Eine wachsende Persönlichkeit versucht in ihrer Entwicklung sämtliche Erfahrungen, bewusste wie unbewusste, zu integrieren. »Die integrale Person wählt aus, sie zwingt zur Entwicklung, wo Entwicklung, weil blockiert, am dringendsten nötig ist« (Pearce & Newton, 1963, S. 21). Ansatz der zwischenmenschlichen Beziehungen: Sullivan betrachtete psychisches Geschehen grundsätzlich als individuellen Ausdruck des zwischenmenschlichen Geschehens, worunter er den gesamten Bereich kultureller und sozialer Maßstäbe in ihrem Einfluss auf die einzelne Person verstand. Die Person sucht primär ihre körperlichen Bedürfnisse (u.a. Hunger, Durst) und ihr Streben nach Sicherheit zu befriedigen (-• Bedürfnispyramide). Im Verlauf der Kindheit kommt indes zu diesen primären Bestimmungen das sogenannte Machtstreben hinzu. Im Unterschied zur Annahme Alfred Adlers wird es als sekundär verstanden und dient in erster Linie der Sicherstellung der primären Bedürfnisse. Triebbefriedigung und Sicherheitsstreben sind gewöhnlich eng miteinander verbunden und werden als integrierende Kräfte betrachtet, die als solche wiederum die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern. Kulturell-gesellschaftlicher Ansatz: Abraham Kardiner führte eine Reihe von Forschungsarbeiten über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie über das Verhältnis von Minoritäten innerhalb einer Gemeinschaft durch. Von Freud übernahm er nur das Unbewusste, das er als überwiegend irrational verstand. Seiner Meinung nach wird es durch kulturelle Einflüsse entsprechend geprägt. Als gesellschaftliches Unbewusstes äußert es sich in einer Vielzahl sogenannter projektiver Systeme, die u. a. auch die Ideale 317-
und Gewissensbisse des Einzelnen zum Ausdruck bringen (->Akkulturations- und Migrationstheorien). Rezeption Die Tendenz der neopsychoanalytischen Schulen, sich von den frühkindlichen Konflikten abzuwenden und sich in der Therapie und auch in der Forschung mehr den aktuellen Konflikten (mit Vorgesetzten, Eltern, Partnern etc.) und gesellschaftlichen Zusammenhängen zuzuwenden, trug den neoanalytischen Schulen von Seiten der orthodoxen Psychoanalytiker die Kritik des Konformismus ein. Mit dem weitgehenden Verzicht auf freies Assoziieren, Traumdeutung und Widerstandsanalyse falle die Konfrontation der Patienten mit ihren geheimsten Wünschen und den entsprechenden Abwehrmechanismen weg, was bedeute, dass sie höchstens zu einer begrenzten, eher intellektuellen Selbsterkenntnis gelangen könnten, welche ihnen allenfalls erlaube, sich in momentanen konflikthaften Situationen einigermaßen einzurichten und sich anzupassen. Literatur
Kardiner, A. (1939). The individual and his society. New York, NY: Columbia University Press. Pearce, J. & Newton, S. (1963). The conditions of human growth. New York, NY: Citadel. Schachtel, E. G. (1963). Metamorphosis: On the development of affec perception, attention and memory. London, UK: Routledge. Weiterfuhrend Ermann, M. (2012). Psychoanalyse in den fahren nach Freud. Stuttgart: Kohlhammer. Mark Galliker 318-
NEUROPSYCHOLOGISCHE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Die Neuropsychologic ist eine wissenschaftliche Unterdisziplin der Psychologie, die sich mit der Beziehung zwischen Gehirnfunktionen und dem menschlichen Verhalten und Erleben beschäftigt. In der historischen Entwicklung der Neuropsychologic, der experimentellen und theoretischen Hirnforschung, spielten zwei Annahmen ein zentrale Rolle: Die Gehirnhypothese, die postulierte, dass das Gehirn das Verhalten beeinflusst, und die Neuronenhypothese, welche die Nervenzelle und ihre Kommunikation zu anderen Neuronen als Ursache des Verhaltens betont (Kolb & Wishaw, 1996). Das Verhältnis zwischen Körper (Gehirn) und Geist (Erleben und Verhalten), das -*• Leib-Seele-Problem, wird in der Philosophie und den Neurowissenschaften bis heute diskutiert (vgl. u. a. Bennett & Hacker, 2010). Während die Monisten Geist und Körper als identisch ansahen, betonten die Dualisten eine Trennung zwischen beiden, entweder mit einer Wechselwirkung (Interaktionismus) oder als zwei parallele Systeme (Psychophysischer Parallelismus). Wichtige Vertreter der Neuropsychologischen Theorien sind Franz Josef Gall (1758-1828), Paul Broca (1824-1880), Carl Wernicke (1848-1905), Kurt Goldstein (1878-1965), Adhemar Gelb (18871936), Alexander Lurija (1902-1977) und Donald Olding Hebb (1904-1985). Theorien Im Zentrum der Neuropsychologic stehen Theorien, die entweder die einzelnen Gehirnfunktionen und ihre zerebrale Lokalisierung betonen oder eine interaktionistische und systemische Betrachtung der zerebralen Prozesse in ihrer dynamischen Auswirkung auf das menschliche Verhalten oder Erleben in den Vordergrund rücken. Lokalisationstheorie: Die Verbindung zwischen spezifischen Bereichen des Gehirns und psychischen Prozessen hat eine lange Tradition innerhalb der Philosophie (Ventrikellehre bei Aelius Galenus, Bewusstsein und Zirbeldrüse bei Rene Descartes). Mit der 319-
Phrenologie wurden, Anfang des 19. Jahrhunderts durch Franz Joseph Gall, morphologische Merkmale der Schädeloberfläche und Charaktereigenschaften sowie Fähigkeiten eines Menschen miteinander in Beziehung gesetzt. Erst die klinischen Beobachtungen an neurologischen Patienten und die chirurgische Untersuchung von Gehirnen etablierten die Lokalisationstheorie: Paul Broca untersuchte die motorische Aphasie und entwickelte die Idee der Hemisphärendominanz, Carl Wernicke verdeutlichte den Mechanismus der Diskonnektion, der neuronalen Trennung von Spracharealen bei der sensorischen Aphasie. Die Äquipotentialtheorie wurde der Lokalisationstheorie durch Marie-Jean Pierre Flourens (1794-1867) entgegengesetzt, danach wirken alle Gehirnbereiche (besonders die Großhirnhemisphären) gleichberechtigt an den Verhaltensreaktionen mit. Theorie der Hierarchischen Organisation: John Hughlings-Jack son (1835-1911) wandte sich entschieden gegen die Äquipotentialtheorie und etablierte eine neue Sichtweise auf das zentrale Nervensystem, indem er eine hierarchische Organisation auf den drei Ebenen Rückenmark, Hirnstamm und (frontaler) Kortex annahm. Basierend auf der evolutionistischen Idee Herbert Spencers, dass' sich das Gehirn schrittweise entwickelt, postulierte er eine Dissolution, das heißt, Verletzungen auf den höheren Ebenen fuhren zu einer Umkehrung der Evolution: Das Verhalten wird insgesamt primitiver und durch intakte untere Ebenen dominiert. HughlingsJackson fand so zur wichtigen Unterscheidung höherer kortikaler Strukturen bei der Organisation von zweckgerichtetem Verhalten und niederen Strukturen zur Steuerung elementaren Verhaltens. Im Zentrum des Denkens Hughlings-Jacksons stand nicht nur die Lokalisation der Funktionen, sondern das dynamische Zusammenwirken verschiedener Gehirnbereiche bei spezifischen neurologischen Störungen. Ionentheorie und chemische Theorie der synaptischen Übertragu Der elektrophysiologische Charakter der Nervenverbindungen wurde schon früh durch Luigi Galvani (1737-1798) erkannt, der Muskelkontraktionen in Froschschenkeln durch elektrische neuronale Reizung bewirkte. Julius Bernstein (1839-1917) erkannte im Jahre 1886 den Prozess der Polarisation und Depolarisation durch Kaliumionen an Nervenmembranen, bei dem Aktionspotentiale die Impulsübertragung innerhalb der Axone vermitteln. Es war 320-
Charles Sherington (1857-1952), der eingängig die Natur der Reflexe untersuchte und z. B. fand, dass die Reizung der afferenten Nerven eines Einzelmuskels die Kontraktion dieses Muskels herbeiführt, unabhängig von der Kontraktion der antagonistischen Muskeln. Die Ionentheorie erklärte die elektrophysiologische Informationsübermittlung innerhalb einer Zelle. Ganz entscheidend fur die neuronale Kommunikation zwischen Nervenzellen als Grundlage psychischer Prozesse war das Erkennen der synaptischen Übertragung mittels Neurotransmittern. Zwischen den Zellmembranen existiert ein synaptischer Spalt, der Impuls kann nun nur über die Ausschüttung eines Neurotransmitters von einer Zelle zur anderen Zelle gelangen. Gehirn und Gestalttheorie: Kurt Goldstein und Adhemar Gelb (1887-1937) haben während des Ersten Weltkriegs in Frankfurt am Main die Schussverletzungen von Soldaten behandelt und diese psychologisch untersucht. Die Läsionen in spezifischen Gehirnregionen führten zu spezifischen Ausfällen der psychischen Funktionen. Beispielsweise konnten die Patienten bezüglich der visuellen Wahrnehmung weniger gut zwischen einer Figur im Vordergrund und ihrem Hintergrund differenzieren (-•Wahrnehmungstheorien). Die pathologischen Funktionseinschränkungen belebten die -•Gestalttheorie und ihre Prinzipien. In seinem Werk Der Aufiau des Organismus entwickelte Goldstein eine ganzheitliche Betrachtung des menschlichen Organismus. Unter Berücksichtigung der gestalttheoretischen Prinzipien stellte er fest, dass jeder Moment des menschlichen Daseins eine holistische Reaktion des Organismus auf die Welt sei, in der er möglichst prägnante Gestalten geistiger und biologischer Natur zu verwirklichen suche. Zeitgleich suchte Lurija (1973/1996) mit seiner neuropsychologischen Theorie (-•Aktionstheorie des Gehirns) eine Verbindung zwischen der Neurologie und dem -• Kulturhistorischen Ansatz: Hierbei stand die Betonung der parallelen Entwicklung von psychischen und neuronalen Prozessen in der Onto- wie in der Phylogenese innerhalb eines kulturhistorischen Kontextes im Vordergrund. Symbolorientierte Theorie: Der symbolorientierte Ansatz betont die Unabhängigkeit des Denkens mittels der Repräsentation symbolischer Strukturen von den physikalischen Eigenschaften der neuronalen Ebene (-•Leib-Seele-Problem). Dieser fiinktionalistische Ansatz nach Jerry A. Fodor betont drei Merkmale der 321-
Symbolstruktur: Kompositionsrealität (Bedeutung erschließt sich aus den Relationen), Produktivität (Generierung von symbolischer Komplexität) und Systematizität (Abstraktion zu Symbolsystemen). Konnektivistische Theorie: Im Zentrum des Konnektionismus steht die Erforschung und Konstruktion adaptiver informationsverarbeitender Systeme. In Analogie zu den neuronalen Netzwerken des Gehirns entstand durch die Mathematiker Alan Turing (1912-1954) und John von Neumann (1903-1957) die Theorie der Rechenmaschine, die, basierend auf einem algorithmischen Neuronenmodell, fähig ist, Muster zu erkennen. Die Charakteristik konnektionistischer Netzwerke besteht in den Eigenschaften, Informationen durch die gleichzeitige Aktivität von Einheiten {units) parallel zu verarbeiten und Systemziele entsprechend der Stärke der Verbindung und dem Aktivitätsgrad der Knoten neu zu definieren. Dies ist u. a. eine Grundlage fiir die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Rezeption Insbesondere die konnektionistischen Modelle wurden weiterentwickelt. Die zu Anfang noch starke Betonung von Assoziationsmustern bei der Informationsverarbeitung ist einem selbstorganisierten Ansatz gewichen. Im Zentrum stehen nun Kohonen-Netze (nach dem Forscher Teuvo Kohonen), die nach dem Center-Surround-Prinzip funktionieren, einzelne Neuronen (Gewinnerneuronen) sind stärker aktiviert und hemmen entferntere Neuronen. Durch viele dieser Gewinnerneuronen entsteht ein Muster. Durch die Prinzipien Ähnlichkeit, Relevanz und Häufigkeit wird im Kohonen-Netz eine selbstorganisierte Informationsverarbeitung aufgebaut. Literatur
Hecht, H. & Desnizza, W. (2012). Psychologie als empirische Wissen schaft: Essentielle wissenschaftstheoretische und historische Gr lagen. Heidelberg: Springer. 322-
Kolb, B. & Whishaw, I. Q. (1996). Neuropsychologic. (2. Aufl.). Heidelberg: Springer. Lurija, A. R. (1973/1996). Das Gehirn in Aktion. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Weiterführend Bennett, M. R. & Hacker, P. M. S. (Hrsg.). (2010). Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Uwe Wolfradt
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ORGANISATIONSPSYCHOLOGISCHE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Am Anfang der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie (ABO), heute meistens zusammenfassend »Organisationspsychologie« genannt, stand das Programm des amerikanischen Ingenieurs und Betriebswirtschaftlers Frederick Winslow Taylor, das die wissenschaftliche Optimierung von Arbeitsabläufen beinhaltete, um mit geringerem Aufwand eine höhere Produktivität zu erreichen. In der Folge dominierten vorerst Vorstellungen, welche die Lohnarbeiter/innen als Maschinen {komme machine) und als ausschließliche Nutzenmaximierer {homo oeconomicus) ansahen (-•Menschenbilder der Psychologie). Mit der Zeit setzte sich »das Wissen um die Einbindung des Menschen in soziale Bezüge {social man) durch, bis schließlich der Wunsch des Menschen, sich bei der Arbeit selbstzuverwirklichen {seif actualizating man), zum forschungs- und praxisbestimmenden Leitbild wurde« (Rosenstiel, Molt & Rüttinger, 1972/2005, S. 58). Nach dem Selbstverständnis der meisten Organisationspsychologen ist vieles, was im Rahmen des Forschungsprogramms der »Humanisierung des Arbeitslebens« geleistet wurde, »ein auf Details gerichteter Versuch, tayloristische Prinzipien rückgängig zu machen oder doch zu relativieren« (von Rosenstiel, Molt & Rüttinger, 1972/2005, S. 45). Hierzu wurden diverse Programme ausgearbeitet, die manchmal auch praktische Relevanz erlangten (z. B. sogenannte Teilautonome Arbeitsgruppen). Theorien In der Organisationspsychologie wird ein von Menschen geschaffener Kontext, die Organisation, als Bedingung menschlichen Verhaltens thematisiert. Die Theorien und Modelle der Organisationspsychologie wurden weitgehend der Allgemeinen Psychologie (u. a. Lerntheorien) und der Sozialpsychologie (-*• Sozialpsychologische Theorien) entnommen. Behavioristischer Ansatz: Diesem ursprünglichen Ansatz der Organisationspsychologie liegt das Reiz-Reaktions-Modell zugrun324-
de. Das entsprechende Forschungsprogramm beinhaltet die Analyseeinheiten Verhaltensvoraussetzungen, Verhaltensweisen und Verhaltensergebnisse. Bei den extern erkennbaren Ereignissen und Vorgängen sind die Bewegungen von zentraler Bedeutung. Grundbewegungen (u. a. Hinlangen, Greifen, Einfügen) werden ermittelt und in ihrem zeitlichen Verlauf erfasst. Ziel der Studien ist die Bestimmung der Zeitdauer der Arbeitsvorgänge respektive die Zeitreduktion der einzelnen Arbeitsschritte. Handlungstheoretischer Ansatz: Dieser insbesondere von Winfried Hacker formulierte Ansatz orientiert sich u. a. am allgemeinpsychologischen Tätigkeitskonzept (-»Kulturhistorischer Ansatz und insbesondere Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit). Personen streben mit ihren Verhaltensweisen bewusst bestimmte Ziele bzw. Verhaltensergebnisse an. Zentrales Konzept ist die Tätigkeit, eine auch in sozialer Hinsicht zweckgerichtete Verhaltensweise; die sogenannte Handlung ist die kleinste selbständige Einheit der Tätigkeit. Wissensrepräsentationen, psychische Prozesse sowie persönliche Eigenschaften (u. a. Vorlieben, Defizite, Motivlagen) richten die Handlung aus bzw. regulieren sie. Gemäß diesem Konzept der Handlungsregulation (vgl. u. a. auch Handlungskontrolltheorie) werden einzelne Handlungen durch die jeweiligen Ziele voneinander abgegrenzt. Sie bestehen aus unselbständigen Teilhandlungen bzw. Operationen. Diese werden als Abfolge bestimmter Verrichtungen und der in ihnen enthaltenen Bewegungen (siehe oben) verstanden. Die den einzelnen Handlungen übergeordneten Tätigkeiten beruhen auf zwischenmenschlicher Koordination und antizipieren Ziele, die einen überindividuellen sozialen Charakter haben. Aufgabengestaltungsansatz: Beim Job-Characteristic-Modell, dessen Grundlagen Richard Hackman und Edward Lawler im Jahre 1971 entwickelten, wird die Arbeitsgestaltung als Aufgabengestaltung bestimmt. Primär stellen sich Fragen, wie Aufgaben bewertet werden und wie dadurch das Arbeitsverhalten beeinflusst wird. Die mit der Aufgabenbewertung gegebene Motivation, insbesondere die durch die Arbeit selbst bedingte, intrinsische Motivation, hängt von der subjektiven Relevanz der Arbeitstätigkeit, dem Wissen über die aktuellen Arbeitsergebnisse sowie von der erlebten Verantwortung für persönliche Arbeitsergebnisse ab (-+ Subjektive Theorien). Diese drei »kritischen psychologischen Zustände« wer325-
den auf verschiedene Aufgabendimensionen zurückgeführt (u.a. Ganzheitlichkeit der Aufgabe und Anforderungsvielfalt) sowie auf Rückmeldungen zur Aufgabenerfüllung. Austauschtheoretischer Ansatz: Als für die Motivation (-•Motivationstheorien) in Organisationen relevant werden hier Austauschbeziehungen unter den Mitgliedern der Institution oder des Betriebes betrachtet (vgl. u.a. von Rosenstiel, Molt & Rüttinger, 2005, S.272 ff.). Dabei wird zwischen direkten und indirekten Tauschbeziehungen unterschieden. Die direkten beziehen sich auf die Interaktion von Personen, die sich auf der gleichen Ebene in einer Organisation befinden (-•Austauschtheorie). Die Intention der Handlung resultiert aus folgendem Verhältnis: Ich gebe ihr/ihm
Sie/er gibt mir
Ich erhalte von ihr/ihm
Sie/er erhält von mir
Mindestens ebenso relevant für die Motivation in Organisationen ist indes die indirekte Tauschbeziehung. Das Individuum vergleicht hier, was es der Organisation gibt und was es dafür bekommt, mit dem, was andere Individuen der Organisation geben und dafür erhalten. Ansätze des Führungsverhaltens: Es wurden diverse Theorien und Modelle entwickelt, die sich auf die Leitung von Unternehmen und die Führung auf verschiedenen Ebenen beziehen (-• Führungstheorien). Bei den psychologischen Führungstheorien ist eine klare Abgrenzung gegenüber den Managerkonzepten der Betriebswirtschaftslehre nicht immer möglich. Letztere wurden in Anbetracht der Globalisierung des Marktes entwickelt und erzeugten eine Tendenz zur permanenten Entgrenzung mit folgenden Konsequenzen: Verschärfung der Konkurrenz unter den Lohnarbeitern, erhöhter Arbeitsdruck,flexibilisierteArbeitszeiten. Dadurch werden die ursprünglichen »betriebspsychologischen Versprechen« wie beispielsweise Autonomie der Person oder flache Hierarchien oft höchstens noch dem Wortsinn nach erfüllt oder gelegentlich auch offen desavouiert (vgl. u.a. Pickshaus, 2014).
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Rezeption Seit den Zeiten Taylors haben sich die Beschäftigungsverhältnisse verändert; indessen ijicht unbedingt und überall zugunsten der Beschäftigten. Es wurden Programme (z. B. »Atmende Fabrik«) entwickelt, mit denen die Produktion schneller auf Bewegungen der Nachfrage reagieren kann. So sehen sich Organisationspsychologen oft gezwungen, widersprüchliche Anforderungen unter einen Hut zu bringen: Die Motivation der Beschäftigten soll gesteigert und ihre Arbeitszufriedenheit erhöht werden; das subjektive Befinden der Lohnabhängigen verbessert und gleichzeitig die Leistungen forciert und die Produktivität des Betriebes erhöht werden. Im Zuge der Entwicklung der Organisationspsychologie gab es zwar immer wieder humanistisch gesinnte Theoretiker (wie z. B. Abraham Harold Maslow), die forderten, »im Arbeitsinhalt den Arbeitenden eine Chance ihrer Selbstverwirklichung zu geben« (Pickshaus, 2014, S. 49), doch eine Wissenschaft, die systematisch von der objektiven Mehrwertproduktion abstrahiert, wird grundsätzlich Probleme haben, zu einer adäquaten Darstellung der Realität zu gelangen. Forscher/innen verkennen oft nicht nur unvereinbare Aufgabenanforderungen und Interessenlagen (u.a. Auftraggeber vs. Belegschaft), sondern auch die aufscheinenden Diskrepanzen in ihrem Gegenstand. Dies kann bei ihnen sowie bei den untersuchten Personen zu inadäquaten ideellen Verarbeitungen der Situation fuhren (-•Abbild- und Widerspiegelungstheorie). Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung der Arbeitszufriedenheit, bei der verfolgt werden kann, wie objektive Widersprüche subjektiv inkongruent widergespiegelt werden, was auch forschungslogisch zu realisieren ist, um Inkonsistenzen der Darstellung zu vermeiden (Galliker, 1980). Literatur Galliker, M. (1980). Arbeit undBewusstsein. Frankfurt/M.: Campus. Pickshaus, K. (2014). Rücksichtslos gegen Gesundheit und Leben. Hamburg: VSA. Rosenstiel, L. von, Molt, W. & Rüttinger, B. (1972/2005). Organisationspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. 327-
Weiterfuhrend Funke, J. & Frensch, P. A. (2007). Handbuch der Arbeits- und Organisationspsychologie. Göttingen: Hogrefe. Mark Galliker
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PÄDAGOGISCH-PSYCHOLOGISCHE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Die Pädagogische Psychologie bewegt sich in der Schnittmenge der Pädagogik und der Psychologie. Im deutschsprachigen Bereich ist in erster Linie auf die sich auch mit Erziehungsfragen auseinandersetzende klassische Psychoanalyse Sigmund Freuds sowie auf die Individualpsychologie Alfred Adlers hinzuweisen, die insbesondere das Selbstbewusstsein der Heranwachsenden thematisierten. Aus den USA wurden einerseits der behavioristische Ansatz (u. a. John Broadus Watson und Burrhus Frederic Skinner) und der kognitionspsychologische Ansatz (u. a. UlricNeisser und Albert Ellis) und andererseits der humanistisch-psychologische Ansatz (u.a. Abraham Harold Maslow und Carl Ramson Rogers) importiert. Zu den wichtigsten Themenbereichen der Pädagogischen Psychologie gehören die Unterrichtsgestaltung, das selbständige Lernen, die Leistungsbeurteilung, die Lernmotivation sowie die Behebung von Lernschwierigkeiten. Sachliche Überschneidungen bestehen vor allem mit der Lernpsychologie (-•Lerntheorien), der Entwicklungspsychologie (-+ Entwicklungstheorien) und der Sozialpsychologie (-• Sozialpsychologische Theorien). An dieser Stelle können nur wenige Namen von Pädagogischen Psychologinnen und Psychologen erwähnt werden: Hans Aebli, Oliver Diekhausen Wolfgang Schneider, Markus Hasselhorn, Birgit Spinath, Frank Fischer, Manfred Hofer und Gabriele Oettinger. Theorien Im Folgenden werden einige relevante Ansätze der Pädagogischen Psychologie hinsichtlich Theorie und Praxis skizziert (vgl. u. a. Nolting & Paulus, 1992/2004). Tiefenpsychologischer Ansatz: Analytische und tiefenpsychologische Ansätze sehen in Verhaltensstörungen unproduktive Lösungen unbewusster Triebkonflikte oder kurzgeschlossene Wege, um Ansehen und Bedeutung zu erlangen. Die psychoanalytische Arbeit mit Kindern (u.a. Anna Freud, 1927/2006) besteht darin, zu ih329-
nen eine intensive emotionale Beziehung im Sinne einer positiven Übertragung herzustellen (-+ Psychoanalytische Beziehungstheorie) und ihnen zu ermöglichen, ihre inneren Konflikte spielerisch auszudrücken, um auf diese Weise alle daran beteiligten (Be-) Strebungen (Es, Ich, Über-Ich, Realitätsanforderungen) bewusst zu machen, zu nivellieren und dadurch auch gegenseitig zu regulieren. Behavioristischer Ansatz: Für die Pädagogische Psychologie ist der behavioristische Ansatz vor allem deshalb von Interesse, weil er neben dem Lernen in gewisser Weise auch dem Lehren große Bedeutung beimisst. Dabei sind die besonderen Reizkonstellationen und die jeweils vorläufig gegebenen Reaktionsweisen relevant. Manchmal sind schon geringfügige Veränderungen der externen Bedingungen bei Lernproblemen hilfreich (z. B. Veränderung der Sitzordnung im Klassenzimmer). Das Forschungs- und Praxisinteresse besteht darin, störende Verhaltensgewohnheiten zu verlernen bzw. neue Fertigkeiten zu erlernen. Dabei ist relevant, worauf die Rückmeldung abzielt, wie beispielsweise beim systematischen Einsatz positiver Bekräftigungen. Kognitionspsychologischer Ansatz: Dieser Ansatz befasst sich mit der Frage, wie Wissen zur Problembewältigung, über Sachverhalte sowie über das eigene Wissen erworben wird und welche Prozeduren es dabei zu beachten gilt (Know-how). Die Untersuchungen beschränken sich nicht auf experimentell handhabbare Sachverhalte, sondern beziehen sich auch auf teilweise recht komplexe Informationsverarbeitungsprozesse unter möglichst realistischen Ausgangsbedingungen. In den Verhaltensstörungen der Lernenden werden die Konsequenzen verzerrter Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewertungen der sozialen Realität gesehen. Beispiel: »Ich bin nur dann liebenswert, wenn ich ein guter Schüler bin.« Die Lehrkraft richtet ihre Lernunterstützung hier an den subjektiven Lernvoraussetzungen des Schülers aus. Schwächere Schüler fördert sie mehr als die stärkeren, bei denen sie bei der Problemlösung mehr auf die Entwicklung der Selbständigkeit achtet. Einen wesentlichen Einfluss auf die kognitionspsychologisch ausgerichtete Pädagogische Psychologie übte über Hans Aebli der Westschweizer Psychologe Jean Piaget aus (-»Strukturalistische Entwicklungstheorie). Humanistisch-psychologischer Ansatz: In einem stärkeren Ausmaß als beim kognitionspsychologischen Paradigma werden beim von 330-
Tausch und Tausch (1963/1998) in den deutschsprachigen Raum eingeführten humanistisch-psychologischen Verständnis der Entwicklung emotional-motivationale Aspekte der menschlichen Existenz berücksichtigt. Es handelt sich um das Klienten- und spätere Personzentrierte Paradigma, bei dem »Erziehung« allenfalls als Begegnung von Person zu Person verstanden wird und mitmenschliche Haltungen wie Achtung, Wärme, Rücksichtnahme, einfühlendes und nicht wertendes Verstehen sowie Kongruenz ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden. Gestörtes Verhalten wird als Blockierung von Wachstumsprozessen verstanden; seine Auflösung fiihrt auf den Weg zur Selbstverwirklichung (-• Humanistische Psychologie). Konstruktivistisch-pragmatischer Ansatz: Im Zentrum dieses Ansatzes stehen soziale Handlungen, mit denen Wissen (inter)subjektiv konstruiert wird {knowing-in-action). Der Lehrer begleitet die Lernenden bei ihren Selbstbildungsprozessen und kognitiven Konstruktionen (-»Subjektive Theorien). Er betrachtet sich als Teilnehmer eines interaktiven Prozesses und leistet einen Beitrag bei der Reflexion seiner Handlungen. Bei der Bewältigung komplexer Situationen schlägt er Strategien vor, welche die Selbstverantwortung und Lebenspraxis der Lernenden fördern. Dabei kommt dem Feedback zu den Verhaltensweisen der Lernenden besondere Bedeutung zu. Der Lernende kann ihm entnehmen, wie lebensangemessen und alltagstauglich seine Konstruktionen sind (-* Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). Systemisches Paradigma: Die psychischen Phänomene werden in ihrer Vernetztheit und Einbindung in inter- und überindividuelle Zusammenhänge betrachtet. So wird der Schüler als Teil der Schulklasse, der Schule, des Schulsystems und zugleich auch als Teil der Familie gesehen. Lernstörungen und/oder Verhaltensauffalligkeiten (z. B. aggressives Verhalten oder Kontaktstörungen) werden aus ihren sich gegenseitig aufrechterhaltenden und/oder sich aufschaukelnden Voraussetzungen heraus untersucht. Neben den >Teufelskreisen< bei den >schlechten< und/oder >bösen< Schülerinnen und Schülern lassen sich auch die >Engelskreise< der >bravenguten< und >besten< und/oder auch der sozial >angesehensten< verfolgen. Änderungen des Systems werden durch gezielte Interventionen angestrebt (z. B. bei Mobbing in einer Schulklasse Ist-Soll-Vergleiche der Einschätzungen des »Klimas« in der Klasse durch alle Beteiligten, unterstützt durch einen externen Mediator). 331-
Handeln-im-Kontext-Ansatz: Bei diesem Ansatz handelt es sich um eine Kombination des konstruktivistischen Handlungsansatzes und des systemischen Ansatzes. Handeln wird demnach weitgehend vom Kontext bestimmt, allerdings nicht ausschließlich. Eine Person wird in einer konkreten Lebenssituation (mehr oder weniger) aktiv und baut sich lernend ihre Verhaltensmöglichkeiten und Wissensbestände auf. Sie bleibt dabei nicht frei und unvermittelt, sondern bewegt sich im Kontext externer Voraussetzungen (u. a. Kontakte zu Schulkollegen) sowie interner Bedingungen (körperlicher und geistiger Ausgangsbedingungen). Andererseits ist der Lernende den kontextuellen Voraussetzungen auch nie ganz und gar hilflos ausgeliefert. Es bleibt immer ein subjektiver Spielraum, den es möglichst genau zu bestimmen gilt. In diesem Prozess bleibt der Lernende die selbst entscheidende Größe. Im Zentrum dieses Ansatzes steht die Förderung der Handlungskompetenz. Forschungsarbeiten im Sinne des Handeln-im-Kontext-Paradigmas differenzieren primär nach Klassen- bzw. Schichtunterschieden, Herkunft aus Stadt oder Land, Geschlechtsdifferenz, Muttersprache usw. und berücksichtigen so die jeweils besonderen Vorerfahrungen der untersuchten Personen (z. B. ob bestimmte Aufgaben schon im Vorschulalter teilweise bewältigt werden konnten). Im Zuge der Theoretisierung förderlicher Lehr-/Lernkontexte wurde nicht selten auf den -»• Kulturhistorischen Ansatz rekurriert. Rezeption Die Pädagogische Psychologie sieht sich von verschiedenen Seiten der Kritik ausgesetzt. So wird ihr Verhältnis einerseits zur psychologischen Grundlagenforschung und andererseits zur pädagogischen Praxis in Frage gestellt; sie solle beispielsweise einerseits mehr personenzentriert vorgehen und andererseits mehr den gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen. Die Pädagogische Psychologie gibt sich indessen nicht mehr mit der Rolle einer Hilfswissenschaft für die Schulpraxis zufrieden, sondern trägt durch ihre Forschung auch zur weiter gehenden theoretischen und methodologischen Fundierung und thematischen Erweiterung der Psychologie sowie der Pädagogik bei. Sie beschränkt sich nicht mehr auf das Lernen der Kinder und Jugendlichen in den ersten Lebensphasen, sondern 332-
hat ihren Blickwinkel inzwischen auf die gesamte Lebensspanne ausgedehnt (-• Theorie-Praxis-Transfer). Literatur Freud,. A. (1927/2006). Einfiihrungin die Technik der Kinderanalyse. München: Reinhardt. Nolting, H.-P. & Paulus, P. (1992/2004). Pädagogische Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Tausch, R. & Tausch, A. M. (1998). Erziehungspsychologie: Begegnung von Person zu Person (11. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Weiterführend Mienert, M. & Pitcher, S. (2011). Pädagogische Psychologie: Theorie und Praxis des lebenslangen Lernens. Wiesbaden: Springer VS. Mark Galliker
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PERSONZENTRIERTE ENTWICKLUNGSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Personzentrierte (synonym: Klientenzentrierte) Entwicklungstheorie ist zusammen mit der Personzentrierten Persönlichkeitstheorie im Rahmen des psychotherapeutischen Konzepts des amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers (1902-1987) entstanden. Sie'ist keine Allgemeine Entwicklungslehre (-•Entwicklungstheorien), sondern eine Theorie der Entwicklung des Selbstkonzepts, zunächst unter der Bedingung einer bestimmten Beziehung zu einer wichtigen anderen Person und später zu sich selbst (-»-Humanistische Psychologie). Theorie Die Personzentrierte Entwicklungstheorie geht davon aus, dass zur angeborenen Aktualisierungstendenz - der Tendenz des Organismus, sich zu erhalten und zu entfalten - eine Selbstaktualisierungstendenz gehört. Diese bedeutet zum einen, sich Erfahrungen bewusst zu machen, auch das Sich-selbst-Erleben zu symbolisieren und die das Selbst betreffenden Erfahrungen in eine Struktur, das Selbst oder Selbstkonzept, zu integrieren, und zum anderen das Bestreben, dieses zu erhalten und zu verteidigen gegen das Bewusstwerden von Erfahrungen und Erleben, die es in Frage stellen würden. Rogers spricht in diesem Zusammenhang von einer Spaltung der Aktualisierungstendenz. Bei Erfahrungen, die nicht in das Selbstkonzept integriert werden können, besteht Inkongruenz. Der erhaltende Anteil der Aktualisierungstendenz werde dabei darin sichtbar, dass Erfahrungen, die das Selbstkonzept in Frage stellen, nicht oder nur unvollständig symbolisiert, verleugnet oder verzerrt werden, während zum entfaltenden Teil der Selbstaktualisierung das Bewusstwerden von Selbsterfahrung und ihre Integration in das Selbstkonzept und damit seine Weiterentwicklung gehöre. Eine Person, die inkongruent ist, fühle sich auf der Grundlage dieser Spaltung wie bedroht, erlebe meistens irgendeine Form von Angst oder Spannung (vgl. u.a. Rogers, 1977/2004). 334-
Im Personzentrierten Konzept wird seit Rogers auch von einem Bedürfnis nach positiver Beachtung {need for positive regard) gesprochen, das sich zusammen mit dem Selbstkonzept entwickle und mit ihm zusammen erlebbar werde. Auf seiner Grundlage internalisiere das Kind dann, wenn es nicht bedingungsfrei positiv beachtet werde, sondern, je nachdem, was es erlebt, mehr oder weniger positive Beachtung erfahre, sogenannte Bewertungsbedingungen (conditions of worth). Die Person bewerte dann ihre Erfahrungen nicht mehr ihrer Aktualisierungs- und Selbstaktualisierungstendenz entsprechend, sondern so, wie sie von wichtigen Anderen bewertet worden sind, und sei auch bestrebt, Erfahrungen zu machen, die mit positiven Bewertungen einhergehen (vgl. u. a. Rogers, 1959/2009). Biermann-Ratjen (2012) möchte die Annahme eines Bedürfnisses nach positiver Beachtung durch die eines Bedürfnisses nach bedingungsfrei positiver empathischer Beachtung ersetzen und führt mit dem Hinweis auf die und in Analogie zu den von Rogers abstrahierten Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess aus, dass von Beginn der kindlichen Entwicklung an potentiell bewusstseinsfähige Selbst- und Beziehungserfahrungen dann in das Selbstkonzept integriert werden können, wenn sie von einer anderen bedeutsamen Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden, die in der Reaktion auf dieses kindliche Erleben nicht inkongruent wird. Das heißt, alle in der kindlichen Entwicklung in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen sind - so wie die im Verlauf einer Psychotherapie in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen - zusammen mit der Erfahrung gemacht worden, empathisch bedingungsfrei positiv beachtet zu werden. Biermann-Ratjen schlägt dementsprechend die Unterscheidung von drei Phasen der kindlichen Entwicklung vor: (1) In einer ersten Phase geht es darum, dass die Pflegeperson die Mitteilungen des Kindes über seine körperliche und emotionale Verfassung und seine Kontaktwünsche empathisch erfasst und unmittelbar mit angemessenem Verhalten beantwortet und nicht inkongruent dem Kind Bedürfnisse oder Absichten - z.B. sich durchsetzen zu wollen, indem es weint - unterstellt, die es nicht hat. (2) In der zweiten Phase, die zum größten Teil immer noch prä335-
symbolischer Natur ist, werden erste Selbsterfahrungen - Gefiihle, Absichten, Bewertungen - erlebbar und können in das Selbstkonzept integriert werden, wenn sie von den primären Bezugspersonen empathisch unbedingt positiv beachtet werden. Zu diesen ersten Selbsterfahrungen gehören auch die gefühlten Bedrohungen des ersten Selbstkonzepts, z.B. die Empfindungen, wenn das Kind nicht prompt empathisch und bedingungsfrei positiv beachtet wird. (3) In der letzten Phase geht es um den im ganzen Leben weiter gehenden Prozess der Herstellung von Kongruenz zwischen den realen Selbsterfahrungen als ein so und nicht anders gearteter und erlebender Mensch mit den in das Selbstkonzept integrierten und integrierbaren Selbsterfahrungen als ein verstehbarer und unbedingt positiv zu beachtender Mensch - nicht zuletzt auch durch die eigene Person. Rezeption Die im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts entwickelten Annahmen über die Bedingungen fiir die Selbstentwicklung und ihre existentielle Bedeutung sind in hohem Maße kompatibel mit den Ergebnissen der Forschung zur frühkindlichen Entwicklung z. B. von Daniel Stern und zur Bindungforschung, ausgehend von Bowlbys (1969/1975) Werk Bindung (-•Bindungstheorie). Sie erweisen sich auch als ausgesprochen hilfreich bei der Interpretation der neueren neuropsychologischen Forschung z. B. zur Empathie. Die von Rogers auf der Basis der Annahme eines Bedürfnisses nach positiver Beachtung angeregten Forschungsprojekte und Überlegungen zu einem Selbstideal und dessen Beziehung zum realen Selbsterleben werden heute vor allem von Jobst Finke weiterverfolgt (-• Hermeneutik als Theorie des Verstehens). Insgesamt betrachtet, sind die Klientenzentrierten Konzepte zur Entwicklung nicht sehr elaboriert und auch nicht sehr anschaulich. Zusammen mit den genannten Ergebnissen der Säuglings- und Kleinkindforschung können sie aber eine detaillierte Einfühlung in das Erleben von Inkongruenz auf der Gründlage von mehr oder weniger umfassenden Bedrohungen des Selbstkonzepts zu einem mehr oder weniger frühen Zeitpunkt in der kindlichen Entwick336-
lung oder durch internalisierte Bewertungsbedingungen unterstützen. Literatur Bowlby, J. (1969/1975). Bindung. München: Kindler. Rogers, C. R. (1959/2009). Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. München: Reinhardt. Rogers, C. R. (1977/2004). Therapeut und Klient: Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Frankfurt/M.: S. Fischer. Weiterführend Biermann-Ratjen, E.-M. (2012). Klientenzentrierte Entwicklungslehre. Inj. Eckert, E.-M. Biermann-Ratjen & D. Höger (Hrsg.), Gesprächspsychotherapie (2. Aufl., S. 67-86). Heidelberg: Springer. Eva-Maria Biermann-Ratjen
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PERSONZENTRIERTE PERSÖNLICHKEITSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Personzentrierte Persönlichkeitstheorie ist Bestandteil des psychotherapeutischen Ansatzes und Beratungskonzepts, das von dem amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers (1902-1987) begründet wurde (vgl. insbesondere Rogers, 1942/1985). Es basiert auf dem Menschenbild der Humanistischen Psychologie, das zum einen von Wissenschaftlern wie dem Psychologen Abraham Maslow (-• Bedürfnispyramide), dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (-• Dialogmodelle) sowie dem amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey vertreten wurde (-• Deliberationstheorie mentaler Evolution) und zum anderen in Grundzügen auch in der europäischen Existenzphilosophie zu finden ist, z.B. bei dem dänischen Existenzphilosophen Soren Kierkegaard (-» Existentialistische und daseinsanalytische Ansätze). Rogers fand ferner wichtige seiner Auffassungen über menschliche Entwicklungsbedingungen bereits bei dem chinesischen Philosophen Laotse niedergeschrieben, der davon überzeugt war, dass dann, wenn vermieden werde, Anweisungen zu geben, die Menschen selbst das rechte Verhalten fänden und dass, wenn vermieden werde, sie zu beeinflussen, die Menschen zu sich selbst finden, sie selbst werden würden. Rogers Grundannahme, dass der menschliche Organismus selbst danach strebe, seine Potentiale zu erhalten und zu entwickeln, entspricht den Vorstellungen des Neurologen Kurt Goldstein (1878-1965), der eine Selbstaktualisierungstendenz annahm.
Theorie Die Personzentrierte Persönlichkeitstheorie (PPT) betont die phänomenologische Welt des Individuums, wie das Individuum sich selbst und die Außenwelt wahrnimmt und erfährt (Pervin, 1987). 338-
Mit der phänomenologischen Erkenntnismethode (-> Phänomenologische Psychologie) wird versucht, dieses »Wesen des Menschen« geistig-intuitiv zu erfassen, zu verstehen und zu rekonstruieren (-•Hermeneutik als Theorie des Verstehens). Im Zentrum der PPT steht das »Selbst« und seine Entwicklung, die im Wesentlichen durch die Erfahrungen geprägt wird, die ein Individuum macht, und durch die Bewertungen dieser Erfahrungen durch den eigenen Organismus und durch wichtige Bezugspersonen. Damit ersetzt Rogers das durch Sigmund Freud eingeführte Strukturmodell der Psyche, das sogenannte Instanzenmodell (—• Psychoanalytische Theorien des Unbewussten). Er geht von einem dem Menschen innewohnenden Potential zur eigenen Entwicklung (Aktualisierungstendenz und Selbstaktualisierungstendenz) aus und räumt diesem mehr Bedeutung ein als von außen angeleiteten Lernprozessen (-•Lerntheorien). Die Aktualisierungstendenz »ist die dem Organismus als Ganzem innewohnende Tendenz, alle seine Möglichkeiten in einer Art und Weise zu entwickeln, dass sie den Organismus als ganzen erhalten und fördern« (Rogers, 1959/2009, S.196). Sie entspricht dem, was Goldstein Selbstaktualisierungstendenz genannt hatte. Der Organismus ist zugleich eine Bewertungsinstanz: Er bewertet jede seiner Erfahrungen im Hinblick darauf, ob diese der Erhaltung und Förderung des Organismus als Ganzen dienlich ist oder nicht. Diese Funktionsweise des Organismus wird auch in der modernen Biologie vertreten: Die Biologen und Nobelpreisträger Humberto Maturana und Francisco J. Varela kennzeichnen lebende Organismen als autopoietische (d.h. sich selbst herstellende) Systeme (-* Personzentrierte Systemtheorie). Es gehört zur Aktualisierung, im Kontakt zu unseren Bezugspersonen ein Selbst zu entwickeln. In der PPT wird eine Selbstaktualisierungstendenz (Rogers, 1959/2009) als Teil der Aktualisierungstendenz angenommen. Selbstaktualisierung bedeutet, Teile des Erlebens zu symbolisieren, d. h. sich ihrer bewusst zu werden, sich selbst zu erfahren, aus einem Teil des Erfahrens, des eigenen Seins und Handelns Selbsterfahrungen zu machen. Die Selbsterfahrungen werden in eine Struktur, das Selbstkonzept (bzw. das Selbst), integriert, zu einem wahrnehmbaren Objekt im eigenen Erfahrungsfeld (Rogers, 1959/2009). 339-
Das Selbstkonzept entwickelt sich in Interaktionen mit der Umwelt - aus dem sich selbst in der Interaktion mit der Umwelt Erfahren vor allem in Interaktionen mit anderen Menschen. Die beiden Zielsetzungen der Aktualisierungstendenz, nämlich ein Selbst zu entwickeln durch die Integration von Selbsterfahrungen und das bestehende Selbst zu erhalten, können kollidieren. Der Organismus kann Erfahrungen, die der Aufrechterhaltung des Selbstkonzepts nicht dienlich sind oder es gar bedrohen, abwehren. Das Selbstbild gefährdende Erfahrungen werden dann nicht oder nicht vollständig als Selbsterfahrungen repräsentiert. In der PPT spricht man dann von Inkongruenz. Inkongruenz wird fiir das Individuum in unterschiedlichen Erscheinungsformen erfahrbar: als psychische (z. B. Schuldgefühle, diffuse Angst) oder körperliche Symptome (z.B. Spannungszustände, Lähmungserscheinungen) oder als inadäquate Verhaltensweisen und Reaktionen. In der PPT wird ein angeborenes Bedürfnis nach positiver Beachtung {need for positive regard) als Motor für die Entwicklung eines Selbst angesehen, das bedeutet: im eigenen Erleben gesehen werden wollen, beachtet werden wollen, verstanden werden wollen als lebenswertes und liebenswertes, nicht mit anderen zu verwechselndes, mit sich selbst identisches Individuum. In der Personzentrierten Entwicklungslehre wird heute davon ausgegangen, dass Erfahrungen, die mit diesem Bedürfnis nach positive regard verbunden sind, nur unter der Bedingung Selbsterfahrungen werden und in das Selbstkonzept integriert werden können, wenn sie von einem kongruenten wichtigen Anderen empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden (z. B. Biermann-Ratjen, 2012). Diese Annahme wurde aus Rogers' Therapietheorie abgeleitet (-*• Personzentrierte Entwicklungstheorie). Rezeption Rogers' Annahmen zur Selbstentwicklung sind inzwischen durch die Forschung zur frühkindlichen Entwicklung bestätigt worden (z. B. Daniel Stern) sowie durch Forschungsergebnisse zur Bindungstheorie John Bowlbys. Grundannahmen der PPT finden sich auch in neueren Therapiekonzeptionen, etwa in der Emotionsfokussierten Psychotherapie 340-
(z. B. Leslie Greenberg) und in der Existentiellen Psychotherapie von Irvin D. Yalom (-* Existentialistische und daseinsanalytische Ansätze). Der von Rogers betonten zentralen Bedeutung einer Beziehung von einer bestimmten Qualität für die menschliche Entwicklung im Allgemeinen und für eine Veränderung durch Psychotherapie im Besonderen wird heute in den meisten Psychotherapieschulen Rechnung getragen. Literatur Pervin, L. A. (1987). Eine phänomenologische Theorie: Die klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie von Carl Rogers. In L. A. Pervin (1987), Persönlichkeitstheorien (S. 173-236). München: Reinhardt. Rogers, C. R. (1942/1985). Die nicht-direktive Beratung. Frankfurt/M.: S. Fischer. Rogers, C. R. (1959/2009). Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. München: Reinhardt. Weiterführend Biermann-Ratjen, E.-M. (2012). Klientenzentrierte Entwicklungslehre. Inj. Eckert, E.-M. Biermann-Ratjen & D. Höger (Hrsg.), Gesprächspsychotherapie (2. Aufl., S. 67-86). Heidelberg: Springer. Jochen Eckert
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PERSONZENTRIERTE SYSTEMTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen
Die Personzentrierte Systemtheorie (PZS) ist ein integrativer, schulenübergreifender Ansatz, in clem interdisziplinäre Systemtheorie (Synergetik) zum Verständnis von psychotherapeutischen, beraterischen und coachenden Prozessen herangezogen wird. Mit der Bezugnahme auf die Synergetik Hermann Hakens verwendet Jürgen Kriz wie andere systemtheoretische Forscher in der Psychologie - besonders Schiepek und Tschacher (1997) - Grundmodelle von selbstorganisierter Ordnung und deren Veränderung. Die PZS fokussiert aber auf andere synergetische Modelleigenschaften, bei denen es weniger um Fragen chaotischer Dynamiken von Systemen geht, sondern, umgekehrt, um die Reduktion von Komplexität zur Stabilisierung der Alltagswelt. Mit der Integrativen Therapie von Hilarion Petzold teilt die PZS den Anspruch einer integrativen Konzeption; ebenso mit der Allgemeinen Psychotherapie Klaus Grawes, die mit der Betonung von Schemata und systemtheoretisch-selbstorganisatorischen Dynamiken eine zunehmend ähnliche Zentrierung wie die PZS aufwies. Trotz der Nähe zur Synergetik wird der Gefahr einer inadäquaten naturalistischen Reduktion dadurch begegnet, dass die PZS Hakens Konzept konsequent als ein strukturwissenschaftliches Modell verwendet. Es gibt zudem Verwandtschaften zwischen der Synergetik und der klassischen Gestaltpsychologie der Berliner Schule (u. a. Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Kurt Goldstein), die auch fiir die PZS eine wichtige konzeptuelle Quelle darstellt (-•Gestalttheorie). So kann Goldsteins Konzept der Selbstaktualisierung, das von Carl R. Rogers im Personzentrierten Ansatz (-•Personzentrierte Persönlichkeitstheorie) übernommen wurde, als früher Ansatz einer Selbstorganisationstheörie gesehen werden.
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Theorie Im Zentrum der PZS stehen die Wechselwirkungen zwischen Prozessen auf unterschiedlichen Ebenen: der körperlichen, psychischen, interpersonellen und kulturellen. Auf jeder Ebene geht es um die Stabilität bzw. Veränderung(smöglichkeit) von Ordnungen bzw. Mustern, die sich jeweils in Adaptation an die Prozesse auf den anderen Ebenen selbstorganisiert entwickeln. Die Synergetik erlaubt es, solche Wirkeinflüsse unterschiedlicher Prozessebenen konzeptuell zu fassen und die Herausbildung (Emergenz) sowie die Veränderung (Phasenübergang) von Ordnung, ferner die Adaptation an eine Systemumwelt sowie Fragen von Stabilität und Instabilität detailliert zu untersuchen. Die zentralen Fragen, die mit der PZS angegangen werden, sind: (i) wie wir Menschen aus der unfassbaren Komplexität einer physikalisch-chemischen und informationellen Reizwelt eine hinreichend fassbare, sinnhaft geordnete Lebenswelt erschaffen, (2) wie diese Ordnung sich typischerweise an stets neue Bedingungen und Herausforderungen (»Entwicklungsaufgaben«) anpasst, (3) warum diese Adaptation aber auch partiell misslingen und sich insbesondere als überstabil und inadäquat erweisen kann - was fiir viele Symptome (und allgemeiner: Probleme) typisch ist - , und letztlich, (4) wie professionelle Hilfe unter Nutzung von Ressourcen und Potentialen der Selbstorganisation gestaltet werden kann. Allgemein werden in der interdisziplinären Systemtheorie selbstorganisierte Ordnungen, auf die eine Prozessdynamik zuläuft, als Attraktoren bezeichnet. Mit Ordnung ist immer eine starke Reduktion von Komplexität verbunden. Sie entsteht (bottom-up) durch die Wechselwirkungen zwischen den Elementen und beeinflusst dann (top-down) die weitere Systemdynamik im Sinne dieser Ordnung. In den Naturwissenschaften sind Attraktoren mit Energie-Minima verbunden. In den Humanwissenschaften hingegen geht es statt um Energie um Sinn und Bedeutung. Daher sind die zentralen in der PZS ausdifferenzierten Subkonzepte der Sinnattraktor und seine Komplettierungsdynamik. Wenn man z. B. einem Menschen länger zuhört, so bedeutet »Verstehen« das »Ein-Ordnen« des Gehörten in einen Sinnattraktor, den man sich als »inneres Bild« vorstellen kann. Bereits wenige Informationspartikel erzeugen 343-
bottom-up - zunächst ein vages Bild, das durch weitere Informationen zunehmend komplettiert wird. Dabei wird das neu Gehörte durch selektive Wahrnehmung und Sinnzuordnung - top-down in seiner Vieldeutigkeit (Polysemantik) im Sinne des Attraktors reduziert, was wiederum die Bedeutungsstruktur stabilisiert. Sinnattraktoren können somit den Blick auf Neues verstellen: Denn auch wenn alle Situationen und Kommunikationen im Alltag polysemantisch sind, werden die Bedeutungsräume - und damit oft auch die Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten - durch Sinnattraktoren strukturiert und reduziert. Alle Attraktoren - sei es bei kognitiv-emotiven, verhaltensmäßigen oder interpersonellen Prozessen - müssen sich ständig neu an veränderte Umgebungsbedingungen im Sinne von Entwicklungsaufgaben adaptieren. An einen 3-, 14- oder 20-Jährigen werden jeweils andere Anforderungen hinsichtlich der Strukturierung seiner Lebensprozesse gestellt; analog gilt dies für Paare, Familien und Organisationen. Bisherige Strukturen müssen aufgegeben werden, damit neue entstehen können (sogenannte Phasenübergänge). Dies funktioniert meist recht gut, aber nicht immer: »Probleme« und Symptome sind oft überstabile Lösungsstrukturen für Umgebungsbedingungen, die sich längst geändert haben. Allerdings sind die jeweils anderen Prozessebenen ebenfalls relevante Umgebungsbedingungen - das eben macht ihre Wechselwirkung aus - und stabilisieren so gegebenenfalls die leidvolle Struktur. Rezeption Bedeutsam fiir die Rezeption ist, dass sich die PZS dazu eignet, Interventionskonzepte unterschiedlicher Therapierichtungen als Zufuhrung von Sinn-Komplexität zu verstehen, was einen Ubergang von malignen zu mehr lebensgerechten »Lösungen« ermöglicht. Die Subkonzepte Bedeutungsfelder und Synlogisation der PZS thematisieren, dass sich typischerweise Sinnattraktoren unterschiedlicher Systeme überlagern (Bedeutungsfelder) und mehrere Personen(gruppen) gemeinsam Bedeutungsaspekte entwickeln. Die Bezeichnung Personzentrierte Systemtheorie tauchte erstmals Ende der 1980er Jahre auf. Seitdem gibt es rund fünfzig theoretische und experimentelle Arbeiten von Kriz und vorwiegend 344-
Osnabrücker Mitarbeitern. In jüngerer Zeit wird die PZS in Bereichen der Systemischen Therapie, der Psychomotorik und der Humanistischen Psychotherapie rezipiert (-+ Humanistische Psychologie).
Literatur Kriz, J. (1994). Personzentrierter Ansatz und Systemtheorie. Personzentriert, 1,17-70. Kriz, J. (2013). Die Personzentrierte Systemtheorie in der Beratung. In S. Gahleitner et al. (Hrsg.), Personzentriert beraten: alles Rogers? Weinheim: Beltz. Schiepek, G. &Tschacher W. (Hrsg.). (1997). Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie. Braunschweig: Vieweg.
Weiterführend Schlippe, A. von & Kriz, W.C. (Hrsg). (2004). Personzentrierung und Systemtheorie: Perspektiven für psychotherapeutisches Handeln. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Jürgen Kriz
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PHÄNOMENOLOGISCHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen
Der Terminus Phänomenologische Psychologie wird uneinheitlich verwendet und häufig auf psychologische Theorien bezogen, die sich vornehmlich mit dem Subjekt und dessen Innenwelt beschäftigen. Die Phänomenologische Psychologie hat ihren Ursprung in der Psychologie William James', der bereits in den Principles of Psychology (1890) Intentionalität und Bewusstsein als ihre zentrale Gegenstände benannte. Der eigentliche Name Phänomenologische Psychologie stamm von Edmund Husserl aus der gleichnamigen Freiburger Vorlesung aus dem Jahr 1925. Nach Herzog (1992) lassen sich im Begriff der Phänomenologischen Psychologie vier Bedeutungen ausmachen: (1) Betonung eines nichtatomistischen Bewusstseinsbegriffs bei James, (2) Bewusstsein als transzendental-phänomenologischer Begriff bei Husserl, (3) Phänomenologische Psychologie als Schulbegriff bei Pfänder und Scheler und (4) Einfluss der Phänomenologischen Psychologie auf die Empirische Psychologie (z. B. Wahrnehmung bei Maurice Merleau-Ponty). Vertreter der Phänomenologischen Psychologie waren neben James und Husserl Carl Stumpf, Max Scheler, Alexander Pfänder, Erwin Straus, Aaron Gurwitsch, Maurice Merleau-Ponty, Johannes Linschoten und Carl Friedrich Graumann.
Theorien Im Zentrum der Phänomenologischen Psychologie steht die Kritik am Reduktionismus der vorherrschenden Empirisch-experimentellen Psychologie, die versucht, das Subjekt vom Forschungsprozess auszuschließen, indem sie nur solche Erfahrungsdaten zulässt, die eine ganzheitliche Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes unmöglich machen. Das Untersuchungsobjekt wird als Sache und Ding behandelt, ohne dabei den spezifischen Sinnbezug innerhalb eines Untersuchungskontextes in Augenschein zu nehmen. Ferner wird in der Empirisch-experimentellen Psychologie ein konstantes Verhältnis zwischen Reiz (Umwelt) und Reaktion (Subjekt) unter346-
stellt, die sogenannte Konstanzannahme, die sich jedoch nicht empirisch belegen lässt. Intentionalität: Franz Brentano betonte die Grundbestimmung des Psychischen als Vollzug intentionaler Akte (wie z. B. Empfinden, Urteilen) in der inneren wie der äußeren Wahrnehmung. James und Husserl modifizierten den Intentionalitätsbegriff Brentanos, indem sie dessen enge Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung aufgaben und durch die Begriffe Selbst (James) und Reflexion (Husserl) ersetzten und damit die Einheit der Erfahrung betonten. Intentionalität beschreibt in diesem Sinne eine spezifische Person-Umwelt-Beziehung, die in der Bezogenheit und Gerichtetheit des Bewusstseins »von etwas« sichtbar wird. Dies impliziert, dass alles, was erfahren wird, in einem bestimmten subjektiven Sinnbezug erlebt wird, der je nach Person anders sein kann (-• Subjektive Theorien). Der Handelnde oder Erlebende verhält sich zu etwas, das in seiner konkreten Gegenständlichkeit dem Handeln oder Erleben Sinn gibt. Verhalten ist daher als eine sinnvolle Antwort auf eine Situation aufzufassen, die ihrerseits fur das Subjekt Sinn besitzt. Die Konstitution einer Sinnerfahrung ist damit der zentrale Bestimmungsfaktor der als Intentionalität beschriebenen Person-Umwelt-Beziehung. Bewusstseinsfeld: Aaron Gurwitsch geht von der Bewusstseinspsychologie Husserls aus und fuhrt sie mit Gedanken der Gestaltpsychologie zusammen. Bereits Stumpf unterschied zwischen Erscheinungen (Inhalten von Empfindungen und Vorstellungen) und Funktionen (Akte wie beispielsweise Zergliedern, Zusammenfassen), die als organische Vorgänge mittelbar der Erfahrung zugänglich sind. Erscheinungen sind Gegenstand der Phänomenologie. Tonempfindungen beispielsweise basieren auf der Verschmelzung akustischer Sinnesdaten (Töne), die in Relationen zueinander stehen (z.B. Konsonanz). Im Bewusstsein werden die Tondifferenzen als Ganzes (Melodie) erfahren. Gurwitsch geht davon aus, dass der Sinneswelt eine ebensolche Struktur von Elementen zugrunde liegt, die in einer sinnhaften Beziehung (Relation) zueinander stehen. Er unterteilte das Bewusstseinsfeld in drei Bereiche: (i) Thema, d. h. der Gegenstand, der im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht, (2) thematisches Feldas Gesamtheit der Gegebenheiten, welche mit dem Thema gemeinsam auftreten, wobei sich jedoch das Thema als zentral abhebt, und (3) am Rand stehende Gegebenheiten ohne sach347-
liehen Bezug zum Thema. Wenn das Thema sich vom umgebenden Feld abgrenzt, wird deutlich, dass Erfassen ein Herausfassen ist das thematische Feld stellt ein strukturelles Gefiige von Relationen dar, innerhalb dessen sich das Thema in einem Bewusstseinsakt darbietet (-•Feldtheorien). Leiberfahrungy Erleben und Phänomenologie: Merleau-Ponty setzt sich in seiner Wahrnehmungstheorie mit der Phänomenologie (Husserl), der Gestaltpsychologie (-•Gestalttheorie) und der -•Psychoanalyse auseinander. Im Zentrum steht die Annahme, dass der Mensch sein ursprüngliches Sein in der Welt im Vollzug seiner Leiblichkeit erfährt; die Trennung zwischen Subjekt und Objekt wird hier also aufgegeben (präobjektive Erfahrung), obgleich er die Differenz zwischen Leib und Seele erkennt (-• Existentialistische und daseinsanalytische Ansätze). Bei Merleau-Ponty ist das Bewusstsein (wie in der Gestaltpsychologie) strukturell aufzufassen und das Verhalten nicht wie in der Psychoanalyse oder bei Scheler auf biologische Triebe zurückzufuhren; Vielmehr drückt sich das menschliche Verhalten durch verschiedene Ebenen der Stellungnahme zum Leben aus (Zur-Welt-Sein - etre-au-monde). Hierbei lassen sich gewisse Übereinstimmungen zwischen Leib und Unbewusstem feststellen. In der phänomenologischen Konzeption von Erwin Straus erfolgt Erleben ausschließlich durch Sinnentnahmen bei der Wahrnehmung von Ereignissen (im Gegensatz zur kausalen Reiz-Reaktions-Verbindung). Nicht ein Geschehnis fur sich ermöglicht das Erleben, sondern nur die Reflexion über seine Bedeutung bzw. Sinn fiir den Menschen. Der konkrete situative Kontext vermittelt dem Menschen daher ein sinnhaftes Vorverständnis, das das Erleben erst ermöglicht (-•Geisteswissenschaftliche Psychologie). Strukturanalyse und Phänomenologie: Innerhalb der Utrechter Schule (Linschoten, 1961) werden vier Kategorien unterschieden, welche die Struktur von Sinnkontexten beschreiben: (1) Umwelt steht nicht nur fiir die Welt der Dinge (physische Welt), sondern auch fiir die subjektiv-innerliche Welt (wie z. B. Kindheit, Träume, Hoffnungen), die der Introspektion zugänglich ist, (2) Leiblichkeit steht fiir die Welt des Körpers (motorisches Geschick, Krankheit, Körperschema), (3) Sozialität verweist auf die kommunikativen Bezüge zu anderen Personen (soziale Lebenswelt, Sprache), und (4) Historizität bezieht sich auf die Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart, die einer Veränderung und zeitlichen 348-
Entwicklung unterworfen sind. Die individuelle Biographie wird somit Teil der Historizität intentionaler Person-Welt-Beziehungen. Eine Situation, eine Person-Welt-Beziehung, ergibt sich aus dem Zusammenspiel aller vier Kategorien. Dieses Bezugssystem lässt sich näher untersuchen und analysieren. Rezeption Die phänomenologische Orientierung konnte sich nur schwer gegen die in der Psychologie vorherrschenden behavioristischen und kognitiven Forschungsparadigmen durchsetzen. Carl Friedrich Graumann griff die Phänomenologische Psychologie auf und machte ihre Grundannahmen fiir eine ökologische Perspektive auf verschiedene Bereiche der angewandten Psychologie (Umwelt, Arbeit, Verkehr, Entwicklungspsychologie, Gedächtnisforschung) theoretisch und methodisch nutzbar (-• Semiotisch-ökologische Psychologie). Im Rahmen der neu gegründeten Carl-Stumpf Gesellschaft werden aktuelle Bezüge der strukturfiinktionalistischen Richtung der Phänomenologie am Beispiel der Studien Carl Stumpfs herausgearbeitet (—• Theoretische Psychologie). Literatur Graumann, C.F. (1991). Phänomenologie und Psychologie - ein problematisches Verhältnis. In M. Herzog & C. F. Graumann (Hrsg.), Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften (S. 22-42). Heidelberg: Asanger. Gurwitsch, A. (1974). Das Bewusstseinsfeld. Berlin: De Gruyter. Linschoten,J. (1961). Auf dem Wege zu einer Phänomenologischen Psychologie: Die Psychologie von William James. Berlin: De Gruyter. Weiterführend Herzog, M. (1992). Phänomenologische Psychologie: Grundlagen und Entwicklungen. Heidelberg: Asanger. UweWolfradt 349-
POSITIVE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen
Unter dem Namen Positive Psychologie hat sich eine Bewegung entwickelt, die von ihrem Namensgeber Martin Seligman mit dem Ziel ^beschrieben wird, »einen Wandel in der Psychologie voranzutreiben, weg von der ausschließlichen Beschäftigung damit, die schlimmsten Dinge im Leben zu reparieren, dazu, die besten Qualitäten im Leben aufzubauen« (Seligman, 2002, S. 3). Seligman, ehemaliger Präsident der American Psychological Association {APÄ), hat seinerseits mit den Begriffen erlernte Hilflosigkeit und später erlernter Optimismus äußerst anschlussfähige Impulse für die Entstehung der Positiven Psychologie gesetzt. Durch ihre ressourcenorientierte Ausrichtung knüpft die Positive Psychologie an die Humanistische Psychologie an, indessen zeichnet sie sich durch ihren hohen Anspruch an wissenschaftliche Fundierung aus, der sich u.a. durch die Verwendung kognitionspsychologischer Methoden bzw. durch eine enge Verknüpfung mit der Kognitiven Psychologie darstellt (-•Theorien der Psychologie und Empirie). Theorie Statt sich auf die Behandlung von Defiziten zu konzentrieren, beschäftigt sich die Positive Psychologie mit der Stärkung positiver psychologischer Faktoren. Sie hat eine ressourcenorientierte Ausrichtung, so dass etwa das Stärken von Schutzfaktoren sowie die Festigung einer positiven Grundeinstellung Ziele der Positiven Psychologie darstellen. Aus solchen Zielen lässt sich ableiten, in welche Richtung der empirische positiv-psychologische Ansatz geht: Einen elementaren Teilbereich der Positiven Psychologie bildet die Resilienzforschung, die sich mit Faktoren auseinandersetzt, die die innere Widerstandskraft stützen, was wiederum den ressourcenorientierten Charakter dieser psychologischen Bewegung spiegelt. Die positive Wirkung der Stärkung von positiven psychologischen Faktoren auf das psychische Wohlbefinden des Menschen zeigen verschiedene Befunde wie etwa die signifikante positive Korrela350-
tion zwischen Optimismus und Wohlergehen und die signifikante negative Korrelation zwischen Pessimismus und Wohlergehen (-•Wohlbefindenstheorien). Kategorisiert man nun, basierend auf diesen Ergebnissen, Optimismus als Schutzfaktor und Pessimismus als Risikofaktor, setzt die Positive Psychologie an einer Stärkung des Schutzfaktors an (was die parallele Reduzierung des Risikofaktors impliziert), um das Wohlergehen zu erhöhen. Denkbar wäre hier ein »Training« des Optimismus, was etwa durch die Anwendung von Strategien der kognitiven Neubewertung realisiert werden kann. Kontextuell zeigt die Positive Psychologie eine große Ähnlichkeit zum von Aaron Antonovski im Jahre 1997 begründeten Begriff der Salutogenese, der im medizinischen Bereich die Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit fokussiert und somit das Gegenstück zum Begriff der Pathogenese bildet, der die Entstehung und Entwicklung von Krankheit beschreibt. So bildet die Refokussierung von Risikofaktoren auf Schutzfaktoren ein grundlegendes gemeinsames Merkmal beider Ansätze, Positiver Psychologie und Salutogenese. Rezeption Während das Konzept der Positiven Psychologie im US-amerikanischen Raum recht schnell als ernstzunehmender Ansatz akzeptiert wurde, entwickelte sich die Akzeptanz im deutschen Sprachraum eher langsam, stößt aber allmählich auch hier auf zunehmendes Interesse. Kiemenz (2003) etwa erachtet die Ansätze der Positiven Psychologie als von entscheidender Bedeutung für die Weiterentwicklung des Grundverständnisses von Psychotherapie, schlägt allerdings vor, das Adjektiv »positiv« durch »ressourcenorientiert« zu ersetzen, was generell auf große Zustimmung trifft (-+ Klinische Psychologie). Mittlerweile gibt es internationale Konferenzen, die sich speziell der Positiven Psychologie widmen. Des Weiteren sind in verschiedensten renommierten nationalen und internationalen psychologischen Fachzeitschriften positiv-psychologische Beiträge und ganze Themenhefte zur Positiven Psychologie erschienen. Die steigende internationale Rezeption und Anerkennung dieser recht jungen 351-
psychologischen Strömung lässt vermuten, dass es sich bei der Positiven Psychologie um eine Bewegung handelt, die in den kommenden Jahren deutlich an Einfluss gewinnen wird. Literatur Kiemenz, B. (2003). Ressourcenorientierte Kindertherapie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, $2, 297-315. Seligman, M. (2002). Positive psychology, positiveprevention, and positive therapy. In C. R. Snyder & S. J. Lopez (Eds.), Handbook of positive psychology (pp. 3-9). New York, NJ: Oxford University Press. Weiterfuhrend
Steinebach, C., Jungo, D. & Zihlmann, R. (Hrsg.). (2012). Positive Psychologie in der Praxis: Anwendung in Psychotherapie, Beratu und Coaching. Weinheim: Beltz. Marc Schipper
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PROBLEMLÖSUNGSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Problemlösen ist seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand empirischer Forschung und damit auch zum Inhalt von Problemlösungstheorien geworden (vgl. u. a. -• Produktionstheorie des Denkens). Behavioristische Lerntheforetiker wie Edward Thorndike (Katzenstudien mit einem Problemkäfig) und Assoziationisten wie Narziß Ach (determinierende Tendenzen) standen am Anfang einer Bewegung, die später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von Gestalttheoretikern (-•Gestalttheorie) wie Wolfgang Köhler (Einsichtsprozesse bei Schimpansen) fortgesetzt wurde (-•Denktheorien). Mit der Kognitiven Wende in den 1950er Jahren konnten Problemlöseprozesse durch eine kognitive Perspektive vertieft werden, die vor allem durch den Erfolg von Allen Newell und Herbert Simon markiert wird, die 1957 mit ihrem Konzept des General Problem Solvers fiir Aufsehen sorgten, zumal ihre Theorie auch formalisiert als Computerprogramm vorgelegt werden konnte. Das 1972 von Newell und Simon vorgelegte Buch Human problem solving enthält den Gedanken des Problemlösens als Suche in einem Problemraum, der mittels Operatoren und in Richtung auf ein handlungsleitendes Ziel verändert werden kann. Moderne Theorien sind im deutschsprachigen Raum von Dietrich Dörner {,heuristische Suche, komplexes Problemlösen) und Gerd Gigerenzer {simple heuristics) entwickelt worden, im angloamerikanischen Raum sind Stellan Ohlsson {strategy grammar) und John Anderson {atomic components ofthought) zu nennen. Theorien Theorien im Bereich des Problemlösens beschäftigen sich mit äußeren oder inneren Eigenschaften der Problemsituation, mit der Repräsentation der Problemstellung durch die problemlösende Person sowie mit den verfügbaren Lösungsmethoden. Theorien zur Problemerzeugung bzw. Problementstehung fehlen bis heute. Die 353-
Eigenschaften der Problemsituation haben nicht immer im Fokus der Theorien gestanden. Insbesondere die Arbeiten von Dietrich Dörner haben den Blick auf wichtige Anforderungsmerkmale realistischer Problemstellungen (im Vergleich zu Denksportaufgaben) gerichtet: (i) Komplexität des gegebenen Realitätsausschnitts und die darin vorfindbaren Vernetzungen; (2) Intransparenz hinsichtlich beteiligter Merkmale wie auch deren Zustände und Verbindungen; (3) Dynamik der Situationsentwicklung; (4) Vielzieligkeit mit der daraus resultierenden Problematik einander widersprechender Teilziele. All dies wurde fiir die Laborforschung erst durch die Verwendung computersimulierter Szenarien realisierbar. Die Repräsentation der Problemstellung durch die problemlösende Person erweist sich nach wie vor als zentrales Element vieler Theorien. Wie der Problemraum subjektseitig gestaltet wird, wie er durch subtile Hinweisreize verändert und in Richtung auf die Zielfindung eingeschränkt wird, ist von großer Bedeutung. Hier bestehen Verbindungen zur Kreativitätsforschung (-• Kreativitätstheorien). Zu den Lösungsmethoden der behavioristischen Modelle gehört Trial and Error als ein mehr oder weniger planloses Suchen nach wirksamen Operatoren. In kognitiven Ansätzen werden dagegen Strategien (z. B. VOTAT = vary one thing at a time) oder Heuristiken (z. B. take the best = nimm unter den verfügbaren Hinweisreizen den mit der größten Validität, der eine Entscheidung zulässt, und verwirf den Rest) als maßgebliche Hilfsmittel bei der Lösungssuche betrachtet. Neben expliziten reflexiven Prozessen ist in den letzten Jahren auch der Gebrauch impliziter automatischer Prozesse stärker in den Vordergrund geraten, insbesondere sogenannte ZweiProzess-Modelle. Rezeption
Die gestaltpsychologisch orientierten Problemlösungstheorien spielen heute im Bereich von Insight Problem Solving nach wie vor eine große Rolle. Das von Newell und Simon entwickelte Problemraum-Konzept ist durch moderne Varianten (u. a. dual-space search) erweitert worden. Computerbasierte kognitive Architekturen betten Problemlöseaktivitäten in allgemeine kognitive Abläufe ein. 354-
Die theoretischen Überlegungen zum Umgang mit komplexen Problemen haben Einfluss genommen auf die Erfassung von Problemlösekompetenzen im Rahmen großangelegter Schulstudien wie z.B. PISA. Wurden in PISA 2003 etwa 15-Jährige noch hinsichtlich ihrer analytischen Problemlösekompetenz untersucht, konnte in PISA 2012 bei der Datenerhebung von 85000 Schülern aus 44 Ländern der Schwerpunkt auf alltagsnäheres interaktives Problemlösen gelegt werden. Die dahinterstehenden Problemlösetheorien erweisen sich somit als praxisrelevant. Literatur Anderson, J . R. (2007). How can the human mind occur in the physical universe? New York, NJ: Oxford University Press. Dörner, D. (1976). Problemlösen als Informationsverarbeitung. Stuttgart: Kohlhammer. Newell, A. & Simon, H.A. (1972). Human problem solving. Englewood Cliffs, NJ: Erlbaum. Weiterführend Funke, J. (2003). Problemlösendes Denken. Stuttgart: Kohlhammer. Joachim Funke
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PRODUKTIONSTHEORIE DES DENKENS
Wichtige Vertreter/innen Die Produktionstheorie des Denkens wurde im Rahmen der Würzburger Schule entwickelt. Oswald Külpe, dessen Vorlesungen über Psychologie erst 1920, fiinf Jahre nach seinem Tod, von Karl Bühler herausgegeben wurden, fasste in Abhebung von Wilhelm Wundt die Elemente des Bewusstseins >von oben her< zu Einheiten zusammen. Solche Einheiten bestehen bei einer Denkaufgabe in der Wahrnehmung der Aufgabenstellung, in diesbezüglichen Gedanken, im Ziel des Denkens und schließlich in der hieraus hervorgehenden Tendenz in Richtung Lösung der Aufgabe. Narziß Kaspar Ach hatte 1905 in seiner Schrift Über die Willenstätigkeit und das Denken darauf hingewiesen, dass mit der Aufgabenstellung schon eine Einstellung auf das Denkziel hin erfolgt, wodurch eine determinierende Tendenz ausgelöst wird. Die Würzburger Psychologen hatten die -•Assoziationstheorien in Frage gestellt, allerdings ohne schon eine eigentliche Denktheorie auszuformulieren (-•Denktheorien). Eine komplette Denktheorie erarbeitete erst Otto Selz (1924), indem er Konzepte von Külpe, Ach und anderen Würzburger Psychologen verwendete und sich von der Gestalttheorie und der Ganzheitstheorie absetzte. Theorie Die traditionelle Assoziationstheorie geht von einem System diffuser Vorstellungen aus, weshalb sie fiir die Psychologie unzureichend ist, insbesondere wenn sich die Theorie nicht nur auf die Sprachtätigkeit oder auf das Gedächtnis bezieht, sondern auch die Verstandestätigkeit umfassen soll. Dass nicht alle mit dem gleichen Ausgangsglied verbundenen Vorstellungen bei dessen Wiederkehr erneut ins Bewusstsein treten, wurde assoziationstheoretisch mit der Stärke der Vorstellungen respektive der wechselseitigen Hemmung konkurrierender Vorstellungen erklärt. Zwar könnte schon die Verdrängung schwächerer Vorstellungen durch stärkere als ein für das Denken relevanter richtungsbestimmender Faktor aufge356-
fasst werden, indes scheinen Denkaufgaben dadurch allein noch nicht lösbar zu sein. Wenn es beispielsweise darum geht, zu »Jagd« einen gleichgeordneten Begriff zu suchen, kennt der Proband zwar in der Regel neben der Jagd noch »Gewerbe (Selz), doch dieses Wissen befindet sich nicht in hoher Reproduktionsbereitschaft. Nach Selz kann das zu einer Lösungsfindung nötige Wissen durch »Besinnen« aktiviert werden. Besteht die Aufgabe darin, einen dem Begriff »Jagd« gleichgeordneten Begriff zu suchen, befindet sich der Begriff »Jagd« zum gesuchten Begriff in der Beziehung der Nebenordnung. Mithin verhält sich das Aufgabenbewusstsein zu dem zu aktualisierenden Wissen wie das Schema eines (Teil-) Komplexes zu einem Gesamtkomplex, wobei von Anfang an der Komplex als Ganzes (vor)verstanden wird: eine Art Umkehrung der Pars-prototo-Redefigur oder -Denkfigur. Der Bewusstseinsvorgang beinhaltet die Antizipation des vervollständigten Komplexschemas unter maßgebender Berücksichtigung der Ausgangskonstellation. Dadurch wird die Operation der Komplexergänzung eingeleitet. Die entsprechende Determination bildet den Auslösereiz für einen vom Komplexschema ausgehenden Reproduktionsprozess, wobei im Unterschied zu rein assoziationstheoretisch vorgesehenen Vorgängen nur die ins Schema passenden Vorstellungen erregt und zur vollständigen Aktualisierung gebracht werden. Dabei kann es zwar noch zu einer Konkurrenz mehrerer Vorgänge der Komplexergänzung kommen, doch diese Prozesse bewegen sich ausschließlich im engen Bereich der durch die schematische Antizipation nahegelegten aufgabengemäßen Reproduktionen und sind insofern mit den diffusen Reproduktionen, die durch das bloße Spiel der Assoziationen entstehen, nicht mehr vergleichbar (siehe oben). Die Assoziationen bleiben dem neuen Forschungsparadigma erhalten, doch mit der Begrenzung desselben wird ihr Geltungsbereich eingeschränkt. Hinsichtlich der zur Lösung einer Aufgabe verwendbaren Mittel wird zwischen der routinemäßigen Mittelaktualisierung und Operationen der Mittelabstraktion unterschieden, (i) Routinemäßige Mittelaktualisierung meint, dass tradierte Lösungsmethoden früherer Probleme fiir aktuelle verwendet werden. Wenn dies nicht möglich ist, setzen Operationen der Mittelabstraktion ein, subsidiäre intellektuelle Operationen, die zur Entdeckung neuer Lösungsmethoden fiihren. (2) Die Operationen der Mittelabstraktion werden 35 7
in reproduktive, zufallsbedingte und unmittelbare Mittelabstraktionen unterteilt. Die (a) reproduktive Mittelabstraktion, bei der das Mittel durch die Aktualisierung eines Gedächtniskomplexes entdeckt wird, und die (b) zufallsbedingte Mittelabstraktion, bei der es aufgrund von Beobachtungen zufällig zu einem »Einfall« kommt, sind empirisch begründete Lösungsmethoden. Demgegenüber basiert die (3) unmittelbare Mittelabstraktion, die als die eigentlich strukturgesetzlich begründete Lösungsmethode gilt, nicht primär auf Erfahrung, wird doch der zu reproduzierende Komplex durch seine schematische Antizipation im Zielbewusstsein selbst hinreichend bestimmt, um der Komplexergänzung die ausschließliche Richtung auf entsprechende Komplexe vorzugeben (-• Problemlösungstheorien). Rezeption Nach 1945 wurde Selz in der UdSSR, in den USA und auch in einigen westeuropäischen Ländern, u. a. in Deutschland, Frankreich, der Schweiz sowie in den Niederlanden, rezipiert. Mit seinem Schema-Begriff hat Selz, ähnlich wie später Frederic C. Bartlett, die Kognitive Wende vorbereitet. Er hat diese in seiner Arbeit frühzeitig eingeleitet, ja schon vorzeitig durchgeführt und damit im Kleinen eigentlich vorweggenommen. Das Konzept des antizipierenden Schemas impliziert eine bereits genau bestimmte versuchsweise Vorwegnahme der Aufgabenlösung, mit der sich Annahmen andeuten, wie sie später im kognitionspsychologischen Rahmen in Bezug auf das alltägliche Denken als inneres Probehandeln während des individuellen Hypothesengenerierens entwickelt werden sollten, worauf u. a. Rudolf Groner in seiner 1978 erschienenen Arbeit Hypothesen im Denkprozess hingewiesen hat.
Literatur
Külpe, O. (1920). Vorlesungen über Psychologie. Leipzig: Hirzel. Selz, O. (1913). Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufi. Stutt gart: Spemann. 358-
Selz, O. (1924). Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Bonn: Cohen. Weiterfuhrend Metraux, A. & Herrmann, T. (1991). Zur Biographie und Werkgeschichte von Otto Selz. In A. Metraux & T. Herrmann (Hrsg.), O. Selz: Wahrnehmungaufbau und Denkprozeß (S.1-22). Bern: Huber. Mark Galliker
2 66
PRODUKTIONSTHEORIE DES SPRECHENS
Wichtige Vertreter/innen Gegenstand der Sprachproduktionstheorie ist die Sprachverwendung bzw. die Performanz (engl, performance, Ausfuhrung). Die diesbezüglichen psycholinguistischen und sprachpsychologischen Untersuchungen (-> Sprachpsychologische Theorien) beziehen sich auf jene Prozesse, die es dem Sprecher ermöglichen, seine impliziten sprachlichen Kenntnisse während der >mentalen Vorbereitung< verbaler Äußerungen zu aktivieren. Zu den Forschern in diesem Feld der Sprachpsychologie gehören neben vielen anderen Willem Levelt, Gary Dell, Theo Herrmann, Joachim Grabowski und Ulrich Schade.
Theorien Im Folgenden wird auf vier Ansätze hingewiesen, die bisher in sprachpsychologischen Untersuchungen des Sprechens häufig zur Anwendung gelangten. Phrasenstrukturmodell: Die Analyse spontaner Sprechfehler weist darauf hin, dass sprachliche Äußerungen nicht einfach Wort fiir Wort erfolgen, sondern in syntaktischen Abschnitten. Wenn jemand sagt: »Darf ich mir kurz den blauen ... äh ... den roten Kugelschreiber ausleihen?«, korrigiert er in der Regel nicht ausschließlich das falsche Adjektiv, indem er es einfach durch das richtige ersetzt (»blauen« -> »roten«), sondern er wiederholt zudem den Artikel »den«; das heißt er geht an den Anfang der Phrase zurück, innerhalb welcher der Fehler aufgetreten ist (im vorliegenden Fall an den Anfang der Nominalphrase; siehe unten). Dies deutet auf eine Phrasenstrukturierung der Äußerung beziehungsweise auf einen Einfluss der Syntax bei der Sprachproduktion hin. Neal F. Johnson interpretierte bereits 1965 die Erzeugungsregeln eines Ausschnitts der Generativen Grammatik als Kodierschritte bei der Sprachproduktion. Ein zu Beginn des Prozesses noch in einem abstrakten Sinne »ganzheitlicher Satz« (S) wird in eine Nominalphrase (NP) und eine Verbalphrase (VP) decodiert. Die VP wird unmittelbar ge360-
speichert. Die NP wird weiter in einen Artikel (T) und in ein modified noun (MN) decodiert, wobei das MN wiederum gespeichert wird. Jetzt kann T zur »End-Response« weitergeführt bzw. als Wort artikuliert werden (das heißt, das erste Wort des Satzes erscheint). Nach Johnsons Decodier-Hypothese ist die Wahrscheinlichkeit eines Übergangsfehlers umso größer, je mehr Decodierschritte für die Generierung nach dem Modell notwendig sind. Der Autor überprüfte diese Hypothese, indem er 7-Wort-Sätze in der Form von »The tall boy saved the dying women« von den Probanden reproduzieren ließ und bei der Auswertung den transitional error (TE) bei den sechs Übergängen bestimmte. Bei der Produktion dieses Satzes wäre z. B. ein Fehler beim Übergang von »The« zu »tall« wahrscheinlicher als bei jenem von »tall« zu »boy«, weil er mehr Decodierschritte erfordert. Nach Johnson fand die Phrasenstruktur der vorgegebenen Sätze tatsächlich ihren >Niederschlag< in der Form von Übergangsfehlern. Indessen stieß seine Bestätigung der Hypothese auf Kritik von verschiedenen Seiten. So wurde moniert, dass die rein assoziative Verbundenheit zwischen den Wörtern innerhalb der präsentierten Sätze nicht kontrolliert wurde (z. B. hängen »tall« und »boy« enger zusammen als »boy« und »saved«), weshalb die Ergebnisse mitunter auch assoziationspsychologisch (-•Assoziationstheorien) und nicht nur psychosyntaktisch interpretiert werden könnten. Das Modell, das in erster Linie seriell geschaltete Prozesse vorsieht, wurde wie das Experiment mit den Befunden zurückgewiesen (Näheres dazu in Galliker, 1977). Kognitives Sprachproduktionsmodell: Levelt (1989) betrachtete die Sprachproduktion als mentalen Prozess, der mit Hilfe des >Sprechapparates< zustande komme. Er unterschied die drei folgenden Prozessstufen: (1) Konzeptualisierung: Ein Conceptualizer erzeugt eine Äußerungsbasis, die der Sprecherabsicht in der vorliegenden Kommunikationssituation entspricht. Die Elemente dieser mentalennonverbalen Struktur sind Konzepte, die vorsprachliche Repräsentationen konstituieren (z. B. eine Person und nicht ein Ding; eine Frau und nicht ein Mann; ein junger und nicht ein alter Mensch; ein lediger, nicht ein verheirateter Mann usw.), die als solche bereits Informationen für die sprachliche Encodierung beinhalten. (2) Formulierung: Durch einen Formulator wird die Botschaft encodiert. Den einzelnen Konzepten und ihren gedanklichen Verbindungen werden Vokabeln oder verbale Wendungen zugeordnet. 361-
Der Formulator entnimmt dem kognitionspsychologisch verstandenen >Lexikon< Konzepte, sogenannte Lemmata; das sind mentale Repräsentationen, die auch grammatische Merkmale aufweisen (Substantiv, Geschlecht etc.). Hieraus entstehen die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten, die Morpheme (z. B. »Frei-zeit«). (3) Artikulation: Auf der Basis der encodierten Botschaft erzeugt ein Artikulator über die schon im mittleren Moment (2) vorbereitete Phonetisierung eine manifeste Äußerung bzw. das hörbare Produkt der Generierung. Der sprechmotorische Vorgang wird nach dem jeweiligen phonetischen Plan in (2) gesteuert. Nach der ersten Artikulation werden über Rückkopplungsschleifen situative Feinanpassungen sowie Selbstkorrekturen vorgenommen, nachdem kognitive Feedbacks bereits in (2) über die Lexikon-Lemma-Form und auch schon in (1) im Sinne eines Monitorings erfolgten. - Indes lässt das Modell viele Fragen offen. Beispielsweise bleibt unklar, wie der mentale Prozess im Einzelnen beschaffen sein soll, der aus gedanklichen Inhalten die detailliert formatierte Botschaft entstehen lässt (vgl. u.a. Herrmann & Grabowski, 1994). Konnektionistische Modelle: Bei den Konnektionistischen Modellen (-*• Konnektionismus) ist wesentlich, dass sie parallele Verarbeitungen vorsehen, während eigentlich sequentielle Vorgänge, bei denen Informationen von einem Teilprozess zum anderen weitergegeben werden, nicht erfasst werden können oder nur am Rande quasi als zusätzliche Vorgänge angeführt werden (vgl. u. a. Schade, 1992, S.76f.). Bei den Parallelvorgängen wird zwischen waagrechter und senkrechter Parallelität unterschieden: (1) Waagrechte Parallelität: Auf einer bestimmten Verarbeitungsebene werden mehrere Elemente dieser Ebene gleichzeitig fiir die Sprachproduktion ausgewählt (z. B. werden beim Morphem »Fisch« die Laute »f«, »i« und »sch« gleichzeitig ausgewählt). Als Belege fiir waagrechte Parallelität lassen sich Versprecher, insbesondere Vertauschungs- und Antizipationsfehler, anfuhren. (2) Senkrechte Parallelität: Ein Element der Produktion wird zugleich auf mehreren Ebenen expliziert (d. h. die einzelnen Laute werden zur gleichen Zeit wie das Morphem »Fisch« ausgewählt). Neuronale Netzwerke: Schon Donald Olding Hebb fasste Merkmale psychologischer Assoziationen (-• Assoziationstheorien) zugleich als neuronale auf (-»Hebbsche Lernregel). Der Autor nahm an, dass Neuronen, die gleichzeitig aktiv sind, sich miteinander 362-
verbinden. Neuronen regen andere Neuronen an (Repräsentationen< von sogenannten Entitäten (Wortformen, Morphemen, Begriffen etc.) beziehungsweise Gegebenheiten dargestellt werden. Rezeption Die Sprachproduktionsforschung hat zu einigen Erkenntnissen geführt, die von den meisten Forschern und Forscherinnen akzeptiert wurden und dementsprechend auch als Grundlage für die weitere Forschung verwendet werden (u. a. Annahme serieller und paralleler, Top-down- und Bottom-up-Prozesse). Allerdings ist es in den letzten Jahren um die Sprachproduktionsforschung eher etwas ruhiger geworden, nachdem sie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts noch boomte. Kritisiert wurde u. a. die Isolierung der Sprachproduktion von der Kommunikation und die des Sprechens vom Zuhören und Verstehen (—• Konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung). Literatur Galliker, M. (1977). Müssen wir uns auf das Sprechen vorbereiten?. Bern: Haupt. Herrmann, Th. & Grabowski, J. (1994). Sprechen: Psychologie der Sprachproduktion. Heidelberg: Spektrum. Levelt, W. J. M. (1989). Speaking: From intention to articulation. Cambridge, MA: The MIT Press. 363-
Weiterfuhrend Schade, U. (1992). Konnektionismus: Zur Modellierung der Sprachproduktion. Opladen: Westdeutscher Verlag. Mark Galliker
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PSYCHOANALYSE
Wichtige Vertreter/innen Wenngleich die frühe Entwicklung der Psychoanalyse als Wissenschaft von den unbewussten Prozessen eng mit ihrem Begründer Sigmund Freud verbunden ist (-+ Psychoanalytische Theorien des Unbewussten), basiert sie in ihrer stetigen Weiterentwicklung auf dialogischen und - auch in der Verschränkung von Theorie und Empirie - dialektischen Prinzipien. Theoretisch verdankt die Psychoanalyse verschiedenen vorangegangenen Denkern und Geistesströmungen vor allem des 19. Jahrhunderts einiges, wie z. B. Carl Gustav Carus. In ihrer Praxis wurde die Psychoanalyse - später begleitet von Freuds Selbstanalyse, die durch Briefe an und von Wilhelm Fließ bereits selbst dialogische Züge trug - zunächst aus Jean-Martin Charcots hypnotischer und Josef Breuers kathartischer Behandlungsmethode entwickelt. Dabei verzichtete Freud auf die Induktion hypnotischer Zustände und auch auf das Handauflegen, das von Freuds Kollegen Breuer praktiziert wurde, zugunsten der Einführung der Prinzipien der freien Assoziation (-•Assoziationstheorien) und der Deutung unter Beibehaltung der liegenden Position der zu analysierenden Person. Hierdurch wurde es möglich, psychische Störungen als Abwehrvorgänge systematisch zu untersuchen. Seit 1902 trafen sich Freud und mehrere Kollegen (von Anfang an z. B. Alfred Adler, der später die Individualpsychologie begründete) zur Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft, in der Weiterentwicklungen der Psychoanalyse diskutiert wurden und aus der u. a. die Wiener Psychoanalytische Vereinigung sowie die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV/IPA, 1910) hervorgingen. Mit Sändor Ferenczi kam die therapeutische Dyade als Nachfolgerin der Beziehung zwischen Eltern und Kind stärker in den Blick, mit Karl Abraham und Melanie Klein, deren Ansatz durch Wilfred R. Bion und Thomas H. Ogden bedeutsame Erweiterungen erfuhr, die frühkindliche Entwicklung, mit der sich auch Anna Freud befasste, die das geistige Erbe ihres Vaters und dessen Bewahrung fixr sich beanspruchte, was zu erheblichen Konflikten mit der Gruppe um Klein führte. Eine theoretisch offenere Zwischen365-
position nahm Donald W. Winnicott ein, der ebenfalls die Bedeutung früher Beziehungen und ihrer gelungenen Internalisierung fur die Persönlichkeitsentwicklung betonte, ebenso wie die Begründerin der Gegenübertragungsanalyse Paula Heimann. Unter den bedeutenderen Ansätzen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts seien exemplarisch Heinz Kohut (Selbstpsychologie), Otto F. Kernberg (Borderlinestörung) sowie Peter Fonagy (Mentalisierung) erwähnt. Theorie Freud definierte die Psychoanalyse wie folgt: »Psychoanalyse ist der Name (1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; (2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; (3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen« (Freud 1923, GW, Bd. XIII, S.211). Allgemeine und klinische psychoanalytische Theorie wurden in vielen Teilen gemeinsam entwickelt; hierin ist der Gedanke eines prinzipiellen Kontinuums zwischen Gesundheit und Krankheit enthalten. So ist Freuds erstes topisches (strukturtheoretisches) Modell mit den Systemen Bewusstsein (Bw; aktuelle Wahrnehmungen und Gedanken), Unbewusstes (Ubw; aktuell nicht bewusstseinsfähige Inhalte wie abgewehrte, dem Ich unwillkommene Triebrepräsentanzen, die sich über Kompromissbildungen mittels Verschiebungs- und Verdichtungsmechanismen - wie z. B. in Träumen [-•Traumtheorien] - äußern) und Vorbewusstes (Vbw; prinzipiell jederzeit bewusstseinsfähig, aber zum jeweiligen Zeitpunkt nicht im Aufmerksamkeitsfokus) als bei allen Menschen anzutreffende Konstellation zu sehen. Dabei ist die Relation zwischen den Systemen Bw und Ubw konstitutiv fiir psychische Konflikte, von deren Bewältigung oder Nichtbewältigung der Fortgang der Entwicklung abhängt. An den Polen dieses Konfliktes befinden sich häufig Es (z. B. Triebregungen) und Über-Ich (z. B. moralische Anforderungen), die das Ich mit ihren jeweiligen Ansprüchen bedrängen (Lust- vs. Realitätsprinzip; Strukturmodell des seelischen Apparates). Wünsche und Ansprüche, die in der äußeren und in366-
neren Realität nicht willkommen sind, müssen abgewehrt und ins Unbewusste verdrängt werden (vgl. Anna Freud, 1936/2012). Im Alltag äußern sich Konflikte zwischen bewusster und unbewusster Intention häufig in Fehlleistungen (Freud, 1901, GW, Bd. IV), die letztlich Kompromisse zwischen Realitätsanforderung und Abgewehrtem darstellen, z.B. Versprecher, das Fallenlassen eines Gegenstandes oder auch Tippfehler; so sagte ein Gruppentherapeut eine Sitzung in einem freundlichen Schreiben mit der Begründung ab, er sei »an Gruppe erkrankt« (statt Grippe). Prototyp eines unbewussten psychischen Konfliktes ist der ödipale Konflikt, in dem das Kind (und nebenbei bemerkt auch die Eltern) einen Umgang mit seiner Anziehung zum Elternteil des anderen Geschlechts finden muss. Einerseits liebt das Kind auch den gleichgeschlechtlichen Elternteil, andererseits ist dieser der Liebe zum gegengeschlechtlichen Elternteil im Wege, kann aber nicht so einfach aus der Welt geschafft werden. Daher werden die aggressiven und libidinösen Impulse (-»Libidotheorie) in Ängste umgewandelt (Stichwort Kastrationsangst - dieser Begriff ist über die körperliche Bedeutung hinaus psychisch zu verstehen und beschreibt ein Phänomen, das nicht nur bei Jungen auftritt) und wird im günstigen (»gesunden«) Fall durch Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil aufgelöst. Die weitere Entwicklung der Psychoanalyse basiert in vielfältiger Weise auf den Entdeckungen Freuds und geht zugleich über diese, teilweise erheblich, hinaus. Exemplarisch seien hier die mehr auf die Funktionsfähigkeit des Ichs als auf das Aufdecken von Unbewusstem gerichtete Ich-Psychologie sowie die Objektbeziehungstheorie genannt, die den entscheidenden Schritt von einer Ein-Personen- in eine Zwei-Personen-Psychologie bedeutete. Wesentlich fiir die psychoanalytische Beziehungsarbeit seien die Konzepte der Übertragung und Gegenübertragung (-• Psychoanalytische Beziehungstheorie) sowie des Widerstandes genannt, der sich als Manifestation der Abwehr im psychotherapeutischen Prozess in vielgesichtiger Weise - wie Schweigen, Erzählen von Banalitäten, Versäumen von Stunden, intensiven Übertragungsgefuhlen u. a. - äußern kann. Hier wird in der modernen Psychoanalyse der Versuch unternommen, die Widerstände in ihrer Bedeutung zu akzeptieren, behutsam deutend aufzudecken und mit den Patienten gemeinsam zu verstehen. 367-
Rezeption Kaum eine psychologische Theorie ist so intensiv und kontrovers rezipiert worden wie die Psychoanalyse. Während die sich durch psychoanalytische Perspektiven ergebenden Interpretationsmöglichkeiten in vielen Kultur- und Geisteswissenschaften (-•Geisteswissenschaftliche Psychologie) wie z.B. Kunst-, Film- und Literaturwissenschaft (-•Psychoanalytische Kulturtheorie) oder die Erkenntnisse zur frühen Entwicklung in der Pädagogik (-•Pädagogisch-psychologische Theorien) eine bedeutsame Bereicherung darstellten und diese Wissenschaften maßgeblich prägten, war die Rezeption in der Psychologie meist im günstigsten Falle kühl und durch Totschweigen, Diffamierung oder Trivialisierung geprägt (vgl. Cremerius, 1981). Zum Teil dürfte dies im Unbewussten als zentralem Gegenstand des psychoanalytischen Forschungsinteresses begründet sein. Hierdurch ergeben sich wissenschaftstheoretische Probleme und Differenzen, die weder von psychologischer noch von psychoanalytischer Seite überbrückt werden konnten. So wird der Falsifikationismus Karl Poppers (-•Theorien der Psychologie und Empirie) dem hermeneutischen Vorgehen der Psychoanalyse (-•Hermeneutik als Theorie des Verstehens) nicht gerecht, wie auch viele Psychoanalytiker ihr Arbeiten keiner externen Untersuchung zugänglich machen wollen, wobei gerade empirische Forschungsergebnisse über Kostenersparnisse durch psychoanalytische Behandlungen zur Verankerung der Psychotherapie im deutschen Gesundheitswesen seit 1967 geführt haben. Indessen ist der Wert der Psychoanalyse als beständig um Wahrheit ringende kritische Wissenschaft unbestreitbar.
Literatur
Cremerius, J. (Hrsg.). (1981). Die Rezeption der Psychoanalyse in der Soziologie, Psychologie und Theologie im deutschsprachigen Ra bis 1940. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Freud, A. (1936/2012). Das Ich und die Abwehrmechanismen (22. Aufl.). Frankfurt/M.: S. Fischer. Freud, S. (1892-1939). Gesammelte Werke. Frankfurt/M.: S. Fischer. 368-
Weiterführend Mertens, W. (Hrsg.) (2014). Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (4. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Daniel Weimer
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PSYCHOANALYTISCHE BEZIEHUNGSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen
Die Begriffe der Übertragung und der Gegenübertragung gehen auf den Begründer der -»Psychoanalyse Sigmund Freud zurück, der sich theoretisch und auch therapeutisch überwiegend mit dem Phänomen der Übertragung befasste, z. B. in seiner 1912 erschienenen Arbeit »Zur Dynamik der Übertragung«, in der er die Übertragung als eine die tatsächliche Realität verzerrende Wiederholung früherer Gefühle vorstellt, die typischerweise entweder positiv oder negativ im Sinne von Zu- oder Abneigung gefärbt sind. Er vertrat die Auffassung, dass die milde positive Übertragung eine günstige Behandlungsvoraussetzung darstelle und nicht analysiert werden müsse, während heftigere Übertragungsgefiihle die Qualität eines zu bearbeitenden Widerstands hätten, zugleich aber auch eines der wichtigsten Themen der analytischen Arbeit darstellten. Über seine als »Gegenübertragung« bezeichneten eigenen Gefühle als Antwort auf die Übertragungsgefühle der Patienten schrieb Freud 1909 in einem Brief an Carl Gustav Jung (vor dem Hintergrund von dessen Liebesbeziehung zu seiner Analysandin Sabina Spielrein), dass man ihrer Herr werden müsse. Diese Auffassung publizierte er auch 1910 in der Arbeit »Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie«, der Einführung des Gegenübertragungs-Begriffs in die Literatur. Paula Heimann leitete mit ihrem auf dem ersten Nachkriegskongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 194 in Zürich gehaltenen und 1950 im International Journal of Psychoanalysis publizierten Vortrag »On counter-transference« einen Paradigmenwechsel in der psychoanalytischen Tradition ein, indem sie das emotionale Geschehen auf beiden Seiten einer therapeutischen bzw. generell einer dyadischen Beziehung betrachtete und der richtig gehandhabten Gegenübertragung einen positiven therapeutischen Sinn abgewann.
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Theorie
Bei einer Übertragung handelt es sich um die Wiederholung einer früheren Erfahrung in einer aktuellen Beziehung. Es wird davon ausgegangen, dass emotionale (Beziehungs-) Erfahrungen aus der Vergangenheit, insbesondere der ersten Lebensjahre, ihre Spuren in den bewussten und unbewussten Erwartungen eines Menschen an spätere soziale Kontakte und Kommunikationssituationen hinterlassen und diese beeinflussen. Dabei fuhren gerade die nicht bewussten Einflüsse zu einer die aktuelle Gesprächssituation beeinträchtigenden Wahrnehmung des Gegenübers, das zu einer Figur im eigenen alt(un)bekannten Spiel verformt wird. So könnte eine Person, die von einem El tern teil, z. B. der Mutter, wiederholt ein (zu) geringes Interesse erfahren hat, ein eher indifferentes oder sogar eigentlich empathisches »Hm« des Gesprächspartners als Gleichgültigkeit interpretieren (Beispiel fur eine negative MutterÜbertragung). Unter Gegenübertragung wird die Reaktion auf eine Übertragung verstanden, in einem weiteren Sinne auch alle Reaktionen eines Gegenübers, dem mit einer Übertragung begegnet wird. Im erwähnten Beispiel könnte ein Gegenüber tatsächlich mit Gleichgültigkeit oder leichter Langeweile reagieren (Gegenübertragung, in der die emotionale Perspektive der Mutter eingenommen wird) oder der anderen Person seinerseits fehlendes Interesse unterstellen (konkordante Gegenübertragung). Übertragungen und Gegenübertragungen können kaum merklich stattfinden oder durch heftige Affekte geprägt sein. Sie lassen sich meist einer oder mehreren früheren Beziehungen zuordnen; es können jedoch auch andere Aspekte früher (er) Erfahrungen wie z. B. Stimmungen in die Gegenwart übertragen werden und die Wahrnehmung der Situation beeinflussen (etwa wenn sich ein diffuses Gefiihl von Bedrohung und Beklemmung ausbreitet, das durch die aktuelle Situation nicht hinreichend erklärt werden kann). Während das Wechselspiel von Übertragungen und Gegenübertragungen - so allgegenwärtig es ist - im alltäglichen Kommunizieren und Interagieren meist unbemerkt bleibt, macht es sich in psychotherapeutischen Gesprächen häufiger bemerkbar - und nicht selten zunächst störend. In psychoanalytischen Behandlungen kommen freie Assoziation (-•Assoziationstheorien) und gleich371
schwebende Aufmerksamkeit aus der Balance, und es entsteht eine interpretationsbedürftige Situation. Diese ist der Ausgangspunkt für eine Übertragungsanalyse, die in der modernen Psychoanalyse immer auch Informationen aus der Gegenübertragung berücksichtigt und so zu einem emotionalen Verständnis des Erlebens der Kommunikationspartner gelangt. Um hierbei zwischen eigenen neurotischen Überresten und genuinen Reaktionen auf die Übertragung des Analysanden hinreichend differenzieren zu können und die Gegenübertragung nicht dauerhaft agieren (ausleben) zu müssen, wird eine intensive Selbsterfahrung seitens des psychoanalytischen Psychotherapeuten gefordert. Diese ist auch deshalb notwendig, weil das analytische Behandlungssetting die unbewusste Übertragungsbereitschaft: erhöht und entsprechend hohe Anforderungen an den Umgang mit oft verborgenen und kaum merklichen, manchmal aber auch intensiven Übertragungsgefiihlen gestellt werden müssen. Heinrich Racker, der Paula Heimanns Gedanken früh aufnahm, sah die Übertragung des Patienten wiederum zum Teil als eine Reaktion auf die Gegenübertragung des Therapeuten. Zudem führte er die Modalitäten von konkordanter (Therapeut fühlt sich wie Patient) und komplementärer Gegenübertragung (Therapeut fühlt sich wie eine Bezugsperson des Patienten) ein. Die intensive Betrachtung des Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehens wurde insbesondere fiir die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie bedeutsam. Rezeption Während die Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung im psychoanalytischen Diskurs ungebrochen ist und sich über die Jahre und Schulen hinweg unterschiedliche Vorstellungen vom Umgang mit diesen Phänomenen entwickelten, erfuhren die Konzepte im Bereich der akademischen Psychologie - und damit auch der Verhaltenstherapie, deren ätiologische Theorie ja eigentlich frühere soziale Lernerfahrungen beinhaltet - erst allmählich eine gewisse Verbreitung. Als problematisch wurde vor allem die psychoanalytische Konzeption des Unbewussten gesehen, die von vielen akademischen Psychologen in Frage gestellt wird, auf der die 372
Theorie des Wechselspiels von Übertragung und Gegenübertragung aber wesentlich beruht, da es gerade auch um nicht bewusste frühere Beziehungsaspekte geht, die unwillkürlich wiederbelebt werden und zu Verschiebungen und Verdichtungen in der Wahrnehmung fuhren. Seit sich in der Psychotherapieforschung (-* Klinische Psychologie) die Bedeutung der therapeutischen Beziehung wiederholt empirisch herausgestellt hat, wurde der - insbesondere auch praktische - Wert der psychoanalytischen Beziehungstheorie, die auf den Konzepten von Übertragung und Gegenübertragung basiert, zunehmend erkannt und anerkannt. Gleichwohl kam es auch zu Adaptationen, die die differenzierten Entwicklungen im psychoanalytischen Diskurs der letzten hundert Jahre nur schwach reflektieren. Literatur Freud, S. (1912/1999). Zur Dynamik der Übertragung. In S. Freud, Gesammelte Werke. Bd. VIII (S. 364-374). Frankfurt/M.: S. Fischer. Heimann, P. (1950). On counter-transference. InternationalJournal ofPsychoanalysis, 31, 81-84. Weimer, D. (2006). Übertragung und Gegenübertragung. In M. Galliker & D. Weimer (Hrsg.), Psychologie der Verständigung (S. 147-152). Stuttgart: Kohlhammer. Weiterfuhrend Etchegoyen, R. H. (2006). The fundamentals of psychoanalytic technique. London, UK: Karnac. Daniel Weimer
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PSYCHOANALYTISCHE KULTURTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Sigmund Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930/1999) ist als Summe seiner Bemühungen, psychoanalytische Fragestellungen fur die Kulturanalyse fruchtbar zu machen, das vermutlich einflussreichste kulturtheoretische Werk des 20. Jahrhunderts geworden. Zu Freuds von ihm selbst so genannten »metapsychologischen« Schriften gehören weiterhin Totem und Tabu (1913) mit dem Konzept einer konstitutiven Funktion des Inzesttabus und Exogamiegebots fiir Moral und Kultur, Massenpsychologie und IchAnalyse (1921), Das Ich und das Es (1923) und der religionskritische Essay Die Zukunfi einer Illusion (1927). Insbesondere in Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) wird das Verhältnis von Religion und Kultur behandelt (-* Religionspsychologische Theorien). Rivalen, Schüler und Mitstreiter Freuds wie Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Otto Gross, Lou Andreas-Salome, Theodor Reik, Ernest Jones, Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld haben dazu beigetragen, dass Freud die Psychoanalytische Kulturtheorie präzisiert und gegen konkurrierende Konzepte abgegrenzt hat (-•Psychoanalyse).
Theorie Für Freud ist Kultur die Sphäre, durch die sich Menschen gegen die Natur und gegeneinander behaupten; innerhalb der Kultur entwickeln sie Sprache und Schrift, Künste und Techniken, Religionen und Wissenschaften. Kultur ist unverzichtbar fiir ihre Selbstdomestizierung und -disziplinierung. Freud sieht die Kultur in dieser Funktion sowohl positiv als auch kritisch: Sie belastet infolge ihrer Tendenz zur Bildung größerer Gemeinschaften die ihr Zugehörigen mit Normen, Gesetzen und Pflichten, die zwar den sozialen Zusammenhalt stärken, die Einzelnen aber permanent in Konflikt mit ihrer anthropologisch tiefsitzenden Lust- und Glücksorientierung bringen. »Die menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die 374
Beschränkung unserer Triebe. Gefesselte Sklaven tragen den Thron der Herrscherin. [...] Wehe, wenn sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die. Herrin mit Füßen getreten werden« (Freud 1925, GW, Bd. XIV, S. 106). So bleibt unser Verhältnis zur Kultur höchst ambivalent: Sie ist uns nützlich, sogar unentbehrlich, zugleich aber fühlen wir uns von ihr beschränkt, eingeengt und um mögliches Glück gebracht und empfinden daher ein »Unbehagen in der Kultur,« sogar eine gewisse Feindseligkeit gegen sie. Bereits in Die Zukunft einer Illusion hatte Freud die Grundlinien dieses Konzepts skizziert: Kultur ist unabdingbar fur menschliches Leben und Überleben, sie fungiert aber über (z. B. religiöse) Illusionen, geht mit der Erzeugung von Schuldbewusstsein einher und spaltet gewissermaßen die menschliche Persönlichkeit in verschiedene Instanzen: in kulturferne (Es), kulturfreundliche (Ich) und direkt von Agenturen der Kultur in Regie genommene Anteile (Über-Ich). »Immer klarer erkannte ich, daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und [...] Religion [...], nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt« (Freud 1935/1939, GW, Bd. XVI, S.32f.). Der Herausbildung von Ich und Über-Ich in der individuellen Psyche entspricht demnach auf der Bühne der Geschichte die Etablierung einer »zweiten Natur« in Form von Institutionen und Kulturvorschriften (vgl. Rath 1994, S. 25 fr.). Von der ersten Schülergeneration Freuds wird eine Reihe eigenständiger kulturanalytischer Positionen formuliert. Alfred Adler versucht die tiefenpsychologische Denkweise för seine auch an Nietzsche orientierte Sicht der Kultur fruchtbar zu machen (-•Individualpsychologie). Carl Gustav Jungs erstes Hauptwerk Wandlungen und Symbole der Libido (1912) entsteht in direkter Konkurrenz zu Freuds frühen kulturkritischen Ansätzen (-•Analytische Psychologie). In der Folge bilden sich mehrere Spielarten Psychoanalytischer Kulturtheorie heraus. Wilhelm Reich u.a. bemühen sich um eine Synthese von Psychoanalytischer Kulturtheorie und Marxismus, eine Theorieform, die im stalinistischen Russland ebenso wie im nationalsozialistischen Deutschland verboten wird. 375
Bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933 werden auch die kultur- und religionskritischen Bücher Freuds und Wilhelm Reichs öffentlich verbrannt. Rezeption Zur Rezeption der Psychoanalytischen Kulturtheorie können hier nur wenige einflussreiche Schriften genannt werden. Norbert Elias verbindet 1939 in Über den Prozess der Zivilisation historische und analytische Forschungsperspektiven zu einem originellen Konstrukt. Zunehmender Zwang zum Selbstzwang und Erhöhung der Peinlichkeitsschwellen erscheinen ihm als charakteristische Merkmale der neueren europäischen Zivilisationsgeschichte. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno greifen in der Dialektik der Aufklärung zentrale Argumentationsmuster von Freuds Psychoanalytischer Kulturtheorie auf (-•Kritische Theorie), besonders das Thema von Disziplinierungsnormen und durch sie bewirkten Pathologien. Auch weitere Vertreter der Frankfurter Schule wie Erich Fromm und Herbert Marcuse (Triebstruktur und Gesellschaft, 1955) legen vieldiskutierte Beiträge zu einer Psychoanalytischen Kulturtheorie vor. Kulturtheoretische Gesichtspunkte werden insbesondere auch in Ansätzen berücksichtigt, die über die klassische Psychoanalyse hinausweisen (-• Neopsychoanalyse). Für Georges Devereux und Paul Parin sind Freuds Schriften zum Ausgangspunkt fiir Überlegungen zur Ethnopsychoanalyse, Kultur- und Wissenschaftskritik geworden. Alfred Lorenzer formuliert Anregungen Freuds kritisch um und greift sie methodologisch im Sinne einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse auf. Raul Päramo-Ortega betont die Aktualität der Freudschen Kultur- und besonders auch Religionskritik. Literatur
Freud, S. (1930/1999). Das Unbehagen in der Kultur. In A. Freud (Hrsg.). Gesammelte Werke. Bd. XIV. Frankfurt/M.: S. Fischer. Köhler, T. (2006). Freuds Schriften zu Kultur,; Religion und Gesell schaft: Eine Darstellung und inhaltskritische Bewertung Bibliothe der Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial. 376
Weiterführend Rath, N. (1994). Jenseits der ersten Natur: Kulturtheorie nach Nietzsche und Freud. Heidelberg: Asanger. Norbert Rath
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PSYCHOANALYTISCHE THEORIEN DES UNBEWUSSTEN
Wichtige Vertreter/innen Beeinflusst von philosophischen Konzeptionen des Unbewussten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, beginnt Sigmund Freud in den 1890er Jahren eine psychoanalytische Theorie des Unbewussten zu entwickeln. Dabei gibt er die Gleichsetzung des Psychischen mit dem Bewussten auf und rückt das Unbewusste als das »eigentlich reale Psychische« (Freud, 1900, S. 617) ins Zentrum der Psychoanalyse, die er als eine Psychologie des Unbewussten ausarbeitet. Freuds Konzept beinhaltet eine motivationale und sinnstiftende Komponente, die sich durch alle psychoanalytischen Theorien zieht. Das Unbewusste bestimmt Erleben und Verhalten und ermöglicht zugleich ein sinnhaftes Verstehen unterschiedlichster psychischer Phänomene. Zwar gilt das Unbewusste bis heute als Kernkonzept der psychoanalytischen Theorie, doch hat es in den unterschiedlichen Weiterentwicklungen der Freudschen Psychoanalyse andere Akzentuierungen und Ausarbeitungen erfahren (-•Analytische Psychologie). Aus der Vielzahl der Theorien werden - ausgehend von Freuds Beschreibungen - die wichtigsten Auffassungen angeführt.
Theorien Freuds Theorie erfährt in Die Traumdeutung eine erste Fassung und wird in späteren Schriften verändert und weiterentwickelt. Um 1900 entwirft er das Topologische Modell des Psychischen, in dem die drei Systeme des Unbewussten (Ubw), Vorbewussten (Vbw) und Bewussten (Bw) unterscheidet (sogenanntes >Eisberg-Modell Traumtheorien). Melanie Klein greift in ihrer Objektbeziehungstheorie auf Freuds Vorstellungen der Triebe zurück. In ihrer Theorie bilden unbe379
wusste Phantasien, die von Beginn an existieren und psychischer Ausdruck der Triebe sind, den Kern des Ubw. Diese Phantasien haben die Gestalt von guten, also versorgenden, und bösen, frustrierenden Objekten wie z.B. der mütterlichen Brust. Das Ubw wächst dann durch die frühen Objektbeziehungserfahrungen zu einer Welt von verinnerlichten Objekten heran. In der Ich-Psychologie (Heinz Hartmann, Anna Freud) verschiebt sich das Interesse auf grundlegende unbewusste Strukturen und Funktionen des Ichs. Insbesondere Abwehrmechanismen wie z.B. die Verdrängung, die Projektion oder die Verleugnung stellen Phänomene dar, die nicht bewusst stattfinden. In der Selbstpsychologie von Heinz Kohut geht es um die Entwicklung eines gesunden Selbst, das als eine übergeordnete psychische Struktur verstanden wird. Das Ubw besteht in Kohuts Theorie nicht aus abgewehrten Triebwünschen oder Phantasien, sondern aus unerfüllten narzisstischen Bedürfnissen. Ein Kind, das z. B. einen Mangel an Bestätigung und Anerkennung erfahren hat, kann ein überhöhtes, aber unbewusstes Bedürfnis danach besitzen und kann aus diesem Mangel heraus ein Selbst entwickeln, das grandios und mit unrealistischen Eigenschaften versehen ist. Mit der intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse (Stephen Mitchell, Robert Stolorow) rückt die Interaktion mit einem realen Anderen weiter in den Mittelpunkt. Neben einem dynamischen Ubw, das, anders als bei Freud, aus verdrängten realen Interaktionserfahrungen und nicht aus inneren Konflikten besteht, wird von den Autoren ein präreflexives und unvalidiertes Ubw postuliert. Das präreflexive Ubw ist ein aus frühen Interaktionen entstandenes Prinzip, das unbewusst an der Gestaltung und Verarbeitung von neuen Erfahrungen mitwirkt. Das unvalidierte Ubw entwickelt sich aus Erlebnissen, die das Kind nicht mit der Hilfe eines Anderen verarbeiten konnte, und besteht aus ungeklärten, nichtsymbolisierten Erfahrungen und Affektzuständen. Diese früheren unbewussten Beziehungserfahrungen werden im Rahmen der Therapie durch die Übertragung des Patienten neu inszeniert (-• Psychoanalytische Beziehungstheorie). Ein weiteres Modell stellt das Vergangenheits- und Gegenwartsunbewusste von Joseph Sandler dar. Ersteres umfasst implizite Beziehungsmuster sowie früh verdrängte Erfahrungen aus der Kindheit und funktioniert nach den Prinzipien dieser Vergangenheit. 380
Letzteres ist durch neuere Erfahrungen geprägt und versucht mit den frühen biographischen Impulsen im Hier und Jetzt umzugehen. Die psychoanalytische Säuglingsforschung hat Konzepte hervorgebracht, die im Sinne eines nichtverdrängten Ubw verstanden werden können. Daniel Stern geht von nie bewusst gewesenen, präverbalen Interaktionsmodellen (Interaktionsrepräsentanzen) aus, die sich in der Begegnung mit einem Anderen niederschlagen. Martin Domes spricht von einem prozeduralen Ubw, das Handlungs- und Gefiihlsregeln beinhaltet und frei von Sprache sowie von Phantasietätigkeit ist. Darauf aufbauend entstehen ein dynamisches Ubw und unbewusste Phantasien. In den sogenannten romantischen Theorien der Psychoanalyse ist das Ubw zudem die Quelle von Wachstum und Kreativität.
Rezeption Freuds Theorie eines dynamischen, verdrängten Ubw hat in seiner grundlegenden Idee bis heute Bestand. Zwar wendeten sich nachfolgende Autoren häufig von der Triebtheorie ab, das Modell unbewusster intrapsychischer Konflikte und verdrängter Anteile behält jedoch weiterhin Gültigkeit. Durch die Entwicklungen in der Objektbeziehungstheorie, der Selbstpsychologie und der psychoanalytischen Säuglingsforschung hat es allerdings an Bedeutung eingebüßt. Die Annahme früher unbewusster Phantasien wurde seitens der Säuglingsforschung stark kritisiert, die damit verbundene Idee innerer Repräsentanzen früher Interaktionserfahrungen wurde im Sinne eines nichtverdrängten Ubw bis in die Gegenwart weiterentwickelt. Es sind hier vor allem nonverbale Selbst- und Objektbeziehungsstrukturen, die als unbewusste Handlungs- und Gefiihlsmuster auf Verhalten und Erleben einwirken. Durch die Verbindung mit Ergebnissen aus der Kognitions- und Bindungsforschung (-+ Bindungstheorie) haben die psychoanalytischen Konzepte des Ubw eine wichtige Fundierung erfahren und eine größere Relevanz erhalten. Allerdings kommt ihm in Ansätzen, die über die klassische Psychoanalyse hinausfuhren, weniger Bedeutung zu (—• Neopsychoanalyse). Durch die modernen Neurowissenschaften wird die Idee eines Ubw bestätigt, das Verhalten und Erleben wesentlich beeinflusst. Die neurobiologischen Modelle weisen dabei 381
in ihren Beschreibungen Ähnlichkeiten mit frühen psychoanalytischen Konzeptionen auf. Literatur
Freud, S. (1900). Die Traumdeutung. Gesammelte Werke [GW]. Bd II/III (S. 1-642). Frankfurt/M.: S. Fischer. Freud, S. (1916). Das Unbewusste. GW. Bd. X (S. 263-305). Frankfurt/M.: S. Fischer. Kohut, H. (1981). Die Heilung des Selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiterfuhrend Buchholz, M. & Gödde, G. (2005). Macht und Dynamik des Unbewussten. Bd. 1-3. Gießen: Psychosozial. Florian Geyer
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PSYCHOLOGIK
Wichtige Vertreter/innen Die Psychologik wurde von Jan Smedslund begründet, der bisher ihr einziger namhafter Vertreter ist. Elemente seiner Kritik am psychologischen Mainstream finden sich jedoch auch bei anderen Repräsentanten der Disziplin wie Fritz Heider, Uwe Laucken, Jochen Brandtstädter, Andre Kukla oder Peter G. Ossorio. Beziehungen bestehen sowohl zur analytischen Philosophie (Ludwig Wittgenstein, Gilbert Ryle, John Searle, Daniel Dennett u. a.), deren Methode der Sprachanalyse mit Smedslunds axiomatischem Ansatz weitgehend übereinstimmt, wie auch zur phänomenologischen Soziologie (Alfred Schütz, Erving Goffman, Thomas Luckmann, Aaron Cicourel u.a.), die in den Strukturen der Lebenswelt einen ähnlichen Gegenstand bearbeitet wie Smedslund, dessen Anliegen in der Rekonstruktion des psychologischen Alltagswissens liegt.
Theorie Ausgangspunkt der Psychologik ist die Annahme, dass unsere Alltagssprache ein psychologisches Wissen beinhaltet, das umfassend ist und den Menschen erlaubt, sich im Rahmen ihrer lebensweltlichen Interaktionen hinreichend und erfolgreich zu verständigen. Die Psychologik nimmt fiir sich in Anspruch, diese implizite Psychologie aufzudecken, zu rekonstruieren und zu formalisieren. Vergleichbar der euklidischen Geometrie, gewinnt sie dadurch den Charakter eines axiomatischen Systems, indem sie den psychologischen Alltagsverstand in unbestrittene Grundsätze, definierbare Begriffe und daraus abgeleitete Theoreme zerlegt. Insofern die psychologische Alltagssprache nicht kausalistisch, sondern intentionalistisch ist - ihre Kernbegriffe sind Denken, Wissen, Können, Wollen, Fühlen, Sagen und Tun - , handelt die Psychologik von Personen, die Regeln befolgen und ihrem Handeln einen Sinn geben. Dementsprechend sind es nicht (empirische) Fakten, die die Grundlage der Psychologik bilden, sondern (sprachliche) Bedeutungen. Da Bedeutungen in analytischer Beziehung zueinan383
der stehen, lassen sich die Axiome der Psychologik nicht mit den gängigen Verfahren der psychologischen Forschung aufdecken. Methodisch ist die Psychologik; daher auf die Sprach- bzw. Bedeutungsanalyse verwiesen. Ein Beispiel, das Smedslund verschiedentlich anfuhrt, betrifft die Beziehung zwischen einem unerwarteten Ereignis und dem Gefühl der Überraschung. Die Beziehung ist nicht empirischer, sondern sprachlicher Art, weil im Begriff des Ereignisses enthalten ist, dass Menschen überrascht sind, wenn ihnen etwas Unerwartetes zustößt. Semantische Implikationen solcher und ähnlicher Art finden sich gemäß Smedslund in vielen psychologischen Theorien, deren Kernaussagen nicht selten ohne empirischen Gehalt sind. In Bezug auf die Theorie der Selbstwirksamkeitsüberzeugung von Albert Bandura behauptet er beispielsweise, diese beruhe auf Einsichten unserer Alltagspsychologie. Dass wir eher etwas in die Tat umsetzen, wenn wir überzeugt sind, die entsprechende Handlung ausfuhren zu können (so die Grundaussage der Theorie der Selbstwirksamkeitsüberzeugung), sei als Einsicht unartikuliert in unserem psychologischen Menschenverstand enthalten. Den Zusammenhang empirisch überprüfen zu wollen sei nicht nur unnötig, sondern geradezu abwegig. Einer Aussage, die begrifflich wahr ist, empirischen Gehalt zuzuweisen fuhrt zu Pseudoempirie, die gemäß Smedslund in der Psychologie weit verbreitet ist. Von daher erklärt sich auch die Bezeichnung Psychologik: Psychologik ist die Aufdeckung von begrifflichen (»logischen«) Wahrheiten in der Sprache, die wir im Alltag verwenden, um über Psychisches zu sprechen (-* Theorien der Psychologie und Empirie). Rezeption Elemente von Smedslunds Kritik am psychologischen Mainstream finden sich bei einer Reihe von Autoren innerhalb und außerhalb der Psychologie. So beispielsweise bei Klaus Holzkamp, der in Übereinstimmung mit Smedslund von »implikativen CommonSense-Strukturen« (Holzkamp 1993, S.32) spricht, die in psychologischen Theorien enthalten sind. Begriffliche Beziehungen in psychologischen Theorien lassen sich gemäß Holzkamp dadurch 384
aufdecken, dass in Wenn-dann-Aussagen zwischen die Wenn- und die Dann-Komponente das Wort »vernünftigerweise« eingefugt wird. Ergibt der Satz Sinn, so erweist sich die vermeintliche Kausalbeziehung als begriffliche Festlegung, die nicht empirisch, sondern analytisch wahr ist. Holzkamp glaubt allerdings nicht, dass sich die Psychologie im Ganzen auf die Explikation von Alltagswissen zurückfuhren lässt (-> Kritische Psychologie). Indessen scheint dies auch nicht die Ansicht von Smedslund (1991) zu sein, der die Psychologik »a necessary complement to empirical psychology« (S. 325) nennt. Kritisch wird gegen die Psychologik eingewandt, dass sie der Sprache eine zu große Bedeutung beimisst. Auch wenn die Sprache unbestreitbar zum Wesen des Menschen gehört, ist eher unwahrscheinlich, dass sich spezifisch humane Merkmale wie die Fähigkeit, Intentionen und andere mentale Zustände zu erkennen, erst durch die Sprachfähigkeit herausgebildet haben. Das wird von Smedslund insofern anerkannt, als er den Axiomen der Psychologik zwar universellen Charakter zuschreibt, trotzdem aber mit der Möglichkeit rechnet, dass sie unter anderen Lebensbedingungen anders sein könnten. Damit ergibt sich aber die Schwierigkeit, dass die Psychologik mit ihren eigenen Mitteln nicht nachweisen kann, wie weit ihre Grundthese von der Sprachimmanenz des alltagspsychologischen Wissens trägt. In der Rezeption der Psychologik erfährt Smedslunds Kritik an einer Psychologie, die sich um die Klärung ihrer Grundbegriffe wenig kümmert, daher viel Zustimmung, jedoch wird seine Annahme, dass sich zwischen begrifflichen {analytischen) und empirischen (synthetischen) Fragen eine klare Trennungslinie ziehen lässt, eher kritisch beurteilt. Seit Willard Van Orman Quine im Jahre 1959 in seiner Kritik an den Zwei Dogmen des Empirismus die Unterscheidung in analytisch und synthetisch wahre Sätze in Zweifel gezogen hat, wird auch in der -•Wissenschaftstheorie bezweifelt, dass sich die Kernbegriffe einer Disziplin sprachimmanent hinreichend rekonstruieren lassen. Literatur Holzkamp, K. (1993). Lernen: Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/M.: Campus. 385
Smedslund, J. (1991). The pseudoempirical in psychology and the case for psychologic. Psychological Inquiry, 2, 325-338. Smedslund, J. (2004). Dialogues about a new psychology. Chagrin Falls, OH: Taos Institute Publications. Weiterführend Brandtstädter, J., Eckensberger, L.-H., Gadeune, V., Holzkamp, K., Kempf, W., Maiers, W. & Markard, M. (1994). Zur Problematik des Empiriebezugs psychologischer Theorien. Forum Kritische Psychologie, 34, 5-79. Walter Herzog
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PSYCHOLOGISCHE ANSÄTZE MORALISCHER ENTWICKLUNG
Wichtige Vertreter/innen Die einflussreichsten Forscher im Themenbereich der moralischen Entwicklung waren Sigmund Freud, cler die —• Psychoanalyse und den psychoanalytischen Ansatz der Moralentwicklung geprägt hat, B. F. Skinner (1938), der den Behaviorismus und den behavioristischen Ansatz der Moralentwicklung geprägt hat, sowie Jean Piaget (1965) und Lawrence Kohlberg (1969), die die Entwicklung des moralischen Urteilens untersucht haben.
Theorien Das Zusammenleben in einer sozialen Gruppe erfordert u. a. moralische Normen, die das Verhalten der Individuen regeln. Moralische Normen repräsentieren die Einstellungen der Gruppe gegenüber der Frage, was richtig und was falsch ist. Aber wie entstehen diese moralischen Normen in einer Gruppe, und wie entwickeln sie sich im Laufe der Ontogenese? Mit der Beantwortung dieser Fragen beschäftigen sich die Theorien der moralischen Entwicklung. Die wichtigsten Ansätze, die sich mit der moralischen Entwicklung befasst haben, können in drei übergeordnete Ansätze unterteilt werden, nämlich den Behavioristischen, den Psychoanalytischen und den Kognitivistischen Ansatz. Diese Ansätze werden im Folgenden dargestellt. Behavioristischer Ansatz: Skinner (1938) hat moralische Entwicklung als Kombination von klassischer und operanter Konditionierung konzipiert. Insbesondere wurde postuliert, dass die operante Konditionierung im Sinne der positiven Verstärkung von erwünschtem Verhalten und der negativen Verstärkung von unerwünschtem Verhalten des Kindes der Mechanismus ist, durch den moralisches Verhalten geformt wird. Durch diesen Mechanismus wird laut den Behavioristen das Verhalten des Kindes nach und nach modelliert, so dass schließlich die moralischen Normen der Eltern vom Individuum akzeptiert werden (-•Lerntheorien). 387
Psychoanalytischer Ansatz: Von psychoanalytischer Seite wird postuliert, dass nicht nur einzelne Verhaltensweisen durch verschiedene Konditionierungsprozesse erlernt werden, sondern dass aus Gewissensangst eine generalisierte Konformitätsdisposition entsteht, die sich über alle Lebensbereiche erstreckt. Bereits im Laufe der Kindheit, so wird angenommen, werden die Triebe und Bedürfnisse des Kindes kulturell überformt und so die moralischen Normen im Über-Ich repräsentiert. Auf diese Weise entwickelt das Kind generalisierte Verhaltensdispositionen, die immer weniger von externen Einflüssen abhängig sind. Wie bereits im Behavioristischen Ansatz, wird auch im Psychoanalytischen Ansatz dem Individuum eine relativ passive Rolle zugeteilt, obschon dem Individuum eine aktive Rolle im Sinne der Generalisierung der Konformitätsdisposition auf alle Lebensbereiche zugesprochen wird (-•Psychoanalyse). Kognitivistischer Ansatz: In diesem Ansatz wird postuliert, dass die moralische Entwicklung des Individuums nicht lediglich einen passiven Prozess darstellt. Stattdessen wird dem Individuum eine aktive Rolle bei der Gestaltung und Entwicklung seiner moralischen Normen zugeschrieben. Das Individuum setzt sich kritisch mit den eigenen und den fremden moralischen Normen auseinander. Dieser aktive Prozess kann dazu fuhren, dass sich die moralischen Normen des Individuums stark von denen anderer Individuen unterscheiden. Diese Kritikfähigkeit ist allerdings nicht von Anfang an gegeben, sondern entwickelt sich erst mit der kognitiven Entwicklung des Kindes. Ursprünglich wurde angenommen, dass das Kind eine gewisse Anzahl von moralischen Entwicklungsstufen durchläuft, die eng mit der kognitiven Entwicklung zusammenhängen, immer in der gleichen Reihenfolge durchlaufen werden, irreversibel sind und zu einer ganzheitlichen Moralvorstellung fuhren, die sich unmittelbar im Denken, Erleben und Verhalten des Individuums niederschlägt. So ging Piaget (1965) davon aus, dass die moralische Entwicklung im Laufe der kindlichen Entwicklung durch einen ständigen und aktiven Konstruktionsprozess immer generalisierter, realitätsorientierter und abstrakter wird. Das Individuum wird demnach als aktiver Ko-Konstrukteur seiner moralischen Entwicklung konzipiert. Kohlberg (1969) nahm das Konzept der Entwicklungsstufen von Piaget auf und baute es zu einem detaillierteren Stufenmodell der moralischen Entwicklung 388
aus. Er konzipierte ein Modell mit insgesamt drei übergeordneten Niveaus: Das präkonventionelle, das konventionelle und das postkonventionelle Niveau. Wie bereits bei Piaget wird auch hier eine Entwicklung von einfachen (z. B. Vermeidung von Strafen auf der Präkonventionellen Stufe) hin zu komplexen moralischen Prinzipien postuliert (z. B. Achtung der menschlichen Würde auf der postkonventionellen Stufe). Der kognitivistische Ansatz hat sich nach der Kognitiven Wende in der Psychologie als fruchtbarster Ansatz durchgesetzt und ist in weiterentwickelter Form in der aktuellen Forschung wiederzufinden (-•Genetische Epistemologie). Rezeption Obschon alle der oben beschriebenen Ansätze auch heute noch zumindest teilweise als bestätigt gelten und aufeinander aufbauen, gibt es in der heutigen Forschung einige Weiterentwicklungen, die auf verschiedenen Kritikpunkten basieren. Kritisiert wurden am Kognitivistischen Ansatz vor allem die Annahmen, dass es universell gültige moralische Prinzipien gebe, dass die Stufenabfolge der moralischen Entwicklung invariant sei und dass moralisches Urteilen das Handeln unmittelbar beeinflusse. Elliot Turiels Moralische Domänentheorie aus dem Jahre 1983 postuliert, dass es nicht nur ein System von moralischen Vorstellungen gibt, sondern mehrere potentiell zueinander in Widerspruch stehende Systeme. Im Rahmen von Turiels Theorie konnte auch gezeigt werden, dass der Verlauf der moralischen Entwicklung nicht unbedingt linear sein muss, sondern auch u-förmig verlaufen kann. Somit ist die Annahme einer irreversiblen Entwicklungsabfolge zu relativieren. Weiterhin wurde die Annahme, dass moralisches Urteilen das Handeln unmittelbar beeinflusst, in verschiedenen Studien relativiert, so dass die Frage aufkam, wieso Menschen sich moralisch verhalten. In diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle des Altruismus, der moralischen Emotionen und der moralischen Motivation erforscht (Nunner-Winkler, 2012).
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Literatur
Kohlberg, L. (1969). Stage and sequence: The cognitive-developmental approach to socialization. In D. Goslin (Ed.), Handbook ofsocialisation theory and research (pp. 347-480). New York, NY: Mc Nally & Company. Piaget, J. (1965). The moral judgment of the child. New York, NY: Free Press. Skinner, B. F. (1938). The behavior of organisms: An experimental analysis. Oxford, UK: Appleton-Century.
Weiterführend Nunner-Winkler, G. (2012). Moral. In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 521-541). Weinheim: Beltz. Fabio Sticca
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RELIGIONSPSYCHOLOGISCHE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Im Zentrum der Religionspsychologie steht die empirische Erfassung religiöser Erlebens- und Verhaltensweisen, insbesondere die Beschreibung der psychologischen Mechanismen, der Entstehung und der Auswirkungen von Religiosität und Spiritualität (z. B. Motive für den Gottesglauben, mystische Erfahrungen, Funktionalität von religiösen Ritualen etc.). Im Spannungsfeld zwischen empirischer Psychologie, Religionswissenschaft und Theologie stehend, fragt die Religionspsychologie nicht nach der Existenz Gottes, sondern danach, wie die Vorstellung von Gott das menschliche Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst. Sie hat ihre Wurzeln in den USA; führende dortige Vertreter sind etwa William James (18421910), Stanley Hall (1844-1924), James Leuba (1867-1946), Gordon W. Allport (1897-1967), Charles Y. Glock (*i9i9); in Deutschland sind etwa zu nennen: Wilhelm Wundt (1832-1920), Oswald Külpe (1862-1915), Karl Girgensohn (1875-1925), Sigmund Freud (18561939) und Carl Gustav Jung (1875-1961). Aber auch in Skandinavien wurde mit der -»• Rollentheorie der religiösen Erfahrung von Hjalmar Sunden (1908-1993) ein wichtiger Ansatz der Religionspsychologie etabliert.
Theorien In der Religionspsychologie basieren die theoretischen Ansätze auf verschiedenen Grundlagen, beispielsweise der individuellen Erfahrung, den kognitiven und emotionalen Entstehungsbedingungen oder der Motiv- und Persönlichkeitsstruktur eines religiösen Menschen. Phänomenologisch-deskriptive Theorie der Religiosität: William James betonte in seiner Theorie den Eigencharakter des Religiösen und lehnte sich dabei eng an die Theorie des protestantischen Theologen Friedrich Daniel Schleiermacher an. In James' Werk Die Vielfalt religiöser Erfahrung unterscheidet er institutionelle von persönlicher Religion. Letztere steht im Zentrum seiner Aufmerksam391
keit: die individuelle religiöse Erfahrung, die aus der unmittelbaren Beziehung zu Gott gewonnen werde. Durch Introspektion und Einfühlen werde der Mensch einer tiefen Religiosität teilhaftig, die ihren Ursprung im Unbewussten (bzw. Subliminalen) habe. Ganz dem Pragmatismus verpflichtet, sah James in religiösen Überzeugungen die Grundlage fiir Handlungen in der Lebenswelt. Er vertrat einen religiösen Pluralismus und sah in allen Religionen einen Kern reiner Erfahrung, die z. B. in mystischen Erfahrungen oder veränderten Bewusstseinszuständen (in der Ekstase) zum Ausdruck komme. Kognitiv-emotionale Theorie der Religiosität: In enger Anlehnung an James suchte Karl Girgensohn einen empirischen Zugang zum religiösen Erleben. In seiner Schrift Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens (1921) adaptierte er die Introspektionsmethode der Würzburger Schule (Oswald Külpe) für die experimentelle Untersuchung des Religiösen. Er legte seinen Versuchspersonen religiöse Texte (z. B. Gedichte) vor und protokollierte die Berichte der Probanden hinsichtlich Erlebtem, Assoziationen und Gefühlen. Ebenso erfasste er die Dauer des Berichtens. Girgensohn konnte verschiedene Komponenten des religiösen Erlebens identifizieren: Gefühle (Organempfindungen, Lust- und Unlustzustände, Intuitionen) sowie Gedanken und Willensprozesse. Als Ausdruck des intuitiven Denkens und der Ich-Funktionen betrachtete er insbesondere mystische Erfahrungen, da hier der gewöhnliche Bewusstseinverlauf unterbrochen und abgeändert werde. Tiefenpsychologische Theorien der Religion: Sowohl die -•Psychoanalyse Sigmund Freuds als auch die Analytische Psychologie C. G. Jungs haben sich mit der Psychologie der Religion beschäftigt und teilten die Annahme Wilhelm Wundts, dass die Religion ihren Ursprung in der Phantasiebildung habe. Die psychoanalytische Perspektive ist stark durch den einengenden, verbietenden Charakter der Religion bestimmt. Religion wird mit Zwang und Schuld gleichgesetzt und psychopathoiogisiert (Zwangsneurosenhypothese). Wie bei der Zwangsneurose liegt der Religion hier die Verdrängung und Unterdrückung sozialschädlicher Triebregungen zugrunde. Folge seien Schuldbewusstsein und Angst vor einer göttlichen Strafe, welche durch religiöse Bußhandlungen (ritueller Wiederholungszwang) vermieden werden sollen. Auf der anderen Seite sah Freud die Religiosität als einen regressiven Wunsch nach dem Schutz eines allmächtigen Vaters {Regressionshypothese). Ausgehend 392
vom Ödipuskomplex, der gefuhlshaften Ambivalenz des Sohnes gegenüber dem Vater, entwickelt der Mensch das Bild eines allmächtigen Vaters, der dem Sohn in seiner Ohnmacht zur Seite steht. In der Neopsychoanalyse gewinnt zunehmend die Mutter die Bedeutung des Ortes der Sicherheit (z. B. bei Erik Erikson). Für Freud war die Religion lediglich eine Illusion, die den Menschen von dem eigentlich befriedigenden Realitätsbezug abhalte. In der -•Analytischen Psychologie C. G. Jungs werden die Gottesbilder (christlich Gott, indisch Atman oder chinesisch Dao) mit dem Archetypus des Selbst gleichsetzt. Religiosität basiert bei Jung wie schon bei William James auf persönlicher Erfahrung. Der Prozess der Individuation ermögliche es, das Numinose zu erleben, indem das Ich aufgegeben und zum Selbst (Göttlichen) werde. Religionen sind in den Mythen und Bildern (Archetypen) des kollektiven Unbewussten verankert. Motivationstheorie der Religiosität: Gordon W. Allport (1959) betonte in seiner persönlichkeitspsychologischen Konzeption der Religiosität die Vielfalt individueller und subjektiver Formen der Religiosität. Er untersuchte hierbei den Stellenwert religiöser Erfahrung in der Motivstruktur und Dynamik der menschlichen Persönlichkeit (-* Motivationspsychologie). Er sah drei Quellen religiöser Erfahrungen: (1) organische, körperbedingte Wünsche wie den Schutz vor Naturkatastrophen und Krisen - Gott ist hier die Quelle fur Zuwendung und Trost, (2) psychogene Bedürfnisse nach Werten (persönliche Unantastbarkeit, Schönheit in der Kunst, Liebe in Beziehungen) und (3) die Suche nach dem Sinn des Ganzen - die Frage nach der Bedeutung des eigenen Lebens in der Welt. Die Kategorien von emotionalen und kognitiven Motiven der Religiosität führten ihn zur Unterscheidung zwischen intrinsischer (innige Gottesverbundenheit) und extrinsischer Religiosität (Suche nach Trost und/oder Status und sozialen Kontakten). Ganz entscheidend für Allport ist der Einfluss der Religiosität auf das Selbstbild eines Menschen. Theorie des Religiösen Commitment: Charles W. Glock (1962) postulierte in seinem soziologischen Modell fiinf repräsentative Dimensionen, die in allen größeren Religionen beobachtbar und nicht redundant sind. Die innere Struktur der Religiosität setzt sich aus den folgenden Ausdrucksformen zusammen: (1) Ideologie (Glaubensaussagen und Bekenntnisse), (2) Erfahrung (individuelle Erfahrungen z.B. mystische), (3) Intellekt (z.B. Reflexion ethi393
scher Folgen), (4) Ritual (Gottesdienst) und (5) Devotion (Gebet). Zudem nahm er einen weiteren Faktor an: die Konsequenzen der Religiosität im Alltag. Glock ging nun davon aus, dass, wenn eine Ausdrucksform aktiviert wird, die anderen Dimensionen auch berührt und beeinflusst werden. Rezeption Stefan Huber (2003) setzte sich mit den Theorien von Allport und Glock auseinander und betonte, dass die Religiosität einer Person als Funktion der Zentralität oder Bedeutsamkeit des Glaubenssystems und spezifischer religiöser Inhalte verstanden werden kann. Die Zentralität gibt hierbei an, wie stark der Einfluss der Religiosität auf das Verhalten ist. Demgegenüber bestimmen die religiösen Inhalte die Richtung dieses Einflusses. In einem von Huber neu entwickelten Instrument werden beide Komponenten getrennt erhoben. Im Rahmen seines Messmodells erfasste Huber folgende Bereiche: (1) kognitives Interesse an religiösen Fragen, (2) religiöse Ideologie (Existenz einer transzendenten Realitätsebene), (3) Gebet (aktiver Bezug zu einer transzendenten Realitätsebene), (4) religiöse Erfahrung (Wahrnehmung und Erfahrung einer transzendenten Realitätsebene) und (5) Gottesdienst (Häufigkeit und Intensität des Gottesdienstbesuches). Literatur Grom, B. (1992). Religionspsychologie. München: Kösel. Henning, C., Murken, S. & Nestler, E. (Hrsg.). (2003). Einfahrung in die Religionspsychologie. Paderborn: Schöningh. Huber, S. (2003). Zentralität und Inhalt: Ein neues multidimensionales Messmodell der Religiosität. Opladen: Leske & Budrich. Weiterführend Heine, S. (2005). Grundlagen der Religionspsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Uwe Wolfradt 394
RISIKOWAHL-MODELL
Wichtige Vertreter/innen Mit dem Risikowahl-Modell formulierte John Atkinson (1957) eine grundlegende Theorie des Leistungsverhaltens. Die Theorie ist eine Weiterentwicklung der Theorie der resultierenden Valenz von Kurt Lewin und der grundlegenden Arbeiten von David C. McClelland zum Leistungsmotiv (McClelland, Atkinson, Clark & Lowell, 1953).
Theorie Das Risikowahl-Modell soll der Vorhersage von Leistungshandeln auf der Basis individueller Leistungsmotivation dienen. Es wurde primär fiir das Wählen von Aufgaben mit offenem Ausgang (Risiko) formuliert. Die Leistungsmotivation wird über verschiedene Modellparameter des Risikowahl-Modells bestimmt. Dabei werden nicht nur Erwartung und Wert (Anreiz) einer Leistungsaufgabe, wie bei klassischen Erwartungs-Wert-Theorien, berücksichtigt, sondern zusätzlich zu diesen Situationsfaktoren auch als zeitlich relativ stabiler Personfaktor das individuelle Leistungsmotiv. Aus der Wechselwirkung dieser Person- und Situationsfaktoren ergibt sich der Zustand der Leistungsmotivation. Bei dem fiir die Personseite postulierten Leistungsmotiv werden zwei Komponenten unterschieden, ein Erfolgsmotiv (»Hoffnung auf Erfolg«) und ein Misserfolgsmotiv (»Furcht vor Misserfolg«). Ein hohes Erfolgsmotiv regt an, Situationen aufzusuchen, in denen man Erfolge erreichen kann, letztendlich um durch Erfolg positiven leistungsbezogenen Affekt (Stolz) zu erfahren. Das Misserfolgsmotiv ist hingegen eine Disposition, Misserfolge zu meiden, um keinen mit einem Misserfolg verbundenen negativen leistungsbezogenen Affekt (Beschämung) erfahren zu müssen. Ein zentrales Merkmal des Risikowahl-Modells ist, dass die Situationsfaktoren (Anreiz und Erwartung) voneinander abhängig sind: Je geringer die subjektive Wahrscheinlichkeit eines Erfolges bei einer Aufgabe ist, umso höher wird ihr Anreiz eingestuft. Ist ein 395
Erfolg dagegen sehr wahrscheinlich - wie beim Vorliegen einer sehr leichten Aufgabe - , ist der Anreiz der Aufgabe gering. Im Modell können sowohl Anreiz als auch Erwartung Werte zwischen o und i annehmen. Der Anreiz ergibt sich folglich als i minus Erfolgswahrscheinlichkeit. Liegt die Erfolgswahrscheinlichkeit bei 0,1, ergibt sich ein Wert von 0,9 für den Anreiz. Welche Motivationstendenzen sich daraus ergeben, hängt vom Personfaktor, d. h. der Ausprägung von Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg, ab. Bei einer subjektiv gleich schwierigen Aufgabe wird Erfolg fiir Individuen mit großer Hoffnung auf Erfolg bedeutsamer sein als für Individuen mit geringer Hoffnung auf Erfolg. Bei der gleichen Aufgabe wird ein Misserfolg fiir Personen mit starkem Misserfolgsmotiv bedeutsamer sein als fiir eine Person mit niedriger Furcht vor Misserfolg. Durch die Einbeziehung dieser Personkomponente als Gewichtungsfaktor geht das Risikowahl-Modell über die üblichen Erwartungs-Wert-Theorien hinaus. Die größte Aufgabenmotivation ergibt sich, wenn eine Aufgabe eine mittlere Erfolgswahrscheinlichkeit, also 0,5, hat. Da Erfolgsanreiz und Erfolgswahrscheinlichkeit, wie oben ausgeführt, voneinander abhängen, ergibt sich bei einer mittelschweren Aufgabe auch ein Anreiz von 0,5. Das Produkt der Situationsfaktoren erreicht hier also seinen größtmöglichen Wert. Gleichzeitig kann die höchste Motivation sein, Erfolg aufzusuchen, aber auch die höchste Motivation, Misserfolg zu meiden. Was sich durchsetzt, hängt von der individuellen Ausprägung der Motivkomponenten »Hoffnung auf Erfolg« und »Furcht vor Misserfolg« ab. Aufgrund der bisher dargestellten gegenseitigen Beziehungen der Modellparameter trifft das Risikowahl-Modell für die Aufgabenwahl erfolgs- und misserfolgsmotivierter Personen folgende Vorhersagen: Erfolgsmotivierte wählen bevorzugt Aufgaben, die subjektiv betrachtet mittelschwer sind; hier strengen sie sich am meisten an und zeigen maximale Ausdauer. Misserfolgsmotivierte meiden generell Leistungsanforderungen. Allenfalls wählen sie Aufgaben, die subjektiv entweder sehr leicht oder sehr schwer sind. Bei mittlerer Schwierigkeit zeigen sie minimale Anstrengung und Ausdauer.
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Rezeption
Das Risikowahl-Modell kann als forschungsleitendes Modell der Leistungsmotivationsforschung bezeichnet werden. Es hat zahlreiche empirische Forschungsarbeiten und Theorieentwicklungen entscheidend angeregt und beeinflusst. Die Verknüpfung von Situationsparametern mit Personfaktoren machte es zu einem Grundmodell der modernen Motivationsforschung (-* Motivationstheorien). Zahlreiche empirische Untersuchungen konnten die Annahmen des Risikowahl-Modells in Grundzügen bestätigen. In seiner Anwendbarkeit unterliegt es allerdings einigen Einschränkungen: So ist es etwa nur für den Fall einer allein leistungsthematisch determinierten Aufgabenwahl konzipiert. Verschiedene Modellrevisionen versuchten, abweichenden Ergebnissen Rechnung zu tragen und neue Phänomenbereiche zu erschließen. So ging es auch darum, das Risikowahl-Modell auf andere Motivbereiche (z.B. Affiliation) zu übertragen (-•Affiliationstheorie). Dabei ergaben sich allerdings diverse Probleme, etwa zur Definition und Operationalisierung der Modellparameter (-•Theorien der Psychologie und Empirie), aber auch bezüglich der grundsätzlichen Frage nach der Rationalität von Wahlentscheidungen, die für leistungsbezogene Aufgabenwahlen noch einigermaßen gegeben sein mag, für andere Motive aber doch eher nur eingeschränkt postuliert werden kann. In den 1970er Jahren setzte eine attributionstheoretische Elaboration des Leistungshandelns ein. Bernard Weiner (1974) ergänzte das Risikowahl-Modell um Erklärungen der Ursachen von Erfolg und Misserfolg. Diese Attributionsprozesse beeinflussen sowohl die Erwartungs- als auch die Wertkomponente. Die Attributionsprozesse hängen ihrerseits wiederum vom Motivfaktor, Hoffnung auf Erfolg versus Furcht vor Misserfolg, ab (-•Attributionstheorie).
Literatur Atkinson, J. W. (1957). Motivational determinants of risk-taking behavior. Psychological Review, 64, 359-372. McClelland, D. C., Atkinson, J. W., Clark, R. A. & Lowell, E. L. 397
(1953)- The achievement motive. New York, NY: Appleton-Century-Crofts. Weiner, B. (1974). Achievement motivation and attribution theory. Morristown, NJ: General Learning Press.
Weiterführend
Beckmann, J. & Keller, J. (2009). Risiko-Wahl-Modell. In V. Brandstätter & J. H. Otto (Hrsg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie - Motivation und Emotion. Handbuch der Psychologi Bd. 11 (S. 120-125). Göttingen: Hogrefe. Jürgen Beckmann
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ROLLENTHEORIE DER RELIGIÖSEN ERFAHRUNG
Wichtige Vertreter/innen Die Rollentheorie der religiösen Erfahrung hat der Schwede Hjalmar Sunden (1908-1993) zuerst in seinem Buch Religionen och Rollerna (1959) vorgestellt. Diese Theorie hat einen sozialpsychologischen Hintergrund (-•Sozialpsychologische Theorien). Sie gehört zu den bedeutendsten Religionspsychologischen Theorien. Als Dozent fiir Psychologie an einer Polizeischule wurde der Theologe Sunden auf die Aussagen von Zeugen aufmerksam, die objektiv im Unrecht waren, subjektiv jedoch glaubhaft versicherten, etwas gesehen oder erlebt zu haben. Der Theologe dachte an die Heiligen: Auch sie sehen und erleben Welt und Mitmenschen anders als andere. Wie sind solche Unterschiede in der Wahrnehmung zu erklären? Ganz allgemein lautet die Antwort: Jeder nimmt wahr, was er bewusst oder unbewusst erwartet. Seine zur Rollentheorie ausgearbeitete Antwort hat Sunden auf der Grundlage von zwei Grundeinsichten entwickelt: der sozialen Prägung individueller Wahrnehmung der Welt und der Rollentheorie des menschlichen Verhaltens. Sundens Rollentheorie steht der -•Attributionstheorie nahe.
Theorie Sunden unterscheidet zwischen zwei Typen von Menschen, die eine unterschiedliche religiöse Mentalität verkörpern. Der Lehrenmensch setzt Religion mit religiöser Lehre gleich; er lernt sie, um sie zeit seines Lebens als festen dogmatischen Bestand zu behalten. An religiöser Erfahrung hat er kein Interesse, denn diese könnte die Lehre gefährden. Der Rollenmensch dagegen privilegiert die Erfahrung; alles Lehrmäßige in der Religion tritt fiir ihn zurück und mag sogar als überflüssig erscheinen. Die Entstehung einer religiösen Erfahrung (bzw. Wahrnehmung) schildert Sunden als mehrphasigen Vorgang: (1) Prädisposition: Durch langen und intensiven Kontakt mit religiösen Quellen - Erbauungsliteratur, Kirchenliedern und der 399
Bibel - gewinnt der Einzelne eine innere Bereitschaft, religiöse Erfahrungen zumachen. (2) Irritation: Befindet er sich in Situationen, die durch ein hohes Maß von Emotionalität - Freude, Bedrängnis, Angst - gekennzeichnet sind, kann sich ein unbewusstes Suchen nach einem Muster einstellen, das nicht der profanen, rationalen, technischen Welt zugehört. (3) Religiöse Erfahrung: Ist ein relevantes religiöses Muster gefunden, wird es abgerufen. Dann kommt eine Umstrukturierung des Erfahrungsraums und damit eine religiöse Erfahrung zustande. Typisch fiir die dritte Phase ist das Entstehen einer dualen Rollensituation: Der religiös Sozialisierte sieht sich in der Rolle eines Frommen, der sich Gott als (unsichtbarem) Rollenpartner gegenüber weiß. Nach Vorgabe der Tradition kommt dabei Gott die aktive Rolle zu; er ist der primär Handelnde. Durch Gottes Handeln erfährt der religiös Sozialisierte dasselbe wie die Frommen der Überlieferung - etwa Geborgenheit im Schutzraum Gottes, Berufung zu einer besonderen Aufgabe, Hilfe bei einer Entscheidung. Auch erscheinen Ereignisse der Außenwelt als göttliche Schickungen, die vor dem Hintergrund eines religiösen Weltbilds verstanden werden, z. B. als Prüfung, Mahnung, Strafe, Eröffnung eines Wegs, unmittelbare Hilfe. Die erlernten religiösen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster setzen sich bei diesem Vorgang unwillkürlich und unbewusst gegen profane Alltagswahrnehmungen und Alltagsdeutungen durch; gerade kraft ihres unwillkürlichen, automatischen Auftretens gewinnen sie unabweisbaren, existentiellen, lebensprägenden Charakter. Rezeption Der breiten Rezeption von Sundens Rollentheorie in den skandinavischen Ländern steht eine nur schwache Rezeption in anderen Ländern gegenüber. Nils G. Holm hat Sundens Theorie an eine Situation angepasst, in der nur wenige Menschen von einer klaren religiösen Sozialisation geprägt sind, die Mehrheit dagegen von diffusen Einflüssen, die aus Lektüre, Film, Fernsehen und neuen Medien kommen. Auch entdramatisiert er den Begriff der religiösen Erfahrung, der sich bei Sunden primär auf die »große« religiöse Er400
fahrung bedeutender Persönlichkeiten bezogen hat; bei Holm geht es eher um die »kleine«, alltägliche Erfahrung und um die Bildung einer Mentalität, die eine religiöse Weltdeutung zulässt. Literatur Sunden, H. (1966). Die Religion und die Rollen: Eine psychologische Untersuchung der Frömmigkeit. Berlin: De Gruyter. Holm, N. G. (1995). Religious symbols and role taking. In Holm, N. G. & Beizen, J. A. (Eds.). (1995), Sundens Role Theory - an impetus to contemporary psychology of religion (p. 129-145). Abo: Abo Academis. Weiterfuhrend Lang, B. (1998). Sundens Rollentheorie religiöser Erfahrung. In H. Cancik, B. Gladigow & K.-H. Kohl (Hrsg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4 (S. 469-476). Stuttgart: Kohlhammer. Bernhard Lang
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RUBIKON-MODELL DER HANDLUNGSPHASEN
Wichtige Vertreter/innen Das Rubikon-Modell der Handlungsphasen gehört zu den modernen volitionalen Handlungstheorien und baut auf verschiedenen vorauslaufenden theoretischen Ansätzen auf. Unter Volition werden Willens- oder Selbstregulationsprozesse verstanden. Einen Vorläufer des Rubikon-Modells formulierte Leon Festinger 1964, indem er im Rahmen seiner Kognitiven Dissonanztheorie Phasen mit unterschiedlichem Charakter der Informationsverarbeitung unterschied. Er postulierte, dass die Informationsverarbeitung vor Entscheidungen objektiv und unparteiisch, nach Entscheidungen hingegen im Sinne der Entscheidung verzerrt sei (Festinger, 1964). Dies ist auch eine zentrale Aussage des Rubikon-Modells. Jürgen Beckmann thematisierte 1984 Festingers Phasenmodell als Selbstregulationsmodell. Die parteiische Informationsverzerrung nach Entscheidungen (Dissonanzreduktion) dient danach einer Handlungsstabilisierung. Die verschiedenen Modellvorstellungen wurden von Heckhausen Mitte der 1980er Jahre in ein umfassendes struktur-funktionales Handlungsmodell integriert, das RubikonModell der Handlungsphasen.
Theorie Heckhausen konstatierte 1981, dass -•Motivationstheorien den Übergang von der Motivation zum Handeln offen lassen. Um über dieses Handlungsloch zu kommen, bedarf es fiir Heckhausen der verbindlichen Auswahl einer Handlungsalternative mittels eines Entschlusses. Durch den Entschluss wird metaphorisch der Rubikon überschritten (die Metapher geht zurück auf eine Entscheidung Julius Cäsars; gemeint ist ein Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt). Mit dem Entschluss entsteht eine Zielintention, fiir die eine Selbstverpflichtung (commitment) besteht. Das Rubikon-Modell unterteilt eine Handlung in vier Phasen mit unterschiedlichen Funktionen und Zielen. (1) Prädezisionale Phase des Abwägens: Sie hat das Ziel, zu klä402
ren, welche Handlungsalternative gewählt werden soll. Diese Phase, auch Motivationsphase genannt, schließt mit dem Bilden einer Zielintention ab. (2) Präaktionale Phase der Handlungsplanung: Diese bereitet eine Handlung vor, spezifiziert Ausfiihrungsbedingungen und schließt mit der Aufnahme der Handlungsausfiihrung. (3) Aktionale oder Handlungsphase: Sie ist darauf ausgerichtet, eine Zielintention möglichst komplikationslos bis zur Zielerreichung einer Handlung zu realisieren. (4) Postaktionale Phase der Handlungsbewertung: Sie setzt nach Beendigung der Handlungsausfiihrung ein. Es geht darum, die zurückliegende Handlung zu bewerten und abzuschließen, um auf eine neue Handlung umschalten zu können. Ferner postulierte Heckhausen zwei metamotivationale Tendenzen. Im Verlaufe der prädezisionalen Motivationsphase nimmt die Stärke einer Fazit-Tendenz zu, die darauf drängt, das Abwägen zu beenden und zu einem Entschluss zu kommen, um nicht in die missliche Lage von Buridans Esel zu gelangen, der ja zwischen zwei Heuhaufen verhungert sein soll. In der präaktionalen Volitionsphase steigt im Laufe der Zeit eine Fiat-Tendenz an, die darauf drängt, die Handlung aufzunehmen, um nicht die Chance zu verpassen, sie zu realisieren. Heckhausen und Gollwitzer (1987) weisen den verschiedenen Phasen zwei unterschiedliche Bewusstseinslagen zu. Bewusstseinslagen unterscheiden sich durch Gedankeninhalte und den Charakter der Informationsverarbeitung. In den beiden motivationalen Phasen (prädezisionale und postaktionale Phase) sind die Gedankeninhalte auf Anreize und Erfolgswahrscheinlichkeiten von Handlungsalternativen gerichtet (-•Risikowahl-Modell). Dabei ist die Informationsverarbeitung realitätsorientiert. Die Handlungsalternativen werden auf Tunlichkeit und Wünschbarkeit so realistisch wie möglich geprüft. In der prädezisionalen Motivationsphase werden somit Anreize, einschließlich möglicher Folgen, sowie Erwartungsaspekte verschiedener Handlungsalternativen genau bedacht und abgewogen, um die bestmögliche Entscheidung zu treffen. In der postaktionalen Phase ist es wiederum funktional, die abgeschlossene Handlung so realistisch wie möglich zu beurteilen, um festzustellen, ob die Handlung ein Erfolg war oder nicht, ob eventuell Nachbesserungen erforderlich sind oder das eigentliche Ziel 403
verändert werden muss {Soll-Ist- Vergleich) und worauf Erfolg oder Misserfolg zurückzufuhren ist {Kausalattribution). Nur wenn diese rückwärtsgerichtete, realitätsorientierte Evaluation erfolgt, kann es gelingen, die vollzogene Handlung abzuschließen und sich einer neuen Handlung zuzuwenden. Gollwitzer (1999) hat sich in der Weiterentwicklung des Rubikon-Modells speziell dem Problem der Umsetzung von gefassten Zielintentionen in Handeln gewidmet. Hier greift er Kurt Lewins Vorstellung von Vornahmen auf. Er spezifiziert diese in Form sogenannter Ausfuhrungsvornahmen {implementation intentions). Ausfiihrungsintentionen sind Zielintentionen nachgeordnet. In ihnen werden die Ausführungsbedingungen, das Wo, Wann und Wie des Handelns, genauer spezifiziert. Die Forschung zeigt, dass Ausfiihrungsintentionen nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Handlungsinitiierung erhöhen, sondern auch zur Abschirmung des gewählten Ziels und zur Emotionsregulation während einer Handlungsausfixhrung beitragen können.
Rezeption Das Rubikon-Modell hat vielfältige Forschungsarbeiten angeregt. In den letzten Jahrzehnten erfolgte dies insbesondere durch die Forschergruppe von Peter Gollwitzer hinsichtlich der unterschiedlichsten Handlungsfelder, in denen Ausfiihrungsintentionen zum Tragen kommen können. Kritisiert wird am Rubikon-Modell, dass die Abfolge der Handlungsphasen eine idealtypische Vorstellung sei und daher in Reinform in der Realität kaum auftrete. Gerade im Alltag werden viele Handlungen ohne Abwägen und Planen realisiert, insbesondere Gewohnheitshandlungen. Trotz der Kritik hat das Rubikon-Modell Eingang in viele Anwendungsfelder gefunden.
Literatur
Festinger, L. (1964). Conflict, decision, and dissonance. Stanford, CA Stanford University Press. 404
Gollwitzer, P. M. (1999). Implementation intentions: Strong effects of simple plans. American Psychologist, 54, 493-503. Heckhausen, H. & Gollwitzser, P. M. (1987). Thought contents and cognitive functioning in motivational versus volitional states of mind. Motivation and Emotion, 11,101-120.
Weiterfuhrend Achtziger, A. & Gollwitzer, P. M. (2010). Motivation und Volition im Handlungsverlauf. In J. Heckhausen & H. Heckhausen (Hrsg.), Motivation und Handeln (4. Aufl., S. 309-336) Heidelberg: Springer. Jürgen Beckmann
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SELBSTAUFMERKSAMKEITSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Theorie der Selbstaufmerksamkeit gehört zur Theorie der SelbstWahrnehmung und stammt aus dem Bereich der Sozialpsychologie (-•Sozialpsychologische Theorien). Die Theorie wurde 1972 von Shelley Duval und Robert A. Wicklund in ihrem Werk A theory of objective self awareness erstmals erwähnt und später von Frey, Wicklund und Scheier (1978) weiterentwickelt. Die ursprüngliche Theorie unterscheidet zwischen objektiver und subjektiver Selbstaufmerksamkeit. Bei der objektiven Selbstaufmerksamkeit (objective selfawareness) wird der Fokus auf einen selbst gelegt, das heißt, das Individuum sieht sich selbst als das Objekt seiner Aufmerksamkeit und stellt sich in den Mittelpunkt (etwa durch Spiegel, Videoaufnahmen). Im Gegensatz dazu steht die subjektive Selbstaufmerksamkeit {subjective selfawareness), bei der das Individuum die Aufmerksamkeit auf externe Gegenstände legt, das heißt, die Aufmerksamkeit ist weg von der eigenen Person gerichtet und somit auch nicht mehr Objekt der der eigenen Aufmerksamkeit. Das Individuum empfindet sich hierbei als Subjekt der Wahrnehmung von Außenstehenden. Die meiste Zeit befinden sich Personen in einer subjektiven Selbstaufmerksamkeit, beispielsweise bei einem Konzertbesuch. Hier ist die Aufmerksamkeit in der Regel auf den Darbietenden und nicht auf die eigene Person gerichtet.
Theorie Die Selbstaufmerksamkeit ist der aktive Wahrnehmungsprozess des Selbst, also eine Selbstreflexion mit einer daraus resultierenden Änderung des Verhaltens. Der Fokus der Forschung liegt hierbei meistens auf der objektiven Selbstaufmerksamkeit (OSA). Nach Duval und Wicklund (1972) ist es nicht möglich, gleichzeitig subjektiv und objektiv selbstaufmerksam zu sein. Bei der OSA kommt es zur Intensivierung und Akzentuierung der im Fokus stehenden Elemente, z. B. der Stimmung, Ziele oder Verpflichtungen. Zudem kann es zu Diskrepanzen kommen, sofern die Werte und Vorstel406
lungen nicht mit dem realen Selbst übereinstimmen. Diese kognizierte Diskrepanz wird oftmals als aversiv angesehen und erzeugt die Motivation, den Zustand zu ändern und die Situation den Idealen anzugleichen. Sofern allerdings die Erfolgserwartungen gering sind, neigt das Individuum dazu, Selbstaufmerksamkeit zu vermeiden. Fenigstein, Scheier und Buss (1975) haben das Konzept der dispositionellen oder habituellen Selbstaufmerksamkeit entworfen. Hierbei wird davon ausgegangen, dass manche Personen schneller und auch häufiger in einen Zustand der objektiven Selbstaufmerksamkeit fallen. In einem Experiment mit einer Gruppe, bei der die Teilnehmer/innen eine hohe dispositionelle Selbstaufmerksamkeit vorwiesen, sollten im Vergleich zu einer Gruppe mit einer niedrigen dispositionellen Selbstaufmerksamkeit mehr aktuell selbstaufmerksame Personen zu finden sein. Gleiches gilt für Gruppen, die Stimuli, wie z. B. dem Spiegelbild, ausgesetzt werden, im Gegensatz zu einer Kontrollgruppe, die keinen Stimuli ausgesetzt wird. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass man nicht nur zwischen objektiver und subjektiver Selbstaufmerksamkeit unterscheiden kann, sondern zudem zwischen öffentlicher und privater. Bei der privaten Selbstaufmerksamkeit ist die Aufmerksamkeit auf persönliche und interne Aspekte gerichtet, die fiur der eigenen Person zugänglich sind, wie z. B. Gefühle, Motive, die eigene Meinung. Im Gegensatz dazu steht die öffentliche Selbstaufmerksamkeit. Hierbei achtet das Individuum auf die Reaktionen anderer Personen auf die eigene Person (Fenigstein, Scheier & Buss, 1975). In Bezug auf die Auswirkungen der Selbstwahrnehmung auf die Gesundheit sind sich die Forscher uneinig. Diverse Studien konnten nachweisen, dass die öffentliche Selbstaufmerksamkeit etwa bei Menschen mit Essstörungen erhöht ist. Es zeigte sich, dass anorektische Probanden durch den sehr schlanken Körper versuchen, ihrer Umwelt gegenüber einen Eindruck von Kontrolliertheit zu vermitteln. Astrid Hintze konnte 1997 zudem eine Verbindung zwischen Sozialphobien und privater und öffentlicher Selbstaufmerksamkeit nachweisen. Die objektive Selbstaufmerksamkeit gilt auch als ein Faktor zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen. Roy Baumeister schrieb in seinem Buch Escaping the self (1991), dass Alkoholismus, Masochismus, Essstörungen u.Ä. selbstschädigende Verhaltensweisen Versuche sind, der eigenen Person zu entfliehen (-•Personzentrierte Persönlichkeitstheorie). 407
Des Weiteren ist Selbstaufmerksamkeit ein grundlegender Faktor zur Kompetenzentwicklung. Es konnte nachgewiesen werden, dass sowohl die subjektive als auch die objektive Selbstaufmerksamkeit positiv mit sozialer Orientierung korrelieren. Susanne Jurkowski und Martin Hänze haben 2014 darauf aufmerksam gemacht, dass durch die Selbstaufmerksamkeit das eigene Verhalten und die möglichen Konsequenzen fiir die Umwelt reflektiert und gegebenenfalls angepasst werden. Selbstaufmerksamkeit hat auch einen positiven Einfluss in Bezug auf emotionale Kompetenzen (-* Emotionstheorien). Rezeption Die OSA-Theorie ist Basis vieler sozialpsychologischer Theorien, wie beispielsweise zum prosozialen Verhalten oder zur Attribution (-•Attributionstheorie). Bis heute werden weitere Untersuchungen in Bezug auf die Selbstaufmerksamkeit durchgeführt. Sie ist vor allem in der Verhaltensforschung zu Jugendlichen eine weitverbreitete und angesehene Theorie: Es konnte nachgewiesen werden, dass weibliche Jugendliche sowohl eine höhere öffentliche (d. h. auf ihr Erscheinungsbild bezogene) als auch eine höhere private Aufmerksamkeit auf ihren Körper richten als männliche Jugendliche. Der Selbstaufmerksamkeitstheorie zufolge kann diese gleichzeitig als Grund für eine höhere Unzufriedenheit weiblicher Jugendlicher mit ihrem Erscheinungsbild angesehen werden, da hierdurch kognitive Dissonanzen durch den Vergleich mit der Idealvorstellung entstehen (-»Kognitive Dissonanztheorie). Literatur Duval, T. S. & Wicklund, R. (1972). A theory ofobjective selfawareness. New York, NY: Academic Press. Fenigstein, A., Scheier, M. F. & Buss, A. H. (1975). Public and private self-consciousness: Assessment and theory, fournal of Consulting and Clinical Psychology, 522-527. Frey, D., Wicklund, R. & Scheier, M. (1978). Die Theorie der objektiven Selbstaufmerksamkeit. In D. Frey (Hrsg.), Kognitive Theorien der Sozialpsychologie (S. 192-217). Bern: Huber. 408
Weiterführend Silvia, P. J. & Duval, T. S. (2001). Objective self-awareness theory: Recent progress and enduring problems. Personality and Social Psychology Review, 5, 230-241. Petia Genkova
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SELBSTBEOBACHTUNGSKONZEPTE
Wichtige Vertreter/innen
Die Selbstbeobachtung (SB) oder Introspektion ist eine unter theoretischer Fragestellung durchgeführte Methode zum Bemerken, Erkennen, Bekräftigen oder Widerlegen psychischer Zusammenhänge auf der Basis von Erlebnissen (bzw. Phänomenen). Die experimentelle psychologische Wissenschaft basierte im 19. Jahrhundert auf dem Referenzieren von Phänomenen, indem z. B. die subjektiv empfundene Stärke von Sinnesempfindungen mit den Ergebnissen der physikalischen Messung von Reizen in Beziehung gesetzt wird. Wie Gustav Theodor Fechner bekräftigte auch Johannes Volkelt, dass sich zwischen Reiz und Empfindung in der SB unentbehrliche »Bewußtseinsvorgänge« zeigen, ohne die zu erklären jede Psychologie unvollständig bleibt. In seiner Reaktionsmethode deutete Wilhelm Wundt unter Einbeziehung der Selbstbeobachtung das WeberFechnersche Gesetz psychologisch und nicht wie Georg Elias Müller rein physiologisch. Die experimentell und systematisch durchgeführte Selbstbeobachtung von Erlebnissen während der Denkprozesse hatte als Methode der Würzburger Schule unter Oswald Külpe und darüber hinaus in den Löwener, Bonner und Kölner Instituten mit Henry Jackson Watt, Narziß Ach, Karl Bühler, Albert Michotte und Otto Selz zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen großen Einfluss auf die zeitgenössische Psychologie.
Theorie Den Selbstbeobachtungsansätzen ist die unabdingbare Forderung nach einer Beobachtung des psychischen Geschehens im Experiment gemeinsam. Einsichten in psychologische Strukturzusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten im Denkverlauf oder die Mechanismen des »produktiven Denkens« sind nach diesen Theorien außerhalb der Selbstbeobachtung nicht oder nur indirekt zugänglich. Nicht erst seit Rene Descartes und John Locke ist die Selbstbeobachtung Quelle philosophischer Psychologie und notwendig verwoben mit der Erkenntnistheorie. Die Selbstbeobachtung 410
führte philosophische Wegbereiter wie Maine de Biran im frühen 19. Jahrhundert zu einem Begriff der unmittelbaren Apperzeption, einem »inneren Wahrnehmungssinn«, der neben den psychischen Inhalten auf die psychische Tätigkeit selbst gerichtet war. Bei Biran noch stark auf ein »Ich« bezogen, wurde unabhängig davon der Begriff der inneren Wahrnehmung bei Franz Brentano und Carl Stumpf um die Jahrhundertwende zur unmittelbaren Grundlage einer psychologischen Wissenschaft. Nach Carl Stumpf lässt sich eine psychische Funktion nicht für sich, sondern nur als Betätigung an irgendeinem Material wahrnehmen und folglich auch nicht ohne solches vorstellen (-•Phänomenologische Psychologie). Seine Beobachtung, dass sich das Operieren nur im unmittelbar Vergangenen, d.h. im primären Gedächtnis, der Selbstbeobachtung zeigt, schwächte die Einwände des Positivisten Auguste Comte, der Denken und gleichzeitiges Beobachten des Denkens fiir unmöglich hielt. Stumpf stellte den generellen Unterschied zwischen den sinntragenden psychischen Operationen (»Akte als solchen«) und den durch sie bestimmten sinnlichen Inhalten fest, gleichgültig, ob diese empfunden oder vorgestellt sind. Auch die experimentelle Denkpsychologie der Würzburger Schule bezog sich in ihrer Selbstbeobachtungstheorie auf abklingende (perseverierende) Tendenzen psychischer Erlebnisse nach dem Ausfuhren einfacher Denkaufgaben, die von einem Versuchsleiter protokolliert und statistisch ausgewertet wurden. Mit dieser Methode hatte Watt herausgestellt, dass die Reaktionen auf einen Reiz verschiedene Korrelationen zu den gestellten Aufgaben aufweisen und somit als psychologisch determiniert und nicht als rein logisch assoziiert betrachtet werden dürfen. Darüber hinaus zeigte Ach, dass eine Aufgabe unbewusste Grundlage der richtunggebenden Faktoren im Denken sein könne, und bezeichnete diese als determinierende Tendenzen. Von Otto Selz durchgeführte Selbstbeobachtungsversuche und Protokollanalysen mündeten konsistent in seine Komplextheorie als »synthetische Psychologie des Ganzen«. 1913 wies er nach, dass sich Aufgabe und »Reizwort« in einer »Gesamtaufgabe« aneinander anpassen, noch bevor eine Reaktion als Komplexergänzung des schematisch Antizipierten erfolgte. Durch diesen Nachweis veränderte sich der psychologische Aspekt von einem reinen Reiz-Reak411
tions-Modell zu einer operationalen Schematheorie des Denkens (-•Produktionstheorie des Denkens). Karl Bühler fand in den Protokollen seiner Probanden 1907/08 drei Arten von Gedankenmomenten - Intentionen, ein Beziehungsbewusstsein und ein Regelbewusstsein - , aus denen sich verschiedene Gedankentypen zusammensetzen, und bezeichnete die »letzten Erlebniseinheiten der Denkerlebnisse« als Gedanken. 1927 korrigierte er seine Kontroversen auslösende Annahme »rein unanschaulicher Gedanken« und stellte sie in den Zusammenhang einer »Strukturbestimmtheit im Bereich des Phänomenalen«.
Rezeption Die theoretischen Analysen der experimentellen Selbstbeobachtung waren ein Grund der Abkehr von der bis dahin vorherrschenden Assoziationspsychologie (-*Assoziationstheorien). Auf Formalismen verkürzt, fanden viele Ergebnisse aus Selz' Selbstbeobachtungstheorie, z.B. die Rückbezüglichkeit zur Aufgabe und die Einsicht in den Zweck-Mittel-Zusammenhang, Eingang in die Künstliche Intelligenzforschung, etwa 1961 in den General Problem Solver von Herbert A. Simon und Allen Newell. Auch nach der Kognitiven Wende wurde die Selbstbeobachtung meist nur auf Think-aloud-Vvoto\to\\t, d. h. Aufzeichnungen lauten Denkens bei der Ausführung von Aufgaben, beschränkt und im heutigen Mainstream der Psychologie wegen des Einflusses dieser Verbalisierungen auf den Gedankenverlauf in ihrem wissenschaftlichen Wert nicht rehabilitiert (-•Denktheorien). Ein vom Verhalten nicht ableitbarer und vom Sensomotorium abgegrenzter kognitiver Arbeitsbereich zur Problemlösung findet sich neben Wiener in Eric B. Baums domain simulation und z. T. in John J. Clements imagistic simulation. Weitere Parallelen bilden die quasi-sensomotorischen Intuitionen im kreativen Denken (-• Kreativitätstheorien) .
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Literatur
Bühler, K. (1907/08). Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. Archiv fiir die gesamte Psychologiey 9, 60-74; 72,1-23.
Selz, O. (1913). Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufi. Stuttgart: Spemann. Selz, O. (1922). Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums. Bonn: Cohen.
Weiterführend Schwarz, M. (2014). Wendepunkte in der historischen Debatte um die experimentelle Selbstbeobachtung. In T. Eder & T. Raab (Hrsg.), Selbstbeobachtung - Oswald Wieners Denkpsychologie (S. 49-98). Berlin: Suhrkamp. Michael Schwarz
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SELBSTBESTIMMUNGSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen
Edward Deci und Richard Ryan gelten bis heute als bedeutendste Vertreter der von ihnen entwickelten und in verschiedenen Publikationsphasen modifizierten und erweiterten Selbstbestimmungstheorie (.self-determination theory, SDT). Die SDT besteht aus fiinf Subtheorien, die die Autoren als Minitheorien bezeichnen: die kognitive Bewertungstheorie (cognitive evaluation theory), die organismische Integrationstheorie (organismic integration theory), die Kausalitätsorientierungstheorie (causality orientations theory), die Theorie grundlegender psychologischer Bedürfnisse (basic psychological needs theory) und die Theorie der Zielinhalte (goal contents theory).
Theorien Deci und Ryan (1993) beschreiben die SDT als organismisch-dialektische Theorie der Motivation menschlichen Verhaltens. >Organismisch< bedeutet dabei, dass Individuen grundsätzlich nach eigenem Wachstum und Entwicklung streben. >Dialektisch< drückt aus, dass sich menschliche Entwicklung durch die Wechselwirkung von sozialen Einflüssen und individuellen Bedürfnissen vollzieht. Die kohärente Integration intrapsychischer und interpersonaler Erfahrungen in das sich dabei entwickelnde Selbst stellt gleichzeitig Prozess und Ergebnis der organismischen Dialektik dar. Mit der SDT möchten die Autoren bisherige -•Motivationstheorien erweitern, die vorrangig quantitative Unterschiede in der Motiviertheit des Verhaltens konstatieren (wie stark sind Personen motiviert?); qualitative Unterschiede der Motiviertheit des Verhaltens (wodurch sind Personen motiviert?) werden in der SDT durch den Grad der erlebten Selbstbestimmtheit des Verhaltens definiert. Als am stärksten selbstbestimmt beschreiben die Autoren das intrinsisch motivierte Verhalten, das dann vorliegt, wenn Personen frei von Zwängen oder Druck eine sie interessierende Tätigkeit ausführen. 414
Die besonders stark rezipierte Kognitive Bewertungstheorie spezifiziert die Bedeutung sozialer Kontexte fiir die Ausprägung intrinsischer Motivation, z.B. auch die Rolle von Belohnungen (-•Lerntheorien). So konnten die Autoren in einem der Schlüsselexperimente zeigen, dass ursprünglich intrinsisch motiviertes Verhalten durch extrinsische Belohnung untergraben werden kann: Versuchspersonen, die zufällig einer Experimental- oder einer Kontrollgruppe zugeteilt waren, arbeiteten frei an interessanten Puzzles. Nur die Versuchspersonen der Experimentalgruppe erhielten für diese Tätigkeit als Belohnung einen Dollar. Als sie anschließend die Möglichkeiten hatten, sich frei zu beschäftigen, verbrachten Probanden der Experimentalgruppe deutlich weniger Zeit mit Puzzeln als Probanden der Kontrollgruppe, die keine Belohnung erhalten hatten. Deci und Ryan erklärten die »Untergrabung« intrinsischer Motivation durch extrinsische Belohnung damit, dass Personen bei der Ausführung eines Verhaltens gleichzeitig die Ursache fiir das Verhalten bewerten. Erfolgt nun die Belohnung eines ursprünglich intrinsisch motivierten Verhaltens, findet eine kognitive Umbewertung statt: Die Ursache fiir das Verhalten wird nicht mehr innerhalb der eigenen Person, sondern außerhalb der eigenen Person gesehen. Dabei sinkt der wahrgenommene Grad an Selbstbestimmtheit: Intrinsisch motiviertes Verhalten wird zu extrinsisch motiviertem Verhalten. In zahlreichen Folgeexperimenten der Autoren und anderer Forschender zeigten sich jedoch verschiedene Ausnahmefälle für die Gültigkeit der Umbewertungshypothese. Beispielsweise ließ sich der beschriebene Effekt nicht oder sogar ein gegenteiliger Effekt nachweisen, wenn Versuchspersonen ihren Leistungen entsprechend belohnt wurden oder die Belohnung in Form mündlichen Lobes erfolgte. Deci und Ryan legten seit 1985 weitere Überarbeitungen und Ergänzungen der SDT, z.B. in Form der Organismischen Integrationstheorie vor. Darin werden extrinsische und intrinsische Motivation als Pole eines Kontinuums mit verschiedenen Zwischenformen beschrieben und angenommen, dass originär extrinsisch motivierte Verhaltensweisen durch Prozesse der Internalisation und Integration in intrinsisches, selbstbestimmtes Verhalten umgewandelt werden können. In der Theorie grundlegender psychologischer Bedürfhisse postulieren Deci und Ryan als Quellen intrinsischer und extrinsischer Mo415
tivation drei universale, angeborene Bedürfnisse: (i) Das Bedürfnis nach Kompetenz, das in Anlehnung an Robert White das Bedürfnis nach eigener »Wirksamkeit« und Ergebniskontrolle beschreibt; (2) das Bedürfnis nach Autonomie oder Selbstbestimmung in Anlehnung an Richard DeCharms und (3) das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit oder Affiliation in Anlehnung an Harry Harlow (-•Affiliationstheorie). Die Autoren gehen davon aus, dass die Befriedigung dieser Bedürfnisse im Zusammenhang mit den Zielsetzungen von Personen sowie deren psychischem Wohlbefinden steht. In einer weiteren Subtheorie, der Kausalitätsorientierungstheorie beschrieben Deci und Ryan 1985 in einem persönlichkeitspsychologischen Ansatz die voneinander unabhängigen Dimensionen Autonomie- und Kontrollorientierung sowie amotivierte Orientierung zusätzlich als interindividuell variierende, stabile Persönlichkeitsmerkmale. In der Subtheorie der Zielinhalte differenzieren Deci und Ryan zwischen intrinsischen Zielen (z. B. Affiliation, Gesundheit, Selbstakzeptanz), die von inhärenter Bedeutung fiir das Individuum selbst sind und weniger abhängig von der Bestärkung durch andere Personen, und extrinsischen Zielen. Letztere (z.B. finanzieller Erfolg, Ruhm) sind an externale Belohnung und Bestätigung gekoppelt. Rezeption Seit ihrer ursprünglichen Darstellung wurden die in der SDT formulierten Annahmen vielfach überprüft, spezifiziert und kritisiert. Inzwischen liegen verschiedene Metaanalysen zu Kernannahmen der SDT (beispielsweise zum Unterminierungseffekt) vor, die jedoch nicht immer zu einheitlichen Ergebnissen kommen. Kritik an der SDT bezieht sich vor allem auf das im Laufe der Zeit deutlich veränderte Verständnis von intrinsischer und extrinsischer Motivation. 2014 legten Marylene Gagne und Emanuela Chemolli eine umfangreiche methodische Kritik bisheriger Operationalisierungen verschiedener Motivationsformen der SDT vor. Dennoch generiert die SDT bis heute vielfältige Forschungsaktivität und genießt hohe Popularität in verschiedenen Anwendungsbereichen der Psycholo416
gie, insbesondere in der Gesundheits- und Sportpsychologie, der Pädagogischen Psychologie sowie der Organisationspsychologie.
Literatur Bles, P. (2002). Die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan. In D. Frey & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie. Bd. III: Motivations-y Selbst- und Informationsverarbeitungstheorien (S. 234-253). Bern: Huber. Burton, K. D., Lydon, J. E., D'Alessandro, D. U. & Koestner, R. (2006). The differential effects of intrinsic and identified motivation on well-being and performance: prospective, experimental, and implicit approaches to self-determination theory. Journal of Personality and Social Psychology; pi, 750-762. Deci, E. & Ryan, R. (Eds.). (2002). Handbook ofself-determination research. Rochester, NY: University of Rochester Press.
Weiterführend Roth, G., Assor, A., Kanat-Maymon, Y. & Kaplan, H. (2007). Autonomous motivation for teaching: How self-determined teaching may lead to self-determined learning. Journal of Educational Psychology, pp, 761-774. Lysann Zander
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SELBSTWERTSCHUTZ UND SELBSTWERTERHÖHUNG
Wichtige Vertreter/innen Das Selbstwertgefiihl definiert sich als eine subjektive Einschätzung der eigenen Wertigkeit. Dabei wird zwischen globalem Selbstwert als einer generellen Einschätzung und bereichsspezifischem Selbstwert als einer differenzierten Einschätzung (zu sportlichen, sozialen, intellektuellen Aspekten etc.) unterschieden. In den 1960er Jahren wurde die Forschung zum Selbstwert und zur Selbstwertveränderung wesentlich durch Morris J. Rosenberg geprägt. Sein als Rosenberg-Skala bekanntes Messinstrument wird auch heutzutage noch zur Erhebung des globalen Selbstwertes verwendet. Selbsteinschätzungen gehen mit positiven und negativen Emotionen einher und stellen somit eine affektive Selbstbewertung dar. Anfang der 1990er Jahre vertrat man in der Selbstwertforschung die Vorstellung, dass der Selbstwert nicht unbedingt eine überdauernde Selbsteinschätzung darstellt, sondern sich auch kurzfristig, durch situationsbedingte Selbsteinschätzungen, verändern kann. Man begann zwischen habituellem Selbstwert (überdauernde Selbstbewertung bzw. Persönlichkeitsmerkmal) und momentanem Selbstwert (kurzfristig veränderbarer Aspekt bzw. »State-Aspekt«) zu unterscheiden. Angesichts der Veränderbarkeit in der Selbstwertausprägung wurde in den späten 1990er Jahren verstärkt eine zugrunde liegende Motivation in den Vordergrund gerückt, die dazu fuhrt, dass Menschen ihren Selbstwert auf einem bestimmten Level halten wollen (-•Motivationstheorien). Einbrüche im Selbstwert gehen mit negativen Emotionen einher und belasten schließlich das psychologische Wohlbefinden (-•Emotionstheorien). Ein hoher Selbstwert hingegen bringt Menschen ganz bestimmte Vorteile wie beispielsweise die hohe Beharrlichkeit, trotz eintretender Misserfolge weiterzumachen.
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Theorien
Die zentrale Annahme der Motive des Selbstwertschutzes und der Selbstwerterhöhung ist, dass Menschen grundsätzlich motiviert sind, ihr Selbstwertgefuhl zu schützen bzw. zu erhöhen. Die meisten Menschen haben demgemäß ein positives Selbstbild und geben an, dass sie mehr positive und weniger negative Eigenschaften besitzen als andere Menschen {better-than-average-ejfect). Ebenso sind die meisten Menschen in Leistungssituationen geneigt, sich unabhängig von ihrer tatsächlich gezeigten Leistung als überdurchschnittlich und außergewöhnlich wahrzunehmen ( 437-467. Bernd Six
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SOZIALE KATEGORISIERUNG UND DISKRIMINIERUNG
Wichtige Vertreter/innen Die Ansätze sozialer Kategorisierung und Diskriminierung basieren auf der Stereotypen- und Vorurteilsforschung. Der Stereotypenbegriff wurde von dem Journalisten Walter Lippmann 1922 auf soziale Themen übertragen. Es handelt sich bei Stereotypen um sozial geteilte kognitive Komponenten von Einstellungen bezüglich Merkmalen, die den Mitgliedern einer sozialen Gruppe zugeschrieben werden; bei Vorurteilen hingegen um affektive Komponenten von gruppenbezogenen Einstellungen wie z. B. Bewertungen. Gordon Allport (1954) führte den Begriff Diskriminierung in die Sozialpsychologie ein (-• Sozialpsychologische Theorien). Als wichtige Grundlage der sozialen Diskriminierung entwickelte Erving Goffman in seinem 1963 publizierten Buch Stigma einen Begriff der sozialen Identität, der auf sozialer Zuschreibung beruht. Henri Tajfel definierte 1981 den Begriff soziale Identität als das eigene Wissen um die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen (-• SozialeIdentität-Theorie). Thomas Pettigrew und Roel Meertens belebten die Vorurteilsforschung 1995 neu, indem sie zeigten, dass in Westeuropa zahlreiche subtile Intergruppen-Vorurteile existieren. Einen umfangreichen Forschungsüberblick enthält Susan Fiske (1998).
Theorien Soziale Kategorisierung: Soziale Diskriminierung ist eng verbunden mit sozialer Kategorisierung, da kategoriale Wahrnehmung eine wichtige Voraussetzung fiir eine soziale Diskriminierung bildet. Eine soziale Kategorisierung kann auf biologische Merkmale, auf die nationale und regionale Herkunft oder auf Gruppenzugehörigkeiten zurückgreifen. Möglich sind dabei auch Gruppenbezeichnungen, die Individuen lediglich aus der Eigengruppe ausschließen (Beispiele: »Neuankömmling«, »Fremder« usw.). Die Begriffe »soziale Kategorie« und »soziale Gruppe« werden häufig äquivalent verwendet. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen einer sozialen Kategorie (einer Menge von Entitäten) und einer sozialen 433
Gruppe (einer einzelnen Entität). Der Unterschied liegt darin, ob Stereotype und Vorurteile mit einzelnen Individuen verbunden werden oder aber mit der Gruppe als Ganzem. Verwendet man beide Begriffe parallel, können sich soziale Kategorisierungen (i) auf soziale Gruppen als Ganzes beziehen, (2) auf einzelne Mitglieder einer Gruppe und (3) auf Individuen, die einer bestimmten sozialen Kategorie zugeordnet werden, die aber nicht explizit genannt wird (Beispiel: »Die von drüben kommen«). Ausgehend von der Vorurteilsforschung setzten Tajfel und Turner (1979) soziales Kategorisieren in Beziehung zu sozialen Gruppenkonflikten. Das von Tajfel 1970 formulierte Minimal-group-Paradigma zeigt, dass soziale Kategorien nicht nur real existierende Gruppen bezeichnen können, sondern auch Ad-hoc-Qruppen. Somit sind nicht nur Mitglieder bereits etablierter sozialer Gruppen kategorisierbar (und damit auch diskriminierbar), sondern beliebige Personen; denn passende Kategorien können zu diesem Zweck ad hoc gebildet werden (etwa: »Alle, die nicht von hier sind«). Soziale Diskriminierung: Bei der kategorialen Behandlung wird eine Person als Angehörige/r einer sozialen Kategorie und nicht als Individuum behandelt. Der Terminus Diskriminierung wurde in der UN-Charta von 1949 folgendermaßen definiert: »Diskriminierung umfasst jedes Verhalten, das auf einer aufgrund von natürlichen und sozialen Merkmalen getroffenen Unterscheidung beruht, die in keinem Verhältnis zu individuellen Fähigkeiten oder Verdiensten oder zum konkreten Verhalten einer Person steht.« Allport (1954, S. 50; Übersetzung F.W.) formulierte darauf aufbauend die Definition sozialer Diskriminierung: »Diskriminierung besteht nur dann, wenn wir Personen oder Personengruppen eine von selbigen geforderte Gleichbehandlung verwehren.« Eine soziale Diskriminierung basiert somit auf der Zuschreibung einer sozialen Identität und einer daraus resultierenden Ungleichbehandlung. Tajfel definierte 1981 soziale Identität als das Wissen eines Individuums darüber, welchen sozialen Gruppen es angehört. Soziale Identität fasst er dabei als hypothetische kognitive Struktur auf, die Teil eines umfassenderen Selbstkonzepts ist. Im Unterschied dazu verstand Goffman soziale Identität als Resultat einer Zuschreibung durch Dritte. Soziale Diskriminierungen basieren dementsprechend auf einer Fremdperspektive. Für die Forschung bietet dieser Ansatz den Vorteil, beurteilen zu können, ob eine (potentielle) Diskrimi434
nierung vorliegt, ohne das Selbstkonzept der betroffenen Personen erheben zu müssen. Auch können potentielle Diskriminierungen erfasst werden, ohne dass geklärt werden muss, ob die betroffene Person sich diskriminiert fühlt oder ob die Diskriminierung intendiert war. Rezeption In der Forschung wurde einerseits nach den Gründen für soziale Diskriminierungen und nach Möglichkeiten, diese zu beheben, geforscht; andererseits auch nach den bereits von Allport erwähnten Folgen der Diskriminierung bei Betroffenen, etwa nach den Auswirkungen auf deren sozialen Status und Gesundheit. In den Bereichen Prävention und Intervention wurde die von Allport formulierte Kontakthypothese intensiv überprüft, die von einer Verringerung der Vorurteile durch Kontakte zwischen den jeweiligen Gruppen ausgeht. Ebenso wurde die Akkulturationshypothese diskutiert (-•Akkulturations- und Migrationstheorien), die eine Veränderung durch intensiven Austausch zwischen verschiedenen Kulturen propagiert. Weiter wurden die Ansätze der De- und Rekategorisierung diskutiert, die darauf abzielten, die kategoriale Wahrnehmung aufzulösen respektive Eigen- und Fremdgruppe in eine gemeinsame übergeordnete Kategorie einzubetten. Ebenfalls im Fokus stand das Verfahren des Diversity Managements zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Minderheiten. Literatur Allport, G. W. (1954). The nature of prejudice. Cambridge, MA: Addison-Wesley. Fiske, S. T. (1998). Stereotyping, prejudice and discrimination. In T. D. Gilbert, S. T. Fiske & G. Lindzey (Eds.), The handbook of socialpsychology, Vol. 2 (pp. 357-411). Boston, MA: McGraw-Hill. Tajfel, H. & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of intergroup conflict. In W. G. Austin & S. Worchel (Eds.), The social psychology ofintergroup relations (pp. 33-47). Monterey, CA: Brooks/Cole. 435
Weiterführend
Petersen, L.-E. & Six, B. (Hrsg.) (2008). Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung: Theorien, Befunde und Interventionen Weinheim: Beltz. Franc Wagner
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SOZIALE VERGLEICHSTHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Leon Festinger (1919-1989) gilt als der Begründer der Sozialen Vergleichstheorie, insbesondere mit seinem 1954 erschienenen Aufsatz »A theory of social comparison processes«. Die detaillierten Ausformulierungen und Erweiterungen der Theorie (u.a. rank-order paradigm) wurden jedoch von anderen Autoren vorangetrieben. Thomas A. Wills' (1981) Prinzipien abwärtsgerichteter Vergleiche {downward comparison principles) gelten als richtungsweisend. Ein weiteres einflussreiches Modell zu den kognitiven Mechanismen des Vergleichs, das Modell der selektiven Zugänglichkeit, wurde von Thomas Mussweiler (2003) entwickelt (-• Sozialpsychologische Theorien).
Theorie Festinger formulierte seine Theorie in neun Hypothesen, in denen sich Aussagen zu den drei zentralen Fragen der sozialen Vergleichsforschungfinden:Warum vergleicht man sich? Mit wem vergleicht man sich? Welche Konsequenzen zieht der Vergleich nach sich? Festinger formuliert als primäre Motivation fur soziale Vergleiche den Wunsch nach akkuratem Selbstwissen (.self-evaluation). Soziale Vergleiche werden seiner Meinung nach dann notwendig, wenn eine objektive Uberprüfung der eigenen Fähigkeiten und Meinungen anhand der physikalischen Welt nicht oder nur schwer möglich ist. Diese Einschränkung erwies sich jedoch nicht als haltbar. Zudem zeigte sich auch bei Vergleichsprozessen, dass Menschen nicht immer nach akkuratem Selbstwissen streben, sondern oft eine positiv verzerrte Selbstwahrnehmung bevorzugen. Der Wunsch nach Selbsterhöhung {self-enhancement) ist besonders stark, wenn das positive Selbstbild bedroht wird (-•Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung). Als dritter Grund für soziale Vergleichsprozesse wird das Streben nach Selbstverbesserung (.selfimprovement) diskutiert. Soziale Vergleiche werden jedoch nicht nur aus den obengenannten motivationalen Gründen aufgesucht, 437
sondern laufen oft ungewollt und automatisch ab. So beeinflussen selbst Beschreibungen von Vergleichspersonen, die unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle dargeboten werden, und solche, die objektiv keinen informativen Wert haben, die Selbsteinschätzung (-•Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung). Bezogen auf die Wahl des Vergleichsstandards wird zwischen lateralen (Vergleiche mit ähnlichen Standards), aufwärtsgerichten und abwärtsgerichteten Vergleichen unterschieden. Nach Festinger sind fur eine akkurate Selbsteinschätzung insbesondere Vergleiche mit solchen Standards aussagekräftig, die einem auf der Vergleichsdimension ähnlich sind. Handelt es sich bei dieser Dimension um eine Fähigkeit, so sollten die Standards zwar im ähnlichen Bereich, aber tendenziell leicht besser als man selber sein (unidirectional drive upward). Diese Annahme wurde mit Hilfe des Rank-order-Vzrzdigmas empirisch unterstützt. Georg Goethals und John Darley formulierten dagegen die Hypothese, dass Ähnlichkeit in Bezug auf Dimensionen, die die eigentliche Vergleichsdimension beeinflussen, für die Standardwahl bei der Selbsteinschätzung ausschlaggebend sei {related-attributes hypothesis). Beispielsweise sollten zur Einschät zung der eigenen sportlichen Fähigkeit Personen herangezogen werden, die gleichaltrig sind und ähnlich oft trainieren. Wills (1981) hat sich insbesondere mit abwärtsgerichteten Vergleichen beschäftigt und herausgearbeitet, dass der Vergleich mit anderen, denen es schlechter geht oder die eine schlechtere Leistung erbracht haben, zum Erhalt einer positiven Selbstwahrnehmung bevorzugt wird. Um sich zu verbessern, sind hingegen aufivärtsgerichtete Vergleiche mit Personen, die etwas besser können oder besondere Erfolge erzielt haben, dienlich. Für diesen positiven Effekt scheint es jedoch wichtig zu sein, dass eine gewisse Ähnlichkeit zu diesem besseren Standard empfunden wird und die hohe Leistung prinzipiell erreichbar erscheint. Nach Festinger sollten Vergleiche zu Einigkeit oder Annäherung fuhren. Das heißt, er betont eine Assimilation des Selbst an den Standard als Konsequenz des Vergleichsprozesses. Führt man sich die Motive für soziale Vergleiche und die damit verbundene Standardwahl vor Augen, wird jedoch deutlich, dass dabei von gegenläufigen Konsequenzen (Assimilation versus Kontrast) ausgegangen wird. Abwärtsgerichtete Vergleiche können nur zu einer positiven 438
Selbstwahrnehmung beitragen, wenn man sich von dem Standard absetzt, während eine Leistungsverbesserung durch aufwärtsgerichtete Vergleiche auf Assimilation beruht. In neuerer Forschung wurden die kognitiven Mechanismen untersucht, die Assimilation und Kontrast bei sozialen Vergleichen erklären. Mussweiler (2003) arbeitet in seinem Modell der selektiven Zugänglichkeit beispielsweise heraus, dass die Konsequenz eines Vergleichs auf dem aktivierten Selbstwissen während des Vergleichsprozesses beruht, welches wiederum hypothesengeleitet abgerufen wird. Er unterscheidet zwischen einer Ähnlichkeits- und einer Unterschiedshypothese, die während des Vergleichs geprüft wird. Da Menschen generell dazu neigen, hypothesenkonforme Informationen zu suchen, führt die Ahnlichkeitshypothese zur Suche nach Ähnlichkeiten zwischen dem Standard und dem Selbst und somit zur Aktivierung standardkonsistenten Wissens. Wird die Unterschiedshypothese überprüft, wird hingegen standardinkonsistentes Wissen aktiviert. Die Unterschiedshypothese fuhrt so zu Kontrast und die Ahnlichkeitshypothese zu Assimilation.
Rezeption Obwohl es individuelle Unterschiede gibt, wie viel Bedeutung Menschen sozialen Vergleichen zuschreiben (social comparison orientation,), wird heute generell von einem starken Einfluss von Vergleichen bei der Selbstwahrnehmung ausgegangen (-•Selbstaufmerksamkeitstheorien). Effekte von Vergleichen werden auf der emotionalen, motivationalen, kognitiven und behavioralen Ebene untersucht und nachgewiesen (-•Wohlbefindenstheorien). Soziale Vergleiche können bewusst aufgesucht werden, beeinflussen jedoch auch ungewollt und automatisch. Neben den »klassischen« sozialen Vergleichen zwischen dem Selbst einer Person und einer anderen Person wurden ähnliche Mechanismen und Konsequenzen bei Vergleichen zwischen zwei Personen, zwischen Personen und Gruppen oder zwischen Gruppen festgestellt (-• Sozialpsychologie des sozialen Urteils). Vergleichsprozesse tragen damit zu vielen anderen Phänomenen bei (u. a. relative deprivation, big-fish-little-pond effect, priming). 439
Literatur
Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7,117-140. Mussweiler, T. (2003). Comparison processes in social judgment: Mechanisms and consequences. Psychological Review, no, 472489. Wills, T. A. (1981). Downward comparison principles in social psychology. Psychological Bulletin, po, 245-271.
Weiterfuhrend Corcoran, K., Cruisus, J. & Mussweiler, T. (2011). Social comparison: Motives, standards, and mechanisms. In D. Chadee (Ed.), Theories in social psychology (pp. 119-139). Oxford, UK: Wiley. Katja Corcoran
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SOZIALISATIONSTHEORIE DES LESENS
Wichtige Vertreter/innen In der Ära der dominierenden lernpsychologischen (behavioristischen) Theorien wurde Sozialisation einseitig als Anpassung der heranwachsenden Person an die Normen der Gesellschaft verstanden (-* Lerntheorien). Erst nach der sogenannten Kognitiven Wende wurde auch fiir die Sozialisation wie fiir das Lesen die kognitive Konstruktivität des informationsverarbeitenden Subjekts (-•Konstruktivistische Ansätze der Psychologie) als zentrale Grundlage aller Entwicklungsprozesse (-* Entwicklungstheorien) entdeckt und elaboriert (Jean Piaget, Hans Hörmann, Rolf Oerter). In Übereinstimmung damit steht heute die konstruktive Informationsverarbeitung auch im Mittelpunkt der (Lese-)Sozialisationstheorie. Sozialisation bzw. Enkulturation werden danach von der Gesellschaftsseite her als Angebot von Mitgliedschaftsentwürfen (Klaus Hurrelmann) gesehen, auf die das Individuum kognitiv-konstruktiv in Form einer Ko-Konstruktion (James Youniss) antwortet, die allerdings auch in erheblicher Abweichung bis Ablehnung bestehen kann. Welche inhaltliche Richtung die (formale) Ko-Konstruktion nimmt, hängt also vom hochkomplexen Netzwerk der formellen und informellen Sozialisationsinstanzen (Schule, Familie, Peer-Group, Medien, Lebensstil etc.) der (Medien-) Gesellschaft ab (Groeben & Hurrelmann, 2004). Theorie Die praktisch zentrale Frage, ob und wie sich die Lesekompetenz verbessern lässt, setzt zunächst eine theoretische Entwicklung beim Kompetenz-Begriff voraus. Dass »Kompetenz« immer auch eine normative (Anforderungs-) Komponente enthält, ist dabei nicht zu ändern - und soll auch weder vonseiten der Politik noch vonseiten der Wissenschaft geändert werden. Das ursprüngliche Konzept der linguistischen Kompetenz (bei Noam Chomsky) implizierte jedoch eine genetische Veranlagung, die spätestens mit dem Konstrukt der kommunikativen Kompetenz (bei Jürgen Habermas) 441
aufgegeben wurde. Allerdings ist die kommunikative Kompetenz noch als überindividuelle Fähigkeit konzipiert; die Ausdehnung des Kompetenz-Begriffs auf individuelle Fähigkeiten akzentuiert dann notwendigerweise unterschiedliche Entwicklungsverläufe und damit auch die potentiellen sozialen Einflüsse auf die individuelle Entwicklung. Dadurch ist die Frage nach der Entwicklung von Lesefähigkeit und -motivation heute immer auch eine Frage nach dem Einfluss der Enkulturations-Bedingungen und damit nach der Lesesozialisation (in der Mediengesellschaft). Parallel zur kognitiven Konstruktivität des Lesens selbst wird dabei auch der Sozialisationsprozess nicht als eher passiver Prägungs- oder Lernprozess gesehen; vielmehr werden die aktiven Freiräume des Individuums im Konzept der Ko-Konstruktion berücksichtigt, das heißt, das (Sozialisations-)»Objekt« verarbeitet die von der Gesellschaft angebotenen Mitgliedschaftsentwürfe und nutzt sie konstruktiv zur Gestaltung des eigenen Lebenslaufs. Diese Konstruktivität kann sich in weitgehender Übernahme gesellschaftlicher Rollen und Normen manifestieren, aber auch in erheblichen Modifikationen bis hin zu überwiegender Negation. Für die Lesesozialisation gilt dabei, dass die positive Norm der Lesekompetenz allgegenwärtig ist, d. h. von allen formellen und informellen Sozialisationsinstanzen vertreten wird. Gleichwohl gibt es auch entgegengesetzte Dynamiken, die dann zu einer mehr oder weniger gelingenden Lesesozialisation führen. Die beiden wichtigsten problemgenerierenden Einflussgrößen sind das Geschlecht und die soziale Schicht bzw. der bildungsferne Lebensraum. Beim Geschlecht ist eines der konstantesten Ergebnisse, dass das männliche Geschlecht durch die pubertäre Lesekrise mehr gefährdet ist als das weibliche, das heißt, dass bei Männern mehr dauerhafte Leseabbrüche erfolgen als bei Frauen. Dies gilt insbesondere, wenn auch der zweite Belastungsfaktor, nämlich eine eher bildungsferne Schichtzugehörigkeit, hinzukommt. In einem solchen Fall ist schon die am Beginn stehende familiäre Lesesozialisation eingeschränkt, weil die Eltern zwar die allgemeine (positive) Norm der Lesekompetenz vertreten, selbst aber nicht vorleben, was der sicherste Weg zur Minderung der kindlichen Lesemotivation ist. Die Schule als formelle Sozialisationsinstanz sollte eigentlich solche Belastungen der familiären Sozialisation kompensieren; das gelingt ihr aber (in Deutschland) nur im Grundschulunterricht, 442
nicht fiir die spätere Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt der »verborgene Lehrplan« Chidden curriculum), der wegen der Selektions- und Allokationsfunktion der Schule vor allem auf Konkurrenz zwischen den Schülern/innen und deren Anpassung an die Lehrperson/en ausgerichtet ist. Dementsprechend sind für die weiter gehende Lesesozialisation (auch im Erwachsenenalter) zum einen die Peers und zum anderen die beruflichen Anforderungen von zentraler Relevanz. Das führt zu einer erheblichen Streubreite von Lesekompetenz-Entwicklungen, bei der es untypische Ausschläge sowohl nach unten wie nach oben gibt, deren systematische Beeinflussbarkeit wegen der Komplexität und Vernetztheit der Einflussgrößen noch weitere Forschung erfordert. *
Rezeption Die Forschung zur Lesesozialisation wird in erster Linie von der Politik nachgefragt, allerdings zumeist, um daraus überinterpretative Forderungen fiir oder gegen ein dreigliedriges Schulsystem zu ziehen. Vor allem das Problem der schichtbedingten Sozialisationshemmnisse hat aber dazu geführt, dass entsprechende Untersuchungsfragen heute auch in der Konzeption der nationalen und internationalen Lesestands-Untersuchungen (PISA, DESI etc.) Standard sind. Allerdings werden dadurch immer wieder die geschlechts- und schichtbedingten Benachteiligungen deutlich, die das deutsche Bildungssystem bisher zu überwinden nicht in der Lage ist. So sind die Leseabbrüche der männlichen Jugendlichen besonders aus bildungsfernen Lebensräumen ein Dauerproblem für die Lese- und Literaturdidaktik, die sich darüber hinaus ganz grundsätzlich auch in Zukunft um die emotionalen und motivationalen Faktoren des Lesens in Konkurrenz zu den neuen und neuesten Medien kümmern muss (-•Medienpsychologische Theorien). Literatur Groeben, N. & Hurrelmann, B. (Hrsg.). (2004). Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Weinheim: Juventa. 443
Youniss, Y. (1994). Soziale Konstruktion und psychische Entwicklung Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Weiterführend Klieme, E., et al. (Hrsg.). (2010). PISA 2009: Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster: Waxmann. Norbert Groeben und Ursula Christmann
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SOZIALPSYCHOLOGIE DES SOZIALEN URTEILS
Wichtige Vertreter/innen Im Jahre 1956 erkannte Solomon Asch im Rahmen seiner Untersuchung über Konformität während des sogenannten Linienexperiments (hier sollten Probanden innerhalb einer Experimentalgruppe Linien nach ihrer Länge beurteilen), wie Urteile in sozialen Situationen unter Einfluss einer Gruppe abgegeben werden. Offenbar spielten Aspekte wie Gruppengröße und Gruppenkohärenz als sozialpsychologische Größen fur das soziale Urteilen eine Rolle. Es stellte sich die Frage, wie es Personen gelingt, Urteile über Objekte oder Menschen zu fällen oder eine Beurteilung von sozialen Phänomenen abzugeben, insbesondere da, wo die zur Verfügung stehenden Informationen reduziert sind.
Theorien Die zentrale Annahme der Theorien des sozialen Urteilens bezieht sich auf die Erkenntnis, dass Personen, Objekte und Situationen je nach sozialem Kontext unterschiedlich beurteilt werden. Das Urteilen in sozialen Kontexten gehört innerhalb der Sozialpsychologie in den Bereich der sozialkognitiven Theorien, die unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung stehen. Ziel der Theorie der Urteilsprozesse von Upmeyer (1985) ist es, den Einfluss sozialer Prozesse auf die intraindividuelle Differenzierung sowohl der Reize als auch der Äußerung der Urteile festzuhalten. Upmeyers Hauptinteresse bezieht sich auf die Wirkung sozialer Prozesse. Er geht von kognitiven Prozessen wie Aufmerksamkeitsprozessen, Gedächtnis und Erinnerung aus und postuliert, dass diese Prozesse im sozialen Kontext verankert sind. Der Autor bezieht sich insbesondere auf Kategorien, die durch Aktivierung, Wiedererkennung und Erinnerung spezifischer Bilder mit einem sozialen Etikett versehen werden, wie z.B. bei Vorurteilen und Stereotypen (-•Soziale Kategorisierung und Diskriminierung). Im Kontext der sozialen Urteilsbildung ist die Thematisierung von Urteilsverzerrungen und Urteilsheuristiken relevant. Zwischen unse445
rer Wahrnehmung und unserem Urteil über eine Person, ein Objekt oder eine Situation im sozialen Kontext ist die Verarbeitung der Informationen, die zum Urteil fuhrt, nicht immer rational und/oder bewusst, was bedeutet, dass der Informationsverarbeitungsprozess eine Reihe von Interferenzen erlebt. Bei der entsprechenden Verarbeitung von Informationen durchlaufen dieselben bestimmte kognitive Schemata, woraus Urteilsverzerrungen resultieren. In der Sozialpsychologie (-• Sozialpsychologische Theorien) wird als Halo-Effekt die Tendenz bezeichnet, sich bei der Beurteilung von Personen durch ihren bloßen Gesamteindruck oder durch eine wichtige subjektive Eigenschaft unter Ausblendung aller anderen Eigenschaften leiten zu lassen. Bei den sogenannten egozentrischen Urteilsverzerrungen gehen die Kommunikationspartner/innen davon aus, dass die Anderen ihnen ähnlich sind, ähnliche Vorlieben und Einstellungen haben wie sie selbst. Bei der kategorialen UrteilsVerzerrung besteht die Neigung, unter der Voraussetzung geringer Informiertheit kognitive Schemata ohne kritische Selbstkontrolle wirksam werden zu lassen (z. B. im Fall von Stereotypen: »Sie sind alle so!«). Bei den Negativitäts- bzw. Positivitäts-Urteilsverzerrurigen handelt es sich um die Tendenz, negative Eigenschaften von Personen besonders hoch respektive tief zu bewerten. Weitere Verzerrungen im sozialen Urteilen entstammen den sogenannten Urteilsheuristiken, die als »Faustregeln« oder als vereinfachte und schnelle Schlussfolgerungen angesehen werden. Urteilsheuristiken beeinflussen Strategien zur Urteilsfindung vor allem da, wo die Informationslage, die Zeit oder Motivation des Individuums sich als ungenügend und unpräzise erweist. Wenn die Informationsflut die Informationsverarbeitungskapazität einer Person übersteigt, greift sie auf Heuristiken zurück, die zu einer Vereinfachung oder zu einer Möglichkeit fuhren, ein Urteil zu treffen. Rezeption Theorien des sozialen Urteilens sind auch im Rahmen der Theorien der sozialen Wahrnehmung verankert (-•Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung). Hier gilt es insbesondere auch, die weitere Entwicklung der Perspektiven der -•Attributionstheorien zu berücksichtigen (vgl. u.a. Kelley, 1967). Attributionale Theori446
en sind Urteilstheorien im sozialen Kontext und beschreiben, wie Menschen sich die Gründe fiir ihr eigenes Verhalten und das der Anderen erklären. Auch die Verbindung zu Themen wie Freundschaft, sozialer Einfluss, Konformität, Erwartung und prosoziales Verhalten stellt ein erweitertes Rezeptionsfeld der Theorien des sozialen Urteilens dar. Literatur Frey, D. &: Irle, M. (Hrsg.). (1985). Theorien der Sozialpsychologie. Bd. III. Bern: Huber. Kelley, H. H. (1967). Attribution theory in social psychology. In D. Levine (Ed.), Nebraska symposium on motivation (pp. 192-238). Lincoln, NE: University of Nebraska Press. Upmeyer, A. (1985). Soziale Ürteilsbildung. Stuttgart: Kohlhammer. Weiterführend Frey, D. (Hrsg.). (2006). Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie. Göttingen: Hogrefe. Chirly dos Santos-Stubbe
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SOZIALPSYCHOLOGISCHE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Theorien der Sozialpsychologie erklären individuelles Erleben und Verhalten im sozialen Kontext und die sozialen Beziehungen von Individuen zueinander. Die Sozialpsychologie wurde stark von Forschern wie zum Beispiel Kurt Lewin, Leon Festinger, Harold H. Kelley, Muzafer Sherif oder Solomon Asch geprägt. Jüngere einflussreiche Sozialpsychologen sind etwa Daniel Kahneman, E. Tory Higgins, Arie W. Kruglanski, Norbert Schwarz und Henri Tajfel neben vielen anderen, die hier nicht aufgezählt werden können. Theorien Eine grundlegende Einsicht der Sozialpsychologie beruht darauf, dass psychologische Phänomene eine weitere Dimension gewinnen, wenn sie im sozialen Kontext auftreten. Aus der Forschung zur Repräsentation von Gedächtnisinhalten weiß man zum Beispiel, dass Begriffe durch semantisches priming verwandte Konzepte aktivieren können (z.B. »Tisch« und »Stuhl«). Gedächtnispsychologen vermeiden bei der Prüfung ihrer theoretischen Annahmen über das Gedächtnis soziale Stimuli, da diese Artefakte produzieren könnten. Für Sozialpsychologen sind dagegen gerade solche Zusammenhänge interessant. Wenn also der Begriff »Professor« das Konzept »zerstreut« zu aktivieren vermag, weist dies daraufhin, dass ein Stereotyp existiert, das der Gruppe der »Professoren« die Eigenschaft »zerstreut« zuweist. Ein fundamentales Konzept sozialpsychologischer Theorien lässt sich mit dem Begriff Sozialer Einfluss charakterisieren. Der Terminus bezeichnet die Wirkung, die andere Menschen auf das subjektive Erleben und Verhalten haben. In dieser Allgemeinheit betrifft er praktisch alle Phänomene, die zum Gegenstand sozialpsychologischer Theoriebildung geworden sind. So werden sowohl prosoziales Verhalten und Altruismus als auch Aggression von sozialen Vorbildern beeinflusst. Dabei kommt es zum Beispiel zu dem paradox erscheinenden Phänomen, dass die Wahrscheinlichkeit 448
umso kleiner wird, Hilfe in einer Notsituation zu erhalten, je mehr Unbeteiligte (bystander) anwesend sind. Auch Stereotype und Vorurteile sind keineswegs angeboren, sondern werden gruppenspezifisch tradiert. Kindern werden zwar keine Vorurteile gelehrt, doch imitieren sie das Verhalten der Erwachsenen, lachen mit ihnen über abwertende Bezeichnungen für Fremdgruppen usw. (^Sprachliche Diskriminierung). Sogar das Selbstkonzept, also die Vorstellungen, die ein Individuum von seinen eigenen Fähigkeiten, Vorlieben usw. entwickelt (-•Selbstaufmerksamkeitstheorien), wird stark vom sozialen Kontext beeinflusst. Informationen über das Selbst lassen sich nach Leon Festinger insbesondere durch den sozialen Vergleich mit anderen gewinnen. Am aufschlussreichsten sind dabei Vergleiche mit Personen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden (»Wie gut bin ich im Vergleich zu den anderen Sportlern in meinem Verein?«), da sie eine diagnostische Bewertung des eigenen Leistungsstands oder der eigenen Einstellung liefern. Aufwärtsgerichtete Vergleiche geben Hinweise darauf, welches Niveau erreicht werden kann (»Wie unterscheidet sich die Technik des Olympiasiegers von meiner?«). Abwärtsgerichtete Vergleiche werden oft strategisch eingesetzt, um das eigene Selbstwertgefühl zu steigern (»Ich laufe schneller als X aus meiner Riege«) (-* Soziale Vergleichstheorie). Die Liste von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, die von anderen beeinflusst werden, ist praktisch unbegrenzt. Eine eigene Kategorie bilden dabei Phänomene bewussten und gezielten Einflusses - das, was mit dem Begriff sozialer Einfluss im engeren Sinne charakterisiert wird. Werbestrategen nutzen etwa die Kraft der Sozialen Bewährtheit, wenn sie ein Produkt mit dem Hinweis darauf anbieten, dass eine große Mehrheit der Konsumenten damit zufrieden war (-• Beeinflussungstheorien). Der direkte Weg, Einstellungen durch Argumente zu verändern, wird unter dem Stichwort Persuasion behandelt (-• Überredungstheorien). Ausführliche Forschung dazu wurde etwa von Richard E. Petty und John T. Cacioppo initiiert. Unter welchen Bedingungen Rezipienten inhaltliche Informationen über das Einstellungsobjekt nutzen und sich so überzeugen lassen, ist dabei eine zentrale Fragestellung. Die historischen Wurzeln liegen in den Yale Studies, einer Forschergruppe um Carl I. Hovland, die unter dem Eindruck 449
der Massenpropaganda im Dritten Reich ins Leben gerufen wurde (-• Medienpsychologische Theorien). Ein aktuelles Paradigma der Sozialpsychologie lässt sich mit dem Begriff social cognition charakterisieren. Menschen werden als informationsverarbeitende Systeme konzipiert, die auf der Grundlage von Stimuli aus der Umwelt (bottom-up) mit Hilfe individueller »Software« (top-down) ihre eigene soziale »Realität« konstruieren. Gesetzmäßigkeiten solcher Konstruktionen folgen nicht nur phänomenspezifischen Besonderheiten. Vielmehr finden sich wiederkehrende Themen wie die Kapazitätsbeschränkungen menschlicher Kognition oder die bevorzugte Verwendung von Informationen, die leicht aus dem Gedächtnis abgerufen werden können. Entsprechend nutzen Individuen mentale Abkürzungen (Heuristiken), um Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen (-»Entscheidungstheorien), und werden auch von Informationen beeinflusst, die zwar irrelevant, zufällig aber leicht zugänglich sind. Dabei werden weder affektive Prozesse (-• Emotionstheorien) noch motivationale Prozesse (-*• Motivationstheorien) ausgeklammert. Ein wiederkehrendes Motiv ist etwa das Streben danach, die eigene Person in möglichst positivem Licht zu sehen, um das eigene Selbstwertgefuhl zu steigern. Kognitive Verzerrungen ermöglichen so zum Beispiel die Bestätigung der eigenen und die Abwertung abweichender Meinungen oder die Attribution von Erfolg auf eigene Fähigkeiten und Begabungen. Unter dem Stichwort Affektive Prozesse werden besonders Einflüsse der aktuellen Stimmungslage auf Informationsverarbeitung und Urteilsbildung untersucht. Nach Schwarz ist es dabei möglich, dass die augenblickliche Stimmung an sich als Information dient. So signalisiert etwa gute Laune, dass die Welt in Ordnung ist und hoher Verarbeitungsaufwand nicht nötig erscheint. Bei schlechter Stimmung zeigen sich dagegen eher kognitiv aufwändige Verarbeitungsstrategien. Ein zentrales Thema sowohl der klassischen als auch der zeitgenössischen Sozialpsychologie sind Gruppenprozesse. Im Unterschied zu anderen Wissenschaften, die ebenfalls mit Gruppenphänomenen beschäftigt sind (z.B. Soziologie), liegt dabei der Fokus auf innerpsychischen Prozessen. Gruppenpsychologie lässt sich grob in zwei Kategorien unterteilen: Intragruppen- und Intergruppenprozesse. Bei Intragruppenprozessen geht es um den sozialen Einfluss, den 450
die Mitglieder der eigenen Gruppe auf das Individuum ausüben. Eine schon als klassisch zu bezeichnende Fragestellung ist etwa, ob die Anwesenheit anderer Menschen die subjektive Leistungsfähigkeit beeinflusst. Heute weiß man, dass die reine Anwesenheit Anderer mit erhöhter Erregung einhergeht. In der Folge steigt die Leistung bei subjektiv einfachen Aufgaben (social facilitation), während die Leistungsfähigkeit bei schwierigen Aufgaben durch Anwesenheit Anderer gehemmt wird. Weitere häufig beforschte Phänomenbereiche sind Konflikte, die etwa auch spieltheoretisch untersucht wurden (z. B.prisoners dilemma), Führung in Gruppen, Brainstorming, Konformität, Gruppendenken und viele andere. Da unterschiedliche Gruppen nur selten gemeinsame Ziele verfolgen, ist Intergruppenverhalten typischerweise durch Diskriminierung gekennzeichnet. Die Grundlagen dafür beschreibt die Theorie der Sozialen Identität, die von Henri Tajfel und John Turner etwa ab Mitte der 1970er Jahre entwickelt wurde. Demnach definiert sich das Individuum selbst auch über Gruppenmitgliedschaften. Der Vergleich mit relevanten Fremdgruppen dient einerseits dazu, Informationen über das eigene Selbst zu gewinnen, andererseits soll dieser Vergleich im Sinne einer Aufwertung der eigenen Person möglichst positiv ausfallen. Damit ist die Grundlage für die Abwertung von Fremdgruppen geschaffen. Empirisch zeigt sich entsprechend, dass gerade auch objektiv minimale Differenzen zwischen Gruppen in gegenseitige Diskriminierung münden (-* Soziale Kategorisierung und Diskriminierung). Rezeption Eine spezifische Würdigung sozialpsychologischer Theorien erscheint vor dem Hintergrund der Vielzahl der hier vorgestellten Ansätze kaum möglich. Immerhin kann festgehalten werden, dass sozialpsychologische Erkenntnisse viele Innovationen innerhalb und außerhalb der Psychologie befruchtet haben. So werden etwa soziale Motive (z. B. Machtstreben, Bedürfnis nach Einzigartigkeit etc.) aus differentieller Perspektive beforscht und sind damit Teil der Persönlichkeitspsychologie geworden. Weitere Beispielefindensich in der Rezeption von spieltheoretischen Ansätzen durch die Mikroökonomik oder von Gruppenprozessen in der Mikrosoziologie. 451
Literatur
Bruner, J. (1957). On perceptual readiness. Psychological Review, 64, 132-152. Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7,117-140. Lewin, K. (1936). Principles of topological psychology. New York, NJ: McGraw-Hill. Weiterführend Kruglanski, A. W. & Higgins, E. T. (Eds.). (2007). Socialpsychology: Handbook of basic principles. New York, NY: Guilford. Hans-Peter Erb
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SOZIALWISSENSCHAFTLICHER ANSATZ DER PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Der sozialwissenschaftliche Ansatz in der Psychologie versucht einen dritten, integrativen Weg zwischen der naturwissenschaftlichen Tradition der Psychologie einerseits und der geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen andererseits zu finden und auszuarbeiten. Einen ersten Versuch zur gleichwertigen Verbindung beider Zugangsweisen unternahm schon 1927 Karl Bühler in Die Krise der Psychologie, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Der naturwissenschaftliche Ansatz etablierte sich (zunehmend) als Hauptströmung (in) der Psychologie; geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektiven wurden eher an den Rand gedrängt. Das betrifft sowohl das Gegenstands- als auch das Methodenverständnis, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als Kontrastierung von quantitativem und qualitativem Paradigma manifestierten. Im quantitativen Paradigma steht die Verbindung zu den biologischen (heute neurologischen) Grundlagen des Psychischen im Vordergrund, die mit experimentell-quantitativer Methodik aufzuarbeiten ist. Das qualitative Paradigma thematisiert mit der Sinnorientierung des Menschen stärker den Bezug zu den Sozialwissenschaften (Soziologie, Politologie, Pädagogik etc.), was methodologisch die Einbeziehung von qualitativen Erlebensaspekten impliziert. Insofern versucht der sozialwissenschaftliche Ansatz, die Traditionen der beiden Paradigmen in eine umfassende, die Organismushaftigkeit und Sinnorientierung des Menschen gleichermaßen berücksichtigende Psychologie zu integrieren. Das betrifft nicht zuletzt die -•Gestalttheorie und -therapie (Kurt Lewin, Frederick Perls), die Phänomenologische Psychologie (Carl Graumann, Serge Moscovici), die -•Humanistische Psychologie (Abraham Maslow, Charlotte Bühler), die Biographieforschung (Hans Thomae, Gerd Jüttemann), den Symbolischen Interaktionismus (George H. Mead), die (narrative) Kulturpsychologie (Jerome Bruner, Ernst Boesch, Jürgen Straub) und eine subjektorientierte dialogische Psychologie (Norbert Groeben, Klaus Holzkamp, Brigitte Scheele). 453
Theorien
Der Spaltung in natur- vs. geistes-/kulturwissenschaftliche Psychologie liegt die wissenschaftstheoretische Kontroverse zwischen Monismus und Dualismus zugrunde (-• Leib-Seele-Problem). Der Monismus vertritt die Auffassung, dass alle Wissenschaften ein und dieselbe Struktur haben (müssen), nämlich eine auf die Experimentalmethodik zurückgreifende naturwissenschaftliche Struktur. Dem hält der Dualismus seit Wilhelm Dilthey (1894) entgegen, dass die Wissenschaften in Abhängigkeit vom Gegenstand unterschiedliche (d.h. mindestens zwei) Strukturen aufweisen (sollten), denn »die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (-• Geisteswissenschaftliche Psychologie). Diese Spaltung macht nun aber der sozialwissenschaftliche Ansatz mit dem Bemühen um einen dritten, integrativen Weg nicht mit. Der Mensch ist danach sowohl (qua Organismus) Teil der Natur als auch (qua Sinnorientierung) Teil der Kultur; folglich sind sowohl Erklärungs- als auch Verstehensmethoden anzuwenden. Damit versucht der sozialwissenschaftliche Ansatz, eine echte Gegenstands-Methodik-Interaktion zu realisieren, indem jeweils unter Bezug auf die komplexen (organismischen wie sinnorientierten) Dimensionen des Menschen quantitative und qualitative Methoden eingesetzt werden. Daraus folgt auf metatheoretischer Ebene der Wissenschaftskriterien die Fortführung der schon durch die Analytische Wissenschaftstheorie in Gang gesetzten Liberalisierungen. Das bedeutet fiir das Kriterium des präzisen Definierens, dass im Rahmen der in der Psychologie üblichen Operationalisierung von theoretischen Konstrukten der intensionalen (sprachimmanenten)4 Analyse ein besonderes Gewicht zukommt, was phänomenologische Erlebnisdimensionen einzubeziehen gestattet. Ebenso wird im Bereich von Kausalität, Erklärung und Technologie das Konzept der statistischen Kausalität genutzt, um auch intentionale Prozesse (z.B. Handlungen) in die Erklärungsstruktur einzubeziehen, die ihrerseits über die klassische deduktiv-nomologische Erklärung hinaus durch die Einbeziehung narrativer Erklärungsansätze erweitert wird. Parallel wird die Diskussion um Erkenntnisfortschritt und Wahrheitskriterien genutzt. Hier wird durch die strukturalistische Theorie-Konzeption (Joseph Sneed, 454
Wolfgang Stegmüller) bereits den üblichen theoretischen Hypothesen und empirischen Beobachtungssätzen die Instanz von problemdefinierenden Kernannahmen vorgeordnet; das ermöglicht der (sozialwissenschaftlichen) Psychologie die Einbeziehung anthropologischer Subjektmodelle, d. h. gegenstandskonstituierender Menschenbildannahmen. Außerdem werden die klassischen Wahrheitskriterien (Korrespondenz-, Kohärenz- und Pragmatik-Kriterium) durch das dialog-konsenstheoretische Wahrheitskriterium ergänzt, das mit der Entwicklung von Dialog-Konsens-Methoden die Rekonstruktion der Innensicht von Untersuchungsteilnehmer/innen erlaubt, weil in der Psychologie nicht nur das Erkenntnissubjekt, sondern auch das Erkenntnisobjekt zur Reflexion fähig ist (-•Subjektive Theorien). Und die Sozialität des Menschen wird berücksichtigt durch die Einbeziehung der Kollektiv- und Systemebene von menschlicher Gemeinschaft und Gesellschaft (Holismus). Das erfordert nicht zuletzt auch eine verstärkte ethische Reflexion und Rechtfertigung von Forschungspraxis und Theorieanwendung. Rezeption Die naturwissenschaftliche Tradition hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland nachhaltig als Hauptströmung der Psychologie etabliert (-»Theorien der Psychologie und Empirie). Das hat sicher auch damit zu tun, dass sich die geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Richtung in der Zeit des Nationalsozialismus durch willfährige ideologische Anpassung weitgehend desavouiert hatte. Dadurch wurden nicht wenige qualitative Methoden erst nach sichtbaren Erfolgen im angloamerikanischen Raum reimportiert. Seit den 1990er Jahren werden die Methodeninstrumente dieser Traditionen aber auch hier in einschlägigen Sammelbänden zusammengefasst und im Überblick dargestellt: vom Handbuch Qualitative Sozialforschung (Flick et al., 1991) bis zum Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (Mey & Mruck, 2010).
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Literatur
Bühler, K. (1927). Die Krise der Psychologie. Jena: Fischer. Flick, U., Kardoff, E., Kempp, H., Rosenstiel, L. & Wolf, S. (Hrsg.). (1991). Handbuch Qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz. Groeben, N. (Hrsg.). (1997-2003). Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie, 2 Halbbände; Bd. I: Metatheore tische Perspektiven; Bd. II: Objekttheoretische Perspektiven. Mün ter: Aschendorff. Weiterführend Mey, G. & Mruck, K. (Hrsg.). (2010). Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: VS Springer. Norbert Groeben
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SPRACHERWERBSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Der Beginn moderner Theoriebildung zum primären Spracherwerb (mündliches Sprachlernen des Kindes in der natürlichen sprachsozialisatorischen Umgebung seiner Erstsprache) kann in der Chomsky-Skinner-Debatte der 1950er Jahre gesehen werden. Die mentalistische Argumentation Noam Chomskys wandte sich gegen die Annahme, Sprachlernen sei behavioristisch durch eine Art Reiz-Reaktions-Schema zu erklären (-•Sprachpsychologische Theorien). Demgegenüber nahm Chomsky einen angeborenen, humanspezifischen Spracherwerbsmechanismus (language aquisition device, LAD) des Kindes an, der aus dem sprachlichen »Input« der Umgebungssprache mit Hilfe von angeborenem Sprachwissen Regeln ableitet und in der Produktion anwendet. Ein Standardargument fiir die mentalistische Annahme eines regelaufbauenden Sprachverarbeitungsmechanismus ist z.B. die Beobachtung, dass Kinder in allen Sprachen (z.B. durch Übergeneralisierungen: »er kommte«; »übergestern«) Formen produzieren, die sie so nie gehört haben. Später wird die Annahme eines angeborenen Spracherwerbsmechanismus spezifiziert im Rahmen der Universalgrammatischen Sprachtheorie Chomskys, der zufolge menschliche Sprachen generell in ihren grammatischen Kernbereichen durch eine Reihe von universell gültigen, zur genetischen Ausstattung des Menschen gehörigen Prinzipien geprägt sind, die die strukturellen Möglichkeiten einzelsprachlicher Grammatiken begrenzen. Die Struktur einer jeweiligen Einzelsprache sei damit durch bestimmte, vom Kind zu entdeckende Parametereinstellungen innerhalb dieser universell vorgegebenen strukturellen Möglichkeiten zu charakterisieren. Theorien Der nativistischen Theorie Chomskys liegt damit ein spezifisches sprachtheoretisches Konzept zugrunde. In der Debatte seit den 1970er Jahren um die angemessenste Globale Spracherwerbshypothese wurden alternative Erklärungszugänge fiir das Phänomen des Spra457
cherwerbs expliziert, die entsprechend auf anderen grundlegenden Konzeptionen von Sprache beruhen: Die kognitivistische Hypothese (Dan Slobin, Annette KarmilofF-Smith) bezweifelt den autonomen Charakter von Spracherwerb, weil sie Sprache und Sprachverarbeitung als Teil der kognitiven Verarbeitungssysteme des Menschen betrachtet und damit nicht - wie die Nativisten - eine genetisch angelegte Modularität des Spracherwerbs unterstellt. Aus der Sicht der interaktionistischen Hypothese, die durch die Rezeption des russischen Forschers Lew Semjonowitsch Vygotskij aus den 1930er Jahren inspiriert war, ist Sprache wesentlich durch ihre kommunikativen Funktionen in der zwischenmenschlichen Interaktion bestimmt (-•Kulturhistorischer Ansatz). Spracherwerb wird erklärt durch die musterhaften Interaktionen zwischen Erwachsenem und Kind, die dem Kind eine - zunehmend sprachlich ausgebaute Rolle in der Interaktion zuweisen und es bei deren Erfüllung dialogisch unterstützen (Jerome Bruner) (-*Entwicklungstheorien). Die Weiterentwicklung sprachlicher Analyseebenen unter dem Einfluss der Pragmatischen Wende in den 1970er Jahren führte dazu, dass auch in der Spracherwerbsforschung die Fokussierung auf Wörter, Sätze oder später auch einzelne Redezüge (wie z.B. Fragen, Aufforderungen) überwunden wurde zugunsten der globalen Diskursebene. Mit der analytischen Einheit des Diskurses wird die Tatsache adressiert, dass Kommunikation (mit dem Kind) nicht hinreichend mit dem Abruf von Wörtern aus dem mentalen Lexikon und der grammatischen Generierung von Sätzen erfasst werden kann. Vielmehr werden in jeder Kommunikation grundsätzlich größere Gesprächszusammenhänge aufgebaut. Als Diskurseinheiten, die an kommunikativen Gattungen orientiert sind (z.B. Erzählungen, Erklärungen), weisen sie feste Strukturmuster auf und werden von den Gesprächsteilnehmern als Einheiten markiert. So entstand seit den späten 1970er Jahren eine lebendige Forschung zunächst zur Entwicklung von Erzählfähigkeiten, später auch zu Erklärungen und Argumentationen. Diese diskursorientierte Erwerbsforschung lässt sich theoretisch in den kognitiven (story grammar) bzw. in den interaktionistischen (Hausendorf & Quasthoff, 1996) Theorierahmen einordnen. Im Rahmen der interaktionalen Grundorientierung konnten auch Bruners frühere Annahmen und Beobachtungen zu einem language acquisition support system, das die interaktiven Erwerbsbe458
dingungen für sehr frühe Spracherwerbsphasen explizierte, theoretisch fiir den Diskurserwerb weiterentwickelt und vor allem empirisch nachgewiesen werden (Hausendorf & Quasthoff, 1996). Aus der Fülle von empirischen Befunden zu Spracherwerbsprozessen in verschiedenen Sprachen und Kulturen und bezogen auf unterschiedliche sprachliche Teilkompetenzen (lautliche Entwicklung, Erwerb des Wortschatzes, Grammatikerwerb, Diskurserwerb), bei deren Erhebung z. T. noch die Absicht im Vordergrund stand, das jeweils leitende Theoriemodell zu »beweisen«, wird gegenwärtig der exklusive Erklärungscharakter der klassischen globalen Theorieentwürfe zunehmend in Zweifel gezogen. Das geschieht auch unter dem Eindruck der Untersuchung weiterer »Spracherwerbstypen« neben dem primären Erstspracherwerb: die »natürlichen« Erwerbsformen einer Zweit- und Drittsprache, der Fremdsprachenerwerb durch Unterweisung, verzögerte oder gestörte Erwerbsprozesse, Schriftspracherwerb. Die gegenwärtig vorherrschende Theorieorientierung ist somitflexiblerauf die Frage konzentriert, in welcher Weise kombinierbare Erklärungselemente beobachtete empirische Phänomene einordnen und theoretisch begründen können. Rezeption Die Spracherwerbsforschung, die traditionell ein interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen Linguistik und Psychologie darstellte, sieht sich gegenwärtig mit der rasanten Entwicklung der empirischen Bildungsforschung in Deutschland einem bisher nicht gekannten Anwendungsinteresse gegenüber (-•Theorie-Praxis-Transfer). Die zunehmende Einsicht in die Rolle sprachlicher Kompetenzen bei der Erklärung von (mangelndem) Bildungserfolg sowie das damit verbundene Interesse an der Entwicklung wirksamer Sprachförderprogramme (fur mehrsprachig aufwachsende Kinder) stellen interdisziplinäre Anforderungen an die Spracherwerbsforschung, die diesen durch eine fundierte Explikation sprachlicher Teilkompetenzen, ihrer Erwerbsabfolgen sowie ihrer internen und externen Erwerbsressourcen nachzukommen hat.
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Literatur
Bruner, J. S. (1987). Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Chomsky, N. (1978/1996). Regeln und Repräsentationen: Sprache und unbewußte Kenntnis. In L. Hoffmann (Hrsg.), Sprachwissenschaft. Ein Reader (S. 81-97). Berlin: De Gruyter. Vygotsky, L. S. (1978). Interaction between learning and development. In L. S. Vygotsky, Mind in society (pp. 79-91). Cambridge MA: Harvard University Press. Weiterführend Hausendorf, H. & Quasthoff, U. M. (1996). Sprachentwicklung und Interaktion: Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten bei Kindern. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Uta Quasthoff
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SPRACHLICHE DISKRIMINIERUNG
Wichtige Vertreter/innen Der Ansatz der Sprachlichen Diskriminierung basiert auf der sozialpsychologischen Charakterisierung des Diskriminierenden Sprechakts von Carl Friedrich Graumann und Margret Wintermantel (1989). Dieser wurde um linguistische Konzepte erweitert (Wagner, 2001) und im Forschungsprojekt Sprachliche Diskriminierung am Psychologischen Institut Heidelberg im Rahmen des SFB 245 »Sprache und Situation« der Universitäten Heidelberg und Mannheim evaluiert (vgl. Galliker, Huerkamp, Wagner & Graumann, 1994; Wagner, Galliker & Weimer, 1997). Theorie Sprachliche Diskriminierung kann als eine sprachlich manifeste -•Soziale Kategorisierung und Diskriminierung definiert werden, bei der sich die kategoriale Behandlung einer Person mit einer sprachlichen Bewertung verbindet. Ebenso wie sich Soziale Kategorisierungen auf drei unterschiedliche Arten von Entitäten beziehen können, kann auch die kategoriale Behandlung sprachlich durch Bezugnahme auf drei Arten von Entitäten erfolgen. Eine sprachliche Diskriminierung kann sich auf soziale Gruppen beziehen, auf Gruppenmitglieder oder auf Individuen, sofern diese einer sozialen Kategorie zugeordnet werden. Bezieht sich eine Bewertung nicht auf eine soziale Kategorie, sondern auf ein einzelnes Individuum direkt, d. h. ohne Vermittlung durch eine soziale Kategorie, handelt es sich nicht um eine Diskriminierung, sondern um eine Beleidigung. Denn eine soziale Diskriminierung ist immer mit einer kategorialen Behandlung verbunden. Die kategoriale Behandlung einer Person mittels Sprache allein stellt allerdings noch keine Diskriminierung dar, insofern daraus nicht offensichtlich eine Ungleichbehandlung resultiert. Damit eine sprachliche Diskriminierung vorliegt, muss mit der kategorialen Behandlung eine sprachlich manifeste Bewertung verbunden sein, da sonst auf der sprachlichen Ebene keine Devaluation oder gar Delegitimierung 461
der salienten sozialen Gruppe feststellbar ist. Dabei ist zu beachten, dass unter sprachlicher Diskriminierung die sprachliche Form einer Äußerung verstanden wird und nicht die daraus resultierende Ungleichbehandlung einer Person. Ob mit einer Äußerung tatsächlich eine Ungleichbehandlung einhergeht, lässt sich in der Regel am sprachlichen Ausdruck selbst nicht überprüfen, da die Ungleichbehandlung von außersprachlichen Faktoren abhängt. Somit sind sprachliche Diskriminierungen strukturell potentielle soziale Diskriminierungen. Eine Bewertung kann mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln realisiert werden. Einerseits können der salienten sozialen Kategorie explizit negativ konnotierte Ausdrücke zugeordnet werden (beispielsweise: »sind faul«). Aber auch ohne sprachlichen Ausdruck mit negativer Konnotation kann eine Bewertung vorliegen. So existieren zahlreiche implizite Realisierungen, bei welchen nur ein Teil der Bewertung oder lediglich ein Hinweis auf die Bewertung an der sprachlichen Oberfläche sichtbar ist (beispielsweise: »Dass das so endet, war ja klar«). Die Bewertung kann implizit durch Bezugnahme auf den Kontext realisiert werden, wobei der Kontext einer Äußerung als komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Arten von Wissen verstanden wird. Die Produzen t/innen müssen die Verfügbarkeit bestimmter Wissensbestände bei den Rezipient/innen voraussetzen, und die Rezipient/innen müssen erkennen, welche Wissensbestände bei der Realisierung vorausgesetzt wurden. Erst durch eine Interpretation kann letztlich entschieden werden, ob eine sprachliche Äußerung eine potentielle sprachliche Diskriminierung enthält. Da explizite Diskriminierungen sozial unerwünscht sind, werden sprachliche Diskriminierungen insbesondere in Medientexten oft implizit realisiert. Dies hat zur Folge, dass sie nicht sofort als solche erkannt werden und dass die Person, die sie geäußert hat, nicht darauf festgelegt werden kann. Dadurch besteht aber die Gefahr, dass implizite sprachliche Diskriminierungen nicht erkannt und unreflektiert weiterverbreitet werden.
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Rezeption
Renate Seebauer et al. wiesen 2006 in einem Artikel mit dem Titel »Diskriminieren durch Sprache« auf Wörter und sprachliche Wendungen mit negativen Konnotationen und deren historischen Bedeutungswandel hin. Torsten G. Schneiders publizierte 2009 (2. Aufl. 2010) einen Sammelband zur Islamfeindlichkeit in den Medien, der auch die sprachliche Diskriminierung berücksichtigte. Eispaß und Maitz editierten 2011 ein Themenheft der Zeitschrift Der Deutschunterricht zum Thema »Sprache und Diskriminierung«. An der Universität Erfurt erforschte ein von der DFG von 2011 bis 2014 gefördertes Projekt mit dem Titel »Konsens, Meinung und Tabu« Diskriminierung in Medien. Literatur Galliker, M., Huerkamp, M., Wagner, F. & Graumann, C. F. (1994). Validierung eines facettentheoretischen Modells sprachlicher Diskriminierung. Sprache & Kognition, 13, 203-220. Graumann, C. F. & Wintermantel, M. (1989). Discriminatory speech acts: A functional approach. In D. Bar-Tal, C. F. Graumann, A. W. Kruglanski & W. Stroebe (Eds.), Stereotypes and prejudice: Changing conceptions (pp. 184-204). New York, NY: Springer. Wagner, F., Galliker, M. & Weimer, D. (1997). Implizite sprachliche Diskriminierung von Ausländern zur Zeit der Wende. In M. Jung, M. Wengeler & K. Boke (Hrsg.), Die.Sprache des Migrationsdiskurses: Das Reden über »Ausländer« in Medien, Politik und Alltag (S. 230-240). Opladen: Westdeutscher Verlag. Weiterführend Wagner, F. (2001): Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt: Lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung in Medientexten. Tübingen: Narr. Franc Wagner 463
SPRACHPSYCHOLOGISCHE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Zu den Klassikern, die sich mit sprachpsychologischen Fragestellungen beschäftigten, zählen Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt (Evolutionstheorie) sowie Hajim (Heymann) Steinthal mit seiner Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft (-* Spracherwerbstheorien). Innerhalb der akademischen Psychologie des 20. Jahrhunderts gelten Karl Bühlers (1934/1982) Sprachtheorie (-• Zeichentheorie der Sprache), Alexander Romanowitsch Lurijas 1973 erschienenes Buch Gehirn in Aktion (Produktion und Rezeption unter Berücksichtigung neuropsychologischer Aspekte) und Hans Hörmanns (1976) Meinen und Verstehen als die grundlegenden Werke der Sprachpsychologie. Weitere wichtige »Beiträge zur Sprachpsychologie« haben u. a. Theo Herrmann, Joachim Grabowski, Carl F. Graumann, Arnold Langenmayr und Margarete Imhof geleistet. Theorien In der Sprachpsychologie werden in der Regel fünf Teilgebiete mit den entsprechenden theoretischen Ansätzen voneinander unterschieden: (1) Evolutionstheorie der Kommunikation: Die Evolution der Sprache wurde von Psychologen (u.a. von Uwe Jürgens in seinem im Jahre 2003 publizierten Artikel »Phylogenese der sprachlichen Kommunikation«) sowie von Soziobiologen behandelt (vgl. u.a. die von Eckart Voland 2009 veröffentlichte Soziobiologie). Im Verlaufe der Phylogenese wird der Bereich des Lernbaren breiter. Bei den höheren Primaten ist aufgrund des gewonnenen Freiraums die soziale Kommunikation schon ausgeprägt. Demgegenüber findet noch kaum Informationsvermittlung statt. Die höheren Primaten können in ersten Ansätzen mit ihren Gesten schon »über etwas« kommunizieren, sofern die fehlenden natürlichen Voraussetzungen hierzu künstlich erfüllt werden, doch ihre auditive Kommunikation dient noch ausschließlich dem unmittelbaren emotionalen 464
Ausdruck. Bei der Menschwerdung bedeutsam sind die genetische Programmierung übergreifenden Sachverhalte wie die Weitergabe und Weiterfuhrung von Werkzeugen über Generationen hinweg und Kompetenzen wie das akkumulative Auswahlvermögen. Die Produktion spezifisch menschlicher kultureller Erzeugnisse setzt neben der gleichzeitig erfolgenden synchronischen Verständigung auch die diachronische Verständigung voraus. Eine Besonderheit menschlicher Sprache im Unterschied zu den »Tiersprachen« besteht darin, dass in ihr Begriffe variantenreich und kreativ kombiniert werden. Je komplexer und differenzierter die Sprache wird, desto feiner kann wiederum die Umwelt verarbeitet werden. In das zwischenmenschliche Verhalten werden Gegenstände mit Merkmalen oder (Merk-) Zeichen dergestalt involviert, dass schließlich das integrierte Zeichen auch anstelle des Gegenstandes erscheinen kann. Vom Zeichen als Gegenstandsbezogenheit, als Denotat, unterscheidet sich das Zeichen als assoziativer Verweis, als Konnotat, das Hinweise auf Empfindungen und Emotionen eröffnet, durch welche auch Merkwörter expliziert werden können (-* Historische Psychologie als allgemeine Psychogenesetheorie). (2) Zeichentheorie und Kommunikationstheorie: Dass etwas bezeichnet werden kann, mithin ein Signifikant fiir ein Signifikat präsentiert wird, setzt eine Vermittlung zwischen Stimulus und Response voraus. Assoziationspsychologisch ausgedrückt (-•Assoziationstheorien) besteht die Vermittlung einerseits in latenten Assoziationen parallel zu den Momenten des (verbalen) Verhaltens (paradigmatische Beziehungen) und andererseits in den Relationen zwischen den sukzessive vorkommenden Elementen desselben {syntagmatische Beziehungen). Die Vermittlung zwischen Signifikant und Signifikat, Symbol und Referent, besteht aus Gedanken (Semiotisches Dreieck). Dem Referenten wird ein eigentlicher Zeichenkörper gegenübergestellt, wobei ein Interpretant vermittelt (Triadische Zeichentheorie). Bei Bühlers (1934/1982) Organon-Modell der Sprache wird das Zeichen nicht nur als Symbol des darzustellenden Gegenstandes oder Sachverhaltes aufgefasst, sondern zugleich als Symptom beziehungsweise Ausdruck des Senders sowie als Appell an den Empfänger. Das Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation von Friedemann Schulz von Thun komplementiert das Organon-Modell mit der Beziehung zwischen Sender und Empfänger. Die in diesen Modellen fehlende Verständigung 465
kann als dialogischer Dreischritt verstanden werden (-• Dialogmodelle). (3) Spracherwerbstheorie: Lange Zeit ging man davon aus, dass der Spracherwerb des Kindes mit den ersten Wörtern anfängt. Inzwischen besteht jedoch Einigkeit darüber, dass »der Erwerb der Sprache [...] lange vor den ersten produktiven Wortäußerungen« beginnt (vgl. Weinert & Grimm, 2008, S.521). Mutter und Säugling verhalten sich von Anfang an synchron zueinander. Sie befinden sich in einer gemeinsamen Lebenswelt, in der und durch die sich für den Säugling vorsprachliche Bedeutungen konstituieren. Dem aktiven Säugling angemessene Reaktionen der Mutter ermöglichen einen kindlichen Verständniszusammenhang. Sechsmonatige Säuglinge unterscheiden lautliche Kontraste, die sie in der Muttersprache oder in einer anderen Sprache differenzieren - eine generelle Fähigkeit, die im Alter von ca. zehn Monäten verlorengeht. Die Kinder beachten dann nur noch solche Differenzen, die in der eigenen Sprache bedeutsam sind. Mit der Habituations-/ Dishabituationsmethode lassen sich Differenzen hinsichtlich der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung bei der Präsentation unbekannter Phoneme im Unterschied zu bekannten Phonemen feststellen. Beim Spracherwerb, der Entwicklung des Sprechens sowie des Hörens produzierter Sprache, wird vom ersten Gurren (langgezogene, weich rollende Töne) das Lallen (Verdoppelung der Silben) unterschieden. Mit der Zeit nehmen Momente dieser lautlichen Übung Bedeutungen der Lebenswelt an. Zunächst werden Einwortsätze produziert, wobei der Signifikant mehrere Signifikate einschließen kann. Anfänglich hat das Kleinkind die Tendenz, Bedeutungen zu generalisieren (Überextension), manchmal ist aber auch das Gegenteil der Fall (Unterextension). Mit der Entwicklung von Mehrwortsätzen ergeben sich syntaktische Zusammenhänge. Beim Kind kann es zuweilen zu Überregulationen kommen (z. B. bei der Beugung unregelmäßiger Verben nach dem Muster regelmäßiger), die indes nicht als Rückstand in der Entwicklung (im Sinne einer Unterregulation) zu interpretieren sind, da das Kind eine neue grammatische Regel schon anwendet, diese Anwendung aber übergeneralisiert. Im Verlaufe der Entwicklung kommt der Standardsprache bei der Aneignung der Umgangssprache als Richtschnur eine immer größere Bedeutung zu. Ab dem Kindergartenalter wird die extern angeeignete Sprache interiorisiert, ein Vorgang, der vor 466
allem von Lew Semjonowitsch Vygotskij untersucht wurde. Fortan ist die Sprache nicht nur das Medium des stillen (Nach-)Denkens, sondern auch das wichtigste Hilfsmittel bei der Bewältigung psychischer Aufgaben, beispielsweise beim Behalten von Sachverhalten (-• Kulturhistorischer Ansatz). Zur Entwicklungspsychologie der Sprache haben zahlreiche Wissenschaftler/innen beigetragen (-• Spracherwerbstheorien). (4) Sprachverwendungstheorie: Beim Sprechen werden Signifikate in Signifikanten überführt, während beim Hören Signifikanten in Signifikate umgesetzt werden. So wie beim Sprechen das sich ohnehin signifikant Zutragende kanalisiert und abgewickelt wird, wird bei der Rezeption das ohnedies signifikativ Vorbeiziehende modifiziert. Nach Hörmann (1976) trachtet der Rezipient vor allem danach, Sinn zu >er-halten Gestalttheorie). Eine über die Psychologie hinausgehende Prominenz hat das strukturalistische Konzept des Schweizer Philosophen, Biologen und Psychologen Jean Piaget erlangt. Gegenüber ganzheitlichen sowie atomistischen Erklärungsversuchen fordert Piaget einen interdisziplinären Strukturalismus, mit dem auch andere Forschungsmethoden integriert werden können. Theorie Piaget grenzt sich in seiner erkenntnistheoretischen Schrift Strukturalismus (Piaget 1968/1980) gegen Konzepte ab, die a priori ein erkennendes Subjekt voraussetzen. Ausgehend von einfachen biologischen und kognitiven Strukturen, verfolgt er diese in ihrem Aufbau hin zu komplexeren Strukturen. Aus dem kritischen Vergleich verschiedener Konzepte leitet er ein interdisziplinäres Methodenraster für die Ontogenese von Bewusstseinsstrukturen ab. Den zentralen Begriff der Struktur definiert er wie folgt: »[Eine Struktur] ist ein System von Transformationen, das als System [...] eigene Gesetze hat und das eben durch seine Transformationen erhalten bleibt oder reicher wird [...]. Eine Struktur umfaßt die drei Eigenschaften Ganzheit, Transformationen und Selbstregelung« (ebd., S.8). Piaget hat sich in seinen psychologischen Studien auf das Handeln und Denken in der Entwicklung vom Neugeborenen bis hin zum Jugendlichen konzentriert. Die Transformation aller inneren 469
biologischen wie psychologischen Strukturen geschieht für Piaget durch die Interaktion des menschlichen Organismus mit der Umwelt. Funktionell wird einerseits die äußere Welt dem Körper einverleibt. Das nennt Piaget Assimilation. Andererseits passt sich das Innere an die Außenwelt an, was Piaget als Akkommodation bezeichnet. Die beiden gegenläufigen Prozesse stehen im Gleichgewicht. Dafiir hat Piaget den Begriff der Äquilibration verwendet. Im Leben des gesunden Menschen greifen die Prozesse der Assimilation, Akkommodation und Äquilibration kontinuierlich ineinander. Mehr als an der Alltagsperspektive war Piaget an der biologischen und psychologischen Geschichte der Menschheit interessiert (-•Genetische Epistemologie). In erster Linie verfolgen Piagets Untersuchungen das Ziel, die Entstehung der wichtigsten naturwissenschaftlichen Begriffe zu rekonstruieren. Zum Beispiel kann die Entstehung des abstrakten Zahlbegriffs aus den konkreten Handlungen des Anordnens von Objekten abgeleitet werden. So kann eine Anordnung von Objekten nach einem Merkmal, etwa ihrer physischen Größe, erfolgen. Sinnvoll ist auch das Gruppieren von Objekten nach Ähnlichkeiten, etwa der Eins-zu-eins-Zuordnung von Gegenstand und dazu passendem Gefäß, wie Piagets Forschungen mit Kindern im Vorschulalter ergeben haben. Die ursprünglich konkreten, auf die unmittelbaren Gegenstände der Umwelt bezogenen Operationen werden von Menschen verinnerlicht und in ihrem Denken abgebildet. Neue Erfahrungen fuhren zu einer Veränderung des Denkens. Piaget hat mithilfe von Experimenten mit Kindern zwischen vier und zehn Jahren eine Reihe naturwissenschaftlicher Begriffe (u.a. Zeit, Raum, Volumen) untersucht. Er unterstellte eine Analogie zwischen der Gattungsgeschichte der Menschheit und der Individualgeschichte eines Menschen. Piagets Methode zur Untersuchung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kann als systematische genetische Rekonstruktion von Erkenntniskategorien bezeichnet werden. Moderne naturwissenschaftliche Begriffe sollen über die Entstehung und Entwicklung ihrer Vorformen erklärt werden. Piaget bezeichnete seine Vorgehensweise in diesem Zusammenhang als »kritische Methode« (vgl. ausfuhrlich Vollmers, 1992, S.2i7f.), da die kindlichen Versuchspersonen durch den Experimentator in kognitive Krisen gebracht werden. Ihre begrifflichen Konzepte und Vorstellungen reichen nicht aus, um die Ergebnisse 470
der eigenen Handlungen zu verstehen. Sie müssen neue Begriffe durch Abstraktionen entwickeln. Piaget bezeichnet diesen Vorgang als reflektierte Abstraktion. Die Versuchsperson bezieht sich dabei zugleich auf die Objekte in ihrer Umwelt, ihre Handlungen an und mit ebendiesen sowie auf ihre verinnerlichten Vorerfahrungen mit ihnen. Piaget hat seine Erkenntnistheorie im französischen Sprachraum entwickelt. Sein Strukturalismus ist abzugrenzen von anderen Varianten des französischen Strukturalismus (vgl. im Folgenden ausfuhrlich Fetz, 2010). Piaget formuliert eine Gegenposition zu einem unbewussten, subjektlosen Strukturalismus, der von etlichen französischen Philosophen (zum Beispiel Jacques Lacan, Claude Levi-Strauss, Michel Foucault) vertreten wurde. In deren Perspektive erscheint individuelles Handeln und Denken als randständiges Epiphänomen, das durch nicht näher bestimmbare unbewusste Zusammenhänge gesteuert wird. Diese werden durch komplexe gesellschaftliche und historische Mechanismen in den Institutionen, Symbolen und Riten einer Kultur hervorgebracht und entziehen sich weitgehend der bewussten Erkenntnis von Individuen. Piaget vertritt demgegenüber ein positiveres Menschenbild. Individuelles Denken ist aus seiner Sicht Ausdruck der historisch bestimmbaren allgemeinen Geistesentwicklung. Indem der lebende Mensch sich dessen bewusst wird und sich die Geistesgeschichte aneignet, gelangt er zur Erkenntnis. Rezeption Als pragmatische, vom Erkenntnissubjekt ausgehende, evolutionäre Erkenntnistheorie hat Piagets Ansatz seit den 1970er Jahren eine umfangreiche Rezeption in Philosophie, Psychologie und Pädagogik erfahren, sowohl im englischen wie im deutschen Sprachraum. In der Philosophie haben sich etliche Autoren/innen mit den Bezügen zu erkenntnistheoretischen Richtungen befasst, die ebenfalls das Erkenntnissubjekt betonen und Gegenentwürfe zum Positivismus und zum Kritischen Rationalismus darstellen (-> Theorien der Psychologie und Empirie). Zu nennen sind hier vor allem Phänomenologie (-> Phänomenologische Psychologie), Dialektik und Konstruktivismus (-• Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). 471
Mit diesen Richtungen weist Piagets Konzept deutliche Ähnlichkeiten auf. In der Psychologie gab und gibt es viele Wissenschaftler/innen, die unmittelbar an Piaget anknüpfen. So hat der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg bei seiner Stufentheorie der Moralentwicklung etliche Anleihen bei Studien Piagets genommen (-•Psychologische Ansätze moralischer Entwicklung). Ein weiteres Beispiel stellt die Handlungsorientierte Didaktik des Schweizer Psychologen und Piaget-Schülers Hans Aebli dar (vgl. u. a. Aebli, 1963/1975), der in der Ausbildung von Lehrer/innen tätig war. Aebli hat nicht nur didaktische Schriften verfasst, sondern auch zahlreiche Bücher Piagets ins Deutsche übersetzt. Auf diese Weise wurden im deutschsprachigen Raum nicht allein die Kognitions- und die Entwicklungspsychologie, sondern auch die Konzepte der Lehrerausbildung sowohl in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft als auch in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nachhaltig durch Piagets strukturalistische Entwicklungstheorie beeinflusst (-•Pädagogisch-psychologische Theorien). Literatur
Aebli, H. (1963/1975). Über die geistige Entwicklung des Kindes. Stuttgart: Klett-Cotta. Piaget, J. (1968/1980). Der Strukturalismus. Stuttgart: Klett-Cotta. Vollmers, B. (1992). Kreatives Experimentieren: Die Methodik von Jean Piaget, den Gestaltpsychologen und. der Würzburger Schu Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Weiterführend
Fetz, R. L. (2010). Struktur. In C. Bermes & U. Dierse (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts (S. 355-369) Hamburg: Meiner. Burkhard Vollmers
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SUBJEKTIVE THEORIEN
Wichtige Vertreter/innen In der Soziologie wurde der »subjektive Faktor« zunächst eng mit seinen objektiven Voraussetzungen und dann auch mit den diesbezüglichen Tätigkeiten sowie deren Konsequenzen verknüpft. So schloss Boris A. Cagin 1974 neben sozialen auch emotionale und kognitive Momente mit ein. Neben den Pionieren des -•Personzentrierten Ansatzes begannen sich auch die akademischen Psychologen/innen, die bis in die 1960er Jahre hinein noch weitgehend behavioristisch geprägt waren, mit der Subjektivität des Menschen zu beschäftigen. Diverse kognitionspsychologische Konzepte des Informationsverarbeitungsansatzes können zwar sicherlich nicht den Subjektiven Theorien zugerechnet werden, werden aber recht häufig als erste Ansätze dazu genannt und zuweilen sogar unter diesem Oberbegriff subsumiert. Implizite Persönlichkeitstheorien oder sozialpsychologische Theorien wie die Attributionstheorie oder Serge Moscovicis Konzept der Sozialen Repräsentationen thematisierten subjekttheoretisch relevante Aspekte des menschlichen Verhaltens. Im Anschluss an George A. Kelleys Man of the scientist wurden Menschen generell als »kleine Wissenschaftler« betrachtet. Nach der Theorie der Laienepistemologie, zu der Arie W. Kruglanski einen großen Beitrag leistete, besteht zumindest eine gewisse Verwandtschaft zwischen den Erkenntnissen der Wissenschaftler und jenen des Mannes oder der Frau auf der Straße. Norbert Groeben und Brigitte Scheele wiesen 1977 in ihrer grundlegenden Publikation Argumente fur eine Psychologie des reflexiven Subjekts darauf hin, dass Subjektive Theorien auf der Kompetenz der Menschen zu Handlung, Kommunikation und Reflexion basieren.
Theorien Die Subjektiven Theorien von Personen entwickeln sich im Laufe ihres Lebens. Das Konzept »Theorie« soll verdeutlichen, dass es sich dabei nicht um einfache Meinungen oder Einschätzungen handelt, sondern um ein komplexes »mentales Gebilde«, das (inter) 473
subjektiv konstituiert, aber nicht ohne Weiteres ebenso zugänglich ist. Im Unterschied zu den wissenschaftlichen Theorien sind Subjektive Theorien persönlich ausgestaltet. Sie befinden sich als subjektives Wissen sozusagen »im Kopf« ihres Trägers; zugleich sind sie Teil des intersubjektiven Weltwissens. Sie haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Handlungsorientierungen der Menschen, auch wenn sie sich zunächst gar nicht oder nur indirekt manifestieren. Sie werden nicht leicht aufgegeben, können aber unter Umständen verändert und auch - insbesondere unter neuen objektiven Voraussetzungen - vergessen werden. »Subjektive Theorie« als Einheit von Erkenntnis-Subjekt (forschende Person) und -Objekt (erforschte Person) verweist auf jenes komplexe kognitive Aggregat der Selbst- und Weltsicht, das weitgehend einen impliziten Charakter hat. Implikationsanalytische Ansätze: Äußerungen, seien es Behauptungen oder nicht, beruhen auf Präsuppositionen. Beispielsweise setzt der Satz »Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahlköpfig« u. a. voraus, dass es gegenwärtig einen König in Frankreich gibt. Mit Präsuppositionen sind implizite Voraussetzungen gemeint, die beim Gebrauch der Sprache nicht angezweifelt werden. Personen stellen mit ihnen - meistens nicht bewusst - sicher, dass ihre Äußerungen richtig sind. In der Regel bleibt eine Prüfung zumindest zum Zeitpunkt der ersten Rezeption und der routinierten Sprachverwendung aus. Die stillschweigenden Voraussetzungen können im Prinzip expliziert werden, wenn auch meistens nur mit Hilfe eines Gesprächspartners. Verbale und nonverbale Signale aktueller Äußerungen, die auf frühere Äußerungen und Gewohnheiten Bezug nehmen, tragen zur Freilegung der Tiefenstruktur der Sprache bei. Gegebenenfalls kommen verborgene Überzeugungen zum Vorschein, die sich als die fehlenden Bausteine der betreffenden Subjektiven Theorien erweisen. Die Alltagssprache beinhaltet auch reichhaltiges allgemeines psychologisches Wissen, das es u. a. erlaubt, sich im zwischenmenschlichen Verkehr zurechtzufinden. Diese Implikationen können subjekttheoretisch aufgefasst werden. Im Rahmen der Psychologik wurden psychologische »Gesetzmäßigkeiten« expliziert, die nichts »verbieten«, also nicht falsifizierbar sind, beispielsweise im Satz: »Verhaltensweisen, die belohnt werden, werden vermehrt ausgeführt [d.h. >lohnen sich Semiotisch-ökologische Psychologie). In weiterer Folge hat Boesch seine Handlungstheorie zu einer kulturpsychologischen Grundlagentheorie weiterentwickelt, die er Symbolische Handlungstheorie nennt (Boesch, 1991). Theorie Die Symbolische Handlungstheorie geht davon aus, dass Handlungen durch die symbolische Wahrnehmung von Objekten und Situationen gesteuert werden. Objekte werden demnach nicht als Träger physikalisch beschreibbarer Eigenschaften wahrgenommen, sondern als Symbole von Handlungsmöglichkeiten: eine Axt etwa als Instrument zum Zerkleinern eines Holzscheits (quer< zu den geläufigen Paradigmen«. Mit dem Erscheinen des in englischer Sprache veröffentlichten Hauptwerks Symbolic action theory and cultural psychology (Boesch, 1991) hat die Symbolische Handlungstheorie auch in der angloamerikanischen Forschung stärkere Aufmerksamkeit gefunden. Das Werk Boeschs ist 2007 durch die Herausgabe eines englischsprachigen Readers gewürdigt worden (Lonner & Hayes, 2007), der neben Übersetzungen von Schlüsselpassagen aus den Werken Boeschs auch Kommentare und biographische Skizzen enthält. Literatur Boesch, E. E. (1983). Von der Handlungstheorie zur Kulturpsychologie. Saarbrücken: Universitätsverlag. Boesch, E. E. (1991). Symbolic action theory and cultural psychology. Berlin: Springer. Lonner, W. J. & Hayes, S. A. (Eds.). (2007). Discovering cultural psychology: A profile,and selected readings of Ernest E. Boesch. Charlotte, NC: Information Age Publishers. Weiterführend Boesch, E. E. & Straub, J. (2007). Kulturpsychologie - Prinzipien, Orientierungen, Konzeptionen. In G. Trommsdorff & H.-J. Kornadt (Hrsg.), Theorien und Methoden der Kulturvergleichenden Psychologie (S. 25-95). Göttingen: Hogrefe. Christian Allesch
TÄTIGKEITSTHEORIE DER PERSÖNLICHKEIT
Wichtige Vertreter/innen Als Tätigkeitstheorie wird der Ansatz bezeichnet, den Alexej Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) mit der Charkower Gruppe - darunter Pjotr J. Galperin (1902-1988) - in Auseinandersetzung mit Arbeiten Lew Semjonowitsch Vygotskijs entwickelt hat. Es wird - u.a. in Bezug auf die jeweilige Rolle der Sprache - debattiert, inwiefern es sich um eine Weiterfuhrung oder einen Bruch mit dem Kulturhistorischen Ansatz handelt. In der Tätigkeitstheorie sind auch persönlichkeitspsychologische Fragen bearbeitet worden, weshalb man von einer Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit spricht.
Theorie Bereits in den 1930er Jahren arbeitet Leontjew an einer Tätigkeitstheorie. Ihre Grundlagen finden sich vor allem in Probleme der Entwicklung des Psychischen (Leontjew, 1971 [1959]) und seiner Arbeit Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit (Leontjew, 1979/1975). Letztere enthält auch eine tätigkeitstheoretisch konzipierte Persönlichkeitspsychologie. Zum Grundgerüst der Theorie gehören drei Begriffspaare, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen (vgl. ebd., S. 101-120): Tätigkeit und Motiv, Handlung und Ziel sowie Operation und Bedingung. (1) Tätigkeiten sind gegenständlich, wobei »gegenständlich« materielle und immaterielle Gegenstände umfasst. Der Gegenstand, auf den sich eine Tätigkeit richtet, ist zugleich ihr Motiv, hinter dem ein Bedürfnis steht. Gegenstandslose Tätigkeiten gibt es nicht, mithin keine unmotivierten Tätigkeiten. (2) Tätigkeiten setzen sich aus Handlungen zusammen, sie verwirklichen eine bestimmte Tätigkeit. Den Handlungen wiederum sind Ziele inhärent, wobei ihr Erreichen Zwischenergebnisse bei der Befriedigung des Bedürfnisses darstellen, das hinter dem Motiv steht. Die Handlungen sind (zumeist) nicht unmittelbar auf die Befriedigung des Motivs gerichtet. Zur Illustration: Die Hand482
lung eines Treibers bei der Jagd (siehe Leontjew, 1971, S. 168-171) erscheint unzweckmäßig, denn statt sein Nahrungsbedürfnis durch die Tötung des Wildes zu befriedigen, scheucht er das Tier von sich weg. Erst im Kontext eines gesellschaftlich vermittelten Tuns wird diese Handlung sinnvoll. Durch das Erschrecken der Beute führt der Treiber sie nämlich den Jägern zu, die das Wild dann leichter erlegen können. Dadurch sind Jäger und Treiber gleichermaßen verantwortlich und am Erfolg beteiligt. Das ursprüngliche Motiv äußert sich also nicht in einer unmittelbar auf es gerichteten Tätigkeit, sondern auf dem Umweg über bestimmte Handlungen, die jedoch im Gesamt eine Tätigkeitsstruktur bilden und dem ursprünglichen Motiv dienen. (3) Operationen sind ihrerseits nötig, um Handlungen zu verwirklichen. Sie hängen von Bedingungen ab, etwa von Gegebenheiten der dinglichen Umwelt und der menschlichen Physiologie. Um einen Aufsatz am Computer zu schreiben, bedarf es z. B. einer Tastatur, die die Person, die den Text schreiben möchte, auch bedienen können muss. Hierzu muss sie ihre Finger in bestimmten Arten und Weisen bewegen können. Insgesamt gilt, dass identische Operationen unterschiedlichen Handlungen, unterschiedliche Operationen identischen Handlungen, identische Handlungen unterschiedlichen Tätigkeiten und unterschiedliche Handlungen identischen Tätigkeiten dienen können - von schlichten Zuordnungen, auch von temporal invarianten Fixierungen wird nicht ausgegangen. Tätigkeiten können also ihre Wichtigkeit verändern, an ihre Stelle können andere Tätigkeiten treten. Es kann auch das, was ehedem Handlung war, zu einer Tätigkeit werden. Wichtig ist auch, dass Handlungen zu Operationen »absinken« und Operationen zu Handlungen »aufsteigen« können. Die Tätigkeit »Lernen, ein Auto zu fahren« z. B. kann die Handlung umfassen »Lernen, die Kupplung adäquat zu bedienen«, wobei Letzteres für die geübte Autofahrerin dann allerdings keine Handlung mehr, sondern eine bloße Operation darstellt. In Leontjews Persönlichkeitstheorie wird man als Individuum geboren, zur Person wird man erst. Eine Person machen nämlich ihre Tätigkeiten aus, die kein biologisches, sondern ein soziokulturelles Produkt sind. Insofern stellen Tätigkeitsanalysen den Kern persönlichkeitspsychologischer Analysen dar. Freilich sind Tätigkeiten in gesellschaftliche Bezüge eingebettet. Daher sind die ge483
seilschaftlichen Bedingungen fiir die Persönlichkeitsentwicklung zentral. Im günstigen Falle stimmen dabei gesellschaftliche Bedeutungen - worunter die in einer Gesellschaft verbindlichen Werte, Normen etc. verstanden werden - und persönlicher Sinn, der in den Tätigkeiten realisiert werden soll, überein (Leontjew, 1979, S. 136152). In den gesellschaftlichen Bedeutungen ist der Bestand der kollektiv gemachten Erfahrungen gespeichert, die von den Individuen im Zuge gegenständlicher Tätigkeiten angeeignet werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund persönlicher Voraussetzungen, weshalb von einem persönlichen Sinn der jeweiligen Bedeutung gesprochen wird. Sehr früh im menschlichen Leben werden direkte zwischenmenschliche Beziehungen von vermittelten Relationen abgelöst, wobei sich Phasen der »überwiegenden Entwicklung der gegenständlichen [...] Tätigkeit« mit Phasen der »vorrangigen Entwicklung der sozialen Beziehungen, der Beziehungen zur Gesellschaft« abwechseln (ebd., S.198). Dadurch wird der Gesichtskreis immer stärker erweitert. Hierbei vervielfältigen sich Ziele und Motive, damit auch die Möglichkeit entsprechender Konflikte. Rezeption Die Tätigkeitstheorie (der Persönlichkeit) wurde in der Sowjetunion bzw. im postsowjetischen Russland u. a. von Pjotr I. Zincenko sowie Aleksej Alekseevic und Dimitrij Alekseevic Leontjew weitergeführt. Im deutschsprachigen Raum wurde die Theorie in der -•Kritischen Psychologie Klaus Holzkamps rezipiert. Ferner hat Thomas Kussmann die Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit z.B. mit persönlichkeitspsychologischen Auffassungen Hans Thomaes verglichen (-•Organisationspsychologische Theorien). In der Arbeits- und Organisationspsychologie haben sich vor allem Winfried Hacker und Walter Volpert auf die Tätigkeitstheorie bezogen. Eine starke Rezeption findet in Skandinavien statt, wo z. B. lernpsychologische Weiterentwicklungen durch Yrjö Engeström zu beobachten sind.
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Literatur
Leontjew, A. N. (1971/1959). Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin: Volk und Wissen. Leontjew, A. N. (1979/1975). Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein. Wertsch, J. V. (Ed.). (1981). The concept ofactivity in Soviet psychology. Armonk, NY: Sharpe. Weiterfuhrend Kölbl, C. (2006). Die Psychologie der kulturhistorischen Schule: Vygotskij, Lurija, Leont'ev. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Carlos Kölbl
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THEORETISCHE PSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Die Theoretische Psychologie ist keiner spezifischen psychologischen Fachdisziplin zuzuordnen, sondern sieht sich als eine Art Metapsychologie. Sie möchte, im Gegensatz zur Empirischen Psychologie, einerseits deduktiv theoretische Grundlagen psychischer Prozesse (Erleben und Verhalten) erarbeiten, andererseits die erkenntnistheoretischen Grundannahmen, Begriffe und Kategorien psychologischer Theorien analysieren und bewerten. Während die Theoretische Psychologie eine Epistemologie psychischer Prozesse und Prinzipien vertritt, setzt sich die -•Wissenschaftstheorie eher mit methodenkritischen Fragen und inhaltlichen Abgrenzungen gegenüber andern Disziplinen auseinander. Das Ziel der Theoretischen Psychologie ist es, relativ frei von Richtungen (Schulen) und philosophischen Anschauungen die grundlegenden Erkenntnisquellen der Psychologie, ihren Gegenstand sowie ihre allgemeinen Gesetzmäßigkeiten beschreiben zu können. Hierbei orientiert sie sich an der theoretischen Physik. Sie hatte es schwer, sich zu etablieren, da innerhalb der Psychologie ein naturwissenschaftliches Paradigma vertreten wurde (-• Theorien der Psychologie und Empirie). Insbesondere die Auseinandersetzung der Empirischen Psychologie mit der Philosophie im Psychologismus-Streit Anfang des 20. Jahrhunderts, nach dem sich die Psychologie nicht in Fragen der Erkenntnistheorie einzumischen habe, erschwerten eine tiefer greifende Beschäftigung der Psychologie mit erkenntnistheoretischen Problemen. Ab den 1920er Jahren wurden in der Psychologie zahlreiche Werke zur Theoretischen Psychologie veröffentlicht. Als wichtige Vertreter sind Carl Stumpf (1848-1936), Johannes Lindworsky (1875-1939) und Wilhelm Wundt (1832-1920) zu nennen. Theorien Theoretische Psychologie nach Johannes Lindworsky: Lindworsky (1932) unterschied in seiner Konzeption Gesetze, die auf physiologische, und solche, die auf psychische Bedingungen zurückzufuh486
ren seien. Er wollte mit seiner Theoretischen Psychologie eine Ergänzung zur experimentellen Psychologie schaffen, vergleichbar der theoretischen Physik fiir die experimentelle Physik. Lindworsky (1932, S. 2 f.) sieht vier Punkte als Hauptanliegen der theoretischen Psychologie: (1) Einordnung der zahllosen empirisch gefundenen Einzeltatsachen in ein überschaubares System, (2) Zurückfiihrung dieser Tatsachen auf eine relativ geringe Anzahl von Grundtatsachen und Annahmen, (3) Ableitung noch nicht beobachtbarer Erscheinungen aus den aufgestellten theoretischen Sätzen und (4) Anregung zu neuen Experimenten und Beobachtungen, durch die wiederum die Richtigkeit der theoretischen Auffassung nachgeprüft wird. Als Gegenstand der Psychologie (theoretisch wie experimentell) sieht er »die beobachteten Bewußtseinserscheinungen und deren mehr oder weniger unmittelbar erschließbare [] Zusammenhänge« (S.3). In seiner Theoretischen Psychologie unterschied Lindworsky grundlegend zwischen Inhalts- und Verlaufsgesetzen. Während die Inhaltsgesetze nach den Bestandteilen oder Elementen des Erlebens fragen, beziehen sich die Verlaufigesetze auf die Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich der Abfolge der Erlebnisse. Über den Vorgang des Abstrahierens bei Wahrnehmungsprozessen möchte er klären, welche Bestandteile einem Gesamterlebnis wesentlich sind und welche dieses lediglich beschreiben. So nahm er eine Autonomie einzelner Erlebniszüge an, die fiir ihn seelische Elemente darstellen. Lindworsky stellte ein Gesetz der Kontinuität auf: Jedes Erlebnis muss eine Empfindungsgrundlage haben, auf die Gefühle und dann Bestrebungen hierarchisch folgen. Sachwissen setzt wiederum die erkennenden Haltungen, Streben, Empfindungen und Gefühle voraus. Theoretische Psychologie nach Carl Stumpf: Carl Stumpf (1939/40) geht es in seiner Erkenntnislehre um eine theoretische Begründung der wissenschaftlichen Psychologie. Er erkannte, dass sich die akademische Psychologie vom metaphysischen Begriff einer substantiellen Seele der Philosophie getrennt habe und sich nunmehr als eine Naturwissenschaft betrachte. Stumpf zufolge machen naturwissenschaftliche Methoden wie das Experiment allerdings aus der Psychologie noch keine Naturwissenschaft. Er fragte zunächst nach dem Ursprung der Begriffe und der Erkenntnisse und kam auf der Grundlage der Phänomenologie seines Lehrers Franz Brentano zur Feststellung, dass Erkenntnisse stets Urteile seien. Während die 487
Begriffsanalyse eine psychologische Fragestellung darstellt, da sie auf Inhalte der Wahrnehmung (Ton, Farbe) Bezug nimmt, ist die Frage der Urteile eine erkenntnistheoretische. Er nahm die wichtige Unterscheidung zwischen psychischen Erscheinungen (Inhalten der Wahrnehmungen) und psychischen Funktionen (psychischen Akten wie Fühlen, Wahrnehmen etc.) vor. Obgleich Psychisches wie Physisches nach Stumpf Erscheinungen sind, ist das Psychische dem erkennenden Subjekt über Introspektion unmittelbarer zugänglich als das Physische (-•Selbstbeobachtungskonzepte). Im Zentrum der Erkenntnislehre steht jedoch die Struktur der Sinneswahrnehmung. Stumpf postuliert eine immanente abgestufte Verwandtschaft der sinnlichen Erscheinungen, die er als isolierte und abhängige Teile eines strukturierten Ganzen, eines Empfindungsganzen, auffasst (-•Gestalttheorie). Theoretische Psychologie nach Wilhelm Wundt: Wundt propagier schon in seinen Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele aus dem Jahre 1863 einen Psychophysischen Parallelismus als Antwort auf das Leib-Seele-Problem und formulierte Erkenntnisprinzipien der psychischen Kausalität. Mit der Einführung des Begriffs Psychophysischer Parallelismus wollte er einen substantialistischen Seelenbegriff vermeiden, der den Geist als eine dinghaft-materielle oder auch idealistisch-transzendente Entität ansieht. Im Gegensatz dazu betonte er die Prozesshaftigkeit des Psychischen bzw. die psychologische Erfahrung als unmittelbare Wirklichkeit, was er als Aktualitätstheorie oder -prinzip bezeichnete. Er vertrat den Psychophysischen Parallelismus, ohne sich damit metaphysisch in irgendeiner Form festlegen zu müssen. Aus diesen Annahmen folgt, dass psychische Prozesse nicht länger kausal aus physischen Prozessen abzuleiten sind. Es ist die psychische (und nicht die physische) Kausalität, die die Ereignisse in unserem Bewusstseinsstrom zu einem einheitlichen Fluss verbindet, was schließlich den Weg freilegte, die Psychologie als selbständige Wissenschaft zu verstehen. Rezeption Im deutschsprachigen Raum waren es vor allem die Arbeiten Dietrich Dörners zum Problemlösen (-•Problemlösungstheorien), zum Denken und Handeln in komplexen Situationen (z. B. die Lohhau488
sen-Studie) oder zur Erklärung der Entstehung mentaler Zustände aus ihren physischen Grundlagen, die zu den wichtigen Arbeiten der Theoretischen Psychologie gezählt werden können (vgl. u.a. Dörner, 2008). Obgleich die Theoretische Psychologie wenig Einfluss auf die psychologische Forschung ausübte, häufig weil sie zu abstrakt ist, um auf konkrete psychologische Theorien angewendet zu werden, oder weil sie über keine exakte Methodik (keine klaren Kriterien fur die Einteilung und Evaluation psychologischer Theorien) verfugt, etablierte sie sich besonders im angloamerikanischen Bereich an Universitäten mit eigenen wissenschaftlichen Zeitschriften (u.a. Theory and Psychology). Daher wurde in der Psychologie eine verstärkte Theorieintegration gefordert, um die vielen singulären Theorien zu einer übergeordneten Theorie zusammenzufassen (vgl. u.a. Lüdmann, 2014). Der Schwerpunkt wird in der Psychologie zu stark auf den context of justification und weniger auf den context of discovery gelegt, das heißt, Theorien werden eher konstruiert, anstatt sie aus den Bedingungen des Forschungskontextes logisch und stringent herzuleiten, und bilden somit kein Abbild der Realität, worauf Theo Herrmann und Kurt Stapf bereits 1971 hingewiesen hatten. Literatur
Lindworsky, J. (1932). Theoretische Psychologie im Umriß. Leipzig: Barth. Lüdmann, M. (2014). Der Mythos der verspäteten Wissenschaft. Oder warum wir theoretische Psychologie brauchen. In W. Mack, H.E. Lück, K.H. Renner & U. Wolfradt (Hrsg.), Behaviorismus und Erkenntnistheorie im psychologisch-historischen Kon text (S. 85-98). (Beiträge zur Geschichte der Psychologie, Bd. 27) Frankfurt/M.: Lang. Wolfradt, U. (2012). Theoretische Psychologie: Eine historische Betrachtung eines Begriffes und seiner Inhalte. In A. Stock, H.-P. Brauns & U. Wolfradt (Hrsg.), Historische Analysen und empirische Psychologie (S. 23-36). Frankfurt/M.: Lang.
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Weiterführend Dörner, D. (2008). Über die Notwendigkeit einer Theoretischen Psychologie. In B. Krause (Hrsg.), Entwicklungen in der Experimentellen Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (S. 13-32). Berlin: ZeE-Verlag. Uwe Wolfradt und Mike Lüdmann
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THEORIE DER SOZIALEN IDENTITÄT
Wichtige Vertreter/innen Einen Grundstein zur Entwicklung der zentralen Theorien zur sozialen Identität (SI) legte z. B. Muzafer Sherif zu Beginn der 1950er Jahre mit der Theorie des Realistischen Gruppenkonflikts. 1971 zeigte Henri Tajfel u.a. mittels des Minimalgruppenparadigmas (MGP), dass ein realistischer Konflikt nicht notwendig ist, um Diskriminierung auszulösen (-•Soziale Kategorisierung und Diskriminierung). Die beiden wesentlichen Theorien zur SI bauen auf diesen Befunden auf: die Theorie der Sozialen Identität (SIT) von Henri Tajfel und John Turner aus dem Jahre 1979 sowie die Theorie der Selbstkategorisierung (SCT) von Turner (1987) (-• Sozialpsychologische Theorien). Theorien Nach der Theorie des Realistischen Gruppenkonflikts bilden sich aus den Beziehungen zwischen den Gruppen die Einstellungen ihrer Mitglieder. Die Beziehungen hängen von den konkreten Interessen dieser Gruppen ab. Gibt es einen Konflikt, z. B. um Ressourcen, so entsteht Wettbewerb, der negative Einstellungen und Diskriminierung der Fremdgruppenmitglieder zur Folge hat. Besteht hingegen gegenseitige Abhängigkeit, etwa um gemeinsame Ziele zu erreichen, so verhalten sich die Mitglieder der unterschiedlichen Gruppen positiv zueinander, indem sie sich unter anderem kooperativ zeigen. Später konnte gezeigt werden, dass eine Bevorzugung der Eigengruppe auch ohne Konflikt entsteht. Dazu befassten sich Tajfel et al. mit der Untersuchung von Diskriminierung durch bloße Zuweisung von Individuen zu objektiv bedeutungslosen Gruppen, z.B. in einer Studie durch zufällige Einteilung in Anhänger der Maler Klee oder Kandinsky. Danach sollten die Versuchspersonen kleine Geldbeträge jeweils einem unbekannten Mitglied der Eigenund Fremdgruppe zuweisen. Neben einer Tendenz, fair aufzuteilen, wurden Mitglieder der Eigengruppe bevorzugt - ein Ausdruck von 491
Diskriminierung, ohne dass ein realistischer Gruppenkonflikt vorlag. Darüber hinaus zeigte sich, dass nicht der absolute Gewinn der Eigengruppe, sondern der relative Gewinn der Eigen- im Vergleich zur Fremdgruppe maximiert wurde. Ausgehend von diesen Befunden entwickelten Tajfel und Turner die SIT mit der grundlegenden Annahme, dass Individuen nach positiver sozialer Distinktheit streben. Um den relativen Status der Eigengruppe zu bestimmen und damit Informationen über die eigene Person zu gewinnen, stellt das Individuum Vergleiche zu anderen Gruppen an (»Was bedeutet es, dass ich Deutscher - und nicht Italiener - bin?«). Um das Bedürfnis nach positiver sozialer Distinktheit zu befriedigen, müssen solche Vergleiche positiv ausfallen. Dieser Vergleich geht immer auch mit einer Diskriminierung der anderen Gruppen einher, um selbst eine positive SI zu erreichen (-•Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung). Damit es zu sozialer Diskriminierung kommt, müssen der SIT nach folgende Bedingungen erfüllt sein: (i) Das Individuum identifiziert sich mit der Eigengruppe. (2) Ein Intergruppenvergleich ist auf individuell bedeutsamen Dimensionen möglich. (3) Es existiert eine fiir diese Dimensionen relevante Vergleichsgruppe. Wenn Vergleichsergebnisse dazu fuhren, dass keine befriedigende SI herbeigeführt wird, wenden Individuen laut SIT folgende Strategien an: Individuelle Mobilität: Die Gruppe verlassen und einer positiver bewerteten Gruppe beitreten. Sozialer Wandel: Wettbewerb mit der Fremdgruppe, wie z.B. eine Revanche im Sport, um ein anderes (besseres) Ergebnis fiir die Eigengruppe zu erzielen. Alternativ zu faktischen Veränderungen kann das Individuum den Gruppenvergleich auch kognitiv verändern: Dimension umdefinieren: Die Eigengruppe ist zwar unterlegen bei Dimension A, aber erfolgreicher bei B (»Wir haben keine Ahnung von Computern, aber sehen dafür besser aus«). Bewertungsrichtung einer Dimension umkehren: Was vorher schlecht war, ist nun gut (»Black is beautiful«). Vergleichsgruppe wechseln: Ein neuer Vergleich mit unterlegenen Fremdgruppen lässt die Eigengruppe besser abschneiden (»Wir sind im Hochschulranking nicht auf Platz 1, aber die Hochschule X steht noch weiter unten auf der Liste«). 492
Diese Strategien können sich aber nur auf die SI auswirken, wenn die neue Bewertung sowohl von der Eigen- als auch der Fremdgruppe anerkannt wird. Intergruppenkonflikt ist laut SIT Kampf um Anerkennung. Um zu klaren, was Individuen bewegt, einen Kontext als intergruppal zu bewerten und sich selbst als Gruppenmitglied zu sehen, entwickelte Turner die SCT (s.o.). Die personale oder soziale Identität bestimmt laut SCT, ob das Verhalten als interpersonal oder intergruppal zu bezeichnen ist. In einem als dynamisch aufgefassten Prozess der kognitiven Repräsentation des Selbstkonzepts kann das Individuum zwischen personaler und sozialer Identität wechseln. Bei der personalen Identität geht es um »ich versus jemand anderes«, bei der sozialen Identität um »wir versus die anderen«. Bei der Selbstkategorisierung auf intergruppaler Ebene steigt die wahrgenommene Heterogenität zwischen Gruppen und die Homogenität innerhalb der Gruppen. Laut SCT sind unterschiedliche und ineinander verschachtelte Kategorienzugehörigkeiten möglich. So kann ein Individuum zugleich Hamburger, Deutscher und Europäer sein. Inkludiert ist in allen diesen Kategorienzugehörigkeiten aber immer auch das personale Selbst, nämlich die exklusive eigene Kategorisierung als Individuum (-*• Selbstaufmerksamkeitstheorie). Neben dieser multiplen vertikalen Kategorienzugehörigkeit gehören Individuen immer auch mehreren Kategorien an, die sich nicht eindeutig über- oder unterordnen lassen (multiple horizontale Kategorienzugehörigkeit), wie z. B. Forscher, Gitarrist und Autofahrer. Die SI ist somit nicht statisch zu verstehen. Sie ist veränderbar, und durch Interaktion mit anderen Individuen können unterschiedliche Kategorien eines Individuums aktiviert und diesem bewusst werden. Rezeption SIT und SCT werden nach wie vor herangezogen, um Bedingungen und Konsequenzen psychischer Zustände zu erklären, in denen die SI hoch salient wird, also das Individuum sich selbst vor allem als Mitglied einer Gruppe sieht (z.B. als Deutscher im Ausland). Hierzu ist es nicht erforderlich, dass die realen Unterschiede zwi493
sehen den Gruppen besonders groß sind; gerade kleine Differenzen können die Diskriminierung von Individuen der jeweils anderen Gruppe fördern, da bei hoher Ähnlichkeit zwischen den Gruppen das Bedürfnis, eine positive SI zu schaffen, besonders stark ausgeprägt ist. Die SIT und ihre Weiterentwicklungen tragen zur Erklärung und im angewandten Kontext zur Reduktion von Intergruppenkonflikten bei. Literatur Mummendey, A. & Otten, S. (2002). Theorien intergruppalen Verhaltens. In D. Frey & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie. Bd. II (S. 95-119). Bern: Huber. Tajfel, H. (1971). Social categorization and intergroup behavior. European Journal ofSocial Psychology, /, 149-178. Turner, J. (1975). Social comparison and social identity: Prospects for intergroup behavior. European Journal of Social Psychology; 5> 5-34. Weiterführend Austin, W. G. & Worchel, S. (Eds.). (1979). The social psychology of intergroup relations. Belmont, CA: Wadsworth. Christine Flaßbeck und Hans-Peter Erb
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THEORIEN DER PSYCHOLOGIE UND EMPIRIE
Wichtige Vertreter/innen Mit dem Verhältnis von Theorie und Erfahrung im naturwissenschaftlichen Sinne (etwa im Unterschied zur Erfahrung in der -•Phänomenologischen Psychologie) setzte sich vor allem Karl Popper in seiner im Jahre 1934 erstmals publizierten Logik der Forschung auseinander. Die Protagonisten des Kritischen Rationalismus (u. a. auch Hans Albert, Volker Gadenne, Joseph Agassi und John Wetterstein) betrachteten im Unterschied zum Klassischen Rationalismus eines Rene Descartes (1596-1650) jegliches Wissen als immer nur vorläufiges Wissen. Theorie Popper und seine Nachfolger haben auf diverse wissenschaftstheoretische Probleme hingewiesen, die nicht zuletzt auch die Psychologie, jedenfalls in ihrem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis, tangieren. Induktionsproblem: Als Induktionsschluss bezeichnet man einen Schluss von besonderen Sätzen, die Beobachtungen betreffen, auf allgemeine Sätze. John Stuart Mill, neben Isidore Auguste Comte wohl der prominenteste Positivist des 19. Jahrhunderts, behauptete noch in der Tradition des britischen Empirismus, dass alle Wissenschaften letztlich induktive Wissenschaften sind (inklusive der sogenannten deduktiven Wissenschaften). Die Frage, ob und wann induktive Schlüsse berechtigt sind, wurde später von Popper als Induktionsproblem bezeichnet. Ein solcher Schluss könne sich immer als falsch erweisen, da hierfür noch so viele Beobachtungen eines Attributs, eines Dings oder eines Sachverhalts nicht ausreichen würden, ihn zu beweisen. Indes könnten umgekehrt - Popper macht sich hier die logische Asymmetrie zunutze - besondere Sätze allgemeinen theoretischen Aussagen widersprechen und sie nach Replikationen der Überprüfung definitiv widerlegen. Basisproblem: Nach Popper zwingen bei der Überprüfung einer Theorie die logischen Verhältnisse niemals dazu, bei bestimmten 495
empirischen Sätzen bzw. Basissätzen stehenzubleiben und gerade dieselben anzuerkennen oder zurückzuweisen. Jeder Basissatz könne wiederum durch Deduktion anderer Sätze überprüft werden, so dass das Verfahren nie ein >natürliches< Ende finde. Den Prüfern bleibe also nichts anderes übrig, als sich an irgendeiner Stelle fiir vorläufig befriedige zu erklären. Indessen ist fiir Popper der im Prinzip unendliche Vorgang unerheblich, da mit den sogenannten >Basissätzen< sowieso niemals theoretische Sätze >begründetbewiesen< oder >verifiziert< werden können. Bei diesem Abschied von jeglichem Fundamentalismus - letztlich durch die Intersubjektivität der Forscher/innen und die Dominanz der Theorie - bleibe indes dennoch ein Problem an der >Basis< bestehen: Die intersubjektive Festsetzung der empirischen Sätze erfolge immer im Verlaufe der Überprüfung der Theorie, bei der ebendiese Theorie schon zu ihrer Anwendung gelange. Hans Albert bemerkte 1968 in seinem Traktat über kritische Vernunft neben dem infiniten Regress und dem dogmatischen Abbruch den logischen Zirkel als dritte inakzeptable Möglichkeit im herkömmlichen Begründungs- respektive Verifikationsverfahren. Operationalisierungsproblem: Nach der Kognitiven Wende wurden die Inhalte der Psychologie im Sinne übersinnlicher hypothetischer Konstrukte bzw. Intervenierender Variablen (IV) formuliert. Demnach war ein Konstrukt (bzw. eine IV) in eine Beobachtungssprache zu >übersetzen< bzw. zu operationalisieren. Unweigerlich stellte sich damit die Aufgabe, fiir >Nicht-Beobachtbares< im beobachtbarem Indikatoren zu finden respektive zu definieren. 1963 wies Klaus Foppa im Rahmen der Tübinger Motivationskontroverse daraufhin, dass sich bei einem kognitionspsychologischen Paradigma lediglich die IV als Funktion der Beobachtungsgröße und dieselbe wiederum als Funktion der IV herausstelle (vgl. Galliker, 2014, S.220). Zudem erfolgt mit der Operationalisierung ein Wechsel des Mediums (von körperlich zu kognitiv). Gleichwohl wird das Operationalisierungsproblem in der Forschungspraxis sowie in der -•Wissenschaftstheorie häufig auf einen »Bedeutungsüberschuss« der Theorie bzw. der Hypothese gegenüber der realwissenschaftlich untersuchten Empirie reduziert (surplus meaning). Nach Gadenne (1984) ist jedoch die Aussage, dass sich »ein psychischer Zustand [...] in einem bestimmten Verhalten manifestiert oder daß eine experimentelle Manipulation einen bestimmten psychischen Vor496
gang auslöst, [...] eine Hypothese, die wahr oder falsch sein kann und deshalb der Validierung bedarf« (ebd., S. 26; Hervorhebungen i. Orig.). Würde man diese Hypothese überprüfen, käme ein neues Operationalisierungsproblem zum Vorschein, für das ebenfalls wieder eine Lösung gesucht werden müsste etc. Würde man diesem unendlichen Regress gegenüber die Operationalisierung als bloße sprachliche Konvention behandeln, könnte man den theoretischen Satz nur konkretisieren, was ein theoretisches Defizit der Empirie bzw. einen Überschuss der Theorie bedeuten würde, oder der empirische Satzfielemit dem theoretischen zusammen, so dass der Geltungsbereich der Theorie genau auf jene experimentelle Situation reduziert würde. Prüfbarkeitsproblem: Bereits Popper hatte darauf hingewiesen, dass mit der vordergründigen Plausibilität einer Aussage ihr empirischer Gehalt zurückgeht und die Aussage schließlich nicht mehr als empirisch gelten kann, wenn sie nichts mehr > verbiete*. Forschungslogisch betrachtet müssten bei jedem Falsifikationsversuch möglichst >mutige Hypothesen< überprüft werden (vgl. Westermann, 2000, S.437). Die meisten Experimentalpsychologen formulieren indes ihre Hypothesen so, dass sie voraussichtlich der zu erwartenden Empirie gerade nicht widersprechen. In vielen Fällen gehören die in Aussicht gestellten >Effekte< schon vor der Untersuchung zum expliziten oder impliziten Alltagswissen. Ein Beispiel: »Wenn Personen andere Personen sehen, denen es schlechter geht als ihnen selbst, fühlen sie sich besser« (downward comparison). Meistens könnten in die Formulierung entsprechender Befunde Wörter wie »selbstverständlich«, »trivialerweise« oder auch »vernünftigerweise« eingefügt werden, ohne dass sich der Sinn des Satzes bzw. der Hypothese ändern würde. Eine experimentelle Untersuchung dessen, was schon im Sprachgebrauch und/oder in der grammatischen Struktur liegt, ist ein Kategorienfehler und keine wissenschaftliche Unternehmung (-• Psychologik). Entscheidungsproblem: An den Anfang einer neuen experimentellen Untersuchung werden in der Regel bereits vorliegende Befunde zum gleichen Forschungsthema gestellt. In den meisten Fällen widersprechen sich diese Befunde mehr oder weniger untereinander. Die einen Befunde weisen mehr in die Richtung der neu zu überprüfenden Hypothese und die anderen Befunde mehr in die Gegenrichtung. Bei der nächsten >weiterfuhrenden< Untersuchung er497
gibt sich meistens eine nur minimal veränderte Ausgangssituation. Wieder wird eine Reihe von Befunden vorgeführt, die eher fur die neue Hypothese, und andere, die eher gegen sie sprechen. Im Prinzip handelt es sich um eine scheinbar unaufhaltsame Spielerei bzw. um einen unendlichen Prozess (siehe oben). Es resultieren immer wieder Zusammenstellungen von >BefundenUnterscheidungenBeispielgeber< fur die eigentliche Forschung. Nach Hans-Peter Krüger im 10. Beitrag im »Diskussionsforum« (vgl. ebd., S.254f.) wird dabei übersehen, auf welchem schmalen »Validitäts-Fundament« die Grundlagenforschung aufgebaut und demzufolge wie begrenzt die Übertragbarkeit auf entsprechende Praxisfelder ist. Bidirektionaler Transfer: Krüger zufolge muss die Beziehung Grundlagenforschung - Angewandte Forschung bidirektional sein, um inhaltliche und methodische Verengungen auf beiden Seiten 502
zu vermeiden. Realiter handle es sich bei der Grundlagen- und Angewandten Forschung um eine Wissenschaft mit unterschiedlichen inhaltlichen Ausgangspunkten und mit einer unterschiedlichen Gewichtung der Methoden. Psychologische Forschung, die sich nicht praktisch bewähre, sei wie Angewandte Forschung, die sich nicht um ihre Grundlagen kümmere. Nach Scholz und Stauffacher (2009) böte die transdisziplinäre Forschung eine erfolgversprechende Alternative zu den traditionellen Formen der Theorie-Praxis-Kooperation. »Der Ausgangspunkt der Forschung ist ein praktisches Problem: es ist nicht alleine die akademische Grundlagenforschungy die angewandte Forschung ermöglichty sondern auch umgekehrt die angewandte bzw. transdisziplinäre Forschung\ die akademische Forschung vorantreibtt« (ebd., S.243; Hervorhebungen i. Orig.). Rezeption Das »Diskussionsforum« wurde 2011 in der Psychologischen Rundschau weitergeführt. Peter M. Bäk stellte zu Beginn des ersten Beitrags fest, dass psychologische Erkenntnisse in der Anwendungspraxis nicht ausreichend zur Geltung kämen. Florian G. Kaiser plädierte in seinem Beitrag fur eine »Verhaltensingenieurwissenschaft«, um psychologische Erkenntnisse in die Gesellschaft zu transferieren. Dieselbe orientiere sich wie andere Ingenieurwissenschaften an real existierenden Problemen. Zur Lösung derselben müsse das Know-how mehrerer Disziplinen zusammengetragen werden. Um diese Interdisziplinarität zu realisieren, würden auch psychologische Ingenieure< benötigt, die als solche nicht bloß Wissenschaftler im Sinne der galileischen Denkweise seien. Im Jahre 2014 war der Themenschwerpunkt eines Hefts der Psychologischen Rundschau der sogenannten Implementationsforschung gewidmet. Petermann (2014) wies im Editorial darauf hin, dass mit ihr die »Forschungs-Praxis-Lücke« in der Psychologie überbrückt werde. Die meisten Autoren und Autorinnen gingen weiterhin davon aus, dass zwischen an sich gegebenen soliden Forschungserkenntnissen und ihrer tatsächlichen Nutzung eine Kluft bestehe. Nach wie vor schien Konsens darüber zu bestehen, dass die Untersuchung des Theorie-Praxis-Transfers das immer stärker in den Vordergrund rückende Legitimationsproblem der Psycho503
logie entschärfen könnte. Die Notwendigkeit eines wechselseitigen Transfers zwischen Theorie und Praxis wurde indes nicht mehr thematisiert. Literatur
Galliker, M. (1982). Triviales Wissenschaftsverständnis oder was wi von Darwins Analyse der Zuchtpraxis lernen können. Köln: PahlRugenstein-Verlag. Gundlach, H. (2004). Reine Psychologie, Angewandte Psychologie und die Institutionalisierung der Psychologie. Zeitschriftfur Psychologie, 212,183-199. Scholz, R.W. 6c Stauffacher, M. (2009). Diskussionsforum: Von einer Wissenschaft für die Gesellschaft zu einer Wissenschaft mit der Gesellschaft. Psychologische Rundschau, 60, 242-243. Weiterführend Petermann, F. (Hrsg.). (2014). Themenheft Implementationsforschung. Psychologische Rundschau, 6$, 121-158. Margot Klein
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TRAUMATHEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Annahme, dass außeralltägliche Gewalterfahrungen psychische Verletzungen hervorrufen können, ist heutzutage Allgemeingut. In gewissem Sinne ist indes das Wissen um diesen Zusammenhang fast so alt wie Beschreibungen menschlichen Verhaltens überhaupt. So nannte Jonathan Shay 1994 sein Buch über das combat trauma bei Soldaten programmatisch: Achilles in Vietnam. Die Bezugnahme auf Homers Schilderung vom persönlichkeitsverändernden »Zorn« des Kriegers, dessen Grausamkeit im zwölfmaligen Schleifen der Leiche seines Gegners um die Stadtmauern Trojas kulminiert, verdeutlicht: Trauma kann als kultur-und zeitübergreifendes Phänomen erscheinen. Zugleich ist es ein historisch spezifisches Konzept. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten Psychiater das psychische Leiden von KZ-Überlebenden oder auch von ehemaligen Soldaten regelmäßig nicht auf deren Gewalterfahrungen zurück, sondern auf individuelle Defekte oder betrachteten es als Produkt von Einbildung und Verstellung. Zu jener Zeit war es auch nicht üblich, sexuellen Kindesmissbrauch mit psychischer (und nicht nur sittlicher) Gefährdung der Opfer zu assoziieren. Fragt man nach den Gründen fur den enormen Wandel der Auffassungen, stößt man auf die Verschränkung wissenschaftlicher und politischer bzw. kultureller Entwicklungen. So flössen unterschiedliche theoretische Ansätze aus Medizin und Psychoanalyse Ende des 19. Jahrhunderts sowie veränderte Deutungsmuster bezogen auf Gewalt und ihre Folgen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zusammen, bevor das Konzept Trauma, wie es uns heute vertraut ist und wie es den einschlägigen Klassifizierungen nach . dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association und nach der International Classification of Diseases (ICD), der internationalen Klassifikation der WHO, als Diagnoseschlüssel psychiatrischer Krankheiten zugrunde liegt, dann formuliert und in verschiedenen Einzelaspekten (Ursachen, Folgen, Schutzfaktoren u. a.) theoretisch und empirisch vertieft wurde. Insofern wäre eis eine Vereinseitigung, wollte man 505
die Entwicklung allein auf einzelne Theoretiker zurückfuhren. Trauma ist psychologisches Konzept, medizinische Diagnose, kulturelle Metapher und gängiger Topos kollektiver wie individueller Selbst- und Fremddeutung. Sein wichtigster »Vertreter« ist gewissermaßen unsere Kultur, es ist uns so geläufig, wie den Menschen zu früheren Zeiten vermutlich das Konzept »Schicksal« geläufig war (-* Theorie-Praxis-Transfer).
Theorie Seit Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigten Mediziner die Folgen von Unfällen und Kriegsverletzungen, die durch die moderne Technik ein neues Ausmaß erreichten. Sie suchten nach körperlichen Ursachen der auf die plötzliche Gewalteinwirkung folgenden Syndrome aus schlechtem Schlaf, Unkonzentriertheit, Unwohlsein z. B. nach Eisenbahnunfallen. Entsprechend sprachen sie vom railway spine oder railway brain. Ohne dass sich damit die UrsachenAnnahme änderte, führte 1889 der Neuropathologe Hermann Oppenheim den Terminus Traumatische Neurose ein. Auch die Bezeichnung der Belastungsfolgen nach Fronteinsätzen im Ersten Weltkrieg als shell shock verweist auf diese Konzeption - vermutet wurde die kausale Wirkung von Druckwellen beim Bombeneinschlag. Ungefähr zeitgleich wurden psychodynamische Theorien von Trauma ausgearbeitet und fanden zunehmende Popularisierung. Jean-Martin Charcot beschrieb 1867 die traumatische Hysterie und ging davon aus, dass eine »krankmachende Idee« ein äußeres Ereignis mit der späteren Symptomatik verbinde. Sigmund Freud entwickelte 1892-1896 eine Traumatheorie, die überwältigendes Ereignis und psychische Verletzung koppelte, denn er nahm an, dass sexuelle Handlungen von Erwachsenen an Kindern unter dem Einfluss späterer Wiedererinnerung zur neurotischen Symptombildung führten (-•Psychoanalyse). Freud revidierte diese Auffassung jedoch ab 1897 und postulierte, wirksam seien nicht reale Übergriffe, sondern die Abwehr sexueller Wünsche. Somit war der fur das heutige Traumakonzept definitorische Konnex zwischen psychischem Leiden und äußerem (Gewalt-)Geschehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf zwei unterschiedliche theoretische Entwicklungsstränge verteilt: Auf der 506
einen Seite stand die medizinische Beschäftigung mit komplexen Syndromen nach außeralltäglicher Gewalt und die Fokussierung auf die dabei wirkenden körperlichen Kausalitäten, auf der anderen Seite betonten psychoanalytische Konzepte die Rolle von Bewertungen und Emotionen für die traumatische Wirkung von alltäglichen, zumindest im zeitgenössischen Verständnis nicht als gewalthaft betrachteten Geschehnissen. Die kognitive Stressforschung lieferte seit den 1970er Jahren mit dem Fokus auf Bewertungsprozessen ein Missing Link dieser theoretischen Annahmen just in der Zeit, als die Situation von Vietnam-Veteranen in den USA den Bedarf verdeutlichte, die theoretische und klinische Entwicklung der Psychotraumatologie voranzutreiben. Allerdings zeigte die Kognitive Psychologie auch, dass eine traumatische Erinnerung unterschiedliche Quellen haben kann und nicht vorangegangene traumatisierende Ereignisse >beweist< (-•Kognitive Emotionstheorien). Rezeption Beim Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 brach ein unter dem Pseudonym K. Zetnik aussagender Überlebender vor laufender Kamera ohnmächtig im Zeugenstand zusammen. Die seither vieldebattierte Sequenz kann symbolisch betrachtet werden. Die öffentliche Sensibilisierung fiir die Wucht traumatischer Erinnerung resultierte wesentlich aus der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Die neuere Traumatheorie stellt auch eine Rezeption der tapferen und schmerzvollen Akte des Zeugnis-Gebens von Überlebenden dar. Persönlichkeiten wie Viktor Frankl (-• Existentialistische und daseinsanalytische Ansätze), die professionelle und Überlebenden-Identität in sich vereinten, formulierten Ende der 1940er Jahre wichtige Annahmen der späteren Psychotraumatologie vor - etwa die Betonung der zentralen Bedeutung von Sinngebung fiir Genesungsprozesse (—•Sinntheorie). Dass das Konzept Trauma durch die medizinisch-psychologische Theoriebildung (-> Klinische Psychologie) wissenschaftlich zunehmend anerkannt, seine Erforschung und klinische Anwendung vorangetrieben und mittlerweile durch die Schaffung spezieller Institute, Zeitschriften und Lehrstühle institutionalisiert wurde, 507
hat seinerseits zur breiten Akzeptanz und rasanten Popularisierung des Konzepts beigetragen.
Literatur
Ellenberger, H. F. (1996). Die Entdeckung des Unbewußten: Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfingen bis zu Janety Freud\ Adler undJung. Bern: Diogenes. Fischer, G. & Riedesser, P. (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Reinhardt. Shay, J. (1994). Achilles in Vietnam. Combat trauma and the undoing ofcharacter. New York, NY: Athenäum.
Weiterführend Amery, J. (1966). Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeczny. Elena Demke
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TRAUMTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Zu den wichtigsten frühen Arbeiten zur Traumdeutung gehört das fiinfbändige Traumbuch des Artemidor von Daldis (2. Jahrhundert n. Chr.), der sich am heute nicht mehr erhaltenen Traumlexikon des Antiphon aus Athen (5. Jahrhundert v. Chr.) orientierte, sowie die Symbolik des Traumes von Gotthilf Heinrich Schubert aus dem Jahre 1814, in der bereits eine systematische Übertragung der Traumarbeit in eine Rhetorik des Traumes erfolgte, die als Hieroglyphensprache der Psyche, insbesondere der Emotion, verstanden werden kann (-•Emotionstheorien). Im 20. Jahrhundert gehörten Sigmund Freud (1856-1939) und Carl Gustav Jung (1875-1961) zu den wichtigsten Repräsentanten der Traumtheorie. Theorien Antike Traumlehre: Artemidor von Daldis unterschied bei den »Schlafgebilden« (bzw. Nachtträumen) primär zwischen eigentlichem Traum und Traumgesicht: (1) Traum: Beim Traum handle es sich um Gemütsaffekte, die im Schlaf zurückkehrten, sich der Seele in der alten Ordnung wieder anböten und Traumbilder hervorriefen. Diese Erscheinungen enthalten eine »Erinnerung an die Gegenwart« und seien »keine Vorherkündigung der Zukunft« (vgl. Artemidor, 1518/1965, S. 22). Die Wirkung des Traums sei dementsprechend auf die Dauer des Schlafes beschränkt und entspringe einer »unvernünftigen Begierde«, einer »Überladung des Magens« oder einem »Nahrungsmangel« (vgl. ebd., S.158). (2) Traumgesicht: Das Traumgesicht als vielgestaltige »Seelenbildung« oder »Bewegung«, welche »die bevorstehenden guten oder bösen Dinge andeutet«, sei hinsichtlich der Zukunft bedeutungsvoll (vgl. ebd., S. 24). Das Traumgesicht wirke einerseits im Schlaf, indem es die Seele auf die Vorhersage des Kommenden lenke; andererseits veranlasse es auch wirksame Aktionen nach dem Schlaf: »Das Traumgesicht ist also dazu da, die Seele zu erwecken und zu erregen« (ebd., S. 23; Hervorhebung i. Orig.). Bei den Traumgesichten differenzierte 509
Artemidor zwischen dem theorematischen Traumgesicht, das ohne Entstellung wirksam ist (z. B. träumt ein Seereisender, er erleide Schiffbruch, und dieses Schicksal widerfährt ihm dann tatsächlich), und dem allegorischen Traumgesicht, dessen Inhalt in verschlüsselter Form vorliegt bzw. bei dem »ein Ding durch ein anderes (angezeigt wird)« (Artemidor, 1518/1965, S.24). Christliches Traumverständnis des Mittelalters: Während die christliche Lehre im frühen Mittelalter den Traum zum Teufelswerk erklärte, fassten Denker des späteren Mittelalters wie beispielsweise Albertus Magnus (um 1200-1280) den Traum ausschließlich als eine Aktivität des Schlafs auf. Traumlehre in der frühen Neuzeit: In der Renaissance wurde auf die antike Traumlehre von Artemidor von Daldis zurückgegriffen. Der Traum wurde durchaus auch >realhistorisch< aufgefasst und galt als Prognostikon fiir kommende bessere Zeiten. Traumlehre der Aufklärung: Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Traum entweder noch als moralisches Mittel göttlicher Erziehung, mitunter (insbesondere im Pietismus) auch im Sinne der Prophetie betrachtet oder an einem rationalen Maßstab gemessen. Im zweiten Fall stellte er lediglich eine verwirrte oder jedenfalls inadäquate Form des wachen Bewusstseins dar. Die Verbindungen der Elemente der Traumbildersprache versuchte man meistens mit mechanistischen Prinzipien zu verstehen. Karl Philipp Moritz (1756-1793) leitete indes schon zu Neuinterpretationen des Traumes über. Humanitäre Traumlehre: Nach Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) ist der Traum ein Leben, das sich aus Elementen des wachen Lebens zusammensetzt, sich mit diesem auseinandersetzt und es damit vermenschlicht. Er ist Zusammensetzung der im Kopf liegenden Begriffe und Erinnerungen. Im Traum werde in Gesprächsform nachgedacht, wobei es aber immer der Träumer selbst sei, der sich belehre und widerlege. Romantische Traumlehre: Schubert (1814/1968) versteht die Sprache des Traums, die Traumsprache, als Symbol- oder Bildersprache. »Solange die Seele diese Sprache redet, folgen ihre Ideen einem anderen Gesetz der Assoziationen als gewöhnlich, und es ist nicht zu leugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen viel rapideren, geisterhafteren und kürzeren Gang oder Flug nimmt als die des wachen Zustandes, wo wir mehr mit unseren Worten denken« (ebd., 510
S. i). Nach Schubert spricht der Traum in vieldeutigen Assoziationen von Ideen - in Ellipsen und Metaphern, in Umkehrungen und gegensinnigen Ausdrücken. Psychoanalytische Traumtheorie: Nach Freud (1900/1972) heften sich häufig an die mehr oder weniger deutlich erlebten Ereignisse des Tages (d. h. an die sogenannten Tagesreste) unerlaubte und deshalb unterdrückte Wünsche aus der frühen Kindheit: unbewusste Wünsche meistens prägenitaler Sexualität, die in der Gesellschaft besonders verpönt und nach wie vor weitgehend tabuisiert sind. Im Traum kommen sie zum Vorschein, weshalb dieser fiir Erwachsene oft zum Angsttraum werde. Da die entsprechende Erregung den Schlaf gefährden würde, werde der manifeste Traum durch die sogenannte Traumarbeit entstellt, weshalb Träume oft wirr und rätselhaft anmuten: »Der Traum ist die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches« (Freud, 1900/1972, S. 175; Hervorhebungen i. Orig.). Im Schlaf, wenn die Kontrolle des Bewusstseins vermindert ist, wird der latente Inhalt des Traumes verkürzt und das semantische Zentrum verlagert. Entsprechend werden in der Analyse durch freie Assoziationen, die allerdings oft auf Widerstand stoßen, zu den einzelnen Teilen des manifesten Traumes (einzelne Sätze oder Satzteile des Traumberichts) sukzessive die latenten Trauminhalte gebildet. Auf diese Weise werden die fiir Freud wichtigsten Vorgänge der Traumarbeit, die Verdichtung und Verschiebung, erkennbar respektive die Bewegung des Unbewussten in vivo beobachtbar (-•Psychoanalyse). Analytische Traumtheorie: In Carl Gustav Jungs (1875-1961) -•Analytischer Psychologie ist der Traum eine symbolische Ausdrucksform der spontanen Selbstdarstellung des Unterbewussten in der gegenwärtigen Situation. Jung berücksichtigt in seinem 1961 erschienenen Werk Symbole und Traumdeutung hinsichtlich der Interpretation der Sprache der Bilder einen breiten Kontext, bei welchem er auch Materialien aus Märchen, Mythen, bildender Kunst und Dichtung einbezieht. Im Unterschied zu Freud kommt TräumenfinaleBedeutung zu. Sie dienen der Spannungsreduktion. Träume vermitteln Sinn und ermöglichen eine Neuorientierung. Traumsymbole werden als unbewusste Persönlichkeitsanteile des Träumers interpretiert. Sie konfrontieren Personen mit Anteilen ihrer selbst (mit ihren Komplexen), die sie nicht gern zur Kenntnis nehmen. Wenn die Einstellung des Bewusstseins zur aktuellen 511
Lebenssituation besonders einseitig ist, ergreift der Traum Partei fiir die Gegenseite (sogenannte Autonomie des Unbewussten) und kompensiert dadurch gewissermaßen die einseitige Lebensweise der Patienten. Person- und körperzentrierte Traumtheorie: Nach Eugene Gendlin kann letztlich nur der Körper des Träumers den Traum interpretieren - dies ist Gendlins wichtigste Differenz zum Traumverständnis von Freud. Gendlin übernahm in seinem 1986 (deutsch: 1998) erschienenen Buch Dein Körper - Dein Traumdeuter vom Begründer der Psychoanalyse die primären Assoziationen zu jedem Abschnitt des manifesten Traums und die Bedeutung von minimalen Variationen in sogenannten Traumserien, mit denen Freud unmittelbaren Einblick in die Arbeit des Unbewussten gewann. Symptomatisch fiir Gendlins Vorgehen bei der Traumdeutung sind Fragen an den Traum bzw. an den/die Träumer/in und deren Körper, beispielsweise zu den von selbst aufsteigenden Assoziationen oder zu den mit dem Traum verbundenen Empfindungen (-»• Personzentrierte Persönlichkeitstheorie).
Rezeption Im 20. Jahrhundert gab es diverse Kontroversen hinsichtlich der richtigen Traumtheorie zwischen den einzelnen psychologischen Richtungen und psychotherapeutischen Schulen sowie zwischen diesen und den Repräsentanten naturwissenschaftlicher Paradigmen, die von der Bedeutung abstrahierten und meistens reduktionistisch vorgingen (-•Leib-Seele-Problem). Finke (2013) betrachtete aufgrund der Vielschichtigkeit der Träume das Verstehen derselben als unabschließbar. Seiner Ansicht nach ist ein einzig richtiges Verstehen des Traumes ebenso obsolet wie fragwürdig. Der Therapeut kann sich von der Meinung verabschieden, dass es nur einen Weg zur adäquaten Interpretation der Träume gibt, und damit auch von der Befürchtung Abstand nehmen, dass er bei der Traumbearbeitung »wirklich falsch« vorgeht (vgl. ebd., S.103).
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Literatur Artemidor von Daldis (1518/1965). Traumbuch. Übertragungen von F.S. Krauss (bearbeitet und ergänzt von M. Kaiser). Basel: Schwabe. Freud, S. (1900/1972). Die Traumdeutung. Studienausgabe. Bd. II. Frankfurt/M.: S. Fischer. Schubert, G. H. (1814/1968). Symbolik des Traumes. Heidelberg: Schneider. Weiterfuhrend Finke, F. (2013). Träume, Märchen} Imaginationen. München: Reinhardt. Mark Galliker
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ÜBERREDUNGSTHEORIEN
Wichtige Vertreter/innen Das Elaboration Likelihood Model (ELM) erklärt den Prozess der Einstellungsänderung durch Kommunikation, auch Persuasion genannt. Das ELM wurde von Richard Petty und John T. Cacioppo (1986) entwickelt und beschreibt die Wahrscheinlichkeit {likelihood) einer tiefen Verarbeitung (elaboration) einer persuasiven Botschaft (-»• Sozialpsychologische Theorien). Theorien Im ELM wird zwischen zentraler und peripherer Informationsverarbeitung unterschieden: Rezipienten einer persuasiven Botschaft verarbeiten zentral, das heißt, sie setzen sich intensiv mit dem dargebotenen Inhalt einer Botschaft auseinander, wenn sie dazu ausreichend motiviert und fähig sind (-•Motivationstheorien). Die Motivation zur intensiven Auseinandersetzung mit der Botschaft ist z. B. dann hoch, wenn die Empfänger von dem Thema persönlich betroffen sind. In diesem Fall bestimmt die Qualität der dargebotenen Argumente das Einstellungsurteil. Starke Argumente fuhren zu positiven, schwache Argumente zu negativen Einstellungen. Einstellungsänderungen erfolgen peripher, wenn Personen nur über wenig Motivation oder Fähigkeit verfügen, über den Inhalt einer Botschaft nachzudenken. Die Einstellungen basieren dann auf mit dem Einstellungsobjekt assoziierten Hinweisreizen (cues). Beispielsweise könnte eine Nachricht deswegen überzeugen, weil der/ die Kommunikator/in sympathisch oder attraktiv erscheint (z. B. in der Werbung oft der Fall). Eine Erweiterung des ELM stellt die sogenannte Multiple Roles Assumption dar. Diese besagt, dass Cues wie Argumente und Argumente wie Cues verarbeitet werden können. So stellt z. B. die Attraktivität eines Kommunikators, die gewöhnlich als Cue behandelt wird, ein Argument dar, wenn das beworbene Einstellungsobjekt ein Beauty-Produkt ist. Somit wird die anfangs postulierte 514
strenge Verknüpfung von Cues mit der peripheren Verarbeitung und die der inhaltlichen Argumente mit der zentralen Verarbeitung theoretisch >entschärft 0 aufweisen. Selbst wenn das Bestehen der Klausur fur den Schüler extrem attraktiv ist, wird er nicht daran arbeiten, dieses Ziel zu erreichen, wenn er nicht prinzipiell an den Erfolg seiner Lernbemühungen glaubt. Ebenso wenig wird er sich anstrengen, wenn ihm das Ziel nicht erstrebenswert erscheint, obwohl er sich selbst vielleicht einen erfolgreichen Lernprozess zutraut. Die VIE-Theorie erweitert diesen Ansatz um eine dritte Variable (siehe unten) und bezieht sich dabei explizit auf motiviertes Handeln im beruflichen Kontext. Vroom beschäftigt sich in seiner Theorie zunächst mit den möglichen Konsequenzen eines Arbeitsverhaltens. Demnach können aus jedem Arbeitsverhalten mehrere Ergebnisse erwachsen, die mittelbar wiederum jeweils mehrere Folgen nach sich ziehen. Beispiel: Ein Außendienstmitarbeiter legt ein besonders freundliches Verhalten im Umgang mit seinen Kunden an den Tag. Er lächelt, zeigt sich interessiert an der Person seines Gegenübers, fragt gezielt nach seinen Wünschen etc. Ein mögliches Ergebnis seines Verhaltens könnte ein höherer Umsatz sein. Ein zweites Ergebnis mag in einer höheren Beanspruchung des Mitarbeiters liegen. Beide Ergebnisse - sowohl das positive als auch das negative - ziehen nun mehrere Folgen nach sich. Der höhere Umsatz fuhrt möglicherweise zu einer größeren Bonusausschüttung. Gleichzeitig wachsen aber auch die Ansprüche des Arbeitgebers an den zukünftigen Umsatz des Mitarbeiters. Die hohe Beanspruchung mag psychosomatische Störungen zur Folge haben. Gleichzeitig entlastet ihn seine Familie aber bei der Erledigung häuslicher Pflichten. Die VIE-Theorie beantwortet nun die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit fiir ein besonders hohes Engagement des Mitarbeiters in der Beratung seiner Kunden ist. Hierfür werden drei Variablen berücksichtigt: (i) Valenz: Den einzelnen Folgen des Verhaltens (Bonusausschüttung, Entlastung durch die Familie etc.) wird durch das Individuum eine mehr oder minder hohe Wertigkeit zugeschrieben. Wahrend der Außendienstmitarbeiter A die Bonusausschüttung besonders hoch bewertet, weil er so vielleicht einen Baukredit schneller abbezahlen kann, würde sein Kollege B dem Geld keinen so hohen Wert beimessen, weil er kürzlich eine größere Erbschaft gemacht hat. In die Valenzfließenauch zeitlich überdauernde Mo518
tive der Handelnden ein. So mag dem einen Geld generell wichtiger sein als dem anderen. (2) Instrumentalität: Der Handelnde schätzt jede der wertbehafteten Folgen dahingehend ein, wie wahrscheinlich ihr Auftreten ist. Während Mitarbeiter A es fiir sehr wahrscheinlich hält, dass ein gestiegener Umsatz mit einem Bonus von 5000 Euro verbunden ist, hält Mitarbeiter B dies möglicherweise für unwahrscheinlich und rechnet eher damit, dass der Bonus aufgrund der wirtschaftlichen Lage seines Arbeitgebers am Ende des Jahres nicht ausgezahlt wird. Jede Folge hat ihre eigene Instrumentalität, wobei die Instrumentalitäten ebenso individuell verschieden und subjektiv sind wie die Valenzen. (3) Erwartung: Jedes der Ergebnisse, die aus dem Arbeitsverhalten erwachsen können, wird dahingehend eingeschätzt, mit welcher Wahrscheinlichkeit es eintreten wird. Dabei geht es wie in der Erwartungs-mal-Wert-Theorie um die Selbsteinschätzung des Handelnden, inwieweit er durch sein Verhalten etwas Bestimmtes bewirken kann. Ein Mitarbeiter mit mangelndem Selbstvertrauen könnte schon frühzeitig resignieren, weil er nicht daran glaubt, einen höheren Umsatz erzielen zu können. Alle drei Variablen sind der Theorie zufolge multiplikativ miteinander verknüpft. Im Gegensatz zur Erwartungs-mal-WertTheorie werden aber gleichzeitig mehrere Ergebnisse und mehrere Folgen berücksichtigt. Bezogen auf jede Folge wird die dazugehörige Valenz mit der passenden Instrumentalität multipliziert. Die Summe dieser Werte ergibt die sogenannte Valenz der Handlungsergebnisse. Sie wird wiederum multipliziert mit den zugehörigen Erwartungen. Die VIE-Theorie ist mithin weitaus komplexer als der klassische Erwartungs-mal-Wert-Ansatz (-•Handlungskontrolltheorie). Rezeption Die Theorie hat viele Dutzende Studien nach sich gezogen und gehört heute zu den etablierten Ansätzen der personalpsychologischen Forschung, die in jedem Lehrbuch zu finden sind (Donovan, 2001; Latham & Budworth, 2007). Die Studien belegen prinzipiell die Bedeutung der drei Variablen Valenz, Instrumentalität 519
und Erwartung fiir die Erklärung des Verhaltens am Arbeitsplatz (-• Organisationspsychologische Theorien). Allerdings konnte die Annahme der multiplikativen Verknüpfung nicht bestätigt werden (Van Eerde & Thierry, 1996). Gleichwohl bietet Vroom eine wichtige Orientierungshilfe fiir das Führungsverhalten im beruflichen Kontext (-•Führungstheorien). Wer Mitarbeiter zu einem bestimmten Arbeitsverhalten motivieren möchte, muss sich über mindestens drei Aspekte Gedanken machen: (1) Trauen sich die Mitarbeiter selbst zu, ein bestimmtes Arbeitsverhalten zu zeigen, bzw. inwieweit muss man ihr Selbstvertrauen noch stärken (Erwartungen)? (2) Glauben die Mitarbeiter daran, dass aus den Handlungsergebnissen tatsächlich bestimmte Folgen erwachsen, und wie lassen sich diese Einschätzungen gegebenenfalls beeinflussen (Instrumentalitäten)? (3) Wie bewerten die Mitarbeiter die Folgen, die mittelfristig aus diesem Verhalten erwachsen können, bzw. wie müssen Belohnungssysteme beschaffen sein, damit die Ergebnisfolgen von den Mitarbeitern als attraktiv erlebt werden (Valenzen)? Literatur Latham, G. P. & Budworth, M.-H. (2007). The study of work motivation in the 20th century. In L. L. Koppers (Ed.), Historical perspectives in industrial and organizational psychology (pp. 353381). Mahwah, NJ: Erlbaum. Van Eerde, W. & Thierry, H. (1996). Vrooms expectancy models and work-related criteria: A meta-analysis. Journal of Applied Psychology.; &r, 575-586. Vroom, V. H. (1964). Work and motivation. New York, NY: Wiley. Weiterführend
Donovan, J. J. (2001). Work motivation. In N. Anderson, D. S. Ones, H. K. Sinangil & C. Viswesvaran (Eds.), Handbook of industrial\ work and organizational psychology, Vol. 2: Organiza tionalpsychology (pp. 53-76). London, UK: Sage. Uwe P. Kanning 520
VÖLKERPSYCHOLOGIE
Wichtige Vertreter/innen Der Begriff der Völkerpsychologie stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde zu dieser Zeit doppeldeutig benutzt: Einerseits als eine aus der Literaturgeschichte stammende Charakterologie der Völker nach Karl Hillebrand aus dem Jahr 1885 und andererseits als ein Teil der Psychologie wird sie in ihrer »kontroversen Begründung« diskutiert (Galliker, 1993). Bereits i860 wurde die Zeitschrift fur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft von Moritz Lazarus (1824-1903) und Hajim (Heymann) Steinthal (1823-1899) gegründet. Als weiterer wichtiger Vertreter ist Wilhelm Wundt (1832-1920) zu nennen, der in die Denktradition von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal eintrat bzw. diese kritisierte und im Sinne seines Verständnisses der Psychologie weiterentwickelte.
Theorie In dem 1862 erschienenen Artikel »Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« formulierte Lazarus seine kulturgeschichtliche Theorie. Dem Autor zufolge entwickelt sich aus dem Zusammenleben der Menschen und ihren subjektiven Tätigkeiten ein objektiver Gehalt, der als solcher zum Inhalt, zum Organ und zur Norm ihrer weiteren subjektiven Tätigkeiten wird. Einerseits konstituiert sich mit den subjektiven Tätigkeiten der Menschen ein objektiver Gehalt, der sich in Anschauungen, Überzeugungen, Denkformen, Gefuhlsweisen usw. einer Gemeinschaft intersubjektiv manifestiert, sich in der Gesellschaft verbreitet und wiederum auf Menschen zurückwirkt; andererseits manifestiert sich der objektive Geist in »Verkörperungen des Gedankens: Kunstwerken, Dokumenten, Schriften, Bauten aller Art, zum Verbrauch bestimmten Erzeugnissen der Industrie«, die im eigentlichen Sinne »den objektivierten, in ein Objekt gelegten Geist [enthalten]« (Lazarus, 1862, S.54; Hervorhebung i. Orig.). Diese Objektivationen subjektiver Tätigkeiten erleichtern die weiteren Tätigkeiten, insbesondere wenn sie sich als Ausprägungen von In521
strumenten herausstellen. »Der völlig bestimmte Maßstab fiir den Werth eines jeden Werkzeuges liegt [...] offenbar in dem Masse, als der objektive Gedanke, der in ihm ausgeprägt und wirksam ist, die subjektive Arbeit des Handhabenden verringert\ ersetzt und sichert (ebd., S.50; Hervorhebungen i. Orig.). Nach Lazarus objektivieren sich die subjektiven Tätigkeiten nicht nur in idealen Objekten sowie unter Anknüpfung an materielle Verhältnisse in realen Gegenständen oder Werkzeugen, sondern dieselben bestimmen wiederum die subjektiven Tätigkeiten. Umgekehrt kann das Individuum eigene Gedanken an jenen ausrichten, die in einem kulturellen Gegenstand verkörpert sind. Angesichts eines Kunstwerkes schildert Lazarus diesen Bezug wie folgt: »Ich habe den Gedanken desselben [...] nicht erzeugt, sondern nur für mich wiedererzeugt; nicht gebildet, sondern nur nachgebildet; an der Hand der vom objektiven Gedanken ausgehenden und mich treffenden Erregung habe ich mir denselben subjektiv - nicht geschaffen, sondern - angeeignet« (ebd., S. 57). Wundt unterzog 1886 das völkerpsychologische Forschungsprogramm einer eingehenden Kritik. Aufgrund des seiner Meinung nach singulären Charakters aller historischen Ereignisse, der jegliche historische Gesetzmäßigkeit ausschließe, wies er den kulturgeschichtlichen Ansatz zurück und bekräftigte seinen naturhistorischen Ansatz, mit dem er glaubte auch die überindividuellen, die Wechselwirkungen betreffenden Gebiete der Sprache, den Mythus und die Sitte untersuchen zu können. Im Jahre 1900 erschien der erste Band von Wundts zehnbändiger Völkerpsychologie. Neben experimentellen Befunden zog er ethnologische Berichte heran und behandelte sie als Gegenstand seiner neuen Wissenschaft. Dabei versuchte er die universellen Bedingungen der psychophysischen Organisation der Organismen bis hin zur Schwelle der menschlichen Geschichte zu eruieren. Wundt interessierte sich in erster Linie fiir den natürlichen Entwicklungsprozess bis zum Übergang zur Homogenese. Beispielsweise behandelte er bezüglich der Gebärdensprache nachahmende, hinweisende, darstellende und nachbildende Gebärden und stellte sich die Frage, worin sich die nachbildenden Gebärden des Menschen von den Imitationen im infrahumanen Bereich unterscheiden. Mit Wundts Völkerpsychologie setzten sich bereits zu seinen Lebzeiten verschiedene Personen auseinander, so beispielsweise 522
Karl Marbe, der Kritik an Wundts Volksbegriff und dem Begriff der Volksseele übte. Die Völkerpsychologie nach Wundts Konzeption erfuhr jedoch aus wohl anderen Gründen nach seinem Tod eine starke Veränderung: Die beiden Begründer der Völkerpsychologie - Lazarus und Steinthal - waren jüdischer Herkunft, und dies lässt im Zusammenhang mit Kritik und Veränderungen des völkerpsychologischen Ansatzes im Verlauf des 20. Jahrhunderts in Deutschland aufhorchen: Aus antisemitisch eingestellten Kreisen wurde eine Charakterologie der Völker gefordert, namentlich besonders vom Wagner-Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, der - ebenfalls 1904 - in seinen Grundlagen die Einrichtung einer »Commission fiir differentielle Völkerpsychologie« forderte. Der Ansatz einer differentiellen Völkerpsychologie lässt sich schließlich bis in die 1940er Jahre nachweisen. Damit sollten die Merkmale herausgearbeitet werden, welche Völker voneinander unterscheiden. In diesem Zusammenhang tauchte auch der Begriff des Volkscharakters auf, der mit Hilfe ethnologischer Methoden untersucht werden sollte, wie es Felix Krueger bereits 1911 vorgeschlagen hatte. Wundt hatte den Begriff des Volkscharakters in seinem Verständnis von Völkerpsychologie 1916 in einem Artikel abgelehnt und anderen Bereichen bzw. Wissenschaftszweigen zugeordnet (vgl. auch -•Kulturvergleichende Psychologie). Eine als Charakterologie veränderte Völkerpsychologie nahm nach dem Tode Wilhelm Wundts ihren Lauf, als Felix Krueger und andere die Völkerpsychologie und ihre Repräsentanten nationalisierten. Diese Ausrichtung trug zur Funktionalisierung im Sinne nationalistischer Absichten bei. In jüngeren Untersuchungen wurde sie in diesem Zusammenhang auch als kriegstauglich bezeichnet. Der Ansatz Kruegers, mit dem Streben des Volkes nach Ganzheit, wurde in Untersuchungen als eine spezifische Charakterkunde herausgearbeitet (-*• Ganzheitstheorie), wie auch ähnlich Willy Hellpachs Ansatz der Völkerpsychologie als Ethnocharakterologie eingeordnet wurde (Wolfradt, 2011, S. 63 f.). Rezeption Lazarus und Steinthal formulierten erstmals einen Ansatz der Psychologie, der weit über die elementarpsychologischen Ansätze (u. a. psychophysiologischer, aber auch assoziationspsychologischer Art) 5*3
ihrer Zeit hinausreichten (-*Assoziationstheorien). Die Begründer der Völkerpsychologie wiesen daraufhin, dass sich die menschliche Geschichte vom organischen Kreislauf abhebt. Während Lazarus und Steinthal eine kulturgeschichtliche Wissenschaft anvisierten und konzeptuell Ansätze des späteren Kulturhistorischen Ansatzes vorwegnahmen, beschränkte sich Wundt im Wesentlichen auf den naturhistorischen Aspekt der Entwicklung, der als solcher von den Pionieren der Völkerpsychologie vernachlässigt wurde. Eine Weiterentwicklung der Völkerpsychologie in der gedanklichen Konzeption Wilhelm Wundts hat weder zu dessen Lebzeiten noch nach dessen Tod stattgefunden. Wie oben bereits gezeigt, wurden verschiedenste Ansätze unter dem Namen Völkerpsychologie in die Welt gesetzt. Die völkercharakterologische Betrachtungsweise - besonders unter dem Begriff der zugrunde liegenden Struktur - lässt sich bis in politische Zusammenhänge nachweisen (Guski-Leinwand, 2010), welche auch rassentheoretische Auslegungen der Völkerpsychologie, wie z. B. in den Untersuchungen von Rudolf Hippius, erkennen lassen. Nach 1945 fanden diese Ansätze im deutschsprachigen Bereich keine Verbreitung oder Weiterentwicklung. Literatur Galliker, M. (1993). Die Verkörperung des Gedankens im Gegenstande: Zur kontroversen Begründung der Völkerpsychologie. Psychologische Rundschau, 44,11-24. Lazarus, M. (1862). Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Zeitschrift für Völkerpsychologie, III, 1-73. Wolfradt, U. (2011). Ethnologie und Psychologie: Die Leipziger Schule der Völkerpsychologie. Berlin: Reimer. Weiterfuhrend Guski-Leinwand, S. (2010). Wissenschaftsforschung zur Genese der Psychologie vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Münster: LIT. Susanne Guski-Leinwand 5*4
VULNERABILITÄTS-STRESS-THEORIE
Wichtige Vertreter/innen Die Psychologen Joseph Zubin und Bonnie Spring waren neben ihren Positionen an der Columbia bzw. der Harvard University Mitglieder der »Biometrie Research Unit« des New York State Psychiatric Institute, als sie 1977 das Konzept der psychologischen Vulnerabilität (Verletzbarkeit, Verwundbarkeit) publizierten. Sie stellten es als eine Möglichkeit dar, die zeitgenössischen Ansätze zur Erklärung der Schizophrenie zu integrieren. Theorie Die Vulnerabilitäts-Stress-Theorie (auch Diathese-Stress-Modell) entwickelte sich bald von einem Modell zur Ätiologie der Schizophrenie zu einer grundlegenden Perspektive auf die Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge psychischer Krisen und verschiedener Diagnosebilder im Allgemeinen (-• Klinische Psychologie). Sie integriert ursprünglich divergierende und konkurrierende Perspektiven, wie die psychodynamische, kognitiv-behaviorale und neurobiologische, indem sie unterschiedlichen Faktoren aus den genannten Perspektiven Rechnung trägt und deren Interaktion modelliert. Unterschieden werden dabei Vulnerabilitäten im Sinne von Dispositionen, die genetisch oder sozial erworben bzw. gelernt sind und allein nicht zu psychischen Krisen bzw. als Störung klassifizierbaren Phänomenen fiihren. Erst ihr jeweiliges Zusammenwirken mit Stress im Sinne besonderer Belastungen (-•Kognitive Emotionstheorien) sowie mit Risiko- und protektiven Faktoren (Resilienz, bestimmte kognitive Verarbeitungsmuster u.a.) wie auch die Interaktion mit Langzeitfolgen erklärt Krankheitsbilder und -Verläufe. Das Modell veranschaulicht die Bedeutung komplexer Wechselwirkungen. So wird das Zusammenwirken genetischer Dispositionen, neurobiologischer Stress-Reaktionen und sozial bedingter Belastungen etwa durch Traumata (-•Traumatheorie) als Interaktion modelliert, die zur chronifizierten Wirkung einzelner Faktoren (etwa veränderter neurobiologischer Prozesse) und einem 52.5
entsprechend komplexen Zusammenspiel fuhrt. Es kann jedoch auch chronologisch umgekehrt modelliert werden, wie Langzeitfolgen (Stigmatisierung, Arbeitslosigkeit u.a.) mit ungünstigen sozialen und psychischen Voraussetzungen und neurobiologischen Bahnungen interagieren. Rezeption Die Vulnerabilitäts-Stress-Theorien gehören zu den Modellen der angewandten Psychologie, die plausibel und für die Praxis wertvoll, aufgrund ihrer Komplexität jedoch kaum befriedigend operationalisierbar und prüfbar sind. Gleichwohl lassen sich einzelne Pfade modellieren, prüfen und theoretisch untermauern. Hier kann die psychologische Theoriebildung Wertvolles nicht nur in der Forschung, sondern auch im Popularisieren von Erkenntnissen leisten (-•Theorie-Praxis-Transfer). Dass dies nötig ist, verdeutlichen insbesondere populäre Versionen der Vulnerabilitäts-Stress-Theorie, die zu psychoedukativen Zwecken in Broschüren und im Internet vielfach angeboten werden. Der häufiger anzutreffende Vergleich von Vulnerabilität mit einem Fass oder Gefäß beispielsweise, das unter Stress >überläuftGerechtig556
keit