Kompendium der Gleichnisse Jesu 9783641310745

Der Band bietet die Auslegung aller bekannten Gleichnistexte der Evangelienüberlieferung (einschließlich der apokryphen

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German Pages 1120 [1116] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Prolog
Vorwort zur 2. Auflage
Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium
I. Parabeln in der Logienquelle Q
Einleitung
Tabelle der Q-Texte
Absturzgefahr (Vom Blinden als Blindenführer) – Q 6,39
Größenwahn?! (Vom Schüler und Lehrer) – Q 6,40
Die Behebung einer Sehschwäche (Vom Splitter und dem Balken) – Q 6,41 f.
Von den Früchten des Baumes und dem Sprechen des Herzens (Vom Baum und seinen Früchten) – Q 6,43-45
»Einstürzende Neubauten« (Hausbau auf Felsen oder Sand) – Q 6,47-49
Vom misslingenden Spiel (Von den spielenden Kindern) – Q 7,31-35
Folgenreiche Bitte! (Arbeiter für die Ernte) – Q 10,2
Bitten lohnt sich (Vom bittenden Kind) – Q 11,9-13
Füllt den Raum aus – es kommt sonst noch schlimmer! (Beelzebulgleichnis) – Q 11,24-26
Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht (Die Lampe auf dem Leuchter / Vom Licht auf dem Leuchter) – Q 11,33
Das Auge als Lampe des Körpers (Vom Auge als des Leibes Licht) – Q 11,34 f
Vertrauen in die Sorge Gottes (Sorgt euch nicht) – Q 12,24.26-28
Achtung Menschensohn! (Vom Dieb) – Q 12,39 f.
Es ist stets höchste Zeit (Vom treuen und untreuen Haushalter) – Q 12,42-46
Wetterregeln (Von der Beurteilung der Zeit) – Q 12,54-56
Forderung zu außergerichtlicher Einigung (Der Gang zum Richter) – Q 12,58 f.
Gott knetet nicht (Vom Sauerteig) – Q 13,20f.
Tretet ein! (Von der verschlossenen Tür) – Q 13,24-27
Vom Wirken des Salzes (Vom Salz) – Q 14,34 f
Neunundneunzig sind nicht genug! (Vom verlorenen Schaf) – Q 15,4-5a.7
Über die Notwendigkeit ungeteilter Leidenschaft (Vom Doppeldienst) – Q 16,13
Die plötzliche Alternative mitten im Alltag (Mitgenommen oder zurückgelassen) – Q 17,34 f
Schnell und unausweichlich (Vom Aas und den Geiern) – Q 17,37
Gewinnen oder Verlieren (Von den anvertrauten Geldern) – Q 19,12 f.15-24.26
II. Parabeln im Markusevangelium
Einleitung
Tabelle der Markus-Texte
Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit (Vom Bräutigam / Die Fastenfrage) – Mk 2,18-20
Was passt und was nicht (Vom alten Mantel und vom neuen Wein) – Mk 2,21 f.
Zoff bei Beelzebuls (Beelzebulgleichnis) – Mk 3,22-26
Jesus lernt vom Räuberhauptmann (Das Wort vom Starken) – Mk 3,27
Vom Fruchtbringen (Sämann mit Deutung) – Mk 4,3-9.(10-12.)13-20
Aus dem Vollen schöpfen (Vom Maß) – Mk 4,24
Mut zur Selbst-Entlastung (Von der selbständig wachsenden Saat) – Mk 4,26-29
Mehr Hoffnung wagen (Vom Senfkorn) – Mk 4,30-32
Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit (Von Reinheit und Unreinheit) – Mk 7,14-23
Das Brot der Hunde (Von Kindern und Hunden) – Mk 7,27 f.
Spiralen der Gewalt (Die bösen Winzer) – Mk 12,1-12
Wir sind schon wer (Vom grünenden Feigenbaum) – Mk 13,28 f.
Seid wachsam (Vom spät heimkehrenden Hausherrn) – Mk 13,30-33.34-37
III. Parabeln im Matthäusevangelium
Einleitung
Tabelle der Matthäus-Texte
Jesu Nachfolger als Lichter derWelt und als Stadt auf dem Berge (Von der Bergstadt) – Mt 5,14
Perlen vor die Säue (Von der Entweihung des Heiligen) – Mt 7,6
Ausreißen oder wachsen lassen? (Vom Unkraut unter dem Weizen) – Mt 13,24-30.36-43
Die Freude des Findens (Vom Schatz im Acker und von der Perle) – Mt 13,44.45 f.
Am Ende wird sortiert (Vom Fischnetz) – Mt 13,47-50
Neues und Altes aus dem Schatz des Hausherrn (Vom rechten Schriftgelehrten) – Mt 13,52
Falsche Herkunft! (Vom Ausreißen der Pflanze) – Mt 15,13
Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses (Vom unbarmherzigen Knecht) – Mt 18,23-35
Jedem das Seine? Allen das Volle! (Von den Arbeitern im Weinberg) – Mt 20,1-16
Was heißt Gottes Willen tun? (Von den ungleichen Söhnen) – Mt 21,28-32
Verheißung für alle Völker (Von der königlichen Hochzeit) – Mt 22,1-14
Kluge Mädchen kommen überall hin… (Von den zehn Jungfrauen) – Mt 25,1-13
Der Hirt wird sie scheiden (Von den Schafen und Böcken) – Mt 25,32 f.
IV. Parabeln im Lukasevangelium
Einleitung
Tabelle der Lukas-Texte
Kein Heimvorteil für den Heiler (Vom Arzt) – Lk 4,23
Vom Rollenwechsel des Gläubigers (Von den zwei ungleichen Schuldnern) – Lk 7,41-42a
Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10,30-35
Freundschaft verpflichtet (Vom bittenden Freund) – Lk 11,5-8
Das letzte Hemd hat keine Taschen (Vom reichen Kornbauern) – Lk 12,16-21
Wann aus Sklavinnen und Sklaven Gäste ihres Herren werden (Von den wachenden Knechten) – Lk 12,35-38
Gerichtskonsequenz oder Gnadenchance? (Der unfruchtbare Feigenbaum) – Lk 13,6-9
Ehre und Schande bei Tisch (Von Rangordnung und Auswahl der Gäste) – Lk 14,7-11(12-14)
Von der Schwierigkeit zu teilen (Das große Abendmahl) – Lk 14,12-24
Die Kosten der Nachfolge (Das Doppelgleichnis vom Turmbau und vom Krieg) – Lk 14,28-32
Last und Freude des Kehrens (Von der verlorenen Drachme) – Lk 15,8-10
Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn) – Lk 15,11-32
Der beschuldigte Verwalter (Vom ungetreuen Haushalter) – Lk 16,1-8
Wie kommt ein Reicher in Abrahams Schoß? (Vom reichen Mann und armen Lazarus) – Lk 16,19-31
»Dinner for one« oder vom Sklavenlohn (Vom Knechtslohn) – Lk 17,7-10
Die Stärke der Schwachen (Von der bittenden Witwe) – Lk 18,1-8
Werbung in eigener Sache (Vom Pharisäer und Zöllner) – Lk 18,9-14
V. Parabeln im Johannesevangelium
Einleitung
Tabelle der Johannes-Texte
Jesus als der neue Tempel – Joh 2,19
Das Entscheidende kommt von oben (Geburt von oben) – Joh 3,3-7
Wissen, woher der Wind weht (Der wehende Wind) – Joh 3,8
Wasser ist nicht gleich Wasser (Vom lebendigen Wasser) – Joh 4,13 f.
Geteilte Arbeit – doppelte Freude! (Von der nahen Ernte) – Joh 4,35-38
Der Meisterschüler Gottes (Von der Lehre des Sohnes) – Joh 5,19-23
Ein himmlisches Gericht (Vom Brot des Lebens) – Joh 6,32-40.48-51
Ruf in die Nachfolge (Vom Hirt und den Schafen) – Joh 10,1-5
Die Tür ist offen (Die Tür) – Joh 10,7-10
Wem liegen die Schafe am Herzen?! (Hirte und Lohnknecht) – Joh 10,12 f.
Es ist Zeit, dem Licht zu folgen (Wandel bei Tag und Nacht) – Joh 11,9 f.
Das Leben aus dem Tod (Vom sterbenden Weizenkorn) – Joh 12,24
Platz und Gemeinschaft für alle (Die Wohnungen im Vaterhaus) – Joh 14,1-4
Eine fruchtbare Allianz (Weinstock, Winzer und Reben) – Joh 15,1-8
Aus Schmerz wird Freude (Die gebärende Frau) – Joh 16,21 f.
VI. Parabeln im Thomasevangelium
Einleitung
Tabelle der Thomas-Texte
Der Löwe im Menschen (Löwe-Mensch-Löwe) – EvThom 7
Der wählerische Fischer – EvThom 8
Von der Überwindung der Entzweiung – EvThom 11
Nackt auf fremdem Land (Die Kinder auf dem Feld) – EvThom 21,1-4
Einssein an Gottes Brust (Stillkinder) – EvThom 22
Vom Lichtmenschen – EvThom 24
Das Lamm und der Ort der Ruhe – EvThom 60
Einssein statt Getrenntsein (Zwei auf dem Bett) – EvThom 61
Vom Aufscheinen (Holz und Stein) – EvThom 77,2 f.
Das Licht in den Bildern – EvThom 83
Die Frau auf dem Weg (Vom Mehlkrug) – EvThom 97
Die Selbstprüfung des Mörders (Vom Attentäter) – EvThom 98
Wer vertreibt den Hund aus der Futterkrippe? (Vom Hund in der Futterkrippe) – EvThom 102
VII. Parabeln unter den Agrapha
Einleitung
Tabelle der Agrapha
Dattelpalme, Weizenkorn und Ähre (Parabeln im apokryphen Jakobusbrief) – EpJac NHC I,2
Auf genaue Prüfung kommt es an (Der gute Geldwechsler) – Agr 31
Halte dir jederzeit das Ende vor Augen! (Der Dieb in der Nacht) – Agr 45
Die Kleider der Kinder – Agr 123
Von der asketischen Praxis (Kampf und Krönung) – Agr 149
Weisheit nur für Weisheitsfreunde! – Agr 165
Von untauglichen Weisen – Agr 166
Die mörderische Ehefrau – Agr 206
Die Welt als Brücke – Agr 207
Gesamttabelle der Einzelgleichnisse (alphabetisch)
Vollständige Liste der Parabeln nach Quellenbereichen (mit Parallelen)
Motivfeld-›Register‹
Die Autorinnen und Autoren
Gesamtverzeichnis der verwendeten Literatur
Abkürzungen
Stellenregister
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Kompendium der Gleichnisse Jesu
 9783641310745

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Gt 08020 / p. 3 / 25.6.2015

KOMPENDIUM der Gleichnisse Jesu Herausgegeben von Ruben Zimmermann in Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer Gabi Kern Annette Merz Christian Münch Enno Edzard Popkes

Gütersloher Verlagshaus

Gt 08020 / p. 2 / 25.6.2015

Gt 08020 / p. 4 / 25.6.2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2., korrigierte und um Literatur ergänzte Auflage 2015 Copyright © 2007 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. Umschlaggestaltung: Init GmbH, Bielefeld Satz: SatzWeise GmbH, Trier ISBN 978-3-641-31074-5 www.gtvh.de

Gt 08020 / p. 5 / 25.6.2015

Inhalt Prolog

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Die Gleichnisse Jesu Eine Leseanleitung zum Kompendium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruben Zimmermann 1 Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zur Überlieferung: Der erinnerte Gleichniserzähler . . . . . . . 1.2 Zu Tradition und Umfeld: Maschal, Beispiel oder Fabel? . . . . 1.3 Zur Theologie: Von Gott reden mit Bildern der Welt . . . . . . 1.4 Zum Verstehen: Die Leser(innen-)Orientierung der Gleichnisse 1.5 Zur Forschung: Ein integratives Modell . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

3 3 5 9 12 14

2 Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Jülicher-Klassifikation und deren Kritik . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Gleichnis – Parabel – Beispielerzählung . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Kritik an der so genannten »Beispielerzählung« . . . . . . . . . . 2.1.3 Kritik an der Unterscheidung von »Gleichnis i. e. S.« und »Parabel« 2.2 Was ist überhaupt eine Gattung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Merkmalsbündel der Gattung »Parabel« . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

17 17 17 18 19 23 25

3 Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen . . . 3.1 Grundentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die einzelnen Auslegungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Titel und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) . . . . . . . . 3.2.3 Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) . . 3.2.4 Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) . 3.2.5 Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) . . . 3.2.6 Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte 3.2.7 Literatur zum Weiterlesen . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

28 28 32 33 34 36 39 41 43 44

Allgemeine Literaturhinweise zu den Gleichnissen Jesu . . . . . . . . . . . . . . .

45

. . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . .

3

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

I. Parabeln in der Logienquelle Q Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabi Kern

49

Tabelle der Q-Texte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Absturzgefahr (Vom Blinden als Blindenführer) – Q 6,39 . . . . . . . . . . . . . . Gabi Kern

61

V

Gt 08020 / p. 6 / 25.6.2015

Inhalt

Größenwahn?! (Vom Schüler und Lehrer) – Q 6,40 Gabi Kern

. . . . . . . . . . . . . . . .

Die Behebung einer Sehschwäche (Vom Splitter und dem Balken) – Q 6,41 f. Jutta Leonhardt-Balzer

68

. . .

76

Von den Früchten des Baumes und dem Sprechen des Herzens (Vom Baum und seinen Früchten) – Q 6,43-45 . . . . . . . . . . . . . . . . . Dierk Starnitzke

81

»Einstürzende Neubauten« (Hausbau auf Felsen oder Sand) – Q 6,47-49 Moisés Mayordomo

. . . . .

92

Vom misslingenden Spiel (Von den spielenden Kindern) – Q 7,31-35 . . . . . . . . Peter Müller

100

Folgenreiche Bitte! (Arbeiter für die Ernte) – Q 10,2 Ruben Zimmermann

. . . . . . . . . . . . . . . .

111

Bitten lohnt sich (Vom bittenden Kind) – Q 11,9-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Gerber

119

Füllt den Raum aus – es kommt sonst noch schlimmer! (Beelzebulgleichnis) – Q 11,24-26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Labahn

126

Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht (Die Lampe auf dem Leuchter / Vom Licht auf dem Leuchter) – Q 11,33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristina Dronsch

133

Das Auge als Lampe des Körpers (Vom Auge als des Leibes Licht) – Q 11,34 f. . . . Enno Edzard Popkes

139

Vertrauen in die Sorge Gottes (Sorgt euch nicht) – Q 12,24.26-28 . . . . . . . . . Christoph Heil

144

Achtung Menschensohn! (Vom Dieb) – Q 12,39 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Labahn

154

Es ist stets höchste Zeit (Vom treuen und untreuen Haushalter) – Q 12,42-46 . . . Christine Gerber

161

Wetterregeln (Von der Beurteilung der Zeit) – Q 12,54-56 . . . . . . . . . . . . . Peter Müller

171

Forderung zu außergerichtlicher Einigung (Der Gang zum Richter) – Q 12,58 f. . . . Michael Labahn

178

Gott knetet nicht (Vom Sauerteig) – Q 13,20 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Heinrich Ostmeyer

185

Tretet ein! (Von der verschlossenen Tür) – Q 13,24-27 Dirk Jonas

193

VI

. . . . . . . . . . . . . . .

Gt 08020 / p. 7 / 25.6.2015

Inhalt

Vom Wirken des Salzes (Vom Salz) – Q 14,34 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Leonhardt-Balzer

200

Neunundneunzig sind nicht genug! (Vom verlorenen Schaf) – Q 15,4-5a.7 . . . . . Animosa Oveja

205

Über die Notwendigkeit ungeteilter Leidenschaft (Vom Doppeldienst) – Q 16,13 . . Michael Labahn

220

Die plötzliche Alternative mitten im Alltag (Mitgenommen oder zurückgelassen) – Q 17,34 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Labahn

227

Schnell und unausweichlich (Vom Aas und den Geiern) – Q 17,37 . . . . . . . . . . Peter Müller

235

Gewinnen oder Verlieren (Von den anvertrauten Geldern) – Q 19,12 f.15-24.26 . . . Christian Münch

240

II. Parabeln im Markusevangelium Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlev Dormeyer

257

Tabelle der Markus-Texte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

262

Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit (Vom Bräutigam / Die Fastenfrage) – Mk 2,18-20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabi Kern

265

Was passt und was nicht (Vom alten Mantel und vom neuen Wein) – Mk 2,21 f. . . Martin Leutzsch

273

Zoff bei Beelzebuls (Beelzebulgleichnis) – Mk 3,22-26 . . . . . . . . . . . . . . . Martin G. Ruf

278

Jesus lernt vom Räuberhauptmann (Das Wort vom Starken) – Mk 3,27 Annette Merz

. . . . . .

287

Vom Fruchtbringen (Sämann mit Deutung) – Mk 4,3-9.(10-12.)13-20 . . . . . . . . Kristina Dronsch

297

Aus dem Vollen schöpfen (Vom Maß) – Mk 4,24 Kristina Dronsch

313

. . . . . . . . . . . . . . . . .

Mut zur Selbst-Entlastung (Von der selbständig wachsenden Saat) – Mk 4,26-29 Detlev Dormeyer

.

318

Mehr Hoffnung wagen (Vom Senfkorn) – Mk 4,30-32 . . . . . . . . . . . . . . . Georg Gäbel

327

VII

Gt 08020 / p. 8 / 25.6.2015

Inhalt

Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit (Von Reinheit und Unreinheit) – Mk 7,14-23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Losekam

337

Das Brot der Hunde (Von Kindern und Hunden) – Mk 7,27 f. . . . . . . . . . . . . Ulrich Mell

347

Spiralen der Gewalt (Die bösen Winzer) – Mk 12,1-12 . . . . . . . . . . . . . . . . Tania Oldenhage

352

Wir sind schon wer (Vom grünenden Feigenbaum) – Mk 13,28 f. . . . . . . . . . . Detlev Dormeyer

367

Seid wachsam (Vom spät heimkehrenden Hausherrn) – Mk 13,30-33.34-37 . . . . . Detlev Dormeyer

374

III. Parabeln im Matthäusevangelium Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Münch

385

Tabelle der Matthäus-Texte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

392

Jesu Nachfolger als Lichter der Welt und als Stadt auf dem Berge (Von der Bergstadt) – Mt 5,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

395

Perlen vor die Säue (Von der Entweihung des Heiligen) – Mt 7,6 . . . . . . . . . . Christian Münch Ausreißen oder wachsen lassen? (Vom Unkraut unter dem Weizen) – Mt 13,24-30.36-43 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra von Gemünden

400

405

Die Freude des Findens (Vom Schatz im Acker und von der Perle) – Mt 13,44.45 f. . Peter Müller

420

Am Ende wird sortiert (Vom Fischnetz) – Mt 13,47-50 . . . . . . . . . . . . . . . Christian Münch

429

Neues und Altes aus dem Schatz des Hausherrn (Vom rechten Schriftgelehrten) – Mt 13,52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Müller Falsche Herkunft! (Vom Ausreißen der Pflanze) – Mt 15,13 . . . . . . . . . . . . . Petra von Gemünden Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses (Vom unbarmherzigen Knecht) – Mt 18,23-35 . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanna Roose

VIII

435 441

445

Gt 08020 / p. 9 / 25.6.2015

Inhalt

Jedem das Seine? Allen das Volle! (Von den Arbeitern im Weinberg) – Mt 20,1-16 . Friedrich Avemarie

461

Was heißt Gottes Willen tun? (Von den ungleichen Söhnen) – Mt 21,28-32 . . . . Georg Gäbel

473

Verheißung für alle Völker (Von der königlichen Hochzeit) – Mt 22,1-14 Luise Schottroff

. . . . . .

479

Kluge Mädchen kommen überall hin … (Von den zehn Jungfrauen) – Mt 25,1-13 . . Moisés Mayordomo

488

Der Hirt wird sie scheiden (Von den Schafen und Böcken) – Mt 25,32 f. Christian Münch

. . . . . .

504

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Merz

513

Tabelle der Lukas-Texte

518

IV. Parabeln im Lukasevangelium

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kein Heimvorteil für den Heiler (Vom Arzt) – Lk 4,23 Elisabeth Esch-Wermeling

. . . . . . . . . . . . . . .

523

Vom Rollenwechsel des Gläubigers (Von den zwei ungleichen Schuldnern) – Lk 7,41-42a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanna Roose

532

Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10,30-35 Ruben Zimmermann

. . . . . . . . . . .

538

Freundschaft verpflichtet (Vom bittenden Freund) – Lk 11,5-8 Annette Merz

. . . . . . . . . . .

556

Das letzte Hemd hat keine Taschen (Vom reichen Kornbauern) – Lk 12,16-21 . . . . Bernd Kollmann

564

Wann aus Sklavinnen und Sklaven Gäste ihres Herren werden (Von den wachenden Knechten) – Lk 12,35-38 . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Gerber

573

Gerichtskonsequenz oder Gnadenchance? (Der unfruchtbare Feigenbaum) – Lk 13,6-9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margareta Gruber

579

Ehre und Schande bei Tisch (Von Rangordnung und Auswahl der Gäste) – Lk 14,7-11(12-14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Popp

586

Von der Schwierigkeit zu teilen (Das große Abendmahl) – Lk 14,12-24 . . . . . . . Luise Schottroff

593

IX

Gt 08020 / p. 10 / 25.6.2015

Inhalt

Die Kosten der Nachfolge (Das Doppelgleichnis vom Turmbau und vom Krieg) – Lk 14,28-32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Sellin Last und Freude des Kehrens (Von der verlorenen Drachme) – Lk 15,8-10 Annette Merz

604

. . . . .

610

Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn) – Lk 15,11-32 . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Heinrich Ostmeyer

618

Der beschuldigte Verwalter (Vom ungetreuen Haushalter) – Lk 16,1-8 Eckart Reinmuth

. . . . . . .

634

Wie kommt ein Reicher in Abrahams Schoß? (Vom reichen Mann und armen Lazarus) – Lk 16,19-31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Leonhardt-Balzer

647

»Dinner for one« oder vom Sklavenlohn (Vom Knechtslohn) – Lk 17,7-10 . . . . . . Thomas Braun

661

Die Stärke der Schwachen (Von der bittenden Witwe) – Lk 18,1-8 . . . . . . . . . Annette Merz

667

Werbung in eigener Sache (Vom Pharisäer und Zöllner) – Lk 18,9-14 . . . . . . . . Thomas Popp

681

V. Parabeln im Johannesevangelium Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruben Zimmermann

699

Tabelle der Johannes-Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

709

Jesus als der neue Tempel – Joh 2,19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

711

Das Entscheidende kommt von oben (Geburt von oben) – Joh 3,3-7 . . . . . . . . Thomas Popp

719

Wissen, woher der Wind weht (Der wehende Wind) – Joh 3,8 . . . . . . . . . . . Thomas Popp

725

Wasser ist nicht gleich Wasser (Vom lebendigen Wasser) – Joh 4,13 f. . . . . . . . R. Craig Koester

731

Geteilte Arbeit – doppelte Freude! (Von der nahen Ernte) – Joh 4,35-38 . . . . . . Ruben Zimmermann

737

Der Meisterschüler Gottes (Von der Lehre des Sohnes) – Joh 5,19-23 . . . . . . . . Jan van der Watt

745

Ein himmlisches Gericht (Vom Brot des Lebens) – Joh 6,32-40.48-51 . . . . . . . . Jan van der Watt

755

X

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Inhalt

Ruf in die Nachfolge (Vom Hirt und den Schafen) – Joh 10,1-5 . . . . . . . . . . . Beate Kowalski

768

Die Tür ist offen (Die Tür) – Joh 10,7-10 Thomas Popp

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

781

Wem liegen die Schafe am Herzen?! (Hirte und Lohnknecht) – Joh 10,12 f. . . . . . Dominik Mahr

788

Es ist Zeit, dem Licht zu folgen (Wandel bei Tag und Nacht) – Joh 11,9 f. . . . . . . R. Craig Koester

793

Das Leben aus dem Tod (Vom sterbenden Weizenkorn) – Joh 12,24 . . . . . . . . Ruben Zimmermann

804

Platz und Gemeinschaft für alle (Die Wohnungen im Vaterhaus) – Joh 14,1-4 . . . . Mira Stare

817

Eine fruchtbare Allianz (Weinstock, Winzer und Reben) – Joh 15,1-8 . . . . . . . . Uta Poplutz

828

Aus Schmerz wird Freude (Die gebärende Frau) – Joh 16,21 f. . . . . . . . . . . . . Judith Hartenstein

840

VI. Parabeln im Thomasevangelium Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

851

Tabelle der Thomas-Texte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

859

Der Löwe im Menschen (Löwe-Mensch-Löwe) – EvThom 7 . . . . . . . . . . . . Claudia Losekam

863

Der wählerische Fischer – EvThom 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

868

Von der Überwindung der Entzweiung – EvThom 11 . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

873

Nackt auf fremdem Land (Die Kinder auf dem Feld) – EvThom 21,1-4 Judith Hartenstein

. . . . . . .

878

Einssein an Gottes Brust (Stillkinder) – EvThom 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . Angela Standhartinger

883

Vom Lichtmenschen – EvThom 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

888

Das Lamm und der Ort der Ruhe – EvThom 60 Enno Edzard Popkes

893

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

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Inhalt

Einssein statt Getrenntsein (Zwei auf dem Bett) – EvThom 61 . . . . . . . . . . . Claudia Losekam

899

Vom Aufscheinen (Holz und Stein) – EvThom 77,2 f. . . . . . . . . . . . . . . . . Angela Standhartinger

904

Das Licht in den Bildern – EvThom 83 Enno Edzard Popkes

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

909

Die Frau auf dem Weg (Vom Mehlkrug) – EvThom 97 . . . . . . . . . . . . . . . Silke Petersen

916

Die Selbstprüfung des Mörders (Vom Attentäter) – EvThom 98 . . . . . . . . . . Niclas Förster

921

Wer vertreibt den Hund aus der Futterkrippe? (Vom Hund in der Futterkrippe) – EvThom 102 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Leonhardt-Balzer

927

VII. Parabeln unter den Agrapha Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruben Zimmermann

935

Tabelle der Agrapha

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

939

Dattelpalme, Weizenkorn und Ähre (Parabeln im apokryphen Jakobusbrief) – EpJac NHC I,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Hartenstein

941

Auf genaue Prüfung kommt es an (Der gute Geldwechsler) – Agr 31 . . . . . . . . Kurt Erlemann

951

Halte dir jederzeit das Ende vor Augen! (Der Dieb in der Nacht) – Agr 45 Kurt Erlemann

. . . . .

956

Die Kleider der Kinder – Agr 123 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Berger

959

Von der asketischen Praxis (Kampf und Krönung) – Agr 149 . . . . . . . . . . . . Uta Poplutz

964

Weisheit nur für Weisheitsfreunde! – Agr 165 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Erlemann

969

Von untauglichen Weisen – Agr 166 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Erlemann

972

Die mörderische Ehefrau – Agr 206 Klaus Berger

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

975

Die Welt als Brücke – Agr 207 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geert van Oyen

977

XII

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Inhalt

Gesamttabelle der Einzelgleichnisse (alphabetisch) . . . . . . . . . . . . . . . . .

983

Vollständige Liste der Parabeln nach Quellenbereichen . . . . . . . . . . . . . . .

988

Motivfeld-›Register‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011 Gesamtverzeichnis der verwendeten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089

XIII

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Prolog »Gib’s auf!« Mit der Lektüre der bekannten Parabel von Franz Kafka begann im Oktober 2005 in Bielefeld die erste Tagung zu den Gleichnissen Jesu und damit die Arbeit am Projekt »Kompendium der Gleichnisse Jesu«. Ruben Zimmermann hatte mit der Idee eingeladen, der häufig in der Gleichnisforschung beklagten Reduktion der Textbasis bei gleichzeitiger Theorielastigkeit eine Übersetzung und Kommentierung aller Jesus-Gleichnisse des Urchristentums entgegenzusetzen. Das war ein Wagnis. Denn nach dem epochalen Werk von Adolf Jülicher (Die Gleichnisreden Jesu, 1886-1899, 2 1910) hatte sich kein Exeget mehr an eine solche Aufgabe herangewagt. Dies hatte seine Gründe. Denn die in einer frühen Rezension zu Jülicher prophezeite Wirkung des Buches sollte sich bewahrheiten. So hatte Johannes Weiß 1901 geschrieben: »Wenn ich mit einem Worte die Bedeutung des Buches bezeichnen soll, so kann ich nur sagen: die hier gestellte Aufgabe ist gelöst, so erschöpfend, so vollendet, daß wohl sobald kein Anderer den Mut finden wird, sie noch einmal zu lösen.« Diesem Verdikt zum Trotz hatte sich eine Gruppe vorwiegend jüngerer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler nicht abhalten lassen, der Einladung zu folgen und nach neuen Wegen in der Gleichnisauslegung zu fragen. So fand sich ein Herausgeber(innen)- und Projektteam zusammen, das die Aufgabe anpacken wollte. Dabei sollten hinsichtlich Methodik und Hermeneutik, Textumfang sowie Anordnung der Texte Wege beschritten werden, die zum Teil Einsichten der Gleichnisforschung der letzten Jahrzehnte bündeln, zum Teil auch Neuland erschließen wollten. Im Ergebnis wurde eine Zugangsweise gefunden, die mit vielen Ansätzen der Jülicher-Tradition brechen musste. Wie schwer es dabei ist, neue Paradigmen in ein Forschungsfeld einzuführen, wurde immer wieder bewusst und bedarf sorgfältiger Begründungen. Die ausführlichere theoretische Auseinandersetzung mit Grundentscheidungen des Kompendiums wird deshalb im Rahmen des Sammelbandes »Hermeneutik der Gleichnisse Jesu, hg. v. R. Zimmermann, WUNT, Tübingen 2008« erfolgen. Die Publikation des vorliegenden Kompendiums zeigt, dass wir es nicht aufgegeben haben. Im Gegenteil. Ein zweites Symposion im Februar 2006 bestärkte uns in Aufgabe und Vorgehensweise. Die große Bereitschaft vieler Autor(inn)en zu einer Mitarbeit beflügelten Arbeit und Zeitplan. Ein fruchtbarer Austausch, sei es im Herausgeber(innen)team, sei es mit den über 45 Autorinnen und Autoren des Kompendiums begann. Viele Bearbeitungen sind Ergebnis eines konstruktiv-dialogischen Entstehungs- und Revisionsprozesses und zeigen damit bereits eine Maxime des vorliegenden Kompendiums an: Parabeln regen zum Austausch und Dialog an. Sie wollen gemeinsam und auf vielfältige Weise verstanden werden. Nur im Zusammenwirken vieler Menschen konnte dieses Kompendium in dieser relativ kurzen Zeit entstehen. So ist es uns an dieser Stelle ein Bedürfnis, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Einhaltung des strikten Zeitplans zu danken, ebenso für ihre Bereitschaft, sich auf gemeinsame Grundentscheidungen und -strukturen der Auslegung einzulassen, die das Kompendium letztlich zu einer ›Einheit in der Vielfalt‹ werden ließ. Ein besonders herzliches Dankeschön geht an Thomas Braun (Marburg) für seine überaus akribische und im wahrsten Sinne des Wortes unermüdliche Redaktionsarbeit, 1

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Prolog

auch Dominik Mahr (Bielefeld) sei für seinen großen Einsatz gedankt. Wir danken auch Judith Hartenstein (Marburg) für ihre Mithilfe bei den koptischen Texten. Ferner haben Daniel Koporcic, Michael Hülsebusch und Viktoria Semjonowa wichtige redaktionelle Bausteine beigetragen, wofür wir dankbar sind. Schließlich danken wir dem Gütersloher Verlag, besonders Herrn Diedrich Steen und Frau Tanja Scheifele für die wohlwollende Begleitung und ermutigende Unterstützung während der ganzen Entstehungszeit des Kompendiums. Zuletzt sei der Universität Bielefeld gedankt, durch deren Unterstützung in Form von Berufungsmitteln das Projekt so zügig durchgeführt werden konnte. Die Gleichnisse Jesu zählen zu den Schätzen der Bibel, sie sind Kernbestand neutestamentlicher Verkündigung, und das zu Recht. Ihre Sinnpotenziale wurden in einer langen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte immer wieder entdeckt und zur Entfaltung gebracht, nicht nur in Theologie und Kirche, auch in der Literatur- und Kulturgeschichte. Entsprechend richtet sich das vorliegende Kompendium auch an unterschiedliche Lesergruppen: an Theolog(inn)en in Wissenschaft und Kirche ebenso wie an Historiker(innen), Literatur- und Kulturwissenschaftler(innen), aber auch über das akademische und christliche Publikum hinaus an alle interessierten Menschen. Die Gleichnisse Jesu geben auch heute noch Orientierung. Mehr noch, sie geben zu denken, fordern heraus, sie sprechen an. Wer beginnt, sie zu lesen, und in den Prozess des Verstehens hineingezogen wird, wird merken, warum wir es nicht aufgeben konnten, ja warum vielmehr die Gleichnisse Jesu selbst eine Gabe sind, die immer neu aufgegeben bleiben wird … Gütersloh, im Juli 2007

Die Herausgebenden

Vorwort zur 2. Auflage Es freut uns, dass das Kompendium offen aufgenommen wurde und zwar sowohl in der wissenschaftlichen Welt als auch in Gemeinde und Religionspädagogik. Selbst international stieß das Kompendium auf viel Interesse (siehe etwa die italienische Übersetzung Compendio delle Parabole Di Gesù. Edizione italiana a cura di Flavio Dalla Vecchia, Brescia: Queriniana, 2011). So wurde nach recht kurzer Zeit eine Neuauflage notwendig. Wir haben allerdings die Revisionen auf die Bereinigung formaler Fehler sowie auf die Ergänzung von neuerer Literatur beschränkt. Die Paginierung konnte somit weitgehend unverändert zur 1. Auflage bleiben. Mainz, im Mai 2015

2

Ruben Zimmermann für die Herausgebenden

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Die Gleichnisse Jesu Eine Leseanleitung zum Kompendium Ruben Zimmermann

Die Gleichnisse Jesu zählen zum Kernbestand des Neuen Testaments, sie sind zugleich ein Stück Weltliteratur. Sie zu kennen, ist eine Pflicht für alle, die zu den Wurzeln abendländischer Kulturgeschichte vordringen wollen. Sie zu verstehen, ist besonders für Menschen, die im christlichen Glauben stehen, eine Herausforderung, die ihr ganzes Leben betrifft. Die vorliegende Einführung soll eine erste Annäherung für beide Perspektiven bieten. So verbindet sie historische und hermeneutische Fragen ebenso wie theologische und forschungsgeschichtliche (1). Auch die literarische Form des Gleichnisses wird eigens diskutiert (2). Doch eine Einleitung kann nur Vorentscheidungen des Kompendiums offenlegen, die Vorgehensweise beim Gesamtwerk und den Einzelauslegungen erklären (3) und somit einige Orientierungsmarken für die Lesenden setzen. Sie soll dabei nichts weiter als eine Hinführung zum Eigentlichen sein. Worauf es ankommt, sind die Gleichnistexte selbst. Sie gilt es zu kennen und zu verstehen.

1 Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung 1.1 Zur Überlieferung: Der erinnerte Gleichniserzähler In vielen solchen Parabeln sagte er ihnen das Wort, so wie sie es hören konnten. Ohne Parabel redete er nicht zu ihnen. (Mk 4,33 f.)

Jesus war ein Gleichniserzähler. Diese Einschätzung wird nicht nur durch die Fülle der Gleichnisse innerhalb der urchristlichen Jesusüberlieferung gewonnen. Eine bereits in den Evangelien sichtbare Reflexion klassifiziert die Verkündigung Jesu in übergeordneter Weise insgesamt als bildliche Redeweise (Mk 4,33 f.; Joh 16,25). Auch die neueste Phase der Jesusforschung hat diese Grundüberzeugung wieder bestätigt (Funk 1996, 136.165; Theißen/Merz 3 2001, 286-310; Schröter 2006, 188-213). Durch die Gleichnisse hofft man deshalb besonders nah an die Verkündigung des geschichtlichen Jesus heranzukommen, in ihnen glaubt man einen Nachklang der Stimme Jesu hören zu können. So hatte die historische Rückfrage bereits Adolf Jülicher in seinem epochalen Werk »Die Gleichnisreden Jesu« (2 1910) bestimmt und wurde 1947 in das berühmte Diktum des Gleichnisforschers Joachim Jeremias gegossen: »Wer sich mit den 41 Gleichnissen Jesu, wie sie uns die drei ersten Evangelien überliefern, beschäftigt, steht auf besonders festem historischen Grund; sie sind ein Stück Urgestein der Überlieferung.« (Jeremias 11 1998, 7). Allerdings waren die Forscher dieser Zeit auch der Meinung, dass uns die Worte Jesu in den biblischen Texten nicht ungebrochen überliefert seien. Zwischen dem Akt des Sprechens Jesu und der schriftlichen Fixierung in einem der Evangelien vergingen im3

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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium

merhin mindestens 40 Jahre, eine Zeit, in der die Texte während eines mündlichen und schriftlichen Überlieferungsprozesses erweitert, ausgelegt und verändert wurden. Es entsprach denn auch der methodischen Grundüberzeugung dieser Zeit, dass man versuchte, die in den Evangelien überlieferten Gleichnisse von ihren redaktionellen Übermalungen zu befreien, um die ureigenste Stimme (ipsissima vox) Jesu wieder hörbar werden zu lassen. Es sollte der Versuch unternommen werden, »den ursprünglichen Ort im Leben Jesu wiederzugewinnen, (damit) Jesu Worte wieder ihren ursprünglichen Klang erhalten« (Jeremias 11 1998, 19; vgl. noch Funk/Hoover 1993). Die Ergebnisse dieser Rekonstruktionsversuche waren allerdings keineswegs konsensfähig. Zu unterschiedlich waren die literarkritischen Analysen, zu sehr waren sie von theologischen Vorentscheidungen geprägt, die durch ein bestimmtes Jesusbild diktiert wurden. Doch auch wenn heute die Rekonstruktion von originalen Jesusworten und -gleichnissen weitgehend aufgegeben wurde, so besteht das Interesse am so genannten ›historischen Jesus‹ ungemindert, ja ist durch den so genannten »third quest« (die dritte Phase) der Jesusforschung neu entfacht worden. Gleichwohl ist man methodisch sehr viel vorsichtiger in der Rekonstruktion von so genannten ›historischen Fakten‹ geworden, da sie sich schon aufgrund der Quellenlage, aber mehr noch aus geschichtsphilosophischen und erkenntnistheoretischen Gründen verbieten. Im vorliegenden Kompendium wird die historisch-diachrone Rückfrage deshalb wesentlich auf folgende Aspekte begrenzt: 1) Die Gleichnisse werden als Medien der Jesuserinnerung betrachtet. 2) Die Gleichnisse können als Spiegel der realen Lebenswelt historisch befragt werden (dazu unter 3.2.3 »Bildspendender Bereich«, 36-39). 3) Die Gleichnisse stehen in einem Prozess der literarischen Rezeption und Produktion. So werden einerseits geprägte Bedeutungen und Motive aufgenommen (dazu unter 3.2.4 »Bildfeld-Tradition«, 39-41), andererseits setzen die Gleichnisse ihrerseits einen Überlieferungs- und Rezeptionsprozess in Gang (dazu unter 3.2.6 »Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte«, 43 f.). Mit Blick auf die hier interessierende Frage nach Jesus, kann grundsätzlich bejaht werden, dass der geschichtliche Jesus von Nazareth ein Gleichniserzähler war. Allerdings zeigt schon die Mehrfachüberlieferung einzelner Gleichnisse, dass der Prozess der Weitergabe seine Spuren auch in den Texten hinterlassen hat. Man kann deshalb wohl kaum davon ausgehen, dass die in den urchristlichen Texten überlieferten Gleichnisse genau in diesem Wortlaut von Jesus gesprochen wurden. Bei einigen ist es sogar eher unwahrscheinlich, dass Jesus überhaupt der Urheber dieser Gleichnisse war. Doch wo und mit welchen Kriterien und Wertmaßstäben will man hier differenzieren? Können Exegeten tatsächlich verbindliche Aussagen über die Authentizität einzelner Gleichnisse treffen? Und wenn ja, in welcher Intention? Wird nicht oft genug mit dogmatischen Vorentscheidungen ausgewählt und bewertet? Die Suche nach dem authentischen Jesusgleichnis ist im Ansatz verfehlt. Denn sie geht vielfach davon aus, dass das Urchristentum beliebig in Verfälschung und Widerspruch zu Jesu Verkündigung Gleichnisse hinzuerfunden hätte. Nach neuen Kriterien der Jesusforschung müssen wir in der Zuschreibung von Gleichnistexten zu Jesus hingegen ein Zeugnis der Wirkungsplausibilität erkennen (Theißen/Merz 3 2001, 116-120). Auch spätere Fixierungen von Gleichnisgut können authentische Elemente bewahrt haben und stehen schon durch die Rückbindung in einer Beziehung zu Jesus. Das vorliegende Kompendium verzichtet deshalb bewusst auf literarkritische und historische Rekonstruktionsversuche, in denen mündliche Vor- oder Urstufen der 4

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Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung

Gleichnisse rekonstruiert werden (abgesehen von der durch Mehrfachbezeugung plausiblen Q-Rekonstruktion, dazu unten). Gleichwohl nimmt es die Grundüberzeugung des Urchristentums auf, nach dem Jesus als der Gleichniserzähler wahrgenommen wurde. Während die rabbinischen Gleichnisse auf eine Vielzahl von Rabbis als Sprecher verteilt wurden, wurden die Gleichnisse des Urchristentums von den ersten Quellen bis zum Thomasevangelium fast immer Jesus zugeschrieben: Jesus ist der Gleichniserzähler par excellence. Doch die urchristlichen Texte machen damit keine Aussage über ein historisches Faktum. Vielmehr geben sie die Überzeugung wieder, dass man sich an Jesus als Gleichniserzähler erinnerte. Diese in den Einleitungen und narrativen Darbietungen der Gleichnisse manifestierte Erinnerung war ausschlaggebend für die Auswahl der vorliegenden Gleichnistexte. Sofern in biblischen und weiteren urchristlichen Quellen Gleichnistexte Jesus zugeschrieben wurden, wurden sie auch in dieses Kompendium aufgenommen, ohne Prüfung, ob aufgrund des Inhalts oder Alters der Schrift diese Zuschreibung höhere oder weniger hohe Plausibilität besitzt. Weiterführend ist vielmehr die Frage, warum diese beachtliche Konzentration auf und Rückbindung der Gleichnisse an Jesus erfolgte. M. E. kann man hierbei eine Konvergenz zwischen Form und Inhalt erkennen: Gleichnisse sind prädestinierte Medien der Jesuserinnerung (ausführlich dazu R. Zimmermann 2011c). Erinnerung erfolgt nie sprachlos und frei, sondern vollzieht sich in bestimmten Medien und Formen (Erll/Nünning 2004; dies. 2005). Eine Form, derer sich der Erinnerungsprozess bedient, ist allerdings kein inhaltsleeres Gedächtnisvehikel, sondern kann aufgrund der »Semantisierung der Formen« (Nünning 2005, 603) auch inhaltlich maßgeblich auf den Erinnerungsgegenstand einwirken. Dass man sich an Jesus als denjenigen erinnerte, der bildhaft, in Gleichnissen von Gott sprach, konvergiert mit dem christologischen Bekenntnis, dass Christus selbst das »Bild Gottes« (2Kor 4,4; Kol 1,15) ist, der den Vater sichtbar macht (Joh 1,18; 14,7). Der Gleichniserzähler ist selbst das »Gleichnis Gottes« (so nach Jüngel 7 2001, 491.495; Schillebeeckx 1992, 555 f.; vgl. Fuchs 1965).

1.2 Zu Tradition und Umfeld: Maschal, Beispiel oder Fabel? (…) damit erfüllt würde, was durch den Propheten geredet ist, der spricht: »Ich werde meinen Mund öffnen in Parabeln; ich werde aussprechen, was von Grundlegung der Welt an verborgen war.« (Mt 13,35)

Die Suche nach authentischen Jesusgleichnissen war in hohem Maße auch von der Überzeugung geprägt, dass sich die Jesus-Gleichnisse wie ein erratischer Block aus Tradition und Umfeldtexten abhoben: »Jesu Gleichnisse sind zudem etwas völlig Neues« (Jeremias 11 1998, 8). Jülicher hatte zwar die Nähe der Gleichnisse zu Parallelen in der jüdischen, (insbesondere) rabbinischen Literatur anerkannt, aber vor allem um sie als Kontrastfolie zu benutzen, vor der sich die Meisterlichkeit und Originalität der Jesus-Gleichnisse abheben sollte: »Der Gegensatz zwischen Jesu Lehrweise und der seiner schriftstellerischen Zeitgenossen aus Israel ist riesengross. (…) Jesus (…) steht als Parabolist über der jüdischen Hagada. Seine Originalität ihr gegenüber ist durch seine Meisterschaft erwiesen. Nachahmer leisten nie Grosses, Unsterbliches.« (Jülicher I 2 1910, 165.172). 5

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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium

Die zum Teil sogar deutlich antijudaistische Einschätzung Jülichers wurde bereits von seinem Zeitgenossen Paul Fiebig heftig kritisiert (Fiebig 1912, 119-222; vgl. die Debatte in ZNW 13, 1912). Im Bannkreis Jülichers dauerte es aber bis ins letzte Fünftel des 20. Jh., bis dann die jüdischen Wurzeln bzw. rabbinischen Parallelen zu den Gleichnissen Jesu in eigenständigen Untersuchungen differenzierter wahrgenommen wurden (bahnbrechend hierzu Flusser 1981; ferner Dschulnigg 1988). Inzwischen wird kaum mehr bestritten, dass die Gleichnisse Jesu schon rein formal in den Horizont jüdischer Erzählweise eingeordnet werden müssen. So können bereits in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, etwa im »Weinberglied« (Jes 5,1-7), in »Nathans Strafrede an David« (2Sam 12,1-15), in den Pflanzenfabeln von Jotam (Ri 9,7-15) und Joas (2Kön 14,8 ff.) oder der Adler-Fabel in Ez 17,3-10 Texte gefunden werden, die formal und funktional als Vorläufer der ntl. Gleichnisse betrachtet werden können (vgl. C. Westermann 1984). Daneben wurde immer wieder auf den hebr. Begriff lU5m5 ma¯scha¯l als mögliche Wurzel hingewiesen, zumal der Begriff in der Septuaginta vielfach mit dem griech. parabolffi parabole¯ wiedergegeben wurde. Die am Paradigma eines normativen Klassifikationsrasters (Zymner 2003b, 10-23) ausgerichtete ältere Formgeschichte hatte allerdings Mühe damit, dass so unterschiedliche Texte der hebr. Bibel mit diesem Begriff bezeichnet wurden. Maschal sei folglich kein Gattungsbegriff im engeren Sinn, sondern diene »zur Bezeichnung einer Reihe literarischer Gattungen (…) im AT: Volkssprichwort, Lehrspruch, Lehrrede, Gleichnis, Orakelrede.« (Eissfeldt 1913, 20). Die konkreten Belege sind in der Tat vielfältig: Neben einer häufigen Belegung in prophetischen (Ez 12,22 f.; 18,2 f. etc.) oder weisheitlichen Texten (Ps 49,5; summarisch dann Spr 1,1; 10,1; 25,1), wo vielfach einzelne Sentenzen und Sprichwörter ma¯scha¯l genannt werden (z. B. 1Sam 10,12: Ist Saul auch unter den Propheten?) finden sich auch 7 Belege in der Bileam-Erzählung, wo die bildhafte, von Vergleichen lebende Rede Bileams als lU5m5 ma¯scha¯l bezeichnet wird (Num 23,7.18; 24,3.15.20 f.23, dazu Caesar 2005, Schüle 2011). Gleichwohl zeigt der Gebrauch des Terminus lU5m5 ma¯scha¯l bzw. in der LXX parabolffi parabole¯, dass die Autoren des AT damit eine Gattungsbestimmung erkennen lassen, die ein funktionales Verständnis der Parabel voraussetzt. Durch eine genaue Analyse aller Belege konnte Karin Schöpflin zeigen, dass man mit einem veränderten Gattungsverständnis im Vergleichsvorgang ein übergreifendes und verbindendes Element der verschiedenen Texte wahrnehmen kann, so dass man ma¯scha¯l als »Gleichwort/Vergleichswort« übersetzen könnte. »Ein lUm entsteht durch einen Vergleichsvorgang. Der Vergleich kann zunächst sowohl in einem Analogie- als auch in einem Kontrastverhältnis zweier Größen bestehen« (dazu Schöpflin 2002, 22 f.). Bernard B. Scott hat darüber hinaus auf die deutungsbedürftige Rätselhaftigkeit als übergeordnetes Moment hingewiesen (Scott 1989, 13). Es ist unschwer zu erkennen, dass ein solches Gattungsbewusstsein auch maßgeblich auf die ntl. Autoren eingewirkt hat, die mit einer entsprechenden funktionalen Bestimmung eine Vielfalt textlicher Formen unter dem Begriff parabolffi parabole¯ vereinen (mit Scott 1989, 13.21). Dass »Jesus als jüdischer Gleichnisdichter« (Kollmann 2004) betrachtet werden kann und dass besonders in den rabbinischen Gleichnissen eine Fülle (Thoma/Lauer nennen je nach Zählweise 500 bis 1400 Gleichnisse, vgl. Thoma/Lauer 1986, 12) von Vergleichstexten gegeben ist, kann inzwischen als allgemeiner Konsens betrachtet werden. Unklarer ist hingegen die Frage, welche Bedeutung man den reichhaltigen rabbi6

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Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung

nischen Gleichnissen im Einzelnen beimessen kann. Können sie herangezogen werden, um auf die jüdischen Wurzeln Jesu hinzuweisen (so etwa Young 1989 im Untertitel: »Rediscovering the Roots of Jesus’ Teaching«)? Allerdings wird diese diachrone Fragestellung schon deshalb in ihre Grenzen gewiesen, weil die meisten rabbinischen Gleichnisse in ihrer redaktionellen schriftlichen Überlieferung kaum vor das 3./4. Jh. n. Chr. zu datieren sind (etwa die Pesiqta de Rav Kahana im 5. Jh. n. Chr.). Auch wenn einzelne Texte in ihrer literarischen Rohform in die vorrabbinische Zeit (PesK 11,3) oder in das 2. Jh. (PesK 1,3, nach Thoma/Lauer 1986, 63 f.) zurückzuverfolgen sind, kann damit kaum eine Basis für überlieferungsgeschichtliche Hypothesen gewonnen werden. Der Begriff ma¯scha¯l wird in der Mischna etwa nur dreimal gebraucht (mSuk 2,9; mNid 2,5; 5,7; dazu Neusner 2006, 259-261). Weiterführend waren hingegen Untersuchungen, die eher in synchroner Weise auf Parallelen zwischen den rabbinischen Gleichnissen und den Gleichnissen Jesu im Blick auf Gattung, Motive, Sujet und Stil hingewiesen haben (vgl. Flusser 1981; Dschulnigg 1988; Young 1989; ders. 1998; F. Stern 2006). Auch die innerjüdische Diskussion um die Rolle der Gleichnisse im Midrash, insbesondere die Frage, ob der nimschal, d. h. die beigefügte Sachdiskussion, als Bestandteil des eigentlichen Gleichnisses (Goldberg 1981; Boyarin 1985) oder als sekundäre Erweiterung (D. Stern 1991; Thoma/Lauer 1986) anzusehen ist, hat sich für einen Dialog als fruchtbar erwiesen. Denn in jedem Fall wurde hierbei die Bedeutung des literarischen Kontextes für das Gleichnisverständnis neu gewürdigt, so dass die Einbettung in christliche oder jüdische Kontexte gerade zum Ausgangspunkt intertextueller Vergleiche werden kann (Hezser 2011). In eine ganz andere Richtung weisen Versuche, durch die die Gleichnisse des Neuen Testaments in den Horizont der griechisch-hellenistischen Literaturgeschichte und antiken Rhetorik eingeordnet wurden (Berger 1973, 25-33; ders. 1984b, 1110-1124; Rau 1990, 18-107; Dormeyer 1993, 140-158). Wie schon Jülicher gesehen hatte (Jülicher I 2 1910, 69 ff., dazu Alkier 1999, 41-47), erfüllen die Gleichnisse Jesu die argumentative Funktion der Überzeugung, und da man sie weithin der mündlichen Rede zuordnete (noch Dormeyer 1993, 140 ff.; Lampe 2006,150-160), konnten sie in den Horizont der antiken Rhetorik-Lehren eingeordnet werden. Dies war umso leichter möglich, als innerhalb der Systematik der antiken Rhetoren wie Aristoteles oder Quintilian gerade auch die ntl. Begriffe parabolffi parabole¯ und – was bisher übersehen wurde – paroimffla paroimia verwendet wurden. Unter der Hauptkategorie des Beispiels (paradefflgma paradeigma) hatten sowohl Aristoteles im zweiten Buch seiner Rhetorik (Arist. rhet. 1393a, 28-31) als auch Quintilian im 11. Kapitel des 5. Buches seiner »Institutio Oratoria« (Quint. inst.) die parabolffi parabole¯ als eines der Gestaltungs- und Überzeugungsmittel der Rede angeführt. Auch wenn die von den Rhetoren gegebene Systematik nicht ohne weiteres auf die ntl. Texte übertragen werden darf (dazu unter 2.1.3, ferner Zimmermann 2008), so wurde doch zweifellos zu Recht erkannt, dass die Gleichnisse Jesu vor dem Hintergrund der antiken Literatur und Rhetorik wahrgenommen werden müssen. Auch die von Jülicher ausgegrenzte Kategorie der »Allegorie« (griech. ⁄llhgria alle¯goria) muss in diesem Zusammenhang wieder rehabilitiert werden, denn die Nähe zu den ntl. Gleichnissen ist nicht zu übersehen. Während dies im dt.sprachigen Raum nur mühsam gelingt (vgl. dazu Sellin 1978a; Klauck 2 1986; Erlemann 2011b), ist die englisch-sprachige Gleichnisliteratur offener, die Allegorie als Deutungskategorie auch der ntl. Gleichnisse ein7

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zubeziehen (vgl. Boucher 1977; Crossan 1973, 8-10, Sider 1985; Blomberg 1990, dt. 1998). Schließlich wurde eine Nähe zur Fabel postuliert, indem seit Jülicher (Jülicher I 2 1910, 94-101) Formparallelen zwischen den ntl. Parabeln und den antiken Fabeln etwa des Stesichoros und des Aesop erkannt wurden (Harnisch 4 2001, 97-105; Beavis 1990; Vouga 1992). Dabei wurde nicht nur das narrative oder ›komische‹ Moment als Strukturparallele wahrgenommen, für F. Vouga ist der Vergleich mit den Fabeln auch überlieferungsgeschichtlich erhellend, weil »die äsopische Tradition den Übergang zwischen der mündlichen Überlieferung und der literarischen Dichtung von Erzählminiaturen explizit reflektiert« (Vouga 2001, 153). Die urchristlichen Gleichnisse Jesu können somit literaturgeschichtlich in den Horizont hellenistisch-römischer Rhetorik ebenso eingeordnet werden wie in den Rahmen des hebr. ma¯scha¯l oder der jüdischen Erzählgattungen. Wie das Neue Testament überhaupt in vieler Hinsicht eine Synthese zwischen griechisch-hellenistischer und orientalisch-jüdischer Welt markiert, so zeigen sich auch bei den ntl. Gleichnissen Merkmale aus beiden Traditionen. Es würde dabei allerdings den konkreten Texten nicht gerecht, wollte man sie etwa aufgrund der literarischen Gestalt wie z. B. der Länge oder der Funktion im Kontext der einen oder anderen Tradition zuordnen. So war etwa geäußert worden, dass sich kürzere Sentenzen (z. B. Gleichnisse i. e. S. nach Jülicher) eher der ma¯scha¯l-Tradition und Lang-Parabeln der hellenistischen Rhetorik zuweisen lassen. Eine solche Aufteilung wird weder dem Begriffs-Gebrauch der verschiedenen Traditionsbereiche noch der Komplexität des ntl. Befunds gerecht. Ferner ginge die Einordnung der Gleichnisse Jesu in ihr jüdisches bzw. hellenistisches literarisches Umfeld im Sinne einer »Unter-Ordnung« ebenso fehl wie die erratische Isolation früherer Zeit. Die Jesusgleichnisse können nur angemessen verstanden werden, wenn wir sie in ihrem literarischen Vor- und Umfeld wahrnehmen. Ihre Wirkung kann aber auch nur angemessen gewürdigt werden, wenn man den kreativen und innovativen Umgang mit den vorfindlichen Formen und Motiven anerkennt. Auch wenn die spätere jüdische Tradition – durchaus unabhängig von Jesus – eine weit größere Fülle von rabbinischen Parabeln hervorgebracht hat, finden sich in den ältesten Quellen noch vergleichsweise wenige Texte (s. o.). Wie die neuere Gattungsforschung betont hat, handelt es sich bei Gattungen um »Wiedergebrauchsformen«, die allerdings nicht nur benutzt werden, um einer Botschaft Form zu verleihen, sondern die im Sinne eines dynamischen Gattungsbegriffs durch die Botschaft wiederum in ihrer Form verändert und variiert werden. Die Einbettung in den literaturgeschichtlichen Horizont darf folglich nicht zu überlieferungsgeschichtlichen Engführungen oder gar zu monokausalen genealogischen Ableitungen führen. Traditionelle Formen wurden gerade auch benutzt, um damit Neues zu sagen. Die ntl. Gleichnisse sind insofern auch eine eigene, neue Größe, die in Form, Vielfalt und Quantität, aber vor allem auch hinsichtlich ihrer Botschaft und Theologie für sich gewürdigt werden muss.

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1.3 Zur Theologie: Von Gott reden mit Bildern der Welt Er sagte nun: Wem ist das Königtum Gottes gleich, und wem soll ich es vergleichen? (Lk 13,18)

Die Frage nach der theologischen Dimension der Gleichnisse kann beim Begriff »Theologie« selbst ansetzen. Theologie (qeologffla theologia) ist – wörtlich übersetzt – das Wort, die Rede von Gott. Doch wie kann man von Gott reden? Steht jeder Versuch eines Menschen von Gott zu reden nicht von vornherein unter dem Verdacht einer Projektion? Sind es nicht, wie in religionsphilosophischer oder psychologischer Kritik vorgebracht, menschliche Ideale oder Sehnsüchte, die dann in den Himmel verlagert werden? Es war vor allem die dialektische Theologie um Karl Barth, die der Gefahr einer solchen Vermenschlichung der Gottesrede bzw. einem entsprechenden Theologieverständnis ein radikales ›Nein‹ entgegensetzte. Gott darf nicht zum Objekt menschlichen Redens und Denkens werden. Theologie könne nicht menschliches Reden über Gott, sondern nur Gottes Reden zu den Menschen bezeichnen. Das eine Wort Gottes, das es dabei vor allem zu hören gelte, sei »Jesus Christus«. Die Theologie als ›Lehre von Gott‹ wird in dieser Weise als eine von Gott selbst stammende Lehre verstanden, die den Menschen durch Offenbarung zugänglich gemacht ist. Menschen können folglich gar nicht von Gott reden. Zugleich sollen sie es zumindest als Gläubige und als Theologen aber tun. Karl Barth hatte zunächst eine selbstbegrenzende, doxologische Vermittlung dieser Spannung vorgeschlagen: »Wir sollen Beides, daß wir von Gott reden sollen und nicht können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.« (K. Barth 1924, 176). Der späte Barth benennt dann allerdings doch eine Weise, wie konkreter gesprochen werden kann: »(D)ie neutestamentlichen Gleichnisse sind so etwas wie das Urbild der Ordnung, in welcher es neben dem einen Wort Gottes, durch dieses beschaffen und bestimmt, ihm genau entsprechend, ihm vollkommen dienend und darum in seiner Macht und Autorität auch andere, wahre Worte Gottes geben kann.« (K. Barth KD IV/3,1, 126). In diese Richtung soll hier weitergedacht werden und wurde natürlich auch schon längst weiter- und vorgedacht. Es entspricht sogar schon dem Selbstverständnis der neutestamentlichen Gotteserkenntnis, wie sie beim Evangelisten Markus sichtbar wird: In der markinischen Wiedergabe lautet das diesem Kapitel überschriebene Jesuswort wie folgt: »Und er (Jesus) sprach: Womit sollen wir das Königtum Gottes vergleichen? Oder in welcher Parabel sollen wir es darstellen?« (Mk 4,30). Der zweite Satz beinhaltet bereits die Antwort auf die im ersten gestellte Frage. Wir können von Gott und Gottes Reich nicht in direkter Weise sprechen. Wir können nur näherungsweise, vergleichend, eben in Gleichnissen bzw. Parabeln davon erzählen. Gleichnisse sind dabei nicht nur irgendeine Weise, vom Reich Gottes, von Gottes Welt zu erzählen. Die Gleichnisse sind die der Sache einzig angemessene Rede von Gott. So radikal hatte etwa Eberhard Jüngel im Rückgriff auf Ernst Fuchs den Eigenwert und Ereignischarakter des Gleichnisses betont. Gott und seine Herrschaftsweise lassen sich nur in der Gleichnisrede adäquat darstellen, lautete die These (Jüngel 1982, 281-342). Dies hängt mit der Sprachform und Metaphorizität des Gleichnisses zusammen. Das Gleichnis stellt, wie es in der Etymologie des Quellenbegriffs parabolffi parabole¯ 9

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(aus para-b€llein para-ballein – nebeneinandersetzen) festgehalten ist, nebeneinander. Es handelt vom Irdischen, das wir kennen, und weist auf das Göttliche, das wir nicht kennen. Gleichnisse reden von Gott mit Bildern der Welt. Besonders offensichtlich wird dieses ›Nebeneinander‹, wenn durch die Einleitungsformel die nachfolgende Erzählung unmittelbar auf das Königtum bzw. die Königsherrschaft Gottes (basileffla to‰ qeo‰ basileia tou theou) bezogen wird. Doch auch wenn diese Zuordnung nicht explizit erfolgt, oder die »Reich-Gottes-Metapher« fehlt, bleibt das Gewöhnliche im Kontext der urchristlichen Überlieferung doch immer in irgendeiner Weise auf die Wirklichkeit Gottes bezogen. Gleichnisse verknüpfen somit die menschliche und die göttliche Welt miteinander, mehr noch: Sie setzen sie – folgt man der Interaktionstheorie der Metapher (dazu s. u.) – nicht nur analogisierend zueinander in Beziehung, sie setzen sie ineinander, sie setzen sie gleich. So lautet etwa eine häufige Einleitungsformel: »Das Reich Gottes ist gleich wie …« (ˆmoi@ ¥stin homoios estin …, Q 6,48 f.; 7,32; Lk 12,36; Mt 13,52 etc.). Doch diese Gleichsetzung folgt nicht der Logik der Mathematik. Indem semantisch Nicht-Zusammengehöriges syntaktisch zusammengezwungen wird, bleibt im »Ist wie« zugleich das »Ist nicht« transparent. Die somit im Gleichnis erzeugte spannungsvolle Zuordnung bewahrt das Wissen um die Begrenzung jeder menschlichen Rede über Gott. Sie wagt sich in ihrer poetischen Fiktion aber zugleich in Grenzbereiche der Einsichts- und Sprachfähigkeit hinein, was zur theologischen Erkenntnis führen kann. Besonders die innovativen Potenziale der Metapher (dazu Buntfuß 1997, 227; R. Zimmermann 2000a, 30-33) erlauben es, das bisher Verborgene, das, wofür es bislang keine Begriffe und Vorstellungen gab, in Sprache zu fassen. Gleichnisse können deshalb zu einer neuen Erschließung von Welt und Sein führen. Jüngel und andere gingen hier noch einen Schritt weiter: Aufgrund des Ereignischarakters dieser Texte komme dem Gleichnis nicht nur eine Erkenntnis-, sondern eine eigene Offenbarungsdimension zu: »Die Basileia kommt im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache. Die Gleichnisse Jesu bringen die Gottesherrschaft als Gleichnis zur Sprache« (Jüngel 6 1986, 135). Für Jüngel gewann dieser Satz vor allem im Verständnis der Verkündigung Jesu Relevanz. Die Gleichnisse Jesu sind »der die Verkündigung Jesu einigende Grund. Von ihnen her sind Jesu Gottesanschauung, Eschatologie und Ethik in ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit zu verstehen. (…) Das Sprachereignis der Gleichnisse bringt indirekt das Gottesverhältnis Jesu selbst zur Sprache.« (Jüngel 6 1986, 173). Doch lässt sich die Wirkweise der Gleichnisse nicht auf den »Sitz im Leben Jesu« begrenzen. Sie haben für uns vor allem einen »Sitz in der Literatur« und entfalten ihre Wirkung somit im Akt des Lesens. Die Bedeutung des Satzes von Jüngel ist deshalb vor allem hermeneutisch zu fassen (Stoellger 2003, 330). Die Gleichnisse geben dabei nicht nur Gott und sein Reich zu verstehen, im Prozess der Aneignung vollzieht sich ein umfassender Prozess des Selbst- und Weltverständnisses. So verwischen die Grenzen zwischen der wirklichkeitsstrukturierenden und wirklichkeitsschaffenden Funktion der Gleichnisse. Gleichnisse sind besonders in ihrer theologischen Dimension nicht nur Spiegel oder Abbilder vorhandener Wirklichkeit, sie können etwa im Sinne einer »verdoppelten Referenz« (Ricœur 1974, 53) zum Modell und Vorbild von Wirklichkeit werden. Sie bieten Visionen, sind Vorgeschmack des Kommenden. Nicht selten entwerfen die Gleichnisse sogar eine kontrafaktische Gegenwelt, die vorhandene Weltentwürfe kritisch in Frage stellen will (z. B. Gerechtigkeitskonzeptionen in Mt 20,1-16) oder die zur Befreiung von in der gegenwärtigen Weltordnung Marginalisierten führen möchte (Suche des 10

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Verlorenen in Lk 15). Die Botschaft und ihr Verkündiger sind dabei nicht zu trennen. »Durch Jesus schreibt sich die Herrschaft Gottes in die Geschichten der Menschen ein, ihren Glauben, ihre Hoffnung und Liebe, auch ihr Versagen, ihre Schuld und Verblendung (…). Wenn die Gleichnisse kleine Dramen – Tragödien und Komödien – erzählen, die auf der Bühne des Lebens spielen, machen sie den dynamischen Prozess deutlich, in dem die Gottesherrschaft kommt und alles neu macht« (Söding 2007, 11). Die im Gleichnis von Jesus erzählte Weltordnung Gottes soll somit nicht nur zur Kenntnis genommen werden, sie soll aufgrund der Appellstruktur der Gleichnisse (dazu unten unter 2.3) unmittelbare Wirkungen hervorrufen, sie soll ins Leben greifen, zum Glauben führen. Wenn sich Menschen durch die Gleichnisse ansprechen lassen, dann werden die Visionen einer neuen, anderen Welt schon ein Stück Wirklichkeit. Die theologische Funktion der Gleichnisse beschränkt sich nicht auf Erkenntnis und Glauben. Sie besteht auch im Bereich der Kommunikation. So sehr die Gleichnisrede anspricht und die oder den Einzelne/n erreichen will, so sehr setzt sie in der Polyvalenz ihrer Deutungspotenziale gerade auch einen Kommunikationsprozess in Gang. Um das rechte Verstehen der Gleichnisse muss gemeinsam gerungen werden. Dies gilt in besonderem Maße für Menschen, die aus der Bibel und speziell aus den Gleichnissen Lebensorientierung und Sinnstiftung erwarten. Aber ist die Weise des Sprechens deshalb auf eine Binnenkommunikation beschränkt? Sprechen die Gleichnisse – um eine gängige Chiffre aufzunehmen – die ›Sprache Kanaans‹, die ihre Aussagekraft als Insidersprache am Rand einer spezifischen Gruppe z. B. von Gläubigen verliert? Gleichnisse sprechen die Sprache der Menschen. Indem die Gleichnisse die ›Bilder der Welt‹ verwenden, indem sie konkrete Ereignisse erzählen und theologische Begriffsbildungen vermeiden, bieten sie Anknüpfungspunkte für einen Dialog weit über Theologie und Kirche hinaus. Und sie können sich hierbei auch hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen durchaus in einen breiten geistesgeschichtlichen Diskurs einmischen. Menschliche Erkenntnis wurde und wird in hohem Maße von metaphorischen Prozessen bestimmt. So hat Taureck eine ganze Philosophiegeschichte anhand von »Metaphern und Gleichnissen« entworfen (Taureck 2004; vgl. auch Blumenberg 1998). Der menschliche Geist braucht Modelle und Bilder, um Neues zu denken. Er braucht Übertragungsvorgänge, um zur Erkenntnis zu gelangen, zumindest dann, wenn sich der Gegenstand, der verstanden werden soll, unmittelbarer Anschauung entzieht. Dies gilt in der Geistesebenso wie in der Naturwissenschaft, wie z. B. bei makro-kosmischen oder mikro-kosmischen Forschungsfeldern. Schon die Sprache etwa im ›Zwergenreich‹ der Nano-Technik (griech. n€nno@ nannos = Zwerg) verrät die metaphorische Durchdringung der Wissenschaft. Immer dann, wenn sich ein Gegenstandsbereich dem sinnlichen Zugriff entzieht, müssen die Daten, die etwa Messinstrumente liefern, in einen Bereich der konkreten Vorstellung übertragen werden. Es vollzieht sich ein metaphorischer Prozess, wenn wir z. B. das Licht als »Teilchen« oder als »Welle« betrachten. Selbstreflexive Naturwissenschaftler können deshalb Hans-Peter Dürr beipflichten: »Auch die Wissenschaft (als Naturwissenschaft) spricht nur in Gleichnissen« (Dürr 2 2004). Das Gleichnis ist somit nicht nur ein urmenschliches, sondern auch wissenschaftlich etabliertes Erkenntnismedium. Die Einsichten, die darüber gewonnen werden, können und dürfen Diskurse entfachen. Dies gilt besonders für die theologische Botschaft 11

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der Gleichnisse Jesu, die aller Welt gilt und die die Frage wachhält, was diese Welt überhaupt ›gleichnisfähig‹ macht. Gleichnisse bleiben hierbei eine theologische Sprachkunst im Bewusstsein um die menschliche Begrenzung. So können die im Gleichnis behaupteten Aussagen über Gott und seine Wirkweise zwar nicht bewiesen werden, man kann sie aber ebenso wenig verneinen, denn »poetische Fiktionen (…) sind negationsimmun«. (Hörisch 1999, 121). Manche Leserin und mancher Leser wird nach diesem Abschnitt fragen, was ist denn nun die Theologie der Gleichnisse, was genau wird in den Gleichnissen über die Gottesherrschaft, über Gottes Wirksamkeit ausgesagt oder was erfahren wir über die Theologie des Gleichniserzählers Jesu. Es wäre verfehlt, hier begrifflich z. B. mit Theologumena wie »Gerechtigkeit« oder »Barmherzigkeit« resümieren zu wollen, was Jesus bewusst der bildhaften Rede der Gleichnisse vorbehält. Wer die Theologie der Gleichnisse inhaltlich zu erfassen versucht, kann nicht anders, als sie zu lesen, in ihre Welt einzutreten, um sie von innen heraus zu verstehen.

1.4 Zum Verstehen: Die Leser(innen-)Orientierung der Gleichnisse Und er sagte: Wer Ohren hat zu hören, der höre! (Mk 4,9)

Gleichnisse sind Rätselworte. Sie sind nicht klar und eindeutig. Sie folgen ebenso wenig den Gesetzen philosophischer oder mathematischer Logik wie sie bloße Binsenweisheiten formulieren. Nicht erst ein Blick in die Vielfalt späterer Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte muss diese Einschätzung bestätigen. Schon die Unterschiedlichkeit im Verständnis dieser Texte innerhalb der ersten Jahrzehnte der Rezeption, wie sie sich anhand der Parallelüberlieferungen von Mt, Lk oder EvThom ablesen lässt, dokumentiert eine Deutungsvielfalt. Und sogar auf der narrativen Ebene eines Evangeliums wird die Notwendigkeit von Auslegung literarisch inszeniert: So kommen die Jünger zu Jesus und bitten: Deute uns die Parabel (…)! (Mt 13,36). Zu zwei Gleichnissen werden dann auch explizit Deutungen gegeben (zum Sämann: Mk 4,13-20par.; zum Unkraut im Weizen: Mt 13,36-43). Auch die markinische Parabel- bzw. Verstockungstheorie kann auf pragmatischer Ebene als ein literarisch verarbeiteter Ausdruck der Deutungsambivalenz der Parabeln verstanden werden. Offenbar waren diese Texte gerade nicht sofort verständlich, ja für manche sogar gänzlich unzugänglich, was zum theologischen Verarbeitungsmodell der ›Verstockung‹ geführt hat (dazu Erlemann 2011a). Auch die traditionsgeschichtlichen Bezüge etwa zum hebr. ma¯scha¯l fügen sich in dieses Bild, da der ma¯scha¯l explizit als Rätselrede (z. B. Ez 17,2; Spr 1,6) aufgefasst werden kann. Jülicher hingegen hatte der in seiner Zeit zum Teil wilden Allegorisierung von Gleichnissen, d. h. einer willkürlichen Sinnzuschreibung und textfremden Aneignung, entgegentreten wollen und deshalb die Klarheit und Eindeutigkeit besonders der Gleichnisse im engeren Sinn proklamiert. »Sie vertragen keine Deutung, sie sind so klar und durchsichtig wie möglich, praktische Anwendung wünschen sie sich. Wenn man (…) jemandem einen Spiegel vorhält, dass er seine Hässlichkeit oder Schmutzflecke, die ihn entstellen, wahrnehme, so bedarf man dazu keines weiteren erklärenden Wortes; der 12

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Spiegel deutet eben besser, wie es in Wahrheit steht, als man es mit den längsten Beschreibungen zu Stande brächte.« (Jülicher I 2 1910, 114, s. o.). Gewiss, es mag Sprachbilder geben, die unmittelbar einleuchten. Doch gerade auch dann hat sich bereits ein hermeneutischer Prozess ereignet, der nur überraschend schnell zum Ziel gekommen ist. Was Jülicher zu Recht erkannt hatte, ist dies, dass der Verstehensprozess zum Teil mit einer suggerierten Eindeutigkeit des bildspendenden Bereichs arbeitet. Die Selbstverständlichkeit, mit der hierbei Zustimmung erwartet wird, ist dabei ein Aspekt der rhetorischen Funktion, der die Parabel unterliegt. Das intendierte Verstehen eines Gleichnisses kommt allerdings erst dann zum eigentlichen Ziel, wenn der mitunter ganz alltägliche Vorgang, z. B. das Aufstellen einer Lampe, übertragen wird auf eine religiöse Dimension. So ›einleuchtend‹ die vorgestellte Szene auf den ersten Blick scheinen mag, der Übertragungsvorgang ist alles andere als eindeutig. Die von Jülicher postulierte Reduktion auf ein einziges ›tertium comparationis‹ (das Dritte des Vergleichs) muss gerade hier scheitern. Es gibt zwar eine Reduktion von Sinnmöglichkeiten: In der Jesusmetapher von der Tür (Joh 10,7) kann man etwa ausschließen, dass die materiale Beschaffenheit der Tür (z. B. aus Holz) übertragen werden soll. Gleichwohl bleibt eine ganze Reihe von Aspekten bzw. Funktionen der Tür (Ausgang, Eingang, Öffnung etc.) übrig, die sinnvolle Deutungen eröffnet. Die Übertragungsleistung, die hier Bildlichkeit bzw. Metaphorizität genannt wird, impliziert Uneindeutigkeit. Denn sie wird zwar durch Transfersignale in Text und Kontext vorstrukturiert. Sie zu vollziehen, die Sinnfindung auf höherer Ebene auch tatsächlich zu leisten, bleibt aber einem Leser oder einer Leserin überlassen. Der Mehrdeutigkeit eines Gleichnisses entspricht somit seine Appellstruktur. Weil der Sinn der Bildersprache textlich nicht genau festgelegt ist, muss er von Lesenden erst gesucht und gefunden werden. Weil die Gleichnisse deutungsoffen sind, sind sie zugleich deutungsaktiv, d. h. sie evozieren eine Deutung. Anders formuliert: Gleichnisse laden die Lesenden und Hörenden ein, sich auf einen Prozess des Verstehens einzulassen. Der in Mk 4,9 noch einmal explizit formulierte Appell zu hören, liegt schon in den Gleichnistexten selbst. Er geht über die Aufforderung einer auditiven Wahrnehmung hinaus. Die Gleichnisse wollen nicht nur gehört oder kognitiv erfasst werden, sie wollen auch begriffen, gefühlt oder sogar erlebt werden. Indem die Gleichnisse eine eigene Welt entwerfen, in der z. T. Identifikationsfiguren agieren und reden, in Krisen geführt werden und daraus wieder auftauchen, ziehen sie die Lesenden buchstäblich in ihre Welt hinein. Sie können – wie C. Link es trefflich formuliert – »bewohnte Bildwelten« werden. »Verstehen beruht hier (…) geradezu auf der Möglichkeit, in das Szenarium ›einzusteigen‹ und die Rolle eines seiner Akteure zu übernehmen« (Link 1999, 149). Aber Gleichnisse sind kein bloßes Spiel, das zum Eintreten in eine Scheinwelt etwa im Sinne der fiktiven Internetwelt ›second life‹ verführt. Die Auseinandersetzung mit dem Gleichnistext verhilft den Lesenden, sich selbst und ihre konkrete Lebenswelt in einem neuen Licht zu sehen. Das Verstehen der Gleichnisse bedeutet dann, »sich selbst dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs.« (Ricœur 1974b, 33). Um es mit Worten der Tradition zu sagen: Gleichnisse wollen zum Glauben, konkreter: zum Leben aus dem Glauben führen. Diese unmittelbare Ausrichtung auf den je konkreten Leser und die je konkrete Leserin impliziert weit reichende methodische Konsequenzen für die Auslegung. Wenn 13

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das hermeneutische Ziel des Gleichnisses nur im je und je vollzogenen Lesevorgang erreicht werden kann, wenn es gerade nicht um historische Fakten- oder allgemeine Vernunftwahrheiten, sondern um konkrete Lebenswahrheiten geht, dann kann es auch keine vorschreibende Auslegung geben. Das Kompendium trägt dieser Leser(innen)orientierung Rechnung, indem Verstehenswege und Deutungshorizonte angeboten werden (dazu 3.2.5), die zu konkreten Aneignungen des Textes einladen.

1.5 Zur Forschung: Ein integratives Modell Wenn sie aber allein waren, erklärte er seinen Jüngern (und Jüngerinnen) alles. (Mk 4,34)

Zuletzt soll der vorliegende Ansatz forschungsgeschichtlich eingeordnet werden. Hierbei kann es nicht darum gehen, einen wirklichen Forschungsbericht zu geben (vgl. dazu Erlemann 1999, 11-52; Snodgrass 2000, 3-29; P. Müller 2002, 16-47; Zimmermann 2011b). Stattdessen sollen Leitlinien der Annäherung benannt werden, die in unterschiedlichen Phasen der Gleichnisexegese in den Vordergrund getreten sind. Dabei möchte ich idealtypisch drei Perspektiven unterscheiden. Zum einen lassen sich historisch-diachrone Zugänge benennen, die freilich ganz unterschiedliche Gestalt annehmen konnten. So hatte A. Jülicher nach den authentischen Ursprüngen der Gleichnisrede Jesu zurückgefragt (Jülicher 2 1910), was von Ch. H. Dodd (Dodd 1935) oder J. Jeremias hinsichtlich der Frage nach der konkreten Situation eines Gleichnisses im Leben Jesu, ja sogar nach den ipsissima verba (ureigenen Worte) Jesu zugespitzt wurde (Jeremias 11 1998, 14.19 ff.). Neuerdings spricht etwa Scott von »ursprünglichen Strukturen« (Scott 1989, 35-42.54 f.: ipsissima structure). Ähnlich wie Jeremias hat auch J. D. Crossan in seiner ersten Annäherung die Gleichnisse im Leben Jesu zu verankern versucht und dabei besonders die eschatologische Dimension hervorgehoben (Crossan 1973). Daneben wurde der anti-allegorische Zugang von Jülicher vor allem durch sozialgeschichtliche Fragestellungen weitergetrieben. Besonders J. Jeremias hatte hier in seinem Gleichnisbuch Pionierarbeit geleistet (Jeremias 11 1998). In jüngerer Zeit sind dann vor allem die Arbeiten von W. R. Herzog II (Herzog 1994) und L. Schottroff (Schottroff 2005) zu nennen, die eine genaue Situierung der Gleichnisse bzw. ihrer Ersthörer(innen) in einer sozio-kulturell bestimmten Gesellschaftssituation vorschlagen. H.-J. Klauck (Klauck 2 1986) und später E. Rau (Rau 1990) vollziehen eine ›konsequente Historisierung‹, indem die Gleichnisse in ihren literaturgeschichtlichen Horizont eingeordnet werden. Einen anderen diachronen Zugang beschreitet J. Liebenberg, der Überlieferungswege einzelner Gleichnisse nachzeichnet, allerdings nicht, um zu vorschriftlichen Ursprungsstadien zurückzugelangen, sondern um die literarische Fortschreibung und Applikation eines Stoffes innerhalb unterschiedlicher Rahmentexte Q – Mt – Lk – EvThom zu beschreiben (Liebenberg 2001). Einen zweiten Bereich der Gleichnisforschung kann man im Bereich literarischer Zugänge sehen, die sich besonders im Zuge der sprachlichen Wendung (des linguistic turn) der Exegese etabliert haben. Nicht mehr die historische Entstehungssituation oder textliche 14

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Vorgeschichte, sondern die überlieferten Texte selbst rückten hier in den Mittelpunkt. Eine bahnbrechende Wirkung hatten hier die Arbeiten von Robert Funk (Funk 1966) und Dan O. Via (Via 1967/dt. 1970). Während D. O. Via vor allem die literarisch-ästhetische Qualität der Gleichnisse als »genuine Kunstwerke« (Via 1970, 9) in den Mittelpunkt rückte, war es das Verdienst von R. Funk, die metaphorische Dimension der Gleichnisse neu gewürdigt zu haben. Hatte Jülicher und die ihm folgende Gleichnisforschung die Metapher als Baustein der Allegorie abgewertet, so konnte Funk – nicht zuletzt aufgrund eines veränderten Metaphernverständnisses – die Metaphorizität als Grundkategorie aller Gleichnisse erweisen und ihre kreativen Potenziale und Wirkungen mit Blick auf die Rezipienten herausarbeiten (Funk 1966, 133.137; vgl. auch Funk 1982). Es war dann im europäischen Raum vor allem P. Ricœur, der in Anknüpfung an I. Richards und M. Black die so genannte »Interaktionstheorie« in seiner »lebendigen Metapher« ausarbeitete (Ricœur 3 2004). Die Metapher wurde hierbei nicht auf ein substituiertes Wort begrenzt, sondern immer auf ein Stück Text bezogen (Ricœur 3 2004; zum Überblick R. Zimmermann 2000b), innerhalb dessen eine Wechselwirkung zwischen zwei semantischen Bereichen erzeugt wird, die gewöhnlich nicht zusammengehören. Damit war der Weg für ein metaphorisches Verständnis längerer Erzähltexte geebnet, was Ricœur selbst für die Gleichnisse Jesu fruchtbar machte (Ricœur 1974; ders. 1975; vgl. Perrin 1976). Bis in die Gegenwart werden nun die »Gleichnisse Jesu als Metaphern« (Weder 1978 [= 4 1990]; Klauck 2 1986; Meurer 1997) betrachtet, wobei die Akzente unterschiedlich gesetzt werden können, indem etwa zwischen der »metaphorischen Erzählung« (Harnisch 4 2001) oder der »erzählten Metapher« (Heininger 1991) unterschieden wird. Eine gewisse Ausnahme stellt Ch. Hedrick dar, für den Parabeln keine Metaphern oder Symbole darstellen, sondern »potentially radical poetic fictions that competed with Judaism’s paradigmatic narrative rigidity« (Hedrick 1994, 87; vgl. ders. 2004). Hatte zwar Ricœur schon die Verknüpfung zwischen Narrativität und Metaphorizität in den Gleichnissen wahrgenommen, so hat besonders W. Harnisch die erzählerische und sogar dramaturgische Komposition der Parabeln herausgearbeitet (Harnisch 4 2001). Ferner wurde in dieser Zeit die kontextuelle Verortung der Gleichnisse innerhalb der literarischen Ganzschrift, wie z. B. im Lukasevangelium (dazu Sellin 1974/1975) benannt. Zuletzt möchte ich hermeneutische bzw. leserorientierte Zugänge eigens benennen. Die Ausrichtung auf den Leser war zwar in ethischer oder existenzialer Weise immer wieder benannt worden. Die hermeneutischen Ansätze von E. Fuchs (Fuchs 1958, 219-230) oder die These der »Verschränkung« zwischen dem Urteil des Erzählers und dem Hörenden von seiner Schülerin E. Linnemann (Linnemann 7 1978) gingen weit über die primär historisch ausgerichtete Forschung ihrer Zeit hinaus. Dass die Rezipienten aber nicht nur Adressaten, sondern regelrecht Teilnehmer der Gleichniserzählung seien, wurde erst seit den 70er Jahren intensiver bedacht. So hatte Funk 1966 die Deutungsoffenheit der Parabel aufgrund ihrer Metaphernstruktur gewürdigt, was von M. A. Tolbert (1979) zur polyvalenten Deutungstheorie ausgebaut wurde. E. Arens oder H. Frankemölle verstehen die Gleichnisse als »kommunikative Handlungen« (Arens 1982; Frankemölle 1982), bei denen die drei Dimensionen Sprecher/Hörer, Text und Sache berücksichtigt werden müssen (Arens 1982, 13). Unter Aufnahme der Sprechakttheorie könne man die Gleichnisse Jesu als innovative Sprachhandlungen bezeichnen, in denen Sach- und Beziehungsaspekte miteinander kor15

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relieren. Den kommunikativen Aspekt der Gleichnisse hat auf andere Weise C. Kähler vertieft, indem er ihnen verändernde und sogar therapeutische Wirkung zuschreibt und sie als »Phänomene heilender Rede« (Kähler 1995, 125) klassifiziert. D. Massa hat hingegen die kognitiven Prozesse, die im Verstehensvorgang beim Leser ausgelöst werden, unter literaturtheoretischer und kognitionspsychologischer Perspektive in den Blick genommen (Massa 2000). Einen hermeneutisch-positionellen Zugang wählt schließlich M. A. Beavis, die die Perspektive von Frauen – sei es als Akteurinnen auf Erzählebene, sei es als rezipierende Leserinnen – in den Mittelpunkt rückt (Beavis 2002). Betrachten wir die hier idealtypisch vorgeführten Zugänge als historisch, literarisch und hermeneutisch, dann kann das vorliegende Modell als integrativ bezeichnet werden, denn alle drei Perspektiven werden in spezifischer Weise aufgenommen. So geht es zwar in historischer Perspektive nicht um die Rekonstruktion der authentischen Jesusworte und eines postulierten Überlieferungsweges. Gleichwohl werden historische Fragen gestellt, wenn sozialgeschichtlich nach dem »bildspendenden Bereich« gefragt wird, wenn die Übertragungsvorgänge diachron in »Bildfeldtraditionen« eingeordnet werden oder wenn mit der Parallelüberlieferung der Texte eine frühe Wirkungsund Rezeptionsgeschichte wahrgenommen wird. Die literarische Fragestellung wird insofern aufgenommen, als im ersten Analyseschritt eine genaue, linguistisch ausgerichtete »sprachlich-narrative Analyse« geleistet wird. Hierbei spielt die Untersuchung der Erzählweise des Textes ebenso eine Rolle wie die Ermittlung von Transfersignalen und Interaktionsweisen, die seine Metaphorizität anzeigen. Um den Text vor ideologischen Eintragungen und vorschnellen Aneignungen zu schützen, soll er möglichst genau erst einmal in seiner sprachlichen Gestaltung und ästhetischen Struktur untersucht und dargestellt werden. Gleichwohl werden die Parabeln in diesem Kompendium nicht als »autonome Kunstwerke« betrachtet, die isoliert verstanden werden könnten. Die Einordnung in den literarischen Kontext ist ebenfalls ein wesentlicher Aspekt der sprachlichen Analyse, die besonders als Zuordnung zum jeweiligen Quellenbereich verstanden wird. Das Ziel der Gleichnisse ist aber die Auslösung eines Verstehensprozesses. Historische und sprachliche Aspekte sollen nicht zum Selbstzweck ermittelt werden, sondern dienen letztlich einem vertieften Verstehen. Sie bewahren den hermeneutischen Zugang vor einer einseitigen oder vorschnellen Vereinnahmung des Textes und machen sein Eigengewicht, seine Fremdheit deutlich. Historische Hintergründe und sprachliche Gestalt geben die Verstehensrichtung vor, so dass nicht beliebig in den Text hineininterpretiert werden kann. Gleichwohl sollen sie zu einem vertieften Verstehen führen, das zwar durch Auslegungsimpulse vorstrukturiert wird, aber letztlich von jedem Leser und jeder Leserin je neu vollzogen werden muss.

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2 Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse 2.1 Zur Jülicher-Klassifikation und deren Kritik 2.1.1 Gleichnis – Parabel – Beispielerzählung Es war zweifellos eines der großen Verdienste von Adolf Jülicher, das Gleichnismaterial (das er strikt von der Allegorie unterschied) einer klaren und relativ einfachen Systematik unterworfen zu haben (Jülicher I 2 1910, 25-118): So differenzierte er »Gleichnis« (im engeren Sinn), »Parabel« und »Beispielerzählung«. Bultmann hat das Repertoire noch um »Bildworte« erweitert, die er auf der untersten Stufe bildlicher Redeweise ansiedelt und mit Metaphern und Vergleichen parallelisiert (Bultmann 10 1995, 181-184). Diese Klassifikationen haben (von geringfügigen Modifikationen abgesehen) – zumindest im deutschsprachigen Raum – kanonischen Charakter angenommen, sind sie doch ungeachtet mancher Kritik vom Proseminar bis zum Examen, von Lehrbüchern bis hin zu Spezialuntersuchungen zum Thema und bis in neuere und neueste Gleichnisliteratur hinein anzutreffen (vgl. Knoch 3 1987, 18-20; Strecker 1992, 181-189; Vouga 1999, 76; Reiser 2001, 141-149). Die weite Verbreitung der Begründung dieser Gattungstypen, lässt es gerechtfertigt erscheinen, hier die Wiederholung des Rasters auf einige wenige Skizzen zu beschränken. Als Bildworte werden kurze vergleichende Sentenzen ohne Vergleichspartikel (so wie …) bezeichnet, die häufig doppelgliedrig gestaltet sind. Das Gleichnis i. e. Sinn ist nach Jülicher »die Veranschaulichung eines Satzes durch Nebenstellung eines anderen ähnlichen Satzes« (Jülicher I 2 1910, 69), also ein ausgeführter Vergleich auf der Basis einer Ähnlichkeitsbeziehung. Bei der Schilderung des typischen und wiederkehrenden Geschehens werde das Präsens verwendet. Indem das Gleichnis i. e. S. auf einen allgemein bekannten und natürlichen Vorgang bzw. auf Erfahrungswissen zurückgreife, sei eine gesonderte Deutung überflüssig. Im Kontrast hierzu stehe die Parabel, bei der ein ›ungewöhnlicher Einzelfall‹ frei erfunden werde. Die Geschichte wird nach Jülicher »zum Teil mit einer selbst in kleinen Nebenzügen verschwenderischen Ausführlichkeit« (Jülicher I 2 1910, 93) im Vergangenheitstempus Aorist erzählt. Die Extravaganz des Erzählten erfordere hier eine eigene Deutung. Jülicher hatte darüber hinaus noch die Beispielerzählung als eigene Gleichnisgattung benannt und damit vier Texte des lukanischen Sonderguts klassifiziert (barmherziger Samariter, Lk 10,30-35; reicher Kornbauer, Lk 12,16-21; reicher Mann und armer Lazarus, Lk 16,19-31; Pharisäer und Zöllner, Lk 18,9-14). Die erzählte Geschichte repräsentiere hier bereits, worauf es ankomme, sei also »ein Beispiel des zu behauptenden Satzes« (Jülicher I 2 1910, 112) und ziele auf eine ethische Anwendung. Die Erzählfiguren sollten folglich zum Modell, zum Beispiel des eigenen Handelns werden. Im Folgenden sollen Brüche und Grenzen dieses Modells aufgezeigt werden. Denn die Einfachheit und Klarheit, der die Differenzierung ihren Erfolg verdankt, hält einer Prüfung am konkreten Text und historischen Kontext kaum stand.

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2.1.2 Kritik an der so genannten »Beispielerzählung« Die Kritik an Jülichers Klassifikation wurde bislang vor allem an der Untergattung »Beispielerzählung« ausgeführt (vgl. Harnisch 4 2001, 84-97; Baasland 1986, ausführlich Tucker 1998). Während die Parabel indirekt auf etwas Anderes verweise, präsentiere die Beispielerzählung bereits in der Erzählfolge das, worauf es eigentlich ankomme. Doch Jülichers Postulat einer Identität von Sach- und Erzählebene bei der Beispielerzählung ist fragwürdig: Dies wird schon an den von ihm konkret genannten Sachinhalten deutlich. So postulierte Jülicher, dass es beim Samaritergleichnis um den Wert der »echten, opferfreudigen Liebe« gehe, beim Pharisäer und Zöllner um »Demut« (Jülicher I 2 1910, 112; II, 596); beim reichen Kornbauern werde die falsche Sicherheit durch Reichtum thematisiert (die Erkenntnis, »wonach es Thorheit ist, sein Glück durch Reichtum gesichert zu wähnen«, a. a. O., 616), während beim reichen Mann und armen Lazarus »Freude an einem Leben im Leiden« und »Furcht vor dem Genussleben« (a. a. O., 638) erzeugt werden soll. Allein die vielfältige Auslegungsgeschichte der genannten Texte wie z. B. zum Samaritergleichnis widerlegt diese interpretatorischen Engführungen. Auch die unmittelbare Vorbildfunktion der Erzählfiguren ist nicht nachvollziehbar: Denn dass z. B. beim Samariter-Gleichnis jüdische Hörer im Samariter ihre Identifikationsfigur finden sollen, ist kaum vorstellbar. Ferner ist das angeblich fast völlige Zurücktreten der Bildlichkeit bei den Beispielerzählungen nicht erkennbar. Die Nennung von Ortsangaben (Jerusalem; Jericho) oder der Namen einzelner Akteure (Lazarus) entbindet den Leser/die Leserin nicht davon, über das konkrete Szenario hinaus eine abstrakte Sinnebene zu suchen. Ganz wie bei anderen Parabeln wird ein Einzelfall konstruiert, der aber in grundlegendere und auch sachfremde Bedeutungsebenen hinein übertragen werden muss. Der Tiefensinn des realitätsbezogen Erzählten erschließt sich auch hier erst durch metaphorische Interaktion (so auch Funk 1982, 29-34). Konkret: Dass es bei dem Hilfshandeln des Samariters um die Erfüllung des Tora-Gebots der Nächstenliebe geht, wird in der Erzählung selbst gar nicht gesagt, sondern erst im »Neben- und Ineinander« zwischen Kontext und Erzählung sichtbar. Umgekehrt gibt es auch eine ganze Anzahl anderer Parabeln, in deren Erzählwelt das religiöse Leben eine Rolle spielt (z. B. Mk 2,18-20: Fasten; Mk 3,2226: Beelzebul; Mk 7,14-23: rein-unrein; Mt 25,32 f.: Menschensohn), ohne dass sie von Jülicher zu den Beispielerzählungen gerechnet wurden. Überhaupt erscheint es fraglich, ob sich aus vier Texten des lukanischen Sonderguts eine eigene Textsorte rekonstruieren lässt. Eine Zuordnung zur Exempla-Klassifikation der antiken Rhetorik rechtfertigt keineswegs die Absonderung einer Untergattung »Beispielerzählung«, denn alle Formen faktualer Erzählungen und fiktionaler Gleichnisse werden von den Rhetoren unter das große Dach der paradefflgmata (paradeigmata – Beispiele) vereint: Parabeln sind Beispiele (vgl. Quint. inst. V 11, dazu Tucker 1998, 275-395.413; Zimmermann 2008). Schließlich verbietet die Einsicht der neueren Forschung zu literarischen Formen und Textsorten eine weitgehend von Inhalten bestimmte Definition einer Gattung, wie Jülicher sie hier vollzogen hatte. Zuletzt ist auch die Gegenprobe stichhaltig, denn nicht nur die als Beispielerzählungen abgesonderten Texte sind unmittelbar an den Leser appellierende Texte. Alle Parabeln fordern eine Parteinahme, ein Urteil, ja ein bestimmtes Verhalten von den Leserinnen und Lesern, so dass die Appellstruktur keine Sonderstellung rechtfertigt.

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Fazit: Die Texte, die Jülicher als Beispielerzählung klassifiziert hat, lassen sich problemlos mit den Kriterien der Parabel beschreiben.

2.1.3 Kritik an der Unterscheidung von »Gleichnis i. e. S.« und »Parabel« Unkritischer wird hingegen bis in neueste Veröffentlichungen hinein die Unterscheidung zwischen »Gleichnis im engeren Sinn« und »Parabel« aufrechterhalten. Die hierbei angeführten Unterscheidungskriterien müssen jedoch aus einer Reihe von Gründen in Zweifel gezogen werden: Quellensprachliche Kritik Eine terminologische Differenzierung zwischen Gleichnis i. e. S. und Parabel (oder gar Beispielerzählung) lässt sich an den ntl. und urchristlichen Schriften nicht nachweisen. Die Autoren der ntl. Schriften sprechen in der Einleitung gerade auch zu solchen Texten von parabolffi parabole¯, die in der Forschungstradition den Gattungen »Bildwort«, »Gleichnis im engeren Sinn« oder »Beispielerzählung« zugewiesen wurden. Dies sei kurz am Beispiel des Verfassers des Lukasevangeliums erläutert: Hier werden so genannte »Bildworte« wie vom »neuen Flicken auf altem Gewand« (Lk 5,36) oder vom »blinden Blindenführer« (Lk 6,39) in der Einleitung parabole¯ genannt. Ferner werden so genannte »Gleichnisse i. e. S.« wie z. B. »Die Rangordnung der Tischgäste« (Lk 14,7) oder »Von der Frucht des Feigenbaums« (Lk 21,29) als parabolaffl parabolai eingeführt. Auch die von Jülicher als »Parabeln« klassifizierten Texte wie das Sämann-Gleichnis (Lk 8,4.9.11) oder die »bittende Witwe« (Lk 18,1) werden mit demselben Terminus belegt, ebenso wie schließlich die so genannten »Beispielerzählungen« »Vom reichen Kornbauern« (Lk 12,16) oder »Vom Pharisäer und Zöllner« (Lk 18,9). Eine entsprechende Breite der Texte lässt sich auch bei den anderen Evangelisten nachweisen. Die urchristlichen Evangelisten verwenden insgesamt zwei Begriffe zur Klassifikation der Gleichnistexte: parabolffi parabole¯ und paroimffla paroimia. Dabei zeigt sich eine quellenspezifische Differenz, denn während die Synoptiker ausschließlich und in auffälliger Häufigkeit von der parabolffi parabole¯ sprechen, nennt der vierte Evangelist den Begriff gar nicht und spricht stattdessen von paroimffla paroimia (nur vier Mal), wobei sich nur der Beleg in Joh 10,6 auf einen konkreten Text bezieht, die Nennung in Joh 16,25bis.29 hingegen den Begriff als eine übergeordnete sprachlich-hermeneutische Kategorie versteht (R. Zimmermann 2004a, 29-45; Poplutz 2006). Beide Begriffe werden aber in der LXX als Übersetzung des gemeinsamen hebräischen Begriffs lU5m5 ma¯scha¯l benutzt. Wenn wir versuchen wollen, zunächst das Gattungsbewusstsein der urchristlichen Autoren einschließlich verwendeter Termini aufzunehmen, dann lässt sich m. E. keine terminologisch manifestierte Gattungsdifferenz aus den Quellensprachen ableiten, denn diese wäre nur zu bestimmen, wenn ein Autor mehrere Begriffe (z. B. parabole¯ und paroimia) auf ähnliche Texte unterschiedlich anwendete. Zugleich kann man aber feststellen, dass die Autoren durchaus ein Gattungsbewusstsein mit den jeweils verwendeten Begriffen verbinden, sei es, dass eine Meta-Reflexion ausgeführt wird (vgl. die so genannte Parabel-Theorie in Mk 4,10-12; oder zu paroimia in Joh 16,25-29), sei es, dass z. B. Lukas übernommene Texte abweichend von der Vorlage nun explizit als parabolffi parabole¯ klassifiziert (so etwa Lk 6,39; vgl. Q 6,39 / Mt 15,14 ohne Parabel-Begriff; Lk 5,36 im Vgl. zu Mk 2,21; Mt 9,16). 19

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Will man aus der Quellensprache dennoch einen übergreifenden Gattungsbegriff ableiten, bietet sich am ehesten die »Parabel« an. Zwar ist die etymologisch nahe liegende Übersetzung von parabolffi parabole¯ mit »Parabel« nicht zwingend, allerdings ist sie dem terminologischen Bewusstsein der urchristlichen Autoren, die gerade mit dem Begriff parabolffi parabole¯ ein Gattungsbewusstsein zeigen (so z. B. zu Matthäus Münch 2004, 73 ff.), näher als alle anderen Begriffe. Dies gilt umso mehr, als die griech. Sprachwelt bekanntlich ausgehend etwa von Aristoteles durchaus reich an verschiedenen Termini der Bildsprache war: Man denke etwa an t ˆmoion to homoion (das Ähnliche), ¡moith@ homoiote¯s (Ähnlichkeit/Gleichheit), metafor€ metaphora (Metapher), ⁄llhgorffla alle¯goria (Allegorie), sÐmbolon symbolon (Symbol), m‰qo@ mythos (Mythos), a—nigma/a§nigm@ ainigma/ainigmos (Rätsel) etc. (vgl. R. Zimmermann 2004a, 62). Kritik im Horizont der antiken Rhetorik Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass die Binnendifferenzierung zwischen »Gleichnis i. e. S.« und »Parabel« mit einer Unterscheidung von Gattungen der antiken Rhetoriken korreliere. So sei etwa die terminologische Differenz zwischen parabolffi parabole¯ und lgo@ logos bei Aristoteles im 20. Kapitel des zweiten Buches der Rhetorik (Arist. rhet. 1393a, 28-31) oder zwischen similitudo und collatio, wie sie Quintilian im 11. Kapitel des 5. Buches seiner »Institutio Oratoria« vollziehe, eine unmittelbare Entsprechung zu Jülichers Unterscheidung. Betrachtet man die innerhalb der Rhetoriken gegebene Klassifikation im Einzelnen (vgl. Details bei Zimmermann 2008), dann wird vor allem die Inkongruenz der Termini und der damit bezeichneten Phänomene mit den Rastern der Gleichnisforschung evident. So gibt Aristoteles in seiner Rhetorik Gestaltungshinweise für Reden, wobei er unter anderem die »Beispiele« (paradefflgmata paradeigmata) in Analogie zur Induktion als mögliches Überzeugungsmittel anführt. Neben den Beispielen, die auf geschehene Dinge zurückgreifen, gebe es fiktive, also frei erfundene Beispiele, die Aristoteles wiederum in parabolaffl parabolai und lgoi logoi unterteilt, wobei erstere sokratische Analogien aus dem Erfahrungsbereich bezeichnen, letztere Fabeln wie die Äsopischen oder Lybischen. Aristoteles benutzt also gerade den Begriff »Parabel« für das, was Jülicher »Gleichnis i. e. Sinn« genannt hatte, eine Identifikation der logos-Fabel mit der Jülicherschen »Parabel« ist aber aus Aristoteles nicht abzuleiten. Auch bei dem lateinischen Rhetoriklehrer Quintilian (ca. 35-96 n. Chr.) findet sich die parabolffi parabole¯ in seinen Ausführungen zu den Beweisgründen unter der Überschrift der exempla (vgl. von Moos 1988, 48-68). In scheinbarer Anknüpfung an Aristoteles differenziert auch er zwischen den geschichtlichen und den erfundenen Beispielen, allerdings werden dann die geschichtlichen Beispiele als »Beispiele im engeren Sinn« bezeichnet, die »die Erwähnung eines (…) nützlichen, wirklichen oder angeblich wirklichen Vorgangs« (id est rei gestae aut ut gestae utilis … commemoratio, Quint. inst. V 11,6) beinhalten. Daneben stehen die fiktiven Beispiele, denen Quintilian die Fabeln (abschätzend ›fabella‹ genannt) und paroimfflai paroimiai zuordnet, letztere seien »eine Art kürzere Fabel und allegorisch zu verstehen« (Quint. inst. V 11,21). Als weitere, von den bisher genannten abzugrenzende Gruppe benennt Quintilian nun noch die similitudines, wobei er weiter in similitudo im engeren Sinn als Vergleichung ohne Übertragung und collatio (synonym mit dem Lehnwort parabolffi parabole¯) als Vergleich von weit her (z. B. aus dem leblosen Bereich) differenziert (s. Tab.). 20

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Tab. Exempla-Differenzierung nach Quintilian (inst. V 11), in Weiterführung des Schaubilds von Dormeyer 1993, 146.

Wer nun versucht ist – wie seinerzeit noch D. Dormeyer (Dormeyer 1993, 142-146) –, in der von Quintilian gegebenen Unterscheidung von similitudo und collatio das metaphernlose »Gleichnis i. e. S.« und die den ungewöhnlichen Einzelfall schildernde »Parabel« im Sinne Jülichers wiederzuerkennen, der wird durch die konkreten Beispiele des Quintilian eines Besseren belehrt. Entscheidend ist für Quintilian nicht die Alltäglichkeit oder Außergewöhnlichkeit des Erzählten, sondern vielmehr die Nähe oder Ferne des Vergleichsgegenstands zum Erklärungsgegenstand. So kann der besondere Fall, dass sich Kandidaten, die sich auf dem Wahlplatz haben Geld geben lassen, zur similitudo für bestechliche Richter werden, während der alltägliche Vorgang der Pflege des Ackerbodens als Beispiel einer »aus der Ferne« geholten collatio/parabole¯ angeführt wird (Quint. inst. V 11,22.24). Das maßgebliche Kriterium für die Gattungsdifferenzierung ist eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei Ebenen. Die Bildungsmechanismen oder Formen des Ineinandergreifens werden dann z. T. sehr differenziert beschrieben (Teil – Ganzes, vom Kleineren zum Größeren und vice versa, ähnlich – unähnlich – gegensätzlich, von Nahem – von Weitem etc.) Zwar werden innerhalb antiker Rhetorik mit parabolffi parabole¯ und sogar paroimffla paroimia Termini verwendet, die auch im Neuen Testament vorkommen. Eine Entsprechung der damit beschriebenen Phänomene zur Binnendifferenzierung der Gleichnisse in der Jülicher-Tradition kann aber keineswegs erkannt werden. Forschungsgeschichtliche Kritik Mag die Klarheit der Binnendifferenzierung vielleicht im Sinne wissenschaftssprachlicher Codes noch einen heuristischen Sinn haben, so wird im Blick auf die konkrete Anwen21

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dung des Rasters auf das Korpus der Gleichnisse gerade auch dieser Wert zweifelhaft. Denn Forscher, die sich zu dem genannten Klassifikationsraster von »Gleichnis i. e. S.« und »Parabel« bekennen, kommen in Applikation auf die konkreten Texte zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Als Beispiel möchte ich hier nur auf die für die Formgeschichte in unserem Bereich prägenden Exegeten Jülicher und Bultmann verweisen, die diesselben Texte teilweise in konträrer Weise unterschiedlichen Gattungen zuordnen: Text Mk 4,26-29 (selbstwachsende Saat) Mk 4,30-32 (Senfkorn) Lk 7,31-35 (spielende Kinder) Lk 15,4-7 (verlorenes Schaf) Lk 15,8-10 (verlorene Drachme) Mt 13,44-46 (Schatz im Acker; Kaufmann und Perle) Mt 13,47-50 (Fischnetz)

Jülicher Parabel Parabel Parabel Parabel Parabel Parabel Parabel

Bultmann Gleichnis Gleichnis Gleichnis Gleichnis Gleichnis Gleichnis Gleichnis

Jülicher selbst gesteht bereits die Schwierigkeit der Abgrenzung ein: »Allerdings sind die Grenzen fliessende; man kann bei einigen Perikopen zweifeln, ob sie mit mehr Recht zu der ersten Gruppe oder zu einer höheren gezählt werden dürfen, z. B. bei Mt 7,24-27 dem Bildwort vom Hausbau auf Felsen oder Sand, bei Lk 11,5-8 der parabolffi vom ungestüm bittenden Freund.« (Jülicher I 2 1910, 92). Auch Bultmann muss die Begrenzung der Anwendung seines Rasters auf konkrete Texte eingestehen (Bultmann 10 1995, 189). Eignet sich aber ein Klassifikationssystem gerade nicht, um zu klaren, konsensfähigen Ergebnissen zu gelangen, sollte man die postulierten Kriterien oder übergeordnete Deutungskategorien wie die genannten Teil-Gattungen in Frage stellen. Sprachlich-formale und inhaltliche Kritik Überzeugend schien die Differenz vor allem auch wegen einer Konvergenz sprachlicher und inhaltlicher Kriterien: So war man der Überzeugung, dass das Gleichnis i. e. S. im Präsens von einem alltäglichen Vorgang berichte, während die Parabel von einem außergewöhnlichen Einzelfall im griech. Vergangenheitstempus Aorist erzähle (s. o.). So evident diese Unterscheidung auf den ersten Blick schien, so wenig konnte sie durch die Fülle der ntl. Texte bestätigt werden. Schon mit Blick auf die Tempusverwendung ist der Befund alles andere als eindeutig: So finden sich bei vielen Texten Zeitenmischungen (»Schatz im Acker« Mt 13,44; »wachende Knechte« Lk 12,35-38; »Weg zum Gericht« Lk 12,58 f.; »Brot der Hunde« Mk 7,27 f. etc.), ferner wechseln die Zeitformen innerhalb der synoptischen Überlieferung: So wird z. B. das Senfkorngleichnis bei Mk 4,30-32 im Präsens als Grundzeitform wiedergegeben, während dasselbe Gleichnis unter Lk 13,18 f. und Mt 13,31 f. im Aorist erzählt wird. Haben Matthäus und Lukas hier tatsächlich aus dem ›Gleichnis i. e. S.‹ eine ›Parabel‹ gemacht? Auch die von Jülicher eingeführten und im Weiteren immer wieder rezipierten Differenzierungen hinsichtlich des Referenzbereichs halten einer kritischen Prüfung nicht stand: Denn ist es angesichts antiker Aussaatpraxis wirklich so außergewöhnlich, wenn einiges Saatgut auf Wege oder in Dornen fällt? Oder handelt es sich um einen alltäglichen Vorgang, dass ein Blinder sich als Blindenführer anbietet oder dass ein Hausherr auf 22

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Reisen sein Haus den Sklaven überlässt? Oder »mutet es wirklich sensationell an« (Harnisch 4 2001, 67), wenn ein Richter aus dem Bedürfnis, endlich seine Ruhe zu haben, einer insistierenden Witwe nachgibt (Lk 18,2-5)? Und welcher Vater würde sich nicht über die Rückkehr seines verloren geglaubten Sohnes freuen und feiern? Ein außergewöhnlicher Einzelfall? Die Grenzen zwischen Alltäglichem und Außergewöhnlichem, zwischen Allgemeinem und Individuellem sind fließend. Alltäglich erscheinende Vorgänge wie die Brotteigbereitung erweisen sich bei näherem Hinsehen (Teigmenge; Auslassung des Knetvorgangs) gerade als ungewöhnlich (vgl. dazu die Auslegung von Q 13,20 f.). Außergewöhnlich erscheinende Begebenheiten (wie die nächtliche Ankunft eines Bräutigams nach Mt 25,113) lassen sich hingegen durch vertiefte Kenntnis der sozialgeschichtlichen Ausgangssituation wie hier des Hochzeitsrituals als normal einstufen (vgl. dazu R. Zimmermann 2002). Die Beurteilung von extravaganten Zügen hängt in hohem Maße von der Kenntnis des bildspendenden Bereichs und der Kommunikationssituation ab, die uns aber vielfach nicht (mehr) zugänglich sind oder hypothetische Konstrukte bleiben. Hieraus ein Gattungs-Kriterium abzuleiten, erscheint deshalb problematisch. Bei jedem Text vollzieht sich in seinem übertragenen Referenz-Kontext eine Abstraktion vom Allgemeinen oder Individuellen, die erst ein Verstehen ermöglicht. Eine kategoriale Unterscheidung der Texte scheint mir deshalb im Blick auf ihren bildspendenden Bereich nicht möglich. Fazit: Die genannten Kritikpunkte machen deutlich, dass die Differenzierung des ntl. Gleichnisstoffes in Bildwort, Gleichnis i. e. S., Parabel und Beispielerzählung den ntl. Texten eine sachfremde Logik aufzwingt, die nicht länger fortgeschrieben werden darf. So ist es an der Zeit, sich nicht nur von der Untergattung »Beispielerzählung« zu verabschieden, sondern auch den Gattungsbegriff »Gleichnis im engeren Sinn« aufzugeben und den traditionellen Begriff »Gleichnis« nur noch als unscharfen Oberbegriff bildlicher Redeformen beizubehalten. Ausgehend von dem Gattungsbewusstsein und Terminusgebrauch der ntl. Autoren sowie der Fülle des Textmaterials scheint mir »Parabel« die einzige angemessene Bezeichnung zu sein, die auch in diesem Kompendium maßgeblich wurde: Parabel – sonst nichts!

2.2 Was ist überhaupt eine »Gattung«? Bevor nun im Folgenden die für dieses Kompendium maßgebliche Gattungsdefinition der Parabel gegeben wird, ist es hilfreich, einige grundsätzliche Bemerkungen zu Form und Gattung voranzustellen. Entgegen der früheren Überzeugung von der Existenz eines übergeschichtlichen Klassifikationssystems von Gattungen, in das dann Einzeltexte aufgrund von Übereinstimmung oder Abweichung einzelner Merkmale eingeordnet werden könnten, wird heute in der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie an der geschichtlichen Kontingenz eines Gattungssystems nicht mehr gezweifelt (vgl. Duff 2000; Zymner 2003a, 7-36). Gattungen müssen »als eine bestimmte kommunikative Praxis, die immer auch eine hermeneutische Praxis ist« (Zymner 2003a, 59), betrachtet werden. Gattungen sind Teil eines Kommunikationsprozesses, bei dem sich die Teilnehmer/innen auf ein bestimmtes 23

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Merkmalsbündel verständigen und Übereinstimmungen oder Abweichungen erkennen können. Dabei können Gattungen jedoch nicht im Sinne der normativen oder auch induktiven Gattungspoetik als allgemeine Idealformen oder natürliche Urformen beschrieben werden. Vielmehr sind sie »offene Systeme«, die im Sinne von Wittgensteins Familienähnlichkeit durch Übereinstimmung einer Vielzahl von Merkmalen konstituiert werden. Dieser Ansatz besagt zugleich, dass sich Gattungen »nicht mehr trennscharf voneinander unterscheiden, sondern fließende Grenzen haben und sich ob ihrer Nichtabgeschlossenheit auch leicht ausdehnen, verengen oder verlagern können« (Wenzel 2004, 214). Auf diese Weise können nicht nur Transformationsprozesse innerhalb der Entstehung und Veränderung einer Gattung leichter erfasst werden, auch Mischgattungen (hybride genres) sind erklärbar, da Einzeltexte an den Merkmalen unterschiedlicher Gattungen partizipieren können. Wenn sich Gattungen somit nicht mehr allein aus philologischen Kriterien ableiten lassen, können sie rezeptionsästhetisch als Konstrukte im Bewusstsein ihrer Leser(innen) betrachtet werden (vgl. auch Ricœur 1982, 277: »kein Mittel der Klassifikation, sondern ein Mittel des Herstellens«). Die Feststellung von Merkmalsähnlichkeiten hängt damit aber letztlich vom Ermessen einer Kommunikationsgemeinschaft ab. Im Blick auf die formgeschichtliche Bestimmung der Gleichnisse Jesu besagt dies Folgendes: Statt eines übergeordneten Klassifikationssystems kann man verschiedene Kommunikationskreise bestimmen, innerhalb derer ein bestimmtes Bewusstsein für die Gleichnis-Gattung besteht. Auf der einen Seite ist hier an die urchristliche Kommunikationsgemeinschaft zu denken, bei der ein bestimmtes Gattungsverständnis vorausgesetzt werden darf. Auf der anderen Seite steht die Interpretationsgemeinschaft gegenwärtiger Leser(innen). Eine Deckungsgleichheit zwischen beiden Gruppen wird zwar nicht zu erzielen sein, allerdings sollten gravierende Widersprüche vermieden werden, wie sie etwa im Falle der genannten Jülicher-Klassifikation aufgezeigt wurden. Ausgangspunkt ist also zunächst das Gattungsbewusstsein der urchristlichen Autoren, die offensichtlich eine Fülle unterschiedlicher Texte unter ihren Gattungsbegriffen vereinen konnten. Wir müssen entsprechend fragen, welche Merkmale alle unter den Begriffen paroimffla paroimia und parabolffi parabole¯ genannten Texte aufweisen. So kann man eine kleinste gemeinsame Schnittmenge von Merkmalen bestimmen, die z. B. Narrativität und Metaphorizität als Minimalkriterien umfasst. Andere wie Kontextualität oder Fiktionalität ließen sich hinzunehmen. Ist die Selbstklassifikation zwar ein hilfreiches und auch hinreichendes Kriterium zur Bestimmung von Parabel-Texten, so ist sie doch keine notwendige Bedingung. Dies wird besonders daran sichtbar, dass Parabel-Texte im Laufe der synoptischen Überlieferung ihren Textcharakter beibehalten, aber nicht von allen Evangelisten gleichermaßen als parabolffi parabole¯ klassifiziert werden. Umgekehrt werden Texte, die ähnliche oder sogar gleiche Merkmale aufweisen, nicht konsequent mit dem Gattungsbegriff eines Autors belegt, was z. B. in den narrativen Quellen wie den Evangelien auch dem Stil der Erzählung geschuldet ist. Es gibt also Texte, die durchaus aufgrund eines bestehenden Merkmalsbündels zu den Parabeln gerechnet werden dürfen, auch wenn die terminologische Benennung im Einzelfall fehlt. So gilt es, zwar ausgehend von den urchristlichen Texten, aber im heuristischen Sinn darüber hinausführend, ein Merkmalsbündel zu bestimmen, das dann bei der Untersuchung und Bestimmung von Parabeltexten angewandt werden kann. 24

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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse

2.3 Das Merkmalsbündel der Gattung »Parabel« Ungeachtet der Verschiedenheit der sprachlichen Gestaltung zeigen die Texte, die im NT paroimffla paroimia oder parabolffi parabole¯ genannt werden, doch verbindende Charakteristika, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, hier von einer gemeinsamen »Gattung« zu sprechen. Als markanteste Kriterien werden vielfach »Narrativität« und »Metaphorizität« benannt (Ricœur 1982, 248; Heininger 1991, 21-30; Söding 2003a; Dormeyer 2011 u. a.), manche fügen noch die »Kürze« hinzu (Crossan 1980, 2-5; Rau 1990, 73-83; Scott 1989, 35: »a short narrative fiction«). Allerdings stehen diese Merkmale im engen Verbund mit anderen Kriterien, die zur Präzisierung ebenfalls benannt werden müssen (Erlemann 1999, 75 f. nennt sogar 12 gemeinsame Merkmale). In Anlehnung an die von R. Zymner vorgeschlagene Beschreibung (Zymner 2003b, 502) soll für das Kompendium folgende Definition gelten: Eine Parabel ist ein kurzer narrativer (1), fiktionaler (2) Text, der in der erzählten Welt auf die bekannte Realität (3) bezogen ist, aber durch implizite oder explizite Transfersignale zu erkennen gibt, dass die Bedeutung des Erzählten vom Wortlaut des Textes zu unterscheiden ist (4). In seiner Appellstruktur (5) fordert er einen Leser bzw. eine Leserin auf, einen metaphorischen Bedeutungstransfer zu vollziehen, der durch Ko- und Kontextinformationen (6) gelenkt wird. Zugespitzt auf Attribute lassen sich sechs Merkmale der Parabel unterscheiden, die im Folgenden näher erläutert werden. Definieren heißt nicht nur bestimmen, sondern im ureigenen Sinn auch begrenzen, deshalb sollen bei den Kurzcharakteristika in idealtypischer Weise auch Abgrenzungen der Parabel zu anderen Gattungen benannt werden:

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1) Narrativ Parabeln sind kurze Erzählungen, d. h. narrative Texte, bei denen mindestens eine Handlungssequenz oder eine Statusveränderung berichtet oder vorgestellt wird. Parabeln unterscheiden sich deshalb von bildhaften Stilformen/Tropen (Wortmetaphern, Symbol, Metonymie) oder Vergleichen. So liegen in Q 17,24 (Menschensohn »wie Blitz vom Himmel«) oder Mt 10,16 (Jüngersendung »wie Schafe unter Wölfe«) bloße Vergleiche vor. In Mt 5,13 f. (»Ihr seid das Salz der Erde … ihr seid das Licht der Welt«) fehlt die Vergleichspartikel, statt dessen werden Satzmetaphern der Form »A ist B« gebildet, die aufgrund mangelnder Narrativität isoliert betrachtet noch keine Parabeln darstellen. Parabeln sind Erzählminiaturen, die auf das Wesentliche konzentriert sind und im Extremfall nur z. B. aus einem Handlungsverb bzw. einem Handlungssubjekt bestehen. Vielfach wird aber von unterschiedlichen Figuren in komplexeren Beziehungskonstellationen und mehrstufigen Handlungssträngen erzählt. Gleichwohl bleibt die Erzählung auf wenige Sätze beschränkt und unterscheidet sich deshalb von längeren Erzählgattungen (Epos, Roman, Kurzgeschichte etc.).

2) Fiktional Die Parabel ist eine »fiktionale Erzählung«, sie ist ausgedacht – im Gegensatz zu einer »faktualen Erzählung«, die sich auf tatsächlich stattgefundene (oder als solche geglaubte) geschichtliche Ereignisse bezieht (Genette 1992, 66). Obgleich auch die ›faktualen Erzählungen‹ in hohem Maße fiktional sind, es also immer nur die »Fiktion des Faktischen« geben kann (H. White 1991, 145-160; zur Antike Backhaus/Häfner 2007, 1-29), gibt es Erzähltes, das von vornherein nicht den Anspruch auf eine geschichtliche Referenz erhebt. Um solche erdachten und erdichteten Erzählungen geht es hier. Auch die antike Rhetorik unterschied bereits zwischen geschichtlichen und erfundenen Beispielen. So hatte Aristoteles im 2. Buch der Rhetorik (20) im Rahmen seiner Erörterung von Beweisverfahren unter dem Oberbegriff »Beispiele« (paradefflgmata paradeigmata) das paradefflgma (paradeigma) im engeren Sinn als historisches Beispiel definiert und davon die »künstlichen«, d. h. frei erfundenen, Beispiele abgegrenzt, für die unter anderem der Begriff parabolffi parabole¯ verwendet wurde. Entsprechendes lässt sich bei Quintilian beobachten. Ein ntl. Beleg für ein historisches Beispiel wäre hier etwa Mt 12,40: »Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Seeungetüms war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.« Hier handelt es sich zweifellos um eine kleine Erzählung, die metaphorisch auf einen anderen Sachverhalt (Menschensohn) übertragen wird. Allerdings ist die Erzählung nicht fiktional, sondern bezieht sich auf ein geschichtlich vorgestelltes Ereignis (Prophet Jona). Es handelt sich hier folglich nicht um eine Parabel im Sinne des Kompendiums. Andere biblische Beispiele wären die joh Semeia-Erzählungen wie z. B. die Hochzeit von Kana (Joh 2,1-11), deren metaphorischer Charakter in der Perspektive eines narrativen Rollentauschs kaum geleugnet werden kann (vgl. R. Zimmermann 2004a, 203-215), die aber im narrativen Rahmen als faktuale Erzählung bestimmt wird.

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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse

3) Realistisch Die Parabel weist einen engen Realitätsbezug auf, sie erzählt von der erlebbaren Welt. Die Parabeln sind zwar erfunden, aber – um es mit U. H. J. Körtner zu sagen – es geht um ›erfundene Wahrheit‹ (Körtner 2001, 370-373). Das, was hier erzählt wird, könnte tatsächlich so stattgefunden haben, Parabeln sind deshalb ›realistisch‹ (vgl. Erlemann 1999, 75: »pseudorealistisch«). Parabeln unterscheiden sich in dieser Weise deutlich von fantastischen Erzählungen (science fiction) oder apokalyptischen Visionen. Sie unterscheiden sich mit ihrem Realitätsbezug auch von Fabeln, in denen z. B. Tiere oder Pflanzen in anthropomorphisierender Weise sprechen und handeln, oder von Mythen, in denen die allgemeine Erfahrungswelt z. B. durch menschlich agierende Götter gesprengt wird (mit Zymner 2003b, 502).

4) Metaphorisch Die Parabel weist anhand von internen oder externen Transfersignalen (Zymner 1991, 87-96) auf eine Ausssage hin, die jenseits der primären Sinnebene liegt. Die Parabel hat also eine »metaphorische« oder so wörtlich »übertragene« (meta–fffrein meta-pherein = übertragen) Bedeutung. Mit anderen Worten findet ein semantischer Bedeutungstransfer zwischen verschiedenen Sinnbezirken statt. Das hierbei vorausgesetzte Metaphernverständnis knüpft an die von I. Richards und M. Black beschriebene und von P. Ricœur weiterentwickelte »Interaktionstheorie der Metapher« an. Eine Metapher ist demnach nicht auf ein substituiertes Wort begrenzt, sondern schließt immer ein Stück Text ein (Ricœur 3 2004; zum Überblick R. Zimmermann 2000b), innerhalb dessen eine Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren semantischen Bereichen erzeugt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass einzelne Parabeln darüber hinaus Wortmetaphern etwa im Sinn einer Metonymie oder Synekdoche oder symbolische Elemente beinhalten, vorrangig soll aber die Funktionsweise des Parabeltextes als Ganzem hier »metaphorisch« genannt werden.

5) Appellativ – Deutungsaktiv Die Parabel spricht an, sie will gedeutet werden. Gerade auch aufgrund des metaphorischen Charakters wird unterstrichen, dass der Sinn einer Parabel nicht schon in den Buchstaben festgelegt ist. Der metaphorische Prozess ist nicht schon abgeschlossen, sondern muss im Akt des Lesens je und je neu vollzogen werden. R. Zymner hat hier von der »Appellstruktur« der Parabel gesprochen (Zymner 1991, 60-62). Die Parabel ist also deutungsaktiv, weil sie eine Sinnkonstitution vom Leser/von der Leserin erwartet. Sie ist zugleich notwendig deutungsoffen, weil die Sinnkonstitution nicht festliegt und auf je unterschiedliche Weise erfolgt. Gerade auch die narrativen Elemente wie rhetorische Fragen, offenes Ende etc. rufen den Deutungsprozess hervor. Sie provozieren einen Leser oder eine Hörerin zur Stellungnahme. Sie drängen ihn oder sie zu einer Einsicht, zu einem vertieften Verstehen, ja sogar zum Handeln.

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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium

6) Ko- bzw. Kontextbezogen Parabeln sind eingebettet in größere Erzählzusammenhänge oder in Reden und Argumentationsgänge, die die Sinnkonstitution und Leserlenkung in hohem Maße beeinflussen. Diese Kontextbezogenheit der Parabel wird hier als konstitutiv betrachtet. Sowohl die Transfersignale, die den metaphorischen Charakter einer Parabel anzeigen, als auch die Verstehensimpulse, die die Sinnstiftung des Textes vorstrukturieren, liegen meist nicht ausschließlich in der Parabel selbst. Erst der konkrete Ort innerhalb einer Sammlung von Sprüchen, im literarischen Umfeld bzw. im Kontext der Ganzschrift erlauben eine Sinnzuschreibung (wie z. B. bei parallel überlieferten Parabeln sichtbar wird). Ferner sind sogar die Sprech- und Lesesituation sowie die Lebenswelt der Kommunikationssituation einschließlich der geprägten Sprachformen (z. B. Bildfelder) als Ko-texte in den hermeneutischen Prozess einzubeziehen (mit Heininger 1991, 26).

3 Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen 3.1 Grundentscheidungen Auswahl und Anzahl der Texte In diesem Kompendium werden alle eruierbaren Parabeln übersetzt und kommentiert, die die urchristliche Tradition Jesus zugeschrieben hat (s. o.). Die Forschung ist sich allerdings keineswegs einig, wie viele Texte dies sind. So hatte Adolf Jülicher in seiner Sammlung 53 Texte (28 Gleichnisse im engeren Sinn, 21 Parabeln und 4 Beispielerzählungen; vgl. Jülicher II 2 1910, VIIf.) benannt und analysiert, eine Zahl, die bislang nur von Rudolf Bultmann übertroffen wurde. Dieser führte in seiner Formgeschichte 56 gleichnishafte Texte auf (18 Bildworte, 17 Gleichnisse im engeren Sinn, 15 Parabeln sowie 6 Beispielerzählungen mit Lk 14,7-11 und 12-14, vgl. Bultmann 10 1995, 181-193). Joachim Jeremias ging von 41 Gleichnissen aus (Jeremias 11 1998, 7.242), Otto Knoch listete 36 Texte auf, darunter vier Doppelgleichnisse, so dass er insgesamt auf eine Zahl von 40 kam (Knoch 3 1987); auch Detlev Dormeyer begrenzte in seiner Literaturgeschichte noch auf die Langparabeln und listete ebenfalls 36 Texte auf (Dormeyer 1993, 149 f.). Das Jesus-Seminar des Westar-Instituts betrachtete 22 Gleichnisse als authentisches Jesusgut (vgl. Funk/Hoover 1993). Bernard Brandon Scott kommentierte 31 Gleichnisse (Scott 1989), auf die geliche Anzahl kam auch Klyne R. Snodgrass (Snodgrass 2008), während Arland Hultgren 38 Texteinheiten als Parabeln im weiteren Sinn klassifizierte (Hultgren 2000, 3). Die Abweichung der Zahl ist zum einen in der unterschiedlichen Bewertung der Gattung begründet, denn gerade die kleineren Parabeln, die von Bultmann »Metaphern« oder »Bildworte« genannt wurden, werden oft nicht als Gleichnisse wahrgenommen. An-

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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen

dererseits ist die Mehrfachüberlieferung und Auswahl der Quellen für die unterschiedlichen Zahlenangaben verantwortlich. Im vorliegenden Kompendium werden 104 Gleichnisse Jesu mit eigenen Kommentierungen aufgeführt, wobei zwei Doppelgleichnisse zusammen besprochen werden (Mt 13,44-46: Schatz und Perle; Lk 14,28-33: Turmbau und Feldzug); einige Gleichnisse mit gleichem Grundbestand werden aufgrund der abweichenden Überlieferung separat analysiert (Gastmahl: Mt 22,1-14; Lk 14,12-24; Fischnetz/Fischer: Mt 13,47-50; EvThom 8; Dieb: Q 12,39 f.; Agr 45; Säue/Entweihung: Mt 7,6; Agr 165). Damit wird deutlich, dass auch dieses Kompendium nicht den Anspruch erhebt, eine absolute Zahl festzulegen. Stattdessen wird im vorliegenden Buch eine integrative Strategie verfolgt, nach der auch Grenzfälle in die Besprechung einbezogen wurden. Ferner werden erstmals in größeren Gleichnis-Zusammenstellungen Texte aus dem Johannesevangelium, Thomasevangelium und Agrapha berücksichtigt.

Anordnung und Gruppierungen der Texte bzw. Auslegungen Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten, den urchristlichen Gleichnisstoff zu ordnen und zu präsentieren. Jülicher hatte die Gleichnisse bekanntlich in seinem analytischen zweiten Teil nach den zuvor eingeführten Gattungen »Gleichnis im engeren Sinn«, »Parabel« und »Beispielerzählung« geordnet (Jülicher II 2 1910). Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Gleichnisstoff nach den postulierten Adressaten zu differenzieren, wie etwa GegnerGleichnisse (z. B. Mk 12,1-12) oder Jünger-Gleichnisse (Lk 12,41-44). Beliebt sind auch Zuordnungen nach sprachlichen Kriterien, seien es die spezifischen Einleitungen, wie etwa tffl@ ¥x ¢mn (tis ex hymo¯n – wer von euch; Q 11,11; 12,25; Lk 11,5; 14,28; 17,7) oder die Wendung ˝nqrwp@ ti@ (anthro¯pos tis – ein Mensch; vgl. Q 19,12; Lk 10,30; 14,16; 15,11; 16,1.19; vgl. Lk 20,9) sowie die Kombination aus beidem tffl@ ˝nqrwpo@ ¥x ¢mn (tis anthro¯pos ex hymo¯n – welcher Mensch von euch; Lk 15,4; vgl. Mt 12,11). Ferner kann man die Parabeln nach einer bestimmten Vergleichsformel zusammenfassen, sei es mit der Partikel £@ (ho¯s – wie: Mk 4,26.31, vgl. Joh 15,6) bzw. ¯sper (ho¯sper – wie: Lk 17,24; Mt 13,40; 25,32), sei es mit der Wendung ˆmoi@ ¥stin (homoios bzw. homoia estin – … ist gleich wie …; Q 6,48 f.; 7,32; Lk 12,36; Mt 13,52 etc.) oder mit Derivaten des Verbs ¡moiw (homoioo¯ – vergleichen: Q 7,31; 13,18; 13,20: ¡moiðsw; Mt 13,24; 18,23; 22,2: £moiðqh; Mt 7,24.26; 25,1: ¡moiwqffisetai). Oder die Anzahl der handelnden Personen gab den Ausschlag für eine Zusammenführung von »Zwei-Personen-Gleichnissen« (Lk 12,16-21; Lk 16,1-8; 18,1-8) oder »Drei-Personen-Gleichnissen« (Mt 18,23-35; 20,1-16; 22,1-14; 25,1-13.14-30; Mk 12,1-12; Lk 10,29-37; 15,11-32; 16,1-13.19-31, nach Funk 1974, 51), wobei die Zuordnung der Personen vielfach ein antithetisches Zwillingspaar (zwei Söhne, Schuldner, Wanderer) im Gegenüber zu einer dritten Person zeigt (Lk 7,41-42; Lk 10,30-35; 15,1132; 16,19-31; vgl. dazu Sellin 1974, 181 f.). Wenn zwei unterschiedliche Bildbereiche so eng verbunden und parallel strukturiert sind, dass man von einer sprachlichen Einheit ausgehen kann, hat man von »Zwillings- oder Doppelgleichnissen« als eigener Gruppe gesprochen: Hierunter zählen die Parabeln vom Schatz und der Perle (Mt 13,44-46par.), vom Turmbau und Kriegführen (Lk 14,28-33par.), von den launischen Kindern (Q 7,31-35). Ferner werden in der Literatur 29

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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium

(z. B. Knoch 1 1987, 20) thematische Einheiten von Senfkorn und Sauerteig (Q 13,18 f.20 f.; Mt 13,31-33; Lk 13,18-21), Unkraut und Fischnetz (Mt 13,24-30.47-50) sowie verlorenes Schaf – verlorene Drachme (Lk 15,4-10) als Doppelgleichnisse betrachtet, obgleich hier die Zuordnung sprachlich nicht so eng und eindeutig ist. Auch die Reihe der so genannten »Doppelbildworte« kann hier genannt werden, bei denen zwei unterschiedliche Bildbereiche eng zugeordnet werden (vgl. Steinhauser 1981; ferner die Liste bei Jeremias 11 1998, 89), wobei teilweise erzählende Elemente eine Zuordnung zu den Parabeln erlauben (so z. B. beim Flicken und Weinschlauch, Mk 2,21 f.par. bzw. Leuchter und Maß, Mk 4,21-25), teilweise aber auch reine Metaphern vorliegen (so z. B. Salz und Licht, Mt 5,13 f.). Eine stärker thematisch orientierte Anordnung erfolgte durch Dan O. Via, der zwischen tragisch endenden Gleichnissen z. B. Mt 18,23-35; 22,1-13 (»The Tragic Parables«, Via 1967, 110 ff.) und gut endenden »komischen« Gleichnissen z. B. Mt 20,1-16; Lk 16,19; 15,11-32 (»The Comic Parables«, Via 1967, 145 ff.) differenzierte. John D. Crossan (Crossan 1973) unterschied zwischen Reich-Gottes-Gleichnissen (Parables and the Temporality of the Kingdom, a. a. O., 4 ff.), Ankunfts-Gleichnissen (parables of Advent, a. a. O., 37 ff.), Umkehr-Gleichnissen (parables of Reversal, a. a. O., 53 ff.) sowie ethischen Handlungs-Gleichnissen (parables of action, 79 ff.). Versucht man solche thematischen Zuordnungen etwas präziser zu fassen, kann man m. E. zwischen Gruppierungen nach Bild-Bereichen und Gruppierungen nach Referenz-Bereichen unterscheiden. Bei einer Anordnung nach Bild-Bereichen ist der bildspendende Bereich für eine thematische Gliederung maßgeblich (ausführlich dazu unten). So kann man hier Wachstums-Gleichnisse (z. B. Mk 4,26-29; Mt 13,24-30; Joh 12,24), Ernte-Gleichnisse (Q 6,4345; 10,2; 12,24; Joh 4,35-38; EvThom 63), Knechts- bzw. Sklaven-Gleichnisse (Q 12,4246; Mk 13,33-37; Lk 17,7-10; Mt 18,23-35; Joh 8,35 u. a.) sowie Hochzeitsgleichnisse (z. B. Mk 2,18-20par.; Lk 14,7-11; Mt 22,1-14; Mt 25,1-13) und Tiergleichnisse (Mt 7,6; 13,47 f.; Joh 10,1-5; EvThom 47,1; Agr 165; 208) zu je eigenen Gruppen zusammenfassen. In der Literatur werden darüber hinaus noch größere Einheiten gebildet, indem z. B. Naturgleichnisse oder Sozialgleichnisse differenziert werden. So gliedert etwa Scott (1989) den Stoff in drei große Teile: a) Family, Village, City, and Beyond (a. a. O., 79 ff.); b) Masters and Servants (a. a. O., 205 ff.); c) Home and Farm (a. a. O., 301 ff.). Eine andere thematische Anordnung wird bei Shillington (vgl. Shillington 1997) vorgeschlagen, der thematische Blöcke unter den Überschriften »parables of the Temple« (a. a. O., 21 ff.), »parables of the Land« (a. a. O., 53 ff.), »parables of the Economy« (a. a. O., 85 ff.) und »parables of the People« (a. a. O., 139 ff.) bildet. Auf der anderen Seite werden Referenz-Bereiche zum Strukturierungsmotor, indem der bildempfangende Bereich (s. u.) das einende Band unterschiedlicher Gleichnisse darstellt. Am bekanntesten ist hier die Zusammenstellung der so genannten »Reich-GottesGleichnisse« bei denen meist in der Einleitung die Zuordnung des Erzählten zum ReichGottes vorgegeben wird, so z. B. in Q 13,20: tfflni ¡moiðsw t¼n basilefflan to‰ qeo‰; (tini homoio¯so¯ te¯n basileian tou theou – womit soll ich das Reich Gottes vergleichen?). Eine ganze Fülle von Texten weist explizit das Reich Gottes als einen solchen Bezugsbereich aus (Q 13,20; Mk 4,26-29; 4,30-32; Mt 13,24-30; 13,44-46; 13,47-50; 13,52; 18,23-35; 20,1-16; 21,28-32; 22,1-14; 25,1-13; Joh 3,3-5; EvThom 22; 64; 97; 98). Gleichwohl wäre es angesichts der Fülle des Materials verfehlt, im Reich Gottes den einzigen oder auch nur primären Referenz-Bereich sehen zu wollen, oder gar eine dia30

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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen

chrone Vorentscheidung zu treffen, nach der die Reich-Gottes-Gleichnisse als ältestes Material z. B. des ›irdischen Jesus‹ eingeordnet würden. Allein der literarische Textbefund, nach dem gerade in den ältesten eruierbaren Quellen (Mk und Q) vergleichsweise selten eine solche Zuordnung erfolgt, spricht gegen diese Einschätzung. Weitere, weniger prominente Gruppierungen nach Referenz-Bereichen wurden mit der Zusammenfassung zu so genannten »Krisis-Gleichnissen« (Lk 10,30-35; 13,6-9; 15,1-7.8-10.11-25), »Parusie-Gleichnissen« (Q 12,39 f.; 19,12-26; Mt 25,1-13) oder zu »Beelzebulgleichnissen« (so Jülicher II 2 1910, 214-240: Mk 3,22-27; Mt 12,22-30.43-45; Lk 11,14-26) vollzogen. Richard N. Longenecker (Longenecker 2000) strukturiert seinen Sammelband nach »Kingdom« (a. a. O., 79 ff.), »Warning and preparedness« (a. a. O., 151 ff.) und »Christian Life« (a. a. O., 199 ff.).

Anordnung nach Quellen So hilfreich und im Verständnis einzelner Texte weiterführend derartige Gruppierungsund Strukturierungsversuche sind, so bieten sie doch entweder bei der Orientierung an sprachlichen Kriterien kein das ganze Material übergreifendes Gliederungsraster. Vielfach werden anhand bestimmter sprachlicher Kriterien nur sehr wenige Texte zu Gruppen zusammengefasst, und schon in der Parallelüberlieferung verändern sich die Formulierungen (z. B. Q 6,47-49!Mt 7,24-27). Oder bei thematischen bzw. auf Bildbereiche bezogenen Kriterien sind Schnittmengen aufgrund der Polyvalenz der bildspendenden Bereiche oder Unklarheiten hinsichtlich der bewusst offenen Referenz-Zuordnung unvermeidlich. »Am unverfänglichsten ist es, die G.se anhand der Quellenlage einzuordnen: Texte aus dem Mk-Stoff, aus Q, aus dem Mt-Sondergut und aus dem Lk-Sondergut, obwohl sich auch dabei Überschneidungen einstellen (z. B. bei Doppelüberlieferungen).« (Klauck 1991a, 854, vgl. auch Rose 2003, 450). Diese Einschätzung war auch für die Anordnung des Gleichnismaterials im vorliegenden Kompendium leitend. Dabei wurde eine lose zeitliche Reihenfolge der Quellen postuliert, die mit Q und Mk beginnt, dann die Evangelien nach Mt, Lk, Joh, Thom anführt und mit den Agrapha endet. Die Reihenfolge Mt – Lk folgt der kanonischen Anordnung, ohne dass hier eine Entscheidung über die Entstehungszeit erfolgt wäre, die auch derzeit in der Forschung nicht konsensfähig möglich ist. Neben den textlich überlieferten Ganzschriften wird die Logienquelle Q als eine eigene Quelle betrachtet. Auch wenn die diachrone und vor allem in den Bereich mündlicher Tradition zurückreichende literarkritische Fragestellung im Kompendium zugunsten der synchronen Endtextexegese zurückgedrängt wurde, wird hinsichtlich der Q-Hypothese (vgl. dazu die Einleitung zu Q) ein eigener Quellenbereich ausgewiesen, der von einer postulierbaren schriftlichen Quelle ausgeht. Die seit Mitte des 19. Jh. diskutierte Annahme einer zweiten, von Mk unabhängigen gemeinsamen Quelle von Mt und Lk konnte bislang durch keine bessere Hypothese ersetzt werden. Ferner liegt nun der Versuch einer schriftlichen Rekonstruktion von Q (Critical Edition 2000, vgl. Robinson/Hoffmann/Kloppenborg 2000) vor, an der zwar einige Probleme und Unsicherheiten von Q evident werden, die aber insgesamt doch eine brauchbare Arbeitshypothese darstellt. Werden Texte innerhalb des Überlieferungsprozesses mehrfach bezeugt, werden sie ausführlich im Bereich der ältesten Quelle besprochen, während die Parallelüberlieferung dann nur noch kurz unter dem Punkt Parallelüberlieferung (s. u.) aufgenommen wird. 31

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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium

Dies führt dazu, dass unter den Quellenbereichen Mt, Lk und EvThom nur noch Sonderguttexte besprochen werden. Um die Gleichnisverarbeitung in diesen Ganzschriften im Überblick wahrzunehmen, werden deshalb Einleitungen vorangestellt, die den Gleichnisdiskurs im gesamten Evangelium unter Einbeziehung aller Parabeltexte im Blick haben. Eine tabellarische Auflistung aller Parabeltexte einer Quellenschrift soll zusätzlich einer verzerrenden Wahrnehmung entgegenwirken. Ein weiteres Wagnis stellt die Einbeziehung neuer Quellenbereiche dar. So werden über die synoptischen Parabeln hinaus auch Texte aus dem Johannesevangelium, dem Thomasevangelium sowie versprengte Einzelworte, so genannte »Agrapha«, untersucht, die in ihrer Textgestalt auf eine Ebene mit synoptischen Texten gestellt werden können. Die Ausgrenzung dieser Texte aus der Parabel-Diskussion lag im Fall von Johannes an der kategorischen Abwertung allegorischer Bildtexte bei Jülicher, im Falle von EvThom an dem noch nicht vorhandenen gnostischen Text, der erst 1946 in Nag Hammadi gefunden wurde. Um bei der Erschließung dieses Neulands eine diskutable Grundlage zu haben, wurden bei diesen Texten eher großzügig auch Grenzfälle einbezogen, auch wenn im Einzelfall nicht alle Parabel-Kriterien sofort evident erscheinen (z. B. Joh 6). So wird z. B. das Kriterium der Kontextualität bei den Agrapha nicht vollständig eingeholt werden können. Im Prozess der Entstehung des Kompendiums wurde immer wieder deutlich, dass Auslegungen und überhaupt Wahrnehmungen von biblischen Texten in hohem Maße von hermeneutischen Traditionen geprägt sind. So wird heute die enge Verflechtung z. B. der mt oder lk Parabeln im literarischen und theologischen Kontext ihrer Schrift weithin anerkannt. Gleichwohl war man gewohnt, diese Texte auch isoliert, sei es als »ursprüngliche Jesusgleichnisse«, sei es als »autonome Kunstwerke« zu verstehen, was bei Joh nicht in diesem Maße der Fall war. Deshalb ist aber eine gesonderte Betrachtung joh Parabeln nicht weniger lohnend oder berechtigt. Parabeln bei Joh und EvThom wie auch bei den Synoptikern sind in Kontexte eingewoben und können nur in diesem Zusammenhang verstanden werden. Die Differenz in der Auslegungstradition wird u. a. auch darin evident, dass für die synoptischen Parabeln (ausgehend von Jülicher und Bultmann) so genannte »klassische Titel« benannt werden können, was für die Parabeln in Joh und EvThom nicht gleichermaßen gilt.

3.2 Die einzelnen Auslegungsschritte Die Auslegungen im vorliegenden Kompendium werden von einer Vielzahl von Personen vorgenommen. So unterschiedlich die Positionen einzelner Ausleger und Auslegerinnen auch sein mögen, so bewusst die Vielfalt der Deutungen in diesem Kompendium bejaht wird, so treffen sich doch alle Mitwirkenden in bestimmten Grundentscheidungen und vor allem auch in der Einhaltung einer einheitlichen Basisstruktur. Diese Struktur erhebt nicht den Anspruch, völliges methodisches Neuland zu erschließen, sondern integriert Ansätze früherer Gleichnisbücher (z. B. Klauck 2 1986, 141-143 zum ›Bildfeld‹; sowie die Fortführung bei Heininger 1991: »Realien und Bildfeld« [124 ff.; 172 ff.]; Kähler 1995, passim: »Bildspenderseite« und »Bildempfängerseite«; Harnisch 4 2001, 15-41 zur narrativen-szenischen Analyse u. a.). Leitend für die einzelnen Analyseschritte waren ferner die Grundcharakteristika der Parabel (s. o.). Parabeln werden in diesem Kompendium als leserorientierte metaphorische Erzähltexte definiert, die in kommunikativen Kontexten 32

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stehen. Entsprechend wird die Schrittfolge der Auslegung verschiedene Schwerpunkte unterscheiden, die dieser Definition Rechnung tragen. Um die meist kunstvolle literarische Gestalt dieser fiktionalen Texte wahrzunehmen, setzt die Auslegung mit einer genauen sprachlichen Analyse ein, die die Narrativität und Metaphorizität als Basiskriterien der Parabel herausarbeitet. Um metaphorische Übertragungsvorgänge zu verstehen, müssen ferner zwei Aspekte berücksichtigt werden, die in den folgenden Auslegungsschritten in den Blick genommen werden: Einerseits müssen die Realien, von denen die Parabel redet, in ihrem historischen Kontext erhellt werden, andererseits stehen Metaphern immer schon in einer Bildfeldtradition, die das Verständnis von Neubildungen entscheidend mitbestimmt. Wie dann im konkreten Text die Interaktions- und Übertragungsvorgänge vollzogen werden und welche Deutungsmöglichkeiten sie hervorrufen, wird in der »zusammenfassenden Analyse« dargelegt. Schließlich werden Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte benannt. So entsteht folgendes Auslegungs- und Darstellungsraster, das im Folgenden noch detaillierter erläutert werden soll: (1) Titel (2) Übersetzung (3) Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) (4) Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) (5) Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) (6) Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) (7) Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte (8) Literatur zum Weiterlesen

3.2.1 Titel und Übersetzung Die ›Titelei‹ der einzelnen Parabeln setzt sich aus kreativem Titel, klassischem Titel sowie Stellenangaben zusammen. Da viele Parabeltexte durch die Titelvorgaben schon auf einen bestimmten Deutungshorizont verengt werden oder zumindest in der Auslegungstradition in dieser Weise wahrgenommen wurden, werden zu allen Parabeln kreative Titel(neu)bildungen gegeben. »Kreativ« meint dabei, dass der Titel einerseits durchaus schon die Pointe der Auslegung andeuten kann, andererseits aber auch durch seine provokante oder ungewohnte Formulierung das Interesse des Lesers und der Leserin wecken möchte. Gleichwohl sollen die von Jülicher und Jeremias eingeführten und zum Teil auf ältere Traditionen zurückgehenden »klassischen Titel« zum Zweck der Wiedererkennung und Orientierung in Klammern beigegeben werden. Als »klassische Titel« gelten vorrangig die Überschriften bei Jülicher (Jülicher II 2 1910, VIIf.), sofern dort nicht vorhanden, die der exegetischen Tradition. Die Stellenangaben der Paralleltexte folgen dem Gesamtaufriss des Kompendiums, d. h. Q – Mk – Mt – Lk – Joh – EvThom – Agrapha. Dazu zwei Beispiele: Gott knetet nicht (Vom Sauerteig) Q 13,20 f. (Mt 13,33 / Lk 13,20 f. / EvThom 96) »Einstürzende Neubauten« (Hausbau auf Felsen oder Sand) Q 6,47-49 (Mt 7,24-27 / Lk 6,47-49) 33

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Die im Kompendium besprochenen Texte werden jeweils in einer von den Autoren und Autorinnen selbst angefertigten Übersetzung dargeboten. Die hermeneutische Problematik von Bibel-Übersetzungen wurde in jüngster Zeit heftig diskutiert. Wer immer sich mit historischer Semantik einmal beschäftigt hat, wer immer fremdsprachige Texte in die eigene Sprachwelt überführen will, weiß, dass Übersetzungen nicht ›neutral‹ oder ›wörtlich‹ sein können. Dies wird auch innerhalb des Kompendiums sichtbar. Je nach hermeneutischem Standpunkt werden unterschiedliche Prämissen für die Übersetzung gesetzt. Einige Übersetzerinnen fühlen sich hierbei stärker der bekannten, z. B. von Luther herkommenden Übersetzungstradition verpflichtet, andere wollen – auch unter Einbuße deutscher Sprachästhetik – möglichst nahe an der griech. Syntax bleiben. Wieder andere fühlen sich als Übersetzer(innen) in der »Bibel in gerechter Sprache« den Grundentscheidungen dieses Projektes verpflichtet. Alle Autorinnen und Autoren und vor allem auch das Herausgeberteam sind sich darin einig, dass Übersetzungen bereits eine implizite Interpretation darstellen. Ungeachtet der Weite des gebotenen Spektrums soll immer eine hermeneutische Sensibilität gegenüber diesen Fragen sichtbar werden, sei es bereits in der Übersetzung selbst, sei es in der Benennung von Übertragungsproblemen innerhalb der nachfolgenden Analyse. Insbesondere wurde darauf geachtet, dass keine frauendiskriminierende und auf antijudaistische Stereotypen rekurrierende Sprache verwendet wurde. Dies betrifft die Bezugnahmen auf die im bildspendenden Bereich handelnden Personen ebenso wie die generellen Bezugnahmen auf die Adressatenschaft des Textes (in der Antike und heute). So kann man aufgrund von sozialgeschichtlichen Analysen deutlich machen, dass z. B. bei der Getreideernte Frauen eine zentrale Rolle spielten. Hier nur von »Arbeitern« und nicht auch von »Arbeiterinnen« oder allgemein »Arbeitskräften« zu reden, würde den historischen Sachverhalt verstellen. Natürlich sollen hierbei auch nicht umgekehrt historische Sachverhalte verfälscht werden. Wo eindeutig ausschließlich Männer gemeint sind, sollte die Übersetzung das auch zeigen. Doch hat die sozialgeschichtlich-feministische Forschung der letzten Jahrzehnte für viele Lebensbereiche der Antike eine viel intensivere Partizipation von Frauen nachgewiesen, als es bisher in Übersetzungen und wissenschaftlicher Literatur präsent ist. Jesus sprach ferner nicht nur zu Hörern, sondern auch zu Hörerinnen, hatte nicht nur Jünger, sondern auch Jüngerinnen, die Evangelisten und auch wir haben nicht nur Leser, sondern auch (möglicherweise sogar überwiegend!) Leserinnen. Sie alle bleiben unsichtbar und werden marginalisiert, wenn ausschließlich der so genannte generische oder inklusive Plural maskulinum verwendet wird. So finden sich schon bei der Übersetzung, aber auch bei den Auslegungstexten inklusive Sprachformen. Wie die gewünschte Balance zwischen Textgemäßheit, hermeneutischer Eindeutigkeit und Verständlichkeit im Einzelfall gefunden wurde, blieb den einzelnen Autorinnen und Autoren überlassen. Die somit gegebene Toleranz gegenüber der Vielfalt der Interpreten und Interpretinnen ist auch charakteristisch für das Gesamtwerk.

3.2.2 Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabeln sind sprachlich meist kunstvoll gestaltete Texte. Dies herauszuarbeiten ist die Aufgabe der sprachlich-narrativen Analyse. Ohne hierbei einer speziellen Sprachtheorie oder dem linguistischen Fachvokabular verpflichtet zu sein, sollen einzelne 34

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sprachliche Gestaltungsmittel möglichst genau beschrieben und erfasst werden. Dabei werden je nach Text Beobachtungen auf Wort-, Satz- oder Perikopenebene wiedergegeben: Wie ist der Text aufgebaut? Welche syntaktische und strukturelle Anordnung des Textes ist zu erkennen? Welche leser(innen)orientierten sprachlichen Stilmittel (z. B. rhetorische Fragen; offenes Ende) werden eingesetzt? Da die Parabeln narrativ und metaphorisch sind, sollen gerade auch diese beiden Aspekte besonders benannt werden. So ist in narrativer Perspektive zu fragen: Welche Zeit- und Raumangaben werden gemacht? Welche Personen oder Gegenstände kommen innerhalb der Parabel vor, und wie werden diese zueinander in Beziehung gesetzt? (Figurenkonstellationen; Haupt- und Nebenpersonen; wer ist aktiv?; wer ist passiv?). Wie gestaltet sich der Handlungsverlauf (ggf. Einleitung, Spannungsbogen, Höhepunkt, Schluss)? Worin besteht die (Mini-)Sequenz der Handlung bzw. Zustandsveränderung (vgl. Parabeldefinition!). Man kann besonders hinsichtlich der narrativen Ausgestaltung der Parabeln deutliche Unterschiede wahrnehmen. Bei einigen Texten ist die Handlungssequenz nur angedeutet und muss vom Leser vervollständigt werden, bei anderen zeigt sich ein ausgeführtes kleines Drama, das einen mehrstufigen Handlungsverlauf mit unterschiedlichen Personen und zum Teil sogar wörtlicher Rede als Dialog oder innerer Monolog aufweist. In jedem Fall liegen aber bei allen Texten ausgeführte oder suggerierte MiniaturHandlungen bzw. Zustandsveränderungen von einem Status zu einem anderen vor. So wird etwa nicht nur das Führen eines Blinden durch einen Blinden vor Augen gemalt, sondern auch noch die Folge (in die Grube fallen) als nächste Szene in Aussicht gestellt (Q 6,39). Oder man erfährt nicht nur vom Anzünden einer Lampe, sondern auch noch von ihrem Aufstellen und schließlich von der Wirkung im Haus (Q 11,33), so dass eine dreistufige Handlung innerhalb nur eines Verses erzeugt wird. Andere Parabeln berichten selbst auf knappstem Raum von einem Dialog zwischen Brüdern über einen Splitter im Auge (Q 6,41 f.). Die Übergänge zu längeren Erzähltexten sind hier fließend. Eine Differenz zwischen den einzelnen Texten kann bestenfalls quantitativ, nicht aber qualitativ oder sprachlich (zum Tempus s. o.) wahrgenommen werden. Im Vergleich zu größeren Erzählgattungen (z. B. Bios, Kurzgeschichte, Epos) sind auch die so genannten »Lang-Parabeln« des Urchristentums immer noch Miniatur-Gattungen, die sich durch ihre Kürze und Prägnanz auszeichnen. Crossan hatte neben Metaphorizität und Narrativität sogar die »Kürze« (»brevity«) als drittes notwendiges Gattungskriterium benannt (Crossan 1980, 2: »This is the third necessary element in the generic definition of parables: Parable is a very short metaphorical narrative.«). Dementsprechend darf man aus einer Längendifferenz z. B. von 2 zu 8 Versen keine Gattungsklassifikation ableiten. Die Erzähltexte weisen über ihren primären Wortsinn hinaus, sind also im Sinne der oben genannten Definition »metaphorisch«. Wie diese Metaphorizität erzeugt wird, woran ein Leser bzw. eine Leserin erkennen kann und soll, dass eine zweite Sinnebene anzusteuern ist, ist ganz unterschiedlich. So kann es wie bei »kühnen Metaphern« zu semantischen Widersprüchen kommen (z. B. fastende Hochzeitsgäste Mk 2,18-20; Perlen vor Säuen Mt 7,6), ferner können extravagante Züge innerhalb der erzählten Welt als interne Transfersignale wahrgenommen werden (z. B. Hilfe eines Samariters Lk 10,33 f.; Zerstörung der ganzen Stadt, Mt 22,7). Häufig wird aber erst durch den Kontext eine Übertragung der Bedeutung nahe gelegt. Dabei kann die Leserlenkung durch externe Transfersignale wie z. B. Einleitung (»das Himmelreich gleicht …«, Mt 13,31.33) oder Schlussverse 35

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(»so …«, Mt 12,45; 13,49; 20,16) erfolgen. Teilweise bleibt der Übertragungsimpuls aber auf implizite Hinweise des Gesamtkontextes begrenzt. Das Neben- und Ineinander der unterschiedlichen Bedeutungsebenen ist in jedem Text unterschiedlich gestaltet. Dabei ist es ein Idealbild der alten Formgeschichte, dass man klar z. B. zwischen dem »reinen Gleichnis i. e. S.« bei den Synoptikern und etwa den »allegorischen Bildreden« bei Joh unterscheiden könne. Auch bei den Synoptikern finden sich Texte wie z. B. Q 16,13 (Dienst an zwei Herren); Mk 3,22-26 (Beelzebul-Text) oder Mt 25,32 f. (Menschensohn als Hirte), in denen die theologische Dimension in die Erzählwelt hineinragt, wie umgekehrt bei Joh recht klar abgrenzbare Szenarien prima vista auf die reine Erfahrungswelt (z. B. zum Weizenkorn in Joh 12,24; zum Hirten in Joh 10,1-5) beschränkt bleiben. Aufgrund der Komplexität und Individualität der Vergleichs- und Übertragungsvorgänge und fließender Übergänge zwischen einzelnen Gestaltungsmöglichkeiten soll deshalb auf eine vorordnende kategoriale Einteilung innerhalb des Kompendiums bewusst verzichtet werden. Die unterschiedliche Funktionsweise der Metaphorizität der Parabeln muss je im Einzelfall beschrieben werden. Bereits in der Wahrnehmung externer Transfersignale ist die Einbeziehung des Kontextes unentbehrlich. Auch wenn die Parabeln im Kompendium als sprachliche Einheiten je für sich besprochen werden, bleiben sie eng eingebunden in ihre jeweiligen Kontexte und Diskurse (dazu Reinmuth 2011). Das Kriterium der »Kontextualität« (s. o.) soll insofern ernst genommen werden, als der nähere und weitere Kontext der Einzeltexte in der sprachlichen Analyse im Blick bleiben muss. Dies beginnt mit den Einleitungen und Schlussformeln (vgl. beispielhaft zu Mt Münch 2004, 129-160. 249-290), geht weiter mit der Einordnung in die Perikope bzw. den engeren literarischen Kontext und mündet in eine Verortung im Gesamtarrangement der Quellenschrift und dabei insbesondere mit Blick auf die anderen Parabeln. So stellt sich die Frage, ob es in der Perspektive einer kontextuellen Endtextexegese überhaupt Sinn macht, einzelne Parabeln je für sich zu besprechen. Die Antwort ist freilich mit dem Kompendium selbst gegeben. Ja, es macht Sinn und zwar deshalb, weil die einzelnen biblischen Texte eine gewisse literarische Geschlossenheit aufweisen und innerhalb ihrer Auslegungsgeschichte in Predigt, Unterricht und Kunst auch immer schon je für sich betrachtet wurden. Gleichwohl werden sie deshalb nicht zum ›autonomen‹ Kunstwerk. Wir müssen also nicht ein literarkritisches Konstruktionsmodell bemühen, um eine gesonderte Betrachtung einzelner Parabeltexte zu rechtfertigen. In den Auslegungen wird allerdings der Kontext so weit wie möglich als Referenzrahmen berücksichtigt.

3.2.3 Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Parabeln Jesu beziehen ihre Kraft aus der Übertragung realer Erfahrungen und konkreter lebensweltlicher Zusammenhänge in den religiösen Bereich. Um diesen Prozess der Transformation verstehen zu können, ist es unerlässlich, die ›eigentliche‹ Bedeutung der verwendeten Vorstellungsbereiche und beschriebenen Vorgänge zu kennen. Bevor ich ermessen kann, was es bedeutet, wenn das Reich Gottes in der Parabel mit einem Senfkorn, Sauerteig oder Sämann verglichen wird, muss ich erst einmal wissen, was ein Sauerteig ist, wie ein Senfkorn aussieht oder wie ein Sämann arbeitet. Um die Bedeutung des Verlusts einer Drachme einschätzen zu können, muss der Wert dieses Geldstücks ermittelt werden. Um die Tragweite des Reinigungsschnitts eines Weinstocks ermessen zu kön36

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nen, muss ich etwas über antike Weinkultur erfahren. Oder was sind etwa ein ›Weinschlauch‹, ein ›Scheffel‹ oder ein ›Quadrans‹ ? Wer ist ein ›Samariter‹, der ›Mammon‹ oder der ›Beelzebul‹ ? Die letzten Beispiele zeigen, dass zwar quellensprachliche Spezialbegriffe durchaus in der Gegenwartssprache geläufig sind, dass sie aber in einem ganz anderen Sinn verwendet werden können. So ist ausgehend vom Samaritergleichnis und seiner Wirkungsgeschichte der Begriff »Samariter« in der deutschen Sprache positiv besetzt, für die jüdischen Ersthörer Jesu stand der Terminus hingegen in einem recht negativen Horizont, weil er einen missachteten Ausländer und Außenseiter bezeichnete. Entsprechend darf der in der Parabel erzählte Umgang mit Talenten oder mit Schulden nicht vorschnell in unser kapitalistisches Wirtschaftssystem hinein übertragen werden. Die Konkretion und Lebensnähe der Parabeln ist nur zum Preis historischer Gebundenheit zu haben. Jenseits einiger elementarer menschlicher Grunderfahrungen, wie z. B. das Licht auf einem Leuchter oder ein bittendes Kind, spiegeln die Gleichnisse vorrangig die Lebenswelt der Menschen in Palästina oder weiter gefasst im Mittelmeerraum des 1. Jh. n. Chr. wider. Wenn wir die Gleichnisse verstehen wollen, müssen wir folglich versuchen, in diese Lebenswelt einzudringen. Ein Ausleger oder eine Auslegerin muss deshalb nach dem im historischen Kontext plausiblen Sinn einzelner Begriffe wie auch ganzer Vorgänge und Szenarien Ausschau halten. Die Ermittlung dieses Bedeutungshintergrunds muss also zunächst notwendig zu einer Verfremdung führen. Wer die Parabeln Jesu verstehen will, muss in historischer Perspektive in eine fremde Welt eintauchen. Dies soll mit dem Auslegungsschritt »Sozialgeschichtliche Analyse« erfolgen. Dieser Begriff wird hierbei verwendet, weil er innerhalb des Methodenkanons der Exegese zu einem Leitbegriff für Analyseschritte geworden ist, die die Frage nach den konkreten Lebensverhältnissen, geschichtlichen Bedingtheiten und archäologischen Evidenzien stellen. Die Erforschung von Geographie, Kleidung und Nahrung, Gebrauchsgegenständen, Arbeitsformen etc. sind hier ebenso von Interesse wie politische und sozio-kulturelle Bedingtheiten. »Sozialgeschichtliche Analyse« meint also in einem weiten Sinn die Frage nach den realkundlichen Verstehensvoraussetzungen und wird nicht auf die menschlichen Sozialverhältnisse oder die Soziologie des Urchristentums beschränkt. Über die in den biblischen Schriften oder sogar in den urchristlichen Parabeln selbst gegebenen Informationen über diese Hintergründe hinaus, müssen vor allem Umfeldtexte, seien es die jüdischen oder christlichen Apokryphen sowie hellenistisch-römische Texte befragt werden. Auch rabbinische Schriften werden einbezogen. Ferner spielen nichtschriftliche Quellen wie archäologische Funde (z. B. Münzen) bei der Rekonstruktion der Realia eine zentrale Rolle. Der in den urchristlichen Parabeln angesprochene konkrete bildspendende Bereich ist äußerst vielfältig. So werden nahezu alle Bereiche des privaten sowie öffentlichen Lebens einbezogen: Angefangen von elementaren Lebenssituationen wie Geburt (Joh 16,21) und Tod (Joh 12,24 f.) oder Krankheit und Gesundheit (z. B. Sehschwächen in Q 6,39; 41 f.; Pflege in Lk 10,34 f.), über die Stillung von Grundbedürfnissen wie Schlafen (Mt 25,5; Lk 11,7; EvThom 61), Essen und Trinken (Q 11,11 f.; Lk 11,5; Joh 4,13 f.; EvThom 60) einschließlich der Nahrungszubereitung (z. B. Q 13,21: Sauerteig) oder einzelnen Bestandteilen der Speisen (z. B. Salz in Q 14,34 f.; Brot in Mk 7,27 f.; Joh 6,31-51; Mehl in EvThom 97) oder Kleidung (Q 12,26-28; Mk 2,21; Lk 10,30; 16,19), bis hin zu den räumlichen Lebensverhältnissen wie das Bauen oder Abreißen eines Hauses (Q 6,4737

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49; EvThom 71), die Wohnräume im Haus (Joh 14,1-4) oder der Erwähnung einer ganzen Stadt (Mt 5,14; EvThom 32; Mt 22,1-14). Häufig geht es aber weniger um die Beschaffenheit eines Gegenstandes als um die damit verknüpften sozialen Verhältnisse. So ist – um am Beispiel des Hauses zu bleiben – die Spaltung der Hausgemeinschaft (Q 17,34 f.; Mk 3,25; EvThom 61) von Interesse. Gerade die spannungsvollen Beziehungen unter Menschen werden zum Anschauungsgegenstand, so etwa das Verhältnis zwischen Eltern und Kind (Q 11,9-13) oder speziell zwischen Vater und Sohn bzw. Söhnen (Lk 15,11-32; Mt 21,28-32), zwischen Brüdern (Lk 14,12; 16,28) und Bettgefährten (EvThom 61) oder Freund(inn)en (Lk 11,5-8; 15,810) bis hin zum Streit zwischen Kindern (Q 7,31-35). Einen ganz eigenen Bereich stellt auch die Thematisierung der Beziehung zwischen Sklaven und Herren dar, wobei wiederum ein breites Spektrum an Lebenssituationen von der grundsätzlichen Loyalität im Dienstverhältnis (Q 16,13) über spezielle Funktionen wie denen des Türhüters, des Wachpersonals (Lk 12,35-38; Joh 10,3) oder der Geschäftsführer bei Abwesenheit (Q 19,12-26) bis hin zu Einzelsituationen wie dem Schuldenerlass (Mt 18,23-35) oder einem Abendessen nach der Arbeit (Lk 17,7-10) herangezogen wird. Auch Arbeits- und Dienstverhältnisse im weiteren Sinn wie z. B. Beziehung zwischen Pächtern und Besitzer eines Weinbergs (Mk 12,1-12), die Entlohnung von Tagelöhnern (Mt 20,1-16) oder die Entlassung eines Verwalters (Lk 16,1-8) spielen eine Rolle. Innerhalb der Arbeitswelt wird häufig auf Verhältnisse Bezug genommen, wie sie im kleinbäuerlichen Milieu etwa des galiläischen Dorfes anzunehmen sind. Hierbei spielen neben dem Fischfang (Mt 13,47-50; EvThom 8) vor allem der Getreide-Ackerbau (Aussaat – Ernte, vgl. Mk 4,3-9; Q 10,2; Joh 4,35-38; 12,24; Wachstum und Pflege: Mk 4,26-29; Mt 13,24-30; Mt 15,13), der Weinbau (Mk 12,1-12; Joh 15,1-8; EvThom 40) oder die Viehzucht, insbesondere die Schafhaltung (Q 15,4-7; Mt 25,32 f.; Joh 10,1-5) eine zentrale Rolle. Besonders wird hier auch die Lebenswelt der Frauen zur Geltung gebracht, wie z. B. implizit bei Teigbereitung (Q 13,20 f.) oder Erntearbeit (Q 10,2) oder explizit, indem handelnde Frauen erwähnt werden (z. B. beim Verlust eines Geldstücks in Lk 15,8-10; bei Mägden in Mt 25,1-13). Doch die erzählte Welt der Parabeln lässt sich nicht auf eine bestimmte soziale Schicht und deren Lebenswelt begrenzen. So steht etwa bei einer ganzen Reihe von Parabeln der Bereich der Finanzen und Ökonomie im Mittelpunkt, sei es, indem z. B. vom Kauf eines Ackers (Mt 13,44), der Kalkulation kostspieliger Vorhaben (Lk 14,28) oder der Verteilung des Hausschatzes (Mt 13,52) erzählt wird, sei es, dass die Schuldenproblematik (Mt 18,23-35; Lk 7,41-42; 16,1-8), die Verleihung von Geld (EvThom 109) oder die Geldwechsler (Agr 31) zum bildspendenden Bereich werden. Ein eigenes, selten beachtetes Anschauungsfeld liegt auch mit dem Rechtsbereich vor: So wird von Prozessgegnern beim Gang zum Gericht (Q 12,58 f.), von Rechtsvollmacht (Joh 5,19-24), von dem Konflikt eines Richters mit einer Witwe (Lk 18,1-8) oder vom Strafvollzug (Q 12,58 f.; Mt 18,30.34) erzählt. Schließlich kann auch der außermenschliche Bereich eigens in den Mittelpunkt gerückt werden, indem z. B. Tiere oder Pflanzen die Hauptakteure bzw. Anschauungsfelder der Parabeln darstellen. So lesen wir von Schweinen (Mt 7,6; Agr 165), von Hunden (Mk 7,27 f.; EvThom 102, vgl. Lk 16,21) und Pferden (EvThom 47,1-2) ebenso wie von Raben (Q 12,24), Wölfen (Joh 10,12) und Aasgeiern (Q 17,37). Auch von Pflanzen wie dem Feigenbaum (Mk 13,28 f.; Lk 13,6-9) und der Dattelpalme (EpJac NHC I 7,2338

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35), den Lilien (Q 12,27) oder sogar einzelnen Senf- (Mk 4,30-32) und Weizenkörnern (Joh 12,24; EpJac NHC I 8,10-27) ist die Rede. Eine detaillierte Auflistung der unterschiedlichen Lebensbereiche nach Motiven findet sich in einer Tabelle im Anhang (S. 1003 ff.). Die Art der Bezugnahme ist sehr unterschiedlich. Teilweise scheint mit einem Stichwort wie z. B. dem »Dieb« (Q 12,39 f.; Agr 45) bereits ein ganzer Vorstellungsbereich vor Augen gestellt, teilweise werden Einzelheiten bis hinein zu inneren Monologen (Lk 15,17-19) oder mehrstufigen Handlungsverläufen (Mt 20,1-16) über längere Zeiträume hinweg (Q 19,12-26) erzählt. Zum Teil werden einzelne, scheinbar nebensächliche Details hervorgehoben wie die Lampen/Fackeln beim Hochzeitszug (Mt 25,1-13), das Abfüllen des neuen Weins (Mk 2,22), die Tischordnung von Gästen (Lk 14,7-11) oder das Verhalten des Lohnhirten bei der Schafhaltung (Joh 10,12 f.). Häufig geht es um Grundlegendes einer bestimmten Handlung (Aufstellen der Lampe Q 11,33; Hausbau Q 6,47-49; Aussaat Mk 4,3-20; Festeinladung Mt 22,1-14). Die reale Lebenswelt kann anhand des vorhandenen Materials freilich nur näherungsweise ermittelt und rekonstruiert werden. Wie bei einem Mosaik kann man Einzelinformationen unterschiedlicher Quellen zu einem Gesamtbild zusammensetzen, das aber in den meisten Fällen doch ein Fragment bleiben muss. Ferner muss man reflektieren, dass viele antike Texte gerade entgegen ihrer eigenen Intention und Funktion hinsichtlich ihres historischen Informationsgehalts ausgewertet werden. Diese nur literarisch und damit deutend-tendenziell vermittelte Information darf folglich nicht 1:1 mit der realen Lebenswelt gleichgesetzt werden. Wird aus einzelnen Parabeln erst eine Lebenswelt zur Deutung anderer Parabeln abgeleitet, kann es zu hermeneutischen Zirkelschlüssen kommen (dazu Ostmeyer 2011). Im Kompendium wird versucht, anhand des vorhandenen Quellenmaterials möglichst konkret Einzelaspekte des Erzählten zu erhellen, die dann zum »bildspendenden Bereich« für die Parabel werden können. Da der bei der metaphorischen Interaktion vollzogene Selektions- und Übertragungsprozess jedoch letztlich durch das interpretierende Subjekt vollzogen werden muss, werden bei diesem Auslegungsschritt mehr Hintergründe und Verstehensangebote geliefert, als in der zusammenfassenden Auslegung nutzbar gemacht werden können. Auf diese Weise wird es den Rezipienten ermöglicht, auch andere, eigene Zuordnungen zu vollziehen.

3.2.4 Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Die Analyse des ›bildspendenden Bereichs‹ ist nur eine Voraussetzung für eine solide Beurteilung des Sinnfindungsprozesses. Die zweite ist die Erhebung von geprägten Metaphern und Symbolen, die innerhalb der Sprachgemeinschaft des Urchristentums geläufig waren und die maßgeblich auf ein Verständnis von Parabel-Texten eingewirkt haben können. Während A. Jülicher und noch L. Schottroff die Existenz von solchen Prägungen als allegorisiernde Überformung der Gleichnistexte leugneten, halte ich es für unabdingbar, gerade auch die Einbettung von Übertragungsphänomenen in sprachliche Konventionen und Traditionen zu eruieren. Damit ist eine gewisse »Rehabilitierung der Allegorie« (so schon Gadamer 6 1990, 39

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76 ff.) zum Ausdruck gebracht, womit eines der letzten großen Verdikte der Jülicher-Tradition angetastet wird. Anders als die allegorische Auslegungstradition etwa der Alten Kirche, die z. B. in den beiden Denaren des Samariters die Sakramente erkannte, d. h. eine völlig freie Sinnzuschreibung an Textelemente vollzog, soll die Konvention von Übertragungen jedoch methodisch kontrollierbar bleiben, um der Gefahr einer ›wilden‹ oder auch ›willkürlichen‹ Allegorisierung entgegenzutreten. Es wird allerdings auch nicht zu bestreiten sein, dass innerhalb der Konvention einer Sprachgemeinschaft Tiefensinn an einzelnen Semantemen haftet, für jeden Teilnehmer dieser Kulturgruppe sofort evident ist, auch wenn er nicht unmittelbar textlich zum Ausdruck gebracht wird. So ist z. B. in unserem gegenwärtigen Kulturkreis die »Rose« als Liebessymbol erkennbar, oder das »Kreuz« kann als christliches Grundsymbol wahrgenommen werden, ohne dass deutliche Transfersignale auf Textebene beigefügt werden müssen. Entsprechend gibt es einzelne Motive, die innerhalb der jüdisch-christlichen Sprachgemeinschaft des 1. Jh. n. Chr. kaum ohne Tiefensinn verwendet werden konnten, man denke z. B. an den »Weinberg«, der auf Israel hindeutet, oder an das »Haus (Gottes)« als Hinweis auf den Tempel. Am deutlichsten können solche konventionalisierten Übertragungsphänomene bei stehenden Metaphernfeldern nachgewiesen werden. In Anknüpfung an die Theorie von H. Weinrich, soll hierbei von »Bildfeldern« gesprochen werden, bei denen eine traditionelle Kopplung von Sinnbereichen nachweisbar ist (Weinrich 1976, 276-290; dazu auch R. Zimmermann 2001, 41-44). Eine Sprachgemeinschaft kann bestimmte semantische Bereiche immer wieder aufeinander beziehen, so dass auch Metaphern-Neubildungen in diesem Horizont sofort einsichtig und verständlich sind. Ein Beispiel aus der gegenwärtigen Sprachwelt kann dies verdeutlichen: So gibt es derzeit das Bildfeld von »GeldWasser«, bei dem der komplexe Bereich des Geldwesens immer wieder auf Phänomene des Wassers abgebildet wird. Entsprechend entstehen Einzelmetaphern wie »Geldquelle«, »ich bin liquide«, die »Geldhähne wurden zugedreht«. Auch aktuelle Neubildungen, wie etwa die »Überschwemmung mit Studiengebühren«, können vor dem Hintergrund des bekannten Bildfelds sofort sinnvoll eingeordnet werden. Übertragen auf die Parabeltexte besagt dies: Die in den urchristlichen Texten angelegten metaphorischen Zuordnungen sind in Bildfelder eingebunden, die es zu erheben gilt – und, das ist im Vergleich zur freien Allegorisierung ein entscheidender Unterschied, die auch mit einiger Wahrscheinlichkeit erhoben werden können. So zeigen sich z. B. zum Hirten innerhalb der Schriften Israels klar erkennbare Koppelungen von semantischen Bereichen, die es erlauben, Bildfelder wie die des »Königs-Hirten« (2Sam 5,2; Ps 78,70-72), des »JHWH-Hirten« (Jes 40,10 f.; Ps 23,1; Ps 80,2) oder des »Messias-Hirten« (Ez 34,11-22; PsSal 17,32) zu benennen (vgl. dazu R. Zimmermann 2004b, 101-106). Wird nun innerhalb einer Parabel von einem Hirten erzählt (Q 15,4-7; Joh 10,1-5), dann ist es wahrscheinlich, dass sowohl Jesus als Urheber der Erzählung als auch seine Hörer(innen) sofort ein entsprechendes Bildfeld ins Bewusstsein bringen. Entsprechendes gilt, wenn etwa vom Vater (Lk 15,11-32), vom Richter (Lk 18,1-8) oder vom König (Mt 18,23-35; Mt 22,1-14) die Rede ist, womit klassische Gottesmetaphern der jüdischen Tradition in Erinnerung gerufen werden (man denke etwa an die JHWH-Königs-Psalmen). Ob und in welcher Notwendigkeit im einzelnen Text tatsächlich dieses Bildfeld abgerufen werden soll, lässt sich freilich nicht exakt bestimmen. Als Faustregel kann folgendes Wechselverhältnis gelten: Je stärker die konventiona40

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lisierte Festlegung einer stehenden Metapher, desto geringer können die Textsignale sein, die auf eine solche Übertragung hindeuten und umgekehrt. Auf der anderen Seite muss diese Festschreibung im Sinne der hier im Kompendium intendierten Deutungsoffenheit (s. u.) auch gar nicht erfolgen. Entscheidend ist zunächst nur, dass der Leser und die Leserin auf mögliche antike bzw. präziser im jüdischchristlichen Raum geprägte Bildfelder hingewiesen wird, die Verstehensvoraussetzung sein können. Dabei wird versucht, wiederum möglichst weit auszugreifen und Sprachkonventionen neben dem Urchristentum selbst aus unterschiedlichen Traditionsbereichen, sei es des Alten Testaments und Frühjudentums, des rabb. Judentums oder auch der griech. Sprachwelt einzuholen.

3.2.5 Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) In der zusammenfassenden Auslegung sollen die Linien aus den vorgenannten Analyseschritten zusammengeführt werden, um zu einer bzw. mehreren kohärenten Gesamtdeutungen zu gelangen. Viele Exegeten sehen ihre Aufgabe darin, eindeutige, zwingende Auslegungen vorzustellen. Nicht selten werden diese aufgrund philologischer oder historischer Argumentation als die einzig möglichen Verstehenswege präsentiert. Das vorliegende Kompendium möchte hier bewusst einen neuen Weg versuchen. Abgesehen davon, dass schon erkenntnistheoretisch und hermeneutisch betrachtet historische Eindeutigkeit ein uneinholbares Ideal bleibt, ist es vor allem bei den hier verhandelten bildlichen Texten eine Fehleinschätzung zu glauben, dass es eine interpretatio sancta geben könne. Es ist m. E. sogar eine bewusste Missachtung der in Parabeln selbst gegebenen Textform, wenn man eine solche allgemein verbindliche Auslegung suggerieren würde. Es war vor allem die Einsicht der phänomenologischen Hermeneutik etwa von H.-G. Gadamer (Gadamer 6 1990), die das Postulat eines objektiven Verstehens ad absurdum führte und stattdessen die intentionale Bezogenheit zwischen Rezipienten und Verstehensgegenstand herausarbeitete. Die gerade innerhalb exegetischer Arbeiten dominante Suche nach der historischen Ursprungssituation muss nicht nur aufgrund geschichtstheoretischer Rahmenbedingungen auf einen relativen Rekonstruktionsversuch beschränkt bleiben, sie reduziert auch die Sinnpotenziale eines Textes in unbefriedigender Weise auf einen Horizont der Vergangenheit, worauf schon Gadamer hingewiesen hatte: »Der Sinnhorizont des Verstehens kann sich weder durch das, was der Verfasser ursprünglich im Sinn hatte, schlechthin begrenzen lassen, noch durch den Horizont des Adressaten, für den der Text ursprünglich geschrieben war.« (Gadamer 6 1990, 398). Gilt diese Einsicht prinzipiell für jeden historischen Text, so muss die Gegenwartsbezogenheit der Sinnstiftung umso mehr bei biblischen Texten im Bewusstsein sein, die mit der Erwartung gelesen (und auch wissenschaftlich erforscht) werden dürfen, theologische Bedeutung für aktuelle Lebensfragen zu stiften. Neben diese hermeneutische tritt auch eine literarische Notwendigkeit zur polyvalenten Deutung. So hatte der Literaturwissenschaftler Peter Szondi das Fehlen von Eindeutigkeit z. B. in Celans Texten als Strukturelement gewürdigt: »Die Ambiguität ist nicht Mangel noch bloßes Stilmittel, sondern die Struktur des poetischen Textes selbst« (Szondi 1978, 374). Ästhetische Hermeneutik ist für Szondi gerade dadurch gekennzeichnet, dass »sie den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdi41

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gung, die der Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst macht«. (Szondi 1975, 13). Was hier sehr allgemein für poetisch-ästhetische Texte formuliert wird, lässt sich bei bildlich-metaphorischen Textformen zuspitzen. Sprachbilder besitzen eine »offene Sinndynamik« (dazu R. Zimmermann 2000a, 25-35). Es entspricht also genuin der Form metaphorischer Texte und im Besonderen auch der Parabeln, dass sie polyvalent ausgelegt werden müssen, will man ihre sprachliche Gestalt ernst nehmen. Diese Einsicht hat weit reichende Konsequenzen für Methode und Ziel der Auslegung. So wäre es verfehlt, die Gleichnisse in begriffliche Sprache zu übersetzen oder aus ihnen theologische Fundamentalsätze ableiten zu wollen. Auch die Zuspitzung auf ein allgemeines ethisches Prinzip (so Jülicher) oder eine bestimmte historische Situation im Rahmen der Wirksamkeit Jesu (so Dodd, Jeremias) gingen fehl. Dem metaphorischen und appellativen Charakter der Parabeln entspricht es vielmehr, dass die Parabeln nicht nur auf eine (historisch mehr oder weniger rekonstruierbare) Leserschaft ausgerichtet sind, sondern jeden Lesenden immer wieder neu in einen Verstehensprozess hineinziehen. Die Beteiligung des Auslegers am Verstehensprozess (vgl. Harnisch 1999a, 59 f.) wird insofern noch radikalisiert, als sie nicht auf den Fachexegeten oder die Fachexegetin beschränkt bleibt, sondern auf jeden Leser und jede Leserin ausgeweitet wird. Es wäre vermessen, wenn Exegeten oder sonstige z. B. kirchliche Instanzen vorschreiben wollten, wie ein biblischer Text verstanden werden muss. Was Jesus und die urchristlichen Autoren bewusst in der Uneindeutigkeit bildlicher Sprache formuliert haben, sollte von keinem Exegeten auf das Prokrustesbett von univoker, eindeutiger Sprache gepresst werden. Bildersprache folgt gerade nicht den Gesetzen der Definitionslogik. Die Auslegungen im vorliegenden Kompendium wollen in der Nennung unterschiedlicher Deutungsvarianten diesem Spezifikum der Gleichnisrede Rechnung tragen. Die Aufgabe des Exegeten oder der Exegetin besteht also vorrangig darin, mögliche Verstehenswege aufzuzeigen, die die Lesenden dann selbst gehen müssen, um zu einer Sinnstiftung, zu einem persönlichen Verstehen, ja zum Glaubens- und Lebensgewinn zu gelangen. Die Bejahung der Polyvalenz in der Auslegung von Gleichnissen hatte zuerst Mary Ann Tolbert in ihrer Arbeit »Perspectives on the Parables. An Approach to Multiple Interpretations« (Tolbert 1979) reflektiert. Sie hat dabei zeigen können, dass die Offenheit der Interpretation durch sprachliche Form, Kontext und Interpreten gleichermaßen bedingt wie begrenzt werden. Insbesondere in der englisch-sprachigen Gleichnisexegese wurde die Mehrdeutigkeit forthin reflektiert und positiv gewürdigt (vgl. »polyvalence in parable interpretation« bei Crossan 1980, 102; Shillington 1997, 17 f.). Gleichwohl darf diese Offenheit der Interpretation nicht mit Beliebigkeit oder postmodernem Verstehensverlust verwechselt werden. Ein treffendes Bild für diese Spannung aus Offenheit und Begrenzung hat Erwin Straus mit der Metapher des »Spielraums« eingeführt (Straus 2 1978, 274 ff., dazu auch R. Zimmermann 2000a, 25 f.). Man kann klare Grenzen des Spielfeldes benennen, jenseits derer kein Spiel mehr möglich ist, der Ball ins »Aus« geht. Bezogen auf unseren Gegenstand heißt das, es gibt klare Grenzen des Verstehens, die z. B. durch philologische Eindeutigkeit oder historische Plausibilität markiert werden und jenseits derer man von einem »Missverstehen« sprechen muss. Innerhalb dieser Grenzen ist allerdings ein recht freies Spiel an Interpretationsmöglichkeiten gegeben. Sinnstiftung und Auslegungen vollziehen sich nicht in den Bahnen monokausaler Erklä42

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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen

rungswege. Der Spielraum des Verstehens kann somit als ein Feld zwischen Offenheit und Verbindlichkeit benannt werden. Diese leserorientierte Grundoffenheit anzuerkennen ist aber nicht nur eine hermeneutische Pflicht oder erkenntnistheoretische Last. Sie birgt auch Chancen. Denn nur so bleiben die Parabeln auch für neue kreative Interpretationen offen. Nur so kann der »tote Buchstabe« immer wieder neu zu einem »lebendigen Wort Gottes« werden. Die Auslegungen wollen in dieser Hinsicht als Einladungen an die Lesenden verstanden werden, selbst einzutreten in den Interpretationsvorgang. Die Vielfalt und Offenheit der Deutungsmöglichkeiten kann erst im Lesevorgang des einzelnen Lesers und der einzelnen Leserin zur Eindeutigkeit einer individuellen Interpretation verarbeitet werden. Denn Sinn kann nur je individuell, je kontextuell gefunden werden. Wenn das Kompendium als Orientierung oder gar Katalysator zu dieser individuellen Sinnstiftung durch die Gleichnisse Jesu beiträgt, dann hat es schon seinen Zweck erfüllt.

3.2.6 Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parabeln Jesu wurden gelesen, sie wurden zu verstehen versucht, ihre Sinnpotenziale wurden in unterschiedlichen Kontexten und Situationen zur Entfaltung gebracht. Bereits im Urchristentum lässt sich dieser Prozess nachweisen, wenn eine Parabel mehrfach in unterschiedlichen Quellen überliefert ist. Hans Weder hatte m. W. als Erster die »Wirkungsgeschichte« der Gleichnisse in den Blick genommen und versteht darunter »nicht nur die (nachkanonische) Geschichte der Wirkung neutestamentlicher Texte (…), sondern überhaupt die Geschichte eines Sprachereignisses von seinem Ursprung bis zur Gegenwart des Auslegers.« (Weder 4 1990, 73). Doch während Weder die wirkungsgeschichtliche Fragestellung »aus technischen Gründen auf den Bereich vom historischen Jesus bis zum Ende der synoptischen Tradition« (a. a. O., 74) beschränkt, soll im vorliegenden Kompendium gerade die umgekehrte diachrone Perspektive leitend sein. Vom Beginn der synoptischen Tradition an, konkret mit der Logienquelle bzw. Markus beginnend, bis zu den literarischen Zeugnissen im Thomasevangelium und der apokryphen Gleichnisüberlieferung (ähnlich Liebenberg 2001). Auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie (dazu unter Q-Einleitung) kann man annehmen, dass Parabeln aus der Logienquelle Q und aus dem Markusevangelium von Mt und Lk aufgenommen wurden, auch wenn teilweise nur Doppelbezeugung vorhanden ist (z. B. Brot der Hunde in Mk 7,27 f. und Mt 15,26 f.). Ferner gibt es parallele Überlieferungen zwischen Mk und der Logienquelle, etwa bei den Parabeln vom »Licht auf dem Leuchter« (Q 11,33//Mk 4,21) oder vom »Senfkorn« (Q 13,18 f.//Mk 4,30-32). Auch die parallelen Überlieferungen zwischen der synoptischen Tradition und Johannes gilt es zu beachten (Q 6,40//Joh 13,16; Q 10,22//Joh 5,19 f.). Schließlich finden sich auch im Thomasevangelium viele Parabeln des Neuen Testaments, zum Teil mit großer Übereinstimmung (z. B. Q 6,43-45//EvThom 45; Q 10,2//EvThom 73; Mt 13,24-30//EvThom 57), zum Teil mit markanten Abweichungen (z. B. Mt 13,47-50//EvThom 8; Q 15,4-7// EvThom 107). Einige Parallelen sind auch zu Parabeln in den Agrapha festzustellen (Q 12,39 f.//Agr 45; Mt 7,6//Agr 165). Innerhalb der Mehrfachbezeugung zeigt sich ein Interpretations- und Applikationsvorgang, der durch die kontextuelle Anordnung in der jeweiligen Schrift, durch Einleitungen und Kommentare, aber auch durch Eingriffe in den Text erzeugt wurde. 43

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Die mehrfach überlieferten Parabeln werden bis auf wenige Ausnahmen nur einmal ausführlich besprochen. Dabei war meist eine diachrone Vorentscheidung für die Zuordnung zu einem Quellenbereich ausschlaggebend. In einigen schwer zu entscheidenden Fällen (z. B. Senfkorn-Parabel) spielte auch die sprachliche Ausgestaltung bei der Zuordnung eine Rolle. Um den urchristlichen Rezeptions- und Transformationsprozess sichtbar zu machen, werden unter dem hier genannten Gliederungspunkt (Parallelüberlieferung) die anderen Bezeugungen vielfach auch mit eigener Übersetzung aufgeführt und kurz besprochen. Dabei sind allerdings nicht Paradigmen der früheren Literar- und Redaktionskritik leitend, etwa in dem Sinne, dass eine (implizit) wertende Analyse der Abweichung und Veränderung durchgeführt wird. Vielmehr geht es darum, kontextuelle Bedeutungsverschiebungen zu benennen, die als Ausdruck eines urchristlichen Relecture- bzw. Applikationsprozesses zu würdigen sind. Die schon in den ersten Jahrzehnten innerhalb urchristlicher Überlieferung sichtbar werdenden Bedeutungspotenziale der Jesusparabeln haben dann innerhalb einer nahezu 2000jährigen Rezeptionsgeschichte gewirkt. Die Parabeln wurden hierbei je neu gelesen und auf unterschiedlichste Weise verstanden, so dass ihre Sinnpotenziale in neuen Kontexten immer wieder entfaltet und zur Geltung gebracht oder gar in innovativkreativer Weise entdeckt werden konnten. Dieser Prozess der Wirkung und des Verstehens dauert bis in die Gegenwart hinein an. Die Vielfalt der unterschiedlichen Wirkungen kann bei den einzelnen Auslegungen nur sehr selektiv zur Darstellung gebracht werden. Teilweise werden größere Leitlinien der Rezeption aufgezeigt, teilweise sollen gerade auch verschüttete Details in Erinnerung gerufen werden. Teilweise werden Verarbeitungen des Parabelstoffes innerhalb der Literatur-, Kunst- oder Musik-Geschichte benannt. Wieder andere Autor(inn)en versuchen Sinn- und Applikationsmöglichkeiten in gegenwärtigen Verstehenskontexten aufzuzeigen, was dann sogar zu Impulsen für den praktisch-theologischen Diskurs führen kann. Die Offenheit in diesem Punkt kann gerade auch – ähnlich wie bei den Deutungshorizonten – als Einladung verstanden werden, als Leserin oder Leser selbst in den Interpretations- und Verstehensprozess der Parabeln mit einzusteigen.

3.2.7 Literatur zum Weiterlesen Die Auslegungen schließen mit einigen Literaturhinweisen. Hierbei werden je nach Umfang und Bedeutung des Textes bzw. der Auslegung ca. 3 bis 15 weiterführende Titel genannt. Die nicht von den jeweiligen Auslegern, sondern von den Bereichsherausgeber(innen)n verantworteten Angaben führen die einschlägige und monographische Literatur zu einem Text auf, ebenso neuere (auch englisch-sprachige) Sekundärliteratur. Zusammen mit Veröffentlichungen zu interessanten Einzelaspekten bieten sie interessierten Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, auch jenseits des Kompendiums dem Sinn der Gleichnisse weiter nachzuspüren. Die von den einzelnen Autorinnen und Autoren herangezogene und abgekürzt zitierte Literatur (jeweils Autor, Erscheinungsjahr und Seitenzahl) bleibt aber nicht auf diese Titel beschränkt, sondern wird in einem abschließenden Gesamtliteraturverzeichnis mit vollständiger Bibliographie aufgeführt.

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Allgemeine Literaturhinweise zu den Gleichnissen Jesu

Die Hin- bzw. Einführung, oder sagen wir besser: Einladung zu den Gleichnissen Jesu und den im Folgenden gebotenen Auslegungen ist nun hinreichend geleistet. Wer sich der Mühe unterzogen hat, durch diese Leseanleitung an die Gleichnisse Jesu heranzutreten, dem- oder derjenigen kann in Abwandlung des Botenworts aus dem GastmahlGleichnis (vgl. Lk 14,17) nur noch zugerufen werden: Lest, denn es ist alles bereit!

Allgemeine Literaturhinweise zu den Gleichnissen Jesu F. H. Borsch, Many Things in Parables: Extravagant Stories of New Community, Philadelphia 1988. J. R. Donahue, The Gospel in Parable: Metaphor, Narrative, and Theology in the Synoptic Gospels, Philadelphia 1988. B. H. Young, Jesus and his Jewish Parables. Rediscovering the roots of Jesus’ Teaching, Mahwah 1989. B. B. Scott, Hear Then the Parable: A Commentary on the Parables of Jesus, Philadelphia 1989. E. Rau, Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, FRLANT 149, Göttingen 1990. C. L. Blomberg, Interpreting the Parables, Downers Grove 1990 (dt. Übersetzung: Die Gleichnisse Jesu. Ihre Interpretation in Theorie und Praxis, TVG Bibelwissenschaftliche Monographien 3, Wuppertal 1998). B. Heininger, Metaphorik, Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergutgleichnissen bei Lukas, NTA.NF 24, Münster 1991. C. W. Hedrick, Parables as Poetic Fictions: The Creative Voice of Jesus, Peabody 1994. W. R. Herzog, Parables as Subversive Speech: Jesus as Pedagogue of the Oppressed, Louisville 1994. C. Kähler, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie. Versuch eines integrativen Zugangs zum kommunikativen Aspekt von Gleichnissen Jesu, WUNT 78, Tübingen 1995. A. Parker, Painfully Clear: The Parables of Jesus, The Biblical Seminar 37, Sheffield 1996. H.-J. Meurer, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Paul Ricœurs Hermeneutik der Gleichniserzählungen Jesu im Horizont des Symbols ›Gottesherrschaft/Reich Gottes‹, BBB 111, Bodenheim 1997. V. G. Shillington (Hg.), Jesus and His Parables. Interpreting the Parables of Jesus Today, Edinburgh 1997. J. T. Tucker, Example Stories. Perspectives on Four Parables in the Gospel of Luke, JSNT.S 162, Sheffield 1998. B. H. Young, The Parables: Jewish Tradition and Christian Interpretation, Peabody 1998. D. McBride, The Parables of Jesus, Missouri 1999. K. Erlemann, Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB 2093, Tübingen 1999. U. Mell (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu. 1899-1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher, BZNW 103, Berlin/New York 1999. D. Massa, Verstehensbedingungen von Gleichnissen. Prozesse und Voraussetzungen der Rezeption aus kognitiver Sicht, TANZ 31, Tübingen/Basel 2000. Greg W. Forbes, God of Old: The Role of the Lukan Parables in the Purpose of Luke’s Gospel, JSNT.S 198, Sheffield 2000. A. J. Hultgren, The Parables of Jesus. A Commentary, Cambridge 2000. R. N. Longenecker (Hg.), The Challenge of Jesus’ Parables, Grand Rapids 2000.

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I. Parabeln in der Logienquelle Q

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Einleitung Wer Q unter den Schriften des neutestamentlichen Kanons vergeblich sucht, hat einerseits Recht, andererseits vielleicht aber auch nur nicht gründlich genug gesucht, denn wenn es die sog. Logienquelle gegeben hat – wovon die neutestamentliche Wissenschaft heute mehrheitlich und mit guten Gründen ausgeht –, dann lässt sie sich wohl nirgendwo anders mehr finden als hier. Im Gegensatz zu anderen frühchristlichen Schriften handelt es sich bei Q nämlich nicht um einen durch überlieferte Manuskripte oder um einen durch externe Erwähnungen belegten Text, sondern um eine Hypothese der Forschung im Rahmen eines Gedankenexperiments, das ursprünglich eine mögliche Lösung für ein ganz anderes Problem darstellen sollte:

Das sog. »Synoptische Problem« Wenn man die drei Evangelien des Markus, des Matthäus und des Lukas aufmerksam liest und vergleicht, wird man auffallende, zum Teil sogar wortwörtliche Übereinstimmungen, aber ebenso markante Unterschiede feststellen und damit auf die sog. »Synoptische Frage« stoßen, wie diese drei Evangelien literarisch miteinander zusammenhängen – eine Frage, die bereits die neutestamentliche Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigte. In der Folge wurden unterschiedlichste Hypothesen zur Lösung dieses synoptischen Problems aufgestellt, von denen allerdings keine hinlänglich zu befriedigen vermochte. Der forschungsgeschichtliche Durchbruch in dieser Frage gelang erst Christian Hermann Weiße, der in seiner 1838 erschienenen zweibändigen Untersuchung »Die evangelische Geschichte« die sog. Zwei-Quellen-Theorie begründete, die sich seitdem v. a. durch die Arbeiten Heinrich Julius Holtzmanns (»Die synoptischen Evangelien«, 1863) und Paul Wernles (»Die synoptische Frage«, 1899) weithin durchgesetzt hat und in ihrer klassischen Form von folgenden Grundannahmen ausgeht: 1) das Markusevangelium ist das älteste der drei synoptischen Evangelien und wurde von Matthäus und Lukas als literarische Vorlage und Quelle benutzt (= Hypothese der Markuspriorität zur Erklärung des literarischen Befundes, dass Matthäus und Lukas in dem mit Markus gemeinsamen Stoff weitgehend übereinstimmen); 2) über Markus hinaus haben Matthäus und Lukas unabhängig voneinander noch eine weitere gemeinsame Quelle benutzt, die selbst zwar nicht erhalten ist, aber aus den beiden Evangelien noch rekonstruiert werden kann; diese bestand offenbar überwiegend aus Sprüchen und Reden Jesu (= Hypothese der Existenz einer verloren gegangenen Logien- bzw. Spruchquelle [seit Wernle mit Q = Quelle bezeichnet] zur Erklärung der Matthäus und Lukas gemeinsamen, nicht-markinischen Stoffe im Umfang von ca. 4000 Wörtern); 3) hinzu kommt das jeweilige Sondergut bei Matthäus und Lukas (= Hypothese zusätzlicher mündlicher Traditionsbereiche zur Erklärung der jeweils nur bei Matthäus oder Lukas vorfindlichen Stoffe). Allerdings bleiben auch unter Voraussetzung der Zwei-Quellen-Theorie manche Textphänomene unerklärt:

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Parabeln in der Logienquelle Q

1) Was ist mit den sowohl von Matthäus als auch von Lukas ausgelassenen Markustexten, deren Fehlen sich nicht durch gezielte redaktionelle Tätigkeit der Seitenreferenten erklären lässt, wie z. B. die Parabel von der selbstwachsenden Saat in Mk 4,26-29? (Problem des Sonderguts bei Markus) 2) Wie erklären sich die über den gesamten verarbeiteten Markusstoff verteilten zahlreichen kleineren wörtlichen Übereinstimmungen, die Matthäus und Lukas gemeinsam gegen Markus aufweisen (ca. 700 gemeinsame Änderungen, Zusätze und Auslassungen)? (Problem der sog. »minor agreements«) 3) Wie kommt es bei Matthäus und Lukas zu den z. T. erheblichen Unterschieden in Wortlaut und Abfolge des gemeinsamen Stoffes aus der Logienquelle? Diesen kritischen Anfragen versucht sich die Zwei-Quellen-Theorie heute oft in modifizierter Form zu stellen, indem sie neben der verloren gegangenen Logienquelle Q drei weitere nicht mehr erhaltene Quellenschriften postuliert, einen vom kanonischen Markusevangelium abweichenden Deuteromarkus (Dt-Mk) sowie eine Fassung der Logienquelle, die Matthäus und Lukas in jeweils unterschiedlichen Versionen vorlag:

Schematische Darstellung der Zwei-Quellen-Theorie

Auch wenn die modifizierte Zwei-Quellen-Theorie letztlich eine Hypothese bleiben muss, stellt sie doch nach wie vor die beste Lösung für das oben genannte synoptische Problem dar, »die mit dem geringsten Schwierigkeitsgrad die meisten Phänome erklärt« (Schnelle 5 2005, 219). Daher lohnt es, von diesem Ansatz her weiter zu denken und die Q zugewiesenen Stoffe aus Matthäus und Lukas einmal als vermutlich frühe Form eigenständiger Jesus-Überlieferung wahrzunehmen.

Auf der Suche nach den »Worten Jesu« Zusammen mit der Zwei-Quellen-Theorie war die Hypothese einer selbst zwar nicht mehr erhaltenen, aber durch Vergleich des Matthäus- und Lukasevangeliums rekonstruierbaren Logienquelle Q geboren, die die Forschung anfänglich ungemein beflügelte, glaubte man doch, mit dieser literarisch älteren Tradition auch dem historischen Jesus näher zu kommen. So war Christian Hermann Weiße davon überzeugt, »daß der Gewinn eines vollständigen Charakterbildes des Herrn, das heißt … einer Erkenntniß seines Wissens, seines Wollens und seines Vermögens, ausreichend, uns den geschichtlichen Aufschluß über die Erfolge seines Thuns und seines Leidens zu gewähren, allein aus dem uns geschichtlich überlieferten Material seiner Reden und Lehraussprüche allerdings zu entnehmen ist« (Weiße 1856, 98 f.). Auch Adolf von Harnack vertrat die Auffassung, 50

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Einleitung

durch die Logienquelle lasse sich ein historisch zuverlässiges Bild von der Verkündigung Jesu gewinnen: »Sie (= die Logienquelle, G. K.) bietet die Gewähr für das, was in der Verkündigung Jesu die Hauptsache ist: die Gotteserkenntnis und die Moral zu Buße und Glauben, zum Verzicht auf die Welt und zum Gewinn des Himmels – nichts anderes« (Harnack 1907, 173). Solche hochgespannten Erwartungen wurden in der Folge allerdings durch die Ergebnisse der Q-Forschung gedämpft; an ihre Stelle trat die Einsicht, dass – sofern es die Logienquelle als eigene schriftliche Form der Jesusüberlieferung in griechischer Sprache gegeben hat – wir es hier stattdessen mit einem zweiten, frühen theologischen Entwurf neben dem Markusevangelium zu tun haben, dessen literarischer Charakter und theologischer Eigenwert innerhalb der Erinnerungs- und Tradierungsprozesse des Urchristentums eigens zu würdigen sind (zuerst Tödt 1959 [5 1984]; dann Lührmann 1969 u. a.). Dieser christentumsgeschichtliche Quellenwert erklärt das gegenwärtig wachsende Interesse an Q in der europäischen und nordamerikanischen Forschung. Wird Q in ersterer vor allem von prophetisch-apokalyptischen Voraussetzungen her gedeutet (Steck 1967; Hoffmann 1972 [3 1982]; Sato 1988), so betont man in letzterer den weisheitlichen Charakter von Q (J. M. Robinson 1971; Kloppenborg 1987a) oder postuliert sogar eine Nähe zum Kynismus (Downing 1988; Mack 1993; Vaage 1995). – Wie kommt es zu einer solchen Vielfalt an Lesarten von Q?

Probleme bei der Rekonstruktion von Q Die präzise Rekonstruktion von Q aus den durch das Matthäus- und Lukasevangelium vorgegebenen Texten, wie sie seit Adolf von Harnack (»Sprüche und Reden Jesu«, 1907) immer wieder versucht und zuletzt im Jahr 2000 als kritische Edition vom »International Q Project« um James M. Robinson, Paul Hoffmann und John S. Kloppenborg vorgelegt worden ist, steht aufgrund des vorgegebenen Materials allerdings vor größeren Problemen, als es die scheinbar so leichte »Formel« der Zwei-Quellen-Theorie (Q = »gemeinsamer Nicht-Mk-Stoff bei Mt und Lk«) auf den ersten Blick glauben macht: a) Der ursprüngliche Wortlaut von Q lässt sich nur schwer ermitteln. Da sich nicht alle Textdifferenzen zwischen Matthäus und Lukas auf die redaktionelle Tätigkeit der Evangelisten zurückführen lassen, muss man also entweder mit der möglichen Beeinflussung der Texte durch mündliche Tradition rechnen oder aber im Sinne der modifizierten Zwei-Quellen-Theorie davon ausgehen, dass die Logienquelle den beiden Evangelisten in zwei leicht voneinander abweichenden Fassungen QMt und QLk vorlag (s. o.). Andererseits muss man sich bewusst machen, dass es sich bei dem Prozess der Verarbeitung von Q durch Matthäus und Lukas »nicht um die Abschrift, sondern um die Einarbeitung eines Dokumentes in zwei andere Entwürfe« handelt (Schröter 2001, 95). Deutlich wird dies am Umgang der beiden Evangelisten mit dem Markusevangelium als der nächstliegenden Analogie: »Der Versuch, Mk aus Mt und Lk zu rekonstruieren, würde unweigerlich zu einem Text führen, der in erheblicher Weise von demjenigen abweicht, den wir aus den Manuskripten des MkEv erheben und in dem charakteristische Merkmale, etwa des mk Stils oder seiner Terminologie, nicht mehr erkennbar wären« (ebd.).

51

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Parabeln in der Logienquelle Q

b) Die Frage nach der ursprünglichen Anordnung des Q-Stoffes. Mehrheitlicher Konsens besteht innerhalb der Q-Forschung heute darin, dass Lukas die Reihenfolge der Q-Stoffe oft besser bewahrt hat als Matthäus. Während dieser nämlich die ihm vorliegenden Quellen vor allem unter systematischen Gesichtspunkten miteinander verknüpft und in sein Evangelium eingeordnet hat, scheint Lukas das aus Q stammende Material sowie sein Sondergut im Wesentlichen in zwei Blöcke zusammengefasst und in den Erzählfaden des Markusevangeliums integriert zu haben. Dementsprechend hat sich innerhalb der Q-Forschung die Zählung nach Lukas weitgehend durchgesetzt, was insofern allerdings nicht unproblematisch ist, als damit der Eindruck erweckt wird, Q sei ein vorliegender und damit »zitierbarer« Text. c) Der ursprüngliche Umfang von Q lässt sich nur annähernd bestimmen. Gemäß der Zwei-Quellen-Theorie können zwar jene Stellen als relativ sichere Bestandteile von Q veranschlagt werden, in denen Matthäus und Lukas über Markus hinaus miteinander übereinstimmen, aber ob Q darüber hinaus nicht eventuell noch weiteres Material beinhaltete, das vielleicht entweder nur von Matthäus oder nur von Lukas aufgenommen worden ist und nun in der Regel dem jeweiligen Sondergut zugerechnet wird, oder aber Stoffe bot, die keiner der beiden Evangelisten übernommen hat (ähnlich dem Phänomen des Mk-Sondergutes) und die damit gänzlich verloren sind, muss eine offene Frage bleiben. Umstritten in ihrer Zugehörigkeit zu Q sind ferner Texte, die zwar einen ähnlichen Grundbestand aufweisen, bei Matthäus und Lukas aber in erheblich divergierenden Fassungen erzählt werden (vgl. z. B. die matthäische und lukanische Fassung der Parabel vom Gastmahl [Mt 22,1-14; Lk 14,16-24] oder von den anvertrauten Geldern [Mt 25,14-30; Lk 19,11-27]). Grundsätzliche methodische Probleme hinsichtlich der Auswahlkriterien für mögliche Q-Stoffe wirft schließlich auch die Frage nach dem Verhältnis von Q zu Markus oder gar zu Johannes auf, die sich angesichts einiger gemeinsamer Überlieferungen stellt (vgl. z. B. Q 13,18 f./Mk 4,30b-32 bzw. Q 6,40/Joh 15,20; Q 10,22/Joh 5,19), in der Regel allerdings durch die Annahme gemeinsamer mündlicher Tradition erklärt wird. So ist das aus der Zwei-Quellen-Theorie resultierende Verfahren, den ursprünglichen Bestand von Q auf das zu begrenzen, was sich im Rückschluss durch gemeinsame Aufnahme bei Matthäus und Lukas einer gemeinsamen Quelle neben Markus zuweisen lässt, zwar im Sinne methodischer Kontrolliertheit die einzig mögliche Herangehensweise, führt aber andererseits – und das lässt sich im Rahmen dieses Modells nicht vermeiden – zwangsläufig zu einem minimalistischen Ergebnis. Gegenüber allzu weit reichenden literarkritischen Thesen über die Entstehungsgeschichte der Logienquelle, wie sie innerhalb der Q-Forschung verschiedentlich vorgebracht wurden (vgl. z. B. das Drei-Schichten-Modell von John S. Kloppenborg Verbin [1987a, zuletzt 2000]), ist aufgrund der genannten Schwierigkeiten daher methodisch Zurückhaltung geboten.

Literarisches Profil von Q Ohne Kenntnis der Gesamtbeschaffenheit der Quelle ist die Frage nach der Gattung von Q letztlich nicht zu beantworten (vgl. die Diskussion bei Schnelle 5 2005, 231 f.). Für eine lose »Spruchsammlung« in Analogie zu dem immer wieder herangezogenen Mischna52

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Einleitung

Traktat Avot (Av), einer Aneinanderreihung von Aussprüchen der Rabbinen, oder zu dem 1945 in Nag Hammadi/Oberägypten entdeckten koptischen Thomas-Evangelium (EvThom), das sich als Sammlung der »verborgenen Worte« des »lebendigen Jesus« gibt (EvThom 1), weist die Q zugeschriebene Wortüberlieferung Jesu zu starke redaktionellkompositorische Züge auf (vgl. Q 6,20-49). Gleichzeitig bindet sie diese Überlieferungen szenisch durch implizite Erinnerungen an das Verhältnis Jesu zum Täufer, an Orte seiner Wirksamkeit sowie sein Verhältnis zu Nachfolgern und Ablehnenden an einen biographischen Deutungsrahmen zurück. Neben den Worten Jesu zeigt Q zudem auch Interesse an der Verkündigung Johannes des Täufers (Q 3,7-9.16b-17; 7,18 f.). Eine eindeutige Gattungszuweisung wird ferner durch das Vorhandensein einiger narrativer Elemente in Q erschwert (die Versuchungsgeschichte Q 4,1-13; eine Exorzismusszene Q 11,14; die Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum Q 7,1.3.6b-9.10). Diese weisen zwar über den Charakter einer reinen Redequelle hinaus, reichen aber kaum aus, um Q als »Erzählung« zu erfassen. Für ein »Evangelium« im literarischen Sinn fehlt Q (vermutlich) eine Passions- und Auferstehungsgeschichte, obgleich ihr das Passionskeryma offensichtlich bekannt war (vgl. Q 13,34 f.; 14,27; Jülicher klassifizierte die Logienquelle daher als »Halbevangelium«). Andererseits: Folgt man der Abfolge des Q zugewiesenen Materials nach Lk, zeigt sich dennoch ein sinnvoller Spannungsbogen, der mit Johannes dem Täufer beginnt und bis zur Rede Jesu von den letzten Dingen und der Ankündigung des Gerichts verläuft und damit diese Quelle als sorgfältige Komposition erweist. Q verfolgt also im Blick auf die Leserinnen und Leser ein Ziel, aber welches? Dass Tod und Auferstehung Jesu in Q – soweit erkennbar – kein Thema sind, heißt nicht, dass sie es nicht für Q sind; Q liegt an der Identität des Irdischen mit dem Erhöhten (vgl. Q 7,34; 9,58; 17,24.26). Allerdings schreibt Q im Gegensatz zu den bekannten Evangelien nicht auf Ostern hin, sondern von Ostern her. Auf der literarischen Ebene bleibt der Blick streng in die nachösterliche Zukunft gerichtet, deren alles bestimmendes Vorzeichen durch das Prinzip der Stoffanordnung unmissverständlich deutlich wird: Die eröffnende Proklamation ist die des kommenden Zornes (Q 3,7-9.16 f.), und auch das Schlusswort in Q gilt dem Gericht (Q 22,28.30). Das dort gefällte Urteil wird sich unmittelbar auf die Stellung zu Jesus und seine Botschaft gründen (Q 12,8 f.). Eben weil der irdische und der kommende Menschensohn identisch sind und sich die Botschaft nicht von ihrem Sprecher trennen lässt, kommt Jesu Worten somit höchste eschatologische Relevanz zu, entscheidet sich doch an ihnen für jede/n Einzelne/n Gericht oder Heil. Dieser Hintergrund könnte den literarischen Befund erklären, warum Q sich nicht damit aufhält, über Jesu Geburt und seine Eltern oder sein Leben als Wundertäter zu berichten sowie über die Umstände seines Todes, die Entdeckung des leeren Grabes oder Erscheinungen des Auferstandenen. Q will nicht über Jesus berichten, sondern Zuhörerinnen und Leser in die unmittelbare Konfrontation mit Jesus und seiner Botschaft führen, die jeden Einzelnen nicht ohne bewusste Positionierung und damit Entscheidung für oder gegen Jesus entlässt. In diesem Sinne scheint auch die in der neueren Q-Forschung aufgekommene Bezeichnung »Spruchevangelium« für Q nicht unangemessen. Im Ringen um die Adressaten muss Q Überzeugungsarbeit leisten, und dies tut sie: konzeptionell durch die vollständige Ausrichtung auf den »weisenden Jesus« (Schnelle 5 2005, 237), sprachlich durch den gezielten und massiven Einsatz einer bestimmten Sprachform – den Parabeln. 53

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Parabeln in der Logienquelle Q

Parabeln in Q Folgende Übersicht bietet – in Anlehnung an die Studienausgabe von Hoffmann und Heil (2002, 14 f.) – einen Überblick über die Struktur des in Q enthaltenen Materials. Die kursiv hinzugefügten Passagen verdeutlichen Anteil und Platzierung des Parabel-Gutes: A.

Gericht

Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth (Q 3,2-7,35) Die Gerichtsbotschaft des Johannes (Q 3,2b-17) Taufe und Bewährung Jesu (Q 3,21 f.; 4,1-13) Jesu programmatische Rede (Q 4,16; 6,20-49) Blinder Blindenführer (Q 6,39) Schüler und Lehrer (Q 6,40) Splitter und Balken (Q 6,41 f.) Der Baum wird an seiner Frucht erkannt (Q 6,43-45) Auf Fels oder Sand gebaut (Q 6,47-49) Der Glaube eines Heiden an Jesu Wort (Q 7,1-10) Johannes, Jesus und die Kinder der Weisheit (Q 7,18-35) Diese Generation und die Kinder der Weisheit (Q 7,31-35) B.

Die Boten des Menschensohnes (Q 9,57-11,13) Radikale Nachfolge (Q 9,57-60) Missionsinstruktion (Q 10,2-16) Arbeiter für die Ernte (Q 10,2) Das Geheimnis des Sohnes (Q 10,21-24) Alles ist dem Sohn übergeben (Q 10,22) Das Gebet der Jünger (Q 11,2b-4.9-13) Den Bittenden wird gegeben (Q 11,9-13) C.

Nachfolge

Jesus im Konflikt mit dieser Generation (Q 11,14-52) Zurückweisung des Beelzebul-Vorwurfs (Q 11,14-26) Spaltung von Gemeinschaft (Q 11,14-20) Die Rückkehr des unreinen Geistes (Q 11,24-26) Die Ablehnung der Zeichenforderung (Q 11,16.29-35) Die Lampe auf dem Leuchter (Q 11,33) Das Licht in dir (Q 11,34 f.) Androhung des Gerichts (Q 11,39-52) D.

Israel

54

Die Jünger in Erwartung des Menschensohnes (Q 12,2-13,21) Bekenntnis zu Jesus ohne Furcht (Q 12,2-12) Sucht die Königsherrschaft Gottes (Q 12,33 f.22b-31) Sorgt euch nicht (Q 12,24.26-28) Das unerwartete Kommen des Menschensohnes (Q 12,39-46.49-59) Der Menschensohn kommt wie ein Dieb (Q 12,39 f.) Der treue oder treulose Sklave (Q 12,42-46) Beurteilung der Zeit (Q 12,54-56)

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Einleitung Außergerichtliche Einigung (Q 12,58 f.) Die Königsherrschaft Gottes (Q 13,18-21) Das Senfkorn (Q 13,18 f.) Der Sauerteig (Q 13,20 f.) E.

F.

G.

Die Krisis Israels (Q 13,24-14,23) Die enge Tür (Q 13,24-27) Vom Gastmahl (Q 14,16-18.?19 f.?21.23)

Die Jünger in der Nachfolge Jesu (Q 14,26-17,21) Fades Salz (Q 14,34 f.) Gott oder Mammon (Q 16,13) Das verlorene Schaf (Q 15,4-5a.7)

Das Ende (Q 17,23-22,30) Der Tag des Menschensohnes (Q 17,23-37) Wo das Aas, dort die Geier (Q 17,37) Mitgenommen oder zurückgelassen (Q 17,34 f.) Vom anvertrauten Geld (Q 19,12-26) Ihr werdet die zwölf Stämme Israels richten (Q 22,28.30)

Neben einer konzentrischen Komposition, die durch die Rahmenthemen (»Gericht« – »Nachfolge« – »Israel«) hindurch ganz auf die Gegenwart der Jüngerinnen und Jünger Jesu in Erwartung des Menschensohnes und auf die Ansage der anbrechenden Gottesherrschaft fokussiert, fällt der überaus häufige Gebrauch von Parabeln auf, die sich in allen Abschnitten finden, und zwar oftmals in exponierter Stellung zu Beginn oder am Ende eines Sinnabschnitts, teilweise in mehrfacher Reihung. Wenn auch das Wort parabolffi (parabole¯ – Parabel) als Gattungsbezeichnung – soweit erkennbar – nirgends begegnet, scheint Q dennoch gezielt diese Sprachform gewählt zu haben, um vom Reich Gottes (Q 13,18 f.; 13,20 f.) und der Fürsorge Gottes (Q 11,9-13; 12,22b-31; 15,4-5a.7), vor allem aber von der Bewährung der Gläubigen in ethischer und eschatologischer Perspektive zu reden (s. u.).

Die didaktisch-rhetorische Funktion der Parabeln in Q Der Bewahrung der Lehre Jesu auf der inhaltlichen Ebene entspricht in Q auf der kompositionellen Ebene ein didaktisches Engagement, das in immer neuen Anläufen versucht, die Botschaft an die Lebens- und Vorstellungswelt der Adressatinnen und Adressaten anzuknüpfen und sie so für sich zu gewinnen. Ohne selbst alltäglich zu sein, spricht Q doch mithilfe der Parabeln mitten in den Alltag der Menschen hinein und setzt durch die verwendete Bildersprache sowohl kognitive als auch affektive Denk- und Lernprozesse in Gang: »By appealing to the imagination, parables make a deep impression on the reader« (Fleddermann 2005, 95; vgl. Valantasis 2005, 192: »That is probably why Jesus spoke in parables – to make us think.«). Dabei können die Parabeln sowohl zur Einführung und Einstimmung in ein Thema (z. B. Q 10,2) als auch zur Illustrierung und Ver55

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Parabeln in der Logienquelle Q

stärkung im Anschluss an eine Aussage dienen (z. B. Q 6,47-49; vgl. Fleddermann 2005, 95: »The author often sets parables at strategic points«). Zu Recht beschreibt J. G. Williams die Funktion der Parabeln in Q daher als rhetorische Form der »intensification« (1988, 85). Auch J. S. Kloppenborg weist ihnen im Kontext von Q bestimmte leserlenkende Aufgaben zu: als »concluding ›witness‹«, »illustration« oder als »an initial story which the subsequent argument develops« (1995, 318). Immer nämlich profitiert Q unmittelbar von der den Bildern innewohnenden Plausibilität und Überzeugungskraft, die gleichzeitig eine erste gemeinsame Basis mit den Adressaten und damit eine notwendige Voraussetzung für gelingende Kommunikation schafft: eine stillschweigende Übereinkunft auf der Ebene des bildspendenden Vorstellungsbereichs. Doch ist darin die Funktion der Parabeln in Q noch längst nicht erschöpft (gegen C. Heil 2001, 652.658).

Die legitimatorische Funktion der Parabeln in Q Wenn Jesus in Q Parabeln erzählt, so steht er damit traditionsgeschichtlich in Kontinuität zu den Propheten und Weisheitslehrern Israels (vgl. Q 11,49-51), die ihrerseits nicht müde wurden, das Volk durch eindringliche Bilder und Erzählungen zu mahnen und zu bewegen (z. B. 2 Sam 12,1-7; Jes 5,1-7; 28,23-29; Ez 17,2-10; 21,5; Am 3,3-8; Hi 14,7-10; Spr 6,6-8; vgl. Seybold 1999, 12-14; zum lU5m5-Begriff [ma¯scha¯l] Schöpflin 2002). Zusammen mit der Bewahrung der Täufer-Tradition macht Q durch den gezielten Gebrauch der Parabeln also auch formal deutlich, wie die Verkündigung Jesu einzuordnen ist, nämlich als das letzte Glied in der Kette einer langen und von Gott her legitimierten Tradition: Das, was hier gesagt wird, beansprucht höchste Autorität.

Die antizipatorische Funktion der Parabeln in Q Angesichts der Erwartung des nahenden Gerichts verwundert es nicht, dass die weitaus meisten Parabeln in Q sich thematisch mit der Bewährung der Gläubigen sowohl in ethischer als auch eschatologischer Perspektive auseinandersetzen. Ein auffälliges Kompositionsprinzip dieser Parabeln ist die Kontrastierung, bei der jeweils ein gutes und richtiges Verhalten einem schlechten und verwerflichen gegenübergestellt wird (Q 6,47-49; 12,4246; 17,34 f.; 19,12 f.15-24.26). Während jedoch die positive Option manchmal nur vage angedeutet bleibt und lediglich in Form rhetorischer Fragen (Q 6,39; 12,54-56) oder negativer Konstatierungen eingeholt wird (Q 6,40; 6,43-45; 11,33; 16,13), widmet sich die narrative Entfaltung in den Parabeln mit Vorliebe der Inszenierung negativer Verhaltensmuster und der daraus resultierenden »Katastrophen« (Q 7,31-35; 11,24-26; 12,39 f.; 12,58 f.; 13,24-27). Selbst »unmögliche Möglichkeiten« werden zum Teil in kleinen Sequenzen erzählerisch durchgespielt (Q 6,41 f.; 11,34 f.; 14,34 f.; 16,13). Immer wieder erleben die Leserinnen und Leser von Q auf diese Weise Geschichten des Scheiterns hautnah mit und werden so innerhalb der Parabeln zu unmittelbaren Zeugen des Gerichts, das seine Schatten schon in die erzählte Welt hineinwirft. Wozu aber sollte Q negative Beispiele vor Augen malen, wenn nicht als drastische Warnung und implizite Aufforderung, den Ernst der Stunde zu erkennen und daraus zu lernen und es besser zu machen?

56

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Einleitung

Die appellative Funktion der Parabeln in Q Jesu Worte spalten (Q 11,23; 12,51.53; 17,34 f.), und so entlassen auch die meisten Parabeln in Q ihre Zuhörerinnen und Zuhörer nicht ohne eine bewusste Positionierung. Dabei gelingt es Q auf unterschiedliche Weise, die Adressaten aus der passiven Zuhörerrolle zu locken und sie direkt in die Geschichten der Parabeln zu involvieren, z. B. durch Fragen (Q 6,39; 6,41 f.; 6,44; 7,31; 11,11 f.; 12,23-29; 12,56; 13,18; 13,20; 14,34; 15,4) oder Imperative (Q 10,2: »Bittet!«; 11,9: »Bittet! Sucht! Klopft an!«; 12,24.27.29.31: »Beobachtet! Lernt! Sorgt euch nicht! Sucht!«; 12,40: »Seid bereit!«; 13,24: »Tretet ein!«), die die Leserinnen und Leser durch die Parabel hindurch scheinbar unvermittelt ansprechen und immer wieder deutlich machen: Du bist gemeint! Die von Q intendierte Entscheidung für oder gegen die Botschaft Jesu wird so nicht zuletzt auf der Ebene der Parabeln ausgetragen und findet dort statt, wo man sie vielleicht am wenigsten vermutet: Mitten im Vollzug des Hörens! Dass diese Parabeln auch nach knapp 2000 Jahren nichts von ihrer sprachlichen Kraft eingebüßt haben, mögen die folgenden Auslegungen deutlich machen.

Gabi Kern Literatur zum Weiterlesen in Auswahl Vorschläge zur Textrekonstruktion J. M. Robinson/P. Hoffmann/J. S. Kloppenborg (Hg.), The Critical Edition of Q. Synopsis including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German, and French translations of Q and Thomas, Hermeneia, Minneapolis/Leuven 2000 (diese Ausgabe liegt den folgenden Auslegungen zugrunde). P. Hoffmann/C. Heil (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe. Griechisch und Deutsch, Darmstadt/Leuven 2002. J. M. Robinson/P. Hoffmann/J. S. Kloppenborg (Hg.), Documenta Q. Reconstructions of Q through two centuries of Gospel research, excerpted, sorted, and evaluated, Leuven 1996.

Kommentare und Monographien D. Burkett, Rethinking the Gospel Sources, Volume 2: The Unity and Plurality of Q, Society of Biblical Literature Early Christianity and Its Literature 1, Atlanta 2009. R. A. Derrenbecker Jr., Ancient Compositional Practices and the Synoptic Problem, BEThL 186, Leuven 2005. H. T. Fleddermann, Q. A reconstruction and commentary, Biblical tools and studies 1, Leuven u. a. 2005. M. S. Goodacre, The case against Q. Studies in Markan priority and the synoptic problem, Harrisburg, Pa. 2002. M. S. Goodacre/N. Perrin (Hg.), Questioning Q. A multidimensional critique, London 2004. B. H. Gregg, The historical Jesus and the final judgment sayings in Q, WUNT II/207, Tübingen 2006. G. Harb, Die eschatologische Rede des Spruchevangeliums Q. Redaktions- und traditionsgeschichtliche Studien zu Q 17, 23-37, Biblical Tools and Studies 19, Leuven u. a. 2014.

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Parabeln in der Logienquelle Q

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Speziell zu Parabeln in Q C. Heil, Beobachtungen zur theologischen Dimension der Gleichnisrede Jesu in Q, in: A. Lindemann (Hg.), The sayings source Q and the historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 649-659. J. S. Kloppenborg, Jesus and the Parables of Jesus in Q, in: R. A. Piper (Hg.), The gospel behind the gospels. Current Studies on Q, NT.S 75, Leiden u. a. 1995, 275-319. M. Labahn, Das Reich Gottes und seine performativen Abbildungen. Gleichnisse, Parabeln und Bilder als Handlungsmodelle im Dokument Q, in: R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen 2 2011, 259-282. J. Liebenberg, The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin/New York 2001. D. T. Roth/R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q. FS D. Zeller, WUNT 315, Tübingen 2014, darin: – P. Foster, The Q Parables. Their Extent and Function, 255-285; – D. T. Roth, »Master« as Character in the Q Parables, 371-396; – R. Zimmermann, Metaphorology and Narratology in Q Exegesis. Literary Methodology as an Aid to Understanding the Q Text, 3-30. R. Uro, Apocalyptic Symbolism and Social Identity in Q, in: ders. (Hg.), Symbols and Strata. Essays on the Sayings Gospel Q, Göttingen 1996, 67-118. J. G. Williams, Parable and Chreia. From Q to Narrative Gospel, Semeia 43 (1988), 85-114.

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Tabelle der Q-Texte Nr.

Q-Faden

Titel

1

Q 6,39

Absturzgefahr (Vom Blinden als Blindenführer)

2

3

4

5 6 7

8

9 10

11

12

13

14

Parallelstellen

Mt 15,14; Lk 6,39; EvThom 34 Q 6,40 Größenwahn?! Mt 10,24-25a; (Vom Schüler und Lehrer) Lk 6,40; Joh 13,16; 15,20 Q 6,41 f. Die Behebung einer Sehschwäche Mt 7,3-5; (Vom Splitter und dem Balken) Lk 6,41 f.; EvThom 26 (P.Oxy. 1) Q 6,43-45 Von den Früchten des Baumes und Mt 7,16-20; 12,33dem Sprechen des Herzens 35; (Vom Baum und seinen Früchten) Lk 6,43-45; EvThom 45 Q 6,47-49 »Einstürzende Neubauten« Mt 7,24-27; (Hausbau auf Felsen oder Sand) Lk 6,47-49 Q 7,31-35 Vom misslingenden Spiel Mt 11,16-19; (Von den spielenden Kindern) Lk 7,31-35 Q 10,2 Folgenreiche Bitte! Mt 9,37 f.; (Arbeiter für die Ernte) Lk 10,2; EvThom 73 Q 10,22 Der Meisterschüler Gottes (Mt 11,27; (Von der Lehre des Sohnes) Lk 10,22;) Joh 5,19-23; 8,35 Q 11,9-13 Bitten lohnt sich Mt 7,7-11; (Vom bittenden Kind) Lk 11,9-13 Q 11,14-20 Zoff bei Beelzebuls Mk 3,22-26; (Beelzebulgleichnis) Mt 12,22-28; Lk 11,14-20 Q 11,24-26 Füllt den Raum aus – es kommt sonst Mt 12,43-45; noch schlimmer! Lk 11,24-26 (Beelzebulgleichnis) Q 11,33 Lieber eine Leuchte als ein unschein- Mk 4,21; bares Licht Mt 5,15; (Die Lampe auf dem Leuchter / Vom Lk 8,16; 11,33; Licht auf dem Leuchter) EvThom 33,2 f. Q 11,34 f. Das Auge als Lampe des Körpers Mt 6,22 f.; (Vom Auge als des Leibes Licht) Lk 11,34-36; EvThom 24 Q 12,24.26-28 Vertrauen in die Sorge Gottes Mt 6,26.28-30; (Sorgt euch nicht) Lk 12,24.26-28; EvThom 36,1-4 (P.Oxy. 655); Agr 124

Fundort im Kompendium Q 6,39

Q 6,40

Q 6,41 f.

Q 6,43-45

Q 6,47-49 Q 7,31-35 Q 10,2 (vgl. Joh 4,3538) Joh 5,19-23

Q 11,9-13 Mk 3,22-26

Q 11,24-26

Q 11,33

Q 11,34 f. (vgl. EvThom 24) Q 12,24.26-28

59

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Parabeln in der Logienquelle Q Nr.

Q-Faden

Titel

Parallelstellen

15

Q 12,39 f.

Achtung Menschensohn! (Vom Dieb)

16

Q 12,42-46

17

Q 12,54-56

Es ist stets höchste Zeit (Vom treuen und untreuen Haushalter) Wetterregeln (Von der Beurteilung der Zeit)

Mt 24,43 f.; Lk 12,39 f.; EvThom 21,5; vgl. Agr 45 Mt 24,45-51; Lk 12,42-46

18

Q 12,58 f.

19

Q 13,18 f.

20

Q 13,20 f.

Gott knetet nicht (Vom Sauerteig)

21

Q 13,24-27

Tretet ein! (Von der verschlossenen Tür)

22

Q 14,16-23

Verheißung für alle Völker (Von der königlichen Hochzeit)

23

Q 14,34 f.

24

Q 15,4-5a.7

25

Q 16,13

26

Q 17,34 f.

27

Q 17,37

28

Q 19,12 f.1524.26

60

Forderung zu außergerichtlicher Einigung (Der Gang zum Richter) Mehr Hoffnung wagen (Vom Senfkorn)

Q 12,42-46

Mt 16,2 f.; Lk 12,54-56; EvThom 91 Mt 5,25 f.; Lk 12,58 f.

Q 12,54-56

Mk 4,30-32; (Mt 13,31 f.; Lk 13,18 f.;) EvThom 20 Mt 13,33; Lk 13,20 f.; EvThom 96 Mt 7,13 f.; 7,22 f.; 25,10-12; Lk 13,24-27 Mt 22,1-14;

Mk 4,30-32

Von der Schwierigkeit zu teilen (Das große Abendmahl) Vom Wirken des Salzes (Vom Salz)

Lk 14,12-24; EvThom 64 Mk 9,49 f.; Mt 5,13; Lk 14,34 f. Neunundneunzig sind nicht genug! Mt 18,12-14; (Vom verlorenen Schaf) Lk 15,1-7; EvThom 107 Über die Notwendigkeit ungeteilter Mt 6,24; Leidenschaft Lk 16,13; (Vom Doppeldienst) EvThom 47,1 f. Die plötzliche Alternative mitten im Mt 24,40 f.; Alltag Lk 17,34 f.; (Mitgenommen oder zurückgelassen) EvThom 61,1 Schnell und unausweichlich (Vom Aas und den Geiern) Gewinnen oder Verlieren (Von den anvertrauten Geldern)

Fundort im Kompendium Q 12,39 f. (vgl. Agr 45)

Mt 24,28; Lk 17,37 Mk 13,34; Mt 25,14-30; Lk 19,12-27

Q 12,58 f.

Q 13,20 f.

Q 13,24-27

Mt 22,1-14;

Lk 14,12-24 Q 14,34 f.

Q 15,4-5a.7

Q 16,13

Q 17,34 (vgl. EvThom 61) Q 17,37 Q 19,12 f.1524.26

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Absturzgefahr (Vom Blinden als Blindenführer) Q 6,39 (Mt 15,14 / Lk 6,39 / EvThom 34) Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen?

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Fast unscheinbar wirkt diese kleine Parabel im Vergleich mit den großen Erzählungen jener Gattung sonst im Neuen Testament. Ja, sie erzählt nicht einmal, sondern stellt lediglich zwei Fragen. Doch gerade so aktiviert sie und nimmt die Leserin und den Leser in die Pflicht: Von ihrer Zustimmung hängt es ab, ob aus den beiden Fragen im Vollzug des Lesens unausgesprochen eine plausible Parabel werden kann, für deren Evidenz die Adressaten somit zugleich selbst bürgen. Das pointiert formulierte Wort vom blinden Blindenführer hat in der Logienquelle Q seinen Ort innerhalb einer längeren Rede Jesu an seine Jünger (vgl. Q 6,20) und leitet als erste bildhafte Wendung im Munde Jesu überhaupt eine sich daran anschließende Reihe weiterer Parabeln ein (Q 6,40.41 f.43-45.47-49). Hatte Jesus zuvor in Form von Seligpreisungen (Q 6,20-23) und Imperativen (Q 6,27 f.29 f.31.36) den Jüngern in eigentlicher Rede direkte Verhaltensregeln für das Leben in der Welt erteilt, so wechselt er nach dem Verbot zu richten (Q 6,37) überraschend in die Sprache der Bilder. An das allgemeine Alltags- und Erfahrungswissen anknüpfend, stellt er in antithetischer Symmetrie (Bovon 1989, 332) zwei schlichte rhetorische Fragen, deren erste durch die Fragepartikel mffiti (me¯ti – doch nicht etwa?) eine negative, die zweite aufgrund des o'cffl (ouchi – etwa nicht?) eine positive Antwort der Adressaten verlangt (Blass/Debrunner/ Rehkopf 18 2001, § 427,2). Dem inhaltlichen Motiv des Führens und Geführt-Werdens korrespondiert so auf sprachlicher Ebene eine starke Leserlenkung, die die Vielfalt und Ambivalenz lebensweltlicher Erfahrung auf einen Teilaspekt reduziert und so zu einer bestimmten Wahrnehmung führen will. Stimmt der Leser zu, eröffnet sich ihm eine kleine Erzählung, die mit nur wenigen Worten eine tragische, zeitlose Begebenheit inszeniert: Es geht um zwei Blinde (Ausgangslage), von denen der eine den anderen führen möchte (Handlung), so dass die beiden Personen innerhalb der Parabel trotz gleicher körperlicher Disposition zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit ihrer Blindheit verkörpern (vgl. die sprachlich markante Subjekt-Objekt-Gleichheit der ersten Frage; Fleddermann 2005, 717). Während der eine passiv in seiner Bedürftigkeit nach Wegweisung verharrt, ergreift der andere die Initiative und bietet sich als Führer an. Weil er aber dazu naturgemäß nicht in der Lage ist (eingeholtes Leserwissen), werden beide (⁄mfteroi amphoteroi) unweigerlich in eine Grube stürzen (noch ausstehende, aber innerhalb des Bildes scheinbar unausweichliche Handlungsfolge; ebenfalls eingeholtes Leserwissen). – Dass es dabei in der Lebenswelt blinder Menschen sehr wohl Fälle geben kann, in denen z. B. ein seit Geburt blinder Mensch einen neu Erblindeten erfolgreich zu führen vermag, und die Verunglückung beider nicht zwangsläufig den zu erwartenden Regelfall eines solchen Unterfangens darstellt, blendet 61

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Parabeln in der Logienquelle Q

das Logion aus und liefert damit ein erstes Signal, dass sein Sinn sich nicht auf der wörtlichen Ebene erschöpft (Rondez 2006, 142 f.; Valantasis 2005, 69). Gleichzeitig werden die Adressaten der Parabel durch das ihnen unterstellte Leserwissen implizit auf ihre eigene Sehfähigkeit hin angesprochen: Wie sonst sollten sie in der Lage sein, die ihnen auf der Bildebene vorgelegten Fragen mit dem Wissen um die möglichen Gefahren zu beantworten? Gegenüber den beiden Protagonisten der Parabel haben sie also einen deutlichen Vorsprung, so dass dieser Text allenfalls Irritation auslöst – warum erzählt man gerade ihnen diese Parabel? Für sich genommen ist Q 6,39 nicht mehr als ein offen formulierter Weisheitsspruch (Bovon 1989, 330; Bultmann 10 1995, 84.107), im Kontext der mahnenden Jüngerunterweisung aber und unter Berücksichtigung der semantischen Potenziale sowie des traditionellen Gebrauchs der hier verwendeten Begriffe (Blinder; führen; Grube; [s. u.]) eine Bildhandlung, die über den Text hinaus auf eine andere Wirklichkeit verweist.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Mit der Vorstellung von Blinden, die tastend ihren Weg suchen, greift die Parabel eine Szene aus dem alltäglichen Straßenbild der Antike auf, war doch Blindheit i. S. eines vollen Verlustes der Sehkraft, zumal in den südlichen Mittelmeerländern und im Vorderen Orient, ein weit verbreitetes Leiden. Neben einer Zurückführung auf Veranlagung, Vererbung und Alter galten als weitere mögliche Ursachen einer Erblindung auch Krankheiten, Gifte, Verletzungen, übermäßige Lichteinwirkung z. B. durch Blitz, Schnee- oder Sonnenblendung, aber auch ständige Dunkelheit, Kälte und Erschöpfung sowie übermäßiger Alkoholgenuss oder sonstige Ausschweifungen (Esser 2 1961, 7-24; Lesky 1954, 434 f.). Zu diesen organischen Ursachen traten psychosomatische Erklärungsmodelle, die z. B. maßloses Tränenvergießen aus Scham, Gram und Trauer, sowie akut einsetzende Affekte wie Aufregung und Zorn für Blindheit verantwortlich machten (Esser 2 1961, 24-30). Eine dritte häufige Ursache für Blindheit war ferner die gezielte Fremdeinwirkung durch Blendung, d. h. durch eine absichtlich herbeigeführte Zerstörung des Augapfels mithilfe mechanischer Mittel (z. B. im Kriegsfall; vgl. Ri 16,21; 2Kön 25,7 u. ö.), die mitunter sogar auf der Ebene der Strafjustiz im Rechtsgrundsatz der in der Antike allgemein verbreiteten Talion (»Auge um Auge«) angewandt wurde (Esser 2 1961, 36-74; Lesky 1954, 436-438; vgl. Ex 21,24; Lev 24,20; Dtn 19,21). Dass Blindheit schließlich auch als göttliche Strafe für die Sünde eines Menschen verstanden werden konnte, belegen die vielen Beispiele für Straferblindungen im Mythos (Esser 2 1961, 150-170; Lesky 1954, 438-440; vgl. Dtn 28,28 f.; Joh 9,2; Apg 13,11). Ausdruckslose Mimik und v. a. der unsichere und tappende Gang (vgl. Dtn 28,29; Jes 59,10; Klgl 4,14; Zeph 1,17) waren Hauptmerkmale der äußeren Erscheinung eines Blinden, der sich zwar mithilfe seines Hör- und Tastsinnes (ggf. in Form eines Stabes; vgl. Sophoc. Oed. R. 455 f.) vorantasten konnte, im Grunde aber auf fremde Führung (i. d. R. durch Verwandte; Sophoc. Oed. K. 21) angewiesen war (vgl. Sen. ep. 50,3: caeci … ducem quaerunt – »Blinde suchen … einen Führer«). Dass als Blindenführer nur Sehende in Frage kamen, war selbstverständliche Voraussetzung (Ar. Plut. 15: »… als Sehende nämlich führen wir die Blinden«; Jes 42,16: Gott selbst als Führer der Blinden). Eine anschau62

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Absturzgefahr Q 6,39

liche Beschreibung des Ganges von Blinden, die ihre Füße höher vom Boden heben als Sehende, um ein Stolpern zu vermeiden, und auf der Suche nach Orientierung instinktiv und vor-sichtig die tastenden Hände ausstrecken, bietet Lukian, wenn er in cal. 1 Blinde schildert als solche, »die, weil sie nicht sehen, was vor ihren Füßen liegt, alle Augenblicke an etwas anstoßen, dem sie hätten ausweichen sollen, oder weiter gehen, als sie gehen wollten: vor dem hingegen, was weit von ihnen ist, sich immer fürchten und besorgen, daß ihnen ein Leid dadurch geschehen möchte« (zitiert nach Wieland 1974, 267). Zusammen mit dem eingeschränkten Aktionsradius und der Einbuße an Selbstständigkeit entfiel für Blinde in der Antike auch ein großer Teil des menschlichen Gemeinschaftslebens: Besuche, Gastmähler, Festlichkeiten und Versammlungen waren seltener im Leben des Blinden (Esser 2 1961, 93). Vom Erwerbsleben weitgehend abgeschnitten und vom Priesterdienst (Lev 21,18) ausgeschlossen, drohte ihnen als zusätzliches Los nicht selten Verarmung und Verelendung (J. N. Neumann 2005, 68; vgl. Mk 10,46; Joh 9,8), so dass Blinde im Judentum hinsichtlich ihrer Stellung gar mit Toten verglichen wurden (Ned 64b; Jes 59,10; vgl. Sophoc. Oed. R. 1368). Allerdings standen sie unter dem besonderen Schutz des Gesetzes (Lev 19,14; Dtn 27,18; zum römischen Recht vgl. Esser 2 1961, 119-121), und Blinden zu helfen, galt als Verdienst (Hi 29,15; vgl. Ov. trist. 5,6,31; Ps-Phok 24). Heilung (z. B. durch Fischgalle, Tob 6,9) galt im Allgemeinen als unmöglich und war allenfalls als Wunderheilung vorstellbar (Schrage 1969, 273-275). Hatte nach alttestamentlicher Vorstellung Gott als Schöpfer und Richter die Blindheit selbst herbeigeführt (Ex 4,11), so war allein er es auch, der sie wieder aufheben konnte (zur Unfähigkeit anderer Mächte vgl. EpJer 36 [= Bar 6,36]; Joh 10,21) und in der zukünftigen Heilszeit die Blinden heilen würde (Jes 29,18; 35,5 u. ö.). Die zahlreichen Blindenheilungen Jesu (Mt 9,27-31; 12,22; 15,30 f.; 21,14; Mk 8,22-26; 10,46-52 par.; Lk 7,21) sind in diesem Horizont als Erfüllung messianischer Verheißungen und damit als Zeichen der angebrochenen Heilszeit verstehbar (vgl. Mt 11,1-6; Lk 4,16-21).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Blindheit im übertragenen Sinn: Fehlende »Durchsicht« und orientierungsloses Umherirren – die typischen Merkmale physischer Blindheit – finden sich ebenso in anderen Sinn- und Lebensbereichen des Menschseins, so dass dieses Bild schon in der Antike häufig zur Bezeichnung eines verminderten geistigen bzw. religiösen Erkenntnisvermögens oder der Fehleinschätzung einer Situation verwendet wurde (G. Schneider 1992, 903; Schrage 1969, 276-279). Blindheit konnte mit Unwissenheit (˝gnoia agnoia) geradezu gleichgesetzt werden, die nach Luc. cal. 1 »gleichsam eine Art Finsternis über die Dinge ausgießt, die Wahrheit verdunkelt und das Leben eines jeden überschattet. In Dunkelheit Umherirrenden gleichen wir alle, mehr noch: wie Blinden geht es uns …« (zitiert nach Ebner 1998, 324). Galt z. B. in der platonischen Philosophie als blind, wer das Gute, Schöne und Wahre nicht erkannte (Plato rep. 6,506C; 7,518C; Phaidr. 270E; Gorg. 479B), so in der Gnosis v. a. der unerlöste, durch die Welt verblendete Nicht-Gnostiker (vgl. EvPhil 56; EvThom 28). Doch auch äußere Mächte, die das Leben der Menschen auf unterschiedliche und unberechenbare Weise beeinflussten, konnten als blind vorgestellt werden, wie z. B. Reichtum, Liebe, Zufall oder Schicksal (Schrage 1969, 278). 63

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Parabeln in der Logienquelle Q

Auch die Bibel spricht von Blindheit (tufl@ typhlos) im übertragenen Sinn: So machen z. B. Bestechungsgeschenke blind für Unrecht (Ex 23,8; Dtn 16,19), geistige Verstockung ist gegenüber Gottes Reden und Handeln in der Geschichte blind (Jes 6,10; 29,9; 42,18 u. ö.) und wenn es in Ps 145,8 (LXX) von Gott heißt »Er macht die Blinden weise«, so macht diese Übersetzung das metaphorische Verständnis der Blindenheilung explizit und leitet bereits zum bildhaften Verständnis von Blindheit als Unkenntnis der Tora im antiken Judentum über (vgl. Billerbeck II 2 1924, 521 f.; Schrage 1969, 284 f.). Wenn aber nach jüdischer Vorstellung die Kenntnis der Schrift weise und sehend macht (Pred 2,14), verwundert es nicht, wenn der Stand der Schriftgelehrten und Pharisäer im Neuen Testament als derjenige erscheint, der nach seinem Selbstverständnis als allein maßgebende Instanz für Gesetzesinterpretation und Vermittlung von Wahrheit und Einsicht Führungsansprüche gegenüber dem blinden Volk in religiösen Fragen erhob (zur Bezeichnung als »Führer von Blinden« vgl. Röm 2,19; Mt 15,14; 23,16.24; Joh 9,39-41; Graber/Bayer 2005, 1654). Führung und Leitung: Das Motiv vom »Führer der Blinden« impliziert mit seiner Interaktionalität ein deutliches Kompetenzgefälle zwischen Führer und Geführtem und stellt so auf übertragener Ebene die Frage nach der Legitimität geistiger Führungsansprüche (Ebner 1998, 326). Dementsprechend häufig begegnet dieses Bild terminologisch im Kontext von Lern- und Erkenntnisprozessen: Nach Platon hat sich der schlechte Staat mit dem Reichtum einen »Blinden als Chorführer« gewählt; um Bildung (paideffla paideia) ist er nicht bemüht (rep. 8,554B). Horaz schreibt einem Freund: »Lerne (disce), was ein schlichter Freund meint, der selbst noch lernen muss (docendus). Es ist freilich, wie wenn ein Blinder sich als Wegführer anböte … (ut si caecus iter monstrare velit)« (ep. I 17,3 f.). Eine motivliche Zusammenstellung von Sturz und Unterweisung findet sich bei Plutarch, Ad principem ineruditum, 2: »Denn kein Fallender kann aufrichten noch ein Unwissender lehren (did€skein didaskein) …«; und geradezu definitorisch schließt Sextus Empiricus die Möglichkeit gelingenden Lernens (m€qhsi@ mathe¯sis) aus, wenn sowohl Lehrender (did€skwn didasko¯n) als auch Lernender (manq€nwn manthano¯n) inkompetent (˝tecno@ atechnos) sind. Das sei genauso unmöglich, »wie auch nicht ein Blinder einen Blinden führen kann« (Pyrr 3,259). Auch in Q 6,40 folgt mit dem Spruch vom Schüler, der nicht über seinem Lehrer steht, auf das Logion vom Blinden als Blindenführer eine Aussage über Chancen und Grenzen des Unterweisens und Lernens. Wenn man als geistigen Wegführer aber nicht an einen Geblendeten geraten möchte, dessen Wegweisung notwendigerweise zum Fall führt (Philo virt. 7), wem aus der Vielzahl der miteinander konkurrierenden Lehrer – denn eine solche Konfliktsituation scheint die Rede vom blinden Blindenführer vorauszusetzen (Valantasis 2005, 69 f.) – kann man sich dann noch blind anvertrauen? Wer kann führen? Bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der alttestamentlichen LXX-Belege von ¡dhge…n (hode¯gein – führen) ist es Gott selbst, dem das Führen der ihm anvertrauten Menschen zugeschrieben wird (vgl. Michaelis 1966, 103): Israel hat Gottes Führen im eigentlichen Sinn beim Auszug aus Ägypten erfahren (Ex 13,17; 15,13 u. ö.), in übertragenem Sinn bittet der fromme Psalmbeter um Gottes fürsorgliches Leiten in seinem persönlichen Leben (Ps 5,9; 22,3 u. ö.), zuweilen auch verbunden mit der Bitte um Führung i. S. von Lehre und Unterweisung in der Gerechtigkeit und im Glauben (Ps 25,5.9; 64

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Absturzgefahr Q 6,39

143,10; vgl. Joh 16,13; Apg 8,31). »Unfallfreies« Leben gelingt vor dem Hintergrund dieser Tradition also nur, wenn Einer führend vorangeht: Gott selbst (vgl. Jes 42,16). Das Bild vom Fall in die Grube: »Werden nicht beide in eine Grube fallen?«, fragt der Parabelerzähler. Warum wählt er gerade dieses Bild, wo er doch so viele andere mögliche Gefahren hätte nennen können (vgl. Jülicher II 2 1910, 50 f.)? Vermutlich steht auch hier alttestamentliches Denken im Hintergrund: Das Bild vom Sturz in die Grube begegnet neben weisheitlichen Kontexten (Spr 26,27; 28,10.18; Pred 10,8; Sir 27,26; vgl. Ps 7,16 u. ö.; Test Rub 2,9) v. a. in der Gerichtsprophetie (Jes 24,18; Jer 48,44) und spielt dort metaphorisch auf die Unausweichlichkeit des Gerichtes Gottes an (Bovon 1989, 333). Aufgrund sich überschneidender Bedeutungsfelder (Zisterne – Fallgrube) ist der Begriff Grube (bquno@ bothynos) deutungsoffen für unterschiedliche, allerdings durchweg negative Assoziationen (z. B. Gefängnis, Grab, Scheol; Kähler 1999, 81 f.). Blindheit, ganz gleich auf welchem Gebiet, kann also lebensgefährliche Auswirkungen haben, und so fordert der Erzähler schließlich auch mit dieser Bildwahl seine Adressaten dazu auf, nach dem tieferen Sinn der Parabel zu fragen.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Jesus ist nicht der einzige, in dessen Mund das Bild vom blinden Blindenführer begegnet (s. o.). Sogar von Buddha ist ein ähnlicher Ausspruch überliefert: »Denn welcher Weise möchte nach dem Glauben eines anderen wandeln, gleichsam ein Blinder, der in der Dunkelheit von einem Blinden geleitet wird?« (As´vaghos¸a, Buddhacaritam 9,64; zit. nach Esser 2 1961, 85 Anm. 308). Umso wichtiger ist es, bei der Auslegung den jeweiligen Kontext der Parabel wahrzunehmen. »Richtet nicht!« (Q 6,37) heißt es im vorausgehenden Vers der Logienquelle, an den sich im Folgenden eine Reihe von Bildworten anschließt, die die Jünger im gegenseitigen Umgang vor Überheblichkeit aufgrund vermeintlicher Überlegenheit warnen: Sind dabei die Parabeln vom blinden Blindenführer (Q 6,39) und vom Splitter und Balken (Q 6,41 f.) semantisch durch das Bildfeld »blind – Auge – sehen« miteinander verbunden, so verweist das dazwischen eingestreute Logion vom Schüler, der nicht über seinem Lehrer steht (Q 6,40), darauf, dass auch die beiden rahmenden Parabeln metaphorisch von geistigen Erkenntnisprozessen reden und in einen didaktischen Interpretationszusammenhang zu stellen sind. Im Streit um die legitime geistige Führerschaft sind dabei für Q 6,39 grundsätzlich mehrere Frontstellungen denkbar, von denen sich aber aufgrund des Kontextes der Jüngerunterweisung besonders die letzte Deutung nahe legt: a) Reaktion auf Polemik von außen, die Jesus seine geistige Führungskompetenz abspricht und die hier ihrer Absurdität mithilfe der Paradoxie der Parabel überführt wird: Wäre Jesus ein blinder Blindenführer, dann könnte er die ihm Nachfolgenden nicht so erfolgreich führen! (Ebner 1998, 340 f.); b) gemeindetheologische Polemik nach außen, die Jesus als den einzigen Lehrer im Gegensatz zu allen anderen propagiert (so v. a. bei Mt, s. u.), und als deren Kehrseite nach innen gewendet: c) innergemeindliche Konflikte um die gegenseitige Über- und Unterordnung der Gemeindeglieder unter Berufung auf vermeintliche Führungsansprüche (Bovon 1989, 332). Kein Jünger soll sich demnach selbstsicher über den anderen erheben, sich mit vermeintlichem Führungsanspruch ab65

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Parabeln in der Logienquelle Q

solut setzen und so vom Führer zum Verführer werden, der letztlich nicht nur sich selbst, sondern auch die ihm Nachfolgenden ins Verderben stürzt. – Resultiert aber aus einer solchen Mahnung nicht allzu leicht die gegenteilige Haltung, nämlich sich eingeschüchtert vorsichtshalber jeglicher Stellungnahme überhaupt zu enthalten, auch offenkundiges Unrecht mit Stillschweigen zu übergehen und damit der und dem Nächsten gegenüber letzten Endes genauso gleichgültig zu werden wie ein sich selbst absolut setzender Führer? Umso wichtiger scheint es mir hier deshalb zu sein, das dem Verbot zu richten seinerseits übergeordnete Logion in Q 6,36 zur Auslegung noch hinzuzuziehen: »Seid barmherzig, wie … euer Vater barmherzig ist.« Erst dieses Wissen um das allem vorausgehende Bejahtsein durch Gott macht auch uns ein barmherziges Richten möglich, das eben nicht mehr nur die Wahl hat zwischen Verurteilen oder Wegsehen: Weil wir alle aus derselben Barmherzigkeit Gottes leben (und eben nicht aus uns selbst), können wir es aushalten, uns durch die Parabel vom blinden Blindenführer in Frage stellen zu lassen, und werden gleichzeitig dazu befähigt, unter seiner Führung einander als Weggefährtinnen und Weggefährten in kritischer Solidarität, die eben gerade kein Aburteilen mehr ist, zu begegnen. So gelten uns letztlich beide Blinde aus der Parabel als Identifikationsfiguren, die uns die Augen öffnen: einerseits für unsere eigene Bedürftigkeit und Angewiesenheit auf sichere Wegweisung, andererseits für unsere konkrete Verantwortung füreinander.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Lukas übernimmt Wortlaut und Kontext der Parabel beinahe unverändert, leitet sie aber im Rahmen seiner sog. Feldrede (Lk 6,20-49) ausdrücklich als parabolffi (parabole¯ – Parabel) ein und lässt nicht nur die Jünger, sondern die ganze Volksmenge von ihr angesprochen sein (Lk 6,17-19; 7,1). Mit dieser Entschränkung des Geltungsbereichs geht bei Lukas im Kontext des gesamten Evangeliums eine neue Perspektive einher, nämlich das Sehend-Werden. Schon in den Blindenheilungen Jesu punktuell antizipiert, ist es der nachösterliche Auferstehungsglaube, der zunächst den Jüngern (Lk 24,31) und schließlich aller Welt (Apg 26,17 f.) die Augen öffnen wird und so aus falschen und fatalen Abhängigkeitsverhältnissen befreit. Mt 15,14 und EvThom 34 bieten beide die ursprünglich aus zwei rhetorischen Fragen bestehende Parabel in Form eines Konditionalsatzes. EvThom 34: Jesus spricht: Wenn ein Blinder einen Blinden führt, fallen sie beide hinunter in eine Grube. Im Thomas-Evangelium steht dieser Spruch im Kontext des hellen und wegweisenden Lichtes der Verkündigung (EvThom 33) und weist auf die Verhältnisbestimmung zwischen Gnostiker und Nicht-Gnostiker hin. Dieser ist blind, solange er den eigenen Lichtfunken nicht in sich erkennt (vgl. EvThom 28), und kann nur durch die Hinführung zur Gnosis vor dem Fall in den Machtbereich der Welt der Materie bewahrt werden (Fieger 1991, 125). Matthäus dagegen verwendet das Kritikpotenzial der Parabel erstmals explizit zur polemischen Abgrenzung nach außen. Im Kontext einer Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten um Fragen der Reinheit (Mt 14,34-15,39) spricht Jesus zu seinen Jüngern: 66

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Absturzgefahr Q 6,39

Mt 15,14: Lasst sie! Sie sind blinde Führer der Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, so werden beide in eine Grube fallen! Auch in den sog. Weherufen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23,13-36) begegnet der Vorwurf der Blindheit und des blinden Führertums durchgängig als Anklagemotiv (V. 16 f.19.24.26): Verfangen in der traditionellen Auslegung des Gesetzes sind jene blind für Gottes eigentlichen Willen, wie er sich in Christus offenbart (vgl. Röm 2,19; Luz 3 1999, 426). Allein durch Veränderung des Kontextes wird also bei Matthäus aus einem vermutlich ursprünglich der Gemeinde geltenden Mahnwort eine polemische Wendung, die polarisiert und Gruppenzugehörigkeiten markiert (zur Bedeutung des jeweiligen Kontextes einer Parabel vgl. Jeremias 11 1998, 37 f.). Während die patristische Exegese das Bild der Grube geistlich bis hin zu Höllenvorstellungen ausdeutete (Clem. Al. paid. I 3,9), finden sich in der weiteren Rezeptionsgeschichte der Parabel aber auch immer wieder Auslegungen, die in matthäischem Gefolge überkommene religiöse Traditionen kritisch in Frage stellen (so z. B. Martin Luther [1538], WA 38, 590,10-591,22, und Eugen Drewermann 1994, 339-354 – beide jeweils in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen römisch-katholischen Vergangenheit), sowie solche, die angesichts der Erfahrungen mit blinden Blindenführern in den Diktaturen des 20. Jh. die eigene Sprachlosigkeit und Ohnmacht thematisieren (Karl Barth 1933 [= 1998b], 287-295; bereits 1916 hatte Barth das Bild vom blinden Blindenführer im Zusammenhang mit der von ihm damals empfundenen eigenen Predigtnot gebraucht und auf sich selbst bezogen; ders. 1916 [= 1998a], 24 f.). Mit dem Gemälde »Der Blindensturz« des niederländischen Malers Pieter Brueghel d. Ä. (1568; heute: Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel) hat dieses Sprachbild schließlich auch Eingang in die darstellende Kunst gefunden.

Gabi Kern Literatur zum Weiterlesen M. Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, HBS 15, Freiburg i. Br. u. a. 1998, 316-345. A. Esser, Das Antlitz der Blindheit in der Antike. Die kulturellen und medizinhistorischen Ausstrahlungen des Blindenproblems in den antiken Quellen, Janus. Revue Internationale de l’Histoire des Sciences, de la Médicine, de la Pharmacie et de la Technique, Suppléments Volume 4, Leiden 2 1961. P. Hoffmann, Blinde Führer? Christliche Gemeindeleitung im Visier des Lukas, in: J. Verheyden/ G. Van Belle/J. G. van der Watt (Hg.), Miracles and Imagery in Luke and John. FS Ulrich Busse, BEThL 218, Leuven u. a. 2008, 1-33. D. Opatrny, The Figure of a Blind Man in the Light of the Papyrological Evidence, Bib. 91 (2010), 583-594. P. Rondez, Alltägliche Weisheit? Untersuchungen zum Erfahrungsbezug von Weisheitslogien in der Q-Tradition, AThANT 87, Zürich 2006, 132-158. L. E. Youngquist (Hg.), Documenta Q. Reconstructions of Q through Two Centuries of Gospel Research. Excerpted, Sorted, and Evaluated. Q 6:37-42: Not Judging; the Blind Leading the Blind; the Disciple and the Teacher; the Speck and the Beam, Leuven 2011.

67

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Größenwahn?! (Vom Schüler und Lehrer) Q 6,40 (Mt 10,24-25a / Lk 6,40 / Joh 13,16; 15,20) Ein Schüler ist nicht mehr als der Lehrer; es genügt für den Schüler, dass er wie sein Lehrer wird.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Im Zeitalter der PISA-Studien und alltäglich zu hörender Klagen über Respektlosigkeit und unangemessenes Verhalten von Schülerinnen und Schülern auf der einen Seite sowie zunehmenden Autoritätsverlusten von Lehrerinnen und Lehrern auf der anderen Seite, klingt die erste Hälfte des Verses geradezu wie ein hochaktuelles bildungspolitisches Programm: »Ein Schüler ist nicht mehr als der Lehrer.« Umso erstaunlicher ist daher die sich in der zweiten Vershälfte daran anschließende Aussage im Blick auf die Festlegung von Lernzielen, die sich nicht in bekannter Weise mit der Durchsetzung von Mindestanforderungen abmüht, sondern im Gegenteil übermäßigem Lerneifer eine Grenze setzt. Denn selbst wenn überholt geglaubte Sekundärtugenden wie »Fleiß« und »Ehrgeiz« unter den Jugendlichen derzeit wieder im Kommen sind (vgl. die Ergebnisse der 15. Shell Jugend-Studie 2006, 177), dürften sich wohl nur wenige Schülerinnen und Schüler von der hier geäußerten Kritik an übertriebenem Ehrgeiz angesprochen fühlen. Dass dieses Logion sich jedoch gerade an solche »Übereifrigen« richtet, wird durch die sprachliche Formulierung deutlich, die gleichzeitig durch ihre korrigierende Grundhaltung zu erkennen gibt, dass der Sprecher selbst nur ein Lehrer sein kann. »Ein Schüler ist nicht mehr als der Lehrer.« Dieser Satz beinhaltet nicht nur »eine definitorische Regel im sozialen Bereich« (Ebner 1998, 341), sondern gibt sich selbst vor allem als Korrektur einer andersartigen Auffassung zu erkennen. Wer immer Gegenteiliges über die Schüler-Lehrer-Relation behaupten mag, stößt hier auf Widerspruch: o'k ˛stin (ouk estin – es ist nicht). Dabei legt dieser Vers durch die Verwendung der ursprünglich räumlichen Präposition ¢pffr (hyper – über) ein »Skalen-Schema« (Johnson 1987, 121 ff.) zugrunde, in dem die Opposition von »oben – unten« ein primäres Orientierungs- und Wertungsprinzip darstellt. Während »oben sein« allgemein positiv besetzt ist und als etwas Erstrebenswertes gilt (vgl. nur das Bild der »Karriereleiter«), verbinden sich mit dem Begriff »unten sein« durchweg negative Assoziationen (»es geht bergab«; »jemand ist ganz unten« etc.). Mag dieses Schema für den Einzelnen noch der persönlichen Motivation dienen, wird es spannungsreich, sobald – wie in diesem Fall – mehrere Akteure in den Blick geraten. Sind die Bezeichnungen »Schüler« und »Lehrer« nämlich selbst schon relational aufeinander bezogen, so impliziert die Rolle des Lehrers per definitionem einen Kompetenzvorsprung gegenüber dem zu unterweisenden Schüler, was eine klare Über- und Unterordnung schafft und somit einen neuen Aspekt in das Schema einbringt: Neben die für alle gleiche, sachliche Grundorientierung an »oben« und »unten« tritt als weiteres Moment der interpersonale Vergleich, der den eigenen Stellenwert zusätzlich von einer durch die anderen Beteiligten eingebrachten Hierarchie abhängig werden lässt. »Gut« und »oben« ist nun nur, wer »besser« und damit »über« 68

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den anderen ist. Die ursprüngliche Perspektive der Sachorientierung droht so schnell in Konkurrenzdenken zu entarten und die grundsätzlichen Voraussetzungen für ein funktionierendes Lehrer-Schüler-Verhältnis zu untergraben: Ein Lehrer, der nicht mehr »über« dem Schüler ist, kann nicht länger Lehrer sein; und ein Schüler, der gar »über« dem Lehrer wäre, würde die Rollen verkehren und diesen zwangsläufig zum Schüler degradieren. Gegen eine solche Fehleinschätzung spricht sich nun nach der grundsätzlichen Ablehnung im ersten Versteil auch die Korrektur in der zweiten Vershälfte aus, indem sie als äußerste Grenze der Verhältnisbestimmung von Schüler und Lehrer eine mögliche Gleichordnung ins Auge fasst (£@ ¡ did€skalo@ a'to‰ [ho¯s ho didaskalos autou – wie sein Lehrer]). Dass dabei für den Schüler von Maximalzielen die Rede ist, wird durch die griechische Formulierung ⁄rketn t† maqht–» ´na (arketon to¯ mathe¯te¯ hina – es muss dem Schüler genügen; vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf 18 2001, § 393,2) deutlich, die im Sinne von »sich mit etwas bescheiden« umschrieben werden kann. Doch setzt dieses Ziel einen langen Lern- und Entwicklungsprozess auf Seiten des Schülers voraus, bevor aus der anfänglichen Unterlegenheit Ebenbürtigkeit werden kann. Die Handlungsebene der Parabel ist hier also ins Innere des Schülers verlagert (gffnhtai gene¯tai – werden; vgl. Valantasis 2005, 72: »a work in progress«). Interessanterweise begegnet diese Parabel im Munde Jesu in einer Rede an seine Jünger (Q 6,20-49). Doch warum erzählt er ihnen etwas über Bildungsfragen? Und ist diese Korrektur überhaupt konsequent zu Ende gedacht? Denn wie sollten Fortschritt und Entwicklung möglich sein ohne innovative Ideen und Schüler, die über ihre Lehrer hinauswachsen? Bedeutet die vorgetragene Haltung nicht geistigen Stillstand? Eingebettet in eine lange Kette von Parabeln (Q 6,39.41 f.43-45.47-49) weist auch dieser Text metaphorisch über sich hinaus, wenn man den schillernden Begriff des Schülers (maqhtffi@ mathe¯te¯s) in seiner ganzen semantischen Weite wahrnimmt und so immer schon mithört, dass hier gleichzeitig von den Jüngern die Rede ist. Doch welches Problem reflektiert die Parabel dann?

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) »Mit fünf Jahren zur Bibel, mit zehn zur Mischna, mit dreizehn zur Gebotsausübung, mit fünfzehn zum Talmud, mit achtzehn unter den Traubaldachin …« rät ein rabbinisches Diktum (mAv 5,21; zitiert nach Avemarie 2005, 244) und beschreibt damit den idealtypischen Bildungsgang, den ein jüdischer Junge bis zum anschließenden Eintritt in sein Berufsleben zu durchlaufen hatte. Erziehungsziel war dabei die Schriftkundigkeit, die zur aktiven Teilnahme am synagogalen Gottesdienst befähigen sollte und in den frommen Familien als »die Summe aller Bildung« (Riesner 3 1988, 111) galt. Nach der Entwöhnung im dritten Lebensjahr ging die Hauptverantwortung für die Erziehung der Jungen in der Regel von der Mutter auf den Vater über (2Makk 7,27), während die erzieherische Verantwortung für die Mädchen bei der Mutter blieb. Wenn auch vereinzelt von gebildeten Frauen berichtet wird (Sus 3; Apg 18,26) und der ToraUnterricht für Töchter nie regelrecht verboten war (vgl. tBer 2,12), scheint ihnen dennoch – nicht zuletzt aufgrund des niedrigen Heiratsalters zwischen dreizehn und vierzehn Jahren – mehrheitlich der Zugang zur höheren Bildung verwehrt gewesen zu sein 69

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(Philo spec. II 125; mSot 3,4). Oblag die Grundunterweisung der Söhne in der Tora und im Hebräischen – im Unterschied zur aramäischen Umgangssprache – also zunächst dem Vater (Dtn 11,18 f.; tQid 1,11; tHag 1,2), so bedurfte es für das Lesenlernen kostspieliger Schriftrollen, die eine Fortsetzung des Unterrichts in der Schule (bet sefer) erforderlich machten (Avemarie 2005, 245). Den ersten ausdrücklichen Hinweis auf den Versuch, eine Art öffentliche Schulpflicht für jüdische Jungen einzuführen, gibt eine Tradition des Jerusalemer Talmuds (jKet 32c), nach der Rabbi Ben Schetach um 75 v. Chr. angeordnet habe, dass Kinder eine Elementarschule besuchen müssten. Dennoch nahmen vermutlich nur die Söhne wohlhabender Familien regelmäßig am Unterricht teil, da diese am ehesten von den Arbeiten, die Kinder in der Regel zu verrichten hatten, befreit werden konnten. Ein solcher Elementarunterricht wurde entweder im Hause des Lehrers erteilt – ebenso wie die höhere rabbinische Ausbildung überhaupt bevorzugt in privaten Lehrhäusern stattfand (Avemarie 2005, 246) – oder in der Synagoge als dem Aufbewahrungsort der Schriftrollen sowie in den ihr angeschlossenen Räumen für den fortgeschrittenen Unterricht (bet talmud, bet midrasch; vgl. yMeg 73d). Das Autoritätsgefälle zwischen Lehrer und Schüler wurde neben dem Recht der körperlichen Züchtigung (tSuk 2,6) auch räumlich unterstrichen: Während die Schüler in der Regel direkt auf dem Boden saßen, hatte der Lehrer einen besonderen, leicht erhöhten Sitz (Riesner 3 1988, 183; vgl. Sir 51,29; Mt 23,2). Auch in der Darstellung der Apostelgeschichte findet sich das Bild des zu Füßen seines Gesetzeslehrers Gamaliel sitzenden Schülers Paulus (Apg 22,3: parÞ to±@ pda@ Gamali¼l pepaideumffno@ katÞ ⁄krfflbeian to‰ patrðou nmou [para tous podas Gamalie¯l pepaideumenos kata akribeian tou patro¯ou nomou – zu den Füßen Gamaliels ausgebildet genau nach dem väterlichen Gesetz]). Hauptziel des Elementarunterrichts war es, lesen zu lernen, wobei man mit dem Buch Levitikus begann (WaR 7,3). Rechnen, der Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Natur- und Sachkunde bildeten damit zwar keine eigenen Unterrichtsgegenstände, doch wurden die Schüler etwa im Zusammenhang mit den Bauverordnungen der Stiftshütte mit Zahlen und Maßangaben konfrontiert und erlangten anhand der Reinheitsgesetze mancherlei biologische Kenntnisse (Riesner 3 1988, 190). Als ausdrücklich verpönter Bildungsinhalt galt hingegen das Griechische (mSot 9,14). Die Inhalte des sich daran anschließenden, fortgeschrittenen Torastudiums bildeten Bibel, Mischna, Midrasch, Halachot, Haggadot (tBer 2,12; SifDev 344), dazu Targum, Gemara, Talmud und Weiteres (SifDev 161). Neben dem praktischen Nutzen, Laien zu jüdischer Lebensführung zu befähigen und Fachleute für die Rechtsprechung sowie Aktualisierung und Vertiefung der Lehre (d. h. zu Schriftgelehrten) auszubilden, war der höchste Zweck des Studiums nach rabbinischem Empfinden ein religiöser: »Wenn sich jemand mit der Tora befasst, ist es, als hätte er ein Brand-, Speise-, Sünd- und Schuldopfer dargebracht« (bMen 110a; zitiert nach Avemarie 2005, 247). Welch hohes Ansehen die Kenntnis der Tora im Allgemeinen und damit auch der Stand des Lehrers im Besonderen genoss, lässt sich an der Kritik falscher Motivationen ablesen, die davor warnt, die Tora zu studieren, um sich finanziell zu bereichern oder um Rabbi genannt zu werden (mAv 4,5; SifDev 41; vgl. Mk 12,38-40). War der Titel »Rabbi« nach 70 n. Chr. ausschließlich den Angehörigen des jüdischen Schriftgelehrtenstandes vorbehalten, die nach entsprechendem Studium und absolvierten Prüfungen als Lehrautoritäten ordiniert worden waren, galt diese Bezeichnung zur Zeit Jesu noch in ihrem weiteren, ursprünglichen Wortsinn als ehrende Anrede einer höhergestellten Respektsperson. In dieser Ehrenbezeichnung kamen gleich zwei wichtige 70

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Aspekte zum Ausdruck: einerseits die Anerkennung einer faktischen Überordnung durch die Bezeichnung als bt‡ (rab – Grundbedeutung: groß; daher auch: Großer, Herr, Gebieter), andererseits die durch das Personalsuffix »mein« deutlich gemachte persönliche Bindung des Schülers an seinen Lehrer, die in rabbinischer Tradition auch Elemente des Dienens umfasste: Der Schüler brachte etwa seinem Rabbi die Sandalen (tNeg 8,2), stützte ihn, wenn er danach verlangte (bJeb 42b), machte den Weg vor ihm frei (bKet 63a) und trieb den Esel, auf dem er ritt (tHag 2,1), während er im Übrigen unterwegs hinter seinem Lehrer zu gehen hatte (tPes 1,27). Nach bKet 96a war der Schüler seinem Lehrer gegenüber zu allen Arbeiten verpflichtet, die ein Sklave seinem Herrn zu tun schuldig war, mit Ausnahme des Ausziehens der Sandalen. Ein griechisches Sprichwort wie das, nach dem viele Schüler größer seien als ihre Lehrer (zitiert bei Cic. fam. IX 7,2), war im traditionsorientierten jüdischen Lehrbetrieb daher kaum denkbar und stieß spätestens mit der Ableitung aller Lehrautorität vom Lehrersein JHWHs an ihre Grenzen (vgl. Ps 119,99).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) 49mal wird in den Evangelien der Begriff »Lehrer« (did€skalo@ didaskalos) gebraucht, davon 41mal für Jesus. Neben Jesus werden aber auch Johannes der Täufer (Lk 3,12), Nikodemus (Joh 3,10) und Schriftgelehrte (Lk 2,46) so genannt, so dass diesem Titel in den meisten Fällen wohl noch kein ausgeprägtes christologisches Gewicht zukommt (Wegenast 2005, 1260). Wie andere Lehrer auch, wird Jesus um Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten (Lk 12,13 f.) und in Lehrfragen (vgl. Mk 12,14) angegangen, und er hat Schüler. Und doch unterscheidet er sich von ihnen in einem ganz zentralen Punkt, dem Anspruch auf Lehre in Vollmacht (vgl. Mk 1,22): »Jesus konnte und wollte nicht diskutieren, weil er damit den Absolutheitsanspruch aufgegeben hätte, mit dem er auftrat und dessen Eindruck sich die, die ihn hörten oder ihm begegneten, nicht entziehen konnten« (Rengstorf 1935, 158). Immer wieder finden sich daher in den Evangelien Stellen, die Jesus für die Christen – im Unterschied zu den Juden mit ihrer Vielzahl von Lehrern – als den einzigen maßgeblichen Lehrer ausweisen wollen (Lk 2,41-52: Der zwölfjährige Jesus im Tempel; Mt 23,8: »Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Meister«). Jesus ist der Lehrer (vgl. den häufigen absoluten Gebrauch von ¡ did€skalo@ ho didaskalos als Bezeichnung für Jesus, z. B. Joh 11,27 f.), der auch nach seinem Tod bleibende Autorität besitzt (Joh 13,13). Wenn Mt 23,8 allerdings fortfährt »… ihr aber seid alle Brüder«, so lenkt er damit möglicherweise den Blick kritisch auf eine Organisationsform frühchristlicher Gemeinden, in denen ebenfalls das Amt der Lehrer bezeugt ist (1Kor 12,28 f.; Eph 4,11; Apg 13,1; Jak 3,1; Hebr 5,12; Did 13,2 u. ö.). Ihre Aufgabe dürfte vermutlich die Deutung der Schrift und die Weitergabe der neu entstehenden christlichen Tradition gewesen sein (Wegenast 2005, 1262). – Wie ist vor diesem Hintergrund die Rede vom Schüler und Lehrer in unserer Parabel zu verstehen?

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Im Kontext eines jüdisch-rabbinischen Verständnisses der Verhältnisbestimmung zwischen Schüler und Lehrer trifft Q 6,40 eine selbstverständliche Aussage. Die Gleichheit 71

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ist die äußerste Grenze des Aufstiegs, die dem Schüler in diesem Rahmen möglich ist, ohne die Rollenverhältnisse auf den Kopf zu stellen (Rondez 2006, 146). Andernfalls, und das ist nur möglich, wenn die Rollenbegriffe flexibel gehandhabt werden und nicht den beteiligten Personen statisch zugeschrieben sind, würde aus dem Lehrer wieder ein Schüler und aus dem ehemaligen Schüler der Lehrer. Insofern vermittelt dieses Logion im Sinne einer sprichwörtlichen Feststellung zunächst einmal eine elementare Einsicht: Gelingendes Lernen ist als geistige Aufwärtsbewegung von unten nach oben nur dort möglich, wo diese Verhältnisbestimmung als Lernvoraussetzung eindeutig gegeben ist und akzeptiert wird und wo gleichzeitig das Lernen selbst als ein Durchgangsstadium begriffen wird, das letztlich auf Ebenbürtigkeit zielt. Auch wenn sich der anfängliche Abstand zwischen Schüler und Lehrer mit der Zeit zwangsläufig verändern wird, bleibt diese persönliche Bindung doch gerade maßgebliches Kriterium für den Lernerfolg. Im Munde Jesu kann die Parabel unter zwei verschiedenen Akzentsetzungen gelesen werden: Einerseits im Blick auf mögliche Rangstreitigkeiten unter den Jüngern, die mit diesem Logion an ihre gegenseitige Verbundenheit miteinander erinnert werden sollen; demnach gibt es auch unter Christen Unterweisungsverhältnisse, in denen es aber nicht darum gehen kann, den anderen übertreffen zu wollen und hinter sich zu lassen. Lehren und Lernen in der Nachfolge Jesu wären verfehlt, wenn es darum ginge, in nie aufhörender Konkurrenz selbstherrlich aufeinander herabsehen zu wollen, was nur möglich ist, indem wir einander kleinmachen. Im Gegenteil: Nach der Parabel ist das eigentliche Lernziel erst dann erreicht, wenn an die Stelle der Belehrung ein Dialog auf Augenhöhe tritt. In diesem Sinne kann die Parabel als eine ausdrückliche Stellungnahme gegen falschen Ehrgeiz verstanden werden, der dort beginnt, wo wir anfangen, anderen gegenüber mit der geschuldeten Ehre zu geizen. Eine zweite Verstehensrichtung tut sich auf, wenn die Rolle des Lehrers nicht mehr beliebig besetzbar ist, sondern durch Jesus gefüllt wird. Hier gewinnt vor allem die zweite Vershälfte an Gewicht. Ziel der Nachfolge wäre es demnach, Jesus gleich zu werden. Dass damit letztlich keine beliebige Austauschbarkeit und Ablösbarkeit gemeint ist, wird durch die gleich bleibende Rollenverteilung innerhalb der Parabel einerseits und durch die erste Vershälfte andererseits deutlich (vgl. Ebner 1998, 343). Der Schüler ist nicht der Lehrer und er wird es selbst auch nie. Immer bleibt er an Jesu Unterweisung und an die Person seines Lehrers gebunden. Seine Bestimmung ist erreicht, wenn er als Schüler wie sein Lehrer wird (vgl. Fleddermann 2005, 745: »The author folds christology into discipleship and discipleship into christology.«). Was dieses Lernziel für die Jünger in der Nachfolge Jesu konkret bedeuten kann, ist in der folgenden Wirkungsgeschichte dieser Parabel weiter entfaltet worden.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Lk 6,40 Ein Schüler ist nicht mehr als der Lehrer; voll ausgebildet aber wird jeder sein wie sein Lehrer. Lukas hat im Wesentlichen den durch Q vorgegebenen Kontext der Jüngerunterweisung 72

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bewahrt. Zusammen mit V. 39 wird das Logion gerahmt durch Aussagen über das Richten (V. 37 f.; 41 f.) und bildet somit eine gemeinschaftliche Regel: »Der Jünger steht weder über dem Lehrer noch über anderen Jüngern; und wie der Herr nicht gerichtet hat, soll kein Jünger seinen Bruder richten. Andernfalls erweist er sich als blind, als ungebildet« (Bovon 1989, 333). Zugleich korrigiert Lukas die Einschätzung von Q im Blick auf das zu erreichende Lernziel; zu werden wie sein Lehrer, ist nach Lukas nichts, womit sich ein Schüler begnügen muss (⁄rketn arketon), als ob darüber hinaus ein »noch mehr« (¢pffr hyper) möglich wäre. Wenn nämlich erst die in jeder Hinsicht vollkommene Ausbildung (kathrtismffno@ kate¯rtismenos) den Schüler seinem Lehrer ebenbürtig macht, wirft das in diesem Fall auch ein Licht auf den Lehrer: Vollkommeneres Wissen und höhere Autorität als er sie hat, gibt es nicht! Allen anderslautenden Lehransprüchen innerhalb der christlichen Gemeinden ist mit dieser Parabel der Boden entzogen.

Mt 10,24-25a (24) Ein Schüler ist nicht mehr als der Lehrer und auch nicht ein Sklave mehr als sein Herr. (25a) Es genügt für den Schüler, dass er wie sein Lehrer wird und der Sklave wie sein Herr. Die mt Fassung des Spruches ist durch die parallelisierende Ergänzung um die SklaveHerr-Relation zum einen weiter gefasst, zum anderen durch den Kontext (Mt 10,16-26) aber auch anders akzentuiert. Matthäus entfaltet, was es heißt, wie (£@ ho¯s) der Lehrer, wie der Herr (kÐrio@ kyrios) zu werden: »Wenn sie den Hausherrn Beelzebul betitelt haben, um wieviel mehr seine Hausgenossen?« (V. 25b). Jesu Leiden, Verfolgung und Passion geben somit das Vorzeichen an, unter welchem sich auch die Nachfolge seiner Jüngerinnen und Jünger zu bewähren haben wird: Wie ihr Lehrer (Mt 23,8) werden die Jünger »übergeben« (V. 17.19.21), gegeißelt (V. 17), vor Statthalter geführt (V. 18) und getötet werden (V. 21). Die zweifache Betonung der Gleichgestaltung mit ihrem Lehrer und Herrn hat dabei neben dem Aspekt der Unausweichlichkeit des Leidens (vgl. V. 25b: ps†w m”llon poso¯ mallon – um wieviel mehr) aber auch einen tröstenden Ton: »Es (= das Leiden der Jünger, G. K.) geschieht nicht nur in den Fußstapfen des Meisters, sondern steht zugleich unter der Perspektive seiner eigenen Auferstehung« (Luz 3 1999, 121). Nicht umsonst kann Matthäus daher diesen Abschnitt mit der Aufforderung schließen: »Fürchtet euch also nicht!« (V. 26).

Joh 13,16 Amen, amen, ich sage euch: Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr und auch nicht ein Abgesandter größer als der, der ihn gesandt hat. Bei Johannes findet sich dieser Spruch im Anschluss an die Erzählung von der Fußwaschung, wo er innerhalb der Rede Jesu (Joh 13,12-20) ein markantes Scharnier bildet. Bezeichnet sich Jesus in den vorausgehenden Versen 13 f. nämlich selbst ausdrücklich als den Lehrer (¡ did€skalo@ ho didaskalos) und den Herrn (¡ kÐrio@ ho kyrios), der sei73

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Parabeln in der Logienquelle Q

nen Jüngern mit dem Sklavendienst der Fußwaschung ein konkretes Beispiel (¢pdeigma hypodeigma) gegenseitigen Liebesdienstes gegeben hat, das es nachzuahmen gilt (V. 15), so bildet der Spruch vom Sklaven, der nicht größer ist als sein Herr, in V. 16 für diese Szene einen pointierten Abschluss (Parallelen für dieses jüdische Sprichwort bietet Billerbeck I 2 1926, 577 f.). Anstatt die ihm eigene Herrenrolle auszuüben, demonstriert Jesus mit seinem Verhalten in lehrhafter Weise ein entgegengesetztes Streben, indem der Herr freiwillig zum Sklaven wird. Von daher wird man nicht sagen können, dass hier der Spruch vom Schüler und seinem Lehrer fehle, findet er doch bei Johannes in den vorausgehenden Versen seine narrative Ausgestaltung im Verhalten Jesu (V. 12-15). Worin das Lernen besteht, wird durch die rahmenden Leitwörter »wissen/verstehen« und »tun« in V. 12 und 17 deutlich: »Aus dem (Glaubens-)Wissen um das Tun Jesu folgt das eigene Tun. Wer begriffen hat, was Jesus an ihm getan hat, kann nicht anders, als auch selbst so zu handeln« (Theobald 2002, 131). Stattdessen leitet Johannes mit dem Spruch über den Gesandten, der nicht größer ist als der, der ihn gesandt hat, in der zweiten Vershälfte ein neues Thema ein, das mit seinem Gesandten-Modell bereits auf V. 20 und damit auf das Motiv der Gastfreundschaft verweist. Beide Aussagen korrespondieren und bilden erst zusammen eine Ganzheit: V. 16 appelliert an das Verhalten des Gesandten, V. 20 an das Verhalten derer, die ihn aufnehmen. Dabei bricht sich auch in diesem Bild die für Johannes so charakteristische Dialektik Bahn; einerseits ist der Gesandte nicht größer als der ihn Sendende (V. 16), andererseits gilt er als sein direkter Repräsentant, so dass in V. 20 die Personengrenzen zu verschwimmen scheinen: »Wer aufnimmt, wen auch immer ich sende, nimmt mich auf, wer aber mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat.« Wer immer also Boten Christi gastfreundlich aufnimmt – zu einer gastfreundlichen Aufnahme zählte in der Antike übrigens die Fußwaschung, so dass sich motivlich der Kreis wieder schließt –, nimmt nicht nur sie, sondern mit ihnen Christus, ja letztlich Gott selbst auf! Das Wort vom Sklaven, der nicht größer ist als sein Herr, findet sich bei Johannes noch ein zweites Mal, nun allerdings in einem der mt Nachfolgethematik ähnlichen Kontext. In Joh 15,20 heißt es: Joh 15,20: Erinnert euch an das Wort, das ich euch gesagt habe: ›Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr.‹ Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie mein Wort bewahrt haben, werden sie auch eures bewahren. Findet das Sklave-Herr-Modell hier zwar aus der Außenperspektive auf die Jüngerinnen und Jünger in der Nachfolge Jesu weiterhin Anwendung, so dass sie als »Sklaven« erst recht das Schicksal zu erdulden haben, das ihr Herr erdulden musste, so trifft diese Bezeichnung für das Binnenverhältnis der Jünger zu ihrem Herrn seit Joh 15,15 nicht mehr zu: »Ich nenne euch nicht mehr Sklaven, denn der Sklave weiß nicht, was sein Herr tut; ich nenne euch Freunde …«. Mögen die Jüngerinnen und Jünger äußerlich also auch erniedrigt und verfolgt werden, so sind sie innerlich doch längst Erhöhte. Dass die Parabel mit ihrem vielgestaltigen Potenzial an Kritik, Mahnung, Forderung, aber auch Zuspruch und Trost uns auch als Leserinnen und Lesern im 21. Jh. noch immer etwas zu sagen hat, mag abschließend folgender kleiner Text illustrieren, in dem es auch um Größenwahn und Besserwisser sowie um die so ganz andere, »einfache Wahrheit« Gottes geht (zitiert nach Otto/Hohn-Morisch 2003, 58): 74

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»Einfache Wahrheit« Ob Monolog, ob Dialog, ob Debatte oder Geschnatter in den Parlamenten, bei den Empfängen und im Internet – so viel getauschte Worte wirbeln durch die Lüfte. Auch so viel Getöse, um über Gott zu streiten, wer’s besser weiß. Und derweil laufen wir unwiderstehlich in deine einfache Wahrheit.

Gabi Kern Literatur zum Weiterlesen L. Abramowski, Der Apostel von Johannes 13,16, ZNW 99 (2008), 116-123. B. Ego/H. Merkel (Hg.), Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung, WUNT 180, Tübingen 2005. C. P. März, Jesus als »Lehrer« und »Heiler«, in: L. Hauser (Hg.), Jesus als Bote des Heils. Heilsverkündigung und Heilserfahrung in frühchristlicher Zeit. FS D. Dormeyer, SBB 5, Stuttgart 2008, 152-165. R. Riesner, Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung, WUNT II/7, Tübingen 3 1988. M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg i. Br. u. a. 2002, 130-152.

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Die Behebung einer Sehschwäche (Vom Splitter und dem Balken) Q 6,41 f. (Mt 7,3-5 / Lk 6,41 f. / EvThom 26) (41) Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? (42) Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: »Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen« und siehe da, der Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler! Zieh erst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du deutlich genug sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders zu ziehen.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) In der Parabel kommen drei Personen vor: der Sprecher, der oder die Angeredete und »der Bruder« – die Rede vom »Bruder« bezieht inhaltlich natürlich auch die Schwester ein. Aber die Parabel verweist auf eine konkrete Situation, daher beschränkt sich das Bild auf die eine Person als Beispiel für alle. Durch die direkte Anrede werden alle Hörer in diese konkrete Situation der Parabel hineingestellt. Sie sind von Anfang bis Ende Teil des Bildes. Signale dafür, dass es sich um ein Bild handelt, liegen zum einen in der Hyperbel, der Übertreibung, in der Vorstellung, ein ganzer Balken könnte in einem Auge stecken – verstärkt dadurch, dass der betroffene Mensch offensichtlich selbst nicht bemerkt, dass er einen gefährlich großen Gegenstand im Auge hat. Darüber hinaus besteht auch eine Inkongruenz zwischen dem implizierten narrativen Kontext einer Spruchquelle mit ihrem Lehrkontext und der konkreten, in dem Einzelspruch enthaltenen Aktion: der Handlung, einen Fremdkörper aus dem Auge zu ziehen, einer Notoperation, in der ohne rasches Eingreifen die Sehkraft gefährdet ist. Der Widerspruch zwischen der theoretischen Lehrsituation und dem praktischen Notfall, um den es geht, entlädt sich in dem Ausruf: »Du Heuchler!« Der Begriff »Heuchler« im Zusammenhang mit einer medizinischen Operation ist unpassend. Ein inkompetenter Arzt ist z. B. ein »Stümper«, aber kein »Heuchler«. Der Begriff passt jedoch, wenn die medizinische Operation ein Bild für Denken und Handeln ist. Hier dient er als weiteres Signal für die Bildlichkeit der Parabel. Der Kontext in Q ist vor der Parabel mit Q 6,39 (= Mt 15,14) und dem Spruch über den blinden Blindenführer, wie auch über Q 6,40 (= Mt 10,24-25a) zum untergeordneten Verhältnis des Schülers zu seinem Lehrer gegeben. Im Anschluss an die Parabel folgen Sprüche zum Baum und seiner Frucht (Q 6,43-45 = Mt 7,16-20; 12,34 f.), zur Sinnlosigkeit des bloßen Anrufens Jesu (Q 6,46 = Mt 7,21) und zum Haus, das auf Sand gebaut ist (Q 6,47-49 = Mt 7,24-27). Damit steht sie fest im Kontext von Sprüchen, die mit dem Zusammenhang von Reden und Tun, von Selbsterkenntnis und Handeln zu tun haben. Die Parabel selbst hat keine Einleitung, sie bezieht ihre Deutung aus dem Kontext. Grammatisch besteht sie aus zwei rhetorischen Fragen und einer Aufforderung. Alle drei Sätze bestehen aus je zwei Teilen. In den beiden rhetorischen Fragen dreht sich der erste Teil um »den Bruder« und der zweite Teil um die angeredete zweite Person Singular, während im dritten Satz die Reihenfolge umgekehrt wird: Zuerst geht es um die angere76

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dete Person und dann um den »Bruder«. Dieser Perspektivenwechsel spiegelt die Aufforderung zum Umdenken wider und wird verstärkt durch den Wechsel von dem Präsens, das die Parabel durchzieht, in das Futur, mit dem der zweite Teil des Aussagesatzes endet. Die beiden rhetorischen Fragen sind parallel und entwickeln dasselbe Thema: den Vorwurf, dass die angeredete Person zuerst den Splitter, das kleinere Problem, bei ihren Nächsten sucht und dieses beseitigen will und dabei das große Problem, den Balken im eigenen Auge, übersieht. Der Vorwurf steigert sich von der ersten zur zweiten Frage: »Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge?« wird zu: »Was willst du ihn mit deiner eigenen Sehbeeinträchtigung behandeln?«. Die Spannung, die durch diese beiden Fragen erzeugt wird, löst sich in dem Ausruf: »Heuchler!«, der dann in die Aufforderung mündet, umgekehrt zuerst an den eigenen Problemen, den eigenen Fehlern zu arbeiten und sich dann erst um die der Umgebung zu kümmern. Die Parabel selbst erzählt zwar keine direkte Geschichte, aber sie versetzt die Angesprochenen in einen Erzählablauf, in dem ihnen unterstellt wird, dass sie damit beschäftigt sind, anderen Splitter aus dem Auge zu ziehen, während sie selbst einen Balken im Auge haben. Das Bild von der Sehbeeinträchtigung selbst unterstellt keine böse Absicht in diesem Verhalten, aber durch den Ausruf »Heuchler!« erhält die Handlung eine negative Deutung. Es ist kein Versehen, wenn die Angesprochenen sich lieber um die Angelegenheiten der anderen kümmern als um ihre eigenen. So werden sie dann auch aufgefordert, erst ihren eigenen Balken zu entfernen, damit sie überhaupt erst in die Lage versetzt werden, den kleinen Splitter der anderen richtig zu sehen und dann angemessen zu beseitigen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Splitter und Balken sind Bilder, die nicht auf einen bestimmten Kulturkreis beschränkt sind. In der Septuaginta ist das einzige Vorkommen von k€rfo@ (karphos – Splitter) in Gen 8,11, wo es, dem eigentlichen griechischen Wortgebrauch entsprechend, den Zweig bezeichnet, den die Taube Noah mitbringt. Die Bedeutung »Splitter« anstelle von »Zweig« ergibt sich in Q 6,41 f. aus dem Kontrast zu dok@ (dokos – Balken), einem Begriff, der für große Stützbalken (LXX Gen 19,8; 3Kön 6,15 f.; 4Kön 6,2.5; 2Chr 34,11) gebraucht wird. Die Parabel bezieht ihre Kraft aus dem Kontrast zwischen dem denkbaren Vorkommen eines Splitters im Auge und der undenkbaren Vorstellung, dass ein ganzer Stützbalken unbemerkt im Auge stecken könnte. Würde man den Splitter durch »Zweig« ersetzen, verlöre die Parabel einen Teil ihrer Aussagekraft. Grundsätzlich nimmt die Parabel auch den Bereich der Blindheit und Sehbehinderung auf: Wenn der Fremdkörper nicht aus dem Auge entfernt wird, droht eine dauerhafte Schädigung des Auges. In der Antike galt die Blindheit als einer der schlimmsten Schicksalsschläge, schlimmer als der Tod: Das Sehen wurde als der wichtigste Sinn des Menschen erachtet, auch wenn man wusste, dass andere Sinne die Augen bis zu einem gewissen Sinn kompensieren können (Esser 2 1961, 86.121-126). Ein Blinder war stark in seiner Bewegungsfreiheit und seinem beruflichen und sozialen Aktionsradius eingeschränkt; Berufe, die von Blinden ergriffen wurden, waren Musiker, der seinen Gesang begleitete, Dichter, Seher oder Wahrsager, auch Tätigkeiten im Kontext des Gerichts oder der Politik waren nicht ausgeschlossen. Viele Sklaven verloren ihr Augenlicht in den Erz77

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minen und wurden weiter an Hand- oder Tretmühlen eingesetzt. Einer großen Anzahl von mittellosen Blinden blieb jedoch nur die Bettelei (Esser 2 1961, 92-111). Dementsprechend lag den Menschen viel daran, diesem Schicksal zu entgehen und streng verurteilt wurden die Ärzte, die durch Fahrlässigkeit, Inkompetenz oder Absicht Blindheit verschuldeten (Esser 2 1961, 34). Insgesamt galt dem Blinden das Mitgefühl seiner Zeitgenossen, jedoch nur wenn er für seine Blindheit nicht selbst verantwortlich war (Esser 2 1961, 117). In der rechtlichen Beurteilung schwankte die Einordnung der Blindheit zwischen einer »Krankheit« (morbus), einer körperlichen Beeinträchtigung, und einem »Fehler« (vitium), da die Schädigung dauerhaft ist (Esser 2 1961, 119). Die Beurteilung als Fehler oder Mangel zeigt, dass sich das Bild der Blindheit auch zur Beschreibung moralischer Fehler eignete. So gebrauchte Platon in vielen seiner Dialoge Blindheit als Bild für einen Menschen, der das Wahre und Richtige nicht erkennt (Esser 2 1961, 136 f.). So ist das Bild sowohl für eine übertragene Deutung auf mangelnde Einsicht in die Wahrheit als auch für eine Kritik an konkreten moralischen Verhaltensweisen offen.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) In der rabbinischen Tradition gibt es konkrete Parallelen zu der Verbindung von Splitter und Balken. So hat nach Hor 3b Rab Huna (3. Jh.) für jeden falschen Richtspruch, den er ausspricht, so viel Schuld auf sich herabgewünscht, »wie ein Span aus einem Balken«. Hier werden Span und Balken in ihrem Größenverhältnis miteinander in Verbindung gesetzt. Ein Balken ist unmessbar viel größer als ein Span. Konkretere Parallelen zu der Aussage der Parabel finden sich in bAr 16b Bar (zu R. Tarphon, ca. 100 n. Chr.): »Es sollte mich wundern, wenn es in dieser Generation einen gäbe, der Zurechtweisung annimmt. Wenn man ihm sagen würde: Nimm den Splitter aus deinen Augen fort, so würde er antworten: Nimm den Balken aus deinen Augen fort!« und BB 15b (zu R. Jochanan, 3. Jh.): »Was heißt: ›In den Tagen des Richtens der Richter‹ (Ruth 1.1)? Es war eine Generation, die ihre Richter richtete. Sagte man einem: ›Nimm den Splitter aus deinen Augen fort‹, so antwortete er: ›Nimm den Balken aus deinen Augen fort‹« (Billerbeck I 2 1926, 446). Beide Male wird das Bild gebraucht, um eine Zurechtweisung zurückzuweisen. Differenzierte Selbstkritik ist nicht enthalten. Diese wird in den rabbinischen Texten nicht durch das Bild vom Splitter und Balken ausgedrückt, sondern durch das der Stoppeln in San 18a: »Sammelt von euch die Stoppeln ab u. dann sammelt sie (von anderen) ab« (so auch z. B. San 19a; BM 107b; BB 60b; Billerbeck I 2 1926, 446). Splitter und Balken sind alltägliche Gegenstände, und es ist gut möglich, dass eine Redewendung, die die beiden zur Schuldabweisung in Verbindung brachte, im volkstümlichen Gebrauch schon Mitte des 1. Jh. n. Chr. verbreitet war. Die rabbinischen Belegstellen zeigen, dass das Bild noch Jahrhunderte später aufgenommen wurde. Die Anwendung des Bildes ist im Kontext von Mahnung und Kritik auf dem Boden jüdischer Tradition beheimatet, wenn sich auch seine Anwendung zur Selbstkritik nur in den urchristlichen Texten findet. Ein weiterer zu berücksichtigender Themenbereich ist die Verbindung von Sehen und Glauben. Dass diese Verbindung schon in der Antike erstellt wurde, zeigt die Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen in Joh 9, in der der Unglaube der Pharisäer über das Thema der Blindheit angesprochen wird (Joh 9,40 f.). 78

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Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel arbeitet mit Perspektivenwechseln und Kontrasten, weniger mit vorher bekanntem Wissen um bestimmte Traditionen. Der erste Grundkontrast liegt zwischen dem oder der Angeredeten und dem »Bruder«, und der zweite zwischen dem Splitter im Auge des Bruders und dem Balken im eigenen. Indem zu einem Wechsel der Perspektive aufgerufen wird, soll der Blick auf die eigenen Fehler und Probleme eröffnet werden. Erst danach gilt es, das geringere Problem des Mitmenschen aufzudecken und dann beide zu beseitigen. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen und Probleme von sich zu weisen, sondern darum, die eigene Lage im rechten Verhältnis zu der der anderen als um Vieles problematischer einzuschätzen. Erst nach diesem Wechsel der Perspektive kann man mit den eigenen und fremden Problemen realistisch umgehen. Im Kontext des Richtens entwaffnet dieser Perspektivenwechsel jeden Versuch, selbst zum Richter zu werden. Kein Mensch kann über einen anderen urteilen, weil sein eigener Balken im Auge ihm die Sicht nimmt. Die eigene Schuld ist somit immer ungleich größer als die der anderen. Wer dennoch versucht zu richten, macht sich zusätzlich noch der Heuchelei schuldig. Durch den Perspektivenwechsel öffnet sich der Blick über die gegenseitige Schuldzuweisung hinaus auf eine konstruktive Zusammenarbeit, denn es heißt ja nicht, dass Splitter und Balken im Auge bleiben, sondern dass beide entfernt werden sollen. Es werden nur jeweils die Rollen des Richtenden und des Gerichteten aufgegeben. Die Entfernung des Splitters hat nach der Entfernung des Balkens nicht mehr den Aspekt des Gerichts (Luz 5 2002, 493), sondern den einer gemeinschaftlichen Heilung. Dieser Aspekt der Überwindung gegenseitiger Schuldzuweisung und Verurteilung wirkt befreiend in der praktischen Anwendung auf eine christliche Gemeinde. Es geht nicht mehr darum, zu fragen: »Wer macht Fehler?«, »Wer ist im Unrecht?«, sondern darum, nach vorn zu blicken und den Problemen gemeinsam zu begegnen.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parabel findet sich im Neuen Testament bei Matthäus und Lukas. Sie ist auch im Thomasevangelium überliefert. Mt 7,3-5: Text wie Q (s. o.) Bei Matthäus folgt die Parabel in der Bergpredigt unmittelbar auf das Verbot des Richtens. Im Anschluss an die Parabel steht die Warnung, die Perlen nicht vor die Säue zu werfen. Durch diese Warnung wird der Vorwurf der Parabel verstärkt und ihr Gerichtscharakter unterstrichen. Somit wird aus einer Mahnung eine Anklage. Es geht in dem Gesamtkontext nicht in erster Linie darum, das Richten durch »das Zurechthelfen« zu ersetzen (gegen Grundmann 7 1990, 220), sondern darum, dass die Parabel erklärt, warum ein Richten grundsätzlich unmöglich ist: Wer selbst nichts sehen kann, kann die anderen weder be- noch verurteilen. Die Bezeichnung »Bruder« scheint auf das Richten innerhalb der Gemeinde hinzuweisen, auch wenn das allgemeine Verbot des Richtens in V. 1 sich eventuell auch auf das staatliche Gericht beziehen kann (Luz 5 2002, 488). In der Auslegung wurde immer wieder die Unterscheidung zwischen staatlichem und kirchlichem Gericht betont, und noch Oliver Cromwell (17. Jh.) hatte nach 79

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seiner Machtübernahme in Großbritannien und dem Sieg über den König mit diesem Text im Zusammenhang von Vertretern der Abschaffung der staatlichen Gerichte zu tun (Luz 5 2002, 489.493). Aber wahrscheinlich geht es im Matthäusevangelium weniger um staatliches oder kirchliches Recht als um die grundsätzliche Einstellung der Selbstkritik, die jedes Verurteilen anderer unmöglich macht. Lk 6,41 f.: (41) Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? (42) Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: »Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen«, während du den Balken in deinem Auge nicht bemerkst? Heuchler! Zieh erst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du deutlich genug sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders zu ziehen. Im Lukasevangelium gibt es keinen wesentlichen Unterschied zum Q-Text der Parabel. Der Kontext ist mit Q identisch, im Gegensatz zu Matthäus liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Richten, sondern auf dem Umgang innerhalb der Gemeinde. Wenn der Kontext sich mit den führenden Gemeindemitgliedern und ihrem Verhalten beschäftigt, bedeutet das für die Deutung der Parabel, dass die in ihr angemahnte Selbstkritik besonders der Gemeindeleitung nahe gelegt wird. EvThom 26; P.Oxy. 1: (1) Jesus sagte: Den Splitter im Auge deines Bruders siehst du, aber den Balken in deinem Auge siehst du nicht. (2) Wenn du den Balken aus deinem Auge herausziehst, dann wirst du deutlich genug sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge herauszuziehen. Im Thomasevangelium findet sich das Wort (Logion 26) in einer losen Stichwortassoziation über Ohren (»Wer Ohren hat, zu hören …«, Logion 24) und das Auge (»Liebe deinen Bruder wie deine Seele, hüte ihn wie deinen Augapfel«, Logion 25). Es folgt ein neuer Abschnitt zum Fasten (Logion 27). Die Thomasversion hat die rhetorischen Stilmittel, die den Zuhörer in die Parabel eingebunden haben, in einfache Aussagesätze umgewandelt: Die rhetorischen Fragen und der Ausruf gegen den Heuchler sind weggefallen. Im gnostischen Kontext ist zu erwarten, dass dieses Wort gegen die bischöfliche Gewalt gewendet wurde und auch im syrischen und ägyptischen Mönchtum wurde das Verbot zu richten sehr ernst genommen. Dagegen betonte Irenaeus, dass der Bischof Fehlende zurechtweisen dürfe (Iren. haer. 4,30,3). Umgekehrt bezieht Tertullian (Tert. didask. 9) Mt 7,1 ausschließlich auf die Bischöfe, nicht auf Laien (Luz 5 2002, 489 f.).

Jutta Leonhardt-Balzer Literatur zum Weiterlesen A. Esser, Das Antlitz der Blindheit in der Antike. Die kulturellen und medizinhistorischen Ausstrahlungen des Blindenproblems in den antiken Quellen, Leiden 2 1961. R. Zimmermann, Metaphorology and Narratology in Q Exegesis: Literary Methodology as an Aid to Understanding the Q Text, in: D. T. Roth/R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q. FS D. Zeller, WUNT 315, Tübingen 2014, 3-30, bes. 28-29.

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Von den Früchten des Baumes und dem Sprechen des Herzens (Vom Baum und seinen Früchten) Q 6,43-45 (Mt 7,16-20; 12,33-35 / Lk 6,43-45 / EvThom 45) (43) Es gibt keinen schönen Baum, der faule Frucht macht, und wiederum keinen faulen Baum, der schöne Frucht macht. (44) Denn aus der Frucht wird der Baum erkannt. Lesen sie etwa aus Dornen Feigen zusammen oder aus Disteln Trauben? (45) Der gute Mensch wirft aus dem guten Schatz gute Dinge heraus, und der schlechte Mensch wirft aus dem schlechten Schatz schlechte Dinge heraus. Aus dem Überfluss des Herzens spricht nämlich sein Mund.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der Text entwickelt eine sukzessive Argumentation in fünf Schritten. Er wird dabei durch die Gegenüberstellung verschiedener Gegensatzpaare strukturiert. Zunächst wird mit einem antithetisch formulierten parallelismus membrorum eine negative Aussage getroffen: Keine Pflanze kann eine andere Frucht hervorbringen als es ihrem eigenen Zustand entspricht. Dies wird anhand des Beispieles vom schönen bzw. faulen Baum aufgezeigt. Die Wahl der Adjektive orientiert sich dabei an den äußeren Erscheinungsformen der Früchte und ist noch nicht moralisch gemeint (gegen Bovon 1989, 337). In einem zweiten Schritt wird, angeschlossen mit »denn« (g€r gar), für diese Beobachtung eine verallgemeinernde Begründung gegeben: dass man jeden Baum an seinen Früchten gut erkennen kann. Der dritte Schritt kehrt scheinbar zum ersten zurück. Die Aussage wird wiederum im parallelismus membrorum formuliert, diesmal jedoch nicht als Aussage, sondern als rhetorische Frage. Thematisiert wird aber hier nicht die Qualität, sondern die Art der Früchte. Durch die 3. Person Plural des Verbs werden dezent in das Bild, das bisher nur auf den Baum und seine Früchte konzentriert war, Menschen eingeführt. Sie erscheinen zunächst als diejenigen, die die Früchte ernten. Damit werden nicht nur Pflanze (Dornen, Disteln) und Früchte (Feigen und Trauben) miteinander in Verbindung gebracht, sondern es werden als dritte Größe die Erntenden thematisiert. Zugleich wird eine doppelte Zeitsequenz gebildet: Wie im ersten Satz das Hervorbringen der Früchte eine gewisse Zeit des Wachsens und Reifens voraussetzt, so kann man sich auch im dritten Satz das Ernten als einen Prozess vorstellen. Die Überleitung zu dem im vorherigen Satz eingeführten Menschen wird in einem vierten Schritt vollzogen, wobei aus dem ersten und dritten Satz die Form des parallelismus membrorum wieder aufgenommen wird. Der Mensch nimmt an diesem Punkt der Parabel die Stelle ein, die vormals die Pflanze innehatte. Er selbst ist es, der wie eine Pflanze aus sich heraus etwas hervorbringt. Der bildhafte Teil der Parabel wird damit verlassen, die beiden Teile werden aber durch keine Konjunktion verbunden, sondern durch den gemeinsamen Sinn und zum Teil durch eine parallele Syntax. Die Formulie81

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rung entspricht fast völlig dem ersten Satz, nur dass sie dort negativ und hier positiv gestaltet ist. Auch hier gilt wie bei den Pflanzen, dass der Mensch nichts anderes »herauswerfen« kann als dasjenige, was der eigenen Art entspricht. Dabei werden die entgegengesetzten Adjektive variiert: bei der Pflanze schön und faul, beim Menschen gut und schlecht (ponhr@ pone¯ros, was eine moralische Konnotation besitzt). Das Verb »herauswerfen« signalisiert in der Zeitdimension einen wesentlich kürzeren und eher spontanen Vorgang als das langsame Reifen der Frucht im ersten Satz. Was dieses durch den Menschen Herausgebrachte ist, wird noch nicht genau thematisiert. Auch der metaphorisch gebrauchte Begriff des Schatzes wird noch nicht näher erläutert. Der Satz ist dabei wie schon in den vorherigen Versen aus der Außenperspektive eines Beobachters formuliert, der beschreibt, was die Pflanze oder in diesem Fall der Mensch hervorbringt. In einem fünften Schritt wird, angeschlossen mit erläuterndem »nämlich« (g€r gar), im Schlusssatz der Parabel das vorher Gesagte konkretisiert, zum einen die guten bzw. die schlechten Dinge und zum anderen der gute oder schlechte Schatz: Es geht beim Schlechten und Guten um das Sprechen und beim Schatz um das Herz. Das Possessivpronomen »sein« bezieht sich dabei wohl zurück auf den Menschen im vorherigen Satz. Der Schluss der Parabel lautet damit pointiert: Das Reden des Mundes erwächst aus dem Herzen eines Menschen. Zur Verdeutlichung dieser Aussage wird ein weiteres Bild eingeführt: Durch das Nomen »Überfluss« (perfflsseuma perisseuma) wird das Herz als Gefäß dargestellt, das sich bis zum Rand anfüllen kann. Gewissermaßen die Überlauföffnung des Gefäßes ist der Mund, und dasjenige, was überläuft, sind offenbar die gesprochenen Worte. In der Zeitdimension liegt dieser Vorgang zwischen dem allmählichen Wachsen der Frucht im ersten Satz und dem eher spontanen »Herauswerfen« im vierten. Vielleicht sind die beiden Abläufe aber auch in diesem Bild miteinander kombinierbar: Wie die Frucht allmählich heranwächst, füllt sich mit der Zeit das Herz. Und wie es dann einen bestimmten Punkt der Ernte gibt, an dem die Frucht abgenommen wird, so läuft dem Menschen an einem bestimmten Zeitpunkt das volle Herz über, indem er redet. Die Aussage der Parabel, die durch die skizzierten fünf Argumentationsschritte konstruiert wird, lautet damit: Wie man einen Baum an seinen Früchten erkennen kann, so kann man das Herz eines Menschen an seinen Worten erkennen. Das Bild des Baumes bezieht sich dabei auf das Herz der Menschen (und in einem weiteren Bild auf den Schatz). Das Bild der Früchte wird auf die Worte der Menschen bezogen. Die Vorstellungen des Heranreifens der Früchte und des Volllaufens des Herzens implizieren einen Wachstumsprozess. Wie man das, was am Baum gewachsen ist, in der Ernte sehen kann, so drückt sich das, was bei den Menschen im Herzen wächst, in ihren Worten aus.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Geht man davon aus, dass die Parabel im Kontext der antiken Agrargesellschaft entwickelt und tradiert wurde, werden die Aussagen des bildspendenden Bereiches unmittelbare Evidenz besessen haben (zum Bildfeld Baum – Frucht vgl. ausführlich von Gemünden 1993, 122-181, bes. 141 ff.). Diese Evidenz nimmt in dem Maße ab, wie die alltäglichen Erfahrungen mit pflanzlichem Wachstum und Ernte in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation abnehmen, in der das Bild gelesen und interpretiert wird. Durch die Parabel werden anthropologische Aussagen über das Verhältnis von Innenleben und 82

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Worten eines Menschen in unmittelbare Beziehung mit agrarischen Vorgängen des Wachsens und Erntens gesetzt. Das spricht dafür, dass hier (noch) eine hohe Vertrautheit und Identifikation des Menschen mit Prozessen in der Natur vorausgesetzt wird (gegen Bovon 1989, 337, der für Lukas als »Stadtmensch« schon eine Distanz zur Natur annimmt). Für einen aktuellen Umgang mit der Parabel ist zu beachten, dass dieser Zusammenhang im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts deutlich abgenommen hat. Der Mensch definiert sich hier eher im Gegenüber zur Natur. Unter diesen Voraussetzungen werden in der Parabel vor allem zwei Grundaussagen getroffen: 1. Der Zustand einer Pflanze lässt sich durch die Qualität ihrer Früchte ermitteln. Diese Aussage greift allerdings innerhalb des Bildes etwas kurz. In der damaligen Gesellschaft erfahrbare Außenwirkungen wie Hitze, Dürre, Platzregen und Stürme, die ebenfalls bewirken können, dass eine Frucht faul wird, ohne dass die Pflanze schlecht ist, werden in der Parabel nicht mit reflektiert. Stattdessen hebt das Bild gewissermaßen auf die internen Verhältnisse der jeweiligen Pflanze ab. 2. Für diesen Innenbereich wird neben der ersten Aussage über die Qualität auch eine zweite über die Art der Früchte getroffen, nämlich dass ein Baum nur seine eigenen Früchte hervorbringen kann und deshalb an seinen Früchten erkennbar ist (siehe dazu bereits sehr grundlegend Gen 1,11 f.). Auch diese Feststellung trifft nicht vollständig zu. Eine Alternative ergibt sich z. B. durch die bereits in der Antike mögliche Einpfropfung einer Pflanze in eine andere. Auf diese Weise können sich Frucht und Pflanze tatsächlich unterscheiden. Mit dieser Möglichkeit arbeitet z. B. auch das Bild in Röm 11,17 ff., dort allerdings beschränkt auf den wilden und kultivierten Ölbaum. Bei Columella heißt es sogar: »Aber da die Alten erklärten, man könne nicht jedes Reis auf jeden Baum pfropfen (…), halte ich es für notwendig, den in dieser Meinung steckenden Irrtum auszuräumen und der Nachwelt ein Verfahren zu überliefern, durch das man Reiser jeder Art auf Bäume jeder Art pfropfen kann.« (Colum. 5,11,12, zitiert nach Richter 1981, 631). Insofern geht die Parabel in ihrem bildspendenden Bereich vom Normalfall des Verhältnisses von Pflanze und Frucht aus, wie es in der antiken Gesellschaft jedermann geläufig gewesen sein wird. Dieses Verhältnis wird an zahlreichen Stellen innerhalb des Alten und Neuen Testaments thematisiert. Das hebräische Nomen für Frucht jt†Q7 (perî) meint ursprünglich das Herauskommende, Hervorgebrachte (Kedar-Kopfstein 1989, 745). Der Begriff umfasst dabei fünf Aspekte: 1. Das Gewächs, das aus dem Boden herauskommt (z. B. Ps 107,34), 2. die Frucht, die aus dem Gewächs hervorgeht (Gen 1,29), 3. das Produkt, das aus der Frucht gewonnen wird, z. B. Most aus den Trauben und Öl aus Oliven (Dtn 28,51), 4. den Samen, der aus der Frucht herauskommt und damit neues Wachstum einer neuen Pflanze ermöglicht (Gen 1,11 f.), 5. den Gesamtvorgang des fruchtbaren Wachsens in einem Land, durch das Nahrung und sicheres Leben ermöglicht werden (Lev 25,19). Der hebräische Begriff bezeichnet also eine Kette von Vorgängen, die jeweils durch den Grundgedanken des »Herauskommens« gekennzeichnet sind: Boden, Gewächs, Frucht, Samen, Produkte und damit Wachstum und Fruchtbarkeit an sich. Das Ganze hat deutlich prozessualen Charakter. Darüber hinaus kann das Wort Frucht recht oft auch konkret auf den Menschen bezogen werden und bezeichnet dann dasjenige, was aus der Frau hervorgeht, also den Säugling als die Frucht des Leibes (Gen 30,2), sehr überspitzt formuliert in der Vorstellung, dass auch diese Frucht in furchtbaren Notzeiten gegessen werden könnte (Klgl 2,20). 83

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Parabeln in der Logienquelle Q

Im lateinischen Kontext meint der entsprechende Begriff fructus zunächst ebenfalls »Sachen, die aus einer anderen Sache (›Muttersache‹) gewonnen werden, wie Feld- und Baumfrüchte, Holz, Tierjunge, Haare, Wolle, Milch« (Schanbacher 1998, 682). Durch die Verbindung von Frucht und »Muttersache« entsteht dabei auch ein Besitzverhältnis: Dem Eigentümer der Muttersache gehört ebenfalls die Frucht. Kontrovers diskutiert wurde dabei die Frage, ob dies auch für Kinder von Sklavinnen gilt (ebd.). Innerhalb des Neuen Testaments wird der in der Parabel verwendete griechische Begriff für Frucht (karp@ karpos) meistens im übertragenen Sinne oder als Bildhälfte einer Parabel verwendet, dagegen nur zwei Mal im eigentlichen Wortsinn: Jesus verflucht einen Feigenbaum, weil er keine Frucht trägt (Mk 11,14 mit Parallelen). Nachdem Elia betete, gab es Regen und die Erde brachte wieder Früchte hervor (Jak 5,18 mit Bezug auf 1Kön 18,42 ff.). Darüber hinaus wird im Lobgesang der Elisabeth Jesus im oben genannten Sinne als Frucht des Leibes der Maria bezeichnet (Lk 1,42). Ähnlich wird in Apg 2,30 Jesus Frucht aus den Lenden Davids genannt, wobei offenbar eine lange genealogische Kette mitgedacht wird (vgl. Lk 3,12-31).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Neben den wörtlichen Bedeutungen gibt es bereits im Alten Testament einen übertragenen Gebrauch des Wortes jt†Q7 (perî – Frucht). Es kann z. B. auf die Taten der Menschen bezogen werden (Ps 1,3), aber auch auf die Folgen einer Handlung (Jer 17,10). Diese Folgen bilden dann wiederum selbstreflexiv die Basis für das weitere Leben: Der Gerechte wird die Frucht seiner Werke essen (Jes 3,10). Ebenso kann sich jt†Q7 (perî) aber auch auf die Worte eines Menschen beziehen. Auch hier ist dabei mitreflektiert, dass die von ihm geäußerten Worte gewissermaßen auf ihn zurückfallen und für sein weiteres Leben wichtig sind (vgl. Spr 12,14; 13,12; 18,20 f. sowie Kedar-Kopfstein 1989, 748). Im NT findet sich dagegen fast ausnahmslos eine übertragene Verwendung des Begriffes Frucht und seines Verhältnisses zur dazugehörigen Pflanze: Schon zu Beginn der Spruchquelle Q wird das Bild von den Früchten eingeführt. In der Predigt des Johannes wird zum Tun von »Früchten der Umkehr« aufgefordert (Q 3,8). Dort werden die Früchte wie in der hier behandelten Parabel mit dem Baum in Verbindung gebracht: Derjenige, der keine schöne Frucht bringt, wird ins Feuer geworfen (Q 3,9). Aus dem Kontext wird deutlich, dass hier die Taten der Menschen und der Zorn Gottes (Q 3,7) gemeint sind. Entsprechend wird am Ende der Bergpredigt bzw. der Feldrede das Bild von den Früchten in Mt 7,16 ff. und Lk 6,43 ff. durch die anschließenden Verse im Sinne der Taten von Menschen interpretiert. In Mt 12,33 ff. wird dann das gleiche Bild zur Charakterisierung nicht des Tuns, sondern der Worte von Menschen verwendet. Zu diesen drei Texten, die direkt von der hier behandelten Parabel aus Q abhängen, siehe Näheres unten. Die Parabeln in Mt 13 vom Sämann (mit Parallelen in Mk 4,3 ff. und Lk 8,4 ff.) und vom Unkraut im Weizen nehmen den Gedanken der Frucht in V. 8, 23 (als Verb) und 26 auf, in der ersten Parabel ohne nähere Nennung der Pflanzen, in der zweiten in Bezug auf das Verhältnis zwischen Weizenpflanze und Korn. Zum Verständnis dieser Vorstellungen siehe die Ausführungen an anderen Stellen dieses Bandes. Das gilt auch für die Parabel von den Winzern, in der in Mt 21,34.41 und 43 der Begriff der Frucht in Bezug auf Trauben und Weinstock auftaucht (vgl. Mk 12,1 ff. und Lk 20,9 ff.). 84

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In Lk 13,6 ff. findet sich das Bild des Feigenbaums, der keine Frucht trägt, ebenfalls innerhalb einer Parabel. Auch die johanneischen Texte vom sterbenden Weizenkorn (12,24) sowie vom Weinstock und den Reben (Joh 15,1 ff., dort sechs Mal) verwenden das Wort im Rahmen von Parabeln. Im Kontext dieses Kapitels wird dann in Joh 15,16 f. das Fruchtbringen wie in Mt 7 und Lk 6 mit dem Tun dessen verbunden, was Jesus seinen Jüngern aufträgt, in diesem Falle die Liebe der Christen untereinander. In den von Paulus stammenden oder ihm zugeschriebenen Briefen wird das Wort fast ausnahmslos zur Charakterisierung der Konsequenzen des Glaubens verwendet. In Röm 1,13 bezeichnet karp@ karpos das Ergebnis der paulinischen Mission (vgl. auch Phil 1,22), in Röm 6,21 f. die Konsequenz einer an Gott oder die Sünde gebundenen Lebenshaltung, in Röm 15,28 die paulinische Geldsammlung für Jerusalem, in 1Kor 9,7 und Phil 4,17 materielle Zuwendungen für die Gemeindearbeit sowie in 2Tim 2,6 den wohl auch geistlichen Lohn für diese Arbeit. In Gal 5,22 meint »Frucht« die Konsequenzen der Wirksamkeit des Heiligen Geistes (Liebe, Friede, Freude usw.), ähnlich in Eph 5,9 die Konsequenzen des Lebens im Licht (Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit) und in Phil 1,11 die Gerechtigkeit. Außerhalb der Paulusbriefe sind in Hebr 12,11 Frieden und Gerechtigkeit die Früchte der rechten geistlichen Erziehung. In Hebr 13,15 wird das Christusbekenntnis als »Frucht der Lippen« bezeichnet. In Jak 3,17 f. werden »gute Früchte« als Konsequenzen der »Weisheit von oben« genannt, wobei eine von ihnen wiederum die Frucht der Gerechtigkeit ist. In Jak 5,7 ist die kostbare Frucht dasjenige, was die Glaubenden bei der Parusie des Herrn zu erwarten haben. Schließlich bringen die Bäume des Lebens in einem weiteren Bild im himmlischen Jerusalem nach Apk 22,2 monatlich ihre Früchte (gegen Hauck 1938a, 617, der hier einen Gebrauch im eigentlichen Wortsinn annimmt). Zum zweiten Bild in der Parabel vom Schatz in seiner Verbindung mit dem Begriff des Herzens gibt es eine interessante Parallele in Q 12,33 f. (Mt 6,19-21; Lk 12,33 f.). Dort geht es um das Anhäufen von Schätzen im Himmel, die nicht vergänglich sind oder gestohlen werden können wie die Schätze auf Erden. Die Schlussaussage lautet dann in der bei Mt gebotenen Fassung: »Denn wo dein Schatz ist, dort wird auch dein Herz sein.« (Bei Lukas heißt es im Plural: euer Schatz, euer Herz.) Im Kontext gelesen bezieht sich diese Aussage sowohl in Q (Q 12,22-31) als auch bei Mt (6,25-33) und bei Lk (12,22-31) auf die Abwehr einer übertriebenen Sorge um die irdischen Lebensgüter. Auch hier wird dies wieder mit Beispielen des Pflanzenwachstums in Verbindung gebracht. Die Lilien wachsen ohne Mühe und sind schöner angezogen als Salomo in seinen prächtigsten Kleidern (Q 12,27; Mt 6,28 f.; Lk 12,27). Deshalb soll man mit dem Herzen nicht irdische Schätze, sondern das Reich (Gottes) suchen, weil alles andere von Gott dazugegeben wird. In Bezug auf das Verhältnis des Herzens zum Mund finden sich in der rabbinischen Tradition Texte, die gegen die Aussagen der Parabel die Verschlossenheit des Herzens hervorheben. So heißt es bezüglich der Frage, wann die messianische Zeit anbrechen wird: »›Der Rachetag ist in meinem Herzen‹ Jes 63,4. Das Herz hat es dem Mund nicht kundgetan, wem könnte es der Mund kundtun?« und weiter in Bezug auf 2Sam 13,22: »›Absalom redete mit Amnon weder Böses noch Gutes; denn Absalom haßte den Amnon‹; was in seinem Herzen war, blieb in seinem Herzen« (Billerbeck I 2 1926, 639).

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Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel in Q 6,43-45 geht implizit offenbar davon aus, dass sich das Äußere und das Innere eines Menschen unterscheiden können. Die unausgesprochene, aber vorausgesetzte Frage ist dann, wie man das Innere des Menschen trotz Verstellungen oder Fehleinschätzungen zuverlässig erkennen kann. Dieses Problem wird zum Beispiel in der matthäischen Fassung anhand der Pseudopropheten (Mt 7,15) thematisiert. Prägend für das Verständnis ist dann eine Innen/Außen-Differenz. Die Aussage der Parabel lautet auf diesem Hintergrund, dass es bei allen in die Irre führenden Äußerlichkeiten ein sicheres Kriterium dafür gibt, was in den Menschen wirklich vorgeht, nämlich ihre Worte. Der Begriff des Herzens bzw. des Schatzes versinnbildlicht dann dieses Innere des Menschen. Hilfreich für das Verstehen der Parabel ist das mehrfach auftauchende und dadurch besonders hervorgehobene »aus« (¥k ek). Dieses sprachlich und inhaltlich zentrale Wort setzt voraus, dass es etwas Inneres gibt, aus dem heraus etwas fließt oder geworfen wird oder gesammelt wird. Das entspricht der Grundbedeutung des hebräischen jt†Q7 (perî – Frucht, siehe oben). Dabei ergeben sich logische Ketten: »Aus« den Pflanzen werden die entsprechenden Früchte geerntet (Q 6,44b), »aus« der Frucht eines Baumes erwächst deshalb die Erkenntnis über den Baum (Q 6,44a). Ebenso bringt der Mensch »aus« dem Schatz (seines Herzens) Gutes und Schlechtes hervor (Q 6,45a). Was im Herzen ist, kann also daran erkannt werden, was »aus« dem Mund gesprochen wird (Q 6,45b). Im Gegensatz zu der oben aufgezeigten Voraussetzung und Erfahrung, dass Äußeres und Inneres sich bei Menschen unterscheiden können, behauptet die Parabel also eine natürliche Konvergenz von Schatz bzw. Herz des Menschen und dem, was »aus« diesem Schatz oder Herzen hervorgeht. Der Aussage des letzten Satzes folgend entwickelt sich unausweichlich im Herzen des Menschen etwas, was über den Rand des als Gefäß vorgestellten Herzens hinausgeht und nach außen drängt. Dieses Etwas ist das Reden des Menschen. Der Begriff des Herzens ist dabei sicherlich nicht nur anthropologisch, sondern auch theologisch bzw. christologisch qualifiziert. Wenn man bei Mt und Lk, aber auch bereits in Q den Kontext beachtet, ist das Herz gewissermaßen der Bereich des Menschen, der durch die Worte Jesu angesprochen wird, und die Worte Jesu sind selbst Früchte, die aus seinem Herzen fließen. Das von Jesus in der Parabel Formulierte lässt sich nämlich auch selbstreflexiv auf seine eigene Rede anwenden: Durch die Worte, wie er sie in der Parabel und in der gesamten Feldrede bzw. Bergpredigt äußert, werden also der Schatz und das Herz Jesu erkennbar. Das Herz Jesu fließt durch den Mund über und bringt die guten Worte der Parabel und der gesamten Rede hervor. Diese Worte wollen dabei benennen, was die Menschen tun sollen. So heißt es in den anschließenden Sätzen: »Was ruft ihr mich: Herr, Herr, und tut nicht, was ich sage? Jeder, der meine Worte hört und sie tut, ist einem Menschen gleich, der sein Haus auf den Felsen baute« usw. (Q 6,46 ff.). Insofern ergibt sich aus der Stellung der Parabel in ihrem Kontext die folgende Kette: Ausgangspunkt ist das Herz Jesu, die Worte Jesu sind Früchte aus Jesu Herz, diese Worte sind an die Herzen der Menschen gerichtet. Wenn sie dort aufgenommen werden, bringen sie dort ihrerseits gute Worte und Taten hervor. Die Taten und Worte der Glaubenden sind also mittelbar Früchte der Worte Jesu.

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Von den Früchten des Baumes und dem Sprechen des Herzens Q 6,43-45

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parabel wird im Neuen Testament und seinem Umfeld vor allem an drei Stellen verarbeitet: in Mt 7,16-20 und 12,33-35, in Lk 6,43-45 und EvThom 45. An einer Stelle findet sich außerdem noch eine Variante der Aussage aus Q 6,44: In Jak 3,12 wird der Satz von den Trauben und Feigen so verändert, dass der Feigenbaum keine Oliven und der Weinstock keine Feigen hervorbringen kann. Bei Lk findet sich der gesamte Parabeltext aus Q am Ende der Feldrede kurz vor deren Abschluss. Der Text schließt mit einem Wortspiel, wie wahrscheinlich schon in der Q-Vorlage, an den vorangestellten Satz Lk 6,42 an: Nach dem Splitter (k€rfo@ karphos) im eigenen Auge geht es um die Frucht (karp@ karpos) des Baumes. Dieser vorhergehende Vers zeigt, dass Lk mit der Verwendung der Parabel nicht nur auf die Beurteilung des Redens und Tuns anderer Menschen, sondern vor allem auf eine kritische Selbstreflexion der Leser zielt: Jeder soll zuerst auf den Splitter in seinem eigenen Auge und auf die eigenen Früchte achten. Die Variationen des Lukastextes der Parabel im Vergleich zum eingangs wiedergegebenen Q-Text sind gering. In Lk 6,44a wird der Baum aus Q zu »jeder Baum« verändert und an den Anfang des Satzes gestellt. In V. 44b findet sich statt einer Frage eine Aussage, angeschlossen mit begründendem »denn« (g€r gar). Der Parallelismus der beiden Aussagen des Satzes wird durch die Ergänzung des Verbs »ernten« am Ende in Korrespondenz zum »zusammenlesen« in der Mitte verstärkt. In V. 45 wird der Schatz, die Schlussaussage vorwegnehmend, schon am Anfang als »Schatz des Herzens« bezeichnet, das »herauswerfen« aus Q wird zu »hervorbringen«, die guten und bösen Dinge werden zu »Gutes« und »Böses« abstrahiert und die zweite Erwähnung des »Menschen« im zweiten Satzteil wird gestrichen. Durch die folgenden Verse wird die Parabel wie schon in Q auf die Worte Jesu bezogen. Das hat vor allem zwei Aspekte. Zum einen wird damit die Rede Jesu durch die Parabel reflektiert: Jesus ist der gute Mensch, aus dessen Herzen gute Worte herausfließen. Zum anderen wird das in der Parabel Gesagte auf die Taten der Menschen bezogen. Der gute Mensch bewirkt gute Taten, wenn er das tut, was Jesus sagt (Lk 6,46 ff.). Das Tun der Menschen korrespondiert mit dem Tun des Baumes in V. 43 (beide Male poiffw poieo¯). Der Schlusssatz bei Lk in 6,45 zeigt aber, dass bei Lk sowohl die Taten als auch die Worte der Menschen gemeint sind (vgl. Bovon 1989, 338). Bei Mt wird die Parabel in zwei Teile differenziert. Der erste und der dritte Satz erscheinen wie bei Q und auch bei Lk innerhalb der größeren Jesusrede in Mt 7,16 ff., die drei anderen Sätze bringt Mt dagegen erst in Mt 12,33 ff. in einem anderen Kontext. Mt beginnt in 7,16b mit dem dritten Satz der Parabel, der rhetorischen Frage. Dabei wird das doppelte »aus« (¥k ek) zu »von« (⁄p apo) verändert und es werden die Trauben und Feigen vertauscht. Es folgt dann der erste Satz der Q-Parabel in 7,18. In 7,17 ist jedoch ein Vers zwischengeschoben, der die negative Formulierung aus V. 18 in positiver Form bringt. Gerahmt ist der Text durch eine wortidentische Aussage in V. 16a und 20. Eingeschoben ist noch in V. 19 ein Satz, der an die Bußrede des Johannes in Mt 3,10 anknüpft. Der Textteil in Mt 7,16-20 lautet damit: Mt 7,16-20: (16) An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Lesen sie aus Dornen Trauben zusammen oder aus Disteln Feigen? (17) So macht jeder gute Baum schöne Früchte, aber der faule Baum macht böse Früchte. (18) Nicht kann ein guter Baum 87

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Parabeln in der Logienquelle Q

böse Früchte bringen und nicht ein fauler Baum schöne Früchte bringen. (19) Jeder Baum, der keine schöne Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. (20) Also: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Durch V. 19 und 21 ff. wird der ganze Abschnitt 7,16-20 auf das Eingehen oder NichtEingehen in das Reich der Himmel bezogen und bekommt damit einen eschatologischen Akzent. Als entscheidendes Kriterium erscheint dabei das Tun des Willens Gottes (7,21) bzw. das Tun der Worte Jesu (7,24 ff.). Den zweiten Teil der ursprünglichen Parabel aus Q bringt Mt dann mit ihrem zweiten, vierten und fünften Satz in 12,33 ff., wiederum in veränderter Reihenfolge und mit Einschüben. Nach dem zweiten Satz vom Erkennen des Baumes an seinen Früchten in V. 33b wird der dritte vom Ernten der Feigen von den Dornen usw., der sich bereits in Kap. 7 fand, hier ausgelassen. Dafür wird ein Fluch eingeschoben, der sich gegen diejenigen richtet, die böse sind und Gutes reden wollen, im Kontext wohl auf die Pharisäer in 12,24 zurückbezogen. Es folgt dann der fünfte Satz aus Q in V. 34, bevor die Parabel mit dem vierten Satz in V. 35 abschließt. Der Textteil in Mt 12,33-35 lautet damit: Mt 12,33-35: (33) Macht entweder einen schönen Baum und seine Frucht wird schön, oder macht einen faulen Baum und seine Frucht wird faul. Denn an der Frucht wird der Baum erkannt. (34) Otterngezücht, wie könnt ihr gute Dinge reden, wenn ihr schlecht seid? Denn aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund. (35) Der gute Mensch wirft aus dem guten Schatz gute Dinge heraus und der schlechte Mensch wirft aus dem schlechten Schatz schlechte Dinge heraus. Durch die anschließenden Verse 36 f. wird dieser zweite Teil der Parabel wie der erste in Kap. 7 in eine eschatologische Perspektive gestellt. In diesem Teil wird das Gesagte aber nicht mehr wie vorher auf die Taten der Menschen, sondern auf ihre Worte bezogen. Der Zusammenhang von Worten und Taten ist bei Mt grundlegend. So folgen schon im Grobaufbau des Evangeliums auf die Worte Jesu in der Bergpredigt Kap. 5-7 seine entsprechenden Taten in Kap. 8 f. Dieser Zusammenhang wird offenbar auch in Mt 7,16 ff. vorausgesetzt. Man kann die Aussagen der Parabel in Mt 7 und 12 in Verbindung mit den die Bergpredigt einleitenden Makarismen in 5,3-16 verstehen, einem der zentralen Texte des Mt (vgl. auch Lk 6,20 ff.). Die Worte und Taten der Menschen, die in der Parabel in Mt 7 und 12 angesprochen werden, sind dann Konsequenzen der Lebens- und Glaubenshaltung der Friedfertigkeit, Sanftmut und Barmherzigkeit, wie sie in den Seligpreisungen beschrieben wird. Die Gesamtaussage der Parabel in ihren beiden Fassungen bei Mt lautet von den Seligpreisungen her verstanden: Durch die Worte Jesu in der Bergpredigt soll das Herz der Menschen friedfertig, barmherzig und sanftmütig werden. Dieses Herz bringt dann die dementsprechenden guten Worte und Taten hervor. Außerhalb des NT findet sich die Parabel im EvThom in folgender Fassung: EvThom 45,1-4: (1) Spricht Jesus: Sie ernten nicht aus Dornen Trauben und lesen nicht Feigen aus Disteln zusammen. Denn sie geben keine Frucht. (2) Ein guter Mensch bringt etwas Gutes aus seinem Schatz hervor. (3) Ein schlechter Mensch bringt Böses hervor aus dem Schatz, seinem schlechten, der in seinem Herzen ist, und redet Böses. (4) Denn aus dem Überfluss des Herzens bringt er Böses hervor.

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Von den Früchten des Baumes und dem Sprechen des Herzens Q 6,43-45

Der erste Satz im EvThom beginnt also mit dem dritten Satz der Parabel aus Q, und es finden sich wie in Mt Trauben und Feigen in umgekehrter Reihenfolge. Die beiden Aussagen dieses Satzes werden im EvThom nicht wie in Q auf die Verschiedenartigkeit von Pflanze und Frucht bezogen, sondern auf das gänzliche Fehlen einer genießbaren Frucht. Der nächste Satz folgt im Prinzip dem vierten Satz in Q. In der negativen Aussage im daran anschließenden Satz wird aber deutlich, dass hier mit dem Schatz im Gegensatz zu Q nicht das Herz selbst, sondern der Inhalt des Herzens gemeint ist. Dieses Innere, der Schatz im menschlichen Herzen, wird offensichtlich negativ verstanden. Der Mensch kann also aus seinem Herzen offenbar nur Böses hervorbringen, was sich wiederum besonders in seinem Reden zeigt. Dem wird ein anderer Schatz gegenübergestellt, aus dem heraus »etwas Gutes« hervorgebracht werden kann. Dieser Schatz ist aber offenbar nicht mit dem Herzen des Menschen unmittelbar verbunden. Möglicherweise spiegelt sich in dieser Darstellung des schlechten Schatzes im Herzen eine skeptische Sicht der natürlichen Befindlichkeit des Menschen wider, wie sie für die Gnosis charakteristisch ist. Eine recht eigenartige Interpretation der Parabel findet sich im 2. Jahrhundert bei Markion, der die beiden Bäume nicht auf Menschen, sondern auf zwei Götter bezieht und dadurch auch eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Schöpfergott und Christus konstruiert. Tertullian skizziert in seiner Schrift »Wider Markion« (Tert. Marc. 1,2) seine Argumentation folgendermaßen: »Zwei Götter bringt der Mann aus Pontus bei (…): der eine, den er nicht wegleugnen konnte, ist der Schöpfer, also unser (Gott); der andere, den er schwerlich hat beweisen können, ist sein eigener. Den Anstoß zu diesem Hirngespinst empfing der Unglückselige aus dem ganz einfach (zu verstehend)en Abschnitt der Verkündigung des Herrn, wo – in Anwendung auf Menschen, nicht auf Götter! – das Doppelbeispiel des guten und schlechten Baumes gebracht (und gesagt wird), dass weder der schlechte Baum gute noch der gute schlechte Früchte bringen könne. (…) Und je mehr er sich (…) eingebildet hatte, dass dieser (Gott) der Urheber des Bösen sei, umso eher deutete er den schlechten Baum mit den schlechten Früchten, d. h. mit den Übeln, auf den Schöpfer und nahm an, daß (daneben), entsprechend dem guten Baum mit den guten Früchten, ein anderer Gott existieren müsse. (…) Und so entdeckte er in Christus gleichsam eine andere Heilsordnung (…): die der ausschließlichen, reinen Güte und von der (Wesensart) des Schöpfers ganz und gar verschieden, und hatte leichtes Spiel mit dem Beweis, daß es eine neue, fremde Gottheit sei, die sich in seinem Christus offenbarte« (Tertullian, zitiert nach Ritter 6 1994, 23 f.). Zwar ist es, wie oben ausgeführt, durchaus denkbar, dass sich das Bild vom guten Baum und seinen Früchten auch auf Christus selbst und seine Worte bzw. Taten beziehen lässt, der Schluss Markions, diesen Christus dem Schöpfergott gegenüberzustellen und damit so etwas wie eine Zweigötterlehre zu konstruieren, geht jedoch am Sinn der Parabel deutlich vorbei und wurde deshalb nicht zu Unrecht als häretisch verurteilt. Eine der Hauptfragen der weiteren Auslegungstradition der Parabel nach Abschluss des Kanons besteht – nun wieder auf Menschen bezogen – darin, ob die Früchte innerhalb der Parabel auf die Taten oder auf die Worte hin gedeutet werden können. In der Alten Kirche, im Katholizismus und dann wieder seit der Aufklärung und dem Pietismus überwiegt die Interpretation der Früchte als Taten der Glaubenden, in der (spät)reformatorischen Auslegung werden die Früchte öfters auch auf die rechte Lehre hin gedeutet (Luz 5 2002, 531 f. mit Bezug auf Calvin, Bucer, Bullinger, Brenz, Calov und Calixt). 89

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Parabeln in der Logienquelle Q

Eine weitere wesentliche Frage ist damit zusammenhängend vor allem seit der Reformation, ob der Mensch durch eigene Werke oder Worte etwas zu seiner Rechtfertigung vor Gott beitragen kann oder nicht. (Dieses Problem nimmt in gewisser Weise auch den eschatologischen Kontext der Parabel in den Evangelien auf.) Martin Luther interpretiert die Parabel aus Mt 7,16-20 in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam über den freien bzw. unfreien Willen auf diesem rechtfertigungstheologischen Hintergrund. In seiner Schrift De servo arbitrio gibt Luther zunächst in der ihm eigenen polemischen Art die Position des Erasmus wieder: »Derhalben sinds eitel Ausreden, da du aus dem Evangelio einführest den Spruch: ›Aus ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.‹ (Mt 7,20). Hier sprichst du: er saget ›aus ihren Früchten‹, das ist aus ihren Werken. Siehe, da nennet er die Werke unser; wie könnten es aber unsere Werke sein, wenn sie also müssten aus Nothwendigkeit geschehen, wo wir keinen freien Willen hätten.« (Luther nach G. Merz 1934, 139, vgl. den lateinischen Text bei Clemen 6 1966, 190: »At ea nostra non sunt, si cuncta geruntur necessitate.«) Daraufhin erwidert Luther, dass nicht nur diejenigen »unsere« Werke genannt werden können, die wir selbst aus freiem Willen getan hätten. »Warum solltens nicht unsere Werke sein, die uns Gott gegeben hat durch seinen Geist? Sollte darum Christus nicht unser sein, ob wir ihn nur empfangen haben als ein Geschenk und nichts dazu getan? Wenn nichts unser ist, denn was wir selbst gemacht haben, so sind unsere Augen, Hände und Füße auch nicht unser; ja, was haben wir an Leib und Seele (wie Paulus saget 1Kor. 4,7), das wir nicht empfangen haben? Sollten wir darum sagen, dass das alles entweder nicht unser wäre oder dass wir es selber gemacht hätten? Nun will ich gleich vorgeben, dass darum das Evangelium die Früchte ›unser‹ nennen sollte, dass wir sie getan haben; wo bleibet der Heilige Geist und die Gnade?« (Luther nach G. Merz 2 1934, 139 f.; bei Clemen 6 1966, 190, in umgekehrter Reihenfolge: »ubi manet gratia et spiritus«). Anstelle der ethischen Position des Erasmus, die auf die notwendige Existenz eines freien Willens abzielt, aus dem heraus gute Taten geschehen, versteht Luther die »Früchte« in Mt 7 also als von Gott geschenkte und durch den Geist bewirkte Taten. Im Kern ergibt sich damit von der Auslegungsgeschichte her für eine aktuelle Interpretation die Frage, ob die Parabel klare ethische Kriterien des guten Handelns und Redens beschreibt, an denen ein Christ erkannt werden kann, und ob diese Kriterien die reformatorische Grundaussage, dass die Rechtfertigung aus Gnade geschehe, relativieren (vgl. Luz 5 2002, 533). So könnte auch der bei Mt auf die Parabel folgende Satz in 12,37 verstanden werden: »Denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verurteilt werden.« Für die Parabel selbst stellt sich dieses Problem allerdings nicht. Sie behauptet gerade die natürliche und unaufhebbare Verbindung von Herzensglauben und entsprechendem Handeln bzw. Reden. Das Reden und Tun der Menschen beruht deshalb nicht auf ethischen Appellen an ein über sein eigenes Verhalten entscheidendes Subjekt. (Die Interpretation von Gemündens 1993, 181 trifft zwar einerseits das lukanische Interesse am ethischen Aspekt: »Lk 6,43-45 ist als Mahnung zu einem dem Jüngersein entsprechenden ethischen Handeln gefaßt.« Die Parabel geht aber noch tiefer.) Die Worte und Taten sind vielmehr Konsequenz dessen, was im Herzen geschieht. Man soll sich deshalb nicht von Äußerlichkeiten wie dem großartigen Auftreten falscher Propheten (Mt 7,15) täuschen lassen. Und man soll nicht andere richten, sondern auf das eigene Herz und die von dort herauskommenden Taten und Worte achten (vgl. Lk 6,42). Grund des eigenen 90

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Von den Früchten des Baumes und dem Sprechen des Herzens Q 6,43-45

Handelns und Redens ist dabei nicht die eigene Motivation im Sinne eines modern gedachten freien Willens, sondern die innere Bewegung, die durch Jesu Worte bewirkt wird und die durch gute Taten und Worte gewissermaßen natürlicherweise wie die Früchte einer Pflanze nach außen drängt.

Dierk Starnitzke Literatur zum Weiterlesen G. Baumbach, Das Verständnis des Bösen in den synoptischen Evangelien, ThA 19, Berlin 1963, 53-209. L. I. M. Columella, Zwölf Bücher über Landwirtschaft, lt.-dt. hg. und übers. v. W. Richter, München 1981, 623-633. M. Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, HBS 15, Freiburg i. Br. u. a. 1998, 276-289. P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Göttingen 1993, 141-151. J. Gnilka, Das Matthäusevangelium. 1. Teil: Kommentar zu Kap. 1,1-13,58, HThK 1,1, Freiburg i. Br. 3 1993, 271-279. H. Klein, Das Lukasevangelium, KEK I/3, Göttingen 2006, 259-265. V. Kókai Nagy, Guter Baum – gute Früchte: Ist es prädestinatorisch?, BN 160 (2014), 3-17. M. G. Steinhauser, Doppelbildworte in den synoptischen Evangelien. Eine form- und traditionskritische Studie, fzb 44, Würzburg 1981, 79-96. H. Th. Wrege, Art. karp@ ktl., EWNT 2 (2 1992), 619-623.

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»Einstürzende Neubauten« (Hausbau auf Felsen oder Sand) Q 6,47-49 (Mt 7,24-27 / Lk 6,47-49) (47) Jeder, der meine Worte hört und sie tut, (48) gleicht einem Mann oder einer Frau, die ihr Haus auf Fels bauten. Und der Regen fiel herab und die Wasserströme kamen und die Stürme wehten und stürzten gegen jenes Haus – und es stürzte nicht zusammen, denn sein Fundament war auf Fels gelegt. (49) Und jeder, der meine Worte hört und sie nicht tut, gleicht einem Mann oder einer Frau, die ihr Haus auf Sand bauten. Und der Regen fiel herab und die Wasserströme kamen und die Stürme wehten und prallten gegen jenes Haus – und sofort stürzte es zusammen und sein Einsturz war gewaltig.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel vom Hausbau stellt in parallelen Episoden zwei Ereignisse aus dem Alltagsleben einander gegenüber. Der sich daraus ergebende Vergleich (rhetorisch: Synkrisis) ist elementar für die Pragmatik der Parabel (s. u.). Die beiden Erzählstränge werden weder geographisch noch zeitlich miteinander verknüpft. Die eigentliche Verbindung findet auf der Meta-Ebene statt: In einer doppelten Einleitung (47.49a) stellt der Sprecher Jesus (jeweils im Präsens) den Ausgangsgegenstand in Form eines konkreten Falles voran (Berger 2005, 100). Dabei formuliert er eine Allgemeinregel (vgl. p”@ ¡ [pas ho] in Q 11,10; Mt 5,22.28.32; 7,21; Lk 12,8; 14,11; 16,18), die zwei entgegengesetzte Reaktionen (tun – nicht tun) auf dieselbe Situation (die Worte Jesu hören) thematisiert. Der jeweilige Tempuswechsel (Präsens – Vergangenheit) zeigt den Übergang von der Sachebene in die Erzählwelt an. Beide Episoden enthalten die für Erzählungen charakteristische Abfolge von Exposition (Bau), Komplikation (Unwetter) und Auflösung (Schadensaufnahme). Nach dem Hausbau bilden die mit »und« verknüpften Einzelereignisse eine Kausalkette: Dem heftigen Regenfall folgen Sturzbäche und Windstürme, welche die Gebäudestatik einer harten Probe unterziehen. Am Ende bleibt ein Haus unbeschädigt, das andere stürzt ein. Während die Komplikation identisch ist, geht der Unterschied am Ende auf ein Detail der Exposition zurück: Fels oder Sand. (Die im Griechischen gesetzten Artikel werden nicht definit, sondern generisch gebraucht und bleiben daher im Deutschen unübersetzt.) Das ungewöhnliche Bauen auf Sand stellt eine Extravaganz dar und zeigt den metaphorischen Charakter der Erzählung an. Die Parabel malt die Konsequenzen des Unterschieds (Fels – Sand; tun – nicht tun) aus. Während das Feststehen des ersten Hauses mit einer Begründung versehen wird, bedarf der Einsturz des zweiten keiner. Mit dem »gewaltigen Fall« wird am Ende die Symmetrie durchbrochen und alles Gewicht auf die Katastrophe gelegt (Hagner 1993, 191). Die doppelte Parabeleinleitung (47.49a) kann (ähnlich wie Mt 5,22; 7,8; 10,32; 19,29; Lk 14,11; usw.) als Bedingung-Folge-Relation gelesen werden: Wenn jemand so handelt, dann wird es ihm ähnlich ergehen wie dem Menschen der folgenden Geschichte. 92

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»Einstürzende Neubauten« Q 6,47-49

Auf der pragmatischen Ebene fordert die Gegenüberstellung von zwei Lebensschicksalen die Hörerschaft zur Entscheidung im Hinblick auf die Lehre Jesu heraus (Strecker 2 1985, 177 f.). Der Unterschied zwischen der Erzählzeit (kaum eine Minute) und der erzählten Zeit (vom Hausbau bis zum Einsturz) weist ein hohes narratives Tempo auf. Die parabeltypische Reduktion auf das für den Sinntransfer Unerlässliche verleiht der Erzählung stark summarische Züge (vgl. allgemein Chatman 1978, 68-70; Genette 2 1998, 68-71). Dennoch fällt die relativ ausführliche Beschreibung des Unwetters auf. Diese verstärkt den affektiven Aspekt der Entscheidungsfindung (vgl. dazu Berger 2005, 103). Im Kontext der Logienquelle bildet die Hausparabel den Abschluss der Eröffnungsrede Jesu in Q 6,20-49 (vgl. dazu Catchpole 1993, 79-134; Kloppenborg 1987a, 171-190). Die Abfolge der Bildfelder Pflanzung (Q 6,43-45) und Bau (6,47-49) ist traditionell (vgl. Dtn 20,5 f.; Ps 92,14; Jer 1,10; 18,9; Am 9,11-15; 1QS 8,5; 1Kor 3,6-10). Die Hausparabel ist durch Wortverknüpfung deutlich in ihr unmittelbares Umfeld eingebettet. Mit dem einleitenden Wort Q 6,46 (»Was nennt ihr mich Herr, Herr, und tut nicht, was ich sage?«) verbindet sie die erste Singularform, das Verb »tun« und das Wortfeld »sagen/Worte« (vgl. Schlosser 2001, 308). Die anschließende Erzählung von der Heilung des Hauptmannsohnes (Q 7,1-10) knüpft mit der Anrede »Herr« (6,46; 7,6) und dem Hinweis auf das »Wort« Jesu (6,47.49; 7,7) an das Vorherige an. Der Hauptmann erscheint dadurch als Beispiel für den in 6,46-49 geforderten Gehorsam (Jacobson 1992, 109 f.; Sevenich-Bax 1993, 458). Indem als neues Element der Glaube hervorgehoben wird, stellt sich der Zusammenhang zwischen Hören und Tun im Nachhinein in den größeren Deutungsrahmen des Vertrauens auf Jesus (Kirk 1998, 387).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Der private Hausbau ist für den Bereich der dörflichen Wohnkultur schlecht erschlossen (vgl. Lichtenberger 2005; Thiel 2005). Die leitenden Gesichtspunkte waren Statik (vgl. Lk 13,4) und Brandschutz (vgl. 1Kor 3,12-15). Die Bautätigkeit konnte nicht von jedermann verrichtet werden. Je nach Finanzmittel wurden ein Architekt oder sachverständige Bauarbeiter (vgl. Vitr. I 1) und weitere Handwerksleute (etwa für die Dachkonstruktion)

Rekonstruktion eines zweistöckigen Hauses mit offenem Hof, Galiläa 2. Jh. n. Chr. (Galor 2003, 48)

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Parabeln in der Logienquelle Q

hinzugezogen. In der hellenistischen Zeit wurde der Bau mit luftgetrockneten ungebrannten Ziegeln mehrheitlich abgelöst durch die statisch sichereren und an römische Vorbilder angelehnten Steinbauten (Galor 2003, 54; Hirschfeld 1995, 218; kaum »Lehmhäuser« wie Luz 5 2002, 536 für Mt vermutet). Während die knappere Version in Q (und Mt) den direkten Bau auf Festgestein vor Augen hat, erwähnt Lk 6,48 ausgedehnte Fundamentarbeiten. Die wichtigste antike Quelle, Vitruvs De architectura aus dem 1. Jh. v. Chr. (ed. Fensterbusch 3 1981), beschäftigt sich mit der Fundamentlegung im Zusammenhang mit dem Bau von Türmen und Stadtmauern (I 5,1.6 [20,25 ff.]), Tempelanlagen (III 4,1 f. [75,11 ff.]), Theater (V 3,3 [108,28 ff.]) und Häfen (V 12,5 f. [130,11 ff.]). Die Fundamente von Privatbauten, die »bis zum hohen Alter dauerhaft (firma) sein« sollen (VI 8,1 [151,24 ff.]; ed. Fensterbusch 3 1981, 294 f.), sind nach den gleichen Regeln zu legen: Die Fundamente müssen so angelegt werden, »daß ihre Baugruben, wenn fester Boden gefunden werden kann, bis zum festen Boden und noch im festen Boden ausgehoben werden so tief, wie es der Mächtigkeit des Baues entsprechend zu sein scheint […] und diese Gruben müssen dann mit möglichst festem Mauerwerk angefüllt werden«. (I 5,1 [21,2 ff.] ed. Fensterbusch 3 1981, 54 f.) »Findet sich aber kein fester Boden, sondern ist das Gelände bis tief unten locker oder sumpfig, dann soll der Platz abgegraben und leer gemacht werden und mit angekohlten Pfählen von Erlen- oder Oliven- oder Eichenholz festgemacht werden, und Tragpfähle sollen möglichst dicht nebeneinander mit Maschinen eingerammt werden. Die Zwischenräume zwischen den Pfahlreihen sollen mit Holzkohle ausgefüllt und dann die Grundmauern mit sehr festem Mauerwerk aufgebaut werden.« (III 4,2 [75,21 ff.] ed. Fensterbusch 3 1981, 152 f.)

Wenn Matthäus den Mann, der auf Sand baut, als »dumm« bezeichnet (7,26), dann spricht er damit das aus, was jedem Hörer und jeder Hörerin in den Sinn kommen musste. Die abweichenden Unwetterbeschreibungen in Q (und Mt) und Lk werden häufig auf unterschiedliches Lokalkolorit zurückgeführt (vgl. u. a. Bovon 1989, 341; Jeremias 11 1998, 193). Demnach würden die durch wolkenbruchartige Regenfälle ausgelösten Sturzbäche in Q palästinische Verhältnisse widerspiegeln, wohingegen Lukas ein Stadthaus in Flussnähe vor Augen habe, das durch die ansteigenden Fluten unterschwemmt wird. Die langen Regenzeiten in Palästina (126-227 Tage im Jahr) lassen eine zeitliche Eingrenzung der Regenzeit kaum möglich erscheinen (Dalman 1928a, 115-130.172-194; ergänzend Keel/Küchler/Uehlinger 1984, 41-47). Auch für das lukanische Überschwemmungsszenario ist ein palästinischer Kontext denkbar (z. B. Überschwemmung des Jordans; vgl. Dalman 1928a, 206-208; I. H. Jones 1995, 187 f.).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Gegenüberstellungen von zwei Lebensweisen haben eine lange Tradition in der Unterweisungsliteratur Israels (Ps 1). Sie finden sich in unterschiedlicher Form häufig am Abschluss von zentralen Texteinheiten: Segen und Fluch am Ende des Heiligkeitsgesetzes (Lev 26) oder des Deuteronomiums (28; 30,15-20), Sünder und Gerechte in der Endredaktion des Henochbuches (1Hen 108) oder am Ende der Himmelfahrt Mose (12,10-13), Gute und Böse am Ende von TestNaph (8,4-7). 94

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»Einstürzende Neubauten« Q 6,47-49

Fels und Haus drücken Sicherheit und Beständigkeit aus. Die häufige Verwendung der Felsmetapher für Gott in der hebräischen Bibel (vgl. Dtn 32,4.15.30 f.37; 2Sam 22,2.32.47; Ps 18,3.32.47; 62,3.7 f.; 92,16; Jes 26,4) wird allerdings in der Septuaginta mit einer solchen Konsequenz vermieden (nur 2Sam 22,2; vgl. Olofsson 1990, 35-80; van der Woude 1976, 543), dass eine feste theologische Metapher für den griechischen Q-Text nicht vorausgesetzt werden kann. Der Fels erscheint in den Psalmen auch als Grundlage der göttlichen Rettung (Ps 27,5; 40,3; 61,3; s. a. Jes 33,16; 1QH 6,26). Ein Leben in Gerechtigkeit ist ein »Fundament der Wahrheit für Israel« (1QS 5,4b: vgl. dazu Muszynski 1975, 92-97). Ein Haus zu bauen und es nicht nutzen zu können, ist Sinnbild für Fluch (Dtn 28,30b; Hi 27,18 f.; Spr 15,25). Traditionelle Übertragungen vom Haus auf die Kirche oder vom Fundament auf Christus sind hier kaum impliziert. Auch das Element Sand lässt sich keinem metaphorischen Feld fest zuweisen (trotz H. D. Betz 1995, 566 f., der über die Bedeutung von »Sand« = Nationen spekuliert). Das Bestehen im Sturm begegnet in der Spruchweisheit als Erkennungsmerkmal für das Leben der Gerechten (Spr 10,25; 12,7; 14,11; Hi 21,17 f.; 22,15-17; SapSal 4,4). Sturmphänomene sind zudem häufig mit dem Gerichtswirken Gottes verbunden. Das berühmteste Beispiel dafür stellt die Flutgeschichte in Gen 6-7 dar, auf welche die Parabel jedoch keine spezifischen Hinweise enthält (I. H. Jones 1995, 178; anders Jeremias 11 1998, 46 [»Sintflutgleichnis«], 87; Knowles 2000, 289). Das Bildfeld Hausbau-Unwetter wird in der Anklage gegen die Spötter in Jes 28,14-22 konsequent in die Gerichtsverkündigung integriert. Ez 13,10-13 kündigt den falschen Propheten das Gericht in Form eines Sturms, der eine Mauer zu Fall bringt, an. Später wird Gog durch Wolkenbrüche, Hagel, Feuer und Schwefel gerichtet (Ez 38,22). Diese Vorstellung ist auch in der späteren jüdischen Literatur belegt (syrBarApk 53; SibOr 3,689-692). Das Sturmmotiv ist am deutlichsten metaphorisch in Richtung göttlichen Richtens vorgeprägt. Die Verbindung von Wort, Hören und Tat (vgl. Dtn 31,12; 4,1.6.10; 5,1.27; 6,3; zur rabbinischen Tradition Dschulnigg 1988, 286-291; Flusser 1981, 101-103) wird in zwei rabbinischen Parabeln mit ähnlichen Bildfeldern zur Sprache gebracht. Die Mischna überliefert eine Parabel von Rabbi El‘azar ben ‘Azarja (ca. 100 n. Chr.; vgl. Viviano 1978, 82-86): Wem gleicht jeder, dessen Weisheit größer als seine Taten ist? Einem Baum, der viele Zweige hat, aber wenig Wurzeln. Und der Wind kommt, entwurzelt ihn und wirft ihn auf sein Gesicht […]. Aber wem gleicht jeder, dessen Taten größer sind als seine Weisheit? Einem Baum, der wenige Zweige hat, aber viele Wurzeln, so daß, selbst wenn alle Winde der Welt kommen und wehen, sie ihn nicht von seiner Stelle rücken können […]. (mAv 3,18 = Correns 2005, 591 f.)

Ein außerkanonisches rabbinisches Traktat aus dem späten 4. Jh. überliefert eine ähnliche Parabel von Elisha ben Abuyah (ca. 120 n. Chr.; vgl. Flusser 1981, 115 f., Anm. 125): Ein Mensch, der viele gute Werke hat und viel Tora gelernt hat, womit läßt sich der vergleichen? Mit einem Menschen, der unten mit Steinen baut und danach mit Ziegeln; auch wenn viele Wasser kommen und an ihren Seiten stehen bleiben, lösen sie sie nicht auf von ihrer Stelle weg. Ein Mensch aber, der keine guten Werke hat und Tora lernt, womit läßt sich der vergleichen? Mit einem Menschen, der zuerst mit Ziegeln baut und danach mit Steinen; auch wenn nur geringe Wassermassen kommen, stürzen sie sie alsbald um. (’Abot Rabbi Nathan A 24,1 f. = Billerbeck I 2 1926, 469)

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Parabeln in der Logienquelle Q

Von einer Übernahme dieser Stoffe durch Jesus ist aus chronologischen Gründen kaum auszugehen (anders Flusser 1981, 98). Gegen die Annahme, die rabbinische Tradition sei eine Weiterentwicklung von Lk 6,47-49 (Jülicher II 2 1910, 267; Kosch 1989, 408, Anm. 1002), sprechen v. a. die sprachlichen Unterschiede (so bereits Fiebig 1912, 82). Dass jedoch die Parabel Jesu die rabbinischen Beispiele »an Kraft und Unmittelbarkeit weit« überrage (Grundmann 7 1990, 242 Anm. 3), ist im besten Falle ein Geschmacksurteil, im schlimmsten jedoch ein antijüdisches Vorurteil. Ein »charakteristischer Unterschied« (Weder 4 2002, 246 f.) zwischen Bauen auf einem Fundament (Mt) und ein Fundament selber bauen (ARN) ist nicht erkennbar (Luz 5 2002, 538, Anm. 24). Zum einen geht es auch in ARN nicht um eine Fundamentlegung (das wird gerade von Lk hervorgehoben!), zum anderen betonen beide Parabeln den unlösbaren Zusammenhang zwischen Hören und Tun (Strecker 2 1985, 178).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel hebt die für die Zukunft entscheidende Bedeutung des Fundaments hervor. Jesu Lehre spaltet seine Hörer und Hörerinnen in solche, die das Gehörte in die Tat umsetzen, und solche, die es beim Hören belassen. Ob die Parabel allegorisierende Elemente enthält, ist umstritten. Das Sturmmotiv lässt sich auf das Endgericht Gottes (u. a. W. D. Davies/Allison 1988, 721 f.; Marguerat 2 1995, 207 f.) oder generell auf diesseitige Prüfungen und Leiderfahrungen (Catchpole 1993, 96 f.; Hultgren 2000, 134; so bereits Johannes Chrys. hom. [Mt] 24,3) beziehen. Apokalyptische und weisheitliche Lektüren sollten jedoch nicht gegeneinander ausgespielt werden (vgl. Küchler 1979, 62-87; Goff 2005, bes. 666-670). Das eigene Dasein im Licht des Gerichts zu bedenken, ist eine weisheitliche Haltung zur Bewältigung der Gegenwart. Die Bilder vom Sturm lassen sich daher kaum einer einzigen Zeitebene zuweisen: Leiderfahrungen (etwa durch Ausgrenzung und Verfolgung) stehen ebenso im Blickfeld wie das endzeitliche Gericht (J. P. Heil 1998, 32 f.; Puig i Tàrrech 2001, 685 f.). Eine besondere Naherwartung ist nicht erkennbar (mit Linnemann 1975, 239 gegen Jeremias 4 1988, 135: »die Sintflut steht vor der Tür«). Als Abschlusstext der Eröffnungsrede in Q hat die Parabel eine metakommunikative Funktion (ebenso in Mt und Lk): Sie macht innerhalb einer Rede eine Aussage über die Bedeutung dieser Rede selbst. Dabei spiegelt sie die konkreten Rezeptionsverhältnisse darin wider, dass die Worte Jesu – wie in der Antike üblich – nicht gelesen, sondern gehört werden (vgl. zur Rezeption in Hörgemeinschaft Mayordomo 1998, 166-170; Mournet 2005, 133-141). Der »Akt des Hörens« impliziert dialogische Strukturen, die sich heute nicht mehr nachzeichnen lassen. In diesem Zusammenhang hat Hören auch den Sinn von Bewahren und Einprägen (Riesner 3 1988, 349). Die Rede selbst gibt sich durch diese Hervorhebung als Fundamentallehre zu erkennen. Der Lernprozess umfasst »die Lehre der Sprüche Jesu und ihre stetige Erinnerung, ihre theologische Anwendung und Verinnerlichung, die Fähigkeit, für ihre Gültigkeit zu argumentieren, und ihre praktische Umsetzung im konkreten Lebensvollzug« (H. D. Betz 1995, 561, eig. Übersetzung). Im Hinblick auf die pragmatische Absicht der Parabel ist es von Bedeutung, dass die unterschiedliche Qualität der Bauten erst mit der Krise zum Vorschein kommt (Knowles 2000, 289). Die Parabel eignet sich daher zur Warnung innerhalb eines christlichen Adressatenund Adressatinnenkreises (Bovon 1989, 342 f.). Schwerlich kann mit dem einstürzenden 96

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»Einstürzende Neubauten« Q 6,47-49

Haus die ablehnende Reaktion von Außenstehenden angesprochen werden. Vielmehr soll die Sicherheit derer, die es mit der Kyrios-Akklamation meinen belassen zu können (Q 6,46), ins Wanken gebracht werden. Diese nach innen gerichtete Pragmatik ist auch für Mt und Lk leitend. Die Parabel geht nach mehrheitlicher Anschauung auf Jesus zurück (Puig i Tàrrech 2001, 688-692; Riniker 1999, 278-281; vgl. aber Gregg 2006, 89-91). Die zentrale Bedeutung seiner Lehre verrät – ähnlich wie Q 10,16 – ein hohes Autoritätsbewusstsein. (Das vorangestellte mou [mou – meine] dient jedoch nicht der Betonung.) Ob sie hier »denselben Rang wie das Gesetz« einnimmt (Zeller 3 1993, 35; ähnlich Gnilka 3 1993, 281), kann hinterfragt werden (vgl. Kosch 1989, 409 f.; Riniker 1999, 282 f.). Der Text stellt Jesu Worte nicht denen der Tora gegenüber. Auch Matthäus – als einer der ersten Interpreten dieser Parabel – sieht im Kontext der Bergpredigt-Komposition keinen Gegensatz zu Mt 5,17-20. In der Perspektive dieser Parabel ereignet sich wirkliches Verstehen erst im Handeln. Für die protestantische Tradition ist es theologisch problematisch, dass dieser Text das Gericht mit den Werken zu verknüpfen scheint (deutlich spürbar in Weder 4 2002, 246-248; vgl. dazu Riniker 1999, 280, Anm. 28). Abgesehen davon, dass auch Paulus an diesem Prinzip festhält (vgl. Röm 2,6-10; 1Kor 4,5; 2Kor 5,10), wäre die Lehre Jesu (ebenso wie die Tora) verkannt, wenn sie nur nach der theologischen Polarität von Gesetz und Evangelium bemessen würde. Die Worte Jesu appellieren an die Verantwortung zum Handeln jenseits der Vorstellung von »Werkgerechtigkeit«. Die von Jesus geforderte Nächstenliebe eignet sich kaum als Grundlage einer rein äußerlichen »Gerechtigkeit«, ist sie doch eingebunden in das Geheimnis der Gottesherrschaft im Rahmen der Nachfolge. Aus diesem Zusammenhang darf auch die Hausparabel nicht herausgelöst werden. Gegründet ist der Mensch in der Verbindung von Hören und Handeln oder, modern gesprochen, von Charakterbildung und Verantwortung.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Das Beenden einer Rede mit einer Parabel »entspricht der Forderung der antiken Rhetorik, der Schluß einer Rede müsse einprägsam und anschaulich sein« (Berger 2005, 132). Matthäus und Lukas lassen diese metakommunikative Funktion unangetastet (Mt 5-7: Bergpredigt; Lk 6,20-49: Feldrede), wobei Mt häufig Reden mit Parabeln beendet (Mt 13,52; 18,23-35; 25,14-30; vgl. Münch 2004, 71). Er verstärkt die Verknüpfung durch die Folgerungspartikel oªn (oun – nun, also) und das rückverweisende »diese meine Worte« (7,24). Die Futurform »er wird gleich sein« unterstreicht die eschatologische Dimension (Carson 1985, 279; Münch 2004, 134-140). Die Parabel greift die Betonung des Handelns auf (Mt 6,10.19 f.; 7,12.17-20.21; vgl. weiterhin 12,50; 21,31; 26,42) und beendet das Alternativ-Schema, das den Bergpredigt-Epilog dominiert (J. P. Heil 1998, 27-31): Den zwei Pforten und Wegen (Mt 7,13 f.) entsprechen zwei Baumarten (7,15-20: wahre und falsche Propheten), zwei Gruppen im Endgericht (7,21-23) und zwei Bauleute (7,24-27). Angesichts dieses finalen Entweder-Oder ist jede Argumentation auf Sand gebaut, welche die Radikalität der Bergpredigt (etwa durch Rückzug in die Innerlichkeit oder durch Betonung ihrer prinzipiellen Unerfüllbarkeit) zu umgehen sucht (Strecker 2 1985, 179). Wem sich jedoch am Ende der Bergpredigt nicht von selbst erschließt, dass 97

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Parabeln in der Logienquelle Q

hier Fundamentales zur Sprache kommt, der oder die wird sich in der Folge kaum dem Anspruch der Hausparabel aussetzen. Mt gelingt durch die Einführung des Gegensatzes »kluger Mann« und »dummer Mann« eine Hervorhebung der narrativen Antithese. Die flachen Charaktere entspringen der weisheitlichen Unterweisungstradition (häufig in Spr; vgl. auch Sir 21,11-28). Mit dem Begriff der Klugheit knüpft die Bergpredigt an einen wichtigen Wert der antiken Tugendlehre an und bezeugt ihr Interesse an Charakterbildung (H. D. Betz 1995, 557). Dadurch verschiebt sich das Erzählzentrum von den unterschiedlichen Fundamenten (Q) in Richtung der Charaktereigenschaften der Bauleute. Im Makrokontext passt die Hervorhebung der Klugheit zur Werteskala Jesu (vgl. Mt 10,16) und verknüpft die Parabel mit derjenigen von den beiden Knechten (Mt 24,45-51: klug/böse) und von den »Jungfrauen« (Mt 25,1-13: klug/dumm; vgl. Guelich 1982, 403 ff.). Klugheit zeichnet sich aus als Besonnenheit im Horizont des Gerichts (Jeremias 11 1998, 43, Anm. 1). Der »dumme« Erbauer hat die Folgen seiner Handlungen nicht vor Augen und erinnert damit an das Salz, das »dumm/töricht« wird und nicht mehr zu gebrauchen ist (Mt 5,13). Die Windstürme bringen die Parabel mit den beiden Seesturmerzählungen in Verbindung (Mt 8,26 f.; 14,24.30.32) und lassen in einer relecture an die Widrigkeiten der Nachfolge denken. Schließlich erinnert die Petrus-Verheißung in Mt 16,18 an die vorliegende Parabel und eröffnet Möglichkeiten einer ekklesiologischen Lektüre. Die lukanische Fassung schließt eine kurze Parabelrede ab (Lk 6,39-49; vgl. Bovon 1989, 330). Auch hier knüpft der ethische Dualismus an das Vorhergehende an (bes. 6,43.45). Der Zusatz »wer zu mir kommt« (Lk 6,47) erinnert an die Menschen, die im narrativen Rahmen der Feldrede zu Jesus kommen (Lk 6,18). Indem bei Lk dem Hören und Tun das Kommen vorausgeht, steht die Parabel explizit im Kontext der Nachfolgethematik. Lk nimmt die Betonung vom Fundament und vom Unwetter weg (wodurch er auch den strengen Parallelismus auflöst) und verlagert sein Augenmerk auf den Bauprozess (tief graben, ausschachten, Fundament legen). »Bei Mt mögen die Mühen und Kosten in beiden Fällen die gleichen gewesen sein, bei Lc ist der Unterschied gewaltig« (Jülicher II 2 1910, 264). Das Hochwasser kann einem so gut gebauten Haus (vgl. Begründung in Lk 6,48) nichts anhaben (saleÐw [saleuo¯ – erschüttern]). Lukas akzentuiert dadurch stärker »die Leistung des Menschen« (Bovon 1989, 342). Im Zusammenhang mit einer anderen Baugeschichte (Lk 14,28-30) lässt sich diese Leistung noch deutlicher bestimmen (vgl. Heininger 1991, 137 f.): Wer sich aufgrund der Nachfolge vom Familienverband löst (Lk 14,25-27), muss vorher genau wissen, was er oder sie auf sich nimmt. In diesem Sinne ist die Fundamentarbeit auch ein Zeichen des genauen Hörens und des umsichtigen Abwägens (Klein 2006, 267). Eine inhaltliche neutestamentliche »Parallele« findet sich im Bildwort vom vergesslichen Hörer, der im Spiegel sein Gesicht betrachtet und danach sein Aussehen vergisst (Jak 1,22-25; vgl. Dschulnigg 1988, 288 f.). Trotz der theologisch spürbaren Nähe liegen sprachlich kaum charakteristische Gemeinsamkeiten vor. Eine interessante Kombination von Elementen aus dem Anfang und dem Ende der Bergpredigt stellt Logion 32 des EvThom dar: »Eine Stadt, auf einem hohen Berg erbaut (und) befestigt, kann nicht fallen, noch wird sie verborgen sein können.« (Schröter/Bethge 2001, 170) Das Logion reichert Mt 5,14 mit zwei Elementen aus der Hausbauparabel an (bauen, nicht fallen) und betont dadurch nicht nur die Sichtbarkeit der Stadt im Dunkeln, sondern auch die Unerschütterlichkeit des gnostischen Überzeugungssystems (vgl. Orbe 1972, 77 f.; Schrage 1964, 98

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»Einstürzende Neubauten« Q 6,47-49

78.264 f.). In der späteren kirchlichen Auslegung bilden Sturm, Haus und Fels Elemente, die sich leicht in übergeordnete Sinnfelder allegorisch übertragen lassen. So können (mithilfe von 1Kor 10,4) der Fels Christus, das Haus die Kirche und der Sturm vielfältige Anfechtungen bedeuten (vgl. Luz 5 2002, 538; zum syrischen Raum Valavanolickal 1996, 31-38). Der Text gerät auch zwischen die Konfessionsgräben: Das Bauen auf Sand entspricht in dieser Perspektive der Werkgerechtigkeit, während der Fels für den Glauben an Christus steht (vgl. Luz 5 2002, 538 f.). Dieses Verständnis spiegelt sich auch in der Schlusszeile von Georg Neumarks (1621-1682) populärem Gesangbuchlied »Wer nur den lieben Gott lässt walten« wider: »Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.« Die Wendung »auf Sand bauen« (frz. »bâtir sur le sable«; engl. »to build on sand«) bedeutet heute noch »seine Hoffnung oder sein Vertrauen auf einen schlechten, unzuverlässigen Grund setzen« (Röhrich 1991, 1279). Dadurch wirkt die Parabel in der bildhaften Rede nach (vgl. etwa Stefan Heyms kritische Geschichten zur Wende und deutschen Wiedervereinigung unter dem Titel »Auf Sand gebaut«, 1990). Die Deutungsgeschichte der Parabel zeigt die hermeneutische Vitalität ihrer elementaren Bildwelt.

Moisés Mayordomo Literatur zum Weiterlesen B. H. Gregg, The historical Jesus and the final judgment sayings in Q, WUNT II/207, Tübingen 2006, 79-91. J. P. Heil, Parable of the wise and foolish builders in Matthew 7:24-27, in: W. Carter/J. P. Heil, Matthew’s parables. Audience-oriented perspectives, CBQ.MS 30, Washington 1998, 2335. I. H. Jones, The Matthean parables. A literary and historical commentary, NT.S 80, Leiden 1995, 173-189. M. P. Knowles, Everyone who hears these words of mine: Parables on discipleship (Matt 7:2427//Luke 6:47-49; Luke 14:28-33; Luke 17:7-10; Matthew 20:1-16), in: R. N. Longenecker (Hg.), The challenge of Jesus’ parables, Grand Rapids 2000, 286-305. A. Puig i Tàrrech, Une parabole à l’image antithétique Q 6,46-49, in: A. Lindemann (Hg.), The sayings source Q and the historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 681-693. Chr. Riniker, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS.T 653, Bern 1999, 275-287. D. T. Roth, The Words of Jesus and the Torah. A Consideration of the Role of Q 6,47-49, in: M. Tiwald (Hg.), Kein Jota wird vergehen. Das Gesetzesverständnis der Logienquelle vor dem Hintergrund frühjüdischer Theologie, BWANT 200, Stuttgart 2013, 89-110. S. J. Witetschek, Propheten auf der Baustelle: Zur redaktionellen Gestaltung von Mt 7,24-27, BZ 51 (2007), 44-60.

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Vom misslingenden Spiel (Von den spielenden Kindern) Q 7,31-35 (Mt 11,16-19 / Lk 7,31-35) (31) Wem soll ich dieses Geschlecht vergleichen und wem ist es gleich? (32) Es gleicht Kindern, die auf dem Marktplatz sitzen und den anderen zurufen: »Wir haben euch mit der Flöte gespielt wir haben ein Klagelied angestimmt

(33) Denn es kam Johannes, aß nicht und trank nicht

und ihr habt nicht getanzt, und ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen.«

und ihr sagt: »Er hat einen Dämon.«

(34) Es kam der Menschensohn, aß und trank und ihr sagt: »Siehe (dieser) Mensch, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder.« (35) Und die Weisheit hat Recht bekommen von ihren Kindern.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) In Q gehört die Parabel von den spielenden Kindern mit zwei anderen Abschnitten zusammen, in denen die Bedeutung Johannes des Täufers thematisiert wird (Q 7,18 f.22 f. und Q 7,24-28). In Q 9,57-60 folgt ein Wort über die radikale Nachfolge, die der Menschensohn erwartet. Dass in der Parabel das Kommen des Johannes und des Menschensohns thematisiert wird, fügt sich somit gut in den Kontext ein. Schon die Eingangsfrage »Wem soll ich dieses Geschlecht vergleichen und wem ist es gleich?« zeigt, dass wir es mit einer Parabel zu tun haben. Als Vergleich werden Kinder herangezogen, die auf dem Marktplatz sitzen und zu spielen versuchen. Dass sie »den anderen« etwas zurufen, bedeutet nicht, dass generell zwei Gruppen von Kindern unterschieden werden. Es sind vielmehr Kinder auf dem Marktplatz, die miteinander spielen könnten. Aber das Spiel misslingt, weil zwar einige Kinder die Initiative ergreifen, die anderen sich darauf aber nicht einlassen. Dies wird mit einer doppelten Opposition zum Ausdruck gebracht: »Wir haben euch mit der Flöte gespielt wir haben ein Klagelied angestimmt

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– –

ihr habt nicht getanzt, ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen.«

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Vom misslingenden Spiel Q 7,31-35

Diese Anordnung zeigt zweierlei: Zum einen handelt es sich um zwei verschiedene Angebote (Flötenspiel und Tanzen, Klagelied und Trauerritus), zum anderen werden beide Angebote gleichermaßen abgelehnt. Hervorgehoben wird auf diese Weise nicht lediglich, dass die angesprochenen Kinder sich verweigern, sondern dass sie sich doppelt verweigern: Das eine Angebot nehmen sie nicht wahr, das ganz andere aber auch nicht. So misslingt das Spiel in einem doppelten Sinn (P. Müller 1992, 250). Diese Beobachtung von Kindern auf dem Marktplatz wird mit zwei syntaktisch parallelen Aussagen (es kam … und ihr sagt …) aufgenommen und gedeutet: Denn es kam Johannes, aß nicht und trank nicht und ihr sagt: »Er hat einen Dämon.« Es kam der Menschensohn, aß und trank

und ihr sagt: »Siehe (dieser) Mensch, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder.«

Auch in der Deutung ergibt sich, wie in V. 32, eine doppelte Opposition: Die Verschiedenheit des »Angebots« Jesu und des Täufers, ihrer Verkündigung und ihres Handelns, wird jeweils im Vordersatz durch »essen und trinken« bzw. »nicht essen und trinken« herausgestellt, die Ablehnung beider Angebote durch eine gegensätzliche Beurteilung von Seiten »dieses Geschlechts«: Mit der Begründung, dass ein Dämon in ihm wirke, lehnen die angesprochenen Menschen Johannes und seine asketische Lebensweise ab, mit der Begründung, dass er ein Fresser und Weinsäufer und zudem ein Freund von Zöllnern und Sündern sei, lehnen sie Jesus ab, der nicht asketisch lebt. Obwohl Johannes und Jesus verschieden und unterscheidbar auftreten, werden beide abgelehnt. Mit dieser doppelten Ablehnung gleicht »dieses Geschlecht« den Kindern auf dem Marktplatz, deren Spiel misslingt. Sowohl das Bild der Kinder auf dem Marktplatz als auch die Deutung auf Johannes und Jesus haben einen narrativen Grundzug (anders Gnilka 3 1993, 422). Das Bild vom misslingenden Spiel setzt eine längere Beobachtung voraus: Kinder versuchen auf verschiedene Weise andere zum Mitspielen zu animieren, aber es kommt nicht zum gemeinsamen Spiel – eine kleine, komprimierte Geschichte des Misslingens trotz verschiedener Angebote. Gleichsam nebenbei wirft der Vers auch ein Licht auf die Beurteilung von Kindern durch Jesus. Er greift eine alltägliche Beobachtung auf. Dies entspricht einem Grundzug seiner Parabeln. Dabei ist die Beobachtung zum Kinderspiel treffend und ohne Hang zur Romantisierung. Auch Laune, Trotz oder Sich-Entziehen gehören zum Verhalten von Kindern. Wichtig ist aber, dass Jesus Kinder beobachtet und sie dadurch beachtet. Ihr Verhalten wird zum Gleichnis. Mit den beiden Bemerkungen »Johannes aß und trank nicht« und »der Menschensohn aß und trank, ein Freund der Zöllner und Sünder« werden keine Statements abgegeben, sondern Erfahrungen vom Wirken Jesu und des Täufers wachgerufen. Dass Johannes »nicht aß und trank« steht zusammenfassend für seine asketische Lebensweise und seine strenge Botschaft (vgl. Mt 3,1 ff.). Und die Attribute des Menschensohnes fassen seine Zuwendung zu den Menschen und besonders zu den Ausgegrenzten zusammen (vgl. Mk 2,19 ff. parr.; Lk 15,2; 19,7). Einen narrativen Grundzug haben die beiden Sätze, weil sie Geschichten von Johannes und Jesus voraussetzen und auf sie anspielen. V. 35 schließt mit »Und die Weisheit hat Recht bekommen von ihren Kindern« den 101

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Parabeln in der Logienquelle Q

kleinen Abschnitt ab, allerdings in auffälliger Weise. Schon die im griechischen Text verschiedenen Worte für »Kinder« (paidffla paidia im Sinne einer Altersangabe [V. 32] und tffkna tekna im Sinne der Zugehörigkeit [V. 35]) zeigen, dass hier ein anderer Akzent gesetzt wird: Die »Kinder der Weisheit« sind nicht mit den spielenden Kindern der Parabel identisch. Auffällig ist auch das Stichwort »Weisheit«, von dem weder in der Parabel noch in ihrer Deutung bisher die Rede war. Der verbindende Anschluss mit »und« belegt zwar, dass ein Zusammenhang intendiert ist. Zugleich deuten »die Weisheit« und »die Kinder der Weisheit« einen Sinnüberschuss an, der über den Rahmen des bisher Angesprochenen hinausgeht.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Es handelt sich bei den beiden Angeboten in V. 32 um imitierende Spiele: Flötenspiel und Tanz gehören zum Fest und spielen u. a. bei der Hochzeit eine Rolle, während das Klagelied und das An-die-Brust-Schlagen für das Trauerritual der Bestattung stehen. Musik und Tanz sind im AT zum einen Ausdruck der Freude über einen errungenen Sieg: Nach dem Durchzug durchs Schilfmeer tanzen Mirjam und alle Frauen zur Musik von Pauken und Mirjam singt ihr Loblied (Ex 15,20 ff.; vgl. Ri 11,34); nach dem Sieg über die Philister kommen die Frauen aus allen Städten Israels Saul und David musizierend und tanzend entgegen (1Sam 18,6). Zum anderen wird bei Festen getanzt als Ausdruck der Lebensfreude (Hld 7,1; Jer 31,4.13: »Alsdann werden die Jungfrauen fröhlich beim Reigen sein, die junge Mannschaft und die Alten miteinander«). Rabbinische Texte belegen ein entsprechendes Brauchtum auch in späterer Zeit (Billerbeck I 2 1926, 504 f.507.512). Angesichts der starken Verwurzelung von Festriten in der Tradition kann man davon ausgehen, dass diese Belege aus früherer und späterer Zeit im Wesentlichen auch das Brauchtum zur Zeit Jesu widerspiegeln. Die Bestattungspflicht spielt in Israel eine wichtige Rolle. Dementsprechend ist die Bestattung selbst durch verschiedene Rituale geregelt. Die Trauernden weinen und fasten (2Sam 1,12), schlagen sich an Hüften und Brust (Jes 32,12; von der Grundbedeutung des Verbs kptw kopto¯ – schlagen ist die Bedeutung »heftig trauern« abgeleitet), scheren das Haupthaar, stutzen oder verhüllen den Bart (Ez 24,17; Am 8,10), streuen Asche aufs Haupt (2Sam 3,31) und gehen barfuß (Ez 24,17; vgl. Oßwald 1966, 2021 f.). Die Trauerbräuche werden vor allem von den Angehörigen, können aber auch von den Anteilnehmenden ausgeübt werden (2Sam 1,12). Im Zentrum des Bestattungsritus steht die Totenklage, die oft von Klagefrauen ausgeführt wird (vgl. Jer 9,17 f.; Mk 5,38; Lk 23,27). In Mt 9,23 werden Flötenspieler im Zusammenhang mit einem Todesfall genannt. Nach Ket 4,4 sollte selbst der Ärmste in Israel zu einer Bestattung nicht weniger als zwei Flötenspieler und eine Klagefrau stellen. Auch in der griechisch-römischen Antike spielen Musik und Tanz eine wichtige Rolle, als Spiel und Unterhaltung ebenso wie im Rahmen von Bestattungsfeiern (Hurschmann 2001). Man spielte im Haus, aber auch auf Straßen und Plätzen (Mart. 14,169; Plut. Alkibiades 2,2), ebenso in Gaststätten oder Thermen. Verschiedene bildliche Darstellungen geben eine Vorstellung von Spiel, Musik und Tanz (vgl. Fittà 1998).

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Vom misslingenden Spiel Q 7,31-35

Dioscuris von Samos, Mosaik von Straßenmusikanten mit Flöte, Zimbeln und Tamburin, 1. Jh. n. Chr., Nationalmuseum Neapel

Wie Tanz und Klage der Kinder in Q 7,31-35 genau vorzustellen sind, lässt sich trotz solcher Darstellungen aber nicht rekonstruieren. Dies gilt für die Überlegung, dass hier eine Gruppe von Jungen (Reigentanz) mit einer Mädchengruppe (Totenklage) spielen wolle (Jeremias 11 1998, 161), ebenso wie für den Versuch, im Hintergrund der Aussage in Anlehnung beispielsweise an Ps 29,9 ein gängiges Sprichwort zu erkennen (Zeller 1977, 252 ff.). Kinder versuchen offenbar, durch Flötenspiel und Klagelied andere Kinder zum Mitspielen zu ermuntern, was jene aber nicht wollen. Wichtig ist die doppelte Ablehnung. Weder das eine noch das andere, ganz gegensätzliche Angebot wird angenommen – und so kommt es nicht zum Spiel. Die Kinder werfen so mit ihrem gesamten Verhalten ein Licht auf »dieses Geschlecht«.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Die Parabel greift nicht lediglich eine Beobachtung auf, sondern stellt sie zugleich in den Horizont der biblischen Tradition. Dies zeigt sich bereits in der Eingangsfrage, womit »dieses Geschlecht« verglichen werden soll. Diese Wendung findet sich außer in Q 7,31 ohne sprachliche Veränderung noch in 11,29.31 f.; 11,50 f. (vgl. Polag 1977, 138 f.). Sie verweist zunächst auf die in der Gegenwart des Textes lebenden Menschen, die gegenwärtige Generation. Diese Deutung reicht aber nicht aus. Denn bereits in der theologischen Interpretation der Exodus-Erfahrung bezeichnet die Wendung die Wüstengeneration, die sich der Führung durch Gott widersetzt (vgl. exemplarisch Dtn 9,1-29; 32,5). Ps 95,10 fasst dementsprechend zusammen: »Vierzig Jahre war dies Volk (Ps 94,10 LXX: jenes Geschlecht) mir zuwider, dass ich sprach: Es sind Leute, deren Herz immer den Irrweg will und die meine Wege nicht lernen wollen.« Ähnliche Wendungen kennt das 103

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Parabeln in der Logienquelle Q

ATauch an anderen Stellen und in anderen Zusammenhängen (vgl. Ps 77,8 LXX; Jer 7,29; 8,3): Gemeint sind die Menschen, die Gottes Heilshandeln nicht erkennen und deshalb unter seinem Zorn stehen. »Dieses Geschlecht« ist deshalb das gegenwärtige, zugleich aber das sich von Gott »erneut abwendende Geschlecht« (P. Müller 1992, 254). Q grenzt sich deshalb deutlich von »diesem Geschlecht« ab (vgl. neben 7,31-35; 11,29-32.49-51 sowie 3,7-9; 10,10-15; 11,14-52; 13,24-35). Und nach Q 22,28.30 werden diejenigen, die Jesus nachgefolgt sind, die zwölf Stämme Israels richten. Verglichen wird »dieses Geschlecht« mit Kindern, deren Spiel misslingt. Spielende Kinder erinnern an ein biblisches Bild: Im Anschluss an die Verheißung Sach 8,3, dass Gott in Jerusalem wohnen wird, beschreiben V. 4 f., wie sich diese Gegenwart Jahwes auswirken wird: »So spricht der Herr Zebaoth: Es sollen hinfort wieder sitzen auf den Plätzen Jerusalems alte Männer und Frauen, jeder mit seinem Stock in der Hand vor hohem Alter, und die Plätze der Stadt sollen voll sein von Knaben und Mädchen, die dort spielen.« Der Verheißungscharakter tritt vor dem Hintergrund der Klage in Klgl 2,11 f.21; 4,18 deutlich hervor. Das Spielen der Kinder auf den Plätzen wird zum eschatologischen Bild des Heils. Allerdings bleibt dieses prophetische Bild unerfüllt, wenn »niemand mitspielt«. Wenn deshalb »dieses Geschlecht« sich wie die Kinder dem Angebot, beim Spiel dabei zu sein, entzieht, heißt dies im Kontext alttestamentlicher Tradition, dass damit das Heil verweigert wird.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Spielangebote der Kinder werden in der Deutung mit Lebensführung und Wirksamkeit des Johannes und Jesu verglichen. Aber sowohl die Askese des Johannes als auch das Essen und Trinken Jesu haben ihrerseits Bildcharakter. Mit seiner asketischen Lebensweise unterstreicht und verstärkt Johannes seine Gerichtsbotschaft (Q 3,7-9; Mt 3,4 ff.), mit der der Anbruch der Gottesherrschaft beginnt (vgl. Q 16,16). Und das Essen und Trinken des Menschensohns spielt an auf die eschatologische Gemeinschaft mit Gott (Jes 55; Q 14,16 ff.). Enthaltsamkeit auf der einen und die Freude gemeinsamen Essens und Trinkens auf der anderen Seite sind konzentrierte und komprimierte Hinweise auf die jeweilige Botschaft und Wirksamkeit. Beides ist mit dem Flötenspiel und dem Klagelied chiastisch verknüpft. Flötenspiel / Tanz

Johannes / Dämon

Klagelied / an die Brust schlagen

Menschensohn / Fresser und Weinsäufer

Aber weder die Gerichtsdrohung des Johannes noch die auf das endzeitliche Heil verweisende Praxis der Mahlgemeinschaften Jesu mit den Ausgegrenzten lässt »dieses Geschlecht« an sich heran. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auf den Abschluss des kleinen Textstückes einzugehen: »Und die Weisheit hat Recht bekommen von ihren Kindern.« Bisher war von der Weisheit nicht die Rede, so dass der Text mit diesem Stichwort über sich selbst hinausweist. Dies zeigt sich auch an dem Wechsel in der Terminologie: Ist in der 104

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Vom misslingenden Spiel Q 7,31-35

Parabel selbst von den paidffla (paidia – Kinder im Sinne einer Altersangabe) die Rede, so sind in V. 35 die tffkna (tekna – Kinder im Sinne einer Zugehörigkeit, vgl. P. Müller 1992, 194 ff.) der Weisheit angesprochen. In Q wird Jesus mit der Weisheit in Verbindung gebracht. Nach 11,49 sendet die Weisheit »Propheten und Weise« aus, die nach 11,50 f. von »diesem Geschlecht« jedoch nicht angenommen werden. Hier liegt innerhalb von Q ein enger Zusammenhang vor – und es liegt nahe, auch in 7,35 die Boten der Weisheit als »ihre Kinder« zu sehen, nicht zuletzt Johannes und Jesus selbst, auch wenn eine ausdrückliche Identifikation Jesu mit der Weisheit unterbleibt (nach Q 11,31 übertrifft Jesus aber Salomo und dessen Weisheit). Q denkt hier jedoch offenbar nicht nur an Johannes und Jesus, sondern auch an diejenigen Menschen, die den Glauben an Jesus angenommen haben (Hoffmann/Heil 2002, 25). Darüber hinaus ist auch hier ein traditionsgeschichtlicher Hintergrund zu beachten. In der Weisheitsliteratur ist wiederholt von den Kindern bzw. den Söhnen der Weisheit die Rede (etwa Sir 4,11). Auch dass die Weisheit Boten aussendet (vgl. Spr 9,3; SapSal 7,27; vgl. auch Lk 11,49) oder damit droht, sich zu entziehen (Spr 1,20 ff.; 14,6; Sir 15,7 f.), gehört zum traditionsgeschichtlichen Umfeld (von Lips 1990, 170 ff., 268 f.). Das Entschwinden der Weisheit kann als Zeichen der Endzeit gedeutet werden (1Hen 91,3-6; 94,5 f. und besonders 4Esr 5,1 f.; 2Bar 48,30 ff.; 70,1 ff.) und bekommt in diesem Zusammenhang einen apokalyptischen Akzent. Wichtig ist weiterhin die seit der jüngeren Weisheitsliteratur sich durchsetzende Erkenntnis, dass alle Weisheit von Gott kommt (von Lips 1990, 37-40). Und charakteristisch für diese eschatologisch-apokalyptische Weisheitstradition ist, dass die Weisheit (vgl. Lk 7,35; 11,31; 11,49) nur in Zusammenhängen steht, in denen auch mit »diesem Geschlecht« auf die Ablehnung der gegenwärtigen Generation verwiesen wird (von Lips 1990, 276). Die verschiedenen Anklänge zeigen, dass die Parabel von den Kindern und ihrem misslungenen Spiel sich einerseits auf eine konkrete Beobachtung bezieht, auf der anderen Seite aber eingebunden ist in einen größeren Überlieferungs- und Deutungszusammenhang. Der Anklang an Sach 8,4 f. stellt die Aussage in den Horizont des eschatologischen Heils und in der Gegenüberstellung des Menschensohns und diesem Geschlecht kommt eine apokalyptisch und weisheitlich geprägte Traditionsschicht zum Tragen (P. Müller 1992, 255 f.). Die Art und Weise, in der die Beobachtung von den Kindern auf dem Marktplatz formuliert wird, ist bereits durch Anklänge an die Tradition geprägt. Schon in der Q-Fassung handelt sich um eine theologisch reflektierte Parabel. In der neueren Auslegungsgeschichte wurde vielfach bemängelt, dass Parabel und Deutung nicht wirklich kompatibel seien: Vom Schlussvers ganz abgesehen, der über beide hinausgehe, wurde vor allem angeführt, dass nicht klar sei, ob es sich bei den Kindern um eine oder zwei Gruppen handele und wie diese Gruppen mit »diesem Geschlecht« einerseits, mit Johannes und Jesus andererseits zu verbinden seien (vgl. Luz 3 1999, 184-187; Gnilka 3 1993, 422 f.). Außerdem könne man zwar die Parabel auf Jesus zurückführen, kaum aber die Deutung. Diese Unklarheiten hat man mit verschiedenen Interpretationsansätzen zu lösen versucht. Wenn man zwei verschiedene Gruppen von Kindern annimmt und »dieses Geschlecht« auf diejenigen Kinder bezieht, die sich den Spielangeboten verweigern, dann sind diese Kinder Spielverderber und »dieses Geschlecht« ist dementsprechend ablehnend und widerspenstig. Dies lässt sich mit einer Deutung derjenigen Kinder verbinden, die die Spielangebote machen: Sie werden auf Johannes und Jesus bezogen. Die Schwierigkeiten dieses Interpretationsansatzes liegen 105

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Parabeln in der Logienquelle Q

aber auf der Hand: »Dieses Geschlecht« wird ja nicht lediglich mit den Kindern verglichen, die sich dem Spiel verweigern, sondern mit allen, die ein gemeinsames Spiel versuchen und daran scheitern; schwierig ist außerdem, dass bei der Deutung auf Johannes und Jesus die Reihenfolge in der Parabel (Freudentanz vs. Trauerklage) derjenigen in der Deutung (Askese vs. Freude beim gemeinsamen Essen und Trinken) gerade nicht entspricht. Eine andere Interpretationsrichtung vergleicht »dieses Geschlecht« mit denjenigen Kindern, die die Spielangebote machen: »So seid ihr, sagt Jesus, genau wie die herrschsüchtigen und unverträglichen Kinder. … Ihr habt nur zu kommandieren und kritisieren« (Jeremias 11 1998, 161). Aber die Schwierigkeiten sind dabei eher noch größer, denn dann müssten Johannes und Jesus den Kindern zugeordnet werden, die beide Angebote kritisieren – und der Menschensohn, der doch dem Fest und dem Feiern zugetan ist, würde dies gerade ablehnen. Ein dritter Interpretationsansatz geht davon aus, dass »dieses Geschlecht« nicht mit zwei verschiedenen Gruppen von Kindern verglichen werden kann, sondern mit den Kindern auf dem Marktplatz insgesamt. Dieser Richtung ist auch die vorliegende Auslegung zuzuordnen, allerdings mit dem Akzent der doppelten Ablehnung und damit auch des doppelten Scheiterns. Das Spiel misslingt in zweifachem Sinn, weil keines der gegensätzlichen Spielangebote aufgegriffen wird (Luz 3 1999, 186; P. Müller 1992, 249 f.). In gleicher Weise abgelehnt werden von den Menschen die unterschiedlichen Angebote des Johannes und Jesu. Damit aber bleibt die Heilsverheißung von den spielenden Kindern auf dem Marktplatz für »dieses Geschlecht« unerfüllt. Dass der Vorwurf an die Adresse Jesu, er sei (gerade im Gegenüber zum asketischen Johannes) ein Fresser und Säufer, in die Zeit Jesu zurückreicht, ist anzunehmen. Klar ist aber auch, dass die Beobachtung von Kindern, deren Spiel nicht gelingt, für sich allein noch nicht wirklich aussagekräftig ist. Zusammen mit seinem Kommentar fängt die Beobachtung dagegen zu sprechen an, »und es ist doch zu fragen, ob nicht der … überlieferte (sc. Zusammenhang) der ursprüngliche ist« (Luz 3 1999, 184.187). Dass der Kommentar, vor allem der zweifache Hinweis auf das Gekommensein, zusammenfassenden Charakter hat (Gnilka 3 1993, 423), ist allerdings nicht zu bestreiten. Er setzt ablehnende Reaktionen auf Johannes und Jesus voraus, jedoch nicht notwendigerweise den abgeschlossenen Rückblick. Wenn demnach die Parabel und die Deutung – allerdings ohne den Schlusssatz – auf Jesus zurückgehen können, bleibt der Menschensohntitel im Blick auf Jesus schwierig. Denn vom Menschensohn ist hier im Gegenüber zu Johannes ganz klar im Sinne eines Hoheitstitels die Rede. Auch ist sein Kommen gegenüber Johannes stärker hervorgehoben. Dass es aber der Menschensohn ist, der mit den Zöllnern und Sündern isst, zeigt, dass die Zuwendung zu den Randsiedlern der Gesellschaft nicht als zufälliges Merkmal, sondern als Grundzug des Kommens Jesu angesehen wird. Der so gebrauchte Menschensohntitel spitzt die Parabel und ihre Deutung zu und ist deshalb vermutlich der Interpretation durch die Q-Gruppe zuzuschreiben. Dies trifft auch auf den abschließenden Satz zu. Denn so wie die Weisheit mit Gott in Verbindung gebracht wird, so gehören auch Johannes und der Menschensohn als Boten der Weisheit zu ihm. Als »Kinder der Weisheit« bezeichnet Q darüber hinaus aber vor allem diejenigen, die im Gegensatz zu »diesem Geschlecht« der Botschaft und dem Handeln des Menschensohns vertrauen und deshalb der Weisheit zugehören. Der Schlusssatz interpretiert somit die Parabel und die Deutung aus der Perspektive der Q-Gruppe.

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Vom misslingenden Spiel Q 7,31-35

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Textfassungen bei Mt und Lk stimmen weitgehend überein; der deutlichste Unterschied findet sich im Schlusssatz: Bekommt die Weisheit nach Mt 11,19 »durch ihre Werke« Recht, so wird sie nach Lk gerechtfertigt »von allen (⁄p p€ntwn apo panto¯n) ihren Kindern«. Gleichwohl haben Lk und Mt die Q-Parabel auf je eigene Weise akzentuiert und in ihren jeweiligen Kontext eingefügt. Auf die lk Redaktion geht vermutlich die Zufügung von »die Menschen dieses Geschlechts« zurück. Auch das doppelte ¥lffiluqen (ele¯lythen – ist gekommen, Lk 7,33 f.) und die Ergänzung »der Täufer« in V. 33 gehen auf das Konto des Lk. Das Perfekt unterstreicht die lk Tendenz zum Rückblick auf das Gekommensein Jesu und des Täufers, und bei Johannes ist die Hinzufügung der Täuferbezeichnung eher wahrscheinlich als deren Streichung. Ebenso wird man die Zufügung von Brot und Wein in der Lk-Fassung als erläuternde Zusätze verstehen. Ob die Anrede in der zweiten Person in Lk 7,33 f. oder die dritte Person in Mt 11,18 f. der Spruchquelle zuzuordnen ist, halte ich nicht für entscheidbar. Für die Lukasfassung könnte sprechen, dass die Deutung V. 33 f. das Gegenüber der sich dem Spiel verweigernden Kinder aufnimmt. Lk 7,31-35: (31) Wem nun soll ich die Menschen dieses Geschlechts vergleichen und wem sind sie gleich? (32) Sie sind Kindern gleich, die auf dem Marktplatz sitzen und sich gegenseitig zurufen und sagen: »Wir haben euch Flöte gespielt und ihr habt nicht getanzt, wir haben Klagelieder gesungen und ihr habt nicht geweint.« (33) Denn Johannes der Täufer ist gekommen, hat kein Brot gegessen und keinen Wein getrunken – und ihr sagt: »Er hat einen Dämon.« (34) Der Menschensohn ist gekommen, hat gegessen und getrunken – und ihr sagt: »Siehe (dieser Mensch), ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder.« (35) Und Recht bekommen hat die Weisheit von allen ihren Kindern. Lk 7,35 weist mit dem Verb »Recht geben bzw. bekommen« zurück auf 7,29. Dort sind die Zöllner genannt, die auch in der Deutung der Parabel selbst begegnen. Sie lassen sich von Johannes taufen und geben damit Gott (öffentlich) Recht (Schrenk 1935, 261 ff.). Die Pharisäer und Schriftgelehrten unterziehen sich dagegen der Johannestaufe nicht und weisen so den Ratschluss Gottes ab. Die unmittelbare Beziehung zur Parabel und ihrer Deutung liegt auf der Hand. Dass die Weisheit Gottes Propheten und Apostel aussendet, die verfolgt und getötet werden (11,49), beschreibt in einem anderen Zusammenhang dieselbe Abkehr von Gottes Ratschluss. Wenn man weiter berücksichtigt, dass die Wendung »Kinder der Weisheit« in 7,35 eine Zugehörigkeit zum Ausdruck bringt, wird deutlich, dass es hier um diejenigen geht, die das Angebot Gottes annehmen, seinem Ratschluss Recht geben und ihm so zugehören. Offensichtlich handelt es sich dabei um die, denen man das nicht zutraut, die Zöllner und Sünder. Die unmittelbar nachfolgende Perikope von der Sünderin führt denselben Sachverhalt erzählend aus (P. Müller 1992, 258). Auch die Matthäusfassung repräsentiert in einigen Details wahrscheinlich die Vorlage von Q. Die mt Fassung von V. 16, derzufolge Kinder andere Kinder ansprechen, ist eher ursprünglich als die gefälligere Formulierung bei Lk. Und für die Zuordnung des mt ¥kvasqe (ekopsasthe – ihr habt geschlagen) in V. 17 zur Vorlage von Q spricht die größere Anschaulichkeit und Handlungsbezogenheit (S. Schulz 1972, 379). Der mt Plu107

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Parabeln in der Logienquelle Q

ral »auf den Plätzen« ist allerdings gegenüber dem Singular bei Lk sekundär (anders Hoffmann/Heil 2002, 50 f.). Mt 11,16-19: (16) Mit wem soll ich aber dieses Geschlecht vergleichen? Es gleicht Kindern, die auf den Markplätzen sitzen und den anderen zurufen (17) und sagen: »Wir haben euch Flöte gespielt und ihr habt nicht getanzt, wir haben Klagelieder gesungen und ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen.« (18) Es kam nämlich Johannes, aß nicht und trank nicht – und sie sagen: »Er hat einen Dämon.« (19) Es kam der Menschensohn, aß und trank – und sie sagen: »Siehe, (dieser) Mensch, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder!« Und doch hat die Weisheit Recht bekommen durch ihre Werke. Auch in der Mt-Fassung ist die Parabel eng mit dem Kontext verknüpft. Dies fällt vor allem bei dem Schlussvers auf: Die »Werke der Weisheit« in 11,19 beziehen sich zum einen zurück auf die ›Werke Christi‹ in 11,2, zum anderen voraus auf die Machttaten, von denen in 11,20 ff. die Rede ist. Inhaltlich werden diese Werke in 11,4 f. als das beschrieben, was man hören und sehen kann: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote werden auferweckt und den Armen wird das Evangelium verkündigt. Die letzte Bestimmung trägt das größte Gewicht und schließt die anderen mit ein. Eine Seligpreisung derer schließt sich an, die an Jesus keinen Anstoß nehmen. Dies gilt aber für die nordgaliläischen Städte nicht – und so folgen der Parabel und ihrer Deutung in 11,20 ff. die Weherufe über diese Städte. Die Werke der Weisheit sind nach alledem die Werke Jesu selbst, und zwar als die Werke des Christus. In ihnen bestätigt sich die Weisheit Gottes. Wer sich diesen Werken aber verschließt, über den wird das »Wehe« gesprochen (11,6.20 ff.). Im weiteren Zusammenhang der Parabel ergibt sich bei Mt noch eine andere Verknüpfung. Im Offenbarungswort Mt 11,25-27 wird Gott gepriesen, der »dieses« vor den Weisen und Einsichtigen verbirgt, es den Unmündigen aber offenbart. Die Aussage ist eng verbunden mit dem Weheruf über Kapernaum, das in seiner Ablehnung der dort geschehenen Machttaten die Werke der Weisheit (11,19) gerade nicht erkennt. Denn »dieses« – in der Gesamtkomposition des 11. Kapitels sind dies die Werke des Christus (11,2.4 f.19c.20 ff.), verbunden mit der Kenntnis des Sohnes vom Vater – hat Gott gerade den Unmündigen offenbart. Auch der Begriff der Unmündigen entschlüsselt sich von der Gesamtkomposition des 11. Kapitels her. Es sind die Armen, denen das Evangelium verkündet wird (11,5), also auch die Blinden, Lahmen und Tauben von V. 4, es sind die Zöllner und Sünder von V. 19, deren Freund der Menschensohn ist, es sind die Mühseligen und Beladenen V. 28, die von Jesus selbst lernen, der demütig und gering ist (V. 29). Von hier aus kann man eine Verbindungslinie ziehen zu den Armen, Demütigen und Barmherzigen der Seligpreisungen, zu den Sündern in 9,12 f., zu den ermatteten und abgehetzten Schafen ohne Hirten in 9,36 und auch den unmündigen Kindern (21,6). So setzen die Evangelisten trotz der weitgehend übereinstimmenden Formulierung durch die Positionierung der kleinen Parabel und ihrer Deutung unterschiedliche Akzente. Die Abweichungen im jeweiligen Schlussvers sind dabei von besonderer Bedeutung. In der Alten Kirche spielte bei der Auslegung der Parabel zunehmend ein Problem eine Rolle, das sich mit der fortschreitenden Entwicklung der christologischen Frage ergab: Musste Jesus essen und trinken? Dabei ging es nicht um asketische Vorschriften oder die 108

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Vom misslingenden Spiel Q 7,31-35

moralisch abgewertete Schlemmerei, sondern um die Frage nach der menschlichen Natur Jesu (Bovon 1989, 383). Musste er essen und trinken und demzufolge auch verdauen und ausscheiden? Die einen hielten dies für klar gegeben (IgnTrall 9,1; Iren. haer. IV 31,2), andere lehnten diese Vorstellung ebenso klar ab (Marcion nach Tert. Marc. III 8,4). Interessant ist der Versuch, beide Positionen zu vermitteln: Christus habe gegessen und getrunken; bevor der Verdauungsvorgang einsetzte, habe ein brennender Geist aber die genossene Nahrung wie ein Brandopfer gänzlich verzehrt (Clem. Al. strom. VI 9,71,1-2; vgl. III 7,59,3), eine Auffassung, die in der jüdischen Exegese schon im Blick auf den Besuch der Engel bei Abraham und das gemeinsame Gastmahl entwickelt worden war (vgl. Gen 17 und Test Abr A 4). In der christologischen Diskussion konnte man auf diese Weise die Menschlichkeit und die Göttlichkeit Christi zusammendenken. Nur geringe Beachtung hat in der Auslegungsgeschichte der Sachverhalt gefunden, dass in der Parabel vom misslingenden Spiel der Kinder die Wirksamkeit des Johannes und die Wirksamkeit Jesu miteinander verknüpft sind als zwei verschiedene Versuche der göttlichen Weisheit, die Menschen für sich zu gewinnen (Luz 3 1999, 190). Askese und Lebenszugewandtheit, aber auch Gerichts- und Freudenverkündigung werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern als verschiedene, aber gleichwertige Botschaften und Lebensentwürfe nebeneinander gestellt. Angesichts einer weit verbreiteten Neigung, bei der Interpretation biblischer Texte einzelne Aspekte hervorzuheben und andere abzublenden, bringen die Parabel und ihre Deutung verschiedene Aspekte der göttlichen Weisheit und ihrer Boten zur Sprache und verhelfen damit der christlichen Botschaft zu größerer Tiefe. Die herkömmliche Überschrift »Von den spielenden Kindern« trifft den Sinn der Parabel nicht. Denn es geht ja gerade darum, dass ein gemeinsames Spiel nicht gelingt, trotz verschiedener Anläufe und Angebote. Diese Erfahrung machen Kinder oft. Sie werden dann »Spielverderber« genannt oder nennen andere so. Was dabei misslingt, ist nicht »bloß ein Spiel«, sondern ein Teil des Lebens. Wenn das Diktum Friedrich Schillers stimmt, dass der Mensch nur spiele, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, dann hängt das Spiel mit dem Wesen des Menschen zusammen. Bei Kindern kann man das besonders gut sehen; gerade deshalb können Kinder zum Bild für Menschen überhaupt werden. Dass in der Parabel die Menschen Kindern gleichen, die nicht zusammen spielen können, ist deshalb keine unbedeutende Randnotiz, sondern eine grundlegende Aussage: Das freie, ungebundene Sich-Öffnen für das Spiel und die Mitspieler gelingt ihnen nicht. Sie sind festgelegt in ihren Vorstellungen. Sie wissen, wer einen Dämon hat und wer ein Fresser und Weinsäufer ist – und mit ihrem fest gefügten Wissen verschließen sie sich vor der Begegnung. Die Frage ist: Was müssen die Kinder tun, damit das Spiel gelingt?

Peter Müller

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Parabeln in der Logienquelle Q

Literatur zum Weiterlesen S. Lampe-Densky, Das Gleichnis von den musizierenden/spielenden Kindern – Matthäus 11,1619 und Lukas 7,31-35, in: M. Crüsemann u. a. (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014, 295-309. C. Maier/J. Herzer, Die spielenden Kinder der Weisheit (Lk 7,31-35 par. Mt 11,16-19). Beobachtungen zu einem Gleichnis Jesu und seiner Rezeption, in: C. Maier/R. Liwak/K.-P. Jörns (Hg.), Exegese vor Ort (FS Peter Welten), Leipzig 2001, 277-300. P. Müller, In der Mitte der Gemeinde. Kinder im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1992. I. Park, Children and Slaves. The Metaphors of Q, in: D. T. Roth/R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q. FS D. Zeller, WUNT 315, Tübingen 2014, 73-91. B. E. Reid, Wisdom’s children justified (Mt. 11.16-19; Lk. 7.31-35), in: M. A. Beavis (Hg.), The lost coin. Parables of women, work, and wisdom, The biblical seminar 86, New York 2002, 287-305. T. Staubli, Die musizierenden Kinder der Weisheit (Mt 11,16-19 // Lk 7,31-35). Der Resonanzkasten eines Q-Logions, in: M. Küchler/P. Reinl (Hg.), Randfiguren in der Mitte (FS Hermann-Josef Venetz), Luzern/Freiburg (Schweiz) 2003, 276-288. S. J. Witetschek, The Stigma of a Glutton and Drunkard: Q 7,34 in Historical and Sociological Perspective, EThL 83 (2007), 135-154.

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Folgenreiche Bitte! (Arbeiter für die Ernte) Q 10,2 (Mt 9,37 f. / Lk 10,2 / EvThom 73) Die Ernte zwar ist reich, Arbeitskräfte aber gibt es wenige. Bittet also den Herrn der Ernte, dass er Arbeitskräfte hinausschickt in seine Ernte!

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel leitet im zweiten großen Abschnitt der Logienquelle (Q 9,57-11,13) einen Redeabschnitt ein, der als »Missionsinstruktion« bezeichnet wird (Q 10,2-16, vgl. Uro 1987). Es geht hier um die Sendung der Boten des Menschensohns. Die Parabel selbst besteht aus zwei Sätzen, wobei der erste eine Feststellung, der zweite eine Aufforderung ist. Der konstatierende Einleitungssatz ist in sich wiederum zweigliedrig parallel aufgebaut. Dabei zeigen die einleitenden Partikel »zwar – aber« (mffn men – dff de) sofort eine Spannung an, die inhaltlich durch die kontrastiven Adjektive am Schluss der beiden Satzteile konkretisiert wird. Durch die im Griechischen mögliche Auslassung der Kopula »ist« (Blass/Debrunner/Rehkopf 18 2001, § 127) wird denkbar knapp auf das Wesentliche zugespitzt: Die Ernte (ist) zwar reich (polÐ@ polys), Arbeitskräfte aber (gibt es) wenige (¤lfflgoi oligoi). So wird hier weniger die Freude über eine große Ernte zum Ausdruck gebracht, als vielmehr sofort ein Problem markiert: Um eine reiche Ernte einzubringen, braucht man auch zahlreiche Arbeitskräfte (¥rg€th@ [ergate¯s – Arbeiter], nicht mit dem Terminus technicus qeristffi@ [theriste¯s – Erntearbeiter], vgl. Mt 13,30.39). Doch gerade diese fehlen. Der zweite Satz deutet eine Lösung an, wie hier Abhilfe geschaffen werden könnte: Man soll um mehr Arbeiter und Arbeiterinnen bitten, wie der signalhafte Imperativ »bittet« zu Beginn des Satzes anzeigt. Der Adressat dieser Bitte wird eindeutig bestimmt: Es ist der »Herr der Ernte«. Unklarer ist zunächst, wer hier mit dem Imperativ angesprochen ist. Wer soll den Herrn der Ernte bitten? An wen richtet sich die Aufforderung? In der Perspektive des impliziten Lesers des Textes erkennen wir eine kleine Geschichte in mehreren Erzählsequenzen: Die Erntezeit ist gekommen, wie es mit dem dreimaligen Begriff »Ernte« (griech. qerism@ therismos) in auffälliger Rahmung am Anfang, am Schluss und zusätzlich in der Versmitte unüberhörbar gesagt wird. Die Rezipienten erfahren noch mehr: Es war offenbar ein fruchtbares Vegetationsjahr, denn die Ernte ist gut. Doch dem Beobachter bleibt keine Zeit, sich an der reichen Ernte zu freuen. Der innere Blick z. B. über prächtige Kornfelder wird sofort auf eine (zu) kleine Schar von Erntearbeitern gelenkt. Niemals kann es diesen wenigen gelingen, die reiche Ernte einzubringen. So wird die Hörerin oder der Leser in ein Dilemma geführt, das in Ratlosigkeit mündet: Was kann man jetzt tun? Wie wird das Problem gelöst? Eine erzählpragmatische Finesse des Textes besteht nun darin, dass die Rezipienten im Folgenden direkt angesprochen werden: »Bittet!«; ja, ihr Angesprochenen, ihr, die ihr lest, ihr könnt Abhilfe schaffen. Nüchtern distanzierten Lösungsvorschlägen nach dem Stil von »man 111

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Parabeln in der Logienquelle Q

könnte ja …« oder »wie wäre es, wenn …« wird hier durch den einfachen Imperativ sofort der Boden entzogen: »Bittet also!« Die gebräuchliche konsekutive Konjunktion oªn (oun – also, folglich; Blass/Debrunner/Rehkopf 18 2001, § 451,1) verknüpft nicht nur beide Sätze, sie suggeriert auch eine unvermutete Selbstverständlichkeit. Die Bitte ist die selbstverständliche Folge, hier liegt der Ausweg aus dem im ersten Satz entfalteten Dilemma. Außer den Angeredeten tritt mit dem zweiten Satz noch eine weitere Figur ins Geschehen: der »Herr der Ernte« als Adressat der Bitte. Der ›Herr der Ernte‹ ist der Besitzer des Erntegutes und somit offenbar auch der Felder, so zeigt es das Possessivpronomen am Satzende an: Es geht um »seine« Ernte. Damit wird aber die Lösung, die zunächst durch die Bitte in Aussicht gestellt ist, wiederum zu einem Problem: Warum muss dieser Ernteherr gebeten werden? Ist er nun der ›Herr‹, dann könnte er doch einfach Arbeiter schicken. Sollte nicht jeder vernünftige Gutsbesitzer selbst ein Interesse haben, dass seine Ernte vollständig und rechtzeitig eingebracht wird – bevor Unwetter oder Tiere sie vernichten (1Sam 12,17; Theophr. c. plant. 4,13,6)? Als umsichtiger Besitzer muss er doch selbst sehen, dass die Zahl der Arbeitskräfte nicht ausreicht. Warum will sich der Herr dann bitten lassen? Weiß er aufgrund seiner Entfernung zum Ort des Geschehens vielleicht nicht, wie reich die Ernte ist? Oder verbirgt sich hinter dieser auffälligen Sprachform bereits ein Hinweis auf eine übertragene Bedeutung des Erzählten? Der in der Formulierung »Herr der Ernte« verwendete griech. Begriff kÐrio@ (kyrios – Herr) ist für die Rezipienten der Parabel unschwer als die Gottesbezeichnung zu erkennen. So wird Gott, der HERR, in der griech. Übersetzung des AT genannt. Auch der Begriff der »Sendung« ist im urchristlichen Sprachgebrauch ein theologisches Signalwort. Es geht also um mehr, als nur um Ernte – oder wie die Tiefensemantik des Erntebegriffs anzeigt (s. u.): um eine andere Ernte als nur die der Feldfrüchte. Die Aufforderung zur Bitte transformiert in diesem Kontext zum Gebet. Auch die Pragmatik empfängt vor diesem Hintergrund einen neuen Impuls. Geht es vielleicht gerade darum, dass die Angeredeten selbst etwas aktiv tun sollen, obgleich sie doch letztlich auf die Hilfe des Herrn angewiesen sind?

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Erntemenge Der Text spricht von einer »reichen Ernte« (qerism@ polÐ@ therismos polys). Die Beurteilung der Ernte wurde in der Antike in Relation zur Menge der Aussaat bestimmt (Hhld 7,3; jPea 7,4,20a). Während die Rede von 60fachen oder sogar 100fachen Ernteerträgen einiger antiker Schriftsteller Übertreibungen darstellen (Gen 26,12; Plin. nat. 18 (20), 95; bKet 112a; vgl. Mk 4,8), berichtet Varro von 10-15fachen Ernteerträgen (Var. rust. I, 44), Cicero von 8-10fachen Erträgen in besonders fruchtbaren Feldern auf Sizilien (Cic. Verr. 2 III [18], 47; [46] 109; [47] 12). Columella kann sich allerdings nicht an Getreideernten in Italien erinnern, in denen das vierfache Saatgut geerntet wurde (Colum. III 3,4). Für Palästina werden immerhin Spitzenerträge von 6-8fachem Saatgut berichtet (Sir 7,3; Colt-Papyr. 82; vgl. bBM 105b). Nach Ben-David kann man für das antike Palästina bei einem 3-4fachen Ertrag von einer »schlechten«, bei einem 7-8fachen Ertrag von einer 112

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Folgenreiche Bitte! Q 10,2

»guten« Ernte sprechen (vgl. Tab. in Ben-David 1974, 106). Im Blick auf Q 10,2 reicht es festzuhalten, dass die Quellen eine Diskussion um die Erntemenge widerspiegeln. Die Ersthörer/innen konnten sich klare Vorstellungen davon machen, was eine »reiche Ernte« bedeutete, denn die Menge des Ertrags konnte in guten Jahren im Vergleich zu Missernten verdoppelt werden.

Die Anzahl der Arbeitskräfte Die Ernte von Obst und Gemüse ist bis heute ein sehr personalintensives Geschäft, das zum Mangel an Arbeitskräften führen kann. Vor dem Einsatz von Erntemaschinen war dies besonders auch bei der Getreideernte evident, da hier beim vollständigen Ernteablauf sechs Teilarbeiten erfolgen mussten: Schneiden, Sammeln, Dreschen, Worfeln, Sieben und Messen (Habbe 1996, 80-83). Deshalb entfaltet die Parabel ihre Spannung mit einem solchen Szenario besonders deutlich. Schon bei den ersten Arbeiten auf dem Feld wurde Arbeitsteilung praktiziert: Während die »Schnitter« (vgl. Ps 129,7) mit der Sichel (Jer 50,16; Jo 4,13) die Köpfe der Halme (Hi 24,24) abschnitten und bündelweise hinter sich auf den Boden legten, sammelten in der Regel Frauen und Kinder die Ähren zusammen und banden sie zu Garben. Frauen waren also – wie schon G. Dalman bemerkte – für die Erntearbeit »sehr wichtig« (Dalman 1933, 13). Neben den unmittelbar an der Ernte beteiligten Personen gab es eine Reihe von Arbeitskräften, die für das leibliche Wohl der Erntenden zu sorgen hatten. Denn es wäre ein Zeichen von Gottlosigkeit gewesen, wenn Erntearbeiter und –arbeiterinnen hungernd das Getreide hätten sammeln müssen (Hi 24,6.10). So gibt es genaue Informationen, welche Mahlzeiten für die Ernte besonders geeignet seien, wie etwa in Essig getauchtes Brot mit Röstkorn (Ruth 2,14; VajR 34 (93a); RutR 5 (15a), nach Dalman 1933, 18), ferner Dickmilch oder Saft von Granatäpfeln. Jungen waren ferner beauftragt, ausreichend Wasser für die Arbeitenden zu schöpfen, das auch den Ährenleserinnen zur Verfügung stand (Ruth 2,9). Die Ernte war folglich ein Gemeinschaftsereignis, an dem sehr viele Menschen beteiligt waren und auch sein mussten, um den Erfolg der Ernte zu sichern. Dass hierbei auch die Bitte um Erntehelfer ein vertrautes Motiv war, bestätigt die Fabel von der Haubenlerche des lat. Dichters Q. Ennius (239-169 v. Chr.). Der Besitzer eines Kornfeldes ruft hier seinen Sohn heran und sagt: »Siehst du, dass alles reif ist und nach Schnittern verlangt? Morgen früh also, vor Sonnenaufgang, geh zu den Freunden und bitte sie, zu kommen und diesmal uns zu helfen und bei der Ernte zu unterstützen!« (Enn. scaen. 2128 V). Dass diese Bitte freilich nicht immer von Erfolg gekrönt war, wird in der Fabel eindrücklich inszeniert.

Fremd- und Lohnarbeit Es gibt nur wenige Hinweise, dass es in Israel Kleinbauern gab, die ihr eigenes Land bewirtschaften konnten. So spricht Spr 12,11 und 28,19 vom Bebauen des eigenen Ackers; auch die aus Mt 21,28 oder Lk 15,25 zu erschließenden Sozialverhältnisse deuten auf Familienbetriebe hin, bei denen das eigene Land bewirtschaftet wurde (vgl. 2Tim 2,6). Auch wenn die vollständige Enteignung des Landes erst nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels unter Vespasian erfolgte (70 n. Chr., vgl. Flav. Jos. vit. 76), waren 113

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Parabeln in der Logienquelle Q

Teile des Landes schon während der Seleukidenherrschaft (3.-2. Jh. v. Chr.) Besitz des Königs (basilik¼ g» basilike¯ ge¯ – königliches Land). Ferner trieben Missernten sowie hohe Abgaben und Steuern die Kleinbauern in die Schuldsklaverei. So dürfte es der Normalfall gewesen sein, dass man sich Land pachtete, was auch durch den hohen Differenzierungsgrad der unterschiedlichen Varianten der Verpachtung bestätigt wird, wie sie im jüdisch-rabb. Recht ihren Niederschlag gefunden haben (vgl. mBM VI; VII; dazu Dalman 1932, 158; S. Safrai 1979, 349 ff.). Wenn die eigenen Familienmitglieder für die landwirtschaftliche Arbeit nicht ausreichten, konnten sowohl Besitzer als auch Pächter Fremdarbeiter anwerben. Dabei wurden Dauerarbeiter für ein oder mehrere Jahre (vgl. Jes 16,14; 21,16; Sir 37,11) oder Kurzzeitarbeiter eingestellt. Besonders in der Erntezeit waren Hilfskräfte und Tagelöhner notwendig, um die kurzfristig anfallenden umfangreichen Erntearbeiten bewältigen zu können (Ben-David 1974, 65-69). Ein solcher Lohnarbeiter (misqwt@ mistho¯tos/ ¥rg€th@ ergate¯s) sollte täglich ausbezahlt werden (Lev 19,13; Dtn 24,15; vgl. Lk 10,7; 1Tim 5,18; S. Jak 5,4). Sowohl Pächter als auch angeworbene Arbeiter ernteten nicht für sich selbst, sondern entweder vollständig oder zumindest anteilig für den Besitzer des Landes. Die Parabel in Q 10,2 ruft eine solche Vorstellung von Fremdarbeit ins Bewusstsein: Die Arbeiter und Arbeiterinnen sollen nicht zum Einbringen der eigenen Ernte ausgesandt werden. Es geht vielmehr um die Ernte eines Kyrios, der mit dem Landbesitzer identifiziert werden kann. Will man aus den wenigen Worten der Parabel eine noch konkretere Situation ableiten, dann könnte man bei den Bittenden an Dauerarbeiter denken, die angesichts der Fülle der Ernte zum Landbesitzer schicken, um noch zusätzliche Tagelöhner anwerben zu lassen. Dass der an sich weite Begriff »Arbeiter« hier im Sinne von Tagelöhner verstanden werden kann, legt der Kontext nahe, da in Q 10,7 ausdrücklich vom Lohn des »Arbeiters« die Rede ist. Ferner konnte der Terminus ¥rg€th@ (ergate¯s) auch explizit für Tagelöhner verwendet werden (Mt 20,1 ff.).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Es verwundert nicht, dass in der antiken Agrargesellschaft der Erfahrungsbereich von Saat und Ernte häufig zum Bildspender für übertragene Aussagen herangezogen wurde. Die aufgrund der alltäglichen Anschauung sofort einsichtige Erfahrung sollte dabei genutzt werden, um andere, z. B. religiöse Aussagen zu formulieren. Auch wenn hierbei keine Verengung auf ein einziges ›tertium comparationis‹ möglich ist, fokussiert die metaphorische Aussage doch jeweils bestimmte Aspekte des Bedeutungsfeldes der Ernte, sei es den Tat-Folge-Zusammenhang von Saat und Ernte, sei es die Betonung der Freude über den Ernte-Ertrag, sei es die Zeit-Dimension mit Hervorhebung des Endes durch Abschluss der Vegetation (Einzelheiten hierzu bei Joh 4,35-38, vgl. von Gemünden 1993, 192). Im prophetischen Schrifttum des antiken Judentums wird die Ernte häufig als Metapher für das Strafgericht Gottes (Jes 16,9 f.; 18,4 f.) oder apokalyptisch zugespitzt für das Endgericht betrachtet (vgl. Jes 9,2; 4Esr 4,28-36). Dabei zeitigt die Ernte unterschiedliche Folgen: Sie kann zur Freude über den Ertrag (Ps 126,5 f.), aber ebenso auch zur 114

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Folgenreiche Bitte! Q 10,2

Vernichtung führen (Jes 17,5; 21,10). Das Ernte-Bild bleibt also ambivalent. Nach Jo 4,913 ist die Aufforderung zur Ernte ein Aufruf, in den endzeitlichen ›heiligen Krieg‹ zu ziehen. Die Metapher vom kämpfenden Krieger als Schnitter ist auch in griech. Texten belegt (Herrmann/Opelt 1966, 290). Im frühchristlichen Schrifttum findet sich eine breite Aufnahme und Fortführung der antiken, insbesondere jüdischen Bildfelder. Häufig wird die Ernte auch hier als Metapher für die Tatfolge verwendet (Gal 6,7 f.; 2Kor 9,6; Mt 7,16-20). Die Saat- und ErnteBildfelder zählen zum festen Bildrepertoire der Parabeln (vgl. Q 19,22; Mk 4; Mt 13; Joh 4,35-38), wobei das Ernte-Motiv als Bild des Gerichts verwendet werden kann (Mk 4,29; Mt 13,30.40); nach Apk 14,14 f. ist es der Menschensohn selbst, der die Sichel zur endzeitlichen Ernte anlegt. Aber auch der Vorgang der Evangeliumsverkündigung wird z. B. in den paulinischen Briefen mit dem bildspendenden Bereich von Saat-Wachstum-Ernte zum Ausdruck gebracht (vgl. 1Kor 3,6-9; 9,11). Ferner gibt es zu dem in Q 10,2 vorkommenden Begriff »Arbeiter« im Judentum eine Metapherntradition (vgl. »Arbeiter des Herrn« in TestBen 11,1), die bei Paulus allerdings fast ausschließlich im negativen Sinn verwendet wird (2Kor 11,13; Phil 3,2). Erst die Pastoralbriefe sprechen wieder in positiver Weise von den Arbeitern, indem Timotheus ermutigt wird, ein Arbeiter zu sein, der das Wort der Wahrheit in gerader Richtung schneidet (2Tim 2,15). Bleibt die Ernte-Sprache von Q 10,2 insgesamt eng in die Bildfeldtradition ihrer Zeit eingebunden (s. u.), so wird doch auch in einem Punkt innovativ formuliert: Die Wendung kÐrio@ to‰ qerismo‰ (kyrios tou therismou – Herr der Ernte) ist weder in der jüdischen noch in der gesamten griechischen Literatur belegt (vgl. TLG), so dass es sich hier um eine ›kühne Metapher‹ handeln dürfte, die dann in der nachneutestamentlichen Literatur häufig aufgegriffen wird.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die apokalyptische Deutung: Die Gegenwart der Gerichts-Ernte Der Kontext der Aussendung (Q 10,2-16) legt eine Übertragung des Erntebilds auf die Evangeliumsverkündigung nahe. Das mit dem Kommen des Menschensohns angebrochene Reich Gottes ist Ausdruck der Endzeit, die bereits in der Bildfeldtradition häufig mit dem Ernte-Motiv verbunden wurde. Auch die Fülle der Ernte passt in diesen Horizont. Die Ernte ist Bild für die Jesus-Endzeit (gegen Polag 1977, 71), die Arbeiter sind folglich die Jünger Jesu, die als prophetische Wandercharismatiker ausgesandt werden (Kloppenborg 2000, 211; Theißen 2004, 55-64). Wie Fremdarbeiter bei der Ernte sollen sie im Auftrag und in Vertretung ihres Herrn durch Basileia-Verkündigung und Wunder ganz Israel (S. Schulz 1972, 412) sammeln. Die Zusage der Königsherrschaft Gottes (Q 10,9) soll dabei zunächst als Friedensbotschaft verkündigt werden: »Wenn ihr aber in ein Haus hineingeht, sagt [als erstes]: Friede [diesem Haus]« (Q 10,5). Die Jünger werden allerdings »wie Schafe unter Wölfe« (Q 10,3) gesandt. Einige Städte, namentlich Chorazin, Betsaida und Kafarnaum, werden die Jünger nicht aufnehmen (Q 10,10-15), so dass sie das Gericht (Q 10,14) treffen wird. Der Vergleich mit Tyrus und Sidon (Q 10,13) legt einen Rückbezug auf Jo 4,1-13 nahe, wo diese Städte im Horizont eines Gerichts-Ernte115

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Parabeln in der Logienquelle Q

Bildfelds ebenfalls explizit genannt werden (Jo 4,4). Spätestens dieser weitere Kontext macht deutlich, dass die Ambivalenz des Erntebildes auch in Q 10,2 mitgedacht werden muss. Ein reiner Verkündigungsoptimismus scheidet hier aus. Auch wenn der Vers selbst keine unmittelbaren Anklänge an ein Gerichtsszenario zeigt, ist das Bild vor dem Hintergrund der jüdisch-apokalyptischen Bildfelder und im Kontext der Logienquelle (vgl. Q 10,13-15; 11,31 f.; Uro 1996, 92-98) als Hinweis auf das endzeitliche Gericht zu verstehen. Die metaphorische Pointe der Parabel besteht bei dieser Deutung darin, dass sich die endzeitliche Ernte bereits in der gegenwärtigen Verkündigungstätigkeit der Jünger bzw. der Q-Gruppe erfüllt (Hoffmann 3 1982, 271-274), den einen zum Heil, den anderen zur Strafe. Eine solche Konkretion der Erntemetapher wird in der Parabel selbst allerdings vermieden.

Die appellative Deutung: Gebet und Sendung der Arbeiter Doch anders als etwa in Jo 4,9-13 sollen sich die urchristlichen Missionare gerade nicht als Krieger des endzeitlichen Kampfes verstehen. Möglicherweise in Abgrenzung zur zeitgenössischen Freiheitsbewegung der Sikarier bzw. Zeloten (Sichel-Träger, dazu Heiligenthal 2005, 32 f.) wird eindeutig betont, dass die Arbeiter nicht ihre eigene Ernte sammeln sollen. Wie Lohnarbeiter stehen sie im Dienst des ›Herrn der Ernte‹, der hier mit Gott identifiziert werden kann. Ihn soll man ausdrücklich um die Aussendung der Arbeitskräfte bitten, womit von vornherein jeglicher falscher Übereifer – sei es im politischen, sei es im missionarischen Sinn – ausgebremst wird. Doch die Aufforderung zur Bitte, die mit Gott als Adressaten zum Gebet wird, darf auch nicht als Untätigkeit missverstanden werden. Die Parabel zeigt eine eigenartige Verflechtung von Aktivität und Passivität, die gerade die pragmatische Intention der Parabel freilegen könnte: Nicht alles selbst machen wollen – aber auch nicht die Hände in den Schoß legen! Das strategische Ziel wird durch eine direkte Anrede angesteuert: »Bittet!« Nicht nur die Zuhörer/innen Jesu, auch spätere Lesende dürfen sich als Adressaten dieses Imperativs ansprechen lassen. Die Parabel fordert damit nicht nur zu einer Deutung, sondern zu einer eigenen Positionierung und Handlung heraus. Doch reicht das bloße ›Beten‹ ? Im Prozess des Bittens wird es den Betenden bewusst, dass sie schon mitten in die Parabel hineingezogen sind. Sie haben doch auch den Missstand bemerkt. Sie haben doch begriffen, dass mehr Arbeiter benötigt werden als da sind. Sie wissen nach Q 9,57-60, dass man Jesus nicht halbherzig nachfolgen kann. Sollten nicht die Bittenden am Ende zugleich die Gesandten sein? Sollten sie durch die Bitte letztlich die Bereitschaft und Offenheit für ihre eigene Sendung, für ihr eigenes Handeln zum Ausdruck bringen? Die Leserorientierung der Parabel macht die frühere Diskussion um die historische Verortung des Auftrags (Jesus, Q-Schichten, Mission der Kirche, vgl. dazu F. Hahn 2 1965, 33-36; S. Schulz 1972, 404-419) obsolet: Die Ernte steht je und je bevor, ist aber (immer) noch nicht eingebracht. So könnte der durch die Parabel hervorgerufene Erkenntnisprozess am Ende zu einem Gebet drängen, wie es die Propheten im Akt ihrer Berufung seit Alters her ausgesprochen haben: »Ja, Herr, sende mich!« Diese Appellstruktur entschärft auch die von der früheren Forschung (Jacobson 1982, 421; Uro 1987, 113 f.) wahrgenommene Spannung zwischen Q 10,2 und Q 10,3. Denn der im folgenden Vers ergehende Imperativ »Geht« (Q 10,3) bestätigt rückblickend, dass in der eigenen Sendungsbereitschaft die appellative Funktion der Parabel ans Ziel gekommen ist. 116

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Folgenreiche Bitte! Q 10,2

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Mt 9,37 f. Im Matthäusevangelium wird die kleine Parabel bereits in der Einleitung der Aussendungsrede platziert, die nach der Bergpredigt der zweite der fünf großen Redenkomplexe des Mt ist. Mt vereint hierbei die Aussendungsreden von Mk und Q, was bereits in der Einleitung sichtbar wird, indem hier ein Wort aus Mk (9,36 = Mk 6,34?) und die Einleitung der Q-Aussendung (Q 10,2) verknüpft werden: Jesus hat Erbarmen mit der geplagten und niedergeschlagenen Volkesmenge Israels, die wie »Schafe ist, die keinen Hirten« haben. Dabei ist ihm einerseits die Betonung des Gerichtsgedankens als Zeichen der Endzeit wichtig, mit Mt 13,39 wird die Ernte ganz explizit mit der Endzeit identifiziert. Andererseits mag er gerade auch den tröstlichen Aspekt des Gebetes gerne an den Anfang gestellt haben, da für Mt »das Gebet die Grundlage der missionarischen Existenz der Jünger« (Luz 3 1999, 81) ist. Der Bezug der Erntearbeiter in Mt 9,37 f. auf die Jünger ist angesichts der nachfolgenden Berufung und Aussendung der Zwölf (Mt 10,1-5) wahrscheinlich. Gleichwohl werden die Erntearbeiter nach Mt 13,39.41 auch mit den »Engeln des Menschensohns« identifiziert. Indem der sich erbarmende Hirte hier mit dem endzeitlichen Erntebild kombiniert wird, wird eine für Mt typische Spannung erzeugt, die gerade auch das Gleichniswerk in besonderer Weise durchzieht (z. B. Mt 22,1-14; Mt 25,1-13) und vermutlich eine appellative Funktion erfüllt.

Lk 10,2 Anders als Mt verknüpft Lk nicht die Aussendungsreden von Mk und Q zu einer Einheit, sondern versucht die Dualität theologisch fruchtbar zu machen. Während die Aussendung der Zwölf (vgl. Lk 9,1-6) auf Israel zielt, wird die Q-Instruktion zu einer Aussendungsrede an die Völker (Lk 10,1-20) ausgestaltet, bei der 72 – die biblische Zahl der Nationen (vgl. Gen 10) – Jünger ausgesandt werden. Der erste Teil dieser Rede (Lk 10,1-16) gibt abgesehen von einigen redaktionellen Eingriffen die Aussendungsrede von Q 10,2-16 wieder (Hoffmann 3 1982, 248 f.). Lk 10,2 wird als Redeeinleitung an die 72 adressiert (er sagte zu ihnen). Abgesehen vom Symbolgehalt der Zahl der Ausgesandten ist auch die große Zahl denkwürdig, denn hier wird bereits vorgreifend die in Q 10,2 ausgesprochene Bitte um eine angemessene Anzahl an Arbeitskräften als erfüllt betrachtet. Dass das Gebet nicht vergebens war, wird dann auch durch die zweite, von Lukas angefügte Jesusrede (Lk 10,17-20) zum Ausdruck gebracht. Die Ausgesandten kehren erfolgreich zurück, die Mission unter den Völkern hat sichtbar begonnen, das ist für Lukas Grund zur Freude (Lk 10,20).

EvThom 73 Der erste Satz von EvThom 73 entspricht unverändert dem Einleitungssatz von Q 10,2. Doch in der Bitte sind die Zuspitzungen des Adressaten als »Herrn der Ernte« bzw. »seiner« Ernte ausgelassen. Hier lesen wir nur noch: »Bittet aber den Herrn, dass er Arbeiter aussende zur Ernte.« Während Nordsieck u. a. hieraus eine archaische, unabhängige Form des Logions ableiten (Nordsieck 3 2006, 284 f.), betrachten andere EvThom 73 als 117

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Parabeln in der Logienquelle Q

gnostisierende Überarbeitung von Q 10,2. So hat etwa Fieger vermutet, dass hier nicht mehr Christus als Ernteherr angesprochen ist. »Die Bitte richtet sich letztlich an den einzelnen Gnostiker. Nur er kann neue Gnostiker gewinnen« (Fieger 1991, 206). Die Übertragung der Parabel in die Missionswelt der frühen Kirche eröffnet einen breiten Raum der Bezugnahme: Meist werden die Erntearbeiter als Verkündiger des Wortes Gottes aufgefasst (Clem. Al. strom. I,7,1; virg. 1,13,4; Bas. reg. 31, 817). Origenes liefert die erste Systematik der urchristlichen Erntemetaphern (Or. comm. in Ioan. 13,45 [2,86 f.]) –, wobei er die Ernte nach Mt 9,37 f./Q 10,2 als Chiffre für die lehrbedürftigen Christen versteht. Origenes deutet den Mangel an Arbeitern nach Mt 9,37 nicht als Defizit, sondern als Hinweis, dass nur wenige zur Seelenernte berufen seien (Orig. in Mt frg. 190), ein Aspekt, der in anderer Weise von Dietrich Bonhoeffer im 20. Jh. aufgegriffen wird, wenn er die Unverfügbarkeit der Sendung betont (Bonhoeffer 7 1991, 174): »Aber wenige sind der Arbeiter.« Ist das ein Wunder, da ja so wenigen dieser barmherzige Blick Jesu geschenkt ist? Wer könnte auch in diese Arbeit eintreten als der, der am Herzen Jesu Anteil genommen hat, der durch ihn sehende Augen empfangen hat? Jesus sucht Hilfe. Er kann das Werk nicht allein tun. Wer sind die Mitarbeiter, die ihm helfen? Gott allein kennt sie und muß sie seinem Sohn geben.«

Ruben Zimmermann Literatur zum Weiterlesen G. DeVirgilio, La singolarità della preghiera per le vocazioni in Mt 9,36/Lc 10,2: prospettive biblico-teologiche, Rassegna di teologia 51 (2010), 565-581. C. Heil, Die Missionsinstruktion in Q 10,2-16. Transformation der Jesusüberlieferung im Spruchevangelium Q, in: ders., Das Spruchevangelium Q und der historische Jesus, SBAB 58, Stuttgart 2014, 119-146. A. Herrmann/I. Opelt, Art. Ernte, RAC VI (1966), 275-306. A. D. Jacobson, The Literary Unity of Q: Lc 10,2-16 and Parallels as a Test Case, in: J. Delobel (ed.), Logia: Les Paroles de Jésus – The Sayings of Jesus: Mémorial Joseph Coppens, BEThL 59, Leuven 1982, 419-423. D. T. Roth, Missionary Ethics in Q 10:2-12, in: J. Kok/D. T. Roth/C. Hays/T. Nicklas (Hg.), Sensitivity to Outsiders. Exploring the Dynamic Relationship between Mission and Ethics in the New Testament and Early Christianity, WUNT II/364, Tübingen 2014, 81-100. R. Uro, Sheep among the Wolves. A Study on the Mission Instructions of Q, AASF.DHL 47, Helsinki 1987.

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Bitten lohnt sich (Vom bittenden Kind) Q 11,9-13 (Mt 7,7-11 / Lk 11,9-13) (9) Ich sage euch: Bittet, und es wird euch gegeben werden! Sucht, und ihr werdet finden! Klopft an, und es wird euch geöffnet werden! (10) Denn jeder, der bittet, empfängt, und die, die sucht, findet, und dem, der anklopft, wird geöffnet werden. (11) Wer ist unter euch ein Mensch, den sein Sohn um Brot bitten wird: Wird er ihm etwa einen Stein geben? (12) Oder er wird auch um einen Fisch bitten: Wird er ihm etwa eine Schlange geben? (13) Wenn also ihr, obwohl ihr schlecht seid, versteht, euren Kindern gute Gaben zu geben, um wie viel mehr wird der Vater aus dem Himmel denen gute Gaben geben, die ihn bitten!

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die hypothetische Fassung der Logienquelle entspricht mit nur kleinen Abweichungen dem Text Mt 7,7-11. Voraus geht vermutlich in Q das Unser-Vater-Gebet (Q 11,2-4; Mt 6,9-13 // Lk 11,2-4). Bitten an Gott als »Vater« zu richten, ist also bereits das Thema des größeren Kontextes. Der Text ist ganz als Rede Jesu vorgestellt (und in Mt Teil der Bergpredigt). Die Rede wird durch das einleitende, metasprachliche »ich sage euch« als Anrede an ein nicht weiter spezifiziertes Publikum charakterisiert. Anreden und Imperative in der 2. Pers. Pl. und Aussagen in der 3. Pers. Sg. über Menschen und Gott wechseln sich ab, so dass explizite Appelle verschränkt sind mit allgemeinen Aussagen über Menschen und Gott. Die Sprache der Jesusrede ist dominiert von Maskulina (in der Übersetzung von V. 10 etwas abgemildert). Bemerkenswert ist aber, dass Q 11,11 bzw. Mt 7,9 von einem »Menschen« (˝nqrwpo@ anthro¯pos) spricht, nicht wie Lk 11,11 von einem »Vater« (s. u.). Die Jesusrede hat drei Teile, mit einem formalen Gefälle von abnehmenden Gliedern: Der erste Teil V. 9 f. hat zwei mal drei Glieder: dreimal parallele Imperative und futurische Zusagen (V. 9) sowie drei mit fast denselben Verben gebildete Aussagesätze (V. 10). Der zweite Teil V. 11 f. besteht aus zwei parallel strukturierten Fragen, der dritte Teil V. 13 aus einer Schlussfolgerung, und auf dieser liegt das Achtergewicht (s. u.). In jedem Satz kehrt das Stichwort »bitten« wieder in unterschiedlichen Formen des Verbs a§te…n (aitein); weil es »bitten« und »beten« bedeuten kann (s. Bovon 1996, 152 mit Anm.), verbindet es die profane mit der religiösen Ebene. Dem Stichwort »Bitten« korrespondiert das »Geben«, ebenfalls in unterschiedlichen Formen (V. 9.11.12.13; in V. 13 sogar als Wortspiel dmata didnai [domata didonai – Gaben geben]). Das Thema »wer bittet, der/dem wird gegeben« verbindet also die drei Teile, jedoch mit wechselnder Per119

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Parabeln in der Logienquelle Q

spektive: Teil 1 blickt auf den bittenden Menschen, Teil 2 auf den gebenden und Teil 3 auf Bitten und Geben. Der zweite Teil V. 11 f., als Doppelgleichnis bezeichnet (Luz 5 2002, 498), ist hier von besonderem Interesse. Er spricht in zwei suggestiven Fragen konkret von den Verhältnissen zwischen Menschen. Bereits die Formulierung mit mffi (me¯ – »doch nicht etwa«) fordert die verneinende Antwort. Die Übersetzung von V. 11 f. zeichnet die holpernde Syntax nach, die man als Semitismus erklärt (Beyer 1962, 287-293). Der Sinn ist klar, doch die Formulierung erreicht, dass erstens die Aussage sowohl allgemein formuliert ist (»ein Mensch …«) wie anredend (»wer unter euch«), dass zweitens vom Bitten und vom Geben aktivisch die Rede ist und drittens so das Gegenüber »Mensch« – Gott (V. 13) hervorgehoben wird. Der Umgang von Eltern mit ihren Kindern wird in einer minimalen Handlungssequenz skizziert, sichtbar wird neben der Bitte des Kindes nur die falsche Reaktion der Eltern als Unmöglichkeit. Was der »Mensch« dem bittenden Kind gibt, wird nicht gesagt. Gegenübergestellt werden essbare und ungenießbare Gaben; die Worte enden im Griechischen jeweils mit den gleichen Lauten, was die Alternative prägnanter macht: ˝rton / lfflqon (arton / lithon – Brot / Stein) und §cqÐn / fin (ichthyn / ophin – i und y sind im Griechischen gleichlautend – Fisch / Schlange). V. 11 f. hat keinen narrativen Charakter, wie sich bereits an der Frageform und dem Fehlen von Vergangenheitstempora zeigt, sondern spricht vom menschlichen Verhalten als Teil eines Argumentes. Die Jesusrede hat kaum semantische Signale, die ein metaphorisches Verständnis anregen. Doch der Duktus und die Argumentation des Textes erschließen sich erst, wenn zwei Sinnebenen und die »Reibung« zwischen ihnen entdeckt sind; das sei genauer aufgezeigt. Die kleine Rede erhält einen Spannungsbogen durch irritierende Leerstellen: In Teil 1 (V. 9 f.) wird nachdrücklich aufgefordert zum Bitten bzw. Suchen oder Anklopfen mit der Begründung, dass dies jeweils positiv beantwortet wird. Es fehlen jedoch die Objekte zu den verba actionis Bitten, Suchen, Anklopfen: Um was soll man wen bitten? Was wird man wo finden? Und es fehlen die logischen Subjekte zu den Passiva »gegeben werden, geöffnet werden«. Wer wird das tun? Das bibelkundige Ohr weiß hier »Gott« zu ergänzen als den, den man bitten oder suchen soll (z. B. Jer 29,12-14; vgl. Luz 5 2002, 499 f.). Die Rede Jesu lässt das jedoch zunächst offen: Es gilt zu suchen! Und im zweiten Teil (V. 11 f.) finden sich zu den Leerstellen von V. 9 f. logisches Subjekt und Objekte: Ein Sohn fragt Vater oder Mutter um Brot bzw. Fisch. Doch die Adressierten werden hier nicht als Bittende angesprochen, sondern als diejenigen, die geben. Damit wird angezeigt, dass die Familienszene nicht auf derselben semantischen Ebene liegt wie V. 9 f. Die Leerstellen von V. 9 f. füllt erst V. 13. Er fasst den Gehalt der Fragen V. 11 f. wertend zusammen, indem er die Adressierten überraschend als »Schlechte« bezeichnet, die ihren Kindern dennoch Gutes zu geben wissen, und schließt daraus eine allgemeine Aussage, in der nun die in V. 9 f. noch fehlenden Objekte und das handelnde Subjekt genannt sind: Der »Vater« wird denen, die ihn bitten, aus dem Himmel das Gute geben. Gezielt wird das Vokabular aus V. 9a.10a wiederholt, von der Nahrungsfrage verallgemeinert zur Gabe von Gütern (⁄gaq€ agatha), und als Signal schließt der Text in einer Inclusio zu V. 9a mit einem auf den »Vater« referierenden »die ihn bitten«. »Vater« (patffir pate¯r), das zunächst in Verlängerung der Familienszene verstehbar wäre, wird durch den Zusatz »aus dem Himmel« als die bekannte Metapher für Gott 120

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Bitten lohnt sich Q 11,9-13

erkennbar. Diese Metapher ist der Schlüssel zum metaphorischen Verhältnis der beiden Sinnebenen und zur Argumentation. V. 11-13 begründet V. 9 f. mit einer in der antiken Rhetorik bekannten Schlussfigur a minore ad maius, dem durch das »um wie viel mehr« (ps†w m”llon poso¯ mallon) ausgedrückten Schluss vom Kleineren auf das Größere. V. 13 schließt sogar noch etwas spitzfindiger nicht allein quantitativ, sondern qualitativ »a malo ad bonum« (vom Schlechten aufs Gute). Der Analogieschluss »wenn ihr schlechten Menschen dazu in der Lage seid, dann doch erst recht Gott« gilt nur unter der Prämisse, dass man vom Umgang unter Menschen auf das Verhalten Gottes gegenüber den Menschen schließen kann. Diese nicht ausgesprochene Voraussetzung gilt hier wie oft als Axiom (nicht mehr begründete Prämisse), ist sie doch die Bedingung der Möglichkeit, von Gott zu reden. Metapherntheoretisch gesprochen geht es um die Basismetapher der Übertragung vom Menschlichen als Bildspendebereich auf Gott als Bildempfänger. Als Bildspendebereich wählt unser Text genauer die Nahrungsfürsorge von Eltern für ihre Kinder, und er nimmt das traditionelle Bildfeld von Gott als »Vater/Mutter der Menschen« auf. Es ist jedoch eine Verschiebung in der Darstellung des Elternverhaltens zu beachten: Während V. 13a dieses beschreibt als Fähigkeit, Gutes zu geben trotz eigener Schlechtigkeit, spricht V. 11 f. nur davon, was die Eltern nicht tun. Nicht ausgeschlossen wird z. B. die Möglichkeit, dass die Eltern den Wunsch des Kindes ignorieren oder dem Kind etwas anderes Essbares geben. Genau genommen ist also die in den Suggestivfragen unterstellte elterliche Reaktion gar nicht »beweiskräftig« für die elterliche Fürsorge, sondern erst die solche Deutungsmöglichkeiten einschränkende positive Charakteristik in V. 13a, die durch die Folgerungspartikel oªn (oun – also) in V. 13a als Schluss aus V. 11 f. präsentiert wird. In der Auslegung wird das Logion V. 11 f. meist jedoch mit V. 13a gelesen als Aussage, dass die Eltern den Kindern Brot und Fisch geben, ja der Bitte ihrer Kinder genau entsprechen (so z. B. Rondez 2006, 121; vgl. ähnlich Ebner 1998, 213). Hier soll hingegen der Wortlaut von V. 11 f. beachtet werden und damit die Inkonsistenz im Textduktus.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Dass ein »Mensch« einen »Sohn« hat, wird in 11,11 f. als selbstverständlich vorausgesetzt, und so war es im Judentum zur Zeit Jesu auch selbstverständlich, Kinder zu haben. Genauer ist an kleinere Kinder zu denken, die bereits in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, nicht mehr mit Muttermilch genährt werden, aber noch auf die Versorgung der Eltern angewiesen sind. Anders als andere binäre Relationen unter Eheleuten, FreundInnen oder Geschwistern ist das Eltern-Kind-Verhältnis gekennzeichnet durch Dauerhaftigkeit, durch zeitliche und sachliche »Priorität« der Eltern und die anfängliche physische Abhängigkeit der Kinder und damit eine Asymmetrie der Beziehung. Diese geht mit einem Autoritätsgefälle einher, das in der Antike, insbesondere im Römischen Reich, wesentlich stärker ausgeprägt war als heute. Das römische Recht gab dem pater familias (Familienoberhaupt) sogar das Recht über Leben und Tod (ius vitae necisque) und die Autorität auch über erwachsene Kinder (Schiemann 2000). Diese Asymmetrie bedeutet aber auch, dass die Kinder die Gaben ihrer Eltern nicht unmittelbar entgelten mussten – auch wenn gerade erwachsene Kinder gegenüber ihren Eltern in der Antike durchaus in der Pflicht standen (s. Balla 2003). 121

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Parabeln in der Logienquelle Q

Obwohl die Eltern-Kind-Beziehung in der Antike gewiss durch Emotionen bestimmt war (zur Diskussion vgl. Saller 1992), sollte man den damaligen Konzepten von Vater- und Mutterschaft nicht die modernen Ideale der bürgerlichen Kleinfamilie von elterlicher selbstloser Liebe und einzigartiger emotionaler Bindung unterstellen. Dass Eltern ihre Kinder mit Nahrung versorgten, war gewiss selbstverständlich. Diese Aufgabe fiel in Familien, die keine SklavInnen hatten, meist der Mutter zu. Solche Frauenarbeit wird allerdings (in der antiken Literatur wie der modernen Sozialgeschichtsschreibung) kaum wahrgenommen (vgl. Schottroff 3 2001, 122 ff. und die Wirkungsgeschichte unseres Textes, andererseits aber Ebner 1998, 311). Brot ist in der Welt des Neuen Testaments das Grundnahrungsmittel, Hauptnahrungsmittel gerade der armen Bevölkerung (Berger 1993a, 15-18). Speisefisch, der durch Salzung oder Fermentierung haltbar gemacht werden konnte, ist ein ebenfalls wichtiges Nahrungsmittel, während Fleisch weniger konsumiert wurde als heute (H. Schneider 1998). Dabei war nicht jede Fischsorte den armen Leuten erschwinglich (Gutsfeld 1998). In Galiläa sind Brot und Fisch die typische Nahrung auch der einfachen Leute (vgl. Mk 6,30 ff.parr. und Fortner/Rottloff 2003 zur Produktion); während das Mahlen und Brotbacken meist Frauen oblag, ist Fischfang eher Männeraufgabe. Vielleicht ist im Nebeneinander von Brot und Fisch der Arbeitsbereich der Frauen und der Männer beleuchtet (so Ebner 1998, 311 f.). Bittet ein Kind um Brot oder Fisch, so erbittet es sich also nichts Extravagantes, sondern die lebensnotwendige Nahrung. Nicht immer aber waren Eltern in der Lage, ihren Kindern das Lebensnotwendige zu beschaffen (vgl. H. Schneider 1998, 87 f.; vgl. z. B. 1Kön 17). Steine gab es natürlich überall, und ihre Gegenüberstellung zum Brot ist sprichwörtlich, wie unsere Rede vom »steinharten Brot« (von dem schon Sen. benef. 2,7,1 als Gabe des Hartherzigen spricht; Brot und Stein werden auch in Spr 20,17; Mt 4,3 kontrastiert). Mag der Stein in anderen Kontexten für die feste Bausubstanz (Mk 12,10), die Härte der Kraft (Hi 6,12) stehen, so hier im Gegensatz zum Brot als Ungenießbares, an dem man sich die Zähne ausbeißen kann. Schlangen gab es hingegen nicht überall, und sie dürften Eltern nicht einfach zur Hand gewesen sein. Sie galten aufgrund des giftigen Bisses mancher Arten als gefährlich (Bremmer 2001) und sind nach Gen 3,15 die ersten Feinde des Menschen. Die Alternative »Schlange statt Fisch« zielt wohl kaum auf die Ähnlichkeit beider (so Ebner 1998, 305, der a. a. O., 312 davon ausgeht, dass die »Schlange« ein beim Fang aussortierter Fisch ist), sondern darauf, dass eine Schlange nicht nur ungenießbar, sondern sogar gefährlich ist (mit Rondez 2006, 124 f. u. a.). Umstritten ist in der Auslegung das Verhältnis des in V. 11 f. Geschilderten zur Erfahrung: Wird nur an den selbstverständlichen »Vaterinstinkt« appelliert (so Zeller 2 1983, 130), oder wird den Eltern ein positives Beispiel mahnend vor Augen gestellt (so etwa Zeilinger 2002, 200 mit Frankemölle 1994, 265-267)? Nimmt man V. 11 f. beim Wort, so dürfte etwas Selbstverständliches benannt sein: Niemand würde sich die Mühe machen, seinem um Nahrung bittenden Kind etwas Ungenießbares wie einen Stein auszuhändigen oder gar eine Schlange zu suchen; eher würde man die Bitte ignorieren. Auch dass die Eltern sich darauf verstehen, ihren Kindern gute Gaben zu geben (V. 13a), dürfte den Erfahrungen entsprechen. Dass sie es stets täten, wird nicht gesagt.

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Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Durch die Skizze von Eltern und ihren Kindern und deren Analogisierung mit Gott wird die stehende Metapher »Vater-Gott« belebt und werden die Menschen indirekt als Gottes »Kinder« vorgestellt. Die metaphorische Rede von Gott als Vater ist sowohl in alttestamentlich-frühjüdischen Schriften (Böckler 2000; Strotmann 1991; Tönges 2003) wie im nichtjüdischen Umfeld (C. Zimmermann 2007, 64-73) bezeugt, während die MutterGott-Metaphorik im Alten Testament seltener begegnet (vgl. bes. Hos 11,3 in der Deutung von Schüngel-Straumann 1996, 35 f.; siehe insgesamt a. a. O., S. 33-71; zum paganen Umfeld C. Zimmermann 2007, 69). Im frühen Christentum nimmt die Verwendung der Vater-Gott-Metapher auffallend zu (C. Zimmermann a. a. O., 74-166); dies erklärt sich vermutlich historisch mit der Verwendung durch Jesus und der Bedeutung der reziproken Jesus-Sohn Gottes-Metapher (vgl. bes. Mk 1,11). Mit der jüdischen Tradition wird Gott gerade im Gebet als Vater angesprochen (vgl. z. B. Tob 13,4BA; Sir 23,1 u. ö.; Mk 14,36 für Jesus; Röm 8,15; Gal 4,6 f. dann für alle Christusgläubigen). »Geeignet« ist die Vater-Kind-Beziehung als Bildspender für das Gottesverhältnis wegen der Unverlierbarkeit der Beziehung, der Asymmetrie im Verhältnis und der Priorität des Vaters. Welche göttliche Eigenschaft oder Handlung die Rede vom Vater-Gott anspricht, ist jedoch je nach Kontext unterschiedlich. Es kann z. B. um das Schöpfersein (Jes 64,7 wie Plato. Tim. 28c) oder die strafende Autorität (Tob 13,4 f.) gehen (vgl. Böckler 2000; Strotmann 1991). Im Fokus des vorliegenden Textes ist die Fürsorgefunktion des Vaters, auf die bereits die Anrede im Unser-Vater-Gebet zielt (vgl. besonders die Brotbitte Mt 6,11par.). Vater-Gott ist der Geber der Güter, die Menschen sind wie Kinder Empfangende, die die Gaben nicht entgelten müssen. Anders aber als meist im NT wird Gott in Q 11,13 und Lk 11,13 nicht als »unser« bzw. »euer Vater« bezeichnet. Angesichts der Usualität der Gott-Vater-Metapher und ihrer Folgen für ein männlich konzipiertes Gottesbild ist zu betonen, dass es sich nur um eine Metapher handelt und Q 11,13 gerade die qualitative Differenz zwischen dem himmlischen »Vater« und den Menschen als Eltern betont. So kann sich die Vater-Gott-Metapher sogar kritisch richten gegen das Patriarchat (s. Mt 23,9; Schüssler Fiorenza 2 1993, 199-202) und gegen die römisch-imperiale Ideologie vom Herrscher als pater patriae (Vater des Vaterlandes, so D’Angelo 1992). Für heutige Imaginationen wäre angesichts der »abwesenden Väter« und der verbreiteten Aufgabenteilung zwischen Eltern die Fürsorgerolle Gottes wohl im Bild der nährenden Mutter besser erfasst (vgl. Hos 11,4). Und die Verheißung, dass die Suchenden finden werden und die Hungrigen gesättigt werden, erinnert nicht zufällig an entsprechende Zusagen der »weiblich« konzipierten Weisheit (vgl. z. B. Spr 9,5; Sir 24,1922; 51,26).

Zusammenfassende Auslegung (Deutehorizonte) Die Imperative V. 10 f. samt der Schlussfolgerung V. 13 geben der Lektüre des Logions eine klare Richtung: Bittet, dann erhört euch Gott. Diese Aussage ist in der atl.-jüd. Theologie nicht ungewöhnlich (z. B. Ps 50,15; vgl. weiter Zeller 2 1983, 128-130) und ist auch hier nicht christologisch begründet. Auffallend ist allerdings die universale Formulierung, die jede/n Bittende/n mit einschließt (V. 10a) und Gott allgemein als Vater be123

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Parabeln in der Logienquelle Q

zeichnet (Luz 5 2002, 500.503). Und ungewöhnlich ist der begründende Hinweis auf die eigene Eltern-Erfahrung in V. 11 f.13a, der die Position Gottes als Gebers ins Bild setzt. Die kurze Skizze des Verhaltens von Eltern gegenüber ihren Kindern rückt durch die Anrede, die Frageform und die überraschenden Alternativen Stein statt Brot, Schlange statt Fisch in den Vordergrund und wirkt insofern zunächst rhetorisch (so Luz 5 2002, 501). Ein hungriges Kind mit Stein oder Schlange zu bedenken, wäre absurd, und man wird sofort der suggestiven Formulierung folgend die Frage verneinen, ob jemand »unter uns« dies täte. Die »Messlatte« für das Elternverhalten liegt tief; wohl kaum vernehmen Eltern hier eine Mahnung. Umso leichter wird man die in V. 11-13a abgerufene Erfahrung verifizieren können. Doch dass von dieser menschlichen Selbsterfahrung auf Gottes Handeln zu schließen sei – das gibt zu denken. Stellt die »normale« Reaktion von Eltern auf ihr bittendes Kind, ihre Fähigkeit, dem Kind Gutes zu geben, eine wenn auch blasse Analogie zu Gottes Erhörung von Bitten dar? So lädt der Text die Menschen ein, ihr bittendes Sprechen mit Gott so unprätentiös und erwartungsvoll zu wagen, wie wenn ein Kind sich an seine Eltern um Nahrung wendet, und die Antwort Gottes auf Bitten, die Gabe des Guten selbstverständlicher noch zu sehen als die Fürsorge von Eltern.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte In der mt Redaktion ist das Logion im Schlussteil der Bergpredigt platziert und partizipiert so an deren programmatischem Gewicht. Es erinnert mit der Vater-Anrede und dem »Brot« an das in der Bergpredigt zentrale Unser-Vater-Gebet (Mt 6,9-13) und die Brotbitte. Das Gegenüber von »Brot statt Steinen« ist losgelöst vom Kontext der Gottesbeziehung evident und begegnet als politische Metapher für die Forderung nach dem Sinnvollen. So dichtete Christian Morgenstern unter dem Titel »Steine statt Brot«: »Ja, wenn die ganze Siegesallee aus Mehl gebacken wäre – das wäre eine gute Idee, auf Ehre! … Gib Kunst, o Fürst, die nährt und speist! Gib Brot, o Fürst, nicht Steine!« Die Alternative ist sinnfällig und lässt sich dem entsprechend symboldidaktisch einbringen für die Darstellung der göttlichen Gaben. Doch so evident die Alternative und die in Q 11,11 f. geschilderte Eltern-Erfahrung sind, so wenig ist es die Behauptung, dass Bitten an Gott erhört werden. In der Auslegungsgeschichte hat man sich darum bemüht, die Aussage mit der Erfahrung zu versöhnen. Dies geschieht etwa, indem die von Gott erbetenen Gaben spiritualisiert werden, z. B. durch Allegorisierung von »Brot« und »Stein«. So deutet z. B. Thomas v. Aquin, Super evangelium S. Matthaei Lectura 645 f.: Brot ist Christus bzw. die rechte Lehre, der Stein der Teufel bzw. falsche Lehre, der Fisch der Glaube, die Schlange die häretische Lehre (s. weiter zur Wirkungsgeschichte Luz 5 2002, 502). Schon Lk 11,13 nennt als Gabe Gottes nicht »Güter«, sondern den »heiligen Geist«. Diese Zusage ist innerhalb der lk Geschichtsdarstellung »verifizierbar« als nachösterliche Geistverleihung (Lk 24,49; Apg 1,4 f.; 2,1-4.38 u. ö.). Lk ist auch ein erster Zeuge für die Rückwirkung der Vater-Gott-Metapher auf die Imagination der menschlichen Vater-Rolle und damit für die Patriarchalisierung der symbolischen Ordnung: Lk ersetzt den »Menschen« aus Q 11,11 durch den »Vater«, lässt 124

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Jesus mithin nur noch mit Vätern reden. Das liegt offenbar so nahe, dass auch moderne Ausleger des geschlechterneutralen Mt-Textes unreflektiert nur noch von »Vätern« sprechen (vgl. z. B. Zeilinger 2002, 198 f.; Luz 5 2002, 501 f.; kritisch aber Ebner 1998, 314 f.). Ist denn der Gedanke so fremd, dass die Zuwendung von Müttern zu ihren Kindern durchsichtig ist für das Wirken Gottes?

Christine Gerber Literatur zum Weiterlesen G. B. Bazzana, Violence and Human Prayer to God in Q 11, HTS 70 (2014), 1-8. M. Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, HBS 15, Freiburg u. a. 1998, 304-315. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), EKK I/1, Zürich u. a. 5 2002, 498-504. P. Rondez, Alltägliche Weisheit? Untersuchung zum Erfahrungsbezug von Weisheitslogien in der Q-Tradition, AThANT 87, Zürich 2006, 113-131.

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Füllt den Raum aus – es kommt sonst noch schlimmer! (Beelzebulgleichnis) Q 11,24-26 (Mt 12,43-45 / Lk 11,24-26) (24) Immer wenn der unreine Geist einen Menschen verlassen hat, durchstreift er wasserlose Gegenden auf der Suche nach einem Ruheplatz; aber er findet keinen. Dann spricht er: »Ich will zurückkehren in mein Haus, aus dem ich herausgegangen bin.« (25) Wenn er dort ankommt, findet er es gefegt und aufgeräumt. (26) Dann bricht er auf, nimmt sieben andere Geister mit sich, die noch schlimmer sind als er, tritt ein und bezieht dort Wohnung. Das aktuelle Befinden jenes Menschen wird übler sein als das frühere.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Q 11,24-26 erzählt, nicht ohne humoreske Note, eine Geschichte mit zwei Antagonisten. Die Erzählfolge weist eine hohe Dynamik mit nur wenigen Handlungsknoten auf. Sie berichtet zunächst über das Schicksal eines aus einem Menschen ausgetriebenen Dämon, um mit einem Erzählerkommentar über das Schicksal des Menschen zu enden. Die Geschichte konzentriert sich auf das für sie Wesentliche; sie erzählt nicht vollständig, verschweigt sie doch die Vorgeschichte des Exorzismus, der notwendigerweise vor dem Erzähleinsatz erfolgt sein muss (schon Jülicher II 2 1910, 234). Im literarischen Kontext von Q ist solche Vorgeschichte durch den abgekürzten Exorzismus in Q 11,14 vorhanden, der der Kontroverse über Jesu exorzistisches Handeln (Q 11,15-20) vorausgeht; die narrative Abbreviatur eines Exorzismus stellt eine Modellhandlung für einen Dämonenaustrieb dar. Der Kontext innerhalb von Q dämpft den überraschenden Einsatz beim Dämon und seinem Schicksal ab, die Geschichte selbst erzwingt ein derartiges Modell aber nicht, sondern setzt die Vertrautheit mit derartigen Modellerzählungen beim impliziten Leser voraus. Der Held, auf den die Geschichte eigentlich hin erzählt wird (s. a. Trunk 1994, 94), ist ein Dämon; zum Dämon als »Helden« der Erzählung gehört es, dass er der Aktive ist, quantitativ die höchste Präsenz hat und mit allen weiteren Charakteren interagiert (vgl. zu den narratologischen Charakteristika Bal 2 1997, 131 f.). Der Dämon ist eine Figur, die eigentlich nur zum Antihelden taugt. Dass diese Gestalt eine schädliche Funktion hat, wird am Ende im Blick auf den ihm Wohnraum bietenden Menschen ausdrücklich festgehalten: »Das aktuelle Befinden jenes Menschen wird übler sein als das frühere« (V. 26). Welche konkreten negativen Auswirkungen wie Krankheiten oder Ähnliches der Dämon auf den Menschen hatte bzw. wieder haben wird, wird in der gesamten Kurzerzählung nicht berichtet; hierin liegt offensichtlich nicht das Erzählinteresse. Für den Dämon ist der Mensch nur Objekt seiner Behausung. Es geht um die Wiederkunft des Dämons in den bereiteten Raum mit noch verheerenderer Wirkung nach dem vorausgegangenen Verlassen dieser Wohnstätte. Damit geht es auch nicht um den Kontrast zwischen dem Anfang als Zustand der Befreiung durch den Exorzismus und der späteren Rückkehr des Dämons (so Valantasis 2005, 130); im Blick auf den Menschen ist das Ende der story, die 126

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Füllt den Raum aus – es kommt sonst noch schlimmer! Q 11,24-26

schlimmere Rückkehr des Dämons (s. a. Trunk 1994, 95), das Entscheidende, wie der Kommentar zeigt, wohingegen die Geschichte selbst das Schicksal des Dämons erzählt. Dieser Antiheld wird durch den Erzähler auf einen zweifachen Weg geschickt. Als aus einem Menschen Ausgetriebener sucht sich ein Dämon einen neuen Aufenthaltsort. Da seine Suche erfolglos verläuft, findet eine Gegenbewegung statt. Er erinnert sich seiner früheren Wirkungsstätte, die er nunmehr angenehm aufgeräumt findet. Erzähllogisch ist die Rückkehr die nächste Option, aber diese Rückkehr erfolgt nicht unmittelbar, sondern nach Ausspähen der Stätte fällt er mit sieben Kumpanen ein, über die ausdrücklich gesagt wird, dass sie schädlicher sind als der erste. In diesem Folgeschaden und weniger im Gedanken, dass eine Verstärkung eine erneute, im Erzählgang nicht anvisierte Austreibung verhindern würde (Jülicher II 2 1910, 235), liegt die Pointe der Gefährten als narrative Charaktere. Erst am Ende dieser Geschichte mit dem »happy end« für den Dämon kommt der Mensch, aus dem der Dämon ausgetrieben wurde, wieder in den Blick mit der Feststellung: Dieses Ende bringt ihn in eine schlechtere Situation als vor der Austreibung. Doch dies ist nicht alles, was die Erzählung zur Beschreibung des Menschen als Charakter beiträgt. Als »Wohnraum« des Dämons ist er in dessen Weg präsent. Der Mensch, indem er vom Dämon als wohlgefälliger Raum aufgefunden wird, lädt ihn indirekt zur Rückkehr ein. Für den Menschen ist die Geschichte eine Geschichte der verpassten Chance. Die Aktivität liegt, da der Mensch als handelnder Charakter in der story selbst nicht begegnet, in seiner Passivität (s. a. Jülicher II 2 1910, 236). Er kommt nie in eine aktive Rolle hinein und das ist sein Fehler. Er bleibt im religionsgeschichtlichen Rollenschema Objekt des Dämons. Die Geschichte ist rätselhaft und ihre Pragmatik erschließt sich schwer. Eine Anwendung oder Folgerung aus der Geschichte wird in Q nicht gezogen; allein der Kontext hilft, eine dem literarischen Dokument entsprechende Deutung zu eruieren. Obwohl der Dämon und nicht der Mensch im Fokus der Erzählung steht, ist der Mensch wohl dennoch als Mensch die Identifikationsgröße für die Adressaten, für die Dämonen eine Bedrohung darstellen, wie sie in der Erzählung durch den Rückfall mit negativer Wirkung auch aktualisiert wird. Der Abschluss mit dem Hinweis auf die üblere Situation nach der Rückkehr des Dämons und seiner Genossen ist die Warnung, auf die die Erzählung zuläuft. Die Adressaten sind gefordert zu verstehen, wie dieser Erfolg des Dämons zu verhindern gewesen wäre. Die bereitete Wohnung stellt das Problem dar. Die Rückkehr des Dämons ist kein notwendiges Geschick, sondern konditioniert durch den Menschen, indem der Raum nicht neu gefüllt ist (zum sprachlich-argumentativen Problem vgl. Jeremias 4 1988, 152 f.). Umkehr und Nachfolge Jesu sind Handlungsoptionen, die im Sinne des Erzählers eine den Dämon nicht mehr einladende, eine ihm letztlich unzugängliche Wohnstätte bereitet hätten. Gegen den narrativen Fluss Handlungsfähigkeit zu gewinnen und so zur Herberge des Gottesreichs zu werden, ist die Pragmatik der Geschichte. Vorschläge zur Formbestimmung von Q 11,24-26 reichen von exorzistischer Belehrung (Böcher 1972, 17; Kollmann 1996, 199-201) über »exorzistische Volksweisheit« (Luz 3 1999, 281; zustimmend Trunk 1994, 99; Allison 1997, 127) bis zu Gleichnis / Parabel (z. B. Fleddermann 2005, 508; Jacobson 1992, 170). Im Zusammenhang der exorzistischen Bestimmung würde der Text über die Gefahr eines Rückfalls informieren oder vor ihr warnen, wie es Bernd Kollmann versteht: »eine Warnregel für Wundertäter, dass 127

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Parabeln in der Logienquelle Q

ein ›Leerstehen des Hauses‹ dem Krankheitsgeist die Möglichkeit zur Wiederkehr gibt« (Kollmann 1996, 200; anders Allison 1997, 127: Warnung vor Exorzismen »outside the faith«). Auch wenn man eine exorzistische Praxis Jesu und im frühen Christentum in Rechnung stellt (nach Hoffmann 3 1982, 291.299 auf das Wirken der Jünger Jesu zu beziehen), so ist dieser Geschichte keine Regelung exorzistischer Praxis zu entnehmen (s. a. Tuckett 1996, 290), die über die allgemeine Weisheit, »es kommt schlimmer«, hinausgeht. Die Überlieferungskontexte verstehen den Text bildhaft, wenngleich in unterschiedlicher Weise. Für ein bildhaftes Verstehen spricht m. E. auch die Fokussierung auf den Dämon selbst als Helden und die durchaus humorvoll zu nennende Erzählstimmung, die die Erzählung geradezu zu einem Schwank werden lässt. Damit sind die Grenzen zu volksweisheitlichen Regeln exorzistischer Praxis überschritten. Es bleibt das Schlimmer-Werden, das als Drohung oder Warnung fungieren kann. Das Gefälle der Erzählung läuft auf die Aussage über den Menschen hinaus und legt nahe, es als Warnung an ihn und damit an die sich mit dieser Person identifizierenden Adressaten zu verstehen. Es geht darum, nicht die Wohnung für den bereits besiegten Dämon wieder zu bereiten. Es wird eine Befreiung vorausgesetzt, die es jetzt zu bewahren gilt (s. a. Fleddermann 2005, 508), ohne dass die Geschichte sich in konkreten Handlungsanweisungen bewegt. Q 11,24-26 erzählt also eine mit Anfang, Hauptteil (Problem) und Schluss mustergültig aufgebaute Geschichte, die einen bestimmten Fall aus dem Alltag erzählt, um ihn als Argument für Adressaten zu verwenden, die im Licht dieser Erzählung neue Erkenntnis gewinnen bzw. eine neue Haltung einnehmen sollen; dies entspricht spannungslos dem rhetorischen Modell einer Parabel (hierzu Zimmermann 2008).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Unreine Geister und Dämonen: Die antike Welt wird im Bewusstsein der in ihr lebenden Menschen neben diesen auch von Göttern und zahlreichen Zwischenwesen bevölkert, die für Krankheiten und anderes Unheil verantwortlich gemacht werden; solche bedrohlichen Wesen werden als Dämonen oder jüdisch als »unreine Geister« bezeichnet (Reiling 1999; vgl. zum Spektrum der differenten Dämonenvorstellungen den luziden Sammelband von Lange, Lichtenberger und Römheld 2003). Menschen bilden für diese Wesen, die in jüdischen und frühchristlichen Textzusammenhängen oft dem Teufel an die Seite gestellt werden können, Wohnung (Jeremias 4 1988, 153; über die dämonologischen Vorstellungen im Hintergrund von Q 11,24 ff. informieren prägnant Trunk 1994, 95-97; Ebner 2003, 127 f.). Sie gelten im Wortsinn als besessen, weil diese Wesen durch Öffnungen im menschlichen Körper in Menschen eindringen und in ihnen Raum in Besitz nehmen. Ein Exorzismus ist eine Handlung, die ebenso handgreiflich und konkret als Austreibung zu verstehen ist. Die Dämonen werden durch den Exorzisten aus ihrem Raum vertrieben und es gilt, keinen Eingang für eine mögliche Rückkehr zu belassen. Anschaulich für Praxis und Vorstellung einer solchen Austreibung ist Lukians Schilderung im Lügenfreund über das Haus des Eubatides: »Unbewohnbar, sagte er, war es seit langer Zeit wegen schrecklicher Dinge. Wenn jemand dort einzog, wurde er sogleich erschreckt und floh, verfolgt von irgendeinem fürchterlichen und Schrecken erregenden 128

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Füllt den Raum aus – es kommt sonst noch schlimmer! Q 11,24-26

Gespenst. Das Haus begann nun schon zu verfallen, und das Dach kam herunter, und überhaupt niemand brachte den Mut auf, hineinzugehen. … Ich aber nehme eine Lampe und gehe allein hinein. Im größten Raum stellte ich das Licht ab und widmete mich in aller Ruhe der Lektüre, am Boden sitzend. Da tritt der Dämon an mich heran, in der Meinung, einen von den vielen (die er schon vertrieben hatte) vor sich zu haben, und in der Hoffnung, auch mich in Furcht versetzen zu können wie die anderen: struppig, langhaarig und schwärzer als die Finsternis. Nachdem er herangetreten war, nahm er den Kampf mit mir auf, indem er mich von allen Seiten anfiel, ob er mich von irgendwo überwältigen könnte, und wurde bald ein Hund, ein Stier oder ein Löwe. Ich aber nahm die schauerlichste Beschwörungsformel zur Hand – ich redete in ägyptischer Sprache – und trieb ihn unter Zauberformeln in eine Ecke des finsteren Zimmers. Nachdem ich gesehen hatte, wohin er untergetaucht war, hatte ich für den Rest der Nacht Ruhe. … Ich nahm also ihn (den Eubatides; M. L.) und viele von den anderen mit – sie folgten nämlich wegen des paradoxen Vorfalls –, führte sie genau an die Stelle, wo ich den Dämon hatte untertauchen sehen, und gab die Anweisung, Hacken und Spaten zu nehmen und zu graben. Und als sie das machten, fand sich etwa ein Klafter tief eingegraben ein verwester Leichnam, lediglich was die Knochen angeht in seiner (ursprünglichen) Lage. Jenen bestatteten wir nun, nachdem wir ihn ausgegraben hatten, das Haus aber wurde von jenem Zeitpunkt an von Gespenstern nicht mehr belästigt« (Luc. philops. 31; Übers. Ebner u. a. 2001, 97.99). Auch wenn es in dem Textbeispiel um ein wirkliches Haus geht, so darf man sich die Besetzung eines »Raumes« im Menschen analog vorstellen; der Dämon »nistet« sich im Menschen ein und beansprucht diesen als sein Eigentum. Der Besessene selbst wird zum Haus des Dämons (s. u. Analyse des Bedeutungshintergrunds [Bildfeldtradition]; zur Vorstellung auch Jeremias 11 1998, 196). Der Dämon, ein Totengeist, begegnet dem Exorzisten, wird überwunden, aber nicht freigesetzt, sondern findet durch das Begräbnis Ruhe und Frieden. Menschen begegnen Dämonen nach antikem Verständnis in unterschiedlichen, bisweilen entgegengesetzten Kontexten, an denen etwas Befremdliches und Erklärungsbedürftiges geschieht. So verbindet antiker Volksglaube Dämonen mit Quellen und Wasserstellen, aber auch mit wüsten und / oder menschenleeren bzw. menschenfeindlichen Gebieten, in die man sie austreibt, um sich vor ihnen bzw. ihrer Rückkehr zu schützen. In jedem Fall scheint es notwendig, eine Rückkehr zu verbieten (z. B. Mk 9,25), in der zitierten Parallele durch Bestattung oder durch anderweitige Bindung (z. B. Tob 8,2 f.; zur Sache van der Horst 2007, 179), und Vernichtung (Mk 5,13) zu verhindern. Außerhalb menschlicher Behausung gelten sie als ruhelos und somit auch als Gefahr auf der Suche nach einer neuen Unterkunft. Kulturanthropologisch ist auf zwei problematische Aspekte der Vorstellung dämonischer Besessenheit hinzuweisen; einerseits wird dem Betroffenen eine (Mit-)Verantwortung zugemessen, was das Opfer zum Täter werden lässt, und andererseits wird im Volksglauben Besessenheit auch »als Konsequenz der Verderbnis bringenden Offenheit für alles Fremde interpretiert« (Ebner 2003, 128). Antike Dämonologie hat ihren Platz da, wo Angst und Klärungsbedarf vor dem Unerklärlichen, Unwirklichen, aber auch Fremden einschließlich feindlicher politischer Mächte (vgl. Mk 5,9.15) besteht. Sie schafft Orientierung mit bisweilen fatalen Folgen für die Betroffenen.

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Parabeln in der Logienquelle Q

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Haus: Der Begriff Haus umfasst ein weites semantisches Feld, das vom Bauwerk bis zu seinen Bewohnern und ihren Nachkommen reichen kann. Auch als Bauwerk ist es nicht eindeutig definiert, sondern steht für unterschiedliche Bauformen vom Palast bis zum einfachen Gebäude. So repräsentiert es auch unterschiedliche Sozialformen, die von der Familie solcher einfachen Behausung bis hin zu komplexeren, hierarchischen Strukturformen reichen können. Aus diesen Gefügen leitet sich eine Reihe metaphorischer Wortbedeutungen ab, wie z. B. das Haus als Herrschaftsraum. Das Haus als Sozialform repräsentiert dabei die untere Strukturstufe sozialer Gemeinschaft, die verschiedene Generationen umfassen kann. Haupt dieses Gebildes ist der Hausherr, in der Regel der pater familias (»Familienvater« als rechtliches Oberhaupt der Familie, dem das Haus in der Regel gehört). Q 11,24-26 informiert nicht über die Bauform des Menschen als Haus, aber es reicht, an einen einfachen Raum zu denken, den der Dämon als sein Eigentum (»mein Haus«: tn o kn mou [ton oikon mou]) betrachtet. Er beansprucht den Menschen, den er »bewohnt«, als sein Eigentum und, man darf ergänzen, auch im metaphorischen Sinne als seinen Herrschaftsraum. Der Mensch selbst wird durch den Dämon enteignet. Sieben: Die Siebenzahl ist auffällig und gehört in den Bereich der Zahlensymbolik. Sie repräsentiert eine Vollzahl, so dass wohl hinter Q 11,26 der Gedanke der vollständigen und endgültigen Übernahme des Menschen durch die Dämonen steht (Jeremias 11 1998, 196). Gerne wird auf eine Vorstellung von »sieben Geistern« als naher Parallele zu den sieben Begleitern des rückkehrenden Dämonen hingewiesen (Jacobson 1992, 171; Trunk 1994, 96), die ebenfalls den Bereich der Zwischenwesen anspielen, aber wie die sieben Geister bei Ezechiel oder in der Johannesapokalypse (Ez 9,1 f.; Apk 3,1; 4,5; 5,6 u. ö.) nicht sachnotwendig negativ konnotiert sind. Der von sieben Geistern behauste Mensch wäre für das Gottesreich in seiner Verweigerung gegen Jesu Anspruch (11,23) verloren. Auch wenn man die »Sieben« nur im Sinne einer »Übermacht« verstehen will (Luz 3 1999, 282), so ist der Sieg über diesen Menschen durch die Dämonen in der Erzählung vollzogen.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) An den Aspekt erfolgter Befreiung durch Jesus, den mit dem Finger Gottes befreienden Künder und Wirker des Gottesreiches (Q 11,19 f.), knüpft die Komposition in Q an. Beachtenswert ist, dass Q das Logion über die Rückkehr der unreinen Geister mit der Beelzebul-Kontroverse (Q 11,14-23; hierzu Labahn 2001) verknüpft und so eine inhaltlich und sprachlich differente, aber doch durch das Motiv von den bösen Geistern nicht fremde Tradition anfügt (die Bestreitung einer »engeren Sachbindung« durch G. Schneider 2 1984, 267, entspricht nicht der durch die Komposition erzeugten Textkohärenz in Q). Die Rückkehr der unreinen Geister hängt am Motiv des Exorzismus und ist durch Q 11,23 christologisch zu füllen (zum engen Anschluss von 11,24-26 an 11,23 Schröter 1997, 268; Hüneburg 2001, 196: die Parabel ist »nur im Zusammenhang mit V. 23 verständlich«). Mit dem Wirken Jesu ist das Reich Gottes befreiend präsent und macht Men130

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Füllt den Raum aus – es kommt sonst noch schlimmer! Q 11,24-26

schen – mit 11,14 real von Dämonen – frei zu diesem Reich. Dies gehört hinein in den Kampf gegen den Satan, in dem dessen Reich bereits als besiegt anzusehen ist (11,1518.21 f.). Mit 11,23 aber stellt das Dokument Q die Frage, auf welche Seite sich die Adressaten in dieser Auseinandersetzung stellen: Es gibt »keine Neutralität, sondern nur Für oder Wider« (Schröter 1997, 265; Tuckett 1996, 290; Hüneburg 2001, 196). Q 11,24-26 schärft ein, dass es nur eine Antwort geben kann. Für die, die sich auf die Seite Jesu gestellt haben, gibt es kein Zurück, sonst bereiten sie den Dämonen wieder eine Wohnung und laden sie ein, es schlimmer zu treiben (s. a. Klein 2006, 416; dagegen Kilgallen 1993). Eine Materie, die durch die Parabel angestoßen wird, ist die der Fremdbestimmung, in der auch die eigene Position und die eigene Meinung Thema ist. Der schlimmer wiederkommende Dämon und seine Kumpanen füllen in der Parabel ein sie einladendes Vakuum. Die Kontextualisierung der Parabel in Q fordert demgegenüber die Aufhebung einer solchen Leerstelle durch die Einnahme einer qualifizierten Position, die nach Q in der Anerkennung des im Text dargestellten befreienden Handelns Jesu liegt. Das Nachdenken über die fremdartige Parabel kann die Notwendigkeit, eine eigene religiöse wie auch weltanschauliche Position zu gewinnen und qualifiziert zu vertreten, ebenso thematisieren wie den in Q bewahrten Interpretationsansatz, dass Jesus als Werkzeug Gottes den Fremdbestimmten Befreiung verschaffen will; konkret sind in Q 11,1426 die Befreiten die von Dämonen Betroffenen.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Matthäus: Q 11,24-26 findet sich bei Matthäus zwar innerhalb des Kontextes der Beelzebul-Kontroverse (Mt 12,22-30), dennoch aber absichtsvoll umgestellt (z. B. Fleddermann 2005, 488; G. Schneider 2 1984, 267; für die Ursprünglichkeit der mt. Akoluthie: Jacobson 1992, 155). Die Parabel Mt 12,43-45 bildet nun den Abschluss der Zeichenforderung an Jesus, die dieser durch das Wort vom Jona-Zeichen (12,38-40) und mit der Gerichtsandrohung über »diese Generation« (12,41 f.), mit der die textinternen Adressaten angeredet werden, beantwortet. So wird ein Gerichtshorizont aufgespannt, in den sich die Parabel durch die Ergänzung von »so wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen« in Mt 12,45 (bei nur sehr geringen textlichen Abweichungen zwischen Matthäus und Lukas) explizit und mit matthäischer Sprache (Luz 3 1999, 273) einfügt. Die Wiederkehr des unreinen Geistes mit seinen sieben neuen und schlimmeren Begleitern wird als ein Gerichtsbild über die textinternen Gegner Jesu gedeutet. Die Parabel wird von der individuellen Anrede zu einer kollektiven Gerichtsansage transponiert. Über die teilweise verheerende Wirkungsgeschichte, die diese Gerichtsanrede einerseits gegen die so genannten Häretiker einsetzt und die anderseits in der unheilvollen Nutzbarmachung dieses Wortes durch den Antijudaismus besteht, informiert Ulrich Luz (3 1999, 283; vgl. auch die Hinweise bei Jülicher II 2 1910, 237). Lukas: In seiner Rezeption der Beelzebul-Kontroverse setzt Lukas wenig eigene Akzente und bleibt offensichtlich nahe an seinem Prätext. Die Kontextstellung von Lk 11,24-26 lässt jedoch eine lukanische Deutung erkennen, wie das durch den Exorzismus entstandene Vakuum in dem vom Dämon befreiten Menschen zu füllen ist. So stellt die Gebets131

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Parabeln in der Logienquelle Q

bitte um den heiligen Geist Lk 11,13 (vgl. den Zusammenhang Lk 11,9-13) eine positive Korrelation zum unreinen Geist dar. Bezieht man diese beiden Komponenten aufeinander (Ulonska 1995, 36), so vermeidet das Einziehen des heiligen Geistes die Rückkehr des unreinen Geistes und seiner Kumpanen. Die Konsequenzen der Überwindung des Vakuums zieht Lk 11,28b: »Besser, selig sind die, die das Wort Gottes hören und es befolgen«. Die Warnung der Parabel wird kultisch und ethisch aktualisiert, so dass die Befreiung zum Glauben lukanisch als Leben mit Gebet und in aktiver Befolgung des Gotteswortes begriffen wird. In seinem Lied Die kommen immer wieder von 1982 (veröffentlicht als Single und auf dem Album Eine Form von Gewalt) nennt der deutsche Dichter und wandlungsfähige Liedermacher Heinz Rudolf Kunze Gestalten der Weltgeschichte, die in verschiedenen Ereignissen wieder begegnen, und stellt im Refrain fest: »Die kommen immer wieder / die sind alle noch da / die kommen alle immer schlimmer wieder / die sind ganz ganz nah.« Hier ist nicht der Ort, dem Sinn dieser Passage aus dem frühen Werk Kunzes nachzuspüren, aber er macht eine grundlegende Plausibilität der Erwartung eines Schlimmer-Werdens deutlich und nachvollziehbar. Hierin begegnen sich antike und gegenwärtige volkstümliche Weisheiten an einer Kernstelle der Parabel, auch wenn die Geschichte von der Rückkehr des Dämons auf einer ganz anderen Wirklichkeitswahrnehmung und -beschreibung als die der Gegenwart basiert. Diese Fremdartigkeit gilt es festzuhalten, auch wenn in den Differenzen der Wirklichkeitswahrnehmungen die europäische kein globales Gültigkeitsrecht beanspruchen kann (über Afrika z. B. Nwaoru 2007). Die Engführung der Gerichtsadaption bei Matthäus (s. o.), auch wenn sie Gedanken aus Q nicht völlig unsachgemäß weiterentwickelt, wird man kritisch beleuchten müssen, da die Wirkungsgeschichte der Parabel der Diskreditierung von und nicht der Diskussion mit Andersdenkenden und Andersglaubenden Vorschub leistet. Dass in diesem Horizont auch moderne »Dämonologisierungen« – angesichts, mit und gegen die Parabel – eine kritische Aufarbeitung verdienen, kann ein willkommener Textimpuls sein. Auch kann die Auseinandersetzung um die Parabel gegen das Klagen über das immer Schlimmere zur Animation von Eigenverantwortung und zu Befreiungserfahrungen führen.

Michael Labahn Literatur zum Weiterlesen M. Ebner, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 2003, 126-129. D. Trunk, Der messianische Heiler. Eine redaktions- und religionsgeschichtliche Studie zu den Exorzismen im Matthäusevangelium, HBS 3, Freiburg u. a. 1994, 94-102.

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Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht (Die Lampe auf dem Leuchter / Vom Licht auf dem Leuchter) Q 11,33 (Mk 4,21 / Mt 5,15 / Lk 8,16; 11,33 / EvThom 33,2 f.) Niemand zündet eine Lampe an und stellt sie in ein Versteck, sondern auf den Leuchter und sie leuchtet allen im Haus.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Das Wort von der Lampe auf dem Leuchter steht in der Logienquelle Q und bildet – sofern der Reihenfolge bei Lukas gefolgt wird – den Auftakt zu einer Spruchgruppe (Q 11,33-35), in der die Thematik des Lichtes und des Leuchtens bestimmend ist. Der Spruch ist parataktisch formuliert und in Aussageform gefasst. Am Schluss findet sich eine ›finale Parataxe‹, die das Ergebnis formuliert. Im einleitenden Hauptsatz wird die erste Stellmöglichkeit für eine Lampe genannt und im darauf folgenden mit der adversativen Konjunktion ⁄ll€ (alla – sondern) eingeleiteten Satzteil wird die zweite, gegenteilige Stellmöglichkeit eingeführt. Nicht der Gegensatz von Anzünden und Auslöschen steht im Zentrum des Spruches (gegen Jeremias 1940, 240), sondern der zweckmäßige versus unzweckmäßige Stellort für eine brennende Lampe (G. Schneider 1970, 192). Diese Miniatur-Erzählung fordert eine bestimmte Verstehensperspektive, nämlich eine lebensweltlich-praktische, die an die ›Alltagslogik‹ (Ebner 1998, 71) der Angesprochenen appelliert, die wissen, wie eine Lampe zweckmäßig gebraucht wird. Deshalb können sie die unterschiedlichen Stellorte der Lampe qualitativ bewerten: Eine brennende Lampe gehört nicht in ein Versteck, sondern auf den Leuchter, so dass die erste Stellmöglichkeit negativ und die zweite hingegen positiv bewertet werden soll. Es ergibt sich eine Handlungsstruktur von negativ zu positiv. Dies wird noch unterstrichen durch die Einführung eines allgemeinen, exklusorischen Subjekts zu Beginn des Logions, zu dem ein allgemeines, inklusorisches Subjekt im mit »sondern« beginnenden Teil des Satzes zu ergänzen ist – nämlich »jede(r)«. Deshalb leistet der Spruch mehr, als im Sinne einer offenkundigen Alltagsgewissheit ein Ergebnis zu demonstrieren. Vielmehr werden die Rezipientinnen und Rezipienten in die Parabel involviert, indem sie sich zu der nicht explizit genannten, aber zu ergänzenden Gruppe derer zählen sollen, die eine Lampe auf den Leuchter stellen. Hier wird eine implizite Handlungsanweisung gegeben, die von der Anknüpfung an die Alltagsgewissheit lebt und dadurch einen bildlichen Deutehorizont für folgerichtiges, zukünftiges Handeln der Leserinnen und Leser entwirft. Die Behauptung, dass an ein fensterloses, palästinisches Ein-Zimmer-Haus gedacht sei (z. B. Jülicher II 2 1910, 80), weil die Lampe allen im Haus scheint, verkennt die narrative Inszenierung des Logions. Der finale Schlusssatz, nach dem alle etwas vom Licht haben, verstärkt vielmehr die Handlungsstruktur des Logions, die auf ein positives Ergebnis zuläuft. Die allen scheinende Lampe ist eine kontrapunktische positive Bestätigung gegenüber dem einleitenden Satzteil und fordert dazu auf, nach den Lichtquellen zu suchen, die die Qualität haben, »allen« zu leuchten.

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Parabeln in der Logienquelle Q

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Lampen werden vor allem hergestellt, um im täglichen Leben die praktische Funktion des Lichtmachens in der Dunkelheit zu erfüllen. Eine solche Lichtquelle ist auch die antike Öllampe (gr. lÐcno@ lychnos oder lamp€@ lampas), deren Gebräuchlichkeit von der Verfügbarkeit des Brennstoffes Öl abhing. Als Brennstoff der antiken Öllampe diente in erster Linie Olivenöl, welches im Mittelmeerbecken mit seinen zahlreichen Olivenöl produzierenden Regionen ausreichend zur Verfügung stand. Zwar waren in ärmlichen Haushalten nur wenige Lampen im Gebrauch, aber es handelt sich dennoch um einen alltäglichen, hauptsächlich aus Ton hergestellten Gebrauchsgegenstand. Da die Versorgung mit Licht ein Grundbedürfnis jeder menschlichen Behausung ist, wurden die Öllampen vorwiegend in den Innenräumen der Häuser genutzt (vgl. 2Kön 4,10) und als tragbares Mobiliar je nach Bedarf eingesetzt (vgl. z. B. die Rolle der Lampe in Lk 15,8). Das Licht der Lampe war optimal auszunutzen, denn das Verbrennen von Öl bedeutete immer auch das Verbrennen von Nahrung – und Öl gehörte nicht zu den billigsten Gütern der Antike (D. M. Bailey 1972, 11). Entsprechend sind brennende Lampen immer auch ein Zeichen für Gedeihen und Wohlstand (vgl. z. B. Hi 18,5 f.; Spr 13,9; 31,18; Jer 25,10). Neben diesem profanen Gebrauch fanden Lampen Verwendung als Grabbeigabe, außerdem – sowohl im antiken Judentum wie auch in der hellenistisch-römischen Welt – in kultischen Zusammenhängen (dazu Galling 1923; Hug 1927). Der einzige technische Fortschritt, der bei der antiken Öllampe erzielt worden ist, war die Überbrückung der offenen Schnauze und damit die Bildung eines Loches, durch das der Docht gezogen wurde. Der Docht bestand aus Flachs, Hanf, Binsen und Blättern des Wollkrautes oder der Papyrusstaude, wie von dem römischen Schriftsteller Plinius d. Ä. zu erfahren ist (Plin. nat. 19,17; 21,114; 25,121; 27,168).Während die ältesten Beispiele von Lampen (aus der frühen Bronzezeit) flache Tonschalen mit eingekniffener Schnauze zur Einlage des Dochtes waren, die noch von Hand getöpfert wurden, so waren die Lampen seit der frühhellenistischen Zeit (seit dem 3. Jh. v. Chr.) überwiegend aus Formen, aus so genannten Matrizen, hergestellt. Mit diesen aus der Form gewonnenen Lampen kamen auch neue Lampenformen mit einer geschlossenen, langen Schnauze auf, die ganz generell hellenistische Lampen genannt werden (Galling 1923, 14 f.). Etwa in der Regierungszeit des Kaisers Augustus vollzog sich ein Umbruch zur römischen Formlampe. Dieser neue Lampentyp unterschied sich von der hellenistischen Lampe besonders dadurch, dass nicht mehr die Schulter breit angelegt war, sondern die ganze Oberseite der Lampe flach oder leicht eingesengt war und damit für bildliche Darstellungen zur Verfügung stand. Um den Lichtschein zu vergrößern, wurden die Lampen gerne erhöht, indem sie auf einen Lampenständer oder Leuchter (gr. lucnffla lychnia) gestellt oder gehängt wurden. Dieser war vermutlich ein eiserner Halter mit hohem Fuß (Jeremias 1940, 239). Wenn man berücksichtigt, dass eine normale einflammige Öllampe etwa doppelt so viel Licht erzeugt wie eine heutige Haushaltskerze (Scheibler 1976, 143), so wird noch einmal die Sinnlosigkeit alternativer Stellorte für eine Lampe unterstrichen. Die Parabel zielt also auf die funktionale Aufgabe eines alltäglichen Gegenstandes, der seine Funktionalität nur erfüllen kann, wenn er zweckmäßig eingesetzt wird – alles andere ist widersinnig. An die Funktion des Lichtspendens kann das mit der Lampe aufgerufene Bildfeld positiv anknüpfen. 134

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Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht Q 11,33

Geschlossene Lampe der römischen Zeit mit Einguss- und Dochtloch (in: H. P. Rüger, Art. Lampe, BHH II [1964], 1045 f.)

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Im Alten Testament und in der Septuaginta wird Lampe häufig bildlich verwendet: Es ist ein Bild für Lebensdauer und -kraft (2Sam 21,17; Ps 18,29; Ps 132,17) sowie für eine Helfermacht und Kraftquelle (Hi 29,3; 2Sam 22,29). Das Erlöschen der Lampe bedeutet, dass es mit der Hoffnung auf eine glückliche Zukunft aus ist (Spr 20,20; 24,20; Hi 21,17). Häufig kommt die Lampe als Symbol auf den König und sein Geschlecht zur Anwendung: So ist es in 1Kön 15,4; 2Kön 8,19 sowie 2Chr 21,7 der Fortbestand des Königsgeschlechtes, der durch die Lampe symbolisiert wird (vgl. auch 1Kön 11,36; Ps 132,17). Die Lampe ist besonders ein Zeichen von Gottes Orientierung gebender Gegenwart (vgl. 2Sam 22,29; Hi 29,3; Ps 18,29). Diese Funktion übernimmt auch die Tora (vgl. Ps 119,105; Spr 6,23), die besonders in der zwischentestamentlichen Literatur als Lampe verstanden wird (vgl. 2Bar 18,1 f.; 38,1; 59,2). In 2Bar 17,4 wird das Werk des Mose dadurch gekennzeichnet, dass er »dem Samen Jakobs das Gesetz brachte und dem Geschlecht Israels eine Lampe anzündete«. Um das Licht der Lampe des Gesetzes zu erhalten, bedient sich Gott gewisser Personen, die dann wiederum selbst als Lampen bezeichnet werden (2Bar 77,13; 46,2). Immer ist bei diesen bildlichen Verwendungen an eine Lichtquelle zu denken, die dem Menschen zugute kommt (Aalen 1951, 63 ff.). Sie schafft Orientierung in der Dunkelheit und ermöglicht ein Zurechtfinden des Einzelnen und der Gemeinschaft. Im neutestamentlichen Kontext fällt die Zurückhaltung des bildlichen Gebrauchs der Lampe gegenüber dem Gebrauch von »Licht« auf. Lampe wird bildlich verwendet für Johannes den Täufer (Joh 5,35), für das Lamm (Apk 21,23) und für die in der Offenbarung genannten zwei Zeugen (Apk 11,4).

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Parabeln in der Logienquelle Q

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel von der Lampe auf dem Leuchter zielt in ihrer Argumentation darauf, die Angesprochenen als von der visuellen Wahrnehmung Beeinflusste darzustellen. Dabei ist das von einer Lampe gespendete Licht der wichtigste Orientierungspunkt, denn erst durch dieses wird ihre Umgebung wahrnehmbar. Es geht also nicht um eine Lampe als Leuchtinstrument, sondern um die zweckmäßige und optimale Nutzung dieses Alltagsgegenstandes, damit sie ihre Wirkung als Leuchtinstrument bestmöglich entfalten kann. Der Spruch ist auf Zustimmung angelegt und knüpft dafür an eine Alltagslogik an. Die Angesprochenen sind aufgefordert, sich dieser Alltagslogik entsprechend zu denen zu zählen, die eine Lampe auf den Leuchter stellen. Ansonsten würden nicht nur sie, sondern auch alle anderen im Haus im Dunkeln sitzen. Dieser auf zustimmende Eindeutigkeit angelegten narrativen Inszenierung steht eine Uneindeutigkeit auf der Ebene des Bezuges gegenüber. Wer oder was unter der Lampe verstanden werden soll, das lässt die Parabel offen. Hier sind die Angesprochenen gefragt, einerseits kreativ an den positiv besetzten bildlichen Gebrauch der Lampe anzuknüpfen, andererseits forciert die Parabel über den Weg der vorausgesetzten Zustimmung hinsichtlich des richtigen Ortes für eine brennende Lampe einen interpretatorischen Prozess, bei dem die Angesprochenen zu einem kontextualisierten Verständnis der Parabel gelangen sollen (Robbins 1994, 210). Ein Blick auf die Textparallelen zeigt, dass je verschiedene Bedeutungsaspekte hervorgehoben werden können. Dabei fällt auf, dass der Spruch häufig in Kontexten verwendet wird, deren Evidenz keineswegs so einleuchtend ist wie die Parabel von der Lampe auf dem Leuchter.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Mk 4,21: Kommt etwa die Lampe, damit sie unter den Scheffel oder unter das Bett gestellt werde? Nicht damit sie auf den Leuchter gestellt werde? Im markinischen Gleichniskapitel findet sich im Anschluss an die Auslegung der Sämannsparabel (Mk 4,14-20) eine Spruchgruppe (Mk 4,21-25; vgl. ebenso die Auslegung zu Mk 4,24 f.), deren Auftakt die Parabel von der Lampe auf dem Leuchter bildet und die in einer Frageform vorliegt, die als Verstärkung einer zustimmungspflichtigen Behauptung dient (Eckey 1998, 144). Die finale Formulierung (»damit«) hebt die Sichtbarkeit der Lampe hervor, die weder gegeben ist, wenn eine Lampe unter das in der römischen Antike wichtigste Getreidemaß, den Scheffel (= modius), gestellt wurde, welches ca. 8 ½ Liter fasste, noch wenn sie unter ein Bett gestellt wird. Der folgende V. 22 verallgemeinert den Sachverhalt der Sichtbarkeit (L. Schenke 2005, 131). Im Zusammenhang mit V. 11 f. soll das dort gegebene Geheimnis des Reiches Gottes nicht verborgen bleiben, sondern sichtbar gemacht werden. Während im Rahmen der Verstockungsaussage von V. 11 f. die nach innen gerichtete Kritik zum Ausdruck gebracht wurde, steht in V. 21 f. die nach innen gerichtete Aufgabe hinsichtlich des Sichtbarmachens des gegebenen Geheimnisses des Reiches Gottes im Vordergrund. Allerdings ohne zu erläutern, was unter diesem Geheimnis zu verstehen ist (van Iersel 1993, 126). Plausibel ist ein Bezug zur Evangeliumskommunikation (Mk 1,1), die aller Welt sichtbar gemacht werden muss (Mk 13,10) und 136

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Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht Q 11,33

so ihr Geheimnis des Reiches Gottes offenbart. Deshalb ist es von entscheidender Wichtigkeit, darauf zu achten, was man hört (Mk 4,24a diff Lk 8,18). Mt 5,15: Man zündet auch nicht eine Lampe an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, und sie leuchtet allen in dem Haus. Im Matthäusevangelium steht die Parabel im Kontext der Bergpredigt. Der sich in der letzten Seligpreisung (Mt 5,11) findende Wechsel von der 3. Pers. zur 2. Pers. bestimmt auch Mt 5,13-16 mit der pragmatischen Konsequenz, dass nun die Leserinnen und Leser – neben den Jüngern – die direkten Adressaten der Worte Jesu sind. An die emphatische Aussage »Ihr seid das Licht der Welt« (Mt 5,14a) schließt die Parabel von der Bergstadt (Mt 5,14b) und von der Lampe auf dem Leuchter (Mt 5,15) an. Beide Sprüche werden unter dem einheitlichen Gesichtspunkt der Unmöglichkeit des Verborgenbleibens rezipiert (Schröter 1997, 338) und dienen einerseits der Konkretisierung der Aussage von Mt 5,14a. Andererseits bereiten sie Mt 5,16 mit der dort gestellten imperativischen Aufforderung an die Angesprochenen, das Licht leuchten zu lassen vor den Menschen – also Licht für andere zu geben – vor. In dieser kontextuellen Verzahnung wird die Parabel in eine Dialektik zwischen Indikativ und Imperativ einbezogen, die den in der 2. Pers. Angesprochenen gilt (Stiewe/Vouga 2001, 38). Sie werden einerseits aufgefordert zu bleiben, was sie sind – nämlich ein sichtbares Licht, das allen leuchtet. Andererseits werden sie aufgefordert, die an sie gestellte Anforderung nicht zu unterschätzen: Ein Licht, das nicht leuchtet, ist wirkungslos. Da es nur wenige Verse zuvor in Mt 4,15 f. in einem Erfüllungszitat heißt, dass Jesu Aufgabe darin besteht, für das jüdische Kernland und für das ›Galiläa der Heiden‹ Licht zu sein, wird die Funktion der Angeredeten, welche durch die Parabel sinnbildlich unterstrichen wird, mit der Sendung Christi parallelisiert (Luz 5 2002, 300; Frankemölle 1994, 215). Lk 8,16: Aber niemand, der eine Lampe angezündet hat, verbirgt sie unter ein Gefäß oder stellt sie unter ein Bett, sondern stellt sie auf einen Leuchter, damit die Hereinkommenden das Licht sehen. In Lk 8,16 findet sich das Logion ebenfalls im Anschluss der Deutung der Sämannsparabel (Lk 8,11-15). Während es im markinischen Kontext um die Lampe an sich geht, steht hier die die Lampe handhabende Person im Vordergrund, deren Aktivität darin zum Ziel kommt, dass die Hereinkommenden das Lampenlicht sehen. Durch die nahtlose Aneinanderreihung der beiden Parabeln werden die Texte eng aneinander gebunden und Lk 8,16 ist zu verstehen als eine paränetische Weiterführung der in Lk 8,15 begegnenden Deutung des auf guten Boden gefallenen Samens auf diejenigen, die das gehörte Wort »festhalten und Frucht bringen in Geduld«. Das zweckmäßige Aufstellen einer Lampe mit dem Ziel der Sichtbarkeit ihres Lichtes bezieht sich auf das Hören des Wortes und das missionarische Wirken der Jünger (F. Hahn 1973, 122). Das Licht der Lampe ist das Wort Gottes, das nun sichtbar gemacht werden muss für die »Hereinkommenden«. Bei diesen handelt es sich um die mit der Jesus-Botschaft Sympathisierenden, die sich als neue Familie dadurch konstituieren, dass sie das Wort Gottes hören und tun (vgl. Lk 8,21). Die Parabel wird so zu einer dringlichen Verpflichtung, das Gehörte weiterzugeben (Radl 2003, 530).

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Parabeln in der Logienquelle Q

Lk 11,33: Niemand, der eine Lampe angezündet hat, stellt sie in ein Versteck, auch nicht unter einen Scheffel, sondern auf den Leuchter, damit die Hereinkommenden das Licht sehen. Lukas bringt die Parabel ein weiteres Mal, nun jedoch in der Fassung von Q. Nachdem zuvor Jesus Zeichenforderungen zurückgewiesen hat, folgt die Parabel, die über die Stichworte Lampe/Licht mit Lk 11,34-36 verknüpft ist und in diesem Kontext einen mahnenden Charakter erhält, weil der paränetische Aspekt des inneren Lichtes, das nicht zur Finsternis werden darf, im Mittelpunkt steht. Nach der Zurückweisung der Zeichenforderung erfolgt hier eine Mahnung an diejenigen, die schon zur Gemeinschaft gehören (Schröter 1997, 347). EvThom 33,2-3: (2) Denn niemand zündet eine Lampe an (und) stellt sie unter ein Trockenmaß noch in ein Versteck, (3) sondern stellt sie auf den Leuchter, damit jeder, der hineinkommt und der hinausgeht, ihr Licht sieht. Ähnlich wie im matthäischen Kontext finden sich auch im Thomasevangelium die Worte von der Stadt auf dem Berg und der Lampe auf dem Leuchter hintereinander, allerdings steht zwischen beiden ein Aufruf, das Gehörte zu verkündigen. Dadurch ist die Parabel als Aufforderung zu verstehen, die Worte Jesu weiterzugeben, sie als Licht zu verbreiten. Diese Weitergabe ist aber nach der Konzeption des Thomasevangeliums nicht bei jedermann erfolgreich, sondern nur bei den Personen, die Zugang zur Bedeutung der Worte haben (EvThom 1). Es ist deshalb bei der Verkündigung keine geheime ›Flüsterpropaganda‹ vorauszusetzen (gegen G. Schneider 1970, 207), sondern – wie die spezifische Wendung vom Hinein- und Hinausgehen anzeigt – das Verkündigungsgeschehen erreicht einen Kreis von privilegierten »Erwählten« (EvThom 49), denen es vorbehalten ist, aus dem Licht zu kommen und auch dorthin wieder zurückzukehren (vgl. EvThom 50). Während in der Alten Kirche Leuchter und Lampe als Begriffe für verschiedene theologische Aussagen (christologisch, sakramental, moralisch oder ekklesiologisch) gedeutet wurden, fällt mit Blick auf die weitere Kirchengeschichte eine Vereinseitigung bei der Deutung auf. In den Mittelpunkt rückt das von der Lampe gespendete Licht, welches mit der Verkündigung gleichgesetzt wird. Besonders auf protestantischem Boden hat diese Auslegung eine deutliche Ausprägung gefunden (Luz 5 2002, 302 f.). Insofern wäre es ein Gewinn, die Vieldeutigkeit des Bildes wieder sichtbar zu machen, die der vieldeutigen Kontextualität der Parabel entsprechen würde.

Kristina Dronsch Literatur zum Weiterlesen L. Howes, »Placed in a hidden place«. Illuminating the Displacement of Q 11:33, 34-35, Neotest. 47 (2013), 303-332. A. Hug, Art. Lucerna, PRE XIII.2 (1927), 1566-1613. H. P. Rüger (1964), Art. Lampe, BHH II (1964), 1045-1047. G. Schneider, Das Bildwort von der Lampe. Zur Traditionsgeschichte eines Jesus-Wortes, ZNW 61 (1970), 183-209.

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Das Auge als Lampe des Körpers (Vom Auge als des Leibes Licht) Q 11,34 f. (Mt 6,22 f. / Lk 11,34-36 / EvThom 24) (34) Die Lampe des Leibes ist das Auge. Wenn dein Auge klar ist, ist dein ganzer Leib licht; wenn aber dein Auge schlecht ist, ist dein ganzer Leib finster. (35) Wenn also das Licht in dir Finsternis ist, wie groß ist die Finsternis!

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Q 11,34 f. ist ein Teilaspekt der Spruchsammlung Q 11,14-52, in der innerhalb der Logienquelle der Konflikt zwischen Jesus und seinen jüdischen Zeitgenossen besondere Aufmerksamkeit erfährt (zu Versuchen einer Rekonstruktion des Aufbaus der Logienquelle vgl. C. Heil 2003, 14 f.). Dabei nimmt Q 11,34 f. unmittelbar Q 11,33 auf, wo ebenfalls die Metaphorik einer Lampe bzw. eines Leuchters verwendet wurde. Während Q 11,33 dazu diente, die Notwendigkeit einer freimütigen Verkündigung der Botschaft Jesu hervorzuheben, verfolgt Q 11,34 f. eine anthropologische Aussageintention. Das menschliche Auge wird als Lampe des Körpers bezeichnet. Die Intention dieser These besteht in der Aussage, dass es von der Beschaffenheit des menschlichen Sehorgans abhängt, ob der Mensch von Licht erfüllt ist oder nicht. Es entspricht der ganzheitlichen alttestamentlich-frühjüdischen Anthropologie, dass nicht etwa von einem inneren Menschen gesprochen wird, der mit der seelisch-geistigen Dimension menschlicher Existenz gleichgesetzt wird. Stattdessen wird durch das Auge der Körper wie von einer Lampe mit Licht erfüllt. Entsprechend ist Q 11,35 zufolge der Körper mit Finsternis erfüllt, wenn das Auge seiner Aufgabe nicht gerecht werden kann. Was die Kriterien dafür sind, dass ein Auge als ›klar‹ bzw. ›schlecht‹ zu bezeichnen ist, wird nicht benannt. Das Logion mündet in eine Aussage, welche auf den ersten Blick wie eine contradictio in adiecto wirkt. Dass das Licht im Inneren eines Menschen Finsternis sein könnte, erscheint widersprüchlich. Die Aussage setzt offensichtlich die Vorstellung voraus, dass der Mensch ein lumen internum in sich trägt, das durch Finsternis verdeckt werden kann bzw. sich schrittweise in Finsternis verwandelt. Dieses Bild wird in Q 11,34 f. dazu verwendet, einen ethischen Appell zu formulieren. Die Argumentation des Logions setzt voraus, dass der Begriff des guten Auges als eine »eingeschliffene Metapher« (so Harnisch 4 2001, 194) für eine angemessene ethische Lebenshaltung verstanden werden kann, während die Motive der Erfüllung eines Menschen mit Licht bzw. Finsternis für die daraus resultierende moralische Integrität bzw. Untugend stehen (vgl. Luz 5 2002, 465 f.).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Der für heutige Leser auf den ersten Blick befremdliche Vergleich eines menschlichen Auges mit einer Lampe war für Menschen zur Zeit Jesu durchaus nachvollziehbar. Die traditionsgeschichtlichen Hintergründe desselben lassen sich bereits in vorsokratischen 139

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Parabeln in der Logienquelle Q

Konzepten erkennen (vgl. H. D. Betz 1979, 43-56; Bovon 1996, 210-212; Luz 5 2002, 465 f.). So begegnen z. B. in pythagoreischen und stoischen Traditionsbildungen Vorstellungen einer so genannten Extramission, denen zufolge von einem Auge Lichtstrahlen ausgehen, welche es dem Menschen ermöglichen, seine Umwelt wahrzunehmen. Ein besonders eindrückliches Bild für diese Vorstellung prägte der an die milesische Naturphilosophie anschließende Vorsokratiker Empedokles. In einem naturphilosophischen Gedicht vergleicht er das Auge mit einer Laterne, welche ein Mensch bei sich trägt, der sich in eine stürmische Winternacht hinauswagt. Diese Laterne sei wie eine von Haut umgebene ewige Lichtquelle, welche es dem Menschen ermöglicht, sich in dieser Welt zurechtzufinden (vgl. Emp. nat. Frag. 84 [Diels 8 1956, I 342,4-9]). Entsprechend referiert auch noch Aristoteles, dass viele seiner Zeitgenossen die Ansicht vertreten, dass das Auge eine eigene Lichtquelle enthält (Arist. sens. 437a 22-26). Andererseits gab es Vorstellungen einer Intramission, wonach das Auge eine Vermittlungsinstanz ist, welche die von außen an den Menschen herantretenden Lichtpartikel in den Körper überleitet und so dessen Illumination gewährleistet. In der platonischen Anthropologie wurden diese Konzepte miteinander vermittelt und zu einer Theorie des Sehens ausgestaltet. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in dem für die platonische Ideenlehre bzw. Erkenntnistheorie grundlegenden Höhlengleichnis (Plato polit. VI, 514 a-517 a) und dem Sonnengleichnis (Plato polit. VI, 508 a-509 d). Einerseits ist für die menschliche Erkenntnisfähigkeit eine externe Lichtquelle notwendig, die es ermöglicht, die Urbilder bzw. Ideen dessen zu erkennen, was der Mensch in seiner vorfindlichen Existenz nur schattenhaft wahrnehmen kann. So wie es die Sonne dem Auge ermöglicht, Dinge in ihrer Vielfarbigkeit wahrzunehmen, so kann nur durch die Idee des Guten die menschliche Seele zu wahrer Erkenntnis gelangen. Andererseits kann Plato aber auch das menschliche Auge selbst mit der Sonne vergleichen, die in sich selbst die Macht zur Illumination trägt. Diese griechisch-philosophischen Traditionshintergründe könnten den Eindruck vermitteln, dass es sich bei Q 11,34 f. um ein Logion handelt, welches nicht zur palästinisch-jüdischen Prägung der Botschaft Jesu passt und das deshalb erst im Nachhinein den Jesustraditionen hinzugewachsen ist (so H. D. Betz 1979, 55 f.). Eine solche Einschätzung wird aber nicht dem Phänomen gerecht, dass sich sowohl zur Vorstellung einer Intramission als auch einer Extramission in alttestamentlich-frühjüdischen und frühchristlichen Traditionsbildungen Affinitäten beobachten lassen (so Allison 1987, 81, der es aus diesem Grunde durchaus für möglich hält, dass Q 11,34 f. im Kern auf Jesus zurückgeht). Inwieweit diese Motivhintergründe für die Interpretation von Q 11,34 f. aufschlussreich sind, soll im Folgenden erläutert werden.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Eine Vielzahl alttestamentlich-frühjüdischer Aussagen über das menschliche Auge setzen die zuvor angesprochenen Vorstellungen voraus bzw. sind ohne diese Hintergründe nicht zu verstehen (zu einer Skizze entsprechender Bezüge vgl. Allison 1987, 66-71; zu den Hintergründen der Kontrastierungen von Licht und Finsternis vgl. Schwankl 1995, 5073). So kann z. B. in Bezug auf einen Menschen gesagt werden, dass er durch das Leiden an einer Krankheit das Licht seiner Augen verlieren kann (Ps 38,11). Im Kontrast zu dieser Klage wird in Spr 15,30 im positiven Sinne festgestellt, dass schöne bzw. strahlende 140

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Das Auge als Lampe des Körpers Q 11,34 f.

Augen ihren Betrachter entzücken. Neben diesen für die zeitgenössische Anthropologie aufschlussreichen Aussagen sich entsprechende Motivbezüge auch in apokalyptischen Visionsschilderungen erkennen. Ein markantes Beispiel aus dem Bereich der frühen Entwicklungsgeschichte apokalyptischer Vorstellungen lässt sich in den so genannten Nachtgesichten des Sacharja finden (Sach 1,7-6,8). An einer durch die Komposition dieses Textes eigens hervorgehobenen Stelle wird von einer Theophanie erzählt, welche dem Propheten zuteil wird – und die Augen Gottes werden dabei mit Leuchten verglichen, die jede Sünde im heiligen Land erkennen können (so Sach 4,10b in Bezug auf Sach 3,9; 4,2). Dieses Motiv entspricht der wesentlich jüngeren Tradition Dan 10,6, derzufolge Daniel in einer Vision einem Himmelsboten begegnet, dessen menschenähnliche Gestalt Augen hat, die lodernden Fackeln gleichen. Entsprechend kann auch die in den außerkanonischen Henoch-Traditionen belegte Vorstellung, dass die Augen des Abraham bei seiner Geburt seine Geburtsstätte erleuchteten, nur vor dem Hintergrund der skizzierten anthropologischen Konzepte angemessen verstanden werden (1Hen 106,2). Deutliche Bezüge zu den angesprochenen platonischen Konzepten bzw. deren mittelplatonischen Reformulierungen lassen sich auch bei einem hellenistisch-jüdischen Denker wie dem Religionsphilosophen Philo von Alexandrien erkennen, demzufolge die Augen eine Lichtkraft besitzen, welche dem Menschen die Wahrnehmung seiner Umgebung ermöglicht (Philo Abr. 150156). Vor dem Hintergrund dieser Traditionen wird auch verständlich, warum der johanneische Jesus in der Einleitung der Lazarusperikope seine textinternen Gesprächspartner mit der These konfrontieren kann, dass ein Mensch in der Finsternis nicht seinen Weg findet, wenn kein Licht in ihm (sic.: dem Menschen) ist (Joh 11,10b t f@ o'k ˛stin ¥n a't† to pho¯s ouk estin en auto¯). Interessanterweise wird diese Wendung in verschiedenen Übersetzungstraditionen dahingehend geändert, dass nicht mehr von dem Licht in einem Menschen, sondern von dem Mangel an Licht in der Nacht die Rede ist (t f@ o'k ˛stin ¥n a't–» to pho¯s ouk estin en aute¯ – »… denn es ist kein Licht in ihr«; [so die Alternativlesarten D* aur samss ac2 ]). Diese Variante könnte darauf zurückgeführt werden, dass die Übersetzer dieses Textes das Joh 11,10 zugrunde liegende Menschenbild nicht mehr verstanden. Wenn man von den Evangelientraditionen Mt 6,22 f.; Lk 11,34-36 absieht, so finden sich die deutlichsten neutestamentlichen Parallelen zu Q 11,34 f. in Röm 1,21 und Eph 1,18. Während Paulus konstatiert, dass ein ethisch verwerfliches Leben dazu führt, dass Menschen ein verfinstertes und unverständiges Herz bekommen, wünscht der Verfasser des Epheserbriefs seinen Adressaten, dass Gott ihnen erleuchtete Augen des Herzens schenkt, damit sie zur vollen Erkenntnis des ihnen zuteil gewordenen eschatologischen Heils gelangen können. Das zuletzt genannte Motiv lässt bereits die ethisch-paränetischen Aussageintentionen erkennen, die mit diesen Bildfeldtraditionen in den entsprechenden synoptischen Texttraditionen verbunden wurden (s. u.)

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Q 11,34 f. knüpft an zeitgenössische anthropologische Vorstellungen an, die das Auge als eine Lichtquelle verstehen, welche es dem Menschen ermöglicht, sich in der Welt zu bewegen, bzw. welche das von außen kommende Licht dem inneren Menschen vermittelt. Diese traditionsgeschichtlichen Hintergründe werden in der Logienquelle (bzw. in den Reformulierungen von Q 11,34 f. in Mt 6,22 f.; Lk 11,34-36; s. u.) aufgenommen und 141

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Parabeln in der Logienquelle Q

einer ethisch-paränetischen Aussageintention dienstbar gemacht. Das Auge wird zum Bild für die ethische Grundhaltung eines Menschen. Ein gutes Auge ermöglicht es, dass ein Mensch eine lichterfüllte, dem göttlichen Willen angemessene Existenz führt. Kann das Auge kein Licht aufnehmen, so wird die menschliche Existenz von Finsternis, also einer ethisch-defizitären Lebenshaltung beherrscht.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte In den frühchristlichen Evangelientraditionen gibt es drei Texte, in denen Q 11,34 f. aufgenommen und mit jeweils eigenständigen Akzentsetzungen modifiziert wird. Die Variante, in welcher die ursprüngliche Fassung dieser Tradition am wenigsten verändert wurde, findet sich in Mt 6,22 f.: Mt 6,22 f.: (22) Die Lampe des Leibes ist das Auge. Wenn dein Auge aufrichtig ist, so wird dein ganzer Leib voll Licht sein. (23) Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib voll Finsternis sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein! Der Verfasser des Matthäusevangeliums verändert den textlichen Grundbestand von Q 11,34 f. kaum. Er verändert allerdings dessen literarische Einbettung und setzt so eigene interpretatorische Akzente. Das in der Logienquelle unmittelbar vor Q 11,34 f. angeordnete Bildwort über die Lampe auf dem Leuchter begegnet im Matthäusevangelium bereits in Mt 5,15 und ist dort mit den Aussagen über die Jünger als Licht der Welt verschränkt. Stattdessen verbindet der Verfasser des Matthäusevangeliums Q 11,34 f. mit der ebenfalls in der Logienquelle tradierten Aussage über eine angemessene und unangemessene Sorge um materielle Sicherheit (vgl. Mt 6,19-21 und Q 12,33 f.). Auf diese Weise hebt er die ethische Aussageintention von Q 11,34 f. hervor, durch welche die Hörer bzw. Leser ja indirekt dazu aufgerufen wurden, durch eine angemessene Lebenshaltung dafür zu sorgen, dass sie durch ihre Augen Licht und nicht Finsternis in den Körper gelangen lassen. Der mit frühjüdischen Bildfeldtraditionen gut vertraute Verfasser des Matthäusevangeliums setzt dabei offensichtlich voraus, dass seine Adressaten mit dem Begriff eines aufrichtigen Auges (¡ ¤fqalm@ … plo‰@ ho ophthalmos … haplous) »Integrität, Ganzheitlichkeit, Ehrlichkeit und Gradlinigkeit im Gehorsam gegenüber Gott« assoziieren können, die sich gerade im Umgang mit materiellem Besitz erweisen müssen (so treffend Luz 5 2002, 466 f. in Rekurs auf Traditionen wie TestIss 3,4; 4,6; TestBen 6,4-7, wo diese Begrifflichkeit zu einem terminus technicus für eine tugendhafte Aufrichtigkeit werden konnte). Ob jedoch Mt 6,22 f. darüber hinaus zugleich eine kritische Abgrenzung gegenüber entsprechenden griechisch-philosophischen Konzepten impliziert (so H. D. Betz 1979, 54-56), bleibt ungewiss. Die lukanische Modifikation von Q 11,34 f. steht der ursprünglichen Textfassung insofern näher als Mt 6,22 f., als dass die Zuordnung der Textpassagen Q 11,33 und Q 11,34 f. beibehalten wird (vgl. hierzu C. Heil 2003, 111 f.). Lukas versteht Q 11,34 f. somit ebenfalls als Fortführung bzw. als Kommentar zum Bild der Lampe auf dem Leuchter. Während die Worte Jesu Mt 6,22 f. zufolge unmittelbar an die Jünger gerichtet sind, spricht Jesus in Lk 11,34-36 ebenso wie in der Logienquelle mit Außenstehenden (aus diesem Grund vermutet Jeremias 11 1998, 162 f., dass Lk 11,34-36 eine subtile Kritik an einer nur vordergründig an Jesus interessierten Menge impliziert). Allerdings verändert 142

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Das Auge als Lampe des Körpers Q 11,34 f.

der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks im Gegensatz zu Mt 6,22 f. relativ deutlich die Textgestalt von Q 11,34 f.: Lk 11,34-36: (34) Die Lampe des Leibes ist dein Auge. Wenn nun dein Auge lauter ist, so ist dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. (35) So schaue darauf, dass nicht das Licht in dir Finsternis sei. (36) Wenn nun dein Leib ganz licht ist und kein Teil an ihm finster ist, dann wird er ganz licht sein, wie wenn dich das Licht erleuchtet mit hellem Schein. Ein erster augenfälliger Unterschied gegenüber Q 11,34 f. und Mt 6,22 f. besteht darin, dass Lk 11,34-36 durchweg als persönliche Anrede gestaltet ist. Bereits in der ersten Teilaussage ist von ›deinem Auge‹ die Rede und in den folgenden Appellen werden jeweils die textinternen Gesprächspartner Jesu bzw. die textexternen Zuhörer und Leser direkt angesprochen. Ferner fällt auf, dass der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks die Aussage primär als Ermutigung gestaltet. Auch wenn er davor warnt, dass ein ›böses Auge‹ zur ›Verfinsterung‹ der Existenz führen kann, so beschreibt Lukas wesentlich ausführlicher die Folgen einer angemessenen ethischen Lebenshaltung. Der letzte Teilvers, der gegenüber Q 11,34 f. eine Erweiterung darstellt, stellt dem Leser in Aussicht, dass seine Existenz in ein gänzlich positives Licht gestellt wird, wenn er sich darum bemüht, seine Umwelt mit aufrichtigen Augen wahrzunehmen bzw. sich seinen Mitmenschen gegenüber dem Willen Gottes gemäß zu verhalten. Die deutlichste Modifikation erfährt Q 11,34 f. in EvThom 24, wo sowohl die textliche Einbettung als auch der Textbestand selbst verändert werden. EvThom 24: (1) Seine Jünger sprachen: »Zeige uns den Ort, an dem du bist, denn es ist notwendig für uns, dass wir nach ihm suchen«. (2) Er sprach zu ihnen: »Wer Ohren hat, soll hören! (3) Es existiert Licht im Inneren eines Lichtmenschen und er erleuchtet die ganze Welt. Wenn er nicht leuchtet, ist Finsternis.« Im Gegensatz zu den zuvor skizzierten Varianten dieser Tradition wird EvThom 24 durch eine Frage der Jünger eingeleitet, die erfahren wollen, wo sie Jesus nach seinem Weggang finden können. Die Antwort impliziert die Vorstellung, dass Jesus als das omnipräsente Licht überall und damit auch im Inneren eines Menschen zu finden ist. Dieser Text kann nicht mehr als eine frühe Fassung von Q 11,34 f. verstanden werden, da er bereits deutliche Züge einer gnostischen Modifikation neutestamentlicher Evangelientraditionen aufweist (ausführlich hierzu vgl. die Kommentierung zu EvThom 24 in diesem Kompendium).

Enno Edzard Popkes Literatur zum Weiterlesen D. C. Allison, The Eye is the Lamp of the Body (Mt 6,22-23 = Lk 11,34-36), NTS 33 (1987), 6183. H. D. Betz, Matthew vi,22 f. and the Ancient Greek Theories of Vision, in: E. Best/R. McL. Wilson (Hg.), Text und Interpretation (FS M. Black), Cambridge 1979, 43-56. T. Zöckler, Light within the Human Person: A Comparison of Matthew 6:22-23 and the Gospel of Thomas 24, JBL 120 (2001), 487-499.

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Vertrauen in die Sorge Gottes (Sorgt euch nicht) Q 12,24.26-28 (Mt 6,26.28-30 / Lk 12,24.26-28 / EvThom 36,1-4 [P.Oxy. 655] / Agr 124) (24) Beobachtet die Raben: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und Gott ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als die Vögel? (26) Und was sorgt ihr euch um Kleidung? (27) Lernt von den Lilien, wie sie wachsen: Sie mühen sich nicht ab und sie spinnen nicht. Ich sage euch aber: Auch nicht Salomo in all seiner Pracht war angezogen wie eine von diesen. (28) Wenn aber Gott das Gras auf dem Feld, das heute dasteht und morgen in den Ofen geworfen wird, so anzieht – um wie viel mehr nicht euch, ihr Kleingläubigen?

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Das Doppelbildwort von den Raben und Lilien (Jeremias 11 1998, 89; Steinhauser 1981, 215-235) in Q 12,24.26-28 gehört zum ältesten Bestand und argumentativen Kern der größeren Spruchkomposition Q 6,22b-31 (Mt 6,25-33 / Lk 12,22b-31). In V. 22b (»daher sage ich euch«) knüpft der Q-Redaktor an die Empfehlung in Q 12,33 f. (Mt 6,19-21 / Lk 12,33 f.) an, Vorräte im Himmel zu sammeln. V. 22c.d geben dann das Thema an: Sorgt euch nicht um Nahrung (»euer Leben«) und Kleidung (»euren Leib«)! »Sorgen« meint dabei weniger »sich sorgende Gedanken machen« als »sich abmühen« (vgl. V. 27; Jeremias 11 1998, 212). »Es wird nicht einfach davor gewarnt, sich das ohnehin schon schwere Leben durch Angst und Unruhe noch schwerer zu machen. Sondern es wird dem üblichen Verhalten von Menschen, die sich aktiv um ihr Existenzminimum bemühen und sich ihres Erfolges dabei ständig unsicher sind, vorgehalten, wie verläßlich sich Gott um seine Geschöpfe kümmert« (Schmeller 1999, 86). In V. 23 folgt eine rhetorische Frage, die in weisheitlicher Tradition zur Mäßigung mahnt und den höheren Wert von Leben und Leib gegenüber Nahrung und Kleidung herausstellt. Gegenüber V. 22 werden damit jedoch ganz neue Gegensätze eingeführt, wodurch sich die »anthropologische Reflexion« (Ebner 1998, 258) in V. 23 als sekundärer Kommentar erweist. In den V. 24 und 27 f. wird V. 22c.d in einer folgerichtigen Argumentationsperspektive aufgenommen, wenn am Beispiel der Raben und Lilien Gottes alles menschliche Sorgen umgreifende Fürsorge demonstriert wird. Im Schlussverfahren vom Geringeren auf das Bedeutendere (a minore ad maius) wird solche göttliche Fürsorge gerade auch für die Menschen reklamiert (Hoffmann 1995, 91). Die beiden Beispiele von der Nahrung in V. 24 und der Kleidung in den V. 27 f. sind in ihrer Struktur parallel angelegt; allerdings ist das zweite breiter ausgeführt und erhält so ein größeres Gewicht (Hoffmann 1995, 91 f.). V. 24 besteht aus vier Teilen: (a) Zunächst fordert ein Imperativ in der zweiten Person positiv dazu auf, die Raben zu beobachten. (b) Dann wird knapp die allgemeine 144

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Vertrauen in die Sorge Gottes Q 12,24.26-28

Beobachtung darüber mitgeteilt, was sie nicht tun: säen, ernten und in Scheunen sammeln – drei landwirtschaftliche Grundtätigkeiten. (c) Das Nichttun der Raben wird daraufhin mit dem Tun Gottes kontrastiert: Er ernährt sie. (d) Abschließend werden die Adressaten mit einer rhetorischen Frage zum Schluss vom Leichten auf das Schwere aufgefordert: Gilt das nicht erst recht für euch? V. 25 (»Wer von euch vermag mit seiner Sorge seiner Lebenszeit eine Spanne hinzuzufügen?«) ist ein ursprünglich selbstständiges Wort, das erst sekundär aufgrund des Stichworts »sorgen« in unseren Kontext eingeschaltet worden ist (u. a. Bultmann 10 1995, 84; Gnilka 1990, 182, Anm. 20; Jeremias 11 1998, 171). Ähnlich wie in V. 23 wird nämlich gut weisheitlich herausgestellt, dass der Mensch trotz aller Anstrengungen über die Grundkonditionen seiner Existenz nicht verfügen kann (Hoffmann 1995, 91). Dieser Pessimismus passt nicht recht zur optimistischen Sichtweise des Kontextes (Schmeller 1999, 85, Anm. 3). Außerdem warnen die V. 23 und 25 nur vor einer ängstlichen Überschätzung der Sorge, nicht vor aktiver Vorsorge an sich; diese sekundären Ergänzungen öffnen die Sorgensprüche auch für ortsfeste Christen, die um eine gewisse Vorsorge nicht herumkamen (Schmeller 1999, 87). Die rhetorische Frage in V. 26 ist traditionsgeschichtlich ebenfalls eine sekundäre Erweiterung, die die ursprünglichen Bildworte strukturieren wollte. Nach der den Zusammenhang unterbrechenden Frage in V. 25 lenkt V. 26 ausdrücklich auf die Sorge um die Kleidung zurück und bereitet so V. 27 vor (Bultmann 10 1995, 84; Hoffmann 1995, 91). V. 27 beginnt mit der positiven Aufforderung, von den Lilien zu lernen (vgl. V. 24a). Darauf folgen wie in V. 24 drei allgemeine Lernerfahrungen, allerdings zunächst eine positive (»wie sie wachsen«), dann zwei negative (»sie mühen sich nicht ab und sie spinnen nicht«). Wie in V. 24 besteht auch hier kein Interesse an einer präzisen biologischen Bestandsaufnahme; die pragmatische Aussageabsicht dirigiert ganz das Bild (Rondez 2006, 102 mit Anm. 505). Mit einer Redeeinleitung in der ersten Person (»ich sage euch aber«) erscheint Jesus als Sprecher, der einen deutlichen Gegensatz zwischen der Kleidung der Lilien und derjenigen Salomos feststellt – wobei Salomo schlechter abschneidet als jede Lilie. Gegenüber V. 24 kommt in V. 27 neben der praktischen eine ästhetische Dimension neu ins Spiel: Es geht nicht mehr nur um Ernährung und Kleidung an sich, sondern auch um die Pracht bzw. Herrlichkeit der Kleidung (Rondez 2006, 103). In V. 28a wird wie in V. 24 das kontrastierende Handeln Gottes beschrieben: Er zieht das vergängliche Gras – gemeint ist nicht kultiviertes Grünzeug, das zumeist der Futterversorgung von Tieren diente und hier als »Ofenfutter« fungiert (Rondez 2006, 103, Anm. 510) – so überaus prachtvoll an. Unversehens kommt Vergänglichkeit in den Blick, wo eben noch allein überragende Schönheit das Thema war (Rondez 2006, 104). Darauf folgt schließlich wie in V. 24 der Schluss vom Leichteren auf das Schwerere: »um wie viel mehr nicht euch, ihr Kleingläubigen?« Wie in V. 24 wird außerdem von einem konkreteren zu einem allgemeineren Begriff übergegangen: Raben ! Vögel (V. 24), Lilien ! Gras (V. 27 f.). Die V. 29-31 sind gegenüber Q 12,24.26-28 keine komplett sekundäre Einheit (gegen Allison 1997, 24; Bultmann 10 1995, 92; Kloppenborg 1987a, 218). V. 29 nimmt V. 22b.c resümierend wieder auf und fasst zusammen, ebenso gehört V. 30b.c (»euer Vater weiß, dass ihr das alles braucht«) wahrscheinlich zum auf Jesus zurückgehenden 145

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Parabeln in der Logienquelle Q

Grundbestand (Hoffmann 1995, 106). Sekundäre Teile sind die im Kontext überraschende und eher störende negative Profilierung gegenüber den »Heidenvölkern« in V. 30a und die ebenfalls im Kontext überraschende und wie ein Nachtrag wirkende Empfehlung der Suche der Königsherrschaft Gottes, in der es Nahrung und Kleidung als »Zugaben« geben werde (V. 31). Q 6,24.26-28 ist weisheitlich gestimmt (vgl. Ps 104,10 ff.; Sir 30,14-31,11; PsSal 5,10). Jesus erscheint als ein Weisheitslehrer, »einen heiteren, in der Geborgenheit Gottes sich sicher fühlenden Menschen« (Gnilka 1990, 183). Das Doppelbildwort gehört näherhin zur Gattung der weisheitlichen Mahnsprüche (Zeller 3 1993, 79): Ein Imperativ (V. 24a.27a) wird durch drängende und stimulierende rhetorische Fragen (V. 24c.26.28) oder Aussagen (V. 24b.27b.c) unter Hinweis auf allgemein zugängliche Naturerfahrungen begründet. Ferner wird der auch bei Jesus beliebte Argumentationsschluss vom Geringeren zum Größeren (von den Vögeln und Lilien zu den Jüngern) verwendet (V. 24c. 28; vgl. Q 12,6 f.). Auch inhaltlich fügt sich der Text ohne Schwierigkeiten in die Predigt Jesu ein, insofern Besitzlosigkeit und absolutes Vertrauen auf Gottes Fürsorge thematisiert werden (Gnilka 1990, 182 f.). Der Text war wohl ursprünglich Teil einer rhetorisch wohlgeformten Jüngerbelehrung. Genau die Tätigkeiten werden verneint, die in der radikalen Nachfolge Jesu aufgegeben werden sollen. Jeremias (11 1998, 212) vermutet daher den ursprünglichen Kontext der Bildworte in der Aussendungsrede Jesu (Mk 6,8 par. Q 10,4). Die parallele Struktur stellt Nahrung und Kleidung, Säen/Ernten und Arbeiten/ Spinnen sowie die Arbeit des Mannes und die Arbeit der Frau (Hearon/Wire 2002; Melzer-Keller 1997, 335) gegenüber. Dazu passt, dass die Vögel im Aramäischen männlich, die Lilien weiblich sind (Jeremias 11 1998, 212, Anm. 5). Hier wie in einer ganzen Reihe anderer Doppelgleichnisse (Q 11,11 f.; 13,18-21; 15,4 f.7/Lk 15,8-10; Q 17,34 f.) wird Nachfolge sowohl von Männern wie von Frauen illustriert, so dass indirekt Männer und Frauen in der radikalen, engeren Nachfolge Jesu belegt sind (Ebner 1998, 377-380; Melzer-Keller 1997, 344-346).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Raben (V. 24; zum Folgenden vgl. Glatz 2001, 30 f.; Riede 2001, 268) sind nach Lev 11,15; Dtn 14,14 unrein und daher nicht essbar, da sie Aas vertilgen (Spr 30,17) und sich mit anderen furchterregenden Tieren und Dämonen in Ruinenstätten und wüsten Gebieten aufhalten (Jes 34,11; Zeph 2,14). Dennoch wurden sie im antiken Israel zu verschiedenen Zwecken gezüchtet und gezähmt, da sie wie die Tauben für ihren guten Orientierungssinn bekannt waren. Als Orientierungshilfe sendet Noach den Raben und die Taube aus, um trockenes Land zu erspähen (Gen 8,6-12). Als Werkzeug Gottes versorgen Raben den sich am Bach Kerit versteckenden Elija mit Brot und Fleisch (1Kön 17,4.6). Ein von besonderer Fürsorge geprägtes Gottesverhältnis der Tiere setzen Ps 147,9; Hi 38,41 voraus, wonach die nimmersatten jungen Raben von Gott ihre Nahrung erhalten: »Gott gibt den Tieren ihre Nahrung, den jungen Raben, die zu ihm rufen« (Ps 147,9). »Wer bereitet dem Raben seine Nahrung, wenn seine Jungen zu Gott rufen und irrefliegen, weil sie nichts zu essen haben?« (Hi 38,41). »Rabe« ist schließlich einer von sieben Vogel-Personennamen, die sowohl vor wie 146

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Vertrauen in die Sorge Gottes Q 12,24.26-28

nach dem Babylonischen Exil belegt sind. Damit ist der Rabe ein Beispiel dafür, dass auch Tiere, die von den nachexilischen Priestern als unrein klassiert wurden, weiterhin als Personennamen übernommen wurden. Mit »Lilien« (V. 27) ist hier keine bestimmte Pflanzenart bezeichnet, sondern allgemein großblühende Arten der Liliaceen und Iridaceen (zum Folgenden vgl. Kilwing 1995, 646; ferner Habbe 1996, 105). Nach 1Kön 7,19.22 sollen die Kapitäle der Säulen Jachin und Boas des salomonischen Tempels, nach 1Kön 7,26; 2Chr 4,5 der Rand des Ehernen Meeres in Form von Lilienblüten gestaltet gewesen sein. Im Hhld ist die Lilie Bild der Schönheit des Geliebten wie der Geliebten: Ihr Leib gleicht einem mit Lilien bekränzten Weizenhaufen (7,3), seine Lippen sind (duftend?) wie Lilien (5,13). Der Geliebte geht in den Garten, um Lilien zu pflücken. Sie preist sich selbst als »Lilie der Täler« (2,1), der Geliebte stimmt ihr zu (2,2). »Der unter den Lilien weidet« ist festes Epitheton für den Geliebten (2,16; 6,3; vgl. 4,5). Nach Sir 50,8 (hebr.) gleicht der Hohepriester Simeon einer Lilie an Wasserbächen. Bei Hosea ist Gott selbst der Tau, der Israel wie eine Lilie erblühen lässt (Hos 14,6). Mit der Erwähnung von König Salomo (V. 27) wird das ländliche Milieu der bisherigen Bilder durchbrochen. Die Beispiele aus der Natur (Raben/Vögel, Lilien/Gras) und die Aufzählung ländlicher Tätigkeiten (säen, ernten, in Scheunen sammeln) werden in Kontrast gesetzt zur städtischen Pracht Salomos (vgl. 1Kön 2-11, bes. 10,14-29; 2Chr 1-9, bes. 9,13-28). Der Sohn und Nachfolger König Davids ist gerade in weisheitlicher Tradition zum Prototyp des Weisen geworden, was sich auch in Q 11,31 (Mt 12,42 / Lk 11,31) noch spiegelt. In unserem Text fungiert Salomo jedoch nicht als Musterbeispiel des Weisen, sondern als prachtvoller König, der hinsichtlich der Kleidung dennoch von jeder Lilie übertroffen wird. Es geht in Q 12,24.26-28 jedoch nicht um den Gegensatz zwischen überfeinerter Lebensart in der Stadt und echtem, einfachem Landleben (Schmeller 1999, 86), und es soll nicht »die Stimmung eines sonntäglichen Familienspaziergangs« geweckt werden. Vielmehr spricht aus diesem Doppelbildwort »die Härte der heimat- und schutzlosen vogelfreien Existenz wandernder Charismatiker, die ohne Besitz und Arbeit durch die Lande ziehen« (Theißen 3 1989a, 85; so schon Hoffmann 3 1982, 326-328). Der Text kann jedoch nicht nur als Bestärkung in der besitz-, heimat- und arbeitslosen Nachfolge Jesu verstanden werden, sondern auch als Aufforderung an Menschen im normalen bäuerlichen Erwerbsleben, sich dem inneren Kern der Jesusbewegung anzuschließen und sich der Fürsorge Gottes – konkret: der gastfreundlichen Unterstützung durch sesshafte Anhängerinnen und Anhänger Jesu – zu überlassen (Rondez Drammeh 2004, 126-128; Rondez 2006, 98 f.; Schmeller 1999, 86; Zeller 3 1993, 80). Zu Q 12,24.26-28 gibt es neben den jüdischen Parallelen ebensolche aus der stoisch-kynischen Philosophie (Berger/Colpe 1987, 101 f.; Downing 1988a, 68-71). So lässt etwa Dion Chrysostomus († ca. 115 n. Chr.) in seiner Rede 10 den Kyniker Diogenes von Sinope († 323 v. Chr.) sprechen: »(15) Willst du dich nicht zuerst um das ernsthaft bemühen, womit du aus allem Nutzen ziehen und alle deine Angelegenheiten richtig ordnen kannst, bevor du, ohne die richtige Einsicht zu haben, dem Geld, Ländereien, einem Sklaven, Gespann, Fahrzeug oder Haus nachjagst? Ihr Sklave wirst du sein und ihretwegen keine ruhige Minute mehr haben, dir viel vergebliche Mühe machen und mit Sorgen um sie dein ganzes Leben zubringen, Nutzen aber wirst du kein bisschen davon haben. (16) Sieh doch, wie viel sorgloser als die Menschen die Tiere und Vögel 147

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Parabeln in der Logienquelle Q

hier leben, wie viel glücklicher! Sie sind gesünder und kräftiger, und jedes lebt, solange es kann, und hat doch keine Hände und keinen menschlichen Verstand. Und dennoch haben sie als Ausgleich für alle diese Mängel das beste Los: Eigentum ist ihnen unbekannt.« Im Unterschied zu Q 12,24.26-28 wird betont, wie viel Sorgen durch Reichtum zusätzlich entstehen. Wie in Q wird allerdings die Freiheit von der Sorge bei Vögeln vor Augen geführt; freilich ist das Argument bei Dion Chrysostomus nicht die Fürsorge Gottes, sondern die sich aus der Freiheit vom Besitz von selbst ergebenden Vorteile. Für die Parallelen aus der stoisch-kynischen Philosophie gilt insgesamt, dass sie in den Formulierungen teilweise interessante Übereinstimmungen zu Q 12,24.26-28 bieten, jedoch nicht unmittelbar zu dessen bildspendendem Bereich gehören. Diese Parallelen sind eher relevant für die Frage, unter welchen Voraussetzungen hellenistisch gebildete Christen Q 12,24.26-28 gelesen haben.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Das Doppelbildwort in Q 12,24.26-28 steht in der jüdischen Tradition der Erfahrbarkeit und Erkennbarkeit der göttlichen Fürsorge aufgrund seiner Schöpfung (vgl. Hi 12,7-9; 1Hen 2,1-5,3). Das Alte Testament und das Frühjudentum kennen unterschiedliche Aspekte der Sorge (zum Folgenden Hieke 2001). Sie frisst z. B. in der eigenen Seele (Ps 119,28), vertreibt den Schlaf (Sir 31,1 f.; 40,5) und kann sogar töten (Sir 30,23). Ausweg aus der Sorge ist zum einen die Weisheit (SapSal 6,15; 7,23; 8,9), zum anderen das Vertrauen auf Gott (Ps 4,9; 55,23; Jer 17,8), denn Gott sorgt für die Gerechten (SapSal 5,15) und für alle in gleicher Weise (SapSal 6,7; 12,13). In der Mischna (mQid 4,14) heißt es: »Hast du je in deinem Leben ein wildes Tier oder einen Vogel gesehen, die ein Gewerbe gehabt hätten? Und doch werden sie ernährt ohne quälende Sorgen; und sind sie nicht bloß zu meinem Dienst erschaffen? Und ich bin erschaffen worden, um meinem Schöpfer zu dienen; sollte ich da nicht ernährt werden ohne quälende Sorgen?« (Billerbeck I 2 1926, 436; Bultmann 10 1995, 111). Hier wird stärker als in Q 12,24 (»Seid ihr nicht mehr wert als die Vögel?«) und 12,28 (»um wie viel mehr nicht euch, ihr Kleingläubigen?«) das Gefälle zwischen Mensch und Tier betont. In Q bleibt der Unterschied zwischen Raben/ Lilien und Mensch unbestimmt; alle sind gleichermaßen abhängig von Gottes Fürsorge, und alle haben auch eine eigene Gottesbeziehung. Rondez Drammeh (2004, 124) formuliert daher als ironische Pointe von V. 24: »Gott als Rabenvater sehen lernen«. Nach mQid 4,14 sind dagegen die Tiere zum Dienst am Menschen, der Mensch jedoch zum Dienst an seinem Schöpfer erschaffen worden. In der Fassung des babylonischen Talmuds (bQid 82b) wird schließlich die Erfahrung der Sünde ergänzt: Sie macht eine ganz auf Gott vertrauende Sorglosigkeit unmöglich (Berger/Colpe 1987, 102 f.). Keinen Hintergrund hat das Doppelbildwort Q 12,24.26-28 in einem Teil der alttestamentlichen und jüdischen Weisheit, in dem Beispiele aus der Natur als Vorbilder der fleißigen Vorsorge dargestellt werden, etwa Spr 6,6-8: »(6) Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh an ihr Tun und werde weise! (7) Wenn sie auch keinen Fürsten noch Hauptmann noch Herrn hat, (8) so bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte.« In Q 12,24.26-28 geht es nicht um den Gegensatz von weisem Fleiß und törichter Faulheit, sondern um den Gegensatz von unnötiger Sorge und nötigem Gott148

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Vertrauen in die Sorge Gottes Q 12,24.26-28

vertrauen. Von den Raben und Lilien ist nicht ihr Nichtstun zu lernen, sondern die Bedingung ihres Nichtstuns, nämlich die verlässliche Fürsorge Gottes (Schmeller 1999, 86). Im Neuen Testament erscheint das Bildfeld der »Sorge« ebenfalls in vielen Varianten (zum Folgenden Hieke 2001): Jesu Boten brauchen sich vor den Gerichten der Welt nicht um ihre Verteidigung zu sorgen, da der Heilige Geist das rechte Wort eingeben wird (Q 12,11 f.; Mk 13,11). Wie die Dornen den Getreidehalm, ersticken die Sorgen der Welt das Wort Jesu (Mk 4,19 parr.). Paulus empfiehlt in 1Kor 7,32-34, unverheiratet für die Sache des Herrn zu sorgen, denn die Verheirateten sorgen sich um die Dinge der Welt. Timotheus sorgt sich wie Paulus vorbildlich um die Sache der Gemeinde (Phil 2,20). Die Glaubenden mögen sich angesichts des nahen Endes um nichts sorgen, sondern immer mit Dank und Bitte vor Gott hintreten (Phil 4,6) und alle Sorgen auf den Herrn werfen (1Petr 5,7 unter Rückgriff auf Ps 55,23). Die Erwähnung der Raben in Q 12,24 als Empfänger von Gottes Sorge geht zweifellos auf Traditionen wie in Hi 38,41 und Ps 147,9 zurück; diese Verbindung ist auch wiederholt in der frühen rabbinischen Literatur zu beobachten (Cadbury 1972, 6). Am artspezifischen Verhalten der Raben hat Q 12,24 kein Interesse (Rondez Drammeh 2004, 117-119). Wie ist die Erwähnung Salomos und »seiner Pracht« zu verstehen? Wahrscheinlich nicht als positive Referenzfigur, die jedoch von den Lilien übertroffen wird, sondern als negatives Beispiel (Carter 1997, 4 und passim): Den Leserinnen und Lesern von Q 12,27c wird Salomo hier als jemand präsentiert, der sich zu viele Sorgen gemacht und nicht Gottes Ehre oder Herrschaft gesucht hat.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die beiden Bildworte in Q 12,24.26-28 antworten auf sehr reale Sorgen der Jüngerinnen und Jünger Jesu. Insgesamt weist der bildspendende Bereich auf arme Menschen als Adressaten hin, die sich mit erheblicher Anstrengung Nahrung und Kleidung erwerben und sich um das lebensnotwendige Existenzminimum sorgen müssen. Die Mahnung, sich nicht um Nahrung und Kleidung zu sorgen und stattdessen auf die größere Sorge Gottes um die Menschen zu vertrauen, stellte also schon die ersten Adressaten vor eine große Herausforderung (Schmeller 1999, 85). Hier spricht sich der einfache Gottesglaube Jesu aus, der der souveränen Fürsorge des Schöpfers für alle Geschöpfe vertraut und daher ein aktives Bemühen um das Existenzminimum ablehnt. Der Humor Jesu, der bei dieser ernsten Forderung mitschwingt (Jeremias 11 1998, 212), zeigt sich auch noch bei Martin Luther, von dem mit deutlichem Bezug auf Q 12,24.26-28 Folgendes überliefert ist: »Da Doctor Martinus sahe das Vieh im Felde gehen an der Weide, sprach er: ›Da gehen unsere Prediger, die Milchträger, Butterträger, Käseträger, Wollenträger, die uns täglich predigen den Glauben gegen Gott, dass wir ihm, als unserm Vater, vertrauen sollen, er sorge fur uns und wolle uns ernähren« (WA TR 4, 67; vgl. Riede 1999, 87, Anm. 117). Den radikalen Verzicht auf die Sorge um Nahrung und Kleidung lebten allerdings schon nicht alle Anhängerinnen und Anhänger Jesu, und bereits in Q kann man Tendenzen entdecken, die Forderung Jesu für das alltägliche Gemeindeleben zu aktualisieren (s. u.). Ebenso kann Q 12,24.26-28 für die Gegenwart redlich ausgelegt werden, wenn 149

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Parabeln in der Logienquelle Q

man hier die Aufforderung zu einer entschiedenen Orientierung des Lebens an Gott erkennt, der solches Leben zur Fülle bringt. Dabei fragt der Text unaufhörlich und direkt, ob die unbedingte Orientierung an Gott nicht durch andere Sorgen abgelenkt wird, von denen man sich frei machen kann. »Aber es widerspricht dem zentralen Anliegen des Textes, wenn dieser als eine weitere Vorschrift zu den vielen anderen, deren Erfüllung uns Sorge bereitet, hinzukommt. … Es wäre sinnlos, mit dem Fleiß der Ameise die Faulheit des Raben nachzuahmen. Mit anderen Worten: Um Sorglosigkeit soll man sich keine Sorgen machen« (Schmeller 1999, 88). Ein weiterer wichtiger Aspekt des Doppelgleichnisses für die Gegenwart liegt schließlich in seinem Bild von Gott als einem sorgenden Schöpfer, wobei jede futurischeschatologische Konnotation fehlt (Bultmann 10 1995, 109). Die Natur wird in Q 12,24.26-28 außerdem ohne »ökonomische Nutzenkalkulation« wahrgenommen, anders als in den anderen Naturparabeln und Bildern der synoptischen Tradition (L. Schottroff 2005, 98). Der Text ermutigt so zu einem lebensfreundlichen Blick in die gegenwärtige Welt als Schöpfung Gottes, wodurch sich neue Wege und Möglichkeiten eröffnen (Rondez Drammeh 2004, 129 f.; Rondez 2006, 99). P. Riede (1999, 87) formuliert im Hinblick auf Q 12,24 sehr treffend: »Wo uns die Tiere … das Staunen lehren, wo wir uns an ihren Gestalten, an ihren Stimmen, an ihrem Dasein erfreuen, da durchbrechen wir auch ein Stück der Entfremdung, die letzte Ursache ist für manche Fehlentwicklungen unserer Tage, unter deren Folgen auch die Tiere leiden. Durch ihr einfaches Dasein können uns die Tiere die Wunder der Schöpfung, die um uns herum sind, lehren und uns hinweisen auf den, der alles geschaffen hat und wunderbar erhält.«

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Mt 6,26.28-30: (26) Schaut auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als sie? (28) Und was sorgt ihr euch um Kleidung? Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie mühen sich nicht ab und sie spinnen nicht. (29) Ich sage euch aber: Auch nicht Salomo in all seiner Pracht war angezogen wie eine von diesen. (30) Wenn aber Gott das Gras des Feldes, das heute dasteht und morgen in den Ofen geworfen wird, so anzieht – um wie viel mehr nicht euch, ihr Kleingläubigen? Matthäus platziert die Sorgensprüche in die Bergpredigt und setzt Q 16,13 (Mt 6,24 / Lk 16,13) als Leseanweisung davor: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.« Das Doppelbildwort von den Raben und Lilien wird somit im Blick auf diese Opposition verstanden; die Adressaten sollen wie Raben und Lilien Gott dienen und sich nicht um den Mammon sorgen. Das Ende der Sorgensprüche rahmt Matthäus in 6,34; hier wird die Vorsorge für die Zukunft verboten, die aktive Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten der Gegenwart aber durchaus anerkannt, wenn auch als eine bedauerliche Notwendigkeit (Schmeller 1999, 87). Zur matthäischen Bearbeitung von Q 12,24.26-28: Die Critical Edition of Q liest in Q 12,24 mit Lukas »beobachtet die Raben« (J. M. Robinson/Hoffmann/Kloppenborg 2000, 338 f.; gegen Melzer-Keller 1997, 333 f.; Rondez 2006, 84), während Matthäus 150

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Vertrauen in die Sorge Gottes Q 12,24.26-28

»schaut auf die Vögel des Himmels« bietet. Matthäus hat die am Ende von Q 12,24 erwähnten »Vögel« durch ein Personalpronomen ersetzt und am Anfang des Verses die unreinen »Raben« durch die biblische Formulierung »Vögel des Himmels« (vgl. Dan 4,12; Ez 17,23) ausgetauscht (Melzer-Keller 1997, 333 f.; gegen Gnilka 1990, 182, Anm. 20). »Die Bibel spricht häufig zusammenfassend von ›den Vögeln des Himmels‹. Durch ihre Fähigkeit zu fliegen sind sie mit der himmlischen Sphäre verbunden. Sie partizipieren an deren Allgegenwart und Allwissenheit« (Glatz 2001, 30). Matthäus hat das ursprüngliche »Gott« durch das seinem Sprachstil entsprechende »euer himmlischer Vater« ersetzt (vgl. Mt 5,48; 6,9.14.32; 15,13; 18,35; 23,9). In 6,28 ergänzt Matthäus die Lilien, in 6,30 das Gras mit dem biblisch geprägten Genitiv »des Feldes« (vgl. Gen 2,5; 3,18; 4Kön 19,26 LXX; Jer 12,4). Diesen adnominalen Genitiv, ein Semitismus, verwendet im Neuen Testament allein Matthäus (Jeremias 11 1998, 81, Anm. 12). Lk 12,24.26-28: (24) Beobachtet die Raben: Sie säen nicht und ernten nicht, sie haben keine Vorratskammer und keine Scheune, und Gott ernährt sie. Wie viel mehr seid ihr wert als die Vögel. (26) Wenn ihr nun auch nicht das Geringste vermögt, was sorgt ihr euch um das Übrige? (27) Beobachtet die Lilien, wie sie wachsen: Sie mühen sich nicht ab und sie spinnen nicht. Ich sage euch aber: Auch nicht Salomo in all seiner Pracht war angezogen wie eine von diesen. (28) Wenn aber Gott das Gras auf dem Feld, das heute dasteht und morgen in den Ofen geworfen wird, so anzieht – wie viel mehr euch, ihr Kleingläubigen. Lukas rahmt die Sorgensprüche zu Beginn durch die Parabel vom reichen Kornbauern (12,16-21), das die Dummheit einer Vorsorge durch Besitz schildert und mit der Unterscheidung von irdischen Schätzen und Reichtum bei Gott endet. Das Ende der Sorgensprüche aus Q kommentiert Lukas mit der Zusage des Königreichs Gottes an die »kleine Herde« (12,32; vgl. 22,29), worauf in 12,33a die typisch lukanische Aufforderung zum Almosengeben und die Aufnahme von Q 12,33 f. (»Sammelt euch Schätze im Himmel!«) folgt. Ähnlich wie Matthäus aktualisiert also auch Lukas Q 12,24.26-28: Der Text wird zu einer Mahnung für (städtische) Gemeinden und insbesondere für die Besitzenden in ihnen, sich nicht um irdische Schätze zu sorgen. Die ungeteilte Ausrichtung auf das Reich Gottes statt auf den Besitz befreie von Unruhe und Existenzangst. Zur lukanischen Bearbeitung von Q 12,24.26-28: Während in Q 12,24 die drei Tätigkeiten »säen, ernten, sammeln« parallel formuliert werden, unterbricht Lukas diesen Parallelismus mit einem stilistisch kunstvolleren Relativsatz: »welche (= die Raben) haben keine Vorratskammer und keine Scheune«. Während Q den Schluss vom Leichten auf das Schwere mit einer negativ gefassten rhetorischen Frage formuliert, ändert Lukas in eine positive Aussage (so erneut am Ende von Lk 12,28). In V. 26 ersetzt Lukas das ursprüngliche »und« mit einem Konditionalsatz: »Wenn ihr nun auch nicht das Geringste vermögt«. Außerdem spricht er nicht wie Q von der Sorge um die Kleidung, sondern allgemeiner von der Sorge um »das Übrige«. In V. 27 ersetzt Lukas den Imperativ »lernt« aus Q mit »beobachtet«; er wiederholt damit den Imperativ aus 12,24 (J. M. Robinson/ Hoffmann/Kloppenborg 2000, 344 f.). In V. 28 verwendet Lukas ein moderneres griechisches Wort für »anziehen« als Q und formuliert den Schluss nicht als rhetorische Frage, sondern als positives Statement (vgl. oben zu V. 24). 151

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Parabeln in der Logienquelle Q

EvThom 36,1-4 (P.Oxy. 655 I,1-17) / Agr 124: (1) [Jesus spricht: Sorgt euch nicht] vom Morgen bis [zum Abend und] von der Abendzeit [bis] zum Morgen, weder [um] eure [Nahrung], (nämlich) was [ihr] essen [sollt, noch] um [eure] Kleidung, (nämlich) was ihr anziehen [sollt]. (2) [Ihr seid] (doch) viel besser als die [Lilien], die keine (Wolle) krempeln und auch nicht spinnen. (3) [Und] wenn ihr ein Gewand habt, … ihr … ? (4) Wer könnte hinzufügen eurem Lebensalter? Er selbst wird euch euer Gewand [geben]! EvThom 36 im koptischen Codex II (p. 39,24-27) von Nag Hammadi: Jesus spricht: Tragt nicht Sorge vom Morgen bis zum Abend und von der Abendzeit bis zum Morgen, was ihr anziehen werdet. P.Oxy. 655 I,1-17 bietet eine ungefähre Parallele zu Q 12,22c.d.25.27a.b. Allerdings fehlt das Bildwort von den Raben (Q 12,24), ebenso die überleitende rhetorische Frage von Q 12,26, der Vergleich mit Salomo (Q 12,27c) und die Folgerung in Q 12,28. Statt der rhetorischen Frage von Q 12,28 bietet P.Oxy. 655 am Ende der Spruchreihe die ausdrückliche Zusage: »Er (scl. Gott) wird euch euer Gewand geben!« Aufgrund dieser Unterschiede ist es eher unwahrscheinlich, dass der Autor von P.Oxy. 655 den Q-Text verwendet hat (Nordsieck 3 2006, 156 f.; gegen Crossan 1994a, 59 f., wonach der Autor von P.Oxy. 655 z. B. den Text von Q 12,24 kannte, ihn aber strich, um EvThom 36 mit EvThom 37 zu harmonisieren). Ausgehend von der Beobachtung, dass in P.Oxy. 655 I,9 f. und im ursprünglichen Text von Mt 6,28 im Codex Sinaiticus »sie [die Lilien] krempeln nicht, noch spinnen sie« zu lesen ist, haben J. M. Robinson/Heil argumentiert, dass hier ein Indiz für eine ältere Sammlung von Jesus-Logien vorliegt, die in Q aufgenommen und bearbeitet wurde (J. M. Robinson 2005, 713-728 in Aufnahme von Skeat 2004; zustimmend Nordsieck 3 2006, 158; dagegen Porter 2001; Schröter 1999; 2001a; 2001b). In der Sicht von Jongkind (2006) ist das ein realistisches Szenario, auch wenn der ursprüngliche Schreiber des Codex Sinaiticus gut selbst auf die Formulierung »sie krempeln nicht, noch spinnen sie« gekommen sein könnte, ohne hier eine Sammlung von Jesus-Logien benutzt zu haben. Robinson hat ferner P.Oxy. 655 I,1-17 (J. M. Robinson 2005, 838 = Hoffmann/ Heil 2002, 82 f.) als Beleg einer Tradition gedeutet, die in Q aufgenommen und durch ursprünglich unabhängige Überlieferungen ergänzt wurde (J. M. Robinson 2005, 729794.809-834.845-883; dagegen Gundry 2005). Die koptische Fassung von EvThom 36 (H.-M. Schenke/Bethge/Kaiser u. a. 2007, 130 = Hoffmann/Heil 2002, 82 f.) ist eine sekundäre Kürzung gegenüber der griechischen Fassung von P.Oxy. 655. Die Gründe für diese Kürzung liegen allerdings im Dunkeln (Nordsieck 3 2006, 155; J. M. Robinson 2005, 735-740).

Christoph Heil Literatur zum Weiterlesen M. Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß, HBS 15, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1998, 250-275. P. Hoffmann, Tradition und Situation. Studien zur Jesusüberlieferung in der Logienquelle und den synoptischen Evangelien, NTA.NF 28, Münster 1995, 62-134.

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Vertrauen in die Sorge Gottes Q 12,24.26-28

D. Jongkind, »The lilies of the field« Reconsidered: Codex Sinaiticus and the Gospel of Thomas, NT 48 (2006), 209-216. O. Keel/T. Staubli (Hg.), »Im Schatten deiner Flügel«. Tiere in der Bibel und im Alten Orient, Bibel+Orient-Museum, Freiburg (Schweiz) 2001, bes. 27-31. J. S. Kloppenborg, The Formation of Q: Trajectories in Ancient Wisdom Collections, Studies in Antiquity & Christianity, Philadelphia 1987 (Nachdruck Harrisburg, PA/London 2000), 216-221. R. Nordsieck, Das Thomas-Evangelium. Einleitung – Zur Frage des historischen Jesus – Kommentierung aller 114 Logien, Neukirchen-Vluyn 3 2006, 154-159. P. Riede, »Doch frage die Tiere, sie werden dich lehren.« Tiere als Vorbilder und »Lehrer« des Menschen im Alten Testament, in: B. Janowski/P. Riede (Hg.), Die Zukunft der Tiere. Theologische, ethische und naturwissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 1999, 61-91. J. M. Robinson, The Sayings Gospel Q. Collected Essays, BEThL 189, hg. v. C. Heil/J. Verheyden, Leuven/Dudley, MA 2005, 713-883. P. Rondez Drammeh, »Seid ihr nicht mehr wert als die Vögel?« Das Rabenlogion Q 12,24 im Gespräch mit einer zerrissenen Welt, in: C. Fischer/P. Rondez/E. Straub (Hg.), Solidarität in der Krise, Zürich 2004, 113-130. P. Rondez, Alltägliche Weisheit? Untersuchung zum Erfahrungsbezug von Weisheitslogien in der Q-Tradition, AThANT 87, Zürich 2006, 83-113. T. Schmeller, Die Radikalität der Logienquelle: Raben, Lilien und die Freiheit vom Sorgen (Q 12,22-32), BiKi 54 (1999), 85-88.

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Achtung Menschensohn! (Vom Dieb) Q 12,39 f. (Mt 24,43 f. / Lk 12,39 f. / EvThom 21,5) (39) Jenes aber sollt ihr bedenken: Wenn der Hausherr gewusst hätte, in welchem Zeitraum der Dieb kommt, hätte er verhindert, dass in sein Haus eingebrochen wird. (40) Auch ihr sollt bereit sein, denn zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet, kommt der Menschensohn.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der Text lässt sich in drei Teile untergliedern. Zunächst erfolgt in direkter Rede die Aufforderung zum Zuhören (V. 39a). Eine spezielle Adressatengruppe wird ebenso wenig genannt, wie sich eine metatextuelle Sprachformel zur Redeeinleitung findet. Es folgt die eigentliche Parabel (V. 39b), die aus Vorder- und Nachsatz mit jeweils zugehöriger Näherbestimmung besteht. Einem potentiellen, aber nicht realen Wissen über eine Gefahr entspricht die potentielle, aber daher nicht erfolgte Abwehr derselben (Irrealis der Vergangenheit). Den Abschluss bildet eine produktiv verarbeitende Anwendung der Parabel (V. 40), die Elemente der Parabel eigentümlich auf die stete Bereitschaft für den Tag des Menschensohnes zuspitzt. Die kurze Einleitung (V. 39a) fordert in direkter Rede zu einem Reflexionsvorgang der Adressaten auf. So wird den Lesern/Leserinnen signalisiert, dass ein Denkprozess notwendig ist, um das Bild zu verstehen. Im Textfluss ist dieser Reflexionshinweis bereits ein Vorabhinweis auf die eigentümliche Deutung, die dem Bild in V. 40 folgt, und sorgt damit für eine Verbindung beider Sequenzen. Als Adressaten dienen innerhalb des Dokuments Q immer noch die Anhänger und Anhängerinnen Jesu, denen nach Q 12,2 (ein Adressatenwechsel gegenüber dem Gerichtswort über »diese Generation« erfolgte in 11,49-51!) zugesagt ist, Kenntnis des Verborgenen zu haben. Zugleich bietet diese Einleitung, die innerhalb des Textes keine Gruppe ausdrücklich als Adressaten benennt, eine Möglichkeit, die Leser und Leserinnen des Textes selbst in die Textwelt hineinzunehmen und zum Nachdenken über die unmittelbar folgende Parabel anzuregen. Die Logik der Parabel (V. 39b) ist bestechend einfach und lässt daher allgemeine Zustimmung erwarten. Jeder weiß, dass ein Eindringling mit der Absicht, durch Diebstahl die Existenzgrundlage zu rauben, abgewehrt werden muss; das antike Haus beherbergt in der Regel das Eigentum, das die Menschen zum Leben benötigen. Ist die Zeitspanne der Gefahr bekannt, dann wird der Diebstahl zweifellos abgewehrt (dies wird in der Übersetzung durch die positive Wendung »hätte er verhindert« wiedergegeben, die dem »Nicht-Zulassen« des griechischen Textes im Argumentationsgefälle entspricht). Die Konjunktion »wenn« stellt klar, dass diese Logik in der antiken wie modernen Lebenswirklichkeit einen irrealen Fall schildert. Das vergangenheitliche Tempus weist darauf hin, dass der Einbruch nicht verhindert werden kann, und setzt somit den Erfolg des 154

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Diebes voraus (z. B. Valantasis 2005, 166), zugleich beschreibt es das Geschehen als einmaliges, was im Sinne des Beispielhaften verstanden werden kann, ohne dass ein den Adressaten bekanntes Einzelgeschehen zu postulieren wäre (so aber Jeremias 11 1998, 45 auf der Suche nach dem »Sitz im Leben« Jesu). Die Gegenüberstellung Dieb – erfolgreicher Einbruch // Hausherr – nicht erfolgtes Verhindern des Einbruchs wird thematisch durch die Kenntnis der Zeit verbunden. Hinter der Formulierung »in welchem Zeitraum« steht die griechische Wendung poffl a fulak–» (poia phylake¯), was wörtlich bedeutet »zu welcher Nachtwache« und in der Übersetzung modern übertragen wurde (zum Problem des Wortlauts der Zeitangabe s. u. Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte). Nach römischem Verständnis unterteilt sich die Nacht in vier Zeiträume von drei Stunden; das Zeitfenster für das Kommen wird also zwischen Dieb (Zeitraum) und Menschensohn (Augenblick) verschärft. Der Erfolg macht in dieser kleinen Geschichte den Dieb zum (»unmoralischen«) Helden (Schramm/Löwenstein 1986), da er sein Ansinnen erfolgreich ausführt, und den Hausbesitzer zum Narren. Betrachtet man diese Geschichte isoliert, so schildert sie einen nicht zu verhindernden »Einbruch« einer durch den Dieb abgebildeten Größe. Die Anwendung überrascht durch die einschneidenden Konsequenzen, die sie aus der Argumentationslogik zieht. Diebe halten sich bekanntlich nicht an Zeiten, in denen sie erwartet werden; es gehört vielmehr zum Wesen des Diebstahls, dass er unerwartet und möglichst unentdeckt durchgeführt wird. V. 40 ist nicht am Erfolg des Diebes interessiert, sondern an der Bereitschaft, ihn jederzeit abzuwehren. Der einzige Schutz gegen Diebstahl ist die stete Wachsamkeit und das Vorbereitetsein auf den Einbruch, damit er so verhindert werden kann. Dies ist das Bindeglied zur Parabel, das in der Anwendung bewährt wird (s. a. Valantasis 2005, 166). Die Beziehungen der Charaktere aus der Parabel verändern sich durch die Einführung einer weiteren Figur in der Berücksichtigung der Adressaten. Im Spannungsfeld von Parabel und ihrer Anwendung verhalten sich der Dieb und der Menschensohn wie Antipoden, die einerseits durch ihre Aktivität des Kommens, anderseits durch die Unmöglichkeit, ihr Eintreffen vorherzusagen, parallelisiert sind. Nach Luz (1997, 455) wäre der »unbekannte Zeitpunkt das Analogon« zwischen Bild und Anwendung; dem ist zuzustimmen, wobei das »Analogon« auch die Charaktere mit ihren Verhaltensmustern in ein neues Verhältnis setzt. Den Einbruch des Diebes will man vermeiden, das Kommen des Menschensohnes – hier wird die Brüchigkeit zwischen Parabel und Anwendung wieder deutlich – nicht, im Gegenteil (s. a. Jeremias 11 1998, 46; Luz 1997, 452). Es gilt vielmehr darum, sich angemessen für diesen Zeitpunkt zu präparieren. So werden die Angeredeten in Relation zum Hausherrn gesetzt. Doch nicht die Erfolglosigkeit des Bemühens, sondern das Bemühen als Aufgabe des Hausherrn, durch stete Wachsamkeit den Einbruch zu vermeiden, wird thematisiert. Unerwartet wie der Dieb kommt auch der Menschensohn und darauf sollen die Adressaten vorbereitet sein. Wie das zu erfolgen hat, ist dem Gesamtdokument mit seinen Mahnungen und Hinweisen zu entnehmen. Kontext: Dem eschatologischen Ausblick folgt in Q 12,42-46 eine (weitere) Parabel (Vom treuen oder treulosen Knecht), um die geforderte Verantwortung gegenüber dem erwarteten Menschensohn zu illustrieren (s. a. Hoffmann 2001, 264 f.; Kloppenborg 155

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1995, 293). Es gilt »die Suche nach der Basileia« (d. h. nach der Königsherrschaft Gottes, vgl. Q 12,31; Hoffmann 2001, 81) so zu gestalten, dass die Angeredeten sich im Licht der ethischen Grundlegung aus Q 6,20-49 stets als treu und klug erweisen. Dabei illustriert Q 12,39 f. auch die Notwendigkeit beständiger Suche nach dem dauerhaften Schatz im Himmel (vgl. schon Q 12,33 f.); beide durch das Wort vom Sorgen in Q 12,22b-31 unterbrochenen Texte verbinden die Stichworte »Dieb« und »einbrechen« (Jacobson 1992, 196 f.; durch Kloppenborg 2000, 126, zu Unrecht als ungeschickt oder peinlich gebrandmarkt). Dass Q 12,40 im Kontext von Q die »Konsequenz aus dem Diebesgleichnis« (Q 12,33 f.) zieht (März 1990, 170), ist deshalb zu pointiert, da die Diebesmetaphern in 12,33 und 12,39 für unterschiedliche Referenzgrößen stehen. Die handlungsorientiert zu verstehende Konzentration auf himmlische statt irdische Schätze findet im Horizont der steten Erwartung des überraschend eintreffenden Menschensohnes statt. So gestaltet sich »die Suche nach der Basileia« bleibend aktiv.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Diebe und Räuber sind eine existenzbedrohende Realität der antiken Welt. Nach Flavius Josephus war die Zeit vor dem Jüdischen Krieg besonders durch das Auftreten von Dieben und Räubern gekennzeichnet (Bell. II 253.264 f.; Ant. XX 160 f.255 ff.), die den Besatzern und der reichen Bevölkerung Schaden zufügten, aber laut Josephus auch Dörfer brandschatzten und somit wohl gegen alle sozialen Schichten wirkten. Diebe eignen sich eigentlich nicht zu narrativen Helden, sondern werden gefürchtet, auch wenn sie als Produkt der sozialen Verhältnisse Palästinas unter römischer Herrschaft verstanden werden können, die ihren sozialen Ursprung in der verbreiteten Armut unter anderem aufgrund der Abgabenlast, aber auch von Hungersnot und anderen Krisensituationen haben (zu diesem »sozialen Banditentum« vgl. z. B. Horsley/Hanson 1985, 48-69; W. Stenger 1982, bes. 90 f. und 92 [berechtigte Kritik an Horsley/Hanson]). Die Präsenz und Bedrohung durch Diebstahl, die die Betroffenen plötzlich heimsucht, fordert Aufmerksamkeit und Abwehr: Stetige Wacht hält Diebe fern. So empfiehlt Vergil in seinem Lied vom Landbau die Zucht von Hunden: »Bewachen sie deine / Stallungen, brauchst du den nächtlichen Dieb nicht zu fürchten, auch keine / streifenden Wölfe, den Überfall nicht von iberischen Räubern« (III 406-408; Übers.: Ebener 1984, 131). Sein beliebtes Wirkungsfeld hat der Dieb sprichwörtlich in der Nacht (z. B. Eurip. Iph. T. 1026: »Die Nacht gehört ja doch dem Dieb, das Licht der Wahrheit« [Übers.: Ebener 1977, 309]; s. a. Hi 24,14; Jer 49,9).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Kommen des Menschensohnes: Der Menschensohn und seine plötzliche Wiederkehr sind ein breit belegtes Thema in der frühchristlichen Literatur (vgl. Karrer 1998, 287-306). Die Gestalt des Menschensohns, die in der frühchristlichen Literatur zu einem christologischen Titel geworden ist, erweist sich sowohl hinsichtlich ihrer Ableitung als auch ihrem Ursprung im christlichen Denken als sperrig. Durch Dan 7,13 ist eine menschenähnliche Gestalt (Un5 a2 tb4K7 kebar ’ænasch) in der eschatologischen Literatur präsent und 156

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wird vor allem in 1Hen 37-71 und 4Esr 13 ebenfalls im eschatologischen Zusammenhang rezipiert, ohne dass die dort genannten Vorstellungen miteinander deckungsgleich sind. Die traditionsgeschichtliche Offenheit dieser eschatologischen Figur (z. B. Collins 1995, 189) ermöglichte offensichtlich eine Neukodierung im frühen Christentum, wobei umstritten bleibt, ob und in welcher Form diese Neukodierung bereits mit Jesus verbunden ist (einen bei der Diskussion um Lk 12,8 einsetzenden Überblick gibt Vögtle 3 1997). Vielfalt und Verbreitung der Vorstellung in den christlichen Texten bei gleichzeitiger Einsicht in die fehlende alttestamentlich-jüdische Vorprägung könnten für die Ableitung von Jesus sprechen, wobei die Erwartung einer kommenden und von Jesus zu unterscheidenden Gestalt aufgrund von Q 12,8 (trotz der Einwände zur Ursprünglichkeit des Menschensohnes von Hoffmann 1998) mir wahrscheinlicher ist als die Annahme der Selbstbezeichnung durch Jesus. Nach dem Ostergeschehen verbindet ein breiter Traditionsstrom die Menschensohnbezeichnung mit dem in unmittelbarer Kürze wiedererwarteten Erscheinen des Auferstandenen; eine Erwartung, die bekanntermaßen so nicht erfüllt wurde. Aus der nahen Erwartung wurde die Forderung nach steter Bereitschaft entwickelt und die Unvorhersehbarkeit des Geschehens gefolgert. Kommen wie ein Dieb: Angesichts dieser Parusie-Verzögerung wurde die Metapher »Dieb« nutzbar, dessen Eintreffen sich nicht ausrechnen lässt, aber auf dessen mögliche Ankunft man vorbereitet sein muss. Paulus stellt in 1Thess 5,2 als gemeinsames Wissen fest, dass »der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht kommt« (zur paulinischen Adaption der Metapher: Hoppe 2006). Da sprachliche und sachliche Bezugslinien (Dieb, Nacht, nicht überraschen lassen) vorliegen, ist die Frage erlaubt, ob Paulus in die Wirkungsgeschichte von Q 12,39 parr. gehört (z. B. März 1992; März rechnet mit einer Kenntnis des lukanischen Kompositionsclusters). Die Annahme eines gemeinsamen frühchristlichen Traditionshintergrunds (s. a. Apk 3,3; 16,15; 2Petr 3,10; Did 16,1; EvThom 103) beansprucht m. E. aber keine geringere Wahrscheinlichkeit.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel und ihre Rahmung zeigen das Ringen der frühen Christen mit der Sprengkraft der Worte Jesu in einer sich verändernden Zeit und vor einem sich wandelnden Erfahrungsschatz. Kreisen die Bilder, die Jesus verwendet, um die Präsenz, die Macht und das Durchsetzungsvermögen des Gottesreiches, die jeweils mit alltäglichen, aber auch überraschenden, provozierenden oder verstörenden Bildern präsentiert werden können, so richtet sich das Fragen der frühen Christen an dem Verkündiger aus. Die Geschichte über den Dieb als unmoralischen Helden kann ein solches Bild für das Reich Gottes sein, dessen ungehindertes und unerwartetes Eintreffen in verschiedenen Bildern Jesu festgestellt wird (vgl. Q 12,42-46, bes. V. 46; Q 12,12-26, bes. V. 15; Mt 25,1-13, bes. V. 5; s. a. Mk 9,1 par.; Mt 10,23): »Mit der Herrschaft Gottes verhält es sich wie mit einem Einbruch, der nicht zu verhindern war; ebenso wenig wie der Hausherr Vorsorge treffen konnte gegen den Dieb, war irgendwer in der Lage, den Beginn des Reiches zu verhindern« (Schramm/Löwenstein 1986, 52). Der Einspruch, dass so ein Positivum (Reich Gottes) mit etwas Negativem (Dieb) verglichen wird (aber in Apk 3,3; 16,15 wird Jesus selbst mit dem »Dieb« verglichen!), 157

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Parabeln in der Logienquelle Q

führt zu einem weiteren Deutungshorizont, der den Aspekt der Bedrohung im kommenden Reich hervorhebt (Jeremias 11 1998, 46: Warnung vor dem eschatologischen Gericht; s. a. Jülicher II 2 1910, 142 f.; die Ankunft des Reiches wie die Deutung als Gericht verbindet Gnilka 2 1992, 338). Dies unterschätzt jedoch das rhetorische Mittel der Provokation. Gerade durch das Befremdende in der Bilderwelt werden die Adressaten zur Auseinandersetzung mit den Inhalten und zu einem entsprechenden Urteil geführt. Zudem fokussiert die exklusive Negativdeutung auf den Gerichtsaspekt die Parabel auf ein Bildmotiv, den Dieb, zu Ungunsten der narrativen Gesamtbewegung, die in der erfolglosen Abwehrreaktion ihr Ziel findet. Die Anwendung in V. 40 kann als frühchristliche Rezeption eines derartigen Jesusbildes vom Reich gelesen werden, die nun den Verkündiger in den Fokus nimmt. Die genannten Brechungen zwischen der Geschichte vom erfolgreichen Dieb und ihrer Anwendung auf den Menschensohn werden als Gründe für ein sekundäres Wachstum von V. 40 zu V. 39 genannt (z. B. Schürmann 1983, 169 f. und Jacobson 1992, 196: vor der Abschlussredaktion; Kloppenborg 1995, 293: Redaktion von Q), das eine neue literarische Einheit entstehen lässt. Die Erfüllung der unmittelbaren Erwartung der Fortsetzung der Gemeinschaft mit Jesus nach Ostern dehnt sich in die Länge, und Begeisterung weicht Ernüchterung. Der Dieb als Antiheld, dessen Erfolg konstatiert wird, um die Präsenz des Gottesreiches zu feiern, wird zum Antipoden, die Adressaten finden ihre Existenz im Hausherrn gespiegelt; der Dieb nimmt wieder das in dieser Negativfigur ruhende, ursprüngliche Rollenpotential ein. Stete Aufmerksamkeit ist erforderlich, um sich vor dem Dieb zu schützen; stete Bereitschaft ist notwendig, um dem Menschensohn angemessen begegnen zu können. Die Einschärfung dieser Bereitschaft wie auch der Aktivität scheint gegenteiliges Verhalten bei den Adressaten vorauszusetzen. Umstritten ist, ob hier der Deutungshorizont der Verzögerungsproblematik der Wiederkunft Jesu (Parusie) vorliegt (Theißen/Merz 2003, 251-253: schon bei Jesus sei eine mögliche Verzögerung im Blick; Gräßer 3 1977, 94: nachösterlich; dagegen Tödt 5 1984, 308), allerdings liegt es wohl im Wesen zukünftiger Erwartungen, dass sie Zuspruch zum Aufrechterhalten benötigen. Spannt der Text von Q unsere Parabel über den Dieb und den Menschensohn zwischen Heilszusage (Q 6,20 f.; 7,22 f.) und Erwartung seiner Wiederkunft (Q 17,23-22,30) ein, so erinnern die Verfasser des Dokuments in Ergänzung eines weiteren Deutungshorizontes an die ethische Verantwortung zwischen Gottvertrauen (Q 12,22b-31) und Gottesdienst (Q 12,42-46), also an ein Leben nach den Maßstäben des verkündigten Verkündigers. Das Einfügen der Parabel Q 12,39 zwischen Einleitung (V. 39a) und Anwendung (V. 40) mit der spannenden Umwidmung vom Antihelden zum Antipoden lädt auch zum Nachdenken über das kreative Potential des Bildes allgemein und der Bildersprache Jesu im Besonderen ein – Veränderungen und neue Sinnbildungen zeigen einen Reichtum der Parabelverkündigung Jesu, mit der gleichermaßen bewahrend wie durchaus auch kreativ verändernd im frühen Christentum umgegangen wurde, wenn man in diesem Fall die Veränderung auch als Bändigung und moralisierende Korrektur werten könnte.

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Achtung Menschensohn! Q 12,39 f.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die beiden synoptischen Rezipienten aktualisieren die eingebettete Parabel leicht auf ihre intratextuelle Struktur und Leserschaft hin. Matthäus: Am auffälligsten ist die Umstellung der Parabel Mt 24,43 f. in die matthäische Endzeitrede (Mt 24 f.); sie ist durchaus sachgemäß und schärft wie in Q 12,39 f. eschatologische Wachsamkeit ein (vgl. Mt 24,42; 25,13; s. a. Münch 2004, 224 f., der in der Komposition Mt 24,42-25,30 ein Komplexer-Werden der Erwartung konstatiert; s. a. Theißen/Merz 2003, 252, die die in der Motivik eintretenden Verschiebungen dem Verzögerungsgedanken zuordnen). Dies wird durch die Einfügungen von »so wäre er wach geblieben« (¥grhgrhsen ˝n egre¯gore¯sen an) in 24,43 deutlich unterstrichen. Lukas: Bei Lukas findet in Lk 12,39 f. anstatt der eher jüdischen Bezeichnung »Nachtwache«, die wir bei Q und Matthäus als Zeitangabe für das Eintreffen des Diebes finden, die »Stunde« Verwendung; allerdings scheint dies sprachliche Variation gegenüber Lk 12,38 zu sein, wo ebenfalls die Nachtwache das Eintreffen des Herrn (12,36; dort im Bild) kennzeichnet (z. B. Fleddermann 2005, 624). Durch das Voranstellen der Parabel über die »wachenden Knechte« (Lk 12,35-38) aus dem lukanischen Sondergut werden beide Texte verschmolzen und der Gedanke der steten Bereitschaft verschärft. Mit Metaphern der Umgürtung und den brennenden Lampen (12,35) wird auch die Wachsamkeit der fleißigen Hausfrau des Sprüchebuches (Spr 31,17 f.) umschrieben. Thomas: EvThom 21,5 enthält eine weitgehend parallele Parabel (EvThom 103 ist verwandt, entwickelt aber als Seligpreisung eine eigenständige Form), so dass sich die Frage nach der Wirkung oder Seitenüberlieferung neu stellt: EvThom 21,5: Darum sage ich: Wenn der Herr des Hauses weiß, dass der Dieb kommen wird, wird er wachen, bevor er kommt; (und) er wird ihn nicht eindringen lassen in das Haus seines Königreiches, um seine Dinge mitzunehmen. (Übers.: Blatz 6 1990, 102). Nach der Eingangsformel »darum sage ich« folgt die Parabel vom »Dieb in der Nacht« mit einem hohen Maß an sprachlich-grammatikalischer Konvergenz einschließlich des den Hausherrn betreffenden matthäischen Interpretationszusatzes »er würde wach bleiben« (vgl. die Textpräsentation bei Fieger 1991, 95). Dies spricht trotz der Spezifizierung des Hauses als das »seines Königreiches« für direkten Einfluss durch Mt 24,43. In der Anwendung auf die Wachsamkeit in EvThom 21,6-8 finden sich dann allerdings Abweichungen. Als Ort des Wachens ist die Welt, die durch Räuber repräsentiert wird, angegeben. Die Welt ist der Ort, an dem der Leser/die Leserin des Thomasevangeliums die gewonnene Erkenntnis zu bewahren hat. Die folgende Aufforderung, die Lenden gegen die Räuber zu gürten, erinnert an die militärische Metapher aus der lukanischen Kompositionssequenz (Lk 12,35). Da auch der »Hausrat« aus synoptischen Parallelen bekannt ist (Mk 3,27: tÞ skeÐh ta skeue¯; zum Reich vgl. Mk 3,24 f.), stellt sich die Frage, ob eine komplexe literarische Kompilation (Fieger 1991, 95 f.) oder auch in diesem Fall sekundäre Mündlichkeit wahrscheinlich ist, in der die Parabel von frühchristlicher Tradition abhängig oder frei von den Synoptikern erweitert wurde. EvThom 21,5-8 gehört auch 159

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Parabeln in der Logienquelle Q

aufgrund seiner komplexeren Struktur und klareren Aufforderung zur Wachsamkeit in die Wirkungsgeschichte der Parabel vom Dieb in der Nacht hinein (gegen McLean 1995, 338), wobei auch die Intratextualität innerhalb des Thomasevangeliums als gestaltende Größe Beachtung finden muss. Die Referenz auf das Reich nimmt Bezug auf EvThom 20,2-4 (DeConick 2006b, 110). Das ausgesäte und erwachsene Reich, also die gewonnene innere Erkenntnis, ist zu verteidigen und gegenüber der Welt und den ihr zuzurechnenden Räubern zu bewahren. Es geht also um Abgrenzung gegen die Welt. Die erreichte Komposition ist deutlicher durch den Gedanken der aktiven Abwehr (Metapher des Gürtens) und der Wachsamkeit geprägt. Die Interpretation »Haus seines Königreiches« erinnert an die synoptische Jesusbotschaft, ist aber im Rahmen des Thomasevangeliums zu verstehen; es geht um das Bewahren der gewonnenen Gnosis. Der eschatologische Bezug, der immer noch eine Bewährung der religiösen Verantwortung in der Welt einschließt, ist innerweltlicher Ausrichtung gewichen und unterstreicht so den esoterischen Charakter der thomeischen Sinnbildung. Die weitere Wirkungsgeschichte der Parabel bedenkt einerseits das Kommen des Menschensohnes als Ereignis im Leben der Christen (z. B. bei Tod des / der Einzelnen). Andererseits reizt der Dieb als Antiheld zu allegorischer Interpretation, die eine konkrete Identifizierung dieser Gestalt beispielsweise als Teufel andenkt (Belege zur Wirkungsgeschichte bei Luz 1997, 457).

Michael Labahn Literatur zum Weiterlesen: C. Böttrich, Das Gleichnis vom Dieb in der Nacht. Parusieerwartung und Paränese, in: ders. (Hg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum. FS G. Haufe, Greifswalder theologische Forschungen 11, Frankfurt am Main 2006, 31-57. J. S. Kloppenborg, The Parable of the Burglar in Q: Insights from Papyrology, in: D. T. Roth/ R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q. FS D. Zeller, WUNT 315, Tübingen 2014, 287-306. T. Schramm/K. Löwenstein, Der Meisterdieb (Q 12,39), in: dies., Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen 1986, 50-53.

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Es ist stets höchste Zeit (Vom treuen und untreuen Haushalter) Q 12,42-46 (Mt 24,45-51 / Lk 12,42-46) (42) Wer also ist der treue und kluge Sklave, den der Herr über seine Dienerschaft eingesetzt hat, damit er ihnen zur rechten Zeit ihre Speise gebe? (43) Glücklich ist jener Sklave, den sein Herr bei seinem Kommen genau so handelnd finden wird. (44) (Wahrhaftig), ich sage euch: Er wird ihn über seinen ganzen Besitz einsetzen! (45) Wenn aber jener Sklave in seinem Herzen sagt: »Zeit lässt sich mein Herr«, und beginnt, (seine Mitsklavinnen und -sklaven) zu schlagen, und isst und trinkt (mit den) Betrunken(en), (46) wird der Herr jenes Sklaven kommen an einem Tag, an dem er ihn nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und er wird ihn mitten entzweischneiden und ihm seinen Platz bei den Untreuen geben.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) In einer Rede, deren Sprecher im Kontext von Q Jesus ist, entwickelt sich auf ungewöhnliche Weise aus einer Frage eine Zukunftsansage und eine prospektive Erzählung. Die Rede hat zwei formal sehr disparate Teile (V. 42-44 / V. 45-46). Der erste Teil V. 42-45 besteht aus drei verschiedenartigen Sätzen, durch das Verb »einsetzen« (kaqist€nai kathistanai) in wechselndem Tempus (»hat eingesetzt«, Aorist – »wird einsetzen«, Futur) inkludiert. Eine unadressierte Frage danach, auf wen die folgende Aufgabenbeschreibung zutrifft (V. 42), wird vom Sprecher nicht beantwortet. Es folgt in V. 43 der Makarismus (Seligpreisung) eines Sklaven, der eine solche Aufgabe richtig ausführt. Ihm wird in V. 44 eine Belohnung durch seinen Herrn prophezeit. Dieser Satz ist durch eine metasprachliche Anrede (»ich sage euch«) eingeleitet und besonders herausgehoben. (Ob auch das betonende ⁄mffin [ame¯n – wahrhaftig] im Text von Q stand, das die Zuverlässigkeit des Gesagten bekräftigt, bleibt unsicher.) In diesem Teil steht die Perspektive und das Handeln des Herren (kÐrio@ kyrios) im Vordergrund, während das Tun des Sklaven meist nur partizipial bzw. in Infinitiven sichtbar wird. Der zweite Teil V. 45-46 besteht aus einem Bedingungssatzgefüge, das einen in der Zukunft möglichen Fall schildert (Eventualis, Futur im bedingten Satz). Im bedingenden Satz V. 45 ist der »Sklave« Subjekt, im bedingten Satz V. 46 jedoch wieder der Besitzer des Sklaven. Eventuell erklärt sich die formale Uneinheitlichkeit aus einer vorausgehenden aramäischen Vorlage, in der die Eingangsfrage eigentlich ein erster Konditionalsatz war 161

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Parabeln in der Logienquelle Q

(so Beyer 1962, 287-293). In der vorliegenden Form gewinnt der Text jedoch anredende Lebendigkeit. Durchgängiges Thema beider Teile ist die Beziehung zwischen einem Herrn und seinem von ihm beauftragten Sklaven, genauer, dass der Besitzer des Sklaven diesen bei seinem Kommen je nach Auftragserfüllung belohnt bzw. bestraft. Der ganze Text ist gerahmt durch eine antithetische Inklusion (pist@ [pistos – treu, V. 42] – ˝pistoi [apistoi – untreu, ungläubig, V. 46]), die den Kontrast unterstreicht zwischen dem treuen, klugen Sklaven, der seiner Aufgabe entspricht, und den Untreuen, zu denen der eigenmächtig handelnde Sklave verbannt wird. Betont wird der Kontrast durch die inhaltliche Parallelität beider Teile (s. Bovon 1996, 321). Interessanterweise werden in den beiden Teilen nicht zwei Sklaven gegenübergestellt, sondern es ist von einem einzigen die Rede. Das macht das Pronomen »jener« (¥ke…no@ ekeinos V. 43.45.46) deutlich, das zugleich den so Bezeichneten in einer gewissen Distanz zum Betrachter, zur Hörerin stellt (s. Blass/Debrunner/Rehkopf 18 2001, § 291). Man kann sich das zweiteilige Geschehen als einen Verlauf vorstellen, also als Erzählung vom Aufstieg (Teil 1) und Fall (Teil 2) eines Sklaven, der zunächst erwartungsgemäß handelt, sich dann jedoch »verkalkuliert« (so Bovon 1996, 336 in Bezug auf Lk 12,42-46). Es fehlen jedoch Hinweise wie Zeitangaben, die ein Nacheinander entwerfen, und man gewinnt den Eindruck, dass »jener Sklave« auch im zweiten Teil den in V. 42b zitierten Auftrag hat. Daher liegt es näher, V. 43 f. und V. 45 f. alternativ zu verstehen: In einer Person werden zwei Handlungsmöglichkeiten und die jeweiligen Folgen dieses Handelns verdeutlicht. Die Rede hat keinen einheitlichen narrativen Stil, sondern entwickelt sich aus einer Frage und dem »Bild« von einem gesuchten Sklaven zu einer bewegten Szene. So entsteht eine Erzählung mit doppeltem plot, der am Geschick einer Person verdeutlicht wird. Beide Handlungsstränge sind verbunden durch die Figurenkonstellation Herr und Sklave, neben die als dritte Größe die weiteren Haushaltsmitarbeiter treten, allerdings nur in der Rolle von Statisten, Objekten. Die Darstellung beschränkt sich auf das Notwendigste, so dass das Gesagte in den Vordergrund tritt. Z. B. wird nicht erzählt, dass der Herr fortgeht, sondern nur, dass er wiederkommt zu einem bestimmten, aber nicht bekannten Zeitpunkt. Durch Ausmalung, Adjektive, bedeutungstragende Verben werden dabei Aspekte gewichtet: Im ersten Teil ist vor allem der Sklavenhalter handelndes Subjekt. Er gibt den Auftrag, er kommt, er setzt den gehorsamen Sklaven über seinen Besitz. Bemerkenswert ist der Auftrag: Der Herr stellt den Sklaven über die anderen Mitglieder des Haushalts, aber konkretisiert wird diese Stellung nicht etwa in Befehlsgewalt, sondern nur in einer Fürsorgefunktion. Diese Aufgabe ist bedeutsam, erinnert doch die Formulierung, »ihnen ihre Speise zur rechten Zeit zu geben«, an das biblische Lob Gottes als desjenigen, der dies tut (Ps 104,27). Der Sklave selbst wird jedoch nicht durch sein Handeln porträtiert, sondern durch Adjektive als »treu« (eine höchst wünschenswerte Eigenschaft eines Sklaven aus der Sicht des Besitzers, s. u.), »klug« und dann »glücklich«. Dass er seine Aufgabe erfüllt, entnehmen wir nur indirekt der kurzen Notiz (nur ein Partizip in einem Nebensatz), der Herr finde ihn auftragsgemäß handelnd (V. 43b). Die Erfüllung der Aufgabe scheint kein Problem, eine Motivation dazu unnötig. Umso betonter ist dann der Schluss, dass der Herr diesen Sklaven über seinen ganzen Besitz stellen wird (V. 44) wie einst der Pharao den Josef (es klingen Gen 39,4; Ps 105,21 an; vgl. A. Weiser 1971, 184 f. zu den Parallelen), ihm also die höchste Verantwortung überträgt. 162

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Im zweiten Teil wird zunächst die Perspektive des Sklaven eingenommen. Hier finden wir die einzige direkte Rede, ein Selbstgespräch des Sklaven, das uns seine Innensicht, sein Motiv vermittelt: Er meint, sein Besitzer lasse sich Zeit. Wie er diese Annahme interpretiert, ersehen wir aus seinem Handeln: Er vernachlässigt nicht nur die ihm aufgetragene Fürsorge, sondern schlägt die ihm Anvertrauten, er gibt nicht den anderen zu essen, sondern isst und trinkt nur selbst. (Die Rekonstruktion des Q-Textes von V. 45b ist unsicher, der Sinn aber klar.) Er verhält sich wegen des vermeintlichen Ausbleibens seines Herrn nicht wie der Sklave, sondern selbst wie ein Herr. Indem die Erzählung in V. 45a.b die Perspektive des Sklaven einnimmt, stellt sie die Lesenden vor die Frage, ob der Sklave seine Zeit richtig einschätzt. Er irrt – dies macht gleich das erste Wort von V. 46 deutlich. Das Kommen des Herrn ist nicht mehr partizipial angesprochen wie in V. 43b, sondern durch invertierte Wortstellung betontes Prädikat des bedingten Satzes. Es wird damit also als Folge des Verhaltens des Sklaven dargestellt. Es scheint, dass der Herr eben wegen der falschen Zeiteinschätzung und des Fehlverhaltens jenes Sklaven kommt. Hat er davon gewusst? Die beiden Zeitbestimmungen des Kommens V. 46b.c fallen in dem ansonsten formal uneinheitlichen Text durch ihre Parallelität auf. Sie stellen freilich nicht den Zeitpunkt des Kommens heraus, sondern dass der Sklave diesen Zeitpunkt nicht kannte noch erwartete. Schließlich ist die Reaktion des Herrn betont (V. 46d.e), nicht nur durch die chiastische Platzierung der Prädikate an Tonstellen, sondern auch durch die Wahl der Verben. Das im NT einmalige dicotome…n (dichotomein – zweiteilen) beschreibt eine äußerst brutale Tötungsart (so brutal, dass der Text in der Auslegungsgeschichte gern durch Rückführung auf andere Ausdrücke entschärft wurde, vgl. Jülicher II 2 1910, 152 f.; Luz 1997, 463 f.), erinnert jedoch an Gottes Strafandrohung Jer 34,18-20 (mit Friedrichsen 2001; vgl. auch Eckey 2004b, 604 für biblische und außerbiblische Berichte von derartigen Exekutionen). Tun und Ergehen entsprechen sich nicht nach dem Talionsprinzip, sondern die Strafe für den Sklaven, der seine Aufgabe pervertiert, ist wesentlich härter als das Vergehen, die Folge irreversibel. Hier, auf dem negativen Ausgang, liegt das Achtergewicht des Textes. »Der zweite Teil … läßt die Erzählung aus der Normalität in den Skandal und dann ins Drama kippen« (Bovon 1996, 335). Bislang unerwähnt blieb der durch die Darstellung entworfene Realitätsbezug. Da hier ein Sklave mit zwei Handlungsmöglichkeiten geschildert wird, ist klar, dass es nicht um rückblickende Realitätsabbildung geht, sondern um Möglichkeiten. Die reduzierende Benennung der handelnden Personen lässt nur deren jeweilige Rolle und gegenseitige Beziehung innerhalb eines Haushalts sichtbar werden. Dies und die syntaktische Struktur (die Frage V. 42 und der Konditionalsatz V. 45-46) verdeutlichen, dass nicht von einer geschichtlich-einmaligen Situation und individuellen Persönlichkeiten erzählt wird. Wichtig ist die Relation von Besitzer und Sklave, der Kontrast zwischen den beiden Möglichkeiten der Reaktion auf einen Auftrag sowie die Belohnung bzw. Bestrafung. Und besonders wichtig ist die »rechte Zeit« (vgl. die Sinnlinie »zur rechten Zeit« V. 42, »sich Zeit lassen« V. 45, »Tag erwarten«, »Stunde kennen« V. 46). Die Erzählung lässt offen, welche Dauer die Ereignisse einnehmen, aber sie betont, dass es für die Erfüllung der Aufgabe einen Zeitraum gibt, der durch das (Wieder-)Kommen des Herrn terminiert ist und den der Sklave nicht kennt. Auf das Thema der begrenzten Zeit weist auch das ungewöhnliche Erzähltempus. Abgesehen von V. 42 sind alle Prädikate der Hauptsätze, die den Zeitbezug der Erzählung 163

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Parabeln in der Logienquelle Q

angeben, sowie einiger Nebensätze im Futur. Vom Standpunkt der Erzählstimme aus gegenwärtig ist die Frage, wer ein treuer Sklave ist (V. 42a Präsens), vorzeitig die Beauftragung des Sklaven (V. 42b Aorist). Das in dem »Wenn-Satz« V. 45 beschriebene Tun »jenes Sklaven« wird auf der Zeitachse nicht datiert. In der Zukunft liegen jedenfalls das Kommen des Herrn und seine Reaktion. Dass wir eine Erzählung von der Zukunft, eine zukunftsgewisse Vorausdeutung (Martinez/Scheffel 7 2007, 36 f.) vernehmen, also Prophetie, wird auch unterstrichen durch die religiöse Autorität insinuierende Formel V. 44a (vgl. Berger 1984, 54). So konvergiert die Zeit der Erzählung mit der erzählten Zeit in ihrem chronologischen Standpunkt: Wir Lesenden befinden uns mit dem Sklaven zwischen dessen Beauftragung und dem Kommen des Herrn zur Rechenschaftsabnahme und ahnen ebenso wie dieser nicht, wann der Herr kommt. Allerdings wissen wir durch den allwissenden Erzähler, dass der Herr gerade dann kommt, wenn es der Sklave nicht erwartet, und dass die Strafe furchtbar sein wird. Mit dieser Analyse haben wir bereits die Transfersignale benannt, die provozieren, die Erzählung nicht als Instruktion über das rechte Verhalten von Sklaven im Haushalt oder über Evaluationsmethoden eines Sklavenbesitzers zu lesen, sondern als Parabel von Gott und Mensch: Die fehlende Individualität des Geschehens und der Standpunkt der Erzählung mit dem Blick auf das zukünftige Kommen des Besitzers sowie die Eingangsfrage fordern zur Verortung in der Erzählung, und zwar auf Seiten des Sklaven. Hier wirkt die Polyvalenz des Begriffs kÐrio@ kyrios, der den menschlichen Sklavenbesitzer bezeichnet (vgl. Kol 3,22), aber im griechischen AT Übersetzung des Gottesnamens ist und sich früh als Hoheitstitel für Jesus, insbesondere für den Erhöhten einbürgert (vgl. Phil 2,11; s. Fitzmyer 1992). Überdies ist V. 46d als Anspielung auf Gottes richtendes Handeln zu hören. So öffnet die Parabel die Assoziation zur eschatologischen Deutung des »kommenden Herrn« auf Gott bzw. Jesus. Die Rede von »Tag und Stunde« ist in Mk 13,32; Mt 25,13 wie bereits in Dan 12,13 (LXX) auf das Eschaton bezogen. Schließlich scheint die Welt der Parabel in V. 46e schon verlassen, denn die zweite Strafe passt nicht recht, nachdem der Sklave bereits zerschlagen ist. Und das Adjektiv ˝pisto@ apistos V. 46e bedeutet »untreu« in Opposition zu pist@ (pistos – treu) in V. 42, aber auch »ungläubig«. Dass dem untreuen Sklaven ein Platz bei den Ungläubigen zukommen wird, lässt an ein göttliches Urteil denken. All dies lädt ein, hier eine Erzählung von dem Kommen Gottes bzw. Jesu zur Rechenschaftsabnahme zu lesen. Bekannte Bildfelder (s. u.) werden so zu einem Appell aktualisiert. Als weitere pragmatische Signale unterstützen dies die Adressierung in V. 44 sowie insbesondere die Eingangsfrage, die zu beantworten bleibt: Wer ist eine treue Sklavin, ein kluger Sklave, wer ist glücklich? Auch dadurch, dass von den Handlungsoptionen einer Person, »jenes Sklaven« erzählt wird, fordert die parabolische Rede, das eigene Handeln zu überdenken.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Als Bildspendebereich fungiert der antike Haushalt, konkret die Relation zwischen einem Sklaven und seinem Besitzer. Das griechische Wort do‰lo@ doulos bezeichnet meist den »Sklaven« im Sinne des Unfreien, der Eigentum der Herrin bzw. des Herrn ist (s. A. Weiser 1992). Eine solche Relation spiegelt der Text: Der Besitzer darf unbedingten Gehor164

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sam fordern, belohnt nicht mittels Geld, sondern Statuserhöhung und beansprucht zur Strafe das Tötungsrecht. Die Parabel handelt nur von Männern und blendet damit aus, dass die Sklaverei auch Frauen betraf, als Sklavinnen wie Besitzerinnen. Sklaverei war in der antiken Welt zeitlich und räumlich unterschiedlich verbreitet, doch eine Selbstverständlichkeit und wurde auch vom frühen Christentum nicht nachhaltig problematisiert. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass antike Sklaverei permanente Entrechtung und soziale und physische Gewalt bedeutete (vgl. Horsley 1998, 19-32 zu Verharmlosungen in der Exegese). Auch unsere Parabel stellt die Gehorsamspflicht des Sklaven nicht in Frage, sondern setzt sie mit aller Schärfe voraus. Die lateinische Literatur zum Thema zeigt, dass Treue (lat. fides) und Gehorsam der SklavInnen eminent wichtig waren, damit das System »funktionierte«, aber offenbar nicht selbstverständlich (vgl. Bradley 1984, 33-37). Die Erzählwelt der Parabel entspricht also der Ideologie und den sozialen Alltagsrealitäten im Römischen Reich, ohne dass ein bestimmtes Lokalkolorit erkennbar wäre (vgl. überblicksweise Horsley 1998, 36-58 [Lit.!]; E. Stegemann/W. Stegemann 2 1997, 86-88; und einschlägig Bradley 1984). Was es bedeutete, als Sklavin oder Sklave in einem Haushalt zu leben, war jedoch im Einzelnen ganz unterschiedlich, abhängig von Vermögen und Güte des Herrn bzw. der Herrin und von der jeweiligen Aufgabe. SklavInnen waren Eigentum ihres Besitzers und in dessen Verfügungsgewalt, was körperliche und sexuelle Ausbeutung einschloss, jedoch versorgt und standen sich darin z. T. besser als freie, mittellose Menschen. Städtische SklavInnen hatten auch eine weniger strapaziöse Arbeit zu verrichten als etwa unabhängige Kleinbauern; sie konnten auf Bürgerrecht durch Freilassung hoffen (vgl. Bradley 1984, 15-17; E. Stegemann/W. Stegemann 2 1997, 86 f.). Der vorliegende Text lässt die konkreten Lebensumstände offen, nennt aber Details im Blick auf die Stellung des Sklaven gegenüber seinem Besitzer und gegenüber den anderen SklavInnen. Wie die Erzählung voraussetzt, gab es in größeren Haushalten, vor allem in Landgütern, Hierarchien unter den SklavInnen und Freigelassenen. So konnte ein Sklave als vilicus (Verwalter) mit großen Kompetenzen agieren, u. a. die Oberaufsicht über die anderen SklavInnen innehaben und deren Essen zuteilen. Die Nahrungsversorgung konnte auch einer diesem unterstellten vilica (Verwalterin) obliegen (vgl. Rathbone 2002). Auch konnte, wie in V. 46 erwähnt, ein Sklave Verwalter des gesamten Besitzes sein (o§konmo@ oikonomos, lat. u. a. dispensator, s. Schiemann 1997). Ein Sklave wurde durch Belohnung bzw. Strafandrohung zur notwendigen Loyalität motiviert (Bradley 1984, 39 f.). Selbstverständlich zog der Sklavenbesitzer den Sklaven zur Rechenschaft, und es scheint eine verbreitete Erfahrung gewesen zu sein, dass ein Sklave seine Arbeit schlecht tut, wenn der Herr aus dem Haus ist. So jedenfalls meint Columella, Verfasser eines landwirtschaftlichen Ratgebers im 1. Jh. n. Chr., dass die auf dem Lande beschäftigten SklavInnen wegen der Abwesenheit ihres Besitzers korrupt werden (Colum. 1,1,20), und rät dazu, häufiges Erscheinen anzukündigen, damit der vilicus und seine Familie aus Furcht davor stets fleißig sind (1,2,1). Dass SklavInnen körperliche Bestrafung von ihren Besitzern in »Selbstjustiz« zu ertragen hatten, die in keinem Verhältnis zu ihrem Vergehen standen, war selbstverständlich (Bradley 1984, 118 ff.), und ein Herr konnte dafür sogar professionelle Dienste in Anspruch nehmen (Bradley a. a. O., 122). Der Herr hat das Recht, seinen Sklaven für ein 165

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Vergehen zu töten (vgl. Bradley a. a. O., 126 ff.); nach Ex 21,20 war die Tötung jedoch nicht erlaubt (vgl. Billerbeck IV/2 2 1928b, 737-739 zur rabbinischen Diskussion der Stelle).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Die o. g. Signale zum metaphorischen Transfer führen zu einem vertrauten Bildfeld, das die Relation des Menschen zu Gott/Christus mit der Relation eines Sklaven oder einer Sklavin zu seinem bzw. ihrem Besitzer beschreibt. Diese im Kern duale Beziehungsmetapher findet sich vielfältig im Judentum (vgl. A. Weiser 1971, 28-41 zur jüdischen Tradition) wie im NT (Apg 20,19; Röm 12,11; Gal 4,8 u. ö.; vgl. den Überblick bei Combes 1998, 68-94; zu Paulus Byron 2003), aber selten in der nichtjüdischen Umwelt (vgl. Combes 1998, 44-48). Dies erklärt sich mit der negativen Konnotation des SklavInnenstatus. Die Basis-Metapher kann statisch oder dynamisch umgesetzt werden, auch wenn die Rollenverteilung feststeht: Der Mensch steht auf der Seite des Sklaven, der Sklavin. Ich skizziere verschiedene Verwendungsweisen, um die Aktualisierung und Abwandlung in der vorliegenden Parabel zu verdeutlichen. Statisch wird das Bildfeld gebraucht in der Rede von einzelnen Menschen als Sklave/Sklavin Gottes bzw. Christi. Im AT werden Israel (Lev 25,55) oder einzelne herausgehobene Menschen wie Abraham (Ps 105,42) oder David (2Sam 7,5; 1Kön 11,13 u. ö.) so bezeichnet. Auch der Betende (Ps 116,18; 119,76.84; 2 Makk 8,29; Lk 2,29 u. ö.), die Betende (1Sam 1,11; Lk 1,48) nennt sich Sklave bzw. Sklavin Gottes. Speziell Propheten werden im AT (Am 3,7; 1Kön 18,36 u. ö.) wie NT (Apk 10,7; 11,18; 19,10 u. ö.) »Sklaven Gottes« genannt. Im Neuen Testament finden wir die Christianisierung der Metapher »Sklave Christi« als Selbstbezeichnung im Munde des Paulus (Röm 1,1; Phil 1,1; Gal 1,10; s. Gerber 2005b, 142-150) und als Selbstvorstellung der Briefschreiber, die keinen Apostolat beanspruchen können (Jak 1,1; Jud 1). Christliche Funktionsträger werden in Apg 4,29; 16,17; Kol 4,12; 2Tim 2,24 als Sklave Christi bezeichnet, aber auch alle ChristInnen überhaupt (Eph 6,6; 2Petr 2,16; Apk 1,1; 7,3). Die Metapher verdeutlicht unbedingte Loyalität, das Wissen, in Dienst genommen zu sein von Gott bzw. Christus. Sie beschreibt die duale Beziehung mit Gott, nicht die Überordnung über andere und ist damit (noch) nicht stehende Metapher für christliche Funktionsträger (s. u.). Wenn sich der Mensch auf diese Weise demütig vor Gott zeigt, so kann er doch zugleich Reputation als Sklave eines Hochstehenden beanspruchen (D. B. Martin 1990, 51-60; vgl. allerdings präzisierend dazu Byron 2003, 10-12). Die Sklavenrelation zu Gott kann aber auch in Gal 4,1-7 im Rahmen von Familienmetaphorik die Gottesbeziehung »zweiter Klasse« beschreiben. Eine solche auf den Aspekt der Unfreiheit und fehlenden Erbberechtigung anspielende Implikation ist in den ntl. Parabeln nicht aktualisiert. Narrativ entfaltet begegnet die Basis-Metapher nicht im AT und auch in jüdischer Literatur erst in nachneutestamentlicher Zeit, aber wiederholt in den synoptischen Evangelien in den sog. Knechtsgleichnissen. Es sind Parabeln, in denen das Autoritätsgefälle zwischen einem Herrn und seinem Sklaven und das absolute Recht zur Verfügung des Besitzers über den Sklaven zentral sind (vgl. insgesamt A. Weiser 1971; Crossan 1974 mit unterschiedlicher Definition und Beschreibung der Gruppe). Diese Texte fokussieren 166

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jedoch Unterschiedliches, etwa die Frage der üblichen Belohnung für angemessene Arbeit (Lk 17,7-10 und anders Mt 20,1-16) oder wie ein entschuldeter Schuldner seine eigenen Schuldiger behandelt (Mt 18,23-35). Der vorliegenden Parabel verwandter sind die von den wachenden SklavInnen (Lk 12,35-38; Mk 13,33-37) und von den anvertrauten Geldern (Q 19,12 f.15-24.26). Es werden hier jeweils gute und schlechte Taten entsprechend der üblichen Erwartung entlohnt (so Crossan 1974, 20-26.38 f.). Vor allem aber steht im Zentrum dieser Parabeln die ungewisse Zeitspanne bis zum Kommen des Herrn. Hier verschränkt sich das traditionelle Bildfeld »Menschen als Sklave Gottes resp. Christus als kÐrio@ kyrios« wie in anderen »Parusie-Parabeln« (Lk 12,35-38.39 f.; Mk 13,33-37 u. a., vgl. G. Schneider 1975, 15-20) mit dem Motiv der Erwartung der Wiederkunft Jesu, die schon in sehr alten Formulierungen als Kommen des kÐrio@ kyrios bezeichnet wird (s. 1Kor 16,22 [aramäisch]; Apk 22,20; vgl. 1Kor 11,26). Dieses Motiv vom Kommen des Herrn in der Parabel könnte auch die atl. Erwartung vom Kommen Gottes aufnehmen (vgl. Ps 96,13; Am 5,17 etc.), doch wird diese in der atl. Tradition sehr anders ausgemalt und nicht mit der Herr-Sklave-Motivik verschränkt (mit A. Weiser 1971, 154 f.). Anders als etwa in der Parabel vom Türhüter Lk 12,35-38 besteht in Q 12,42-46 das Ziel nicht im Wachbleiben bis zum Kommen des Herrn, sondern in der »treue(n) Erfüllung einer übertragenen Aufgabe während der Abwesenheit des Herrn« (A. Weiser 1971, 179, Hervorhebung dort), darin der Parabel »von den anvertrauten Geldern« (Q 19,12 ff.) vergleichbar. Das Vorgehen des schlechten Sklaven, die Abwesenheit oder Schwäche seines Herrn auszunutzen, begegnet auch in anderen Erzählungen (s. A. Weiser 1971, 194-196), aber die Schilderung verdankt sich wohl eher Alltagserfahrungen. Eigentümlich im Ensemble der sog. »Knechtsgleichnisse« ist die hierarchische Position des Sklaven. Eine solche Ausgestaltung der Haushalt-Gottes-Metaphorik mag anknüpfen an die o. g. Bezeichnung von Einzelnen als »Sklave Gottes« bzw. »Christi«, insofern diese eine besondere Würdestellung vor Gott und Indienstnahme durch Gott impliziert. Die hierarchische Entfaltung der Metapher begegnet sonst in ekklesiologischen Zusammenhängen. Paulus stellt sich und andere Missionare als »Diener und Verwalter der Geheimnisse Gottes« vor, um seine Vermittlerrolle für die Gemeinde in Korinth zu beschreiben, und betont wie Q 12,42 die Treue (1Kor 4,1 f., vgl. 9,17; s. Gerber 2005b, 392). In 2Tim 2,24 wird der Gemeindeleiter Sklave des Herrn genannt, in Tit 1,7 der Episkop Verwalter des Hauses Gottes (als o§konmo@ oikonomos; vgl. Lk 12,42!). In der Alten Kirche verbreitet sich die Bezeichnung von Klerikern als Sklaven Gottes (Combes 1998, 100 f.). Auch unsere Parabel wird, wohl im Gefolge der Parabeleinleitung in Lk 12,41, als Mahnung an kirchliche Führungspersonen gelesen (s. u.).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Besonderheit der Struktur und des Zeitbezugs laden ein, die Jesusrede als parabolische Erzählung zu lesen. Sie zeigt den Menschen in der ihm gegebenen Zeit und mit seinen Möglichkeiten: Im Zeitraum zwischen seiner Beauftragung durch den Herrn und dessen Kommen zur Rechenschaftsabnahme hat er die Möglichkeit, seinem Auftrag zu folgen oder ihn in falscher Einschätzung der ihm geschenkten Zeit zu missachten. Die Evaluation des Auftrags ist gewiss, und sie richtet sich nach der Ausführung des Auftrags. 167

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Parabeln in der Logienquelle Q

Im Kontext von Q ist die Parabel auf das Wiederkommen Jesu zum Gericht zu beziehen (vgl. Q 12,40), auch wenn sich die Parabel als »Gleichnis des historischen Jesus« nicht so deuten lässt (vgl. A. Weiser 1971, 154-160 zur Diskussion). Sie spricht unmissverständlich von einem Gericht nach Werken; ihr Gewicht legt sie gerade darauf, die Gewissheit und Strenge der Strafe im Falle der »negativen Evaluation« einzuschärfen. Es geht ihr jedoch nicht einfach um dieses Gericht, sondern darum, den Spielraum des Menschen vor dem »Kommen des Herrn« zu verdeutlichen. Der Sklave, dessen doppelte Handlungsoption erzählt wird, hat Freiheiten, zeitlich wie in der Frage, wie er den Auftrag erfüllt – doch sein Spielraum ist ungeahnt begrenzt. Die Annahme, »das hat Zeit«, (V. 45) charakterisiert Menschen, die nachlassen im Ernst der Erwartung des zum Gericht Kommenden. Diese Erfahrung scheint bereits früh verbreitet gewesen zu sein. Daher wird diskutiert, dass das Gleichnis die sog. Parusieverzögerung thematisiert (so z. B. Gräßer 3 1977, 90-92; G. Schneider 1975, 27 f. im Blick auf Q; vgl. im Einzelnen auch A. Weiser 1971, 188 f.). Die Parabel kreist jedoch nicht um die Annahme, »der Herr« käme nicht wieder (vgl. 2Petr 3,2-4), und auch nicht um sein faktisches Ausbleiben, sondern um die Gefahr, die Zeit bis zur Rechenschaft falsch einzuschätzen und daher eigene Aufgaben zu vernachlässigen. So wird betont, dass der Herr in dem Moment kommt, in dem er nicht erwartet wird, und gerade dann, wenn der Sklave seine Aufgabe vernachlässigt und seine Verantwortung pervertiert. Soll die Parabel, da sie eine »Hierarchie« im Hause des Sklavenbesitzers voraussetzt, gerade jene ansprechen, die über andere Menschen Verantwortung tragen? Diese in der Wirkungsgeschichte greifbare Deutung (s. u.) wird analog auch in jüngeren Auslegungen vertreten: Die Hörer Jesu hätten bei den »Knechten« im Sinne der o. g. atl. Tradition an die »religiösen Führer ihrer Zeit«, namentlich die Schriftgelehrten denken müssen; ihnen habe der Weckruf Jesu gegolten (so Jeremias 11 1998, 55; vgl. zur Diskussion entsprechender Thesen weiter A. Weiser 1971, 207-211). Hier liegt jedoch m. E. eine Allegorisierung der Parabel vor. Die Überordnung über die anderen Mitglieder der Dienerschaft ist Teil des im Bildspender abgerufenen Systems, die Einsetzung über den Haushalt (V. 44) ist die im »lohnfreien« Sklavereisystem übliche Entgeltung erfolgreicher Arbeit. »Durch die Einsetzung in sein Amt soll nicht gezeigt werden, daß nun der Knecht dem Herrn in besonderer Weise und mehr als die übrigen verantwortlich ist« (A. Weiser 1971, 214). Nicht, an welcher Aufgabe der treue Sklave sich bewährt bzw. versagt, ist wesentlich für die Reaktion des Herrn, sondern ob er seine Aufgabe erfüllt. (Vgl. auch Luz 1997, 460 gegen diese Deutung.) Auch wenn die Parabel von sich aus kein Modell innerkirchlicher Hierarchie entwirft, so arbeitet sie in der Erzählwelt Herrschaftsverhältnisse geradezu affirmierend heraus. Hierarchie zwischen den Menschen erscheint als gottgewollt (V. 44b). Ihre extremste Form, die Sklaverei, die man als prolongierten sozialen Mord beschreiben kann (s. Horsley 1998, 1), scheint selbstverständliche Ordnung. Akzeptiert werden die Unfreiheit des Sklaven, sein unbedingter Gehorsam, das Recht des Herrn zur brutalen Bestrafung (vgl. Glancy 2000 in Bezug auf Mt). Zwar sieht L. Schottroff im Text qua Kontext des Evangeliums und vor dem Hintergrund der atl. Rede von SklavInnen Gottes eine implizite Kritik an der Sklaverei im Imperium Romanum (2005, 230-233), und nach Beavis schreiben die ntl. Sklavenparabeln den SklavInnen mehr Würde als gewöhnlich zu (1992, 53 f.). M. E. nimmt die Parabel das Sklavensystem unkritisch auf, und hierin ist ihr zu 168

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Es ist stets höchste Zeit Q 12,42-46

widersprechen aus der Überzeugung unverfügbarer Menschenrechte, insbesondere der Freiheit des/der Einzelnen. Dies lässt einerseits auf theoretischer Ebene zurückfragen, ob in der Wahl eines Bildspendebereichs dessen Bewertung impliziert ist. Werden derartige Beziehungen durch ihre »Gleichnisfähigkeit« aufgewertet? Andererseits scheint gerade für die Frage nach den Herrschaftsverhältnissen unter den Menschen ein Aspekt des bildspendenden Bereichs bedenkenswert. Die Aufgabe des Sklaven und seine Überordnung über andere Mitglieder des Haushaltes wird mit den Worten des Psalms als gewissermaßen Gott nachahmende Für-Sorge für die anderen »zur rechten Zeit« konkretisiert, sein Versagen als Selbstsorge und egoistische Perversion dieser Fürsorgeaufgabe, als Anmaßung der Herren-Rolle. So werden zwar nicht Herrschaftsbeziehungen an sich kritisiert, aber doch als mitmenschliche Verantwortung interpretiert. In der Parabel ist die Aufgabe des Menschen klar, ihre Erfüllung unproblematisch, offen ist nur die dafür zur Verfügung stehende Zeit. Eine solch reduzierte Komplexität möchte man sich heute auch wünschen. Um Fürsorge, um Gerechtigkeit für alle bemühtes Handeln stellt sich im globalen Kontext oft genug als einseitig heraus, als ungerecht oder gar nachteilig für die, denen es zugute kommen sollte. Umso drängender wird hingegen die Frage, wie viel Zeit uns überhaupt noch bleibt. Hier mag die Parabel in der Applikation den Blick schärfen für die Endlichkeit der Zeit und die irreversiblen Konsequenzen eines Handelns, das leichtfertig die Zeit überschätzt, die Verantwortung unterschätzt.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Im Matthäusevangelium finden wir die Parabel als mittleres dreier »Wachsamkeitsgleichnisse« (zwischen 24,42-44 »vom Dieb« und 25,1-13 »von den zehn jungen Frauen«) innerhalb der Rede vom Gericht (Kap. 24-25; vgl. Luz 1997, 402 f.; s. zur Q-Rezeption bei Mt auch März 2004). Im Gefälle der Lektüre ist also die Ungewissheit über den Zeitpunkt des Endes im Vordergrund (24,36-41 und besonders 24,44). Mt hat den Q-Text nur wenig pointiert. Statt von Ungläubigen Q 12,46 spricht er in 24,51a von »Heuchlerinnen und Heuchlern«. So bezeichnete er zuvor die Pharisäer und Schriftgelehrten (23,13-33), deren Los der Christ, der sich wie der schlechte Sklave verhält, also teilen wird. Auch durch die Anfügung des bereits mehrfach eingeschärften Hinweises, dass dort »Heulen und Zähneklappern« sein wird (25,51b), unterstreicht Mt, dass das höllische Gericht droht. Im Kontext des Lukas-Evangeliums (vielleicht schon in Q) ist die Parabel Lk 12,42-46 mit der vom Türhüter (Lk 12,35-38) und vom Dieb in der Nacht (Lk 12,39 f.) verbunden (zur Analyse s. März 1993, 189 f.; von Bendemann 2001, 263-265). So leitet zunächst der Appell zur Wachsamkeit die Lektüre (vgl. zu Lk 12,35-38). Doch durch die Rahmung V. 41.47 f. wird eine andere Valenz unserer Parabel entfaltet, denn hier antwortet Jesus mit ihr auf die Frage des Petrus 12,41, ob sich die Rede Lk 12,35-38 an »uns«, also die JüngerInnen (s. 12,1), oder an alle richte. Die nach der pluralischen Parabel 12,35-38 im Singular erzählte Parabel Lk 12,42-46 klingt dann so, dass Jesus sich mit ihr an diejenigen richtet, denen in der Kirche Verantwortung übertragen wird (Futur V. 42; vgl. bes. Hartin 1988, 380 f.). Die Rede ist auch nicht von einem »Sklaven«, son169

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Parabeln in der Logienquelle Q

dern wie in Lk 16,1-8 von einem »Verwalter« (als o§konmo@ oikonomos; das Vokabular deutet auch auf einen vornehmeren Haushalt, s. Luz 1997, 459). In diese Richtung weisen auch die Kommentierungen V. 47 f., die der Parabel ihre Unbedingtheit nehmen, indem sie verschieden scharfe Sanktionen der Nachlässigen unterscheiden und herausstellen. In der Kirche wurde die Parabel dann im Gefolge dieser Redaktion und des Bildfeldes (s. o.) auf die Amtsträger bezogen, vgl. Iren. haer. 4,26,5; Tert. Marc. 4,29,9. Auch wenn gerade Funktions- und AmtsträgerInnen sich von der Parabel davor warnen lassen sollten, sich selbst zu Herren aufzuschwingen, hat der Appell zu verantwortlichem Handeln im Wissen um die Wiederkunft Jesu doch auch allen anderen etwas zu sagen.

Christine Gerber Literatur zum Weiterlesen M. A. Beavis, Ancient Slavery as an Interpretative Context for the New Testament Servant Parables with Special Reference to the Unjust Steward (Luke 16:1-8), JBL 111 (1992), 37-54. C. L. Blomberg, Faithful and Unfaithful Servants (Lk 12:42-48; Mt 24:45-51), in: ders., Interpreting the Parables, Downers Grove 2 2012, 233-238. J. Botha, Iser’s wandering viewpoint: A reception-analytical reading of Lk 12:35-38, Neotest. 22 (1988), 253-268. K. Bradley, Slaves and masters in the Roman Empire. A Study in Social Control, Latomus 185, Brüssel 1984. W. Eckey, Das Lukasevangelium unter Berücksichtigung seiner Parallelen. Teilbd. 2 (Lk 11,124,53), Neukirchen-Vluyn 2004. J. A. Glancy, Slaves and Slavery in the Matthean Parables, JBL 119 (2000), 67-90. P. J. Hartin, Angst in the household: A deconstructive reading of the parable of the Supervising Servant (Lk 12:41-48), Neotest. 22 (1988), 373-390. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilbd. (Mt 18-25), EKK I/3, Zürich/Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 1997, 458-465. A. Weiser, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, StANT 29, München 1971, bes. 178-225.

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Wetterregeln (Von der Beurteilung der Zeit) Q 12,54-56 (Mt 16,2 f. / Lk 12,54-56 / EvThom 91) (54) Er aber sagte ihnen: »Wenn es Abend geworden ist, sagt ihr: ›Es gibt gutes Wetter, denn der Himmel ist feuerrot‹, (55) und am Morgen: ›Heute gibt es schlechtes Wetter, denn feuerrot ist der trübe Himmel.‹ (56) Das Aussehen des Himmels wisst ihr zu beurteilen, den Zeitpunkt aber könnt ihr nicht beurteilen?«

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Zeichenforderung der Pharisäer in Mt 16,1-4 liegt in der handschriftlichen Überlieferung in einer Langfassung und einer Kurzfassung vor. Die Langfassung entspricht dem gegenwärtigen Text des NT Graece, wobei allerdings V. 2b-3 in Klammern gesetzt sind. Dies liegt daran, dass der längere Text von jüngeren Handschriften bezeugt ist (darunter C, D, K, L, W, Q), der kürzere dagegen, der V. 2b und 3 auslässt, von älteren Handschriften (darunter a, B). Aus diesem Grund gehen viele Kommentare davon aus, dass es sich bei 16,2b-3 um einen späteren Einschub handelt. Ein solcher Einschub könnte von Lk 12,54-56 oder von einer ähnlichen Quelle angeregt worden sein. Bei dieser Annahme stellt sich aber ein Problem: Zum einen kennt Lk 12,54-56 den mt Rahmen nicht. Während bei Mt Pharisäer und Sadduzäer von Jesus ein Zeichen fordern, spricht Jesus nach Lk von sich aus zu der Menge. Vor allem aber bieten Mt und Lk unterschiedliche Wetterregeln: Mt 16,1-4 1 Und Pharisäer und Sadduzäer traten herzu, um ihn zu versuchen, und forderten ihn auf, ihnen ein Zeichen vom Himmel zu zeigen. 2a Er aber antwortete und sprach zu ihnen: 2b »Wenn es Abend wird, sagt ihr: ›Es wird ein schöner Tag, denn der Himmel ist rot.‹

Lk 12,54-56

54 Er sprach aber zu der Menge: »Wenn ihr eine Wolke im Westen aufsteigen seht, sagt ihr sogleich: ›Ein Platzregen kommt.‹ Und so geschieht es. 3 Und früh morgens: ›Heute gibt es Unwetter, 55 Und wenn (ihr seht, dass) der Südwind bläst, denn rot und trüb ist der Himmel.‹ sagt ihr: ›Es wird heiß.‹ Und so geschieht es. Das Aussehen des Himmels versteht ihr zu unter- 56 (Ihr) Heuchler, das Aussehen von Erde und scheiden, die Zeichen der Zeiten aber nicht? Himmel könnt ihr beurteilen; wie (kommt es, dass) ihr diese Zeit nicht beurteilen könnt?« 4 Ein böses und abtrünniges Geschlecht fordert ein Zeichen. Und ein Zeichen wird ihm nicht gegeben werden – außer dem Zeichen des Jona.« Und er ließ sie stehen und ging weg.

Beide Texte stimmen in drei Punkten überein: – Die angesprochenen Adressaten sind in der Lage, Wetterzeichen zu deuten.

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Parabeln in der Logienquelle Q

– Erstaunlicherweise sind sie jedoch nicht in der Lage oder willens, die »Zeichen der Zeit« zu deuten. – Dass die Angesprochenen die »Zeichen der Zeit« nicht deuten können oder wollen, wird negativ beurteilt (ein böses und abtrünniges Geschlecht bzw. ihr Heuchler). Trotz dieser übereinstimmenden Grundstruktur unterscheiden sich die Textfassungen bei Matthäus und Lukas deutlich voneinander. Matthäus formuliert die Beobachtung des Himmels als Antwort auf eine Zeichenforderung der Pharisäer und Sadduzäer. Nach Lukas spricht Jesus die Menge an, eine Zeichenforderung findet sich bei ihm an dieser Stelle nicht. Vor allem aber sind die angeführten Wetterzeichen ganz unterschiedlich formuliert. Während bei Lukas Wolken von Westen zuverlässig einen Platzregen ankündigen und Südwind Hitze bringt, findet sich bei Matthäus eine Deutung von Abend- und Morgenrot. Bei Lukas sind die Zeichen eindeutig, bei Matthäus kann der rote Himmel dagegen Verschiedenes bedeuten, je nachdem, ob man ihn am Abend oder am Morgen betrachtet. Deshalb spielen bei Matthäus »die Zeiten« eine größere Rolle als bei Lukas. Auf Grund der genannten Unterschiede zwischen den beiden Textfassungen ist zu fragen, ob Mt 16,3bf. und Lk 12,54-56 tatsächlich auf Q zurückgehen. Dies wird üblicherweise zurückhaltend bis negativ beurteilt (vgl. exemplarisch Wiefel 1998, 290; Hirunuma 1981). In die Textausgabe der Spruchquelle ist Q 12,54-56 aufgenommen, allerdings mit einer nur »schwachen Wahrscheinlichkeit« (Hoffmann / Heil 2002, 29.86 f.). Aufgrund der übereinstimmenden Grundstruktur beider Texte neige ich jedoch dazu, eine Q-Vorlage anzunehmen (vgl. Kloppenborg 1987a, 152). Wegen der stärkeren Einfügung in den Kontext bei Matthäus und der jeweils formulierten Wetterregeln selbst ist davon auszugehen, dass sie bei Lk zuverlässiger aufbewahrt ist als bei Mt (anders Hoffmann/Heil, die bis auf eine kleine Änderung am Schluss des Abschnitts die Matthäusfassung bieten, s. o.). Möglich ist aber, dass die Rede von »diesem bösen und abtrünnigen Geschlecht« (Mt 16,4) von Q beeinflusst ist (vgl. Q 7,31-35; 11,29-32.49-51). Der Wortlaut lässt sich angesichts der stark differierenden Wetterregeln jedoch nicht im Detail rekonstruieren.

Beide Texte weisen eine narrative Grundstruktur auf. Die Vorhersage des Wetters setzt Erfahrung voraus und deutet eine zeitliche und eine kognitive Differenz an. Eine kleine Wolke im Westen, die den Unkundigen in keiner Weise beunruhigt, ist für den, der das Wetter kennt, ein untrügliches Zeichen für baldigen Sturm. Jetzt ist die Wolke klein, jetzt ist der Himmel nur rot und trüb – aber bald wird das Unwetter hereinbrechen. Dennoch hat die Parabel zunächst nichts Bedrohliches an sich; schließlich wird den Adressaten eine solche Urteilskompetenz in Fragen der Wettervorhersage unterstellt. Wie das Wetter auch werden mag, sie wissen es im Voraus und können sich rechtzeitig darauf einstellen; ihre Aufmerksamkeit und Vorsicht schützt. Innerhalb des Bildes besteht für die Angesprochenen also kein Grund zur Besorgnis – wäre da nicht der irritierende Nachsatz, der ihre Urteilskompetenz in einem ganz anderen, aber offenbar nicht weniger elementaren Bereich in Frage stellt: die Beurteilung der Zeit.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Wetterzeichen (¥pishmasfflai, dioshme…ai oder auch shme…a – epise¯masiai, diose¯meiai, seme¯ia) geben Hinweise auf das zu erwartende Wetter der kommenden Tage (oder auch längerer Zeiträume). Wetterprognosen auf Grund solcher Zeichen werden bereits von 172

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Wetterregeln Q 12,54-56

den Babyloniern erstellt, aber erst bei den Griechen systematisiert. Nach Vergil (georg. I 438-456) ermöglichen die Zeichen der Sonne die zuverlässigsten Wetterprognosen: »Auch wenn kurz vor Aufgang der Sonne Strahlen bald hierhin, bald dorthin sich brechen durch dichtes Gewölk, oder wenn sich bleich Aurora erhebt vom safrangoldenen Lager, ach, dann schirmt nur schlecht die süßen Trauben das Weinlaub, allzu entsetzlich tanzt auf den Dächern prasselnd der Hagel. … Oft genug sehen wir ihr Antlitz bunt überflogen von mancherlei Farben: bläuliche kündigt Regen uns an und feurigen Ostwind. Mischen sich aber Flecken allmählich dem rötlichen Feuer, alles siehst du alsdann von Sturm und Regen erbrausen, in solch einer Nacht kann keiner zur Fahrt auf der hohen See mich bewegen, noch vom Lande zu lösen das Schiffstau. Leuchtet jedoch, wenn den Tag sie vom Morgen zum Abend geleitet, strahlend ihr Rund, so bangst du umsonst vor stürmendem Regen, und im klärenden Nordwind siehst du die Wälder sich regen.«

Eine wichtige Quelle für die Deutung von Abend- und Morgenrot ist auch die Naturgeschichte von Plinius. Er schreibt in nat. 18,342 (vgl. auch 2,10 ff.; Arat. 858-871): Geht die Sonne »klar und nicht heiß auf, so kündigt sie einen heiteren Tag an, geht sie bleich auf, dann Sturm und Hagel (ad hibernam pallidus grandinem). Wenn sie tags zuvor heiter unterging und [ebenso wieder aufgeht], kann man umso sicherer mit heiterem Wetter rechnen. Geht sie [von Wolken] verhüllt auf, kündigt sie Regen an; ebenso Winde, wenn sich vor ihrem Aufgang die Wolken röten (idem ventos, cum ante exorientem eum nubes rubescunt); ferner Regen, wenn zwischen roten Wolken auch dunkle erscheinen; wenn ihre Strahlen beim Auf- und Untergang zusammenzulaufen scheinen, so zeigt das Regen an. Wenn sie die Wolken beim Sonnenuntergang röten (si circa occidentem rubescunt nubes), versprechen sie auch für den folgenden Tag schönes Wetter.«

Matthäus stimmt offensichtlich mit diesen Erkenntnissen griechisch-römischer Wetterbeobachtung überein. Lukas verweist mit seinem Text dagegen auf geographisch-meteorologische Zusammenhänge, wie sie für Palästina bzw. die Levante (also im Wesentlichen die heutigen Staaten Syrien, Jordanien, Libanon, Israel und Palästina) zutreffen. Wolken, die im Westen aufsteigen und Regen bringen, sind wie der heiße Südwind Wetterphänomene im palästinisch-syrischen Raum. 1Kön 18,41-45 beschreibt die Regen bringenden Wolken aus dem Westen (d. h. vom Meer her) anschaulich: »›Geh hinauf und schaue zum Meer!‹ Er (sc. der Diener) ging hinauf und schaute und sprach: ›Es ist nichts da.‹ Elia sprach: ›Geh wieder hin‹, und der Diener ging wieder hin, siebenmal. Und beim siebentenmal sprach er: ›Siehe, es steigt eine kleine Wolke auf aus dem Meer wie eines Mannes Hand.‹ Elia sprach: ›Geh hin und sage Ahab: Spann an und fahre hinab, damit dich der Regen nicht aufhält!‹ Und ehe man sich’s versah, wurde der Himmel schwarz von Wolken und Wind, und es kam ein großer Regen« (V. 43-45). Das Stichwort mbro@ (ombros) in Lk 12,54 bezeichnet dementsprechend den Platzregen. Die Kenntnis der Winde war in der Antike für die Landwirtschaft und die Seefahrt gleichermaßen wichtig: »Das Vokabular, das sich auf sie bezieht, ist reich und präzis« (Bovon 1996, 358). Der Wind aus dem Süden bringt nach 1Hen 76 (dort werden 12 Winde aus den vier Himmelsrichtungen beschrieben) Gluthitze mit sich (76,7). Einige rabbinische Wetterregeln sind bei Billerbeck (I 2 1926, 727 f.) gesammelt. Es geht dabei hauptsächlich darum, ob trockenes Wetter oder Regen zu erwarten ist.

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Parabeln in der Logienquelle Q

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Das Wetter in Palästina wird durch die Lage zwischen Meer und Wüste bestimmt. Ein trockener Sommer und die Regenzeit im Winter wechseln sich ab. Ps 32,4 weist auf die Dürre im Sommer hin, Jes 25,4 auf Regen und Unwetter im Winter. Ebenso ist der Tag gekennzeichnet durch Hitze wie die Nacht durch Kälte (Gen 31,40; Jer 36,30). In der Sommerhitze versiegen die Bäche (Hi 6,17), aus dem Norden kommen Sturm und Kälte (Hi 37,6). Ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist, kann der Hitze standhalten (Jer 17,8). In einer agrarischen Gesellschaft waren die Beobachtung des Himmels und die Kenntnis von Wetterregeln eine Notwendigkeit. Wiederholt dienen die Gewalten des Wetters auch dazu, politische Notsituation zu beschreiben (z. B. Jes 28,2; Am 1,14). Bei Matthäus ist die Beobachtung des Wetters eingeordnet in die Forderung eines »Zeichens vom Himmel«. Shme…on (se¯meion Zeichen) findet sich viermal in den Rahmenversen 1 und 4; dies weist auf die besondere Bedeutung hin, die dem Begriff hier zukommt. Beglaubigungszeichen sind nach alttestamentlich-jüdischer Auffassung durchaus denkbar und man kann sogar darum bitten (vgl. 1Kön 13,3; 2Kön 20,9 ff.; nach Jes 7,10 ff. gibt Gott selbst ein Zeichen, obwohl es von Ahas in frommer Haltung abgelehnt wird). Flav. Jos. Bell. 2,259.262; Ant 18,85-87; 20,97-99 und Joh 6,30 f. berichten von Beglaubigungswundern endzeitlicher Propheten. Aber kein noch so beeindruckendes Zeichen könnte es rechtfertigen, anderen Göttern zu folgen (Dtn 13,1 ff.; SifDev 12,2 § 83 f.). In Ex 17,1-7; Num 14,22; Ps 78,41 wird die Forderung eines Wunders dagegen als Versuchung Gottes bezeichnet. In der Rahmung bei Lukas fehlt die Zeichenforderung. Aber auch er setzt einen Akzent, und zwar mit dem Worten dokim€zein (dokimazein), das zweimal vorkommt und »genau prüfen«, »billigen« meint. In der LXX findet sich das Verb vielfach in poetischen Texten und wird dort von Jahwe ausgesagt, der die Menschen insgesamt, das Volk oder Einzelne prüft (vgl. Ps 16 [17], 3; 25 [26], 2; 138 [139], 1.23; Jer 9,7; 11,20; 12,3 u. ö.). Dabei wird eine Opposition formuliert: Während die Menge die Wetterphänomene genau prüfen kann, ist sie nicht in der Lage, »diese Zeit« ebenso genau zu prüfen. Matthäus verwendet anstelle von dokim€zw (dokimazo¯) das Verb diakrfflnw (diakrino¯ unterscheiden, beurteilen). Im Zusammenhang mit der Zeichenforderung verweist das Verb auf die im zeitgenössischen Judentum geübte Deutung eschatologischer Zeichen (Dautzenberg 1992, 736). Charakteristisch hierfür ist Flav. Jos. Bell. VI 315: »Die Juden deuten eben manche der Vorzeichen nach ihren Wünschen, über andere wieder setzten sie sich leichtsinnig hinweg, bis endlich der Fall ihrer Hauptstadt und ihr eigenes Verderben sie von ihrem Unverstand überzeugten« (vgl. 291.295).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die bei Matthäus und Lukas übereinstimmende Grundstruktur zeigt, dass es bereits im Q-Text einerseits um die Frage geht, wie man Jesus verstehen kann, und andererseits um das Erstaunen darüber, dass viele ihn missverstehen. Die Adressaten sind durchaus in der Lage, Zeichen zu deuten und das künftige Wettergeschehen am Himmel zu erkennen. Was für die Beobachtung des Himmels gilt, gilt aber offenbar nicht für die Deutung dessen, was um sie herum vorgeht. Matthäus bringt beides in einen prägnanten Gegen174

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Wetterregeln Q 12,54-56

satz: Obwohl die Pharisäer und Sadduzäer das »Angesicht des Himmels« kennen und beurteilen können (Mt 16,3), fordern sie ein »Zeichen vom Himmel« (Mt 16,1). Es geht also um die anerkannte Fähigkeit der Menschen, Wetterzeichen zu erkennen und richtig zu deuten. Die zweimalige Bestätigung in Lk 12,54 f. »und so geschieht es« unterstreicht, dass diese Deutung der Wetterzeichen angemessen und richtig ist. Umso erstaunlicher ist, dass die Menschen andere Zeichen, die ebenso auf der Hand liegen, nicht deuten können oder wollen. Das Vorstellungsfeld »Wetterbeobachtung und ihre Deutung« wird also aufgegriffen und auf einen anderen Bereich übertragen. Dabei geht es offensichtlich um »die Zeit« bzw. »die Zeiten«. Im Zusammenhang von Q wird in 12,39-59 das unerwartete Kommen des Menschensohnes thematisiert. Die »Zeichen der Zeit« sind hier mit dieser eschatologischen Erwartung verknüpft.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Bereits in Mt 12,38 ff. hatte Jesus nach der Darstellung des Matthäus die Forderung nach einem Beglaubigungszeichen abgelehnt. Waren es dort die Pharisäer und Schriftgelehrten, die das Zeichen forderten, so treten hier die Pharisäer und Sadduzäer gemeinsam auf (vgl. 16,6.11 f.). Pharisäer und Sadduzäer wurden bereits in 3,7 als gemeinsame Gegner des Johannes genannt. Möglicherweise will Matthäus daran erinnern. Auf jeden Fall sind sich für Matthäus diese sonst so uneinigen Gruppierungen (vgl. Apg. 23,6-8) in der Gegnerschaft gegenüber Johannes und Jesus einig (Luz 3 1999, 444). Dementsprechend wird ihre Frage eingeführt: Sie wollen ihn damit fangen und versuchen (so wie in 4,1.3 der Versucher selbst an Jesus herangetreten ist). In 19,3; 22,18 werden die Pharisäer dies wiederholen. Sollte Jesus nach 12,38 ein Zeichen tun, so wird nun ein »Zeichen vom Himmel« gefordert. Da Jesus kurz vor dieser Forderung zweimal eine große Menschenmenge auf wunderbare Weise gespeist (14,13-21; 15,32-39) und viele Kranke geheilt hat (14,34-36; 15,21-28.29-31), geht es offenbar nicht um ein weiteres Wunder, sondern um ein Himmelszeichen, das jeglichen Zweifel an Jesus ausschließen soll (was aber nach Ansicht seiner Gegner gar nicht zu erwarten ist). Schon das Wort shme…on (se¯meion) deutet darauf hin; die Wunder Jesu werden sonst in der Regel als Machttaten (dun€mei@ dynameis) bezeichnet. Jesus antwortet mit einem Vergleich: Abendrot deutet auf schönes Wetter am folgenden Tag hin, ein roter und trüber Himmel am Morgen dagegen auf ein kommendes Unwetter. Dieses Aussehen des Himmels, dieses Himmelszeichen können die Pharisäer und Sadduzäer deuten. Wie kommt es dann, fragt Jesus, dass sie die »Zeichen der Zeiten« nicht deuten können? Diese Zeichen können im Erzählzusammenhang nur die Worte und Taten Jesu selbst sein (in 26,18 werden das bevorstehende Passamahl und das Leiden als kair@ kairos bezeichnet). Sie sind in aller Öffentlichkeit geschehen. Angesichts dieser Zeichen ein Zeichen vom Himmel zu fordern, weist auf die versucherische Absicht der Gegner hin. Ihre Forderung wird in Anlehnung an alttestamentliche Scheltworte (vgl. Jer 3,8 f.; 5,7; Hos 2,4; Ez 16,15 ff.) als die eines bösen und abtrünnigen (eigentlich: ehebrecherischen) Geschlechts bezeichnet. Aber sie werden kein Zeichen bekommen außer dem des Jona. Das Jonazeichen wird hier nicht näher erläutert. Aber es wurde ja bereits in 12,38-40 gedeutet: So wie Jona drei Tage und Nächte im Bauch des Fisches war, so der 175

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Parabeln in der Logienquelle Q

Menschensohn drei Tage und Nächte im Schoß der Erde (Lk 11,30-32 deutet das Zeichen anders). Auf diese erste Zeichenforderung wird zurückgegriffen. Eine erneute Erläuterung erübrigt sich. Entsprechend abrupt ist der Schluss des Abschnitts: Jesus lässt die Fragesteller stehen und geht weg. Wenn er sie das nächste Mal trifft (19,3; 22,23), werden sie ihn mit ihren Fragen wieder in die Falle locken wollen. Matthäus greift die Zeichenforderung hier erneut auf, weil er mit ihrer Hilfe zeigen kann, wie sich der Konflikt zwischen Jesus und seinen Gegnern steigert und unumkehrbar wird. Die Steigerung zeigt sich sowohl im Rückgriff auf das Jonazeichen als auch bei dem vermutlich von Q angestoßenen Hinweis auf die Fähigkeit der Gegner, Wetterzeichen zu deuten. Obwohl sie dies können, weigern sie sich, die Wunder, die Jesus tut, als Zeichen dafür zu sehen, dass er in Gottes Vollmacht handelt. Lukas fügt 12,54-56 in einen größeren Zusammenhang ein, der das ganze 12. Kapitel umfasst. Adressat der Worte Jesu ist grundsätzlich die Menge (vgl. V. 1.13.54), einige Abschnitte richten sich aber besonders an die Jünger (12,22.32.41). 12,54-56 sind zur Menge gesprochen. Es handelt sich um ein Wort des Erstaunens, das zu Veränderung führen soll. Die Menschen sind in der Lage, Wetterzeichen zu beobachten und zutreffende Schlüsse daraus zu ziehen: Selbst eine einzige Wolke vom Westen (vgl. Bovon 1996, 357) deutet auf Regen hin, der Südwind auf Hitze. Das zweimalige »Und es geschieht so« unterstreicht sowohl die Richtigkeit dieser Wetterprognosen als auch den Sachverhalt, dass die Menschen tatsächlich in der Lage sind, Zeichen zu deuten. V. 56 ist erstaunter Ausruf und Kritik in einem. Wenn die Menschen aus dem Aussehen von Erde und Himmel zutreffende Schlüsse ziehen können, wieso sind sie dann nicht in der Lage, »diese Zeit« zu beurteilen? Kairos meint auch hier einen Zeitpunkt oder eine Zeitspanne, die auf bestimmte Weise qualifiziert ist. In den synoptischen Evangelien wird damit unter anderem die Parusie des Menschensohnes bezeichnet (vgl. Mk 13,33). Vor der Parusie werden viele behaupten, der Kairos sei jetzt da. Aber so bald wird das Ende nicht kommen (Lk 21,8 f.). Zuvor müssen nach Lk 21,24 die »Zeiten der Völker« vollendet sein. Die Gegenwart ist für Lukas deshalb eine Entscheidungszeit, die Entzweiung bringt (12,51-53) und in der es darauf ankommt, die Zeichen der Zeit zu deuten. Die Anrede »Heuchler« ist hart, schließt aber eine Änderung nicht aus. »Heuchler« ist für Lukas keine Bezeichnung prinzipieller Ablehnung (vgl. Klein 2006, 471; anders Giesen 1992) und lässt die Möglichkeit der Umkehr offen. Sowohl in 6,42 als auch in 13,15 können sich die dort als Heuchler Angesprochenen ändern, und 13,17 hält fest, dass sich alle schämen, die Jesus wegen der Heilung einer Frau am Sabbat verurteilt haben. So fordert der Hinweis auf die Fähigkeit zur Wetterprognose dazu auf, auch die Zeichen der Zeit zu deuten und sich der Botschaft Jesu doch noch zu öffnen. In EvThom 91 ist eine Parallelüberlieferung erhalten: EvThom 91: (1) Sie sprachen zu ihm: »Sage uns, wer du bist, damit wir an dich glauben.« (2) Er sprach zu ihnen: »Ihr prüft das Angesicht des Himmels und der Erde. Doch das, was vor euch liegt, habt ihr nicht erkannt, und diesen Augenblick wisst ihr nicht zu prüfen.«

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Wetterregeln Q 12,54-56

Eine Veränderung sowohl gegenüber Matthäus als auch gegenüber Lukas ist vor allem im Schlusssatz gegeben. Bei Matthäus steht die Weigerung der Pharisäer und Sadduzäer im Zentrum, der Botschaft Jesu Glauben zu schenken, und die Frage in V. 3 ist Ausdruck dieser Weigerung. Lukas fordert mit seiner Fassung die Menschen auf, die Zeichen der Zeit doch noch so zu lesen, wie sie verstanden werden wollen. Nach EvThom 91 dagegen können die Leute nicht prüfen, wer Jesus ist. Zwar vermögen sie das Aussehen von Himmel und Erde zu beurteilen, aber Jesus ist von anderer Art und lässt sich auf diese Weise nicht begutachten. Durch die Betrachtung von Himmel oder Meer lässt sich nicht feststellen, wer Jesus ist (Logion 3), und wenn man die Welt durchschaut, findet man heraus, dass sie tot ist (Logion 80). Wer Jesus an äußeren Zeichen erkennen will, zeigt deshalb, dass er oder sie in der Welt und ihren Erscheinungen gefangen ist (vgl. Logion 3). Dementsprechend ist die Herrschaft des Vaters jetzt schon über die Erde ausgebreitet, aber die Menschen sehen sie nicht (Logion 113). Die Wirkungsgeschichte dieses Abschnitts hat sich grundsätzlich an der Zeichenforderung oder an dem Jonazeichen orientiert (vgl. Luz 3 1999, 278 ff.; Bovon 1996, 204 f.). Die Wetterregeln spielen keine wichtige Rolle. Das Wetter ist ein unerschöpfliches Thema. Selten ist es »genau richtig«, meist ist es zu trocken oder zu nass, zu kalt, zu heiß, zu unbeständig, jedenfalls dem subjektiven Empfinden nach und auch dem Wetterbericht zufolge, der immer mehr Bedeutung zu gewinnen scheint. Das Programm des »Weatherchannel« besteht ausschließlich aus Wettervorhersage und -bericht. Je genauer die Wettervorhersagen werden, umso deutlicher erleben wir aber auch die Abhängigkeit von meteorologischen Vorgängen. Selbst die »Unwetterzentrale« kann nicht vorhersagen, wo genau es zu Unwettern kommen wird. Die Erfahrung und der Blick auf die »Wolke vom Westen« ist oft ein besserer Ratgeber. Neuerdings beobachten wir das Wetter vor allem im Blick auf Klimaveränderungen und eine mögliche Klimakatastrophe. Umweltverbände fordern dazu auf, »die Zeichen der Zeit« zu erkennen und das eigene Verhalten zu ändern. Insofern sind die Wetterregeln bei Matthäus und Lukas hochaktuelle – und überraschende Texte. Beim Wetterbericht denkt man nicht an die Bibel. Die Texte können eine Anregung sein, über die »Zeichen der Zeit« nachzudenken, die uns vor Augen liegen und die wir doch kaum sehen.

Peter Müller Literatur zum Weiterlesen F. Bovon, Wetterkundliches bei den Synoptikern (Lk 12,54-56 par.), BThZ 10 (1993), 175-186.

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Forderung zu außergerichtlicher Einigung (Der Gang zum Richter) Q 12,58 f. (Mt 5,25 f. / Lk 12,58 f.) (58) Solange du mit deinem Gegner auf dem Weg bist zum Gericht, gib dir Mühe, von ihm loszukommen, damit dich der Gegner nicht dem Richter übergebe und der Richter nicht dem Vollstreckungsbeamten und der Vollstreckungsbeamte dich nicht in das Gefängnis werfe. (59) Ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du den letzten Quadrans zurückerstattet hast.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der Text Q 12,58 f. zerfällt in eine Mahnung (V. 58) und eine Drohung (V. 59). Die Drohung erhält zusätzliches Gewicht durch die metasprachliche Einleitung »ich sage dir«. Zielt die Mahnung darauf, nicht dem Richter übergeben zu werden (mit paradffldwmi paradido¯mi) mit der Gefahr, ins Gefängnis zu kommen, so setzt die Drohung diesen Fall voraus und stellt klar, dass eine Freilassung erst nach Erstattung (mit dem Verb ⁄podffldwmi apodido¯mi) des letzten Quadrans erfolgen wird – es wird also keine Gnade geben. Das Gewicht der einleitenden Mahnung wird dadurch erhöht. Mahnung und Drohung sind durch die Leitverben »übergeben« – »erstatten« streng aufeinander bezogen. Die Mahnung setzt zwei Personen voraus, die miteinander zum Gericht ziehen. Der eine, als Gegner im Prozess bezeichnet, ist im Begriff, den Angeredeten dem Richter zu überantworten. Diese Figur steht für den Grund der gerichtlichen Auseinandersetzung, aber auf ihr liegt nicht der argumentative Fokus der Texteinheit. Die Argumentation orientiert sich an dem anonymen »du« – die Anonymität des Charakters lässt diese Figur offen sein für die Adressaten der Komposition, die das »du« als Anrede auf sich selbst applizieren können. Durch eine solche Applikation kann die Mahnung zur persönlichen Anrede werden, die auf unmittelbare Konsequenzen zielt. Trotz oder gerade wegen der Allgemeinheit der Bildwelt kann ihr mahnendes und drohendes Potential zur existentiellen Aneignung führen. Die Personen befinden sich auf einem Weg, der eine nicht genannte Zeit dauert – dieser Zeitraum hat fundamentale Bedeutung; während dieser Zeit besteht die Möglichkeit zu einer außergerichtlichen Einigung, die das folgende Geschehen samt negativem Ausgang verhindern kann. Der Weg steht für die Lebenssituation der Adressaten, in die hinein die Mahnung ausgesprochen wird. Der Weg ist damit zunächst nicht als der gesamte Lebensweg zu verstehen, sondern als Zeit der Gestaltungsmöglichkeit vor der Zeit der Passivität im Gefängnis, die dem Ausgeliefertwerden an das Gericht entspricht (s. u.). Die Parabel setzt mit einer narrativen Leerstelle ein, indem sie einen nicht näher geschilderten Streitfall mit einem anonymen Prozessgegner voraussetzt (zu Recht bemerkt H. D. Betz 1995, 226, das Fehlen der Vorgeschichte zum Gerichtsgang). Diese Leerstelle will nicht gefüllt werden, sondern signalisiert bereits eine mögliche bildhafte Interpretation. Eingeschärft wird das Bemühen um eine außergerichtliche Einigung, de178

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Forderung zu außergerichtlicher Einigung Q 12,58 f.

ren Charakter (außer am Ende von V. 59) ebenso offen bleibt wie die Schuldfrage. Durch die kausale Partikel »damit« wird das Ziel der Mahnung angegeben. Es geht darum, eine Gefängnisstrafe zu vermeiden. Mit einer raschen Personen- und Ereignisfolge in völligem Verzicht auf erzählerische Details wird das Ziel erreicht. Die kompositionelle Strenge wird durch Wiederholung der jeweiligen Antagonisten unterstrichen. Prozessgegner – Richter – Vollstreckungsbeamter: So entsteht ein Bild des Ausgeliefertseins an eine gesetzmäßige Kausalität/Ereignisfolge, die dann einsetzt, wenn die Einigung nicht erfolgen sollte. Die Erzählfolge setzt also die Dringlichkeit des »solange« als Zeit selbstbestimmter Aktivität anschaulich und überzeugend in Szene. Das Ausgeliefertsein kehrt auch in der Drohung (V. 59) wieder – das Gefängnis kann erst verlassen werden, wenn der letzte Quadrans zurückerstattet ist. Die Drohung fokussiert auf die Alternative zum außergerichtlichen Vergleich, die in der narrativen Setzung enthalten ist (Hedrick 1994, 12), dem negativen Ausgang des Prozesses. Auch in der Drohung bleibt der Streitfall selbst unspezifisch. Aufgrund des negativen Ausgangs des Verfahrens lässt sich erschließen, dass der Angeredete das Recht nicht auf seiner Seite hatte. So gesehen ist er ein Antiheld, eine narrative Figur, wie sie sich in verschiedenen Parabeln Jesu findet. Die Mahnung ist eine Mahnung aufgrund von Lebensklugheit, da es im Interesse des Angesprochenen steht, es nicht zur gerichtlichen Auseinandersetzung kommen zu lassen (vgl. Spr 25,8: … bring es nicht übereilt als Streitfall vor; denn was willst du später tun, wenn dein Nächster dich bloßstellt? [EÜ]). Ob es sich um Diebstahl oder wahrscheinlicher um Schulden handelt, lässt sich dem Verb »zurückerstatten« nicht entnehmen (s. dazu die Ausführungen in der Sozialgeschichtlichen Analyse). Die theoretische Möglichkeit, dass Freunde, Bekannte oder Verwandte mit ihrem Vermögen einstehen, wird nicht thematisiert. Die kleine Geldeinheit des Quadrans (ebd.) weist vielmehr darauf hin, dass die vollständige Schuldentilgung als unrealistische Chance angesehen wird, so dass die Drohung die Mahnung aufs Äußerste verschärft. In der Drohung kommt durch ein emphatisches »ich sage dir« die Stimme des Erzählers zu Wort (Münch 2004, 216), wobei die erzählte Sache durch den folgenden Inhalt verkürzt und entschieden wird (zum rhetorischen Hintergrund Rau 1990, 80 f.). Die Drohung bekommt durch die Emphase ein hohes Gewicht und zeigt, worauf es zu achten gilt. Ein in der Erzählsituation durchaus möglicher positiver Ausgang gehört nicht zur Erwartung des erzählten Erzählers. Der stärkste Impuls für die Lesenden liegt am Anfang, wo er mit der Mahnung formuliert wird. An diesem ersten Handlungsknoten entscheidet sich das Geschehen – wer hier die richtige Entscheidung trifft, entgeht den ausgeführten Gefahren und Konsequenzen. Die häufig in Bildfelder eingebundenen Begriffe »Gericht« und »Weg« (s. u. Analyse des Bedeutungshintergrunds), verbunden mit der Drohung späteren Ausgeliefertseins an das Urteil des Richters, sowie die daraus resultierende Dringlichkeit zu unmittelbarem Handeln weisen dabei metaphorisch über die erzählte Welt innerhalb der Parabel hinaus und lassen die Texteinheit als eine in ein Bild gekleidete eschatologische Mahnung verstehen. Es ist umstritten, ob die Textkomposition formal den Parabeln zugewiesen werden kann. Verzichtet man aber auf eine bildliche Interpretation, so findet sich nur eine Klugheitsregel, die um einen »eschatologischen Hintersinn« ergänzt wurde: Es geht um die »Notwendigkeit …, vor dem heraufziehenden Gericht mit dem persönlichen Feind ins 179

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Parabeln in der Logienquelle Q

Reine zu kommen« (Zeller 2 1983, 66 f.). Unter anderem sprechen Narrativität und Allgemeinheit der gerichtlichen Thematik jedoch deutlich für eine bildhafte Interpretation des Textkomplexes. Kontext: Die Spruchfolge im Kontext von Q 12,58 f. ist äußerst locker, wobei sich sprachlich, aber auch sachlich schwer ein cantus firmus finden lässt (vgl. Jacobson 1992, 202). Der vorangehende Spruch schildert die Scheidung in der Familie, die durch das von Jesus gebrachte Schwert vollzogen wird (Q 12,51.53), ein Gerichtsbild. Auch wenn auf der Bildebene zwischen Scheidung innerhalb der Familie, also auf der persönlichsten menschlichen Ebene, und der Forderung zum außergerichtlichen Vergleich als Streitverzicht mit einem Prozessgegner als Effekt des Auftretens Jesu diese Texte konträr entgegengesetzt sind (s. a. Fleddermann 2005, 650), so kann man das Trennungslogion als sachlichen Hintergrund für die zeitliche Dringlichkeit von Q 12,58 f. interpretieren. In den folgenden Parabeln werden die Präsenz und Durchsetzungskraft des Gottesreiches – trotz der noch nicht geschehenen Wiederkunft des Menschensohnes – ohne Gewaltmetaphorik vorgestellt (Parabeln vom Senfkorn und Sauerteig Q 13,18-21; s. a. Fleddermann 2005, 658). Auch wenn die Kohäsion der Sprüche nicht besonders markiert wird, so ergibt sich im Lektürevollzug ein sachlicher Zusammenhang des mit Macht und Scheidung sich durchsetzenden Reiches, angesichts dessen es eine angemessene Haltung einzunehmen gilt (zur kompositionellen Einheit Hoffmann 2001, 278-282). Aufgrund der seit Q 12,2 f. angesprochenen Anhänger Jesu ist die Entscheidung für das Reich Gottes vorausgesetzt, aber diese gilt es aktuell zu bewähren (s. a. Fleddermann 2005, 657). Ob man den »Weg« in Q als Lebensweg oder immer noch als Anredesituation verstehen will, ist sicherlich zu Gunsten einer bleibenden Aktivität im zeitlichen Horizont der Erwartung der Wiederkunft des Menschensohnes zu entscheiden. Im Gesamtkontext der Logienquelle Q stellt eine exklusive Beschränkung der Auslegung auf die bildhafte Ebene eine zu einseitige Interpretation dar. Die Mahnung zum Rechtsverzicht, wie sie in Q 6,29 f. (par. EvThom 95); 6,37 formuliert wird, ist unbildhaft gemeint. Diese Information wird in Q 12,58 f. wieder aufgerufen und kann damit neben der bildlichen Dimension eine distanzierende Wirkung gegenüber der Gerichtsbarkeit haben. Die in manchen Auslegungen zu beobachtende Konzentration auf die Versöhnungsbereitschaft, die sich auf Q 6,31.32-34 (s. a. 6,37) stützen kann, verkürzt hingegen angesichts der Gerichtsmetaphorik und des Kontexts in Q die Perspektiven zu sehr auf ein Thema, die Mitmenschlichkeit; im Kontext von Q setzt Q 12,51.53 ein gegensätzliches Ausrufezeichen, das 12,58 f. nicht korrigieren will. Beide Texte charakterisieren die Situation des Reiches Gottes angesichts der noch ausstehenden Wiederkunft des Menschensohnes.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Der juristische Hintergrund: Die Rückgabeforderung lässt zwei unterschiedliche juristische Probleme erwägen. Möglich ist der Diebstahl (Plato, leg. IX 857A: »Auch für den Dieb, ganz gleich ob er etwas Großes oder etwas Kleines stiehlt, soll wiederum nur ein einziges Gesetz und eine einzige Rechtsstrafe für alle gelten. Zunächst muß er nämlich das Gestohlene doppelt ersetzen, falls er in einem solchen Prozess schuldig gesprochen 180

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Forderung zu außergerichtlicher Einigung Q 12,58 f.

wird und er über sein Landlos hinaus noch genügend Vermögen besitzt, um zu bezahlen; wo aber nicht, soll er so lange in Haft gehalten werden, bis er bezahlt oder den, der seine Verurteilung veranlaßte, umgestimmt hat.«; Übers.: Schöpsdau/Müller 2 1990, 165), wahrscheinlicher aber nicht getilgte Schulden (z. B. H. D. Betz 1995, 226), die laut Erzählung zum Gefängnisaufenthalt führen, bis die Schulden zurückerstattet werden; V. 59 ist so zu lesen, dass dies als unmöglich erkannt wird. Solche Strafe ist jedoch nicht im jüdischen Rechtsgebrauch verankert, so dass an ein römisches Rechtsverfahren zu denken ist, wie es aus Papyrusfunden für das römische Ägypten gut belegt ist (vgl. Reiser 1990, 272-275 mit Literatur und Quellenzitaten) und dessen Kenntnis und Praxis auch für das römisch besetzte Palästina vorauszusetzen ist. Ein Einzelner, der Präfekt oder ein von ihm als »Richter« ernannter Beamter, fällt entsprechende Urteile. Urteile werden durch einen Vollstreckungsbeamten eingetrieben bzw. der Schuldner wird im Gefängnis als Art Beugehaft festgesetzt, um dadurch der Forderung zu genügen. Der Gedanke, dass ein Gerichtsverfahren keinen Vorteil bringen könnte, entspricht den juristischen Realitäten. Vor allem stellt dieser Schritt für die unteren sozialen Schichten der antiken Gesellschaft den letzten Schritt in einem aufwändigen Verlauf dar (Kloppenborg Verbin 2000, 194). Aufgrund der römisch-ägyptischen Belege scheinen die Gläubiger mit ihren Rechten in deutlichem Vorteil gegenüber den Schuldnern gewesen zu sein, so dass sich eine außergerichtliche Einigung mit einem möglichen Vergleich grundsätzlich als vorteilhaft erwies. Die Einsicht in die Wahrscheinlichkeit eines negativen Rechtsausgangs, auch unabhängig von der Frage nach dem Im-Recht-Sein, ist sprichwörtlich; vgl. Spr 17,14: »Wer einen Rechtstreit anfängt, entfesselt eine Wasserflut, drum halt ein, ehe der Zank ausbricht« (EÜ). Gerichtliche Auseinandersetzungen unter Christen: In frühchristlichen Texten findet sich das Thema juristischer Auseinandersetzungen vor weltlichen Gerichten (für Q: 6,29 f.37 f.). Besonders bekannt ist die paulinische Stellungnahme zur Anrufung heidnischer Gerichte im Konfliktfall zwischen Mitgliedern der christlichen Gemeinde (1Kor 6,1-8: hierzu Schrage 1991, 402-425). Paulus beschreibt das Vorkommen von Konflikten innerhalb der sündenfreien und durch den Geist geleiteten Gemeinde als Niederlage und sieht im Konfliktfall den Rechtsverzicht als sachgemäße Konfliktlösung an (V. 7). Die leitende Begründung des Paulus ist die Berufung der als Heilige bezeichneten Christen zu Richtern über die Welt (V. 2). Der Rechtsverzicht ist in der Logienquelle Q durch das Liebesgebot motiviert (Q 6,31.32.34.36). Zudem werden die Jünger Jesu, die die Gemeinde repräsentieren, als Richter im endzeitlichen Gericht berufen (Q 22,30), so dass eine gewisse sachliche Nähe zum paulinischen Konzept zu erkennen ist. Quadrans: Entsprechend seinem Namen stellt der Quadrans im Rahmen eines auf der Zwölfzahl basierenden Zählsystems den Geldwert eines Viertel Asses (= Einheit) dar (vgl. Reiser 2000, 458: 1 Aureus = 25 Denare. 1 Denar = 4 Sesterze = 8 Dupondien = 16 Asse = 32 Semisse = 64 Quadranten). Der Quadrans, eine Kupfermünze im Durchmesser zwischen 15 und 18 mm zur Republik- und Kaiserzeit, bildet seit dem Semunzialstandard von 90/89 v. Chr. das kleinste Nominal (mit Ausnahme der Jahre 37/36 v. Chr.). Wie gering der Verkehrswert des Quadrans ist, zeigen die Aufstellungen palästinischer Kaufkraft (z. B. Reiser 2000, 481). Ist mit einem As, also einem 1/16 Denar, der als gut bezahlter Tagelohn gilt (hierzu Reiser 2000, 481 f.), ein Pfundlaib Brot zu erwer181

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Parabeln in der Logienquelle Q

ben, so entspräche der Quadrans einem Viertel davon. Wie antiker Spott zeigt, ist der Quadrans als kleinste Währungseinheit sprichwörtlich; vgl. z. B. Plut. Cicero 29,4 über die Schwester des Clodius: »Letztere nannte man Quadrantaria, weil einer ihrer Liebhaber ihr einmal Kupfergeld statt Silber in einem Beutel zugesandt hatte; die kleinste Kupfermünze nennen die Römer nämlich Quadrans« (Übers.: K. Ziegler 1955, 283). Der befreundete Bankier schlägt dem Dichter Martial schon im vorhinein einen Kredit aus, indem er laut grübelnd über eine leere Kasse klagt (Mart. 44, 13-16): »Siebentausend bei Secundus, / vier hab’ ich bei Phoebus Schulden, / elf Philetus. In der Kasse / hab’ ich keinen Viertelgulden (= Quadrans; M. L.)« (Übers.: Hofmann 2000, 94).

Augustus – AE Quadrans (Quelle: http://www.aeqvitas.com/augustus5.jpg)

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Weg: Die in der Parabel genutzte Konzeption des »Weges« knüpft an das atl.-jüdisch und ntl. bekannte Bild für menschliches Handeln und Ergehen über einen bestimmten Zeitraum hin oder auch auch für das gesamte Leben an. Dieses Konzept findet sich in Xavier Naidoos Song »Dieser Weg« illustrativ adaptiert. Gericht Gottes: Die Ablehnung oder kritische Distanz zu den weltlichen Gerichtsorganen hat auch mit der Gerichtserwartung in diversen neutestamentlichen Schriften zu tun. Die Vermeidung des Gerichtsweges steht im Horizont des erwarteten Gerichts Gottes. Das Gerichtsthema erinnert an das ausstehende Gericht Gottes (Übersicht über die neutestamentlichen Texte und Konzeptionen sowie den atl.-jüdischen Hintergrund: D. Michel/ Kampling 1991). Der Gedanke, dass es im – wann auch immer zu datierenden – Gericht auch um Kompensation zurückliegender Verfehlungen geht (zur Strafe nach Ausweis verfehlten Handelns in Parabeln vgl. Lk 16,19-31 mit Lehtipuu 2002, 141), ist nicht allein christlich, sondern auch außerchristlich belegt (vgl. die Belege bei H. D. Betz 1995, 228 f.).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Das wirkungsgeschichtliche Alternativangebot des Matthäusevangeliums, das in der Respektierung der Unversehrtheit des Mitmenschen seine Pointe findet (s. u. Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte), dürfte im gesellschaftlichen Diskurs leichter vermittelbar sein als die Forderung zu radikalen Konsequenzen in Q, zumal sie von der Notwendigkeit solcher Änderung auch im Charakterbild des Angeredeten aus182

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Forderung zu außergerichtlicher Einigung Q 12,58 f.

geht. Besinnung auf die Notwendigkeit einer radikalen Änderung des Selbst- und Umweltverständnisses mit Einsicht in ein Katastrophen auslösendes Verhalten ist andererseits von derart aktueller Dringlichkeit, dass eine Anspielung hierauf sich im Rahmen hermeneutischer Überlegungen als Schwimmen mit dem Zeitgeist fast verbietet. Dennoch: Das Industriezeitalter mit seiner medialen (oft späten) Vermittlung von Handlungskonsequenzen eröffnet eine Verständnisorientierung der Parabel. Nicht allein die bewusst werdende Klimakatastrophe stellt vor Augen, dass es Zeiten gibt, in denen radikale Veränderungen, die mit dem Begriff Umkehr umschrieben werden können, notwendig sind. Die Alternative ist durch ein Zu-Spät und mit dem Bild für das AusgeliefertSein an Konsequenzen in der Parabel treffend beschrieben. Gegenüber dieser kurz angerissenen gesellschaftspolitischen Besinnung ist aber die religiöse Botschaft nicht zu unterschlagen. Das kommende Gottesreich ist nicht nur heilsame Präsenz Gottes mit den Marginalisierten, sondern auch Gericht über die, die sich dem Anspruch Gottes verweigern. In diesem Zusammenhang ist die mit einer Drohung verstärkte Mahnung als Forderung sofortiger Umkehr im Horizont des Gottesreiches (so z. B. Jeremias 4 1988, 135: »Handelt sofort«; Strecker 2 1985, 71) zu hören: »auf dem Weg zum Richter ist die Abwendung des Urteils noch möglich« (Schreiber 2007, 144; s. a. 147). Umkehr ist eine atl., hellenistisch-jüdisch und ntl. belegte Wendung, die die Neuausrichtung des Menschen auf Gott oder ein gottgefälliges Verhalten hin fordert (z. B. Hos 6,1; Jes 30,15; JosAs 16,13; Mk 1,15). Jesus ist in seiner Verkündigung radikal und nimmt den ganzen Menschen mit seiner Botschaft in Beschlag. Hierzu gehört es auch, dass der Mensch in seiner ethischen Verantwortlichkeit befragt wird. Im Horizont der Reich-Gottes-Botschaft ergibt sich die Notwendigkeit wie auch die Möglichkeit zur Neuorientierung.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Matthäus: Die Mahnung zur raschen außergerichtlichen Einigung (Mt 5,25 f.) steht bei Matthäus im Kontext der Antithesen seiner Bergpredigt (Mt 5-7). Sie bildet hier den Abschluss der Antithese über das Morden und Zürnen (Mt 5,21-24). Wer mordet, wird dem Gericht verfallen (V. 21); das »Gericht« wird zu einem verbindenden Leitwort, V. 21.22, sowie der demselben griechischen Stamm zugehörige »Richter«, V. 25. Dem Mord wird von Jesus der Zorn oder die Beleidigung des Nächsten zur Seite gestellt und als gerichtswürdiges Verbrechen bezeichnet. Da hinein fügt sich auch die Bestimmung, dass ein Opfernder, der sich eines Streits mit seinem Nächsten erinnert, diesen Konflikt vor der Darbringung des Opfers ausräumen soll (V. 23 f.). So bekommt die allgemeine Warnung vor Streit und Beleidigung, die der physischen Unversehrtheit des im Gesetz Gebotenen auch die psychische gleichstellt, eine Fortsetzung. Dabei verbinden sich m. E. zwei Elemente. Mt 5,25 f. ist eine pragmatische Fortsetzung der kultischen Ebene durch die juristische, wobei die Forderung zur Wohlgesonnenheit, »sei deinem Gegner schleunigst wieder wohlgesinnt (oder Freund)«, nicht ganz der in V. 26 angezeigten Schuldigkeit zu entsprechen scheint. So geht es zunächst einmal, vergleichbar mit anderen frühchristlichen Texten, um den Rechtsverzicht zugunsten eigener Versöhnungsbereitschaft (für viele: Reiser 1990, 277), der im Horizont von 5,21 ff. die existentielle Unversehrtheit in den Blick nimmt, sei es durch Erlassung oder Erstat183

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Parabeln in der Logienquelle Q

tung der Schuldigkeit; so kann man von einer Verlagerung von der eschatologischen zur paränetischen Funktion (Frage der »Lebensführung«) sprechen (so Jeremias 11 1998, 40). In diesem Sinne ist der Zeitraum, in dem die Versöhnung stattfinden muss, nicht dynamisch auf das die Präsenz ergreifende Gottesreich ausgerichtet, sondern auf die Dauer des individuellen Lebens (Strecker 2 1985, 71 f.). Diese paränetische Rezeption entspricht der antiken Lebensklugheit, wie Diodorus Siculus zeigt, der einen Weisen zitiert, dass Vergebung besser als Strafe ist (31,3,1; Hinweis bei H. D. Betz 1995, 227). In einer positiven und auf Aktivität zielenden, die Ganzheitlichkeit des Menschen in den Blick nehmenden Auslegung des Verbots der Lebensvernichtung (hierzu Dinkler 1967, 215) wird eingeladen zur Lebensgestaltung: Der Versöhnungsversuch ermöglicht, einen Freund zu gewinnen, statt sich einen Feind zu schaffen. Ein zweites Element könnte in der Einfügung des griechischen Adverbs »schnell« liegen. Hier stellt sich die Frage, ob eine Erinnerung an die eschatologische Grundabsicht durchbricht (auch Strecker 2 1985, 72, sieht das Aufrechterhalten eines eschatologischen Untertones). Lukas: Bei Lukas (Lk 12,58 f.) wird die Texteinheit zu einem neuen Gesamtkomplex mit Q 12,54-56 verbunden. Diese Komposition bezieht die beiden Textkomplexe sachgerecht aufeinander. Geht es zunächst um die Beurteilung der Zeiten als Frage nach der eigenen Relation zu dem durch Jesus (oder in Q durch seine Nachfolger) angekündigten Gottesreich, so intensiviert Lukas diesen Bezug: »Warum aber urteilt ihr nicht auch von euch selbst aus recht?« (12,57). Die angeredete Volksmenge soll die Mahnung von Lk 12,58 f. auf sich selbst in rechter Weise applizieren, so dass Lukas auch die drohenden Klänge aus Q beibehält. Lukas bleibt damit der eschatologischen Interpretation seiner Vorlage treu. Ein Detail der lukanischen Version zeigt sehr schön, wie sich Werte und Zahlen im Überlieferungsprozess zu verändern pflegen. Aus dem Quadrans in Q und Matthäus wird der Lepton. Nach Mk 12,42 sind zwei Lepta ein Quadrans; dies entspricht der durch römische Statthalter eingeführten Ergänzung zum Währungssystem (zur Sache Reiser 2000, 478; W. Weiser/Cotton 1996, 258 f.). Lukas verwendet das Lepton als kleinste Währungseinheit, um so noch einmal vor dem Hintergrund von Mk 12,42 den Quadrans seiner Vorlage zu unterbieten. Andere sprachliche Änderungen dienen der Präzisierung der Adressatenorientierung, so das »Schleppen« vor Gericht und die »Gerichtsvollzieher« (zur Bezeichnung vgl. Bormann 2001, 162).

Michael Labahn Literatur zum Weiterlesen H. D. Betz, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3-7:27 and Luke 6:20-49), Hermeneia, Minneapolis 1995, 225-230. M. Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund, NTA.NF 23, Münster 1990, 270-279. T. Schramm/K. Löwenstein, Der Prozessgegner (Q 12,57-59par.), in: dies., Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen 1986, 59-62.

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Gott knetet nicht (Vom Sauerteig) Q 13,20 f. (Mt 13,33 / Lk 13,20 f. / EvThom 96) (20) Und noch einmal: Wem soll ich die Königsherrschaft Gottes vergleichen? (21) Gleich ist sie Sauerteig, den eine Frau – indem sie ihn nahm – verbarg in drei Maß Weizenmehl, bis gesäuert ist alles.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel besteht aus einem einzigen Satz. An den kurzen Hauptsatz (»gleich ist sie [die Königsherrschaft Gottes] Sauerteig«) schließt sich in der Mitte der Parabel ein Relativsatz an. In dessen Zentrum wiederum ist das Prädikat ¥nffkruven (enekrypsen – sie verbarg hinein) positioniert. Dieses Prädikat wird auf der einen Seite gerahmt vom Subjekt des Relativsatzes (»Frau«), das durch ein vorangestelltes Partizip (»genommen habend«) näher bestimmt wird. Auf der anderen Seite steht der Ort (»drei Maß«), wohin der Sauerteig verborgen wird. Gewählt ist die Präposition e§@ (eis – »nach« bzw. »in«) samt dem Akkusativ als Richtungskasus. Den drei Maß als Zielort des Verbergens geht deren Spezifizierung ⁄leÐrou (aleurou – Genitiv von »Weizenmehl«) voran. Den Abschluss der dreigliedrigen Konstruktion bildet ein Temporalsatz, dessen Subjekt ˆlon (holon – alles) nach dem Prädikat ¥zumðqh (ezymo¯the¯ – es ist gesäuert) betont den Abschluss der gesamten Parabel bildet. Graphische Darstellung der Parabelstruktur: ¡moffla ¥st½n gleich ist sie zÐm–h, einem Sauerteig, ¨n labo‰sa den genommen habend

e§@ ⁄leÐrou in Weizenmehls w@ o ¥zumðqh bis gesäuert ist

gun¼ eine Frau [¥n]ffkruven sie verbarg [hinein] s€ta trffla drei Maß

ˆlon. alles. Die Sauerteigparabel hat eine chiastische und regelmäßige Struktur. In ihrem Mittelpunkt steht das Verbergen. Die Glieder vor und nach dem Verberge-Vorgang korrespondieren einander: Der nehmenden Frau auf der einen entsprechen auf der anderen Seite 185

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Parabeln in der Logienquelle Q

der Ort und die Richtung des Verbergens. Der Sauerteig zÐmh (zyme¯) hat sein Gegenstück im Durchsäuern ¥zumðqh (ezymo¯the¯). Dem Vergleichspunkt (der Königsherrschaft Gottes) am Anfang entspricht am Ende das ˆlon (holon – alles). Syntaktisch kommt der Frau und ihrem Nehmen ebenso wie dem Weizenmehl und seiner Quantität innerhalb der Parabel eine Nebenrolle zu. Neben der symmetrischen Struktur der Parabel ist die Tempuswahl bemerkenswert. Nach dem einleitenden präsentischen ¥stffln (estin – er/sie/es ist) begegnet sowohl bei finiten wie auch bei infiniten Verbformen nur noch der Aorist. Wird die Zeitform für das Verständnis der Parabel und seine Auslegung fruchtbar gemacht, dann handelt es sich bei dem, was die Parabel beschreibt, um einen punktuellen, d. h. einmaligen Vorgang. Die übliche Deutung der Sauerteigparabel als Bezeichnung eines regulären und alltäglichen Geschehens kann sich nicht auf die verwendeten Tempora stützen. Die Prämisse der Alltäglichkeit hat Konsequenzen für die Interpretation: Syntaktische und semantische Auffälligkeiten (z. B. Positionierung und Bedeutung des »Hineinverbergens«) müssen als regelmäßig erklärt und fehlende Elemente einer typischen Sauerteigbereitung (z. B. das Kneten des Teiges) ergänzt werden. Dadurch tritt die narrative und leserleitende Struktur des Textes in den Hintergrund: Die ersten drei Worte scheinen zunächst eine statische und allgemeine Gleichheit von Königsherrschaft und Sauerteig herzustellen. Doch bereits das sich anschließende Relativpronomen verdeutlicht, dass es sich nicht um Sauerteig schlechthin handelt. Das Partizip im Aorist offenbart, dass der Sauerteig in einen einmaligen Vorgang involviert ist. Die dann genannte Frau stimmt die Lesenden auf eine (normale?) Teigverarbeitung ein. Die Erwähnung der unbedeutenden Einzelheit des Nehmens lässt eine langsam und detailliert erzählte Geschichte erwarten. Das Prädikat konterkariert diese Erwartungen. Der Sauerteig wird nicht verarbeitet, sondern verborgen. Hatten die Lesenden bislang den Sauerteig auf seinem Weg begleitet, so kommt die Bewegung nun abrupt zum Stehen. Der Sauerteig wird punktuell verborgen, doch die Erzählung geht weiter. Die Leserinnen und Leser müssen sich entscheiden, ob sie bei dem abgelegten Sauerteig bleiben oder ihn verlassen und ohne ihn dem Erzählduktus weiter folgen. Ein Verbleiben beim verborgenen Sauerteig nötigt dazu, eigene Vorstellungen von dem, was geschieht, zu ergänzen und textunabhängig eine übliche Verarbeitung anzunehmen: Erst die Zugabe von Wasser, dann das Kneten, das Gären-Lassen und schließlich das Backen. Wer dagegen das punktuelle Verbergen ernst nimmt, folgt der Leitung durch den Wortlaut und entfernt sich damit gleichsam vom abgelegten Sauerteig, über den eine große Menge Mehl gehäuft wird. Auf das Mengenmaß folgt das Zeitmaß: »solange bis durchsäuert ist alles«. Damit sind die Lesenden wieder am Ausgangspunkt angelangt: Von der mit Sauerteig (zÐmh zyme¯) verglichenen Königsherrschaft zur Erwartung der Durchsäuerung (¥zumðqh ezymo¯the¯) des Ganzen. Sich vom Duktus der Erzählung leiten zu lassen, bedeutet Teilhabe am Nehmen des Teigs, an dessen Verbergen sowie an der Rückkehr ohne Sauerteig. Wann der abgelegte Sauerteig sein Säuerungswerk vollendet hat, ist nicht absehbar. Im Matthäusevangelium wird das zentral positionierte »Verbergen« noch im selben Kapitel aufgegriffen (Mt 13,35) und zur Wirkung der Parabeln in Beziehung gesetzt:

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Gott knetet nicht Q 13,20 f.

»Dem ›verborgenen‹ Sauerteig entspricht die Verborgenheit der Wahrheit in den Gleichnissen (V. 35)« (Luz 3 1999, 334).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Zubereitung von Sauerteigbrot lässt sich in zwei grundsätzliche Methoden unterteilen. Im ersten Fall wird der Teig aus Mehl und Wasser über mehrere Tage an einem warmen (nicht heißen) Ort abgestellt, bis er durch Einwirkung von Milchsäurebakterien von selbst zu gären beginnt. Diese Form der Naturgärung lässt sich nur bedingt kontrollieren. Die Qualität des Sauerteiges ist schwankend. Die häufigere Methode ist das Zurückbehalten von unverbackenem Sauerteig und dessen Vermengen und Verkneten mit einer adäquaten Menge Mehl und Wasser (Krauss 1910, 229). Das anschließende Durchsäuern des Teiges vollzieht sich in deutlich kürzerer Zeit. Dieser Vorgang des Verknetens von Sauerteig mit einer angemessenen Menge Mehl und Wasser samt anschließender Gärung wird wiederholt, bis die gewünschte Teigmenge hergestellt ist. Heute bezeichnet man entsprechend der Zahl der Misch-, Knet- und Gärvorgänge einen Sauerteig als ein- bis dreifach »gezogen«. Der so erstellte Teig kann – bis auf den für den nächsten Sauerteigansatz zurückbehaltenen Teig – anschließend verbacken werden. Die Qualität des Teiges ist abhängig von der Temperatur und den Proportionen von Basissauerteig, Mehl und Wasser und von der Gärzeit. Bei der Herstellung eines backfertigen Weizenteiges ist mit einem Verhältnis von mindestens einem Drittel Sauerteig auf zwei Drittel Mehl zu rechnen (Blümner 2 1912, 58). Die hinzuzufügende Menge an lauwarmem Wasser richtet sich nach der gewünschten Konsistenz des Knetteiges. Anders als bei Roggenmehl, bei dem eine gleichmäßige Vermengung mit Wasser und Sauerteig ausreicht, ist für Weizenmehl (˝leuron aleuron) aus biochemischen Gründen ein längeres intensives Durchkneten unerlässlich. Ein Bedecken von Sauerteig mit Weizenmehl bewirkt ohne Kneten keine Durchsäuerung der Elemente. »Bei Weizenteigen sind andere Faktoren [als bei Roggenteigen] für die Teigbildung verantwortlich. […] Die Proteinmatrix wird durch Scherbeanspruchung beim Kneten gedehnt und zusammen mit Quellungs- und Lösungsvorgängen treten Strukturveränderungen an den Proteinen auf. [… Es] kommt zur Ausbildung eines durchgängigen dreidimensionalen Proteinfilms und damit zur Kleberbildung. Dieser Film stellt in einem optimal gekneteten Teig das vorherrschende Strukturelement dar und trägt maßgeblich zum Gashaltevermögen sowie zur Gärtoleranz des Teiges bei […]. In diese Klebermatrix eingelagert befinden sich Stärkepartikel, die, durch den Knetvorgang befördert, zu einer kontinuierlichen Struktur zusammenhaften« (Brandt/Gänzle/Spicher 6 2006, Anm. 17, 34).

Zu einer regulären Bereitung von Weizensauerteig gehört also notwendig die fÐrasi@ (phyrasis – das Kneten; vgl. Hos 7,4; jMSh V,2 [56a17]). Das Kneten jedoch wird in Q 13,20 f. nicht nur nicht erwähnt, sondern an seine Stelle tritt das backtechnisch ungeeignete und sprachlich auffällige »Verbergen« in der Mitte der Parabel. Dadurch, dass neben dem »Verbergen« noch von dem für die Teigbereitung unwichtigen und sich von selbst verstehenden »Nehmen« des Sauerteigs die Rede ist, erhält das Fehlen der regulären Verarbeitungstätigkeiten einen besonderen Akzent: Sie werden betont ausgeschlossen. Dazu passt die einen einmaligen Vorgang bezeichnende Zeitform des Aorist. Die Durchsäue187

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Parabeln in der Logienquelle Q

rung der drei Maß Weizenmehl (ca. 39 Liter), in die hinein Sauerteig verborgen ist, steht noch aus. Auffällig ist die konkrete Angabe der »3 Maß«. Diese Menge begegnet in der alttestamentlichen Tradition dann, wenn Mehl oder Getreide am Beginn einer verheißungsvollen Entwicklung stehen: Sara soll 3 Maß Mehl für die Bewirtung der Männer in Mamre verwenden, die den ersehnten Nachkommen verheißen (Gen 18,6), und Ruth (Ruth 2,17), die Stammmutter Davids, sammelt die adäquate Getreidemenge (1 Epha) auf dem Feld des Boas (LXX Ex 16,36 und Jes 5,10 übersetzen »1 Epha« mit »3 Maß«). Dass es sich bei den »3 Maß« um eine beachtliche Quantität handelt, versteht sich im Kontext der Erzählungen von selbst – der absolute Wert spielt keine Rolle. In der nichtjüdischen antiken Umwelt des Neuen Testamentes galt Sauerteigbrot als bekömmlicher und schmackhafter als ungesäuertes Brot. Sauerteigbrot ist länger haltbar, die Säuerung wirkt dem Befall durch Schimmelpilze entgegen. Die Bewertung von »Sauerteig« in der jüdischen Umwelt Jesu ist ambivalent. Im 5. Buch Mose gilt ungesäuertes Brot als »Brot des Elends« (Dtn 16,3). Beim Auszug aus Ägypten wurde es gegessen, weil die Zeit fehlte, den Teig säuern zu lassen (Ex 12,34.39). In der Passazeit ist sein Genuss zwingend vorgeschrieben (Ex 12,15.19; 13,3.7; Dtn 16,3 f.). Außerhalb der Passazeit war und ist der Verzehr von gesäuertem Brot bei Jüdinnen und Juden der Normalfall.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Das Sauerteig-Motiv begegnet in allen seinen Facetten (Teigbereitung, Säuerungspotential, Sauerteigprodukte) sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Während ungesäuerter Teig in der Regel nicht explizit negativ bewertet wird (vgl. aber Dtn 16,3), kann das Motiv des Sauerteigs positiv und negativ gebraucht werden. Bei den meisten im Pentateuch genannten mit Brot verbundenen Opfern wird Sauerteig ausdrücklich ausgeschlossen (z. B. Ex 23,18; 34,25; Lev 2,11; 6,10; vgl. Am 4,5). Gefordert dagegen ist das Opfern von gesäuertem Brot als Erstlingsgabe nach der Getreideernte in Lev 23,17. In Hos 7,4 wird der Prozess der Brotbereitung als Bild verwandt. Die Säuerung des Teiges steht dabei nicht im Mittelpunkt, sondern kennzeichnet einen Zeitabschnitt. Dominierend für die Bildfeldtradition ist der Gegensatz von Gesäuertem und Ungesäuertem im Kontext der Passafeier. Vor Festbeginn ist jede Spur von Sauerteig zu vernichten (Ex 12,15b; vgl. 1Kor 5,7 f.). Sein Genuss in dieser Zeit ist im Pentateuch bei Androhung der Todesstrafe untersagt (Ex 12,15.19). Das Neue Testament benutzt in Lk 13,21 par. das Sauerteigmotiv als Bild für die Königsherrschaft Gottes. An den anderen neutestamentlichen Stellen ist die Wirkung des Sauerteigs negativ konnotiert: Jesus warnt vor dem Sauerteig der Pharisäer (Mk 8,15 par.), Paulus vergleicht einen Unzüchtigen mit Sauerteig, der hinausgeschafft werden muss. Die Gemeinde wird als neuer ungesäuerter Teig bezeichnet (1Kor 5,6-8; vgl. Gal 5,9). Die Sauerteiggärung wird in den neutestamentlichen Schriften nicht expressis verbis als Fäulnisprozess bezeichnet. Entscheidender Vergleichspunkt ist die ansteckende und verändernde Kraft. Wenn die Bedingungen gegeben sind, genügt ein kleines Quantum, um nach einer gewissen Zeit große Veränderungen hervorzurufen. Die Verände188

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Gott knetet nicht Q 13,20 f.

rungsdynamik vollzieht sich stets in Richtung Säuerung, nie aber umgekehrt. Damit steht ungesäuerter Teig für das Bestehende, das verändert werden kann, ohne dass ihm selbst wandelndes Potenzial eignet. Sauerteig dagegen hat subversive Kraft. Die Verwendung des Sauerteigmotivs in befürwortendem oder warnendem Sinne korrespondiert damit der ablehnenden oder zustimmenden Haltung gegenüber einem Status quo. Während Philo und Josephus noch zwischen dem Gebot der Sauerteigopferung als Erstlingsopfer in Lev 23,17 (Flav. Jos. Ant. 3,252; Philo spec. II.182.184) und dem Verbot der Sauerteigopferung im Kontext der anderen Opfer differenzieren (Flav. Jos. Ant 3,255; Philo congr. 1,169; spec. I. 291.293), geht diese Unterscheidung und damit das Verständnis für die Komplexität des Bildfeldes »Sauerteig« in der christlichen Literatur verloren. So fordert bereits Ignatius (gestorben nach 110 n. Chr.) in seinem Brief an die Gemeinde in Magnesia dazu auf, den alten Sauerteig abzulegen und ein neuer Sauerteig zu werden, der wiederum mit Jesus Christus identifiziert wird (IgnMagn 10,2). Die bei Philo angedeutete Symbolik des Sauerteigs als Bild für einen sich vor Gott aufblähenden und überhebenden Menschen (Philo spec. I. 293) begegnet in den biblischen Schriften nicht.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Prämisse der Mehrzahl der Auslegungen ist, dass es sich bei dem, was die Sauerteigparabel schildert, um ein alltägliches und reguläres Geschehen handelt (z. B. Funk 1971, 158: »a piece of everydayness«). Diese Prämisse veranlasst R. Bultmann dazu, die Parabel wider sein eigenes Gattungsschema als Gleichnis zu klassifizieren (Bultmann 10 1995, 188 f.196) und sie nicht zuletzt wegen ihrer Alltäglichkeit als Gemeindebildung für sekundär zu erklären (a. a. O., 220.222). Chr. Kähler schreibt die Parabel gerade wegen der Alltäglichkeit dem historischen Jesus zu (Kähler 1995, 91-94). Das Lexikon von W. Bauer kreiert aufgrund derselben Prämisse für das Verb krÐptw (krypto¯ – verbergen) die andernorts nicht belegte Nebenbedeutung »hineinmischen« (Bauer 6 1988, 923). J. Jeremias, der sonst bestrebt ist, die Details der Gleichnisse in der konkreten Umwelt Jesu zu verankern, kommt aufgrund der seiner Ansicht nach für eine reguläre Teigbereitung untypischen Mehlmenge zu dem Ergebnis, es handele sich um »Realitäten Gottes« (Jeremias 11 1998, 146). L. Schottroff schließt auf die typische Frauenarbeit zur Zeit Jesu (L. Schottroff 3 2001, 135) und auf den Hunger in der Bevölkerung (2005, 269-271). An anderer Stelle kommt sie zu dem Schluss, das Sauerteiggleichnis spiegele eine »patriarchale Ideologie, in dem es die Frau im Hause zeigt« (3 2001, 130). Darin stimmt sie mit A. Jülicher überein, der die Parabel zum Anlass für eine Skizze des antiken Alltags nimmt: Lk 13,21 aber ist das krÐptein in der Situation noch besonders gerechtfertigt; in der That verschwindet der Sauerteig, der tagelang dort auf dem Sims gestanden hat, vollständig in der Mehlmasse; das Weib schüttet und knetet ihn in diese hinein, ohne dass man an der eine Zunahme bemerkte; dann lässt sie das Gemengsel eine gute Weile, vielleicht mit einem Tuch bedeckt, stehen, und wenn sie es wieder ansieht, ist der Teig mächtig in die Höhe gestiegen, und das Mehl hat sich von oben bis unten in gesäuertes verwandelt (Jülicher II 2 1910, 578).

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Die Möglichkeit, dass mit der Sauerteigparabel alltägliche Vorgänge bewusst konterkariert werden, ziehen die meisten Interpretationen nicht in Erwägung. Die Tempuswahl (Aorist), die Semantik (das für Sauerteigbereitung unpassende »Verbergen«), die Syntax (die betonte Positionierung des »Verbergens«), das Fehlen der für die Teigbereitung zentralen Bestandteile (Wasser) und Tätigkeiten (Kneten, Formen, Backen etc.) sprechen für einen einmaligen und scheinbar absurden Umgang mit Sauerteig und für das Gegenteil eines regulären Vorgangs. Es ist ein Postulat, dass sich die Frau arbeitstechnisch einwandfrei verhalten muss (vgl. Luz 3 1999, 333). Der Einwand, das Hinzufügen von Wasser und das Verkneten des Teigs seien implizit vorausgesetzt und müssten nicht eigens genannt werden, ist nicht unproblematisch. Mit derselben Begründung lassen sich auch andere Texte ergänzen und den jeweiligen Erwartungen anpassen. Ginge es um einen regulären Vorgang, wären das eine Linearität ausdrückende Präsens oder das Imperfekt als Tempus für sich wiederholende Vorgänge zu erwarten. Bei einem »normalen« Gärvorgang jedoch wäre das Ende des Säuerungsprozesses berechenbar. Dem Gleichniserzähler kommt es aber gerade darauf an, dass der Abschluss der Durchsäuerung unabsehbar ist. Wie im markinischen Gleichnis von der selbstwachsenden Saat oder im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, lässt Gott den von ihm initiierten Dingen ihren Lauf, statt verbessernd oder beschleunigend einzugreifen. Gott bewässert keine Saat, Gott lässt kein Unkraut jäten, und Gott knetet nicht.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Textlich ist die Parabel vom Sauerteig in bemerkenswerter Einheitlichkeit bei Mt und Lk überliefert. Eine kleine Unsicherheit besteht, ob bereits die ursprünglichen Fassungen von Q und Lk analog zu Mt ¥nffkruven (enekrypsen – hineinverbergen) statt ˛kruven (ekrypsen) geboten haben. Textkritisch ist für Lukas beides gut belegt, ein sachlich-inhaltlicher Unterschied ergibt sich nicht. Redaktionell sind die jeweiligen Einleitungen (Mt 13,33a; Lk 13,20; vgl. Luz 3 1999, 327): Wie bei der unmittelbar vorangehenden Senfkornparabel spricht Mt vom Königreich der Himmel und Lk vom Königreich Gottes (vgl. Mk 4,30). Im Thomasevangelium finden sich die Parabel vom Senfkorn (Log. 20, »Königreich der Himmel«) und die vom Sauerteig (Log. 96, »Königreich des Vaters«) verteilt auf unverbundene Logien. Die differierende Einbindung der Parabel in den jeweiligen Kontext erlaubt Rückschlüsse auf unterschiedliche Deutehorizonte. Während Mt das Parabelpaar fast ans Ende einer Sammlung von Gleichnissen stellt, die »Getreide« im weitesten Sinne zum Inhalt haben, bietet Lk die Doppelparabel nach der »Heilung der verkrümmten Frau« (Lk 13,10-17), bevor er nach einer Überleitung mit grundsätzlichen Erwägungen über den Zugang zum Reich Gottes fortfährt. Es fällt auf, dass Mk zwar das Senfkorngleichnis (Mk 4,30-32), d. h. den ersten Teil der Doppelparabel und zuvor die zum seltenen markinischen Sondergut gezählte Parabel von der selbstwachsenden Saat bietet (Mk 4,26-29), nicht aber das Wort vom Sauerteig. Zu erwägen ist, ob nicht alle drei Synoptiker die Parabeln vom Sauerteig und der selbstwachsenden Saat für austauschbar angesehen und deshalb auf jeweils eine der beiden verzichtet haben (Luz 3 1999, 334: »seine nächste Parallele ist m. E. das Gleichnis von der 190

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selbstwachsenden Saat«). Eine solche Erklärung unterstützt die zuvor dargestellte Deutung der Sauerteigparabel: Gott hat einen Anfang im Verborgenen gesetzt und forciert nicht die weitere Entwicklung. Matthäus jedenfalls scheint die Parabel in diesem Sinne verstanden zu haben. Er rahmt die Doppelparabel durch die Parabel vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,2430) und deren Erläuterung für die Jünger (Mt 13,36-43). Darin steht nicht Gott im Mittelpunkt, sondern die Jünger, die nicht vor der Zeit eingreifen sollen. Vor der Erläuterung für die Jünger fügt Mt in 13,35 ein Erfüllungszitat ein (LXX Ps 77,2), in dem er das Zentrum der Sauerteigparabel (das »Verbergen«) aufgreift. Demnach spricht Jesus deshalb in Gleichnissen, um zu sagen, was von der Grundlegung der Welt an verborgen war. In 13,35 stellt Mt bewusst einen Bezug zum ¥nffkruven (enekrypsen – hineinverbergen) der Sauerteigparabel her: Er ersetzt die in der Septuagintaversion des Psalms genannten »Probleme« (problffimata proble¯mata) durch das »Verborgene« (kekrummffna kekrymmena). Mt versteht damit die Parabeln als Medium, die Königsherrschaft Gottes, die in der Welt wie der Sauerteig aus Mt 13,33 verborgen ist, offenbar zu machen (vgl. Luz 3 1999, 334). Damit wird für Matthäus die Sauerteigparabel zum Gleichnis für den Sinn der Parabeln von der Königsherrschaft Gottes. Während in Mk 4,12 Parabeln die Funktion haben, die Königsherrschaft Gottes vor »denen draußen« zu verbergen, und sie, um im Bilde zu bleiben, als Sauerteig unter einem Berg Mehl zu begraben, hat das Erzählen von Parabeln bei Mt die Funktion, den Sauerteig, der seit Grundlegung der Welt verborgen war, offenbar zu machen. Ein eigenständiges Verständnis samt einem eigenen Text bietet das Thomasevangelium: EvThom 96: (1) Jesus [spricht]: Das Königreich des Vaters gleicht [einer] Frau. (2) Sie nahm ein wenig Sauerteig. [Sie] verbarg ihn im Mehl (und) machte daraus große Brote. (3) Wer Ohren hat, soll hören. Die »Königsherrschaft des Vaters« wird nicht mit Sauerteig, sondern mit einer Frau verglichen, und der Gegensatz von winziger Sauerteigmenge und den daraus gebackenen großen Broten spielt eine zentrale Rolle. Das Verbergen verliert seine Funktion, stattdessen ist in der Thomasversion ein vollständiger Brotbereitungsvorgang impliziert. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts machte die Sauerteigparabel Kirchengeschichte. Während die lateinische (und die armenische) Kirche mit Blick auf das Passamahl Jesu für die Hostien ungesäuertes Brot verwandte, argumentierte die griechische Kirche mit der Sauerteigparabel für die Verwendung von gesäuertem Brot bei der Eucharistie. So wurde im so genannten Azymenstreit (von ˝zumo@ [azymos – ungesäuert]) das in den Evangelien verborgene Wort vom Sauerteig für das große morgenländische Schisma von 1054 zu einer treibenden Kraft.

Karl-Heinrich Ostmeyer

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Parabeln in der Logienquelle Q

Literatur zum Weiterlesen K. Berger, Manna, Mehl und Sauerteig. Korn und Brot im Alltag der frühen Christen, Stuttgart 1993. C. L. Blomberg, The Mustard Seed and the Leaven (Lk 13:18-21par.), in: ders., Interpreting the Parables, Downers Grove 2 2012, 391-396. M. J. Brandt/M. G. Gänzle/G. Spicher (Hg.), Handbuch Sauerteig. Gegr. v. G. Spicher, 6., vollst. überarb. Aufl. Hamburg 6 2006. R. W. Funk, Beyond Criticism in Quest of Literacy: The Parable of the Leaven, Interpretation 25 (1971), 149-170. Chr. Kähler, Unkraut setzt sich durch, oder: von der Kraft der Ansteckung. Mk 4,30-32 und Lk 13,20 f., in: ders., Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie. Versuch eines integrativen Zugangs zum kommunikativen Aspekt von Gleichnissen Jesu, WUNT 78, Tübingen 1995, 81-99. A.-J. Levine, The Kingdom of Heaven Is Like Yeast, in: dies., Short Stories by Jesus. The Enigmatic Parables of a Controversal Rabbi, New York 2014, 107-125. J. Liebenberg, The Parable of the Leaven in the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, in: ders., The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin u. a. 2001, 335-349. R. S. Schellenberg, Kingdom as Contaminant?: The Role of Repertoire in the Parables of the Mustard Seed and the Leaven, CBQ 71 (2009), 527-543.

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Tretet ein! (Von der verschlossenen Tür) Q 13,24-27 (Mt 7,13 f.; 7,22 f.; 25,10-12 / Lk 13,24-27) (24) Tretet ein durch die enge Tür, denn viele werden versuchen einzutreten und wenige sind es, die durch sie eintreten. (25) Nachdem der Hausherr aufgestanden ist und die Tür geschlossen hat, und ihr anfangen werdet, draußen zu stehen und an die Tür zu klopfen und zu sagen: »Herr, öffne uns!«, und er euch antworten und sagen wird: »Ich kenne euch nicht!«, (26) dann werdet ihr anfangen zu sagen:

(27) Und er wird euch sagen:

»Wir aßen und tranken vor dir und du hast in unseren Straßen gelehrt.« »Ich kenne euch nicht! Weicht von mir, die ihr das Gesetzwidrige tut!»

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der auszulegende Text steht in der Logienquelle Q, der Reihenfolge bei Lukas folgend, hinter den zwei Reich-Gottes-Parabeln vom Senfkorn (Q 13,18 f.) und vom Sauerteig (Q 13,20 f.), die den vorhergehenden Abschnitt abschließen, der von den Jüngern in Erwartung des Menschensohnes handelt (Q 12,2-13,21). Q 13,24-27 eröffnet den nächsten Abschnitt, der mit »Die Krisis Israels« überschrieben werden kann und ebenfalls mit einer Parabel (»Vom Gastmahl«, Q 14,16-23) abgeschlossen wird. Inhaltlich wird in der Textlogik der Logienquelle die Verheißung des Reiches Gottes, das unscheinbar (Senfkorn) und alles durchwaltend (Sauerteig) kommen wird, nun in Q 13,24-27 mit dem Bild von der »engen Tür« kommentiert. Dabei bildet V. 24 die Einleitung mit der Aufforderung »Tretet ein!«. Eintrittsbedingungen, etwa notwendige Verhaltensmodi der Adressaten, werden nicht genannt. Die Aufforderung wird mit dem Hinweis auf die Vergeblichkeit des Versuchs vieler begründet. Dadurch wird aus der attributiven Wendung »enge Tür« eine metaphorische Konstruktion: »Eng« heißt dann zugleich, dass wenige hineinkommen. Die narrative Verbindung von V. 24 mit dem folgenden V. 25 ist eindeutig (»Tür«) und gebrochen zugleich, geht es doch nun um die vom Hausherrn geschlossene Tür. Wann und warum er die Tür verschließt, wird nicht erzählt. Aber was passiert, sobald dies geschieht, wird in Form eines doppelten Gesprächsgangs zwischen den draußen vor der Tür Anklopfenden – wobei die Adressaten von V. 24 Teil der Bildwelt bleiben – und dem Hausherrn in V. 25 einerseits und V. 26 f. andererseits erzählt (vgl. doppeltes ˝rxhsqe [arxe¯sthe] von »anfangen«). Der ersten ablehnenden Antwort des Hausherrn »Ich kenne euch nicht!« folgt gewissermaßen eine Gegenrede derer vor der Tür, die implizit – mit Hinweis auf das (frühere) Essen und Trinken vor dem Angesicht des Haus193

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Parabeln in der Logienquelle Q

herrn und auf seine Lehrtätigkeit in ihren Straßen – genau das Gegenteil behaupten. Daraufhin lehnt der Hausherr mit denselben Worten den Einlass noch einmal ab. Einzige Eintrittsbedingung ist also das Erkanntwerden durch den Hausherrn, wobei der zweiten Ablehnung verschärfend zugefügt wird: »Weicht von mir, die ihr das Gesetzwidrige tut!« Damit erreicht die Parabel ihren dramatischen Höhepunkt und weist zugleich mit dem dadurch erzielten Sinnüberschuss innerhalb der Bildwelt über sich hinaus auf eine andere Verstehensebene. Häufig verwendete Futurformen unterstreichen den eschatologischen Horizont der Parabel, die von Kontrastbegrifflichkeit geprägt ist (viele – wenige, draußen – drinnen, nicht kennen – kennen). Nach hinten rahmen die Verse Q 13,29.28 die Parabel. Sie verweisen wie der vordere Rahmen (die Parabeln vom Senfkorn und Sauerteig) auf das Reich Gottes: In ihm werden viele von Osten und Westen kommend zur Tischgemeinschaft mit Abraham, Isaak und Jakob zusammentreffen. Die Situation derer, die draußen bzw. vor der Tür bleiben, wird mit drastischen Worten ausgemalt: »Ihr aber werdet in die äußerste Finsternis hinausgeworfen werden; dort wird Heulen und Zähneklappern sein.«

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Zur Deutung der Parabel ist in sozialgeschichtlicher Perspektive vor allem die Bedeutung des Themenfeldes Tür – Hausherr – Haus relevant. Das Haus (o ko@ bzw. o§kffla [oikos bzw. oikia]) bezeichnet vom allgemeinen griechischen und hellenistischen Sprachgebrauch kommend die Wohnstätte, gelegentlich auch bestimmte Häuser wie einen Tempel, einen Palast oder auch ein Grab (vgl. ausführlich O. Michel 1954, 122-161). »Hausherr«, o§ko-despth@ (oiko-despote¯s), eine späte Wortbildung, die von despth@ (despote¯s – urspr. Eigentümer; der »Herr« im Gegensatz zum Sklaven) abgeleitet wird, meint analog dazu den Besitzer des Hauses, im Allgemeinen den (Haus-) Vater. Dieser nahm bereits im alten Ägypten, dann in der griechisch-römischen Antike und dem Frühjudentum bis in christliche Zeit als Familienoberhaupt in allen Bereichen des Lebens eine patriarchale (führende, fürsorgende, beschützende) Stellung ein (vgl. Gaudemet 1969 und Dassmann/Schöllgen 1986). Bauweise, Funktion, Größe des Hauses qualifiziert die Parabel nicht näher, so dass ihr wahrscheinlich die einfache und allgemeinverständliche Vorstellung eines (Wohn-) Hauses mit seinem Hausherrn zugrunde liegt. Unabhängig von den Variablen Größe, Ausstattung usw. zeigen Wohnhausgrundrisse immer eine auffällige Gemeinsamkeit: In der Regel besitzen sie nur einen (Haus-) Eingang, nur durch diesen ging es hinein und hinaus (vgl. Höcker 1998, 198-210). (Haus-) Türen gehören schon in der frühgriechischen Architektur (8./7. Jh. v. Chr.) neben Fenstern zu den wichtigsten Bauteilen von Gebäuden. Größe, Form und Ausstattung der Türen richteten sich einerseits vor allem nach ihrer Funktion, können aber andererseits auch die Bedeutung eines Bauwerkes oder den Status seines Besitzers widerspiegeln (vgl. Höcker 2002, 891 f.). Im Vergleich zu großen (z. B. Tempel- oder Stadt-)Toren ist eine Wohnhaustür immer »eng«, selbst wenn sie ggf. zugleich der einzige Zugang zu einem Innenhof war, durch den nicht nur einzelne Menschen nacheinander ein- und ausgingen, sondern auch Tiere mitgeführt wurden. Analog zu dieser Evidenz im Blick auf die enge (Wohnhaus-)Tür, die die Parabel voraussetzt, kann ergänzend auf eine interessante Besonder194

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Tretet ein! Q 13,24-27

heit bei Stadttoren hingewiesen werden: Wenn bei Einbruch der Nacht das schwere Stadttor geschlossen wurde, gab es für die verspätet ankommenden Menschen oder für Notfälle eine kleine Tür in diesem Stadttor oder neben ihm, durch die nur einzelne Personen nacheinander gelangen konnten (vgl. Bovon 1996, 433). Türen bestimmen über »Drinnen« und »Draußen« und damit auch über die Zugehörigkeit zu einer familiären, sozialen oder religiösen Gemeinschaft. (Haus-) Türen (griech. qÐra thyra) und (Stadt-) Tore (griech. pÐlh bzw. pulðn [pyle¯ bzw. pylo¯n], manchmal auch qÐra [thyra]) schützen vor ungebetenen Gästen, gewährleisten Schutz, wachen über die in einem familiären, sozialen oder religiösen Gefüge geltenden Regeln (vgl. Deselaers 2001, 110). Haustüren werden abends verriegelt, später – wie bei uns heute – verschlossen (vgl. Lk 11,7). An die Tür anzuklopfen, auch in Notsituationen, ist nicht ungewöhnlich (vgl. Lk 11,10).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Schon im alten Orient und in Ägypten besitzen Türen und Tore neben ihrer realen Funktion als Übergang zwischen räumlichen Einheiten von Gebäuden und nach draußen eine symbolisch-magische Bedeutung. So findet man z. B. in neuassyrischer Zeit (9.-7. Jh. v. Chr.) an Türen und Tordurchgängen öffentlicher Gebäude apotropäische Mischwesen (vgl. Hausleiter/Nissen 2002, 890 f.). In der römischen Mythologie gehört der Name des römischen Gottes Ianus als doppelgesichtiger Gott des Eingangs und Ausgangs zur gleichen Wortfamilie wie »ianus« (Durchgang, Torbogen) und »ianua« (Haustür, Tür, Eingang). Von daher leitet sich auch unsere Monatsbezeichnung »Januar« ab, als Schwellenmonat in ein neues Jahr (vgl. Graf 1998, 858-861). Die Begriffe »Tür« und »Tor« werden auch im AT und NT von Anfang an auch im metaphorischen Sinn verwendet, so z. B. im AT als Bezeichnung für den Zugang zum Himmel (Gen 28,17; Ps 78,23) und zur Unterwelt der Toten (Jes 38,10; vgl. auch Sir 51,9; SapSal 16,13). Über den realen Sinn hinaus findet ebenso der Begriff »Haus« Verwendung und zwar für die Familie, als Metonymie für Menschen, die – auch im weiteren Sinne – zusammenwohnen und verwandt sind. Dieser Sprachgebrauch findet sich sowohl im AT (Gen 7,1; 12,17 u. ö.) als auch im NT (Mk 1,29; 3,25; 5,38 u. ö.). »Haus« kann im übertragenen Sinn auch für das irdische und das ewige Leben gebraucht werden (2Kor 5,1). Die Rede vom »Haus Gottes« als Heiligtum bzw. Tempel ist breit belegt (Gen 28,17.19; Ri 17,5; 18,31; 2Sam 12,20 u. ö.), auch die Glaubenden können als »Gottes Haus« bezeichnet werden (Hebr 3,6). Darüber hinaus ist die Symbolik des Hauses bis in unsere Zeit vielfältig (vgl. Stiewe/Vouga 2005, 205 ff.). Der Begriff »Hausherr« kann ebenfalls von biblischen Texten eindeutig metaphorisch für Gott gebraucht werden (Mt 21,33; 24,43; Lk 12,39; 14,21). Man kann sogar sagen, dass sich gerade umgekehrt etwa in den Parabeln vom Himmelreich die häuslichen Verhältnisse Palästinas widerspiegeln und die Hausgemeinschaft eines bäuerlichen Landguts vorausgesetzt ist (Mt 10,25; 13,27.52; 20,1.11; 21,33; 24,43 u. ö.). Was ist schließlich mit der Rede von den Tätern der ⁄nomffla (anomia – Gesetzwidriges) ganz am Ende der Parabel gemeint? Gerade dieser Ausdruck sprengt ja die Bildwelt der 195

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Parabeln in der Logienquelle Q

Parabel und macht auf ihren metaphorischen Charakter aufmerksam. Hier zeigt sich innerhalb der Parabel die Tatsache, dass Q insgesamt ein besonderes Augenmerk auf ethisch gutes Verhalten, Wachsamkeit und Bereitschaft legt (vgl. Q 3,8; 6,46 f.; 12,3540.42-46; 17,22-37) und zwar vor dem Hintergrund der Neuinterpretation der Tora bzw. des Gesetzes durch Jesus (vgl. A. Weiser 1993, 21-43).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die reale (schützende und Ordnung erhaltende) Funktion von Türen und Toren spiegelt ihre metaphorische Bedeutung: Innerhalb des Hauses, im Reich Gottes ist in guter Ordnung gelingendes und heilvolles Leben möglich. Die Deutung von Q 13,24-27 kann mit Verweis auf die eschatologische Perspektive und Rahmung des Textes unter zwei Gesichtspunkten zugespitzt werden: 1. Die Situation Israels und der ganzen Welt beschreibt die Parabel »bei Sonnenuntergang der jetzigen Zeit und in der Morgendämmerung der eschatologischen (das große Tor ist schon geschlossen)«. Der Entschluss, der gefasst werden muss, ist also der der »letzten Chance«, denn die enge Tür ist noch passierbar. Implizit scheint prophetisch-mahnend die Kritik auf, nicht schon zur rechten Zeit eingetreten zu sein (Bovon 1996, 433). 2. Wird der Fokus auf das »(Nicht-) Kennen« gelegt, ergibt sich ein anderes Verständnis. Dann wird die Rede von der (engen) Tür über das Motiv des (Nicht-) Kennens auf die Beziehung zu Gott übertragen. In diesem relationalen Fokus eignet dem eschatologischen Horizont der Parabel vor allem ein verheißungsvoller Anstoß zur Veränderung der eigenen (gegenwärtigen) Gottesbeziehung. Nur unbeteiligt vor dem (Angesicht des) Hausherrn essen und trinken und ihn scheinbar unbeteiligt nur in den Straßen lehren sehen, also in einer passiven Haltung erstarren, wird als gesetzwidriges Tun interpretiert. Solch eine Haltung verhilft nicht dazu, vom Hausherrn erkannt zu werden. Nicht, weil Gott uns nicht kennen will oder möchte, sondern weil in einer passiven Haltung eine existentielle Gott-Mensch-Beziehung nicht möglich ist, die der bedingungslosen Aufforderung »Tretet ein!« gerecht wird. Die Enge der Tür symbolisiert in dieser Deutung also gerade das existentielle In-Beziehung-Sein zu Gott und nicht etwa negativ die prinzipielle Unmöglichkeit, dass alle durch die Tür gelangen können. Fazit: Die in der Regel mit den Worten »Von der verschlossenen Tür« überschriebene Parabel kann – wie auch die Texte ihrer synoptischen Parallelüberlieferung (s. u.), und das ist die Regel – prophetisch-mahnend gedeutet werden. Allerdings neigt diese Deutung dazu, die Parabel vor allem oder gar ausschließlich »streng« und »pessimistisch« zu lesen (vgl. Bovon 1996, 426). Darum erscheint es angemessen, neben dieser Deutung als zweite Deutung die oben entwickelte einladend-relationale Deutung zur Geltung zu bringen und die Parabel als verheißungsvolle Warnung zu charakterisieren, insofern es ja nicht ihr Ziel ist, das »Ich kenne euch nicht!« Gottes und die Trennung von ihm festzuschreiben, sondern als Evangelium – im Gegenteil – ermutigend aufzufordern: Tretet ein!

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Tretet ein! Q 13,24-27

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte 1. Im Lukasevangelium ist die Parabel leicht bearbeitet in einem neuen Kontext zu finden, der ihre Deutung bestimmt. Der Text entspricht im Wesentlichen Q. Allerdings wird V. 24 eingeleitet mit »Kämpft darum« durch die enge Tür einzutreten. Außerdem wird Jesus als Erzähler gekennzeichnet (»… denn viele, sage ich euch, werden …«) und statt »… und wenige sind es, die durch sie eintreten« heißt es mit Bezug auf die vorher erwähnten »viele« »… und werden es nicht können«. In V. 25 wird die griechische Vokabel für »verschließen« statt »schließen« gebraucht und »ich kenne euch nicht« ergänzt mit »woher ihr seid«, so dass sich hier (wie auch in der wörtlichen Wiederaufnahme in V. 27) die Übersetzung »ich weiß nicht, woher ihr seid« ergibt. V. 27 schließlich endet bei Lukas mit »… weicht von mir all ihr Täter des Unrechts«. Eingebettet in den so genannten lukanischen Reisebericht (Lk 9,51-19,27; vgl. Lk 13,22) ist die Parabel erster Teil einer mehrgliedrigen Antwort auf die Frage eines Menschen, den Jesus unterwegs trifft: »Herr, gibt es wenige, die gerettet werden?« Schlusspunkt der Antwort auf diese Frage bildet die lukanische Formulierung: »Und siehe, es sind Letzte, die Erste sein werden, und sind Erste, die Letzte sein werden.« (Lk 13,30). Dies scheint auf den ersten Blick der narrativen Logik von Lk 13,25-29 zu widersprechen. Im lukanischen Kontext spiegelt die Parabel allerdings einen Vorwurf an unentschiedene Zuschauer, die nicht den geringsten Einsatz für die »Sache Jesu« zeigen: Letzte werden von Gott zu Ersten erklärt unter der Voraussetzung ihres »kämpferischen« Einsatzes um den Eintritt durch die enge Tür (vgl. Lk 13,24). Die persönliche Entscheidung und weniger ein unmittelbar bevorstehendes eschatologisches Geschehen bewahrt bei Lukas das Motiv der Dringlichkeit. 2. Im Matthäusevangelium ist die Bearbeitung der Q-Vorlage komplizierter, da sich einzelne Verse in stark bearbeiteter Form und in unterschiedlichen Kontexten finden. Der Türspruch V. 24 findet sich in erweiterter Form direkt nach der so genannten »Goldenen Regel«, die den Hauptteil (Mt 5,17-7,12) der Bergpredigt (Mt 5,1-7,27) programmatisch abschließt, zu Beginn des Schlussabschnittes der Bergpredigt (Mt 7,13-27) in Mt 7,13 f. Ebenso finden sich möglicherweise die V. 26 f. in stark überarbeiteter Form in diesem Schlussabschnitt der Bergpredigt in Mt 7,22 f. (zur Bergpredigt vgl. Stiewe/Vouga 2001). Schließlich ist für den ersten Teil des Dialogs (V. 25) im Blick auf eine Parallelüberlieferung auf Mt 25,10-12 hinzuweisen. Zunächst zu Mt 7,13 f. im ersten Teil des Schlussabschnittes der Bergpredigt: Mt 7,13 f.: (13) Tretet ein durch das enge Tor, denn weit ist das Tor und breit ist der Weg, der in das Verderben führt und viele sind es, die durch es hineinkommen. (14) Wie eng ist das Tor und wie schmal ist der Weg, der in das Leben führt, und wenige sind es, die es finden. Die Erweiterung um das traditionelle Zwei-Wege-Motiv (vgl. Did 1,2-5,2; zur Symbolik vgl. auch Dtn 11,26-28; 30,15-20; Jer 21,8; Ps 119,29 f. u. ö.) geht vermutlich auf Matthäus zurück und stellt vor das Entweder-Oder von zwei existentiellen Haltungen, die sich gegenseitig ausschließen. Legt man das Gewicht stärker auf eine ethische Interpretation der Metapher des Weges (vgl. z. B. auch Mt 21,32; Mt 22,16), so unterstreicht der

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Parabeln in der Logienquelle Q

(schmale oder mühsame) Weg zur Vollkommenheit, den die Gemeinde durch das Tun des Willens Gottes geht, das theologische Grundmotiv bei Matthäus. Nun zu Mt 7,22 f.: Das Tun des Gotteswillens spielt auch im zweiten und dritten Teil des Schlussabschnitts der Bergpredigt Mt 7,13-27 eine Rolle: Die Entscheidung, die die Jünger und die Zuhörer Jesu zwischen den beiden Wegen treffen müssen, wird zunächst anhand der Frage nach wahrer und falscher Prophetie interpretiert (Mt 7,15-20, vgl. Q 6,43-45.46) und dann die Bedeutung der Entscheidung durch die Warnung vor den falschen Propheten im dritten Teil veranschaulicht (Mt 7,21-23). Diese Warnung vor den falschen Propheten beginnt mit der wesentlichen Aussage: »Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das Reich der Himmel hineinkommen, sondern der, der den Willen meines Vaters in den Himmeln tut.« Die daran anschließenden Verse haben möglicherweise in stark überarbeiteter Form Q 13,26 f. als Vorlage: Mt 7,22 f.: (22) Viele werden mir sagen an jenem Tag: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Wunder getan? (23) Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nicht gekannt. Geht weg von mir, die ihr das Gesetzwidrige tut. »Die Feststellung, daß nicht alle, die den Herrn anrufen, in das Reich der Himmel eintreten werden, muß wiederum nicht als eine Drohung verstanden werden, sondern vielmehr als eine liebevolle Warnung: Der Wille und die Verheißung des himmlischen Vaters ist, daß alle Völker (Mt 28,18-20) in das Himmelreich eintreten« (Stiewe/Vouga 2001, 243). Die Bergpredigt endet schließlich mit der Parabel vom Hausbau auf Fels oder Sand (Mt 7,24-27), die ihrerseits auf Q 6,47-49 zurückgeht und den Hörern und Tätern des Gotteswillens neben einer abschließenden Warnung vor allem eine auf Felsen und nicht auf Sand gegründete Existenz verheißt – und als Verheißung an den Beginn der Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen erinnert (Mt 5,3-11). Haben der Türspruch (V. 24) und der zweite Teil des Dialogs (V. 26-27) der Parabel ihre Parallelen bei Matthäus wie dargestellt im Kontext der Bergpredigt, findet sich eine Parallele zum ersten Teil des Dialogs (V. 25) vermutlich im Schlussteil der Parabel von den klugen und törichten jungen Frauen in Mt 25,10-12: Mt 25,10-12: (10) Als sie aber weggingen, um (Öl) zu kaufen, kam der Bräutigam, und die, die bereit waren, gingen mit ihm hinein zum Hochzeitsfest, und die Tür wurde geschlossen. (11) Später kommen aber die übrigen jungen Frauen und sagen: »Herr, Herr, öffne uns.« (12) Er aber antwortete und sagte: »Amen, ich sage euch, ich kenne euch nicht.« In diesem matthäischen Kontext liefert der schlussfolgernde Vers Mt 25,13 den Deutungshorizont der Parabel: »Seid also wach, denn ihr kennt weder den Tag und die Stunde.« (Vgl. zu Mt 25,1-13 und insbesondere zu den beträchtlichen Parallelen zu V. 13 den entsprechenden Beitrag in diesem Kompendium.)

Dirk Jonas

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Tretet ein! Q 13,24-27

Literatur zum Weiterlesen T. Baarda, »… thereafter he shut the door«: Matthew 25.10c in the »Schøjen Codex«; A Short Note, NTS 54 (2008), 275-281. M. Stiewe/F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums, NET 2, Tübingen u. a. 2001, 235-272. Dies., Das Evangelium im alltäglichen Leben. Beiträge zum ethischen Gespräch, NET 11, Tübingen u. a. 2005, 199-250.

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Vom Wirken des Salzes (Vom Salz) Q 14,34 f. (Mk 9,49 f. / Mt 5,13 / Lk 14,34 f.) (34) Gut ist das Salz. Wenn aber das Salz dumm wird, womit wird man würzen? (35) Es ist weder für die Erde noch für den Kompost nütze, man wirft es hinaus.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Das Wort vom Salz steht in der Logienquelle Q nach der Parabel vom großen Festmahl (Q 14,16-24) in einem Komplex von Sprüchen über die Bedingungen der Nachfolge: Hass der Familie (14,26), Tragen des Kreuzes (14,27) und das Finden oder Verlieren des eigenen Lebens. Damit befindet es sich im allgemeinen Kontext der Konsequenzen der Jüngerschaft. Die Parabel beginnt mit einem Nominalsatz, der die Güte des Salzes betont. Auf diese Zustandsbeschreibung folgt ein Konditionalsatz, der den Gegensatz dazu, das ›Dummwerden des Salzes‹, einführt. Er mündet im Nachsatz in eine rhetorische Frage, die eine negative Antwort voraussetzt (Bovon 1996, 54): Womit kann man würzen, wenn das Salz seine Wirksamkeit verliert? Die implizierte Antwort, dass das Salz so nicht würzen kann und dass nichts das Salz ersetzen kann, bleibt unausgesprochen. Der Text schließt mit zwei Hauptsätzen, die sich dem Schicksal des unwirksamen Salzes zuwenden. Der erste antwortet indirekt auf die rhetorische Frage, indem er in steigernder Überbietung die völlige Nutzlosigkeit des Salzes betont, und der zweite beschreibt das Schicksal des Salzes: Es wird weggeworfen. So besteht die logische Struktur der Passage aus dem Kontrast der zwei Teile: 1. Beschreibung eines Zustands – das Sein des Salzes; 2. Sequenz, die den gegenteiligen Zustand – das Salz entspricht diesem Sein nicht – und die Folgen untersucht. Auch wenn auf den ersten Blick keine Geschichte erzählt wird, finden sich in der zweiten Hälfte narrative Elemente in der zeitlichen Aufteilung von vor dem ›Dummwerden‹ des Salzes und danach und der Ausgestaltung des Schicksals des ›dummen Salzes‹. Es gibt zwar kein ausdrücklich genanntes handelndes Subjekt. Durch die rhetorische Frage öffnet sich jedoch eine Miniatur-Erzählung, in der die Hörer die Rolle der Hausfrau übernehmen, die sich in der misslichen Lage findet, für die Essenszubereitung nur verdorbenes Salz zu haben, und die nun entscheiden muss, was mit diesem Salz geschehen soll. Die Parabel selbst lässt keinen Zweifel über den Ausgang zu: Das Salz hat keinerlei Nutzen und wird weggeworfen. Die Deutung der Parabel dreht sich um zwei Pole: 1. die Bedeutung des Salzes; und 2. den Verlust seiner Eigenschaften. Zu beiden Polen gibt es Deutungshilfen: So wird im ersten Satz durch die betonte Stellung des Adjektivs »gut« am Anfang der Grundzustand mit einem positiven Vorzeichen versehen. Im zweiten Satz wird durch das Verb mwrafflnesqai (mo¯rainesthai – dumm werden) das Bild auf den Menschen hin gedeutet: Im allgemeinen griechischen Wortgebrauch bezieht es sich nicht auf den sinnlichen Geschmack, sondern auf die menschliche Dummheit. So entsteht eine semantische Span200

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Vom Wirken des Salzes Q 14,34 f.

nung, die beim Lesen aufhorchen lässt: Wie kann Salz dumm geworden sein? Dennoch wird mwr@ (mo¯ros – dumm) gelegentlich auch für ungewürzte Speisen im Sinn von »fad« gebraucht (Bertram 1942, 837). So ist die Metapher zwar ungewöhnlich, aber nicht einzigartig. Ihre genauere Bestimmung erfolgt durch den historischen Kontext.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Salz ist für den Menschen lebenswichtig. Von Anbeginn der Zeiten ist es als Nahrungszusatz bekannt. In der griechisch-römischen Antike wurde Salz über die Ernährung hinaus zur Bearbeitung von Häuten, zur Herstellung von Metallen, Farben, bei der Konservierung von Nahrungsmitteln und Salben und in der Medizin verwendet (Daschner 1999, 1051; Blümner 1920, 2088-2094). Salztafeln wurden auch als Katalysatoren für Öfen eingesetzt. Mit der Zeit waren sie aufgebraucht, verloren ihre Wirkung und mussten weggeworfen werden (Bovon 1996, 546). Auch im Alten Testament ist Salz als Würze von Bedeutung (Sir 20,19; Hi 6,6). Opfer müssen gesalzen werden (Lev 2,13), so dass Salz im Tempel in großen Mengen gelagert wurde (Esr 4,14; 6,9; 7,21 f.). Salzhandel und -steuern werden auch erwähnt (1Makk 10,29; 11,35). Neugeborene wurden mit Salz eingerieben (Ez 16,4), wohl als medizinische Behandlung (Daschner 1999, 1051; Zwickel 2005, 73 f.). Aufgrund seines vielseitigen Gebrauchs stand Salz bei allen Kulturnationen in hohem Ansehen und war ein wichtiges Handelsgut. Man unterschied Salz verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Güte (Daschner 1999, 1051). Schon in der Antike gab es neben dem Aufsammeln von Salz, das sich durch Verdunstung angesammelt hatte, den Abbau von »Steinsalz« aus Bergwerken, wie auch die Herstellung von Salz aus dem Meer oder aus Salzseen, indem Salzwasser in Formen getrocknet wurde (Blümner 1920, 20752088). In biblischen Zeiten bezog Palästina wahrscheinlich sein Salz hauptsächlich aus dem Toten Meer (Ross 1962, 167). Jedoch erst in römischer Zeit wurde das Salz dort intensiv abgebaut, was unter anderem zu dem Anwachsen der Fischpökelindustrie am See Gennesaret beitrug (Zwickel 2005, 75). Das Salz aus dem Toten Meer ist nicht rein, selbst wenn es durch Sieden oder Verdunsten gewonnen ist. Es besteht nur zu einem Drittel aus Kochsalz (Luz 5 2002, 298 f.). Dementsprechend löste es sich bei feuchter Lagerung nicht restlos auf, sondern das Salz wurde ausgespült, während andere Substanzen übrig blieben (Klein 2006, 517). Im Gegensatz zu anderen Küchenabfällen brachte dieser Rest dem Haushalt jedoch nicht einmal indirekt als Kompost für Garten und Feld einen Nutzen. Der Umgang mit unreinem Salz und das Wegwerfen der Reste wird auch in rabbinischen Texten bestätigt: In Chul 113a wird erzählt, dass um 320 n. Chr. Rab Dimi das Fleisch mit Steinsalz salzte und es dann abschüttelte (Billerbeck I 2 1926, 233). Für die Auslegung der Parabel ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: Wenn das »fad Werden« eine reale Möglichkeit bezeichnet, bezieht sich der Spruch auf das unreine Salz, z. B. vom Toten Meer, aus dem sich nach einer Zeit das Kochsalz herauslöste. Die Betonung der Güte des Salzes am Anfang deutet jedoch darauf hin, dass mit dem Satz »Gut ist das Salz« pures Salz gemeint ist, da auch in der Antike reines Salz bekannt war. So wird die prinzipielle Unmöglichkeit der Entwicklung herausgestellt: Das Salz kann seinen Geschmack nicht verlieren (Bovon 1996, 546). 201

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Parabeln in der Logienquelle Q

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Im Neuen Testament erscheint das Salz nur in den synoptischen Ausprägungen des Bildes vom Wirken des Salzes. Die Auslegung ist somit ausschließlich auf den praktischen Gebrauch und die existierenden Deutungen des Salzes angewiesen. Salz hatte ein breites Bedeutungsfeld. Ausgehend von seiner Bedeutung als Nahrungsmittel war Salz ein Symbol der Gastlichkeit und Freundschaft (Blümner 1920, 2089), im übertragenen Sinn bezeichnete ein Verweis auf Salz eine bissige Rede (Blümner 1920, 2091). In kultischem Kontext rühmte man es wegen seiner reinigenden Kraft (Blümner 1920, 2088–2094). Der Zusammenhang von Salz und Reinigung führte wohl zu dem im Alten Testament bezeugten Brauch, das Land besiegter Völker durch Bestreuen mit Salz unfruchtbar zu machen (Ri 9,45; Dtn 29,22 f. etc.), was die Bedeutung von Salz mit Gericht und völliger Vernichtung verband (Gen 19,26; Ri 9,25; Ps 107,33 f.; Jer 17,6), wie auch mit der Ferne von Gott (Hi 39,6; Zeph 2,9). Doch galt Salz auch aufgrund seiner reinigenden Wirkung als Bild der Haltbarkeit und Dauer – auch der eines Bundes – (2Kön 2,19-22; Num 18,19; 2Chron 13,5) (Ross 1962, 167; Daschner 1999, 1051; Zwickel 2005, 73 f.). Diese Bedeutungsbreite findet sich auch im Judentum. So erwähnt Philo das Salz häufig im Zusammenhang der Gastfreundschaft (Philo somn. II 210; Jos 196,210). Er betont auch die Bedeutung des Salzes als Symbol der Dauerhaftigkeit (Philo spec. I 175; Lattke 1984, 56 f.). Dass das Salz »dumm wird« findet sich in Bekh 8b, einer Episode über Jehoshua ben Chananja (um 90 n. Chr.). In einer Diskussion im Athenäum in Rom wird als Beispiel für eine erfundene Geschichte eine Mauleselin genannt, die ein Junges bekommt. Darauf wird Jehoshua gefragt, womit man Salz salzen soll, »wenn das Salz dumm wird«. Er antwortet: »Mit der Nachgeburt einer Mauleselin« (Billerbeck I 2 1926, 236). Der Kontext macht Bezüge auf christliche Traditionen unwahrscheinlich. Dagegen scheint das Sprichwort von der trächtigen Mauleselin, wie auch das von Salz, das »dumm wird«, Teil einer Bilderwelt zu sein, die einen gänzlich undenkbaren Fall ausdrückt (Luz 5 2002, 298). In dem rabbinischen Kontext liegt die Aussagerichtung nicht auf der Frage, was an Stelle des Salzes zum Würzen genommen, sondern womit das Salz wieder würzig gemacht werden kann. Die Rede vom »Hinauswerfen« des unbrauchbaren Salzes nimmt Gerichtssprache auf. Das wird durch den Vergleich mit dem Bild vom unfruchtbaren Baum (Mt 3,10; 7,19; Lk 3,9) oder den Körperteilen, die Ärgernis erregen (Mt 5,29; 18,8), deutlich, in denen es auch darum geht, etwas, das nicht seinen Zweck erfüllt, wegzuwerfen, ehe man selbst ins Feuer oder in die Hölle geworfen wird.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Salz hat die grundlegende Bedeutung, dass es das Essen schmackhaft macht (Pesch 4 1991, 116). Es muss sich jedoch auflösen, um zu würzen, um seine Funktion zu erfüllen (Drewermann 1992, 429). Grundsätzlich zeigt also die Parabel, dass jemand, der sich dagegen sträubt, in seiner Bestimmung aufzugehen, dem Salz gleicht, das sich nicht auflöst, das nicht würzt und daher weggeworfen werden muss (Drewermann 1992, 431). Es geht also nicht um das Salz als Würze, sondern um das würzende Wirken des Salzes. 202

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Vom Wirken des Salzes Q 14,34 f.

Auch wenn man berücksichtigt, dass Salz in der Opferzubereitung ein wesentlicher Bestandteil war, beschreibt das Salz in der Parabel keine bestimmte Eigenschaft derer, die Jesus nachfolgen, sondern ihre Funktion, ihr Wirken in der Welt. Durch ihre Gegenwart bereiten sie die Welt zum Opfer für Gott (Beutler 1994, 93). Tun sie das nicht, dann sind sie schlimmer als nutzlos. Die Opferdeutung bleibt jedoch im Hintergrund, da der Tempel nicht in der Parabel erwähnt wird. Dagegen lenkt sie den Blick durch die Erwähnung des Komposts auf den einfachen Hausgebrauch. Die Parabel selbst legt nicht fest, was das Salz-Sein, das Wirken der Hörenden, ausmacht, ob etwa auf eine reinigende oder konservierende Funktion des Salzes angespielt wird. Darin liegt die Offenheit des Bildes, die durch den jeweiligen Kontext eine bestimmte Deutung erfährt. Nun stellt sich die Frage, ob das Bild mit der realen Möglichkeit rechnet, dass das Salz fad wird oder nicht. Heutzutage besteht Salz aus reinem Kochsalz, es ist gewissermaßen die Essenz des Salzes. Dadurch wird die Wirkung des Bildes noch stärker (gegen Gnilka 3 1993, 134): Wenn Salz nicht mehr Salz ist, hat es das verloren, was sein Wesen ausmacht. Für sich genommen, bezieht sich daher das Bild auf die Unmöglichkeit, dass das Salz einmal nicht mehr Salz sein könnte (Bertram 1990, 842-844). Denn Salz ist nicht Salz, weil es sich das ausgesucht hätte, sondern weil es so geschaffen ist (Schellong 1999, 260). Christen können nicht anders, als in der Welt zu wirken. Es macht ihr Wesen aus, ganz in ihrer Aufgabe aufzugehen. In diesem Sinn ist das Wort vom Salz ein Zuspruch an die Hörer. Gleichzeitig spielt die Parabel die unmögliche Möglichkeit durch, dass es Christen gibt, die nicht ihrem Wesen entsprechend handeln. Im Kontext der Sprüche zur Jüngernachfolge in Q zeigt sich konkret die Erfahrung, dass manche Christen sich falsch verhalten. Ihnen gilt das Drohwort, dass das nutzlose Salz hinausgeworfen wird. So halten sich Zuspruch und Mahnung die Waage.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Auch in den synoptischen Evangelien bleibt die Parabel im Kontext der Jüngerermahnung. Mk 9,49 f.: (49) Denn jeder wird mit Feuer gesalzen werden. (50) Gut ist das Salz; wenn aber das Salz salzlos wird, womit wird man es würzen? Habt Salz bei euch und habt Frieden untereinander. Bei Markus findet sich das Wort vom Salz im Kontext der Warnung an die Nachfolgenden vor Verführung und vor Abfall (9,33-50). Es beginnt mit einer Gerichtswarnung, die auch das Stichwort des »Salzens« aufnimmt (9,49). Wie in der o. a. rabbinischen Episode Bekh 8b wird nicht danach gefragt, womit man salzen soll, wenn das Salz versagt, sondern – eventuell in unveränderter Aufnahme eines ›Sprichwortes‹ – wie man das Salz wieder würzig machen kann. Der Bezug auf das Feuer schließt an traditionelle Gerichtsvorstellungen an, geht aber nicht von einem Gericht im Sinn der Scheidung der Guten und Bösen, sondern von einer Scheidung von gut und böse im Inneren jedes einzelnen Menschen aus (vgl. 1Kor 3,15; Pöttner 2000, 302-312). Der Gerichtskontext wird jedoch sofort verlassen: Anstelle des Nachsatzes über das Schicksal des nutzlosen Salzes wird in einer Aufforderung zur Einigkeit an die Jünger die Bedeutung der Gastfreundschaft aufgenommen (Lattke 1984, 48-59). Deswegen gebraucht Mk nicht den übertragenen Ausdruck mwrafflnesqai (mo¯rainesthai – dumm werden), sondern den konkreten ˝nalon gffnhtai (analon gene¯tai – salzlos werden), der den Selbstwiderspruch des Versagens stär203

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Parabeln in der Logienquelle Q

ker betont. So sieht Markus im Bild vom Salz eine Paränese und Zusage an die Jünger. Gleichzeitig steht die Parabel bei Markus im Gesamtkontext des kontinuierlichen Versagens der Jünger (Pöttner 2000, 296-302). Lk 14,34-35a: Text wie Q (s. o.) Das Lukasevangelium gibt in Lk 14,34-35a den Text von Q und seinen Kontext nahezu unverändert wieder und schließt mit dem Spruch »Wer Ohren hat, zu hören, der höre«. Damit bezieht sich die Parabel wie in Q auf die Bereitschaft der Jünger zur Entsagung und zum Martyrium (Bovon 1996, 54). Mt 5,13: Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz dumm wird, womit wird man würzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet, dass es von den Menschen zertreten wird. Im Matthäusevangelium steht der Spruch vom Salz in 5,13-16, gleich nach den Seligpreisungen am Anfang der Bergpredigt, im Kontext der letzten Seligpreisung der verfolgten Jünger. Die Parabel ist verbunden mit der vom Licht unter dem Scheffel. Matthäus verändert die Vorlage, indem er den ersten Satz explizit auf die Hörer bezieht. Durch die Hinzufügung »Salz der Erde« erhält das Bild eine missionarische Bedeutung auf die ganze Welt hin (Luz 5 2002, 297), nicht nur auf die Juden (gegen Beutler 1994, 85). Der Nachsatz verstärkt den Gerichtsaspekt, indem das Zertreten des Salzes erwähnt wird. Das Scheitern an der Aufgabe ist auch hier eine reale Möglichkeit (s. Mt 25,30, wo der untreue Knecht auch in die Dunkelheit geworfen wird). Durch das anschließende Wort vom Licht unter dem Scheffel öffnet sich die Deutung des Bildes vom Salz: Die Christen sind Zeugnis des Glaubens zur Ehre Gottes (Luz 5 2002, 303). Das kombinierte Wort ist auch Teil der Jüngerermahnung. In der weiteren Kirchengeschichte ist die Parabel meist als Gerichtswort (z. B. Kyrill von Alexandrien, Katene zu Lk 14,34) wahrgenommen worden. Das führte dazu, dass z. B. in der protestantischen Tradition immer wieder versucht wurde, das Versagen des Salzes inhaltlich zu füllen, sei es als Hochmut oder Mangel an Hingabe, Liebe oder Opferbereitschaft (Bertram 1990, 843 f.). Die Kirchengeschichte zeigte immer wieder die Realität des Versagens des Salzes. Die Deutung verschob sich damit in dem Bemühen, dem angesagten Gericht zu entgehen, von dem Wirken des Salzes zu seiner Definition, von der Zusage zur Mahnung.

Jutta Leonhardt-Balzer Literatur zum Weiterlesen H. Blümner, Art. Salz, PRE II.2 (1920), 2075-2099. M. Pöttner, »Denn jeder wird mit Feuer gesalzen werden« (Mk 9,49). Hermeneutische und semiotisch-philosophische Erwägungen zu einem markinischen Rätselwort, in: R. Zimmermann (Hg.), Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen, Übergänge 38, München 2000, 293-312. G. Vattamány, Kann das Salz verderben?: Philologische Erwägungen zum Salz-Gleichnis Jesu, NTS 59 (2013), 142-149. W. Zwickel, Salz. Lebensfeindlich, aber schmackhaft, WUB 38 (2005), 73-75.

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Neunundneunzig sind nicht genug! (Vom verlorenen Schaf) Q 15,4-5a.7 (Mt 18,12-14 / Lk 15,1-7 / EvThom 107) (4) Welcher Mensch von euch, habend hundert Schafe und eines von ihnen verloren habend, wird nicht die neunundneunzig in den Bergen lassen, und losgehend das Verlorene suchen? (5a) Und wenn es geschieht, dass er es findet, (7) ich sage euch: Er freut sich über dieses mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der Hauptteil der Parabel wird durch eine komplexe Frage gebildet. Durch die allgemeine Charakterisierung des Subjekts mit »ein Mensch« (˝nqrwpo@ anthro¯pos) wird sie in weisheitlicher Weise eingeleitet (Q 11,11 f.) und ist an alle Zuhörer oder Leserinnen gerichtet: Welcher Mensch von euch (tffl@ ˝nqrwpo@ ¥x ¢mn tis anthro¯pos ex hymo¯n, vgl. Lk 11,5; 14,28; 17,7), d. h. wer von euch? So offen die Frage gestellt ist, so konkret erzählt sie dann eine kleine Geschichte von Besitz und Verlust von Schafen bzw. einem Schaf. Wir lesen vom »Haben« und »Verlieren« (⁄pllumi apollymi) mit attributiven oder konditionalen Partizipien formuliert; sie erläutern zum einen den Zustand des Menschen, zum andern die Gefährdung seines Status: »der/wenn er … hat und … verloren hat« (Haubeck/Siebenthal 1997, 455). Der Zustand steht im Präsens, der Verlust im Aorist, weil er bereits punktuell abgeschlossen ist. Es geht um den Besitz von hundert Schafen und um den Verlust von einem Schaf. Die Parabel lebt also von Kontrasten: Hundert – eins, haben – verlieren, lassen – losgehen, suchen – finden. Die Variante »sich verirren« (Aorist Konj. Pass. von plan€w planao¯) Mt 18,12 macht ebenfalls Sinn. Aus der Perspektive des Menschen wird in die Perspektive der Schafe gewechselt. Eines der Schafe hat sich verirrt. Die Spannung entsteht nun aus dem Gegensatz »Haben« und »Sich Verirren«. Das anschließende Futur kennzeichnet den neuen Zustand im Ungleichgewicht. Der Mensch bleibt zwar im Besitz von neunundneunzig Schafen, er muss sie aber »zurücklassen«, um den Verlust auszugleichen (Jülicher II 2 1910, 317). Ein Alltagsereignis ist sehr allgemein erzählt worden. Auch die lokale Angabe »Berge« bleibt allgemein. Bei Mt 18,12 steht sie, Lk 15,4 hat dafür »Einöde«. Beide Angaben bleiben austauschbar. Das zweite Ereignis wirkt spezifischer. Der Mann besorgt sich nicht ein neues Schaf, sondern »geht los« (Aorist Part.) und »sucht« (zhtffw ze¯teo¯; Präsens) das »Verlorene/ Verirrte«. Das Präsens markiert, dass die Suche so lange anhalten wird, bis er es »findet« (e¢re…n heurein; Aorist Infinitiv). An das Suchen und Finden appelliert auch Q 11,9. Dem neuen Zustand geht hier aber ausdrücklich ein Eventualis voraus: »Und wenn es 205

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Parabeln in der Logienquelle Q

geschieht«. Das Finden ist nicht sicher. Die Parabel endet offen. Was ist, wenn der Mensch das verlorene/ verirrte Schaf lange Zeit nicht findet? Nun schließt der Erzähler »Jesus« eine sichere Verheißung als Deutung an. Der Suchende findet und freut sich (cafflrw chairo¯; Präsens). »Sich Freuen« wird in ungewöhnlicher Weise antithetisch aufgespalten. Die Freude über das eine verlorene Schaf ist größer (m”llon mallon) als über die neunundneunzig. Das abschließende attributive Partizip Perfekt setzt der Antithese die Krone auf: Die Vielen, die perfekt sicher im Sichnicht-Verirren sind, geben weniger Anlass zur Freude als das eine Verlorene, das sich finden lässt. Das unbestimmte Anfangssignal mit »welcher Mensch« wirkt mit dem rahmenden Schlusssignal »die Sich-nicht-verirrt-Habenden« zunächst harmlos, erzählt und bespricht aber im Innenteil Unerwartetes, nämlich nicht den Lobpreis von Herrn Jedermann auf die Selbstsicheren, sondern das Gegenteil, die größere Freude über einen Mühe machenden Verlorenen/ Verirrten (Linnemann 7 1978, 71). Unterschiedliche Figuren werden in der Parabel genannt: Da ist der Mensch, dem als Hirte, sei es als Lohnhirte, sei es als Besitzer Schafe anvertraut sind. Er bleibt durchgängig das handelnde Subjekt, er besitzt, verliert, lässt zurück, sucht, findet und freut sich schließlich. Daneben werden die Schafe genannt, die zwar zunächst als kollektive Gruppe eingeführt werden (100 Schafe), dann aber in das eine Verlorene und die neunundneunzig Nicht-Verirrten aufgespalten werden. Der Leser bzw. die Hörerin kann sich folglich mit drei Rollen identifizieren:  mit dem Helden, der das verlorene/ verirrte Schaf sucht,  mit den Helfern, die als neunundneunzig Schafe zusammenbleiben,  mit dem Gegner, der als Schaf verloren geht oder sich verirrt und die Suche auslöst. Ein starker Impuls wird freilich dadurch gesetzt, dass die einleitende Frage ausdrücklich den Menschen in die Gruppe der Hörer und Hörerinnen einordnet: Welcher Mensch von euch? Sollen sich die Angesprochenen also in den ›Helden‹ hineinversetzen? Zumindest wird damit auch der rhetorische Charakter der Frage unterstrichen. Sie erwartet unmissverständlich Zustimmung: Jeder von uns, könnte die innere Antwort lauten. Natürlich würde jeder so handeln. So scheint das innerhalb der Frage Geschilderte zunächst auch selbstverständlich (s. u.). Ein Hirte hat für die Vollständigkeit seiner Herde zu sorgen. Auftretende Verluste hat er zu kompensieren, insbesondere dann, wenn die Herde nicht sein Eigentum ist. Das zweite Ereignis durchbricht allerdings mit der Mittelpunktstellung der Suche des Verlorenen/ Verirrten diese Alltagsweisheit. Zwar stellt der Erzähler durch die Fortsetzung des Fragesatzes diese Suche als selbstverständlich hin, doch nicht für jeden Leser wird sie plausibel sein. Wird nicht durch die unbefristete Suche die Mehrheit der Gruppe gefährdet? – werden diejenigen fragen, die sich mit den Helfern identifizieren. Handelt der »Mensch« nicht unkontrolliert emotional, unverantwortlich und unvernünftig? – werden diejenigen fragen, die sich mit dem Menschen identifizieren. Wird nicht der Wunsch zum Sich-Verirren oder Verloren-Gehen durch das Finden gefährlich verstärkt? – werden diejenigen fragen, die sich mit der Minderheit identifizieren. Andererseits gehören die Suche nach dem Verlorenen und das Finden ebenfalls zur Alltagsplausibilität (Lk 15,8-10 die Parabel von der verlorenen Drachme; das Logion Q 11,9). Und die bis heute anhaltenden Kinderspiele vom Verloren-Gehen/ Sich-Verirren und Wieder-Finden verweisen auf eine anthropologische Grundkonstante von Binden 206

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und Lösen. Die Parabel kann auch in dieser Linie gelesen werden, so dass es dann um die bedingungslos anhaltende Sorge des Leiters um jeden Ausbrecher, um die Solidarität der Mehrheit mit ihm und um die Erprobung von Ablösung durch die Minderheiten geht. Nun bricht der zweite Satz der Parabel, der Schlusssatz, als Anakoluth ab. Der Eventualis vom Finden wird nicht abgeschlossen. Stattdessen setzt abrupt ein Ich-Kommentar des Erzählers ein: »Ich sage euch«. Wer spricht? Nach den beiden parallelen Evangelien wird die Parabel Lk 15,4-7 und Mt 18,12-14 von Jesus von Nazaret vorgetragen. Auch das Spruchevangelium Q führt am Anfang Jesus von »Nazareth« als Hauptperson und Sprecher der anschließenden Worte ein: Q 4,16-7,35 (Hoffmann/Heil 2002, 38-51). Im Rahmen des gesamten Spruchevangeliums gewinnt durch die betonte »Ich«-Einführung des Sprechers die Parabel eine theologische Dimension. Aus der Perspektive Jesu muss sie interpretiert werden. Der gesamte Kontext der Logienquelle Q muss von den Leserinnen und Lesern herangezogen werden, um die theologische Sachhälfte selbständig zu entwickeln. Um nicht eine beliebige Breite der Theologie aufgrund der mehrperspektivischen Auslegungsmöglichkeiten zuzulassen, gibt der Ich-Erzähler eine explizite Deutungsanweisung. Es geht um die größere Freude über den einen Gesuchten und Gefundenen. Im Spruchevangelium hat die programmatische Rede Q 4,16; 6,20-49, die sowohl aus der mt Bergpredigt als auch aus der lk Feldrede abgeleitet werden kann, genügend »Verlorene« in Israel genannt: Arme, Hungernde, Trauernde, Verfolgte, Feinde. Mit dem Heilungswunder für den Angehörigen eines heidnischen Zenturios kommt der gottesfürchtige Heide hinzu (Q 7,1.3.6b-9.?10?). Q kennt auch die »Gerechten« in Israel, insbesondere die Pharisäer und Schriftgelehrten und warnt sie mit einer Weherede (Q 11, 39-52). Die Mahnrede an die Jünger zum »Bekenntnis zu Jesus ohne Furcht« (Q 12,2-12; vgl. Hoffmann/Heil 2002, 74-79) lenkt den Blick auf die Gemeinde. Auch in ihr gibt es Verlorene. Die »Ihr«-Anrede des Ich-Erzählers ist ebenfalls in erster Linie an die Jünger gerichtet und dann über sie an die Gemeinde, die die Jüngerschaft fortsetzt. Die Deutung Jesu kehrt das gewohnte frühjüdische Muster der Frömmigkeit radikal um. Gott als der Hirte Israels freut sich über die tätigen Bekenner, aber er freut sich noch mehr über jeden, der sich ausgegrenzt hatte oder ausgegrenzt worden war und sich wiederfinden ließ. Der umkehrende Sünder ist Gottes und Jesu liebstes Schaf.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Parabel wählt einen bei den Parabeln Jesu wie auch sonst im biblischen Traditionsraum geläufigen Bildspendebereich: Hirt und Herde (vgl. auch die Analysen zu Mt 25,32 f.; Joh 10,1-5.12 f.). Die spezielle Situation, die ins Auge gefasst wird, ist: Ein Tier aus der Herde verirrt sich (Mt 18,12) resp. geht verloren (Lk 15,4). Vorausgesetzt wird vom Erzähler die ›Hüteschafhaltung‹, die in der Antike im Vergleich mit der heute verbreiteten ›Koppelschafhaltung‹ dominierte (vgl. zum Folgenden Dalman 1939, 204-287; Zimmermann 2004a, 293-301). Die Herden blieben entweder fest an einem Ort oder zogen auf der Suche nach Weideplätzen umher. Unsere Parabel setzt – jedenfalls in der Version der Evangelien (Mt 18,12; Lk 15,4) – offenbar das Zweite voraus. Der Verlust eines Tieres ist unter diesen Bedingungen immer möglich. Die antiken Quellen erwähnen 207

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häufiger wilde Tiere, von denen Schafe getötet werden (Ex 22,12; 1Sam 17,34 f.; Am 3,12). Aber auch, dass Schafe sich verlaufen, kam offenbar nicht selten vor (Ps 119,176; Jes 53,6; Ez 34,4). Dem Hirten ist die sorgfältige Obhut über die Herde aufgetragen (Ps 23; Jes 40,11; Jer 23,1-4; implizit zu entnehmen auch aus der Kritik an Hirten, die diese Aufgabe nur schlecht ausfüllen, wie in Jer 50,6; Ez 34,1-10; Sach 11,15 f. u. a.). Der römische Schriftsteller Columella beschreibt diese Aufgabe in seinem Agrarhandbuch wie folgt: »Der Führer einer Herde soll sie umsichtig und wachsam – eine Forderung, die für alle Hirten aller Tiere gilt – und mit großer Sanftmut leiten, und zwar nicht so sehr schweigsam als vielmehr freundlich; und er soll beim Ausführen und Zurückholen der Schafe zwar mit Zuruf und Stock drohen, aber niemals nach ihnen werfen, ferner sich nie weiter von ihnen entfernen oder sich legen oder setzen. Wenn er nicht vor ihnen hergeht, soll er stehen, weil das Amt des Hüters sozusagen eine hoch erhabene Augenwarte verlangt; denn er soll weder dulden, dass die schwerfälligeren trächtigen Tiere, dadurch, dass sie zögernder gehen, noch die beweglicheren, die schon geworfen haben, durch ihr Vorauslaufen sich von den übrigen trennen; sonst könnte ein Dieb oder ein Raubtier den träumenden Hirten überlisten. Dies alles gilt ungefähr für jegliche Schafhaltung gleichermaßen …« (Colum. 7,3,26; Übersetzung: W. Richter)

Nicht immer sind es, wie in unserer Parabel vorausgesetzt zu sein scheint (V. 4; vgl. Lk 15,6), die eigenen Tiere, die gehütet werden (vgl. Joh 10,12 f.). Beim »Führer der Herde« kann es sich um einen Mann oder eine Frau handeln. In dem beliebten Liebesroman von Longos »Daphnis und Chloe« (3. Jh.) geht es sowohl um einen jungen Hirten (Daphnis) als auch um eine junge Hirtin (Chloe). Das Alte Testament kennt allerdings nur männliche Hirten, so dass üblicherweise in V. 4 der »Mensch« mit einem »Hirten« gleichgesetzt wird. Jesus könnte aber auch eine Frau meinen. Für die Beurteilung der Parabel ist interessant, wie nahe liegend die erzählte Reaktion des Hirten ist: Er lässt 99 Schafe zurück, um das eine zu suchen (V. 4). Auf den ersten Blick erfüllt er damit seine fundamentale Aufgabe, für die Herde zu sorgen. Je detaillierter gefragt wird, desto mehr Fragezeichen tauchen aber auch auf. Ökonomisch betrachtet wäre es höchst problematisch, die zurückbleibenden 99 Tiere einer Gefahr auszusetzen, um eines zu suchen (vgl. Jeremias 11 1998, 133). Die Mischnah gibt den Preis eines Schafes mit 8 Denaren an (mKer 5,2; mMen 13,8). In Relation zu Rindern oder Eseln (100-200 Denare: mMen 13,8; mBQ 3,9 bzw. mBQ 10,4) stellt das einzelne Tier sicher keinen gewaltigen Wert dar. Im Falle eines Lohnhirten hätte dieser für den Schaden zu haften, wenn nicht z. B. höhere Gewalt wie ein Tierangriff zum Verlust führt (Ex 22,914; mBM 7,9; bBM 10b; 93b u. a.). Doch erfahren die Leserinnen und Leser kaum etwas darüber, wie die Besitzverhältnisse sind, welche finanziellen Erwägungen eine Rolle spielen oder ob und wie für die zurückbleibende Herde und ihre Sicherheit gesorgt ist (z. B. durch Nennung der schützenden »Berge«?). Der Erzähler hat solche Fragen offenbar nicht im Blick (anders Scott 1989, 415, der das Risiko betont sieht). Plausibilität gewinnt das erzählte Geschehen nicht in erster Linie aus den sozialgeschichtlichen Details, sondern aus dem Bild vom Hirten und seiner Aufgabe.

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Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) So gewöhnlich in der Antike und speziell in Palästina Herden und Hirten sind, so verbreitet ist die Metaphorik, die auf diesen Bildspender zurückgreift (vgl. Hunziker-Rodewald 2001; Zimmermann 2004a, 317-344; sowie die Analysen zu Mt 25,32 f.; Joh 10,15.12 f.). Die Parabel zeichnet speziell das Bild eines Hirten, der einem verlorenen oder verirrten Schaf nachgeht (zur Zahlenrelation 99:1 siehe Billerbeck I 2 1926, 784 f.). Im biblischen Traditionsraum ruft dies gewichtige Assoziationen wach. Zu denken ist vor allem an die Bildfeldtradition, die JHWH als den Besitzer und Hirten der ›Herde Israel‹ sieht. Zu den charakteristischen Handlungen, die Gott im Rahmen dieser Metaphorik zugeschrieben werden, gehört – neben dem Führen oder Weiden – das Sammeln der verstreuten Herde (Jer 31,10; Ez 34,11-13.16; Mi 2,12 f.). Die Metapher ist deutlich positiv besetzt. Das Sammeln zielt auf die Wiederherstellung der Herde und ihrer Gemeinschaft mit dem Hirten. Im Vordergrund steht dabei die Gruppe bzw. das zum Beispiel in der Diaspora zerstreute Volk Israel. Aber ebenso kann die Fürsorge des göttlichen Hirten auch als persönliche Zuwendung empfunden werden, wie es besonders wirkmächtig in Ps 23 zum Ausdruck kommt. Der Wechsel der Anrede in das vertrauensvolle »Du« zeigt die Fürsorge des Hirten besonders bei den Gefahren der Niederungen: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich« (Ps 23,4; vgl. auch Gen 48,15 f.; Ps 119,176; auch BerR 86). Als Ursachen für das Verlieren oder die Zerstreuung werden auf der Bildebene unterschiedliche Szenarien ausgemalt, die sich im Kontext unschwer einem ›bildempfangenden Bereich‹ zuordnen lassen: So verweist zum Beispiel der Angriff von Raubtieren auf die Könige von Assur und Babel (Jer 50,17 f.; vgl. Jer 31,10 f.), die schlechte Führung durch die Hirten auf die Vernachlässigung von Leitungsfunktionen der Führer des Volkes (Jer 23,2; Ez 34,4) oder das Fehlen von Hirten auf die Führerlosigkeit Israels (1Kön 22,17 = 2Chr 18,16; Ez 34,5; vgl. Num 27,17; Jdt 11,19). In eine andere Richtung geht dagegen Jes 53,6. Hier verirren sich die Schafe, weil jedes seinen eigenen Weg geht. Im Kontext wird klar, dass an die Schuld der im Text als »Wir« redenden Gruppe gedacht ist. In der Septuaginta steht in Jes 53,6 die Vokabel plan€omai (planaomai – verirren), die im griechischen Alten Testament häufiger metaphorisch den Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes, besonders die Verehrung anderer Götter bezeichnet (Dtn 4,19; 11,28; 30,17; Spr 21,16; Ez 44,10-15; SapSal 5,6; auch Ps 119,176; vgl. Böcher 1983, bes. 234 f.). Das Wort ist auch in Mt 18,12 zu lesen, während Lk 15,4 ⁄pllumi (apollymi – hier: verlieren) verwendet und damit aus der Perspektive des Hirten oder Besitzers formuliert. Bis jetzt ist ausschließlich die biblische Tradition betrachtet worden. Vor allem das lukanische Bild vom Hirten, der das Schaf auf seinen Schultern trägt (Lk 15,5), lässt aber auch an bildliche Darstellungen eines Schafträgers denken, die häufig – aber nicht ausschließlich – im sepulkralen Umfeld zu finden sind, etwa auf Wänden und Decken der Katakomben oder auf Sarkophagen (so auch Fitzmyer 1985, 1077; vgl. zum Folgenden J. Engemann 1991; Nitz 3 1996). Das Bildmotiv kommt im christlichen wie im paganen Umfeld vor. Bildliche Darstellungen von Widderträgern sind schon aus klassischer Zeit gut belegt, werden in der Forschung hier jedoch zum Opferkult in Beziehung gebracht (Opfertierträger) und von den Grabbildern deutlich getrennt. Die Verwendung des Mo209

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tivs auf Sarkophagen etc. erlebt ihre Blüte ab Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Ein direkter Einfluss dieser speziellen Motivik auf die neutestamentlichen Texte besteht also nicht. Christliche Darstellungen eines Schafträgers im Kontext von Grab und Tod basieren wahrscheinlich auf entsprechenden paganen Darstellungen und verbinden diese – zumindest teilweise – mit einer christologischen Deutung von Lk 15,3-7 (von Joh 10,116 her). Sie gehören damit in die Rezeptionsgeschichte der Parabel. Christus, der gute Hirte, wird hier als Retter der Menschen dargestellt (vgl. Clem. Al. protr. XI,116,1). Für die pagane Motivik, die der christlichen zugrunde liegt, werden verschiedene motivliche Hintergründe ins Spiel gebracht: neben einer Darstellung des Gottes Hermes als Psychopompos, der die Seele des Verstorbenen ins Jenseits trägt, vor allem Hirtenidyllen in der antiken Literatur (sog. Bukolik), die – anders als die ikonographischen Belege – in ihrer literarischen Gestalt bis in die neutestamentliche Zeit zurück gut dokumentiert sind. Da ein spezifischer Bezug der Parabel zum Thema Tod nicht erkennbar ist, dürfte für Leserinnen und Leser mit hellenistischer Bildung insbesondere die Bukolik zum Assoziationspotential des Textes gehören. Sie zeichnet in ihren Texten eine Hirtenwelt, die als ein Hoffnungsbild vom Friedensreich und als ein Gegenentwurf zur als unzulänglich empfundenen eigenen Lebenswelt deutbar ist (dazu knapp Zimmermann 2004a, 328-330; ausführlicher Effe/Binder 2 2001). Die Parabel und ihre Erzählung sind für diese Denkwelt durchaus anschlussfähig, wie die skizzierte Rezeption zeigt. Schließlich ruft die Parabel eine weitere Bildfeldtradition ins Bewusstsein. Schon die kontrastiv verwendeten Verben der Parabel »suchen – finden« deuten auf einen weisheitlichen Hintergrund hin. Häufig ist hier vom »Suchen der Weisheit« als dem Weg des Gottesfürchtigen und Gerechten die Rede (vgl. Spr 8,17: Ich liebe, die mich lieben; und die mich suchen, finden mich). »Suchen« wird folglich metaphorisch als das Bemühen um ein gottgefälliges Leben verstanden (vgl. Am 5,4.6.14). Doch schon diese Haltung führt zum Erfolg, wer sucht, der findet auch (vgl. Q 11,9). Die Metaphorik steht häufig im Kontrast mit der gegensätzlichen Lebensform: Wer nicht Gott oder die Weisheit sucht, wird verloren gehen, wie es z. B. in Spr 7,25 als Warnung vor der ›Frau Torheit‹ formuliert ist: »Nicht schweife dein Herz ab zu ihren Wegen, verirre dich nicht auf ihre Pfade!«. Wer verbunden mit der Weg-Metapher vom Weg abkommt, geht zugrunde – oder verloren, wie die Doppelsemantik von ⁄pllumi apollymi ausdrücklich zulässt (Spr 11,23; 19,9). Das Verlorengehen ist also im Horizont des Tun-Ergehen-Zusammenhangs immer die Folge des eigenen Tuns – oder sogar dann Strafe Gottes für das falsche Tun, sprich: die Sünde (vgl. Spr 11,23.27; 14,6; 15,14; Hi 2,3). So kommt es zu einer Konventionalisierung der Metapher, die »verlieren« und »sündigen« kombiniert. In Kombination dieses Bildfelds mit der Schafsmetaphorik ist schließlich auf die Metapher von den »verlorenen Schafen aus dem Hause Israel« hinzuweisen, zu denen Jesus (Mt 15,24) oder die Jünger (Mt 10,6) gesandt werden.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Deutungsmöglichkeiten der Parabel stehen in engem Zusammenhang mit bestimmten Vorentscheidungen: Je nachdem, welche Identifikationsfigur in den Mittelpunkt gerückt wird, welche Perspektive man als Hörerin oder Leser einnimmt, werden unter210

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schiedliche Akzente gesetzt. Je nachdem, wie stark man traditionelle Bildfelder in Anspruch nimmt, wird man unterschiedliche Akzente in den Vordergrund rücken.

Die theologische Deutung: Gottes bedingungslose Zuwendung zu den Verlorenen Eine klassische Deutung erkennt in dem suchenden Hirten Gott, der sich dem verlorenen, d. h. hier dem auf Abwege geratenen Menschen zuwendet. Eine solche Interpretation wird etwa von Jülicher vorgeführt: Er lässt bei der Rekonstruktion von Q zwar die Anwendung Q 15,7 aus und lässt nur Q 15,4-6 als Grundbestand gelten. Doch er interpretiert Q im Sinne der Einschränkung der Anwendung Q 15,7. Nur das unerlaubte Verlorengehen ist zu übertragen, um »Gottes Liebe zu jedem einzelnen Sünder zu illustrieren, wie sie in der unermüdlichen Sorgfalt auch seines Suchens und in seiner grenzenlosen Freude beim Finden zum Ausdruck kommt« (Jülicher II 2 1910, 331). Also nur der Verlust des Sünders steht im Blickpunkt. Und die Adressatenmöglichkeiten von Sünder, Pharisäer und Jünger projiziert Jülicher zurück auf den historischen Jesus: »Bei welcher Gelegenheit Jesus diesen Grundgedanken seiner Religion in den Parabeln vom verlorenen Schaf und Groschen zu sinnigem Ausdruck gebracht hat, wissen wir nicht; er konnte ihn ebenso verzweifelten Sündern tröstend zurufen wie murrenden Pharisäern zur Rechtfertigung seiner eigenen Sünderliebe streitend entgegenhalten wie auch ehrgeizigen Jüngern, die in der Gefahr waren, ihren Wert gegenüber dem der ›Kleinen‹ ungebührlich emporzuschrauben, erziehend einprägen« (Jülicher II 2 1910, 331). Diese Deutung ist zu Recht grundlegend für die nachfolgende Gleichnisauslegung geworden. Die als Sünder gelten, sollen Vertrauen und Mut zur Umkehr zu Gottes Herrschaft fassen, die in Jesus angebrochen ist. Gott will in Jesus die »Heimholung aller Sünder« (Knoch 3 1987, 238 f.). Dabei werden keine Bedingungen gestellt. Ganz selbstverständlich wird von der Suche erzählt, die nicht an die Buße des Verlorenen oder eine bestimmte Frist gebunden wird, sondern die allein im Finden ihr Ziel erreicht. Allein die Fürsorge für das Verlorene rückt in den Mittelpunkt, so dass auch eine klare Zuweisung, ob der Suchende nun Gott oder Jesus ist, überflüssig wird. Der Hirte handelt wie Jesus und Gott allein aus Freude am Wiederfinden des einen Verlorenen/ Verirrten. Dabei müssen die neunundneunzig anderen nicht abgewertet werden. Die sich als »Gerechte« fühlen, sollen die Sorge Jesu um die Sünder akzeptieren und nicht ablehnen (Linnemann 7 1978, 75-78). Aufgrund einer individualistischen Hermeneutik wird bisweilen gegen die Erzählstruktur die innere Verbundenheit mit der Herde (Ganzheit nach Joh 10) oder die nicht terminierte Suche (alles sprengende Fürsorge nach Mt 18,12-14) explizit abgelehnt (Jeremias 11 1998, 135). Bereits Jülicher hatte gegen solch eine individualistische Engführung, die später existential untermauert wurde (Linnemann 7 1978, 78 f.), protestiert: Die Jünger sollen doch gegenüber den Abweichlern die Sorge und Freude Jesu übernehmen.

Die gruppendynamische Deutung: Mehr Mut zu Abweichungen! Betrachten wir die Parabel zunächst isoliert, dann kann sie wie bei Äsop und Phädrus eine kritische Sicht auf gesellschaftliches und personales Verhalten bedeuten. Ein Hirte hat für die Vollständigkeit seiner Herde zu sorgen. Auftretende Verluste hat er zu kompensieren, insbesondere dann, wenn die Herde nicht sein Eigentum ist. D. h. übertragen, dass ein Leiter einer Gruppe für den Erhalt der Vollständigkeit verantwortlich ist. Er hat 211

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den Gruppenzusammenhalt zu garantieren. Linnemann bestimmt zu Unrecht die Parabel als eine Hyperbel, als »eine überspitzte Darstellung«, in der es um die Umwertung »1 = mehr als 99« geht (Linnemann 7 1978, 71). Die neunundneunzig bleiben nicht unverantwortlich schutzlos zurück, denn die Berge könnten für Sicherheit stehen, während in den Schluchten Gefahr lauert. Einzelne Gruppenmitglieder handeln hingegen wie unzuverlässige Schafe. Sie gehen verloren oder verirren sich. Nun gelingt ihnen etwas, was sie eventuell vorher vermisst haben. Sie erlangen die Aufmerksamkeit des Leiters, oder sie erfahren eine von der Gruppe losgelöste, individuelle Freiheit. Allerdings gehen sie ein großes Risiko ein. Weil sie nicht zurückfinden oder zurückwollen, kann sich die Trennung vom Leiter und von der Gruppe dauerhaft gefährlich verfestigen. Wenn Berge oder Einöde vom Leser als Symbole für die Unmöglichkeit gedeutet werden, allein zu überleben, bedeutet die anhaltende Trennung den Untergang. Das Verbleiben beim Leiter und das Zusammenhalten bei kurzfristiger Abwesenheit des Leiters sind daher die üblichen, alltagsweisheitlichen Verhaltensweisen der Mehrheit der Gruppenmitglieder. Doch die erfolgreiche Suche des Gruppenleiters lässt Ausbrüche in Grenzen dennoch als möglich erscheinen. Das verlorene Schaf wird nicht getadelt, es wird nicht zur Verantwortung für den Aufwand des Hirten oder das mögliche Risiko der restlichen Herde gezogen. So kommt die Deutungsmöglichkeit in den Blick, dass der Christ im Vertrauen auf die Fürsorge Gottes das Verlorengehen mit Grenzerfahrung erproben kann, sei es im Spiel (Q 7,31-35), sei es in der Realität. Allerdings bevorzugt die Anwendung in Q 15,7, die die nachfolgenden Rahmungen von Lk und Mt narrativ und besprechend ausgestalten, ja richtungsweisend die traditionelle Ausdeutungslinie. Nicht das Ausbrechen ist das Ziel, sondern letztlich doch die Wiedervereinigung der Herde und die damit ausgelöste Freude der Gemeinschaft. Aber der Abweichling muss nicht eo ipso »sündig« oder »schwach« sein. Die Abwehr von Jeremias, »dass bei dem verirrten viel eher an ein besonders schwaches Tier gedacht ist«, und zwar gemäß V. 5, steht nicht im Text (Jeremias 11 1998, 133). Gerade junge, unbändige Schafe brechen aus, werden von den Hirtenhunden zurückgetrieben, gehen aber manchmal auch verloren oder verirren sich. Die Parabel verlässt also nicht das Ideal der einheitlichen Herde, sie vermittelt aber Zuversicht, dass auch Ausbrüche und Abweichungen, selbst wenn sie zu Irrwegen und Verlusten führen können, von der alles sprengenden Fürsorge Jesu und seiner Gemeinde umschlossen bleiben.

Die appellative Deutung: Sucht das Verlorene! Die rhetorische suggestive Frage der Parabel mit ihrer unmittelbaren Anrede an die Hörerinnen und Hörer lässt noch eine weitere Deutung zu: Der Hauptakteur ist nicht das ›verlorene Schaf‹, dem die Zuwendung gilt, sondern der Hirte, der dem Verlorenen nachgeht. Wurde in theologischer Deutungstradition dieser Hirte nicht ohne Grund mit Gott (oder Jesus) identifiziert, so lässt der Text selbst diese Zuweisung bewusst offen. Stattdessen wird der Suchende schlicht als »ein Mensch« eingeführt. Die Zustimmung erhoffende Frage sowie der Zuspruch der finalen Freude werben weiterhin für eine Identifikation mit dem Suchenden. Dabei kommen die weisheitlichen Bildfelder von Suchen-Finden bzw. Suchen-Verlieren in den Blick. Die im Bildfeld positiv besetzte Suche als 212

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gottgemäße Haltung der Glaubenden wird nun ethisch konkretisiert. Wer die Verlorenen sucht, findet die Freude des Lebens. Umgekehrt wird der Nicht-Suchende selbst verloren gehen. So könnte der Sinn der Parabel gerade darin liegen, die Adressaten zu ermutigen, wie der Mensch auf der Bildebene die Verlorenen zu suchen, sich den Sündern und Außenseitern zuzuwenden und entsprechend zu handeln. Diese Deutungslinie wird dann vor allem in der synoptischen Tradition entfaltet, sei es, dass der Gemeindehorizont wie bei Matthäus in den Mittelpunkt rückt, sei es, dass wie bei Lukas die murrenden Gerechten ermutigt werden sollen, in die Suche oder zumindest Freude über das Wiedergefundene einzustimmen (s. u.).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parabel vom verlorenen Schaf ist ein Paradebeispiel um zu zeigen, wie stark das Verstehen eines Gleichnisses durch seine kontextuelle Einbindung bestimmt ist.

Mt 18,12-14 Matthäus hat die Parabel in den Zusammenhang der sog. Gemeinderede (Mt 18,1-35) eingebettet. Sie schließt dort einen ersten Gedankengang ab, der durch das Thema Kinder/Kleine zusammengehalten wird. Auch am Ende des zweiten größeren Redeblocks (Mt 18,15 ff.: Umgang mit Sündern und Vergebung) steht wieder eine Parabel (Mt 18,23-35; zur Gliederung der Rede W. D. Davies/Allison 1991, 750 f.). Die Parabel selbst bildet mit zwei rahmenden Versen eine kleine Einheit in der Rede, die durch die Wiederholung der Stichworte »Vater im Himmel« und »Kleine« aus Vers 10 in Vers 14 abgerundet und abgeschlossen wird. Mt 18,10.12-14: (10) Seht zu, dass ihr nicht eines von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allzeit das Angesicht meines Vaters im Himmel. (12) Was meint ihr? Wenn es geschieht, dass einem Menschen hundert Schafe (gehören) und eines von ihnen verirrt sich: Wird er nicht die neunundneunzig in den Bergen zurücklassen und er geht und sucht das verirrte? (13) Und wenn es geschieht, dass er es findet, amen, ich sage euch: Er freut sich mehr über dieses als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. (14) So ist es nicht der Wille vor eurem Vater im Himmel, dass eines von diesen Kleinen verloren geht. Es geht um die »Kleinen« (V. 10: mikrn mikro¯n). Waren am Anfang der Rede noch buchstäblich Kinder gemeint (18,2: paidfflon paidion), so ist nun (seit Vers 6?) wahrscheinlich im metaphorischen Sinne von Kleinen die Rede. Die Ausleger deuten auf Gemeindemitglieder, die aus sozialen Gründen marginalisiert werden oder auf dem Feld des Glaubens schwach sind (vgl. Gnilka 2 1992, 131; Luz 1997, 28 f.). Deren Engel, so der Vers, sehen allzeit das Angesicht Gottes. Der religionsgeschichtliche Hintergrund der Engelvorstellung sei hier ausgeblendet (zur ersten Orientierung W. D. Davies/Allison 1991, 770-772; Luz 1997, 29-31). Deutlich kommt jedenfalls die Nähe und Verbundenheit zum Ausdruck, die zwischen ihnen und dem himmlischen Vater besteht. Es schließt die eigentliche Parabel an. Matthäus variiert zwar die einleitende Frage, aber auch er appelliert an das Urteilsvermögen der Leserinnen und Leser und rechnet mit 213

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ihrer Zustimmung zum Verhalten des Hirten. Dieser wird in V. 14 explizit mit dem Vater im Himmel parallelisiert. Vor dem Hintergrund der Bildfeldtradition liegt es nahe, im Suchen des Hirten sein Suchen nach den Verlorenen zu erkennen. Im Matthäusevangelium wird die Hirtenmetapher sonst aber immer auf Jesus oder – abgeleitet – auf die von ihm ausgesandten Jünger angewendet (mehr dazu in der Analyse und Auslegung von Mt 25,32 f.). Das führt zu Überlegungen, ob nicht auch bei diesem Hirten an Jesus gedacht ist (z. B. W. D. Davies/Allison 1991, 773 f.; Chae 2006, 239-244). Sicher zu entscheiden ist das nicht. Gegebenenfalls wäre mitzudenken, dass das, was der Vater will, vor allen Dingen an und durch Jesus sichtbar wird (vgl. Mt 11,25-27). Überhaupt darf hier nicht an eine sich ausschließende Alternative gedacht werden, wie auch die nur bei Mt gebrauchte Metapher von den »verlorenen Schafen Israels« (Mt 10,6; 15,24) deutlich macht. Die Zuwendung Gottes wird hier sogar über Jesus hinaus auch durch die Jünger vermittelt. Die Freude über den Fund wird bei Matthäus als Wille des Vaters interpretiert, dass keiner der Kleinen verloren geht. Diese Zuspitzung kritisieren einige Ausleger als Entfernung von der ursprünglichen Parabel und ihrer Pointe, die in der Freude liege (so z. B. Holtz 1998, 166 f.). Eher wird man jedoch sagen können, dass Matthäus die ethischen Konsequenzen zieht. Erst an dieser Stelle spricht der matthäische Text von »verloren gehen«. Zuvor war von »verirren« die Rede. Verirren bedeutet vor dem Hintergrund des biblischen Sprachgebrauchs (s. o.) ein Abweichen vom Willen Gottes, ein Abirren vom Weg der Gerechtigkeit (so auch Mt 22,29; 24,4.11.24; vgl. Hultgren 2000, 55). Das hier mit »verlieren« übersetzte griechische Wort ⁄pllumi (apollymi) passt sprachlich gut zum Bild der Schafe (vgl. Mt 10,5; 15,24), hat für Matthäus möglicherweise aber auch noch eine andere Farbe: Er kann es für das endgültige Verlieren von Menschen verwenden, für den Tod (Mt 2,13; 8,25; 12,14; 26,52; 27,20) oder den Untergang im göttlichen Gericht (Mt 10,28.39; 16,25; vgl. 5,29 f.; 10,42; 21,41; 22,7). Das soll gerade nicht geschehen, so will die Parabel einschärfen. Wer sind ihre Adressaten? Manchmal wird vermutet, die Parabel wende sich an die Verantwortlichen in der christlichen Gemeinde, an ihre Leiter o. Ä. (so z. B. Lambrecht 1992, 51 f.; Hultgren 2000, 54). Es sind allerdings in Mt 18 alle Jünger angesprochen; ein irgendwie eingeschränkter Adressatenkreis ist nicht erkennbar (vgl. W. D. Davies/Allison 1991, 754). So scheint es wahrscheinlicher, dass die Verantwortung für die Kleinen in den Gemeinden allen aufgetragen und ans Herz gelegt werden soll.

Lk 15,1-7 Lk 15,3-7: (3) Er aber sagte zu ihnen folgende Parabel: (4) Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem Verlorenen nach, bis er es findet? (5) Und wenn er es gefunden hat, legt er es voller Freude auf seine Schultern (6) und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: »Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verlorene.« (7) Ich sage euch, so herrscht auch mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die die Umkehr nicht nötig haben.

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Zur Übersetzung ist anzumerken, dass in V. 7 das Futur als »gnomisches Futur« aufgefasst und daher präsentisch übersetzt wurde. Im Lukasevangelium bildet die Parabel vom verlorenen Schaf den Auftakt zu einer Parabeltrilogie, in der das Thema der Freude über den bzw. die verlorene(n) und wiedergefundene(n) Einzelne(n) variiert wird. Neben den Hirten, der nach einer aufwändigen Suche das verirrte Schaf zurückbringt (Lk 15,3-7), treten die Frau, die eine verlorene Drachme wiederfindet (Lk 15,8-10), und der Vater, der seinen zurückgekehrten Sohn aufnimmt wie einen Totgeglaubten (Lk 15,11-32). Eingeleitet werden diese Texte mit einer ausführlichen Situationsbeschreibung, die deutlich macht, dass die drei Parabeln vom Verlorenen eine Replik Jesu auf die Kritik der Frommen an seiner Botschaft und seinem Verhalten darstellen: Lk 15,1 f.: (1) Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. (2) Die Pharisäer und Schriftgelehrten aber murrten und sagten: »Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen« (Lk 15,1-2, nach Jeremias 1971, 185-186 gestaltet aus Elementen von Lk 5,29-30). Solches Annehmen und Essen mit den Sündern war im Evangelium bereits mehrfach thematisiert und auch beschrieben worden, am prägnantesten in der Erzählung vom Gastmahl des Zöllners Levi (Lk 5,29-32), das ausmündete in zwei Logien, die das Selbstverständnis Jesu und seine Auffassung von seiner Sendung beschreiben: »Die Gesunden haben den Arzt nicht nötig, sondern die, denen es schlecht geht. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Umkehr« (Lk 5,31-32, vgl. dazu die Besprechung bei Lk 4,23). Auch das wenige Kapitel nach Lk 15 erzählte zweite Zöllnergastmahl im Haus des Zachäus mündet in ein solches programmatisches Wort vom Gekommensein: »Der Menschensohn ist nämlich gekommen, zu suchen und zu retten das Verlorene (t ⁄polwl@ to apolo¯los)« (Lk 19,10). In Lk 15 gibt Jesus die ausführlichste theologische Begründung für die Wahl seiner Klientel und Rechtfertigung für sein in den Augen der Frommen skandalöses Verhalten ihnen gegenüber, das ihm den Ruf eingebracht hatte, ein »Fresser und Säufer, Freund von Zöllnern und Sündern« zu sein (Lk 7,34): Sein Handeln entspricht dem Willen Gottes (vgl. Lk 15,7.10)! Der Einbindung in den Themenstrang der Kritik an Jesu Zuwendung zu »den Verlorenen« entspricht die möglicherweise in Q nicht ursprüngliche Rede vom »Verlieren« des Hirten und vom »verlorenen« Schaf in V. 4 (so W. L. Petersen 1981, 140-141; Fitzmyer 1985, 1074; eher ursprünglich dürfte die mt Rede vom »verirrten« Schaf sein), die im gänzlich aus lukanischer Feder stammenden V. 6 noch einmal betont aufgenommen wird (»mein Schaf, das verlorene« / t ⁄polwl@). Gegenüber der Q-Vorlage ausgeweitet und verändert ist das Thema der Freude. Dass der Hirt das Schaf in seiner Freude auf den Schultern trägt, soll vielleicht an Gottes fürsorgliches Handeln als Hirte Israels erinnern (Jes 40,11), auch eine rabbinische Erzählung über Moses, der als Schafhirte ein verirrtes Schaf des Jetro suchte, auf den Schultern zurückbrachte und sich damit in Gottes Augen für seine Aufgabe als Führer des Volkes qualifizierte, wird oft als literarisches Vorbild genannt (ShemR II.1). Assoziationen an das in der Kunst beliebte Motiv des Criophoros, der ein Schaf auf den Schultern zum Opfer trägt, oder an das alljährliche Tragen der Passalämmer zum Tempel führen zu einer »johanneischen« Deutung von Jesus als gutem Hirten und Lamm, das die Sünden der Welt trägt (Derrett 1979/80), die in der Parabel selbst in dieser Doppelheit wohl nicht 215

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Parabeln in der Logienquelle Q

angelegt ist (dazu oben). Dass Jesus sich und seine Jüngerinnen und Jünger gesandt wusste, wie Hirten die verlorenen Schafe des Hauses Israel zu sammeln, bezeugen die Logien Mt 10,6; 15,24; jedoch liegt der entscheidende Akzent bei Lukas (und Matthäus) gegenüber Johannes eben darauf, alle durch die Parabel Angesprochenen in diese Gottes Willen entsprechende Hirtentätigkeit einzubeziehen, sei es aktiv suchend, sei es in der Mitfreude (s. u.). Das Freudenfest im Haus (V. 6), das nicht recht zum Alltag eines Hütehirten passen will, könnte vom Evangelisten gestaltet worden sein (Holtz 1998, 164), um eine größere Parallelität mit den beiden folgenden Parabeln zu erhalten, wo das Fest situationsgemäß ist (Lk 15,9.22 f.27). Da die Parabel als auf Zustimmung rechnende rhetorische Frage formuliert ist, sind die Hörerinnen bzw. Leser indirekt in das Geschehen mit hineingenommen (s.o). Dieser Akzent wird bei Lk durch die Aufforderung zur Mitfreude in V. 6 deutlich verstärkt. Die Parabel erhält damit einen noch stärkeren Appellcharakter, als es die reine Fiktionalität leisten könnte (Güttgemanns 1971, 6-7). Auch die in V. 2 genannten murrenden Pharisäer und Schriftgelehrten sollen also in die Freude einstimmen. Man darf in diesem dreimal wiederholten Erzählzug sicher einen Hinweis auf die fröhlichen Feiern Jesu mit Frischbekehrten wie Levi sehen, zumal auch bei beiden Zöllnergastmahlen das Murren ([dia]goggÐzein [dia]goggyzein) der Frommen erwähnt wird (Lk 5,30; 19,7). Auch sonst ist dem Evangelisten das Thema Freude wichtig (siehe die Auslegungen zu Lk 15,8-10 und 15,11-32 in diesem Band). Bedeutsam ist hier, dass das aus Q stammende und dort situationsgerechte Thema der »größeren Freude« des Hirten über das eine, langgesuchte Schaf auf ganz neue Weise verwendet wird. Jesus fügt der Parabel nämlich in V. 7 eine Deutung hinzu, in der er die Freude des Hirten mit der Freude Gottes (»im Himmel«) parallelisiert und in einem gewagten Vergleich behauptet, auch Gott freue sich mehr über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die die Umkehr nicht nötig haben. Damit werden indirekt die Festmähler Jesu mit den Sündern als Spiegel der göttlichen Freude gerechtfertigt. Typisch für Lk ist das Betonen der Notwendigkeit der Umkehr (V. 7a begegnet das Verb metanoe…n metanoein, in V. 7b das Substantiv met€noia metanoia; vgl. auch Lk 3,8; 5,32; 10,13; 11,32; 15,10 u. ö.) als Voraussetzung der Freude in der Deutung; dieser Aspekt hat in der Parabel selbst keinen Anhalt, ist aber durch die Bildfeldtradition vorbereitet (vgl. Ps 119,176; Jer 31,18-20). Auch zeigt sich erneut, dass die drei Parabeln in Lk 15 vom Evangelisten als einander zu einem Ganzen anfüllende Teilerzählungen verstanden wurden, die Umkehr setzten die Worte des verlorenen Sohnes Lk 15,17-19.21 eindrücklich ins Bild (Holtz 1998, 167). Man sollte die Anstößigkeit von Jesu Deutung, die in Lk 15,10 noch in einer kürzeren Variante begegnet, nicht zu schnell verdrängen. Das Zähneknirschen seiner »gerechten« Zeitgenossen, die sich später im älteren Bruder des verlorenen Sohnes wiedererkennen können, ist schon verständlich. Ist diese Sünderliebe des göttlichen Vaters nicht übertrieben und ungerecht gegenüber seinen »braven« Kindern? Wie fast alle Jesusworte ist auch dieses nur in einem bestimmten Kontext theologisch wahr. Man muss dabei vor allem berücksichtigen, dass die Frömmigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten der Zeit Jesu eine strukturelle dunkle Rückseite hatte, nämlich die Ausgrenzung und Stigmatisierung all derer, die aufgrund ihres Berufes (Zöllner, Prostituierte) oder ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage waren, sich so akkurat auf die Befolgung der Tora zu konzentrieren wie die Frommen. Es ging Jesus um eine Reintegration solcher benachteiligter und von den Theologen aus den Augen verlorener Bevölkerungsschichten, 216

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die zusammenfassend als »Zöllner und Sünder« bezeichnet wurden, in das Volk Gottes. Wenn Jesus die Gerechten auffordert, die Freude Gottes zu teilen, dann fordert er damit von ihnen, zunächst die Verlusterfahrung und Trauer Gottes mit zu vollziehen und Freude an jedem Schritt zur Wiederherstellung der Ganzheit Israels zu finden, anstatt das eigene positive Selbstbild in Abgrenzung zu den Verlorenen zu gewinnen (vgl. v. a. Lk 18,9-14 und Dormeyer 1975, 354).

EvThom 107 (1) Jesus spricht: Das Königreich gleicht einem Hirten, der hundert Schafe hat. (2) Eines von ihnen verirrte sich, das größte. Er ließ die neunundneunzig (und) er suchte nach dem einen, bis er es fand. (3) Nachdem er sich abgeplagt hatte, sprach er zu dem Schaf: »Ich liebe dich mehr als die neunundneunzig.« Gegenüber der synoptischen Tradition zeigen sich in der Variante des ›verlorenen Schafs‹ im Thomasevangelium markante Differenzen, wobei kontrovers diskutiert wird, ob es sich dabei um eine unabhängige Überlieferung (so Nordsieck 3 2006, 372; Liebenberg 2001, 430) oder um eine eigenwillige Abänderung der synoptischen Vorlage handelt (so Schrage 1964, 194 f.; Lindemann 1980, 239 f.; Fieger 1991, 266 f.): So wird der Referenzrahmen als »Reich Gottes-Gleichnis« ( mntero – Reich) eindeutig festgelegt, ebenso wird die funktionale Bestimmung des suchenden Menschen nun auch begrifflich als »Hirte« (wörtl. einem Menschen als Hirt) manifestiert. Damit verändert sich auch die Sprachform. Behalten alle synoptischen Varianten die vermutlich von Q herkommende Form der rhetorischen Frage bei, so wird nun im Vergangenheitstempus erzählt. Entscheidender noch dürfte die Qualifikation des verlorenen Schafes sein: Es wird in EvThom 107 als »das größte« ( […] awa … epnocˇ pe) eigens hervorgehoben. Ferner wird am Ende die besondere Beziehung des Hirten zu diesem einen Schaf als »Liebe« ( wosˇ) klassifiziert. Nicht die größere Freude, sondern die persönlich zugesprochene Liebe sind folglich Zielpunkt der Parabel (»Ich liebe dich mehr …«). Der Angelpunkt einer Interpretation wird denn auch in dieser letztgenannten Zuspitzung gesehen. Was bedeutet diese Festlegung auf das »größte Schaf«? Wird die Suche nach dem Schaf an eine Bedingung geknüpft, die als ethische Qualität konkretisiert wird? Gilt die Zuwendung Gottes nur denen, die sie auch verdienen (Liebenberg 2001, 429)? Oder macht die bevorzugte Zuwendung Jesu zu den Verlorenen diese dann aus der Perspektive des Suchenden besonders wichtig und »groß« (so Nordsieck 3 2006, 373)? W. L. Petersen hatte mit Verweis auf atl. und rabbin. Belege im größten Schaf eine Metapher für Israel erkennen wollen (Petersen 1981, 133-135), wobei dagegen einzuwenden ist, dass die liebende Zuwendung Gottes in der jüdischen Tradition gerade nicht durch die Größe, sondern ganz im Gegenteil durch das Kleinsein motiviert ist (vgl. Dtn 7,7; Jes 60,22; Mi 5,1). Erhellend ist zweifellos eine kontextuelle Deutung im Horizont gnostischer Schriften. Dabei zeigen sich zwei Deutungsvarianten: Entweder der Hirte meint den Gnostiker, der mit dem großen Schaf den verlorenen Lichtfunken sucht und so zu seiner Erlösung bei Gott findet. Diese Deutung hat im näheren (EvThom 109: Perle und Reich-Gottes) und weiteren (EvThom 8; 96: ebenfalls »groß«; EvThom 2; 92; 94: suchen – finden) Kontext des EvThom Plausibilität. Auch das Zurücklassen der 99 anderen könnte hier im Sinne der Weltabwendung gedeutet werden (so Fieger 1991, 267). Oder im Schicksal 217

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Parabeln in der Logienquelle Q

des Schafes spiegelt sich der kosmische Erlösungsweg des gnostischen Mythos (so Lindemann 1980, 239). Für diese Deutung spricht vor allem die Parallele in EvVer 31,3032,16; dazu Gärtner 1961, 235 ff.) ebenso wie die altkirchliche Bezeugung über die gnostische Parabeldeutung (Iren. haer. 1,8,4; 1,24,2; Hipp. haer. 6,19). Das verlorene Schaf sei demnach der aus dem himmlischen Pleroma in die niedere Materie gefallene Teil, sei es die Weisheit (Achamoth), sei es der Äon, der nur durch den Erlöser wiedergefunden werden könne. So ungewohnt diese gnostische Deutung der Parabel auf das Schicksal der ganzen Menschheit für die modernen Ausleger/innen erscheinen mag, so zeigt sie doch eine erstaunliche Nähe zur allegorischen Interpretation auch der kirchlichen Tradition. Exemplarisch sei hier etwa auf die Deutung bei Origenes verwiesen, der bereits alle Elemente der klassischen Deutung erkennen lässt: Die Schafe symbolisieren die ganze Schöpfung, wobei die auf den Bergen zurückgelassenen auf die Engel gedeutet werden, während das eine Schaf im »Tal der Tränen« für die Menschheit steht. Der Hirte ist demnach der Erlöser, dessen Abstieg mit der Inkarnation identifiziert wird (vgl. Or. hom. Gen 2,5; GCS Or. VI 34; Or. c. Cels. 4,17). Mit nur geringen Veränderungen bestimmt diese allegorische Deutung die ganze Auslegungstradition (Belege bei Luz 1997, 34 f.). Nur gelegentlich wird auch eine ethische Deutung in Betracht gezogen, nach der dann die Schafherde mit der Menschheit identifiziert wird, die in neunundneunzig Gerechte und einen Ungerechten bzw. Sünder aufgespalten wird (so z. B. bei Hier. 160; Thom. lect. Nr. 1511). Seit der Reformation wird die Parabel dann im Horizont der Rechtfertigungstheologie gelesen: Der Verweis auf die besondere Freude über den reumütigen Sünder in Lk 15,7.10 stellt im lukanischen Kontext eine frohe Botschaft dar, die angesichts schwer empfundener Belastung durch eigene Schuld auch immer wieder reaktualisiert werden kann. Nicht zufällig hat Luther das Bild vom bedingungslos gefundenen Sünder-Schaf mit dem sola gratia-Prinzip verbunden: »Das verlorene Schaf sind wir (…) Das Schaf kann sich nicht selber helfen (…) Das Schaf sucht nicht seinen Herrn, sondern der Herr sucht das Schaf (…) Das Lamm Christus nimmt die Schafe auf seine Schultern, so und nicht umgekehrt. Er muss das Schaf tragen, dann kommt es zurecht, es läuft nicht auf eigenen Füßen, sondern auf denen des Hirten« (Predigt aus dem Jahr 1524, zit. nach Mühlhaupt 4 1968, 227 f.). Auch die pietistische Frömmigkeit empfindet in der Parabel einen persönlichen Trostzuspruch, wie es in dem besonders auch bei Kindern beliebten Lied von Henriette Luise von Hayn (1724-1782) »Weil ich Jesu Schäflein bin …« (EGbay 593) einfühlsam zum Ausdruck gebracht wird. Allerdings zeigt die Wirkungsgeschichte auch, dass Jesu Worte zum Anti-Evangelium werden können, wenn man sie als jederzeit gültige Maxime betrachtet und als Angebot einer »billigen Gnade« missversteht und missbraucht. So haben Annie Imbens und Ineke Jonker in einer verstörenden Untersuchung an Inzestopfern herausgefunden, dass Worte wie Lk 15,7.10 eine extrem schädliche Rolle im Leben von christlich erzogenen Tätern und Opfern zu spielen scheinen. Die Opfer fragten sich, ob die Engel im Himmel sich wirklich mehr über die Ankunft des in letzter Minute reumütigen Vaters freuen werden als über ihre eigene, und wurden ihrerseits von kirchlichen Autoritäten zu verstockten Sünderinnen erklärt, wenn sie sich nicht bereit fanden, ihrem reumütigen Vater zu vergeben. Und ein Vater, der zunächst den Missbrauch geleugnet hatte, gab ihn schließlich zu und sagte im selben Atemzug: »Ich habe gesündigt. Aber das macht nichts, mein Erlöser wird mir 218

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vergeben« (Imbens/Jonker 1992; Beavis 2002b). Eine solche selbstrechtfertigende »Auslegung« oder sagen wir eher: Aneignung des Textes fällt ohne jeden Zweifel aus dem Rahmen der textangemessenen Deutungen der biblischen Parabel vom verlorenen Schaf. Als Kontrapunkt gegen diese das Opferschema festigende Auslegung sei abschließend auf eine eigenwillige Interpretation der Parabel in den frühchristlichen Theklaakten verwiesen: Als die Apostolin Thekla, die durch Paulus zum Christentum bekehrt wurde, in Abwesenheit ihres Lehrers das Martyrium erleiden soll, heißt es »Thekla sucht nach Paulus wie ein Lamm (⁄mn@ amnos), das in der Wüste nach seinem Hirten Ausschau hält« (ActThecl 21). Im Vergleich zum Q-Text hat hier eine bemerkenswerte Akzentverschiebung stattgefunden: Thekla ist ein aktives Lamm, das nicht wartet, bis es gesucht wird, sondern selbstständig dazu beiträgt, seinen Hirten wieder zu finden, der freilich nicht Paulus, sondern letztlich Christus ist, wie sie bei ihrer Selbsttaufe anerkennt. Im Wissen darum, dass die eigenen Aktivitäten oder gar risikobehafteten Wagnisse von der alles sprengenden Fürsorge Gottes und Jesu umschlossen bleiben, dürfen wir uns zu solchen überraschenden Ausbruchversuchen durchaus öfter ermutigen lassen.

Animosa Oveja Literatur zum Weiterlesen S. C. Barton, Parables on God’s Love and Forgiveness (Luke 15:1-7//Matthew 18:12-14; Luke 15,8-32, in: R. N. Logenecker (Hg.), The Challenge of Jesus’ Parables, Grand Rapids/ Cambridge 2000, 199-216. D. R. Catchpole, Ein Schaf, eine Drachme, ein Israelit. Die Botschaft Jesu in Q, in: J. Degenhardt (Hg.), Die Freude an Gott – unsere Kraft, FS O. Knoch, Stuttgart 1991, 89-101. J. D. M. Derrett, Fresh Light on the Lost Sheep and the Lost Coin, NTS 26 (1979/80), 36-60. S. J. Gathercole, Logion 107, in: ders., The Gospel of Thomas. Introduction and Commentary, Leiden/Boston 2014, 584-588. T. Holtz, Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18,12-14 / Lk 15,3-7) – Die Vollmacht Jesu, in: J. Kerˇkosvky´ (Hg.), EPITOAUTO. FS P. Pokorny´, Prag 1998, 163-175. A. J. Hultgren, The Parables of Jesus. A Commentary, Grand Rapids/Cambridge 2000, 46-62. J. S. Kloppenborg/C. Callon, The Parable of the Shepherd and the Transformation of Pastoral Discourse, Early Christianity 1 (2010), 218-260. A.-J. Levine, Lost Sheep, Lost Coin, Lost Son, in: dies., Short Stories by Jesus. The Enigmatic Parables of a Controversial Rabbi, New York 2014, 25-70. J. Liebenberg, The Parable of the Lost Sheep in the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, in: ders., The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin u. a. 2001, 414-430. P. Müller/G. Büttner/R. Heiligenthal, Verlieren und Finden (Lk 15,1-7; Mt 18,10-14), in: dies., Die Gleichnisse Jesu. Ein Studien- und Arbeitsbuch für den Unterricht, Stuttgart 2002, 100-108. W. L. Petersen, The Parable of the Lost Sheep in the Gospel of Thomas and the Synoptics, NT 23 (1981), 128-147. R. Zimmermann, The Lost Sheep (Q/Luke 15:1-7) and the Parables in Q, in: ders., Puzzling the Parables of Jesus. Methods and Interpretation, Minneapolis 2015 (im Erscheinen).

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Über die Notwendigkeit ungeteilter Leidenschaft (Vom Doppeldienst) Q 16,13 (Mt 6,24 / Lk 16,13 / EvThom 47,1 f.) (13a) Niemand kann zwei Herren dienen. (13b) Denn entweder wird er den einen hassen und den anderen

wird er lieben

oder er wird dem einen anhangen und den anderen wird er verachten. (13c) Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Einheit Q 16,13 beginnt mit einer weisheitlichen Regel (z. B. Kloppenborg 2000, 395), die die Unmöglichkeit des Dienstes an zwei Herren feststellt (V. 13a). Der Regel folgt eine in zwei Teilen ausgeführte Begründung (V. 13b), die ausdrücklich mit einer kausalen Partikel (»denn«) markiert ist. Sie unterteilt sich jeweils in zwei Antithesen, die ein mit unterschiedlichen Verben bezeichnetes Verhalten gegenüber den Herren beschreiben. Den dritten Teil der Einheit markiert eine Anwendung, die direkt an die Adressaten gerichtet wird (V. 13c). Sie wiederholt die Negativthese der Einleitung und benennt nun zwei konkrete »Dienstherren«, deren Dienste einander ausschließen. Die einleitende These (V. 13a) gibt die beiden Leitvokabeln vor, die ein hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis bezeichnen: Herr (kÐrio@ kyrios) und Dienen (douleÐein douleuein); im Verb steckt damit der Gegenbegriff zum Herrn: der Diener bzw. Sklave. Die allgemein gehaltene Sentenz hält fest, dass niemand Dienst an zwei Herren leisten kann, ohne zu konkretisieren, wie dieser Dienst aussieht oder was diesen zweiseitigen Dienst verhindert. Die Aussage lässt sich am besten so umschreiben, dass eine volle Konzentration des Arbeitseinsatzes beim Dienst an zwei Herren nicht möglich ist. »Dienen« bedeutet damit ein ganzheitliches Sich-in-Besitz-Nehmen-Lassen durch den Herrn. Es liegt ein in sich schlüssiges Weisheitswort vor (Bultmann 10 1995, 91, plädiert für ursprüngliche Selbständigkeit). Es bleibt allerdings nicht bei dieser apodiktischen Feststellung, sondern die Aussage wird durch eine Begründung ergänzt, die in zwei psychologisierenden Antithesen besteht: Hass und Liebe, Gefolgschaft und Verachtung sind die Alternativen, die im Falle des Doppeldienstes einem der Herren zuteil werden. Die Emotionen sind effektiv zu verstehen als »Bevorzugen und als Zurückstellen« (Klein 2006, 543 mit Hinweis auf Gen 29,29-31). Die beiden positiven Aspekte bilden in dieser chiastischen Struktur der Begründung die Mitte: a – b // b1 – a1 . Das Negative steht am Anfang und am Schluss, so dass hierauf die Betonung liegt. Die mangelnde Konzentration bedeutet, dass der doppelte Dienst in dem Fall auch ein negatives Resultat hat, und begründet damit die negative Gesamtbewertung des Doppeldienstes. 220

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Über die Notwendigkeit ungeteilter Leidenschaft Q 16,13

So entsteht eine bewusst logische Komposition, in der der thetische Obersatz durch zwei chiastisch geformte antithetische Aussagen begründet wird (s. a. H. D. Betz 1995, 454 f., zur Gesamtstruktur von Mt 6,24). Die Darstellung der Affekte beim Dienst an zwei Herren übt eine rhetorische Funktion als similitudo (typisches Verhalten aus dem menschlichen Leben) aus und dient durch Veranschaulichung als Argumentationshilfe. Es geht dabei noch nicht um die Entscheidung zwischen zwei Herren, sondern um den ganzen Einsatz für einen Bezugspunkt. Die Anwendung fällt nicht allein dadurch auf, dass sie den sentenzartigen Charakter der Einheit durch eine direkte Anrede verändert, sondern auch dadurch, dass sie neue Gedanken und Vokabeln einführt. Mit der Anrede und ihrem Charakter verändert sich die Kommunikationsstruktur. Zielte die bisherige Struktur durchaus auf Zustimmung durch Akzeptanz der Logik, die allerdings im Falle dieser Akzeptanz auch eine Haltungsveränderung beinhaltet, so nutzt die Anrede die erwartete Zustimmung zur weisheitlichen Sentenz für eine direkte Mahnung. Gegenstand der Mahnung ist eine neu eingeführte Antithese. Lag die bisherige Antithese in den Affekten des Dienenden, so lautet die Antithese nun Gott gegen das Geld – diese Antithese verbunden mit dem Verb »dienen« hebt das Geld, für das im griechischen Text die fremdländisch klingende Vokabel »Mammon« verwendet wird, auf eine personale Ebene, und es wird so als eine wie ein Gott um Verehrung buhlende Macht verstanden (H. D. Betz 1995, 454: »choose between serving the true God and serving a pseudo-deity – Mammon«, 458). Mit diesen neuen Charakteren sind zwei Herren benannt, denen nicht gleichzeitig Dienst geleistet werden kann, sondern zwischen denen gewählt werden muss. Daraus entsteht eine klare Pragmatik: Die kompromisslose religiöse Ausrichtung soll sich in Distanz zum Geld bewähren. Wie dies inhaltlich zu füllen ist, wird nicht gesagt; Q 16,13 ist keine wirtschaftsethische Aussage (pointiert Horsley 1999, 293: kein »call to social-economic solidarity«), sondern eine Forderung zu grundlegendem Gottesdienst und zur Freiheit, sich nicht dem Geld als Lebensorientierung zu verschreiben (s. a. Dupont 1985, 567). Insofern folgen die einzelnen Textteile einer gemeinsamen Pragmatik: der vollständigen Hingabe an den einen Herrn, Gott, unter dem Stichwort »Dienst« (s. a. Horn 2 1986, 157). Form: Formal wird die Frage gestellt, ob Q 16,13 als Parabel zu bestimmen ist (bestritten bei H. D. Betz 1995, 455 Anm. 271; für Hultgren 2000, 130 keine Parabel, sondern Beispiel von »wisdom teachings« Jesu). Dies ist darin begründet, dass in der Sentenz wie der Anwendung die ursprüngliche Metaphorik des Verbs »dienen« als Ausdruck für Unterwerfung und Anerkennung fremder Autorität abgeschliffen und zu einem eher unbildlichen Begriff der sich im Alltag bewährenden religiösen Verehrung geworden ist. Herr, Gott und Mammon sind sachgerechte Bezeichnungen für die Ausrichtung solcher Verehrung. Die chiastischen Antithesen der Begründung sind Affekte, die einem Doppeldienst angemessen erscheinen; im Spiegel der Anwendung, die sich auf den Gegensatz Gott – Mammon bezieht, und in Akzeptanz eines weiten Bildbegriffes ist die spezifische Gattungsbestimmung »Bildwort« (z. B. Harnisch 4 2001, 106 Anm. 182, mit Bultmann 10 1985, 181 f.; Dupont 1985, 551 f.) durchaus sachgerecht. Kontext: Ein Korrespondenztext zu Q 16,13 liegt in der Seligpreisung der Armen, Q 6,20, vor (Kloppenborg 2000, 213 mit Hinweis auch auf 4,5-8). Q distanziert sich vom Reichtum (s. a. Q 7,25) und aller Art materieller Abhängigkeit; so verweigert sich Jesus in der Versuchungsgeschichte sowohl der Erschaffung von Brot aus Steinen (4,2-4) als auch 221

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Parabeln in der Logienquelle Q

dem Angebot der Reiche der Welt und ihren Schätzen mit Hinweis auf die Gottesverehrung und Gottes Willen (zum Gottesgehorsam in Q 4,1 ff. Labahn 2004, 408 ff.414 ff.; zur Beziehung von Q 16,13 zu Q 4,1 ff. Fleddermann 2005, 781). Q 16,13 liefert hierfür eine plausible Begründung; Geld und das Streben danach stehen der In-Dienstnahme durch Gott ebenso im Weg wie dem Sich-Verlassen auf Gottes Fürsorge (vgl. Q 12,22b-30). Die Sorge um das Lebensnotwendige wird Gott abgetreten (s. a. Q 11,3), um sich gänzlich auf das Gottesreich zu konzentrieren (Q 12,30). Durch die einschneidenden Unterschiede der Einbettung von Q 16,13 bei Matthäus und Lukas (s. u. Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte), wobei die übliche Regel, der lukanischen Akoluthie zu folgen, durch das lukanische Kompositionsinteresse an Überzeugungskraft verliert, verbleibt die Stellung in Q hypothetisch. Für die Abfolge 14,26 f.; 17,33 (Stichwortanreichung); 14,34 f.; 16,13 spricht die gemeinsame Forderung nach ganzheitlicher Hingabe an das Gottesreich, so dass ein sachlicher Zusammenhang thematisch und motivlich eigenständiger Sprüche entsteht (anders z. B. Jacobson 1995, 368, der Q 16,13 vor Q 12,22b-31 sieht).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Herrenrecht und Sklaverei: Das Thema »Herr« und »Dienen« öffnet den weiten Bereich antiker Wirtschaft vom Sklavenhandel über verschiedene Anstellungsverhältnisse. Die Mehrzahl der antiken Bevölkerung bewegt sich in grundlegenden wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Die Eingangssentenz von Q 16,13 steht im Einklang mit dem römischen Sklavenrecht (F. Schulz 1934; bezweifelt z. B. von Flusser 1999). Trotz scheinbar vorhandener Ausnahmen des gemeinsamen Eigentums eines Sklavens durch zwei Herren (BQ 90a; zitiert bei Billerbeck I 2 1926, 433) spiegelt die Regel rechtliche und soziale Verhältnisse wider (H. D. Betz 1995, 456), so dass die psychologische Explikation bereits einen theologischen Anknüpfungspunkt bildet. Sozialer Stand und wirtschaftlicher Stand solcher Sklaven können gravierend variieren; grundlegend ist aber, bis auf den Fall einer Freilassung, dass Sklaven der Besitz eines anderen Menschen mit weitgehenden Rechten (z. B. Verkauf und Kauf, Ausgeliefertsein körperlicher, auch sexueller Gewalt) an ihrer Person sind. Daneben gibt es den zahlenmäßig ebenfalls recht umfangreichen Komplex der Tagelöhner, die sich kurzfristig und für geringen Lohn einem Arbeitgeber verdingen (zu den Unterschichtgruppen der antiken Gesellschaft, zu denen Sklaven und Tagelöhner gehören, vgl. Stegemann/Stegemann 2 1997, 80-94). Q 16,13 öffnet vor diesem Hintergrund eine sehr radikale Alternative, die kaum den großen Reichtum anspricht, sondern auf die Alternative zwischen der Erwartung des täglichen Überlebens von Gott her und der Erwartung der Existenzsicherung auf monitärer Basis zielt. Wie weitgehend ein Ausklinken aus den sozialen Bindungen der Familie und des Haushalts als dem ökonomischen Rahmen dörflicher Existenz durch Q 16,13 gefordert wird (dies nimmt Jacobson 1995, 369 an), ist auf der Ebene von Q eine schwierige Frage, da neben radikaler Auflösung von sozialen Bindungen (Q 12,51.53; 14,26) auch die Realität dörflichen Soziallebens vorausgesetzt wird (zur Sache Schmeller 1989, 93-99).

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Über die Notwendigkeit ungeteilter Leidenschaft Q 16,13

Kult und Geld: Gleichermaßen von sozialem wie religionsgeschichtlichem Interesse ist das Verhältnis von Gott und Geld. Es ist einigermaßen selbstverständlich, dass wirtschaftlicher (und davon nicht notwendig zu trennender) politischer Erfolg der Gunst der Götter geschuldet ist (Beispiel: Maevius bittet in Mart. X 76 die Göttin Fortuna um Wohlstand). Der so durch die Gunst der Götter mit Reichtum Ausgestattete erwies sich dankbar durch entsprechende Gegengaben. Religion und Geld waren nach antikem Verständnis weithin keine Gegensätze, sondern gingen in der Praxis wie dem religiösen Denken durchaus Symbiosen und Verschmelzungen ein (vgl. den Kult der Göttin Fortuna als Personifikation von Glück, aber auch Wohlstand; zur kritischen Würdigung s. Juv. 14,315 ff.). Auch die jüdische Auslegungstradition kann dem Einsatz von Geld (mit der Vokabel Mammon!) positive Bedeutung abgewinnen: So fordern TgSpr 3,9 und TgDeut 6,5 mit analogen Formulierungen den Dienst an JHWH durch den Einsatz des gesamten Geldes.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Mammon: Im griechischen Text wird für Geld die Vokabel mamwn”@ (mamo¯nas – Mammon) verwendet. Hierbei handelt es sich um ein Lehnwort aus dem Aramäischen, dessen hebr. Pendant auch in Sir 31(34),8 (Ms.B: 31,7; ed. P. C. Beentjes) verwendet wird (xymm5 ma¯môn). Wahrscheinlich abgeleitet aus der Wurzel xma (’mn – zuverlässig sein) bedeutet es in der jüdischen Literatur »Gewinn« und »Vermögen«, meist neutral (betont von Rüger 1973, 129), gelegentlich mit negativem Unterton (hervorgehoben von Broer 1995, 701; s. a. Klein 2006, 544). Das Vorkommen in der Gerichtsszene in 1Hen 63,10 belegt apokalyptische Züge, ohne dass generalisierend von einem »apokalyptischen Begriff« gesprochen werden kann (anders C. Heil 2003, 121). Eine metaphorische Verwendung oder gar Personifizierung des Begriffs kann vorntl. nicht nachgewiesen werden. Somit handelt es sich um eine hier gebildete frische Metapher. Die grundsätzlich nicht ungewöhnliche Verwendung fremdsprachiger Begriffe dürfte an dieser Stelle ein bewusstes Element griechischer Komposition sein, um den Charakter eines fremdartigen Wesens zu unterstreichen. Reichtumskritik und Armutsideal: Gehen Geld und Religion im antiken Wirtschaftsleben und Religionsvollzug praktische Kompromisse ein, so ist in der antiken Religiosität wie Philosophie die Warnung vor dem Reichtum ebenso präsent wie die kritische Distanz zum Geld; vgl. Ps-Phok 42-47: »Geldgier ist die Mutter aller Schlechtigkeit. / Gold und Silber (wirken) auf die Menschen (immer) als Köder. / O Gold, du Urheber (vieler) Übel, du Lebensverderber und Allpeiniger, / wärest du doch nicht zu ersehnter Qual für die Sterblichen geworden! / Um deinetwillen gibt es Streit und Raub und Mord, / werden Kinder den Eltern feind und Geschwister ihren Anverwandten!« (Übers.: N. Walter 1983, 202; weitere signifikante Parallelen zur Geldgier und ihren üblen Folgen in: Strecker/Schnelle 1996, 953-959 [zu 1Tim 6,10]; s. a. van der Horst 1978, 142 f.; einleitend zum kritischen Verhältnis von Reichtum und Besitz in Antike und frühem Christentum: Hengel 1973). Der eine Gott: Die Konzentration der Verehrung auf den einen Gott hat einen ihrer zentralen Prätexte in der Formulierung des Schema: »(4) Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, 223

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Parabeln in der Logienquelle Q

Jahwe ist einzig. (5) Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (Dtn 6,4-5 [EÜ]). Dieser Basistext jüdischer Religiosität ermöglicht eine nahe Parallele zu dem synoptischen Wort vom Doppeldienst, die in TestJud 18,6 zu finden ist: »Denn zweier (ihm) entgegengesetzter Leidenschaften ist er Knecht (douleÐwn douleuo¯n) und kann Gott nicht gehorchen, weil sie seine Seele verfinstern, und (darum) wandelt er am Tage wie nachts« (Übers.: Becker 1974, 73). Der dem Gottesgehorsam entgegengesetzte Doppeldienst ist der der Hurerei und der Habsucht (V. 1). TestJud 18,6 teilt mit Q 16,13 nicht die Argumentationsstruktur, was Abhängigkeit ausschließt, aber das Thema »Habsucht« und der durch andersartige Abhängigkeit gehinderte Gottesgehorsam bilden eine sachliche Nähe ab.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Laut der Parabel über den Doppeldienst sind in der religiösen Konzentration keine Kompromisse zu machen. Die Alternativstellung des Gottesdienstes gegenüber einem »Dienst« am bzw. einer Abhängigkeit vom Geld in Q 16,13 kann zu Verhältnisbestimmungen von Geld und Religion, aber auch zu wirtschaftsethischen Fragen nach der Bedeutung von Profit und der aus ihm erwachsenen gesamtgesellschaftlichen Verantwortung führen: Gott zu dienen und damit auch den Mitmenschen als Mensch vor Gott zu erkennen, heißt, nicht den Gesetzen der Ökonomie die Vormacht über die Gesetze der Humanität und Mitmenschlichkeit einzuräumen. Oder umgekehrt formuliert: Die Entgegensetzung zum Geld ist Mahnung, das Wohl der Menschheit nicht einem grenzenlosen Profitstreben preiszugeben. Auch wenn der Q-Text selbst keine positive Entfaltung bietet, ist das Thema, wie in den Religionen einschließlich der christlichen Kirchen im eigenen Land mit Geld umgegangen wird, in jedem Fall eine Perspektive, die der Text mit seiner Alternativsetzung zu bedenken aufgibt. Kontroverser dürfte das Thema des Doppeldienstes im Blick auf die religiöse Dimension sein, zumal religiöser Nachdruck als Fanatismus und religiöse Intoleranz durch die Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte hindurch zahlreiche Verfolgungs- und Todesopfer fanden. Andererseits stellt sich im Horizont der Infragestellung des Doppeldienstes die Frage nach der Authentizität religiöser Ausrichtung. Die Forderung Jesu, ganz mit den Zeichen der Zeit und dem sich den Menschen nähernden Reich Gottes Ernst zu machen, steht angesichts seiner Zuwendung zu den sozial wie religiös Marginalisierten sowie seines Gottvertrauens und seines Liebesgebotes nicht im Verdacht eines religiösen Fanatismus. Die Parabel fordert Eindeutigkeit anstelle von Beliebigkeit; damit regt sie in jedem Fall zum Nachdenken über den Ort religiösen Lebens im menschlichen Alltag an. Der religiöse Dienst kann dabei durchaus als Befreiung zu verantwortlichem Handeln verstanden werden, der sich nicht fremden, so genannten Sachzwängen beugen muss, sondern diese kritisch befragen kann.

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Über die Notwendigkeit ungeteilter Leidenschaft Q 16,13

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Matthäus: Bei Matthäus (Mt 6,24) findet sich die Parabel in der Bergpredigt, Mt 5-7, wo sie nur eine lockere Verbindung mit dem Kontext eingegangen ist (vgl. H. D. Betz 1995, 454), die Zeichen beabsichtigter Komposition zeigt. Mit dem vorausgehenden Spruch über das Auge als Licht der Seele (Mt 6,23 f.) verbindet die Parabel vom Doppeldienst wohl nur der Gedanke der Ganzheitlichkeit, sowohl der Lauterkeit als auch der Bosheit. Dieser Punkt findet sich auch in der Aufforderung zur Sammlung himmlischer Schätze als Antithese zum diesseitigen Besitz und somit als ganzheitliche Ausrichtung auf das himmlische Reich (vgl. Dupont 1985, 555). Man kann in der matthäischen Spruchfolge die Anwendung zur Parabel aber auch in der Verlängerung der genannten Alternative als Ausdruck von Lauterkeit oder Bosheit sehen, welchem Herrn man zu dienen beabsichtigt. Auch der Anschluss des Spruchs vom Sorgen (Mt 6,25-34) ist trotz der begründenden Partikel keineswegs ein stringenter. Das Thema des Doppeldienstes wird nicht fortgesetzt oder vertieft. Immerhin wird die Konzentration auf den Gottesdienst mit der Zusage der Geborgenheit im fürsorgenden himmlischen Vater verbunden, so dass die Bedeutung des Geldes eine religiös-praktische Relativierung erfährt. Lukas: Bei Lukas hat eine derart einschneidende Verarbeitung stattgefunden, dass die Frage nach lukanischer Sondertradition gestellt werden könnte. Die Parabel ist mit der Parabel vom »Unehrlichen Verwalter« (Lk 16,1-8) und deren Ausarbeitung so verbunden, dass sie ihren Abschluss bildet. Die in 16,14 f. folgende Polemik gegen die Pharisäer setzt durch ihre Charakterisierung dieser jüdischen Gruppe als »geldgierig« das Thema »Umgang mit Geld« fort (zu Q 16,14 als lukanischer Verknüpfung Dupont 1985, 564), das nach der Unterbrechung durch 16,16-18 auch in der Parabel »Reicher Mann und armer Lazarus« in Lk 16,19-31 wieder begegnet. Bei Lukas markiert die Ablehnung des Doppeldienstes eindeutig die Leseanweisung für die vorausgehende Parabel, die so geradezu domestiziert wird (hierzu z. B. Hedrick 1994, 21 mit Anm. 37). Die Einfügung des »Hausdieners« (o§kffth@ oikete¯s; Fleddermann 2005, 778; anders H. D. Betz 1995, 455, der hier eine ältere Traditionsstufe reklamiert) konkretisiert die weisheitlich allgemein gehaltene Parabel möglicherweise mit Blickrichtung auf die frühchristliche Hausgemeinde. Auch wenn Lukas den Einsatz des Geldes als Ausdruck des Jesusglaubens verstehen kann, so weist Lk 16,13 auf die zum Glauben gehörende Grundsatzentscheidung gegen Mammon für Gott hin (treffend Horn 2 1986, 80). Thomas: EvThom 47,1-2 enthält zwei parallel geformte Sprüche: EvThom 47,1-2: (1) Jesus sagt: Es ist unmöglich, dass ein Mensch zwei Pferde besteigt und dass er zwei Bogen spannt. (2) Es ist außerdem unmöglich, dass ein Diener zwei Herren dient oder er wird den einen ehren und den anderen beleidigen. EvThom 47,2 wird man als Überlieferungsvariante zu Q 16,13 betrachten müssen (s. a. Kloppenborg 2000, 57 Anm. 4: »performance variation«), da eine direkte literarische, aber auch mündlich vermittelte Abhängigkeit nicht wahrscheinlich gemacht werden kann. Weitergehende Versuche einer Genealogie sind hochgradig spekulativ. Die Zuspitzung auf das Thema Geld, verstärkt etwa bei Lukas, fehlt in EvThom. Hier geht es um die Alternative des Dienens (vgl. Ergänzung des »Dieners«). Zwischen 225

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Gnosis und Welt gibt es keine Kompromisse, sondern nur eine Antithese, die eine klare Entscheidung verlangt. Dies wird in 47,3-4 durch die Alternative von »alt« und »neu« unterstrichen. EvThom ist zwar nicht inhaltlich durch die esoterisch-gnostische Ausrichtung, wohl aber sachlich in der Kompromisslosigkeit näher am Bild der Parabel als die auf Distanz zum Geld zielende Anwendung in Q oder bei Lukas.

Michael Labahn Literatur zum Weiterlesen H. D. Betz, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3-7:27 and Luke 6:20-49), Hermeneia, Minneapolis 1995, 453-459. D. E. Oakman, The Radical Jesus: You cannot Serve God and Mammon, in: D. R. McGaughey (Hg.), From Biblical Interpretation to Human Transformation. Reopening the Past to Actualize New Possibilities for the Future. Essays honoring H. C. Waetjen, Salem 2006, 218-230. R. Zimmermann, Metaphorology and Narratology in Q Exegesis. Literary Methodology as an Aid to Understanding the Q Text, in: D. T. Roth/R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q. FS D. Zeller, WUNT 315, Tübingen 2014, 3-30.

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Die plötzliche Alternative mitten im Alltag (Mitgenommen oder zurückgelassen) Q 17,34 f. (Mt 24,40 f. / Lk 17,34 f. / EvThom 61,1) (34) Ich sage euch: Es werden zwei auf dem Feld sein; einer wird mitgenommen, der andere wird zurückgelassen. (35) Zwei werden an der Mühle mahlen; eine wird mitgenommen, die andere wird zurückgelassen.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der Text ist durch eine hohe sprachliche Disziplin ausgezeichnet, die sich in strenger paralleler Komposition zeigt. Nach der Autorität in Anspruch nehmenden Eingangsformel, die nur im Text des Lukasevangeliums belegt ist, schließen sich zwei zweiteilige, präsentisch formulierte Aussagen an. Zunächst erfolgt eine Situationsschilderung, der jeweils ein zweigeteiltes Ereignis zugeordnet wird. Die im Vordersatz genannten Personen ereilt ein entgegengesetztes Schicksal von Aufnahme oder Zurückgelassen-Werden: A / B1 / B2 // A’ / B1 ’ / B2’. Die im Vordersatz aktivisch eingeführten zwei Personen sind im zweigliedrigen Nachsatz passiv diesem Schicksal ausgeliefert; das Folgende geschieht an ihnen. Der Autor dieses Handelns wird nicht ausdrücklich benannt. Das Passiv ohne Handlungsträger weist im neutestamentlichen Sprachgebrauch oft auf Gott, so dass wir auch hier an ein göttliches Passiv (passivum divinum; z. B. C. Heil 2003, 173) zu denken haben, der zur Wahrung seiner Transzendenz nicht direkt als Handelnder genannt wird. Manchmal wird auch auf Engel als Ausführende verwiesen (Jeremias 4 1988, 130). Die Verwendung des maskulinen und des femininen Zahlwortes im Nachsatz signalisiert, dass es sich im ersten Glied um zwei Männer, im zweiten um zwei Frauen handelt, die unterschiedlichen Tätigkeiten (die Männer auf dem Feld, die Frauen an der Mühle) nachgehen. Durch das verarbeitende Handeln im zweiten Glied ist auch für das erste Glied ein Tun einzusetzen; sie befinden sich bei einer für die Aussage der Parabel nicht näher zu spezifizierenden Feldarbeit. Die Unbestimmtheit dieser ersten Aussage ist anknüpfungsoffen – jeder an Feldarbeit Beteiligte kann sich in der Aussage wiederfinden. Für das zweite Bild bedeutet dies, dass das Dargestellte als typisches Handeln und nicht als eine besondere, einen Charakter individualisierende Tätigkeit zu deuten ist. In ihrer Aktivität repräsentieren die beiden Personengruppen die Landbevölkerung und zwar durch die sprachliche Parallelität gleichgewichtig bestehend aus Männern und Frauen – man kann dies »geschlechtssymmetrische Paarbildung« nennen (Theißen 2003, 95). Aus beiden Gliedern setzt sich das Gesamtmotiv des Spruches zusammen. Sprachlich und dramaturgisch ist die Geschichte äußerst sparsam strukturiert, so dass jedes Element als bedeutsam anzusehen ist. So gilt es auch für die Erwähnung der 227

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Parabeln in der Logienquelle Q

beiden Geschlechter, die auf die gesamte Menschheit in ihrer religiösen Verantwortlichkeit zielt. Die Zweizahl der Personen in beiden Gliedern ist die notwendige Anzahl für das Erzählen einer Alternative: mitgenommen oder zurückgelassen werden. Der restriktive Erzählstil macht diese Tätigkeit, auf die die Alternative hinausläuft, rätselhaft und kann als Transfersignal für eine übertragene Bedeutung gewertet werden. Insofern beide Verben auf einen Gegensatz zwischen Eröffnung (z. B. Q 11,26) und Beendigung von Gemeinschaft (Mt 4,11) bezogen werden können, ließe sich an ein sicherndes und gemeinschaftsstiftendes Ergriffen-Werden durch Gott denken, das dem Zurücklassen als Ausschluss entspricht. Ob dies als Entrückung (zur Diskussion s. Analyse des Bedeutungshintergrunds [Bildfeldtradition]) zu deuten ist, lässt sich angesichts der Knappheit des Textes nicht sichern. Dort, wo der Text seine Alternative anbietet, ist seine Erzählabsicht zu suchen; in der unerwarteten Plötzlichkeit liegt ein Appellcharakter, auch wenn sich keine direkte oder durch die Charaktere ausgesprochene Regel findet. Die Gleichförmigkeit der Präsentation beider Personen in beiden Gliedern empfiehlt intratextuell keine bestimmte Verhaltensform, die das unterschiedliche Ergehen im zweiten Glied rechtfertigt. Daher kann man eine referentielle Funktion bestimmen, die in der Aufhebung jeglicher Sicherheit in Bezug auf den Zeitpunkt des Alternativgeschehens aus Mitgenommen- und Zurückgelassen-Werden liegt. Die beiden Verben des zweiten Gliedes weisen auf eine Alternativsetzung, wobei das Zurücklassen negativ, die Annahme positiv bestimmt ist (s. o.); d. h., es besteht ein natürliches Interesse, zur ersten Gruppe zu gehören. Neben dem referentiellen lässt sich ein direktiver Aspekt herausstellen, so präpariert zu sein, dass man zur unerwarteten Zeit an der positiven Alternative partizipiert (Fleddermann 2005, 837). Gefordert ist eine Entscheidung für die Botschaft des Mahnenden, um an der positiven Alternative zu partizipieren. Kontext: Im Kontext des Dokuments Q werden die Plötzlichkeit und Allumfassendheit des Tages des Menschensohnes (Bild des Blitzes: Q 17,24) gegen Gleichgültigkeit wie in den »Tagen des Noah« (Q 17,26 f.; Referenz auf Gen 18 f.) betont und einer hyperaktiven, dem Werben unseriöser Anführer folgenden Unsicherheit (Q 17,23) gegenübergestellt. Im Zusammenhang von Q ist der Tag des Menschensohns ein unberechenbares, plötzliches Geschehen, das zum Gericht führt (Kloppenborg 1995, 298 f.): »It will be as unheralded as the destruction of Sodom or the generation of Noah, and village bonds created by kinship and work will be torn apart«. Q wendet sich an seine Adressaten, wohl Glieder ihm nahestehender Gemeinden, um sie zur stetigen Bereitschaft für den Tag des Herrn mit entsprechendem Verhalten zu ermahnen. Bezogen auf den isolierten Text liegt der Appellcharakter in der Kommunikationsstruktur. Die Kurzgeschichten konfrontieren die Adressaten mit einer Alternative, die auf die Frage »Wo stehst du?« an die Angeredeten hin zugespitzt werden kann. Sie aktualisieren die Alternative, indem die Angeredeten durch ihr Verhalten zu einer oder einem Mitgenommenen oder einer oder einem Zurückgelassenen werden. Der Kontext eliminiert diese Kommunikationsstruktur nicht, sondern setzt die Alternative voraus. Allerdings verschiebt sich im Kontext die Pragmatik von der einmaligen existentiell umfassenden Antwort zur Bewährung dieser Antwort durch aktive Wachsamkeit und Bereitschaft für den Tag des Menschensohnes.

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Die plötzliche Alternative mitten im Alltag Q 17,34 f.

Form: Die Zuordnung von Q 17,34 f. zum Gattungsbereich Parabel ist strittig. Im Blick auf seine jeweilige literarische Einordnung hat man den Text als Gerichtswort (z. B. L. Schottroff 1991, 337) bestimmt. Die Allgemeinheit der Hinweise auf das menschliche Alltagsleben und der implizite Appellcharakter der änigmatischen Alternativsetzung, die eine Transferleistung der Rezipienten erfordern, lassen den Text dem bildhaften Textgenre zuordnen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Geschlechterrollen und Arbeitsaufteilung: Die Bilder der Situationsschilderung entstammen antiker Agrarstruktur: Feldarbeit und Verarbeitung der Ernteerträge. Die Zahlworte im zweiten Teil unterscheiden im Genus zwischen maskulinen und femininen Charakteren, denen jeweils eine typische Situation zugeordnet wird, und spezifizieren die Personen und ihre sozialen Rollen im jeweiligen Vordersatz näher. Männer arbeiten auf dem Feld, wohingegen den Frauen die Arbeit an der Mühle zugeordnet wird. Welche spezielle Mühle gemeint ist, Getreide oder Öl, wird nicht ausgeführt. Die Abbildung zeigt eine Ölmühle, wie sie zu römischer Zeit in Palästina eingeführt wurde (Kellermann 1977, 240; zu Mühlen und Mahlen in Palästina Dalman 1933, 219-235 mit weiteren Abbildungen).

Quelle: Kellermann 1977: Abb. 60 n 1.

Das Mahlen der Frau wird in den talmudischen Texten als typische Tätigkeit neben anderen innerhäuslichen Arbeiten genannt: »Folgende Arbeiten hat eine Frau für ihren Mann zu verrichten: mahlen, backen, waschen, kochen, ihr Kind säugen, ihm das Bett machen und in Wolle arbeiten« (Ket V 5 [Goldschmidt V 4 1996, 184]; weitere Belege bei Billerbeck I 2 1926, 966 f.); Kleinskulpturen belegen Kornmahlen als verbreitete Frauenarbeit in der Antike (Wagner-Hasel 2000, 315 mit Anm. 14). Bringt die Frau nach Ket V 5 Sklavinnen mit in die Ehe, so werden je nach Anzahl der Sklavinnen diese Aufgaben delegiert. Das Mahlen ist aber nicht, wie gelegentlich behauptet, eine typische Sklavinnenarbeit. In der Ökonomik (Xen. oic. 7,19-22) des Xenophon finden wir diese mit dem Bild eines Gespannes erklärte Struktur der Aufgabenteilung in der Gabe der physis (Natur, im Sinne der »althergebrachte[n] Konvention«; Wagner-Hasel 2000, 311) durch die Gottheit begründet: »(19) Zuerst einmal heiratet das Paar, um miteinander Kinder zu zeugen, 229

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Parabeln in der Logienquelle Q

damit das menschliche Geschlecht nicht ausstirbt. (…) Wenn die Menschen Vorräte unter dem Dach anlegen wollen, brauchen sie allerdings jemanden, der die Arbeit unter freiem Himmel verrichtet. Denn Pflügen, Säen, Pflanzen und auch Weiden sind Beschäftigungen im Freien. Aus diesen wird der Lebensunterhalt gewonnen. (21) Sobald das nun unter einem Dach untergebracht ist, ist wiederum jemand erforderlich, der es verwahrt und der solche Arbeiten verrichtet, die innerhalb des Hauses anfallen. Der Schutz des Daches ist notwendig bei der Versorgung der neugeborenen Kinder; unter einem Dach muss die Aufbereitung der Feldfrüchte stattfinden, ebenso die Herstellung von Kleidung aus Wolle. (22) Da nun jede der beiden Tätigkeiten, diejenige im Innern und diejenige im Freien der Ausführung und der Aufsicht bedürfen, hat Gott … von vornherein die körperliche Beschaffenheit entsprechend ausgestattet, und zwar, wie mir scheint, die der Frau für die Arbeiten und Besorgungen im Innern, die des Mannes hingegen für die Tätigkeiten und Beaufsichtigungen außerhalb« (zitiert nach Wagner-Hasel 2000, 327 [Q 111]). Literarische (vgl. Scheidel 1990; 1992) wie ikonographische Belege zeigen aber, dass Frauen durchaus auch bei der Feldarbeit zu finden waren:

Quelle: Wagner-Hasel 2000, 331 (Q 113)

Für römische Agrarschriftsteller ist die Arbeit von Frauen auf dem Feld gegenwärtig, auch wenn die Hausarbeit einen wichtigen Raum in den Darstellungen einnimmt und die mater familias oder Vorsteherin anders als ihr Mann ihre Kontrollfunktion im Bereich des Hauses ausübt (Darstellung z. B. bei Günther 2000, 362 ff.). Die Breite der literarischen, epigraphischen und ikonographischen Zeugnisse präsentiert ein uneinheitliches Bild über die Rolle der Frau im agrarischen Arbeitsleben; kulturelle Differenzen, soziale Stellung und ideologische Tendenzen sind zu bedenken. Generalisierend kann gelten: Xenophon, die talmudischen Belege wie auch Q 17,34 f. scheinen ein wohl gegenüber der Lebenswirklichkeit abweichendes Bild der Rollenverteilung von Mann und Frau widerzuspiegeln. Allerdings ist diese traditionelle Rollenverteilung auch in der reduzierenden und damit typisierenden Darstellungsweise bildlicher Rede begründet, die ein Gesamtporträt erzeugen will: Mann und Frau – Feld und Haus bilden die Gesamtbevölkerung der Adressaten in typischer Arbeitsteilung ab. Neben der Rezeption typischer Rollenbilder ist die Paarbildung von Mann und Frau in einer religiösen Mahnung zu beachten. Sie zeigt deutliche und gleichwertige Akzeptanz beider Geschlechter als religiöse Wesen (zur Sache s. a. L. Schottroff 1991, 338; Theißen 2003, 99).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Mahlen in intertextueller Perspektive: Besondere Aufmerksamkeit verdient das Mahlen an der Mühle. Sprachgeschichtlich gehört diese Ausdrucksform in die hellenistische Sprach230

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Die plötzliche Alternative mitten im Alltag Q 17,34 f.

welt, die sich vom klassischen Griechisch unterscheidet. Interessant ist aber vor allem ein möglicher innerbiblischer Bezugspunkt. Zum Verhalten des Volkes in Num 11,8 findet sich eine exakte sprachliche Übereinstimmung: Num 11,8 ka½ ˇlhqon a't ¥n t† mÐl†w (kai e¯le¯thon auto en to¯ mylo¯ – und sie mahlten an der Mühle) Q 17,35 dÐo ⁄lffiqousai ¥n t† mÐl†w (dyo ale¯thousai en to¯ mylo¯ – zwei werden an der Mühle mahlen). In Num 11,8 wird die immer gleiche Situation der Wüstengeneration Israels geschildert, die die zuverlässige Versorgung mit Manna als eintönig empfindet und sich nach Ägypten zurücksehnt, wo ihr Sklavendienst immerhin Abwechslung auf dem Speiseplan bereit hielt (Num 11,18). Möglich, aber nicht zwingend ist, dass diese Wiederkehr des Alltags unter der Fürsorge Gottes auch in Q 17,35 gespiegelt ist; auch die Arbeit des Sammelns aus Num 11,8 könnte über die neutralere Feldarbeit eingeblendet sein. Die Unzufriedenheit des Volkes wird jedoch nicht mitgenommen und ist auch nicht im unterschiedlichen Widerfahrnis der Personen einzuholen. Der Vergleichspunkt wäre eine Gedankenlosigkeit über die allgemeine Fürsorge Gottes, die in Num 11 zur Unzufriedenheit, in Q 17,35 zu fehlender Bereitschaft für den Tag des Menschensohnes führt. Entrückung?: Das je unterschiedliche Schicksal zwischen Aufnahme und Zurücklassen öffnet einen anderen Motivbereich. Das griechische Verb paralamb€netai (paralambanetai – mitnehmen) erinnert an die so genannte »Entrückung« einzelner Gestalten der Glaubensgeschichte Israels. Henoch (Gen 5,24) und Elia (2Kön 2,11) starben diesen Traditionen zufolge nicht, sondern wurden unmittelbar von der Erde weg in die Gegenwart Gottes weggenommen (zur Vorstellung der Entrückung Schmitt 1991). Der Kontext des Tages des Menschensohnes lässt allerdings nicht notwendig an diese Konzeption der Entrückung denken. Am nächsten kommt vielleicht das Weggenommen-Werden des Weisen (SapSal 4,10 f.), das aus dem Bereich der Bösen herausführt und so als Schutz des Gerechten interpretiert wird (zur Stelle Hübner 1999, 62 f., der SapSal 4,10 im Licht der Entrückung Henochs, Gen 5,24, versteht). Der Tag des Menschensohnes, der in klarer Einsicht in die Analogielosigkeit solchen Geschehens sehr sparsam beschrieben wird, wird als gesamt-kosmologisches Geschehen verstanden (Q 17,23 f.). Das Ergriffen-Werden steht für ein Gerettet-Werden (Fleddermann 2005, 836); eine exakte Einordnung in die in Q genannten Endereignisse ist jedoch nicht möglich, da keine konstruierbare Ereignisfolge erkennbar wird. Angemessen wäre in Q die Vorstellung einer Beteiligung am endzeitlichen Gericht auf Seiten der Jünger und damit eine Gegenüberstellung zu den Zurückgelassenen, die auch von dem kosmologisch verifizierbaren Endereignis betroffen wären.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Der Zweizeiler zielt auf Konsequenzen der Rezipienten, aber er verliert durch die Einbindung in einen literarischen Zusammenhang den vergewissernden oder verstörenden, existentiellen Charakter, der in der Applikation der Alternativen durch die Entscheidung für oder gegen die Verkündigung Jesu besteht. Motivik und Denken des Wortes weisen ein beachtliches Maß an Fremdheit auf, die der Reichgottesverkündigung und ihrer früh231

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Parabeln in der Logienquelle Q

christlichen Adaption anhaftet. Kritisch werten mag man das Vergeltungsdenken wie das Festhalten an den zeitgenössischen Gender- und Sozial-Strukturen. Beachtlich ist aber gerade in diesem zeitgenössischen Rahmen die in der Parabel aufgestellte unterschiedslose Ansprache auf religiös-ethische Verantwortlichkeit; Letzteres wurde durch den jeweiligen Kontext an die Texteinheit herangetragen und hat damit ihre direkte, auf das Individuum und seine Ausrichtung zielende Kommunikationsstruktur entschärft. Auf den ersten Blick wird das antike Rollenbild festgeschrieben, das beiden Geschlechtern in hierarchischer Ordnung spezifische Funktionen und Rollen zuschreibt. Diese Interpretation, die auf die Verteilung der Aufgabenfelder zwischen Haus und Öffentlichkeit und damit eine patriarchalische Struktur verweisen kann, erklärt nicht die Pragmatik des Gleichnisses, die die Vertreter beiderlei Geschlechts sprachlich völlig parallel in dieselbe Alternative zwischen Aufnahme und Zurückgelassen-Werden einreiht. Eine genaue Differenzierung ist zur Bewertung erforderlich. Das patriarchalische Rollenbild, das den agrarischen Handlungsschilderungen zugrunde liegt, wird nicht infrage gestellt, sondern kritiklos verwendet. Der Text zielt nicht auf Abänderungen von Sozialstrukturen, sondern setzt sie voraus, was aus heutiger Sicht angefragt werden kann. Wenn in der zweiten Hälfte das Widerfahrnis geschildert wird, so wird jedoch im Blick auf den Appellcharakter durch die erzeugte Parallelität von Mann und Frau jede Hierarchie aufgehoben. Mann und Frau stehen in der Entscheidung von Annahme oder Zurückgelassen-Werden, von Bewährung oder Versagen. Sie werden vor dieser Alternativsetzung als religiöse wie ethische Wesen gleichermaßen ernst genommen und gefordert.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Das Wort über die »Alternative mitten im Alltag« weist relativ starke Detaildifferenzen in Wortwahl und Wortfolge zwischen Matthäus und Lukas auf; generell scheint Matthäus den Text ursprünglicher bewahrt zu haben (zur Diskussion mit etwas abweichender Rekonstruktion Fleddermann 2005, 825-827). Matthäus: Mt 24,40 f. platziert das Logion Q 17,34 f. in seine Endzeitrede Mt 24 f., wobei er weithin in Wortlaut und Abfolge Q folgt. Das rätselhafte Mitgenommen-Werden wird durch Mt 24,31 als Entrückung in den Himmel verständlich gemacht (Luz 1997, 450). Der Zusammenhang mit der Noah-Geschichte bleibt erhalten. Dem Gerichtswort folgt die Aufforderung zur Wachsamkeit in 24,42, die zu weiteren Wachsamkeitstexten überleitet. Mt 24,36-41 bilden eine Grundlegung, die vor Gleichgültigkeit warnt, die mit einem unerwarteten und unangekündigten Gerichtsgeschehen konfrontiert wird. Die Allgemeinheit von 24,40 f. stellt jegliche im Lektürevollzug von 24,1 ff. eventuell aufkommende Sicherheit durch Identifikation mit den Erwählten oder Distanzierung von Negativcharakteren, wie Luz zutreffend zeigt, in Frage (1997, 451). Es ist also absolute Präsenz und Wachsamkeit gefordert (vgl. den Fortgang in Mt 24,42 ff.). Lukas: Lukas 17,34 f. bietet eine andere Situationsschilderung im ersten Glied des Gleichnisses: Er lokalisiert die beiden Männer nicht auf dem Feld, sondern auf der »Kline«, die das Lager zum Mahl wie zum Schlaf bezeichnen kann, und zudem in der Nacht (das lukanische Bild als Q-Text: z. B. W. D. Davies / Allison 1997, 382). Es spricht einiges da232

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Die plötzliche Alternative mitten im Alltag Q 17,34 f.

für, dass das eher häusliche Milieu in Lk 17,34 als sekundäre Interpretation zu werten ist, so dass in 17,34 f. die Situation der Menschen innerhalb des Hauses mit der außer Haus, Lk 17,31, kontrastiert wird (vgl. Neirynck 1995, 56). Das agrarische Milieu ist im ersten Glied verlassen, auch wenn schwer zu entscheiden ist, ob die Nacht und die »Kline« als sorgloser Schlaf (z. B. Theißen 2003, 97) oder als Symposion (Kloppenborg 1987b, 302 Anm. 57 und Steinhauser 1981, 202 ff.: Gegensatz arbeitende Frau – das Symposion genießender Mann; C. Heil 2003, 173) Gegenstand kritisierter Gleichgültigkeit sind, welche im Alltagsleben der Noah- und Lot-Zeit geschildert wird. Die Deutung auf ein Ehepaar bei der Nachtruhe (Melzer-Keller 1997, 310 ff.; 1998, 51) ist sprachlich und sachlich nicht gerechtfertigt; auch Lukas behält die Doppelgleichung Mann – Frau bei. Die Ergänzung »am selben Ort« im zweiten Glied führt zu keiner sachlichen Verschiebung. Im Kontext lukanischer Theologie ist die kritische Mahnung an Reiche – hier passt das Motiv des Symposions (antike Kritik an Prunksucht beim Symposion bei Fellmeth 2001, 107-115) – zu einem christlich angemessenen ethischen Handeln zu verorten. Das Motiv der Mahlenden fügt sich in den Kontext antiker Landgüter zwanglos ein, so dass an eine soziale Stufung gedacht ist; die Glieder dieser sozialen Gruppen werden in gleicher Weise auf ihre religiöse Verantwortlichkeit angesprochen. Thomas: EvThom 61,1 bietet eine nahe Parallele zu Lk 17,34: EvThom 61,1: Es sagt nun Jesus: Zwei werden auf einem Bett ruhen, einer wird sterben, einer wird leben. Die Unterschiede zu den Texten aus der synoptischen Tradition fallen ins Auge. Es fehlt einerseits die charakteristische Zweiteilung des Bildes, und die Motivik des Ergehens trägt ebenfalls eigenständige Züge, indem sie direkt von Tod und Leben spricht. In dieser Reihung findet sich im EvThom das positive Element am Ende der Aufzählung. Umstritten ist, ob hier eine ältere, eine eigenständige, eine literarisch abhängige Version oder eine Fassung, die durch sekundäre Mündlichkeit geprägt ist, vorliegt. Nimmt man die Zweigliedrigkeit der Parabel als ursprünglich und das Motiv der Liege als lukanische Gestaltung, so wird in EvThom 61,1 keine ältere und ursprünglichere Textfassung der Parabel vorliegen, wogegen auch die Eindeutigkeit der Widerfahrnisse und der Verzicht auf das göttliche Passiv sprechen. Im Hinweis auf Leben und Tod als Korrelat zum Sitzen auf der Kline erfolgt eine klare Interpretation, die gegen Q und Lukas auch das Problem des Tages des Menschensohns zurücklässt. M. E. setzt EvThom 61,1 Lk 17,34 voraus, aber zwischen beiden Texten liegt eine weitere Phase produktiver Interpretation und Weitergabe, die vereinfacht, auslässt und verdeutlicht (gegen DeConick 2006b, 200 f.). Geblieben ist auch im Kontext des Thomasevangeliums die Zuspitzung auf die Alternative, die sich aus der eigenen religiösen Verantwortlichkeit ergibt.

Michael Labahn

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Parabeln in der Logienquelle Q

Literatur zum Weiterlesen A. Friedl, Das eschatologische Gericht in Bildern aus dem Alltag. Eine exegetische Untersuchung von Mt 24,40 f. par. Lk 17,34 f., ÖBS 14, Frankfurt am Main u. a. 1996. H. Melzer-Keller, Frauen in der Logienquelle und ihrem Trägerkreis. Ist Q das Zeugnis einer patriarchatskritischen, egalitären Bewegung? in: S. H. Brandenburger/T. Hieke (Hg.), Wenn drei das Gleiche sagen – Studien zu den ersten drei Evangelien. Mit einer Werkstattübersetzung des Q-Textes, Theologie 14, Münster u. a. 1998, 37-62. B. L. Merkle, Who Will Be Left Behind? Rethinking the Meaning of Matthew 24:40-41 and Luke 17:34-35, Westminster Theological Journal 72 (2010), 169-179.

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Schnell und unausweichlich (Vom Aas und den Geiern) Q 17,37 (Mt 24,28 / Lk 17,37) Wo das Aas (ist), dort werden sich die Adler / Geier versammeln.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Textfassungen in Mt 24,28 und Lk 17,37 sind in ihrer Struktur vergleichbar. Die konjunktivische Formulierung des Vordersatzes bei Matthäus scheint gegenüber der sprichwortartigen Auslassung des Verbs bei Lukas sekundär zu sein, während das doppelte Kompositum ¥pisun€gw (episynago¯ – sammeln, versammeln) vermutlich als Steigerung von sun€gw (synago¯ – sammeln) zu verstehen ist. Wenn man an eine geprägte Wendung denkt, ist die Abfolge von Prädikat und Subjekt im Nachsatz von Matthäus gefälliger. Sowohl die Form (wo … dort) als auch der Inhalt der Aussagen waren konventionell (Ehrhardt 1953). Die Rekonstruktion der Aussage in Q 17,37 (Hoffmann/Heil 2002, 108) leuchtet deshalb ein, auch wenn sie nicht definitiv gesichert werden kann (Bovon 2001, 179). Aas und Geier werden mit Hilfe einer räumlichen und einer zeitlichen Beziehung verbunden: Wo dort

werden sich versammeln

das Aas, die Geier.

Die jeweilige Schlussstellung von Aas und Geiern verweist auf den engen gegenseitigen Bezug: Wo Aas ist, dort werden die Geier sich versammeln. Es handelt sich nicht um einen Geier, sondern um viele. Und sie kommen unweigerlich, auch wenn sie jetzt noch nicht zu sehen sind. Damit ist ein zeitliches Nacheinander angedeutet, das aber nicht auf eine lange Zeitspanne bis zum Eintreffen der Geier hinweist, sondern auf eine nur kurze Zeit. Dies alles gehört zum Alltagswissen in Mittelmeerländern. Im unmittelbar vorangehenden Vers ist vom Kommen / der Ankunft des Menschensohns die Rede. Wenn dieses Kommen verknüpft wird mit dem Bild vom Aas und den Geiern, so werden Erfahrungen auf das Kommen des Menschensohnes hin konzentriert. Dabei sind unterschiedliche Verknüpfungen denkbar: Die Unausweichlichkeit des Geschehens könnte angesprochen sein oder auch die Schnelligkeit, mit der das Geschehen eintritt. Denkbar wäre auch, dass die Räumlichkeit des Geschehens (»wo – dort«) angesprochen ist.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die deutschen Übersetzungen differieren im Blick auf die genannten Vögel. Sprachlich am genauesten ist die Elberfelder Übersetzung: »Wo das Aas ist, da werden sich die Adler versammeln.« Die Lutherübersetzung verstärkt den sentenzhaften Charakter der Aussage und spricht von Geiern: »Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier.« Auch in anderen 235

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Parabeln in der Logienquelle Q

Übersetzungen ist teils von Adlern, teils von Geiern die Rede, obwohl das verwendete ⁄et@ (aetos) den Adler bezeichnet (das Wort für Geier ist gÐv gyps). Dieser Sachverhalt wird verständlich, wenn man die einschlägigen Stellen über Adler und Geier bei antiken Schriftstellern vergleicht. Plinius unterscheidet in nat. 10,6 ff. sechs Arten von Adlern. Die vierte Art »bildet der ›Schwarzflügler‹ perknptero@ (perknopteros), auch ¤reipfflargo@ (oreipelargos) genannt, der die Gestalt eines Geiers und sehr kleine Flügel hat, sonst aber durch seine Größe ausgezeichnet, jedoch so feige und entartet ist, dass ihn der Rabe schlägt. Er ist stets voller heißhungriger Fressgier und lässt ein klägliches Gekrächze hören; er allein von den Adlern schleppt Kadaver fort, während die übrigen bei der von ihnen geschlagenen Beute sitzen bleiben« (10,8). Vergleichbare Aussagen finden sich bereits bei Aristoteles (hist. an. 8 [9] 618b) und um 200 n. Chr. bei Claudius Ailianos (nat. II 46; weitere Stellen bei Gizewski 1996; Hünemörder 1998). In nat. 10,19 berichtet Plinius, die Geier würden »schon drei Tage vorher dorthin fliegen, wo es Kadaver gibt« (vgl. Arist. hist. an. 6,5,563a, und Ail. nat. 19,19). Nach antiker Auffassung gibt es also eine Adlerart, die eher als Geier anzusehen ist und sich wie ein Geier verhält. Die Beobachtungen, die sich in solchen Texten niederschlagen, belegen die Kenntnis der Besonderheiten dieser Tiere: Ihr stark ausgeprägter Gesichtssinn lässt sie Kadaver über weite Entfernungen sicher erkennen. Da sie sich gegenseitig bei ihrer Futtersuche im Auge behalten und auf Anzeichen achten, die darauf schließen lassen, dass ein anderer Vogel Nahrung gefunden hat (Kreisen, tiefer Gehen, plötzlich Hinabstoßen), kommen Geier nie allein Geier bzw. Geieradler wecken verschiedene Assoziationen und ihre Einschätzung ist sehr ambivalent. Sie gelten – wie schon bei Plinius – als äußerst fressgierig. Ihre Hauptnahrung sind die Kadaver verendeter Tiere. Die Ernährung von Aas bringt Gestank mit sich (z. B. Ail. nat. 2,46). Als Aasfresser werden sie (gerade im Gegensatz zum Adler) als feige eingeschätzt. In Gesellschaften, die den Umgang mit Toten oder mit Blut tabuisieren, gelten sie dementsprechend als unrein. Auf der anderen Seite sorgen Geier zuverlässig dafür, dass die Kadaver verendeter Tiere schnell beseitigt werden. Dadurch üben sie eine hygienische Funktion aus. Verschiedentlich wird eine Bestattungsform bezeugt, bei der die Leichen den Geiern vorgeworfen werden (Hom. Il. 4,237; Od. 11,578 u. ö.). Im Prometheus-Mythos frisst der Adler / Geier Ethon täglich die immer wieder nachwachsende Leber des Prometheus. In Rom sind dem Kriegsgott Mars Geier und andere Greifvögel heilig. Livius berichtet in seiner Geschichte Roms (Liv. I 7,1) die Legende von 12 Geiern, die dem Romulus erscheinen und seinen Führungsanspruch unterstreichen.

Analyse des Bedeutungshindergrunds (Bildfeldtradition) Adler bzw. Geier werden nicht nur an unserer Stelle aufgegriffen. Bereits im AT finden sich verwandte Bilder. Nach Hab 1,8 wird die blitzartige Invasion der Chaldäer mit schnellen Panthern, bissigen Wölfen und Adlern verglichen, die zum Fraß eilen. In Hi 9,25 f. dient die Geschwindigkeit, mit der der Adler seine Beute packt, als Bild für die schnell dahin fliehenden Tage des Lebens. Vor allem aber ist Hi 39,26-30 zu vergleichen. Der Abschnitt ist Teil der Gottesrede an Hiob. Dass und wie der Falke den Vogelzug unternimmt, ist dem menschlichen Verstand ebenso unbegreiflich wie die Tatsache, dass 236

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Schnell und unausweichlich Q 17,37

Raubvögel töten und ihre Beute von Weitem sehen. Wo Totes bzw. Getötetes liegt, sind sie sofort zur Stelle. Nach Lev 11,13 f.; Dtn 14,12 f. gehören (Adler und) Geier zu den Vögeln, die nicht verzehrt werden dürfen, sondern zu verabscheuen sind, »denn ein Gräuel sind sie.« Die Berührung mit ihnen macht unrein. Das Aussehen der Geier wird in Mi 1,16 zum Bild für das demütigende Abscheren der Haare beim Gang in die Gefangenschaft. Geier wecken demnach überwiegend negative Assoziationen. Auf der anderen Seite stehen die Adler. Zwar dürfen auch sie nicht gegessen werden. Mit ihnen sind aber andere Eigenschaften verbunden: Stärke (2Sam 1,23; Jes 40,31; Jer 4,13), Kraft (Ps 103,5), Schnelligkeit (Jer 48,14; Hos 8,1; Hab 1,8), Schutz (Dtn 32,11). In Hi 39,27 LXX stehen Adler und Geier austauschbar nebeneinander, was wiederum deutlich macht, dass eine genaue Trennung in der Antike nicht durchgängig erfolgt. Von diesem Bildhintergrund her wird deutlich, dass die Verwendung des Bildes in Q verschiedene Assoziationen ermöglicht: Vom Aas her denkt man am ehesten an Geier und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen; die Adler und das mit ihnen verbundene Bildfeld wecken andere Konnotationen. Möglicherweise hat die Vorstellung vom kommenden Menschensohn auf das Bild eingewirkt und dazu geführt, dass in Q nicht von Geiern, sondern von Adlern die Rede ist. Das Bild vom Aas und den Adlern macht jedenfalls unterschiedliche Reaktionen zwischen Furcht und Bewunderung möglich. Zugleich deutet das Bild – ob Geier oder Adler – übereinstimmend auf die Schnelligkeit, die Sicherheit und Unausweichlichkeit, mit der die Adler ihre Beute und die Geier den Kadaver finden. Am Rande sei vermerkt, dass diese unterschiedlichen Konnotationen von Adler und Geier bis heute immer wieder zu finden sind, vom Adler als Feldzeichen der römischen Legion bis zum Bundesadler im Plenarsaal des Deutschen Bundestages und auf den deutschen Euro-Münzen, vom Geier als Aasfresser (»hol’s der Geier«) bis hin zu dem Bild vom »Pleitegeier«.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Im Kontext Q 17,23-37 wird der Tag des Menschensohnes beschrieben. Dabei werden folgende Logien zusammengestellt: Das Kommen des Menschensohnes wie ein Blitz (17,23 f.), der Vergleich des Menschensohn-Tages mit den Tagen des Noah (17,26-30), ein Wort über das Mitgenommen- oder Zurückgelassen-Werden (17,34 f.) und das Bildwort von Aas und Geier. In 19,12 ff. folgt die eschatologische Parabel vom anvertrauten Geld. Es liegt auf der Hand, dass die Spruchquelle dieses Wort in den Zusammenhang vom Kommen des Menschensohnes einordnet. Die Vorstellung vom Menschensohn als kommendem Richter spielt für die Eschatologie der Q-Gruppe eine wichtige Rolle: Q setzt mit der Verkündigung des Täufers ein, die das baldige Kommen des eschatologischen Richters ankündigt, und endet mit der eschatologischen Rede in 17,23 ff., zu der das hier zu untersuchende Bildwort gehört.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Matthäus 24,28 orientiert sich sehr eng an der Q-Vorlage, behält die Textanordnung von Q bei und fügt die Aussage von Aas und Adlern / Geiern unmittelbar an das Blitzwort 237

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Parabeln in der Logienquelle Q

V. 27 an. Diese Verknüpfung legt es nahe, in beiden Versen einen vergleichbaren Sinn anzunehmen: Ein Blitz leuchtet den ganzen Horizont aus und kann nicht übersehen werden, ebenso wenig wie ein Kadaver von den Geiern übersehen wird. Denkbar wäre auch, V. 28 auf die Pseudopropheten in V. 23-26 zu beziehen: Das bevorstehende Kommen des Menschensohnes lockt unweigerlich falsche Propheten hervor. Dann stünden eher die negativen Konnotationen im Blick auf die Geier im Vordergrund. Aber nach diesen Hinweisen kommt zuerst V. 27 und argumentiert anders: Die falschen Christusse wollen die Glaubenden verwirren, indem sie ihnen bestimmte Orte der Offenbarung vorgaukeln (V. 23.26). Das Kommen des Menschensohnes aber kann niemand übersehen, wo man auch sei, weil es wie ein Blitz die ganze Welt erhellt. Daran schließt das Wort vom Aas und den Adlern an – und die folgenden Verse beschreiben erneut Erscheinungen, die die ganze Welt und »alle Geschlechter der Erde« betreffen. Von daher liegt es nahe, V. 27 und 28 inhaltlich zusammen zu sehen. Lukas 17,37 schließt eine Passage ab, die mit der Pharisäerfrage in 17,20 nach dem Kommen des Reiches Gottes einsetzt. Die verschiedenen Unterabschnitte übernimmt er im Wesentlichen aus Q. In diesem Abschnitt finden sich verschiedene zeitliche Hinweise (wann V. 20, es wird die Zeit kommen V. 22, wie der Blitz aufblitzt V. 24, zuvor aber V. 25, wie es geschah V. 26.29, an dem [jenem] Tag V. 30 f., in jener Nacht V. 34). Sie legen die grundlegende zeitliche Strukturierung des Abschnitts offen. Umso deutlicher fällt die Schlussfrage in V. 37 auf: »Herr, wo?« Während das Bild von Aas und Adler / Geier in Q die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit umschreibt, mit der die Vögel ihre Beute finden, rückt mit der Frage der Jünger nach dem »wo« bei Lukas ein zusätzlicher Aspekt in den Vordergrund: Ebenso wenig wie sich eine Chronologie der letzten Ereignisse berechnen lässt, weil sie überraschend schnell eintreten, lässt sich angeben, wo diese Ereignisse stattfinden werden: Weder hier noch dort (17,21.23). Die Frage nach dem »Wo« ist falsch gestellt, weil, wo immer ein Toter ist, sich die Adler versammeln (andere interpretieren im Sinne von »überall«, vgl. Gräßer 3 1977, 171). Auffällig ist, dass Lukas nicht von ptma (pto¯ma – Aas) spricht, sondern von sma (so¯ma – Leib, Leichnam). Sma kann durchaus wie ptma Leichnam bedeuten. Dann hätte Lukas auf das drastischere Wort verzichtet. In Lk 23,52.55; 24,3.23 wird sma tatsächlich im Sinne von Leichnam verwendet – und zwar des Leichnams Jesu. Gerade diese Verwendung lässt aber Raum für ein allegorisches Verständnis der Aussage: In diesem Fall wäre sma nicht als Kadaver zu verstehen, der die Geier anzieht, sondern als der Menschensohn, der die Gläubigen an sich zieht (vgl. Mk 13,27; Mt 24,34; 2Thess 2,1). Es ist denkbar, dass bereits Lukas das Bild so verstanden haben wollte und deshalb nicht nur ein gefälligeres Wort wählte, sondern mit sma bereits eine allegorische Deutung auf Jesus hin anbahnte. Jedenfalls findet sich sma mehrfach in der Passionsgeschichte als Bezeichnung für den Leib bzw. den Leichnam Jesu (22,19; 23,52.56; 24,3.23). Da vor 17,37 sma bei Lk nicht in dieser Bedeutung vorkommt, erscheint mir diese Beziehung aber doch eher unwahrscheinlich. Einen deutlichen Schritt in diese Richtung geht jedoch die spätere Auslegungsgeschichte. Das Aas steht für den getöteten Christus, die Adler werden als die Erwählten verstanden, die Christus von überall her zusammenholt (so schon bei Or. fr. 478 [= GCS Orig XII 197]). Luther greift diese Deutung auf und spitzt sie zu, indem er eine Querverbindung zum Brotwort in Lk 22,19 herstellt, wo ebenfalls sma (so¯ma) begegnet: »Von diesem Aas haben wir das ewige Leben« (WA 40 III, S. 607). 238

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Schnell und unausweichlich Q 17,37

Eine andere allegorische Deutung bezieht den Adler auf das Feldzeichen der römischen Legionen (ein silberner oder goldener Adler mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Blitzstrahl Jupiters), das in unmittelbarer Nähe des taktischen Führers getragen wurde und dem im Lager ein eigenes Fahnenheiligtum geweiht war (Tac. ann. 1,39,4, und Le Bohec 1998). Das Feldzeichen bezieht sich jedoch nicht auf den Aas fressenden Geier, sondern den kühnen, starken und schnellen Adler. Diese Deutung muss deshalb ausscheiden.

Peter Müller Literatur zum Weiterlesen G. Harb, The Meaning of Q 17,37: Problems, Opinions and Perspectives, ZNW 102 (2011), 283293. G. R. O’Day, »There the ? will gather together« (Luke 17:37). Bird-watching as an exegetical activity, in: S. Ringe/H. C. P. Kim (Hg.), Literary Encounters with the Reign of God, New York/London 2004, 288-303. Th. Staubli, Die Tiere der Bibel, Stuttgart 2001. J. Topel, What kind of a sign are vultures? Luke 17,37b, Bib. 84 (2003), 403-411.

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Gewinnen oder Verlieren (Von den anvertrauten Geldern) Q 19,12 f.15-24.26 (Mk 13,34 / Mt 25,14-30 / Lk 19,12-27) (12) Ein Mensch, der auf Reisen ging, (13) rief zehn seiner Sklaven, gab ihnen zehn Minen und sagte ihnen: »Macht Geschäfte damit, bis ich komme.« (15) Nach langer Zeit kommt der Herr jener Sklaven und hält Abrechnung mit ihnen. (16) Der Erste kam und sagte: »Herr, deine Mine hat zehn Minen hinzugewonnen.« (17) Und er sagte zu ihm: »Schön, guter Sklave, mit wenig warst du zuverlässig, über viel werde ich dich einsetzen.« (18) Der Zweite kam und sagte: »Deine Mine hat fünf Minen verdient.« (19) Er sagte zu ihm: »Schön, guter Sklave, mit wenig warst du zuverlässig, über viel werde ich dich einsetzen.« (20) Da kam der Dritte und sagte: (21) »Ich weiß, dass du ein harter Mensch bist, erntest, wo du nicht gesät hast, und einsammelst, wo du nicht ausgestreut hast. Aus Furcht bin ich gegangen und habe deine Mine in der Erde verborgen. Hier, da hast du, was dir gehört.« (22) Er sagt zu ihm: »Du böser Sklave! Du wusstest, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? (23) Du hättest mein Geld also zur Bank bringen müssen und ich hätte, als ich kam, was mir gehört, mit Zinsen zurückerhalten. (24) Nehmt ihm also die Mine weg und gebt sie dem, der die zehn Minen hat. (26) Denn jedem, der hat, wird gegeben werden, dem aber, der nicht hat, dem wird auch das, was er hat, weggenommen werden.«

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel zeichnet in knappen Strichen eine kleine Geschichte, in der viel geredet wird. Die Dialoge sind – mit einer bezeichnenden Ausnahme – jeweils kurz gehalten, nehmen insgesamt in der Parabel aber einen großen Raum ein. Das Besprechen des Geschehenen, das Erklären und Kommentieren der Ereignisse hat einen hohen Stellenwert. Die story der Parabel wird über die Zeitangabe in V. 15 in zwei Szenen unterteilt, wobei die erzählerische Aufmerksamkeit vor allem der zweiten Szene gilt. Zwischen den Szenen vergeht in der erzählten Welt Zeit. Die Ereignisse dieses Zeitraums sind für die Geschichte zentral, werden vom Erzähler aber zunächst ausgeblendet. Erst die wörtliche Rede der Schlussszene holt im Rückblick herein, was in dieser Zeit geschehen ist, um es zu kommentieren und zu bewerten. Der erste Teil (V. 12 f.) benennt in denkbarer Kürze die notwendigen Voraussetzungen, um das Geschehen in Gang zu bringen: Ein Herr und zehn seiner Sklaven treten auf. Ein Auftrag wird erteilt, der in Abwesenheit des Herrn zu erfüllen ist. Von vornherein wird klargestellt, dass die Abwesenheit des Herrn befristet ist. Der Auftrag gilt »bis ich komme«. Weil der Erzähler darüber schweigt, wie die Sklaven ihren Auftrag erfüllen, liegt die ganze Aufmerksamkeit und Erwartung nun auf der zweiten Szene. Sie setzt ein, als der Herr, wie angekündigt, zurückgekehrt ist. Drei der Sklaven – 240

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Gewinnen oder Verlieren Q 19,12 f.15-24.26

die übrigen bleiben ausgeblendet – treten einzeln vor ihn hin, um Rechenschaft über ihr Tun während seiner Abwesenheit zu geben (V. 15 ff.). Der Herr interagiert mit den einzelnen Sklaven. Die Sklaven stehen nebeneinander, sie haben jedoch nie miteinander zu tun (anders z. B. Mt 18,23-35). Die Grundperspektive ist: Der Einzelne steht vor seinem Herrn. Allerdings können und sollen die Sklaven im Sinne der Erzähldramatik sehr wohl miteinander verglichen werden. Zu Anfang sind sie eine Gruppe, in der jeder die gleiche Aufgabe anvertraut bekommt. Im Weiteren aber, als sie einzeln vortreten und vor ihrem Herrn Rechenschaft ablegen, erreicht der Erzähler eine Gegenüberstellung. Die ersten beiden haben mit unterschiedlichem Erfolg Gewinne erwirtschaftet. Der Herr lobt sie – trotz des Unterschieds – mit den gleichen Worten (V. 17 und 19). Sie waren treu und zuverlässig. Ihnen soll offenbar ein größeres Vermögen zur Verwaltung anvertraut werden. Dann gibt auch der dritte Sklave seinen Rechenschaftsbericht ab – sehr wortreich im Vergleich mit den beiden anderen (V. 20-21). Er redet zunächst nicht wie sie vom Geld. Er redet von seinem Herrn und von der Furcht, die dieser bei ihm hervorruft. Aus dieser Furcht heraus hat er das Geld vergraben und gibt es dem Herrn nun zurück. Er nennt seinen Herrn einen »harten Menschen«, der erntet, wo er nicht gesät, und der sammelt, wo er nicht ausgestreut hat. »Hart« (sklhr@ skle¯ros) assoziiert Attribute wie unbarmherzig, hartherzig; die Bilder vom Ernten und Sammeln sind leicht auf finanzielles Gebaren zu übertragen und lassen an Gewinnstreben, vielleicht an ungerechte oder ausbeuterische Gewinne denken (Belege bei Luz 1997, 501). Die Furcht des Sklaven ist offenbar Angst vor dem Verlust des Geldes. Er hat es möglichst sicher verwahrt und gibt dem Herrn sein Eigentum ohne Verluste zurück. Wie ist das Verhalten zu beurteilen? Joachim Jeremias etwa geht ohne weiteres davon aus, es handle sich um eine faule Ausrede (11 1998, 58). Vom narrativen Standpunkt aus scheint diese Sicht nicht zwingend. Der Sklave, der hier redet, ist der Abhängige, Untergeordnete; er ist seinem Herrn und dessen Macht ausgeliefert. Die Furcht, die er anführt, appelliert an das Mitgefühl. Anhaltspunkte, an seinen Worten zu zweifeln, gibt es nicht, auch wenn sich die angeführten Gründe einer Überprüfung entziehen. Wenn die Leserinnen und Leser keine Voreinstellungen mitbringen, die sie den Sklaven anders sehen lassen – weil sie zum Beispiel im Herrn von vornherein Gott oder Christus erkennen und der Sklave deshalb im Unrecht sein muss –, dann dürften sie sich aufgrund des erzählerischen Arrangements im Geiste zunächst an die Seite des Sklaven stellen (vgl. Riniker 1999, 241 f.). Allerdings hat er sich gegen die Anweisung seines Herrn gestellt, mit dem Geld Handel zu treiben (V. 13). Und seine Worte enthalten eine gehörige Portion Kritik. Sie sind frech – gerade wenn man die »Härte« des angeredeten Herrn in Rechnung stellt. Alles kommt auf die Reaktion des Herrn an. Der schilt den Sklaven, nennt ihn »böse« (ponhr@ pone¯ros). Er ist ganz und gar nicht einverstanden mit seinem Handeln. Der Herr scheint die Wahrnehmung seines Sklaven zu bestätigen, wiederholt dessen Worte: Er erntet, wo er nicht gesät hat; er sammelt ein, wo er nicht ausgestreut hat (V. 22). Viele Ausleger verstehen seine Worte als Ironisierung, die die Richtigkeit der Einschätzung in Frage stellt oder zumindest in der Schwebe hält (z. B. Harnisch 4 2001, 39; Luz 1997, 502). Andere sehen in ihnen eine Bestätigung: Der Sklave schätzt seinen Herrn richtig ein (Kähler 1995, 173). Jedenfalls nimmt der Herr seinen Sklaven beim Wort, behaftet ihn bei seiner eigenen Aussage (vgl. Lk 19,22). Selbst seine Furcht vorausgesetzt hätte er mehr erreichen können und müssen, lautet der Vorwurf. Er hätte das 241

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Parabeln in der Logienquelle Q

Geld zur Bank bringen sollen (V. 23a). Dort wäre es, so die unausgesprochene Voraussetzung, ebenso sicher gewesen, aber es hätte wenigstens Zinsen erbracht (V. 23b). Die Worte des Herrn rücken das Handeln des dritten Sklaven in ein völlig anderes Licht (vgl. Riniker 1999, 242 f.). Was zuvor als plausible und vorsichtige Vorgehensweise erschien, ist mit einem Mal absurd. Die Worte des Herrn eröffnen mit dem Gedanken, das Geld zur Bank zu tragen, eine Möglichkeit, die absolut naheliegend zu sein scheint, aber überhaupt nicht im Blick war. Die Logik des Sklaven war die des Bewahrens und Nicht-Verlieren-Wollens. In ihrem Rahmen erschien es gut, das Geld zu vergraben und unbeschadet zurückzugeben. Die Logik des Herrn dagegen ist vom Gewinn bestimmt. Von diesem Standpunkt aus ist das Vergraben eine schlechte Lösung, der wesentlich bessere Alternativen gegenüberstehen. Das hätte der Sklave wissen und berücksichtigen müssen, kannte er seinen Herrn doch nach seinen eigenen Worten als einen geldgierigen, gewinnorientierten Menschen. An die Kritik schließen sich Anweisungen für »Sanktionen« an (V. 24). Die anvertraute Mine soll dem Sklaven genommen und dem ersten, dem erfolgreichsten Sklaven übergeben werden. Auch diese »Strafe« ist von der Logik des Gewinns bestimmt, erscheint überhaupt erst im Rahmen eines wirtschaftlichen Denkens als Strafe (vgl. Kähler 1995, 180). Vom Standpunkt des dritten Sklaven aus wird er nur von einer ungeliebten Last befreit. Aus Sicht des Geschäftmanns dagegen wird dem Sklaven jede Möglichkeit genommen weiter zu wirtschaften. Die Anweisung für die Sanktion wird durch eine Sentenz begründet (V. 26). Der Grundgedanke des Satzes ist auch sonst als Sprichwort bekannt und begegnet in sehr ähnlicher Formulierung z. B. in Mk 4,25parr. Diese Beobachtungen geben Anlass für die Annahme, der Spruch sei der Parabel nachträglich als Deutehilfe hinzugefügt worden (Luz 1997, 497; Lambrecht 1998, 230 f. u. a.; anders Weder 4 1990, 199 f.). Die Frage soll hier außen vor bleiben. Der Satz formuliert eine Erfahrung, die man etwa im wirtschaftlichen Kontext machen kann (›Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer‹), die im biblischen Traditionsraum aber auch für das Verstehen des Tun-ErgehenZusammenhangs und des Gerichtshandelns Gottes herangezogen wurde (Spr 11,24; 15,6; 4Esr 7,25). Er unterstreicht, dass der Herr Recht hat, indem er auf Erfahrungswissen rekurriert, das auch sonst allgemein bekannt ist. Zusammengefasst: Die Parabel präsentiert eine story, deren Geschehen in drei Schritten abläuft: Auftrag – Ausführung – Rechenschaft. Die Rechenschaftsszene mit den Gesprächen zwischen dem Herrn und den einzelnen Sklaven nimmt breiten Raum ein. Nicht die Ereignisse an sich stehen im Vordergrund; Einzelheiten werden kaum erzählt. Vielmehr gilt ihrer kontroversen Bewertung das erzählerische Augenmerk. Auf der einen Seite steht – mit erzählerischen Mitteln in den Vordergrund gerückt – der dritte Sklave, der das Geld wohlbehalten, aber ohne jeden Gewinn zurückgibt und in einer kleinen Rede sein Vorgehen begründet. Sein Denken scheint von Angst vor dem Herrn und vor einem möglichen Verlust des Geldes bestimmt zu sein. Sein Handeln geht auf das Sichern und Bewahren aus. Er wirbt mit der Darstellung seiner Furcht und mit der indirekten Kritik am Herrn um das Verständnis der Leserinnen und Leser der Parabel. Der Herr verkörpert die Gegenposition. Er denkt konsequent und einseitig an Gewinn und bewertet das Verhalten des Sklaven ganz anders als dieser selbst. Es erscheint aus seiner Perspektive absurd. Auch seine Sicht wird in der Parabel stark gemacht, ist sogar die bestimmende. Handel zu treiben und Gewinn zu machen, war von Anfang an der Auf242

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Gewinnen oder Verlieren Q 19,12 f.15-24.26

trag des Herrn an die ihm Untergebenen. Die ersten beiden Sklaven haben ihn kommentarlos und erfolgreich erfüllt und erhalten Lob dafür. Der Gang zur Bank bietet eine plausible, geradezu zwingende Alternative zum Vergraben des Geldes, die der Forderung nach Gewinn nachkommt. Die Sanktion des Herrn gegen den dritten Sklaven ist der erzählerische Schlusspunkt und wird durch die abschließende Sentenz in ihrem Recht unterstrichen. So sind die Adressaten der Parabel am Ende mit der Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden Perspektiven konfrontiert. Der Sichtweise des Herrn kommt in der Dynamik der Erzählung hohe Überzeugungskraft zu. Allerdings wird sie auch unterlaufen: durch das Mitgefühl für den dritten Sklaven und durch die rücksichtslose Geldgier des Herrn, die ihn als eine unsympathische oder zumindest fragwürdige Figur erscheinen lässt (vgl. V. 21 f.). Zum Schluss sei ein kurzer Blick auf den Q-Kontext der Parabel geworfen. Sie gehört zu den letzten Texten der Redenquelle. Voraus gehen ihr Aussagen über das (Wieder)Kommen des Menschensohnes, die Parusie (Q 17,23 f.37.26 f.28 f.30.34 f.). Es folgt nur noch die Ankündigung Jesu an die, die ihm nachfolgen, sie würden über Israel zu Gericht sitzen (Q 22,28.30). Der unmittelbare sprachliche Anschluss an den Kontext ist nicht mehr erkennbar. Stichwortbrücken oder Ähnliches gibt es nicht. Der Kontext bringt vor allem zwei thematische Perspektiven ein: die Parusie und das endzeitliche Gericht. Beide lassen sich vor dem Hintergrund traditioneller Motive mit erzählerischen Elementen der Parabel verknüpfen, wie zu zeigen sein wird: mit der Abwesenheit des Herrn und mit dem Rechenschaftablegen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Parabel spielt in der Welt der Finanzen. Ein Herr vertraut während seiner Abwesenheit seinen Sklaven Geld an. Gemeint ist wohl keine Schenkung und kein Handel mit fremdem Kapital, aus dem der Handelnde eigene Gewinne zieht, sondern ein Verwalten des Geldes im Auftrag des Herrn, das dessen Eigentum bleibt und dem die Gewinne gehören. Dafür spricht die Rechenschaftsszene (vgl. Luz 1997, 500; anders Derrett 1965). Weitere Parabeln Jesu setzen ähnliche Szenerien voraus, in denen Sklaven im Auftrag eines Herrn dessen Besitz verwalten (Mk 13,34; Lk 12,42-46 par. Mt 24,45-51; Mt 18,23-35; vgl. Lk 16,1-8; Mk 12,1-9parr.). Auch aus anderen antiken Quellen ist bekannt, dass Sklaven für Besitztümer oder Vermögen ihrer Herren Verantwortung übertragen wird (Gen 39,4; eine interessante Parallele zum Gleichnis bietet die Biografie des späteren römischen Bischofs Calixtus I., siehe dazu Hipp. haer. 9,12 [deutsch: BKV I/40]). Dass ein Verlust des Geldes Grund zum Fürchten war, illustriert zum Beispiel Mt 18,23-35 (siehe dort die Hinweise zum sozialgeschichtlichen Hintergrund). Den Sklaven wird nach dem rekonstruierten Q-Text (wie bei Lukas) je eine »Mine« (mn” mna) gegeben. Matthäus redet in seiner Version von einem, zwei und fünf »Talenten« (t€lanton talanton), die den Sklaven anvertraut werden. Für das Verständnis der Parabel ist ein Eindruck vom Wert der hier mit den Währungen Mine bzw. Talent angegebenen Summen nicht unwichtig (zum Folgenden Reiser 2000):

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Talent und Mine sind – ebenso wie die Drachme – Größen des griechischen Münzsystems und hängen in ihrer Größe wie folgt zusammen: 1 Mine = 100 Drachmen 1 Talent = 60 Minen = 6000 Drachmen Eigentlich sind Talent und Mine Gewichtsangaben; sie wurden aber auch zur Bezeichnung von Geldmengen verwendet. Münzen mit diesen Einheiten gab es nicht. Geläufiger als das griechische ist im Neuen Testament das römische Münzsystem, in das der Denar (dhn€rion de¯narion) hineingehört, die im NT am häufigsten erwähnte Münze. Unter Kaiser August und in der Folgezeit ist es zu einer Angleichung der Münzsysteme gekommen, so dass ein Denar einer Drachme entsprach. Der Denar ist geeignet, einen Eindruck von den Größenordnungen zu bekommen. Ein Denar war im 1./2. Jh. n. Chr. nach dem Neuen Testament (Mt 20,1-15) wie nach rabbinischen Quellen etwa der Tageslohn eines ungelernten Arbeiters in Palästina. Als Existenzminimum für eine Familie nennt die Mischnah 200 Denare Jahreseinkommen (mPea 8,8); nach anderen Berechnungen brauchte ein Mensch 31 Denare pro Jahr zum Überleben. Eine Mine, wie sie den Sklaven in der Parabel anvertraut wird, ist also immerhin das halbe Jahreseinkommen einer Familie, die in einfachen Verhältnissen lebt, und aus ihrer Sicht, sollte sie etwa dafür haften müssen, eine drückende Last. Die Mine entspricht aber auch »nur« knapp dem Wert eines Esels (mBQ 10,4) oder Rindes (mMen 13,8; mBQ 3,9), die doch einige Menschen besaßen (vgl. Mk 11,1 ff.; Lk 13,15). So scheint es nicht unangemessen, wenn der Herr in der Parabel von »wenigem« spricht (V. 17.19). Die bei Matthäus genannten Summen sind dagegen ein für die weite Mehrheit der Bevölkerung absolut unerschwingliches Vermögen. Immer wieder zum Gegenstand sozialgeschichtlicher Überlegungen werden auch die Gewinne, von denen in der Abrechnungsszene die Rede ist. Die Parabel nennt fast keine Details; entsprechend unsicher sind alle Überlegungen. Die beiden ersten Sklaven gewinnen das Zehn- bzw. das Fünffache zu ihrem Kapital hinzu. Der erste Eindruck ist: ein enormer Gewinn. (Bei Matthäus, der die großen Summen hat, wird das Kapital »nur« verdoppelt.) Der Eindruck wird durch antike Quellen bestätigt. Zwar berichtet zum Beispiel Flavius Josephus über Johannes von Gischala, der mit einem – betrügerischen (!) – Ölgeschäft einen acht- bis zehnfachen Profit macht, doch auch er nennt dies einen Riesengewinn (Flav. Jos. Bell. 2,591 f.; Vita 74-76). Bei Kapitalerträgen aus Geldverleih waren pro Jahr Erträge zwischen 10 % und 60 % möglich und im Bereich unter 15 % üblich (Kähler 1995, 170; Luz 1997, 500 Anm. 44). Für eine realistische Einschätzung müsste natürlich auch der Zeitraum bekannt sein, über den hin die Gewinne gemacht wurden (Monate, Jahre, Jahrzehnte?). Die Parabel sagt dazu wenig (V. 15: »nach langer Zeit«). Gerade die sparsamen Auskünfte in den Details lassen vor überzogenen Interpretationen gewarnt sein. Der Erzähler will (sehr) erfolgreiches Wirtschaften der ersten beiden Sklaven aussagen. Dass mit den hohen Gewinnen zum Beispiel zugleich auch ein rücksichtsloses Geschäftsgebaren zum Ausdruck gebracht sein soll (so z. B. Riniker 1999, 240 f.), ist dem Text nicht klar zu entnehmen. Dazu wird zu wenig erzählerisches Gewicht auf die Aktivitäten der ersten beiden Sklaven gelegt. Der dritte Sklave hat das Geld vergraben. Er handelt dem Auftrag des Herrn zuwider, mit dem Geld zu wirtschaften. Nach den Maßstäben rabbinischer Quellen muss sein Vorgehen aber immerhin als ein sorgfältiges Aufbewahren gelten (vgl. bBM 42a). Der Herr verweist ihn an die trapezffltai (trapezitai), die »Wechsler« oder »Bankiers«. 244

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Das Bankwesen hatte damals drei Aufgaben (vgl. P. Herz 2005, 196 f.): (1) Geld verschiedener Währungen oder verschiedener Größen – gegen Gebühren – umzutauschen oder zu wechseln. (2) Geld überregional zu transferieren. (3) Geld zu verleihen. Die Parabel denkt vermutlich an das Letztgenannte. Von den auf diesem Wege zu erzielenden Gewinnen war schon die Rede. Sie liegen deutlich unter dem, was die ersten beiden Sklaven erwirtschaftet haben. Zu bemerken ist noch, dass auch in neutestamentlicher Zeit im Judentum wahrscheinlich ein Zinsverbot herrschte (für das AT: Dtn 23,20 f.; vgl. Ex 22,24; dazu Kegler 1992) und das Zinswesen hier, aber auch vielfach in der paganen Welt nicht gut angesehen war. Auch im Christentum wirkt das jüdische Zinsverbot lange nach. So wirft die Empfehlung, zu den Bankiers zu gehen und Zinsen zu kassieren, auch ein Licht auf den Herrn selbst. Darf man bei den Leserinnen und Lesern die skizzierten Wertmaßstäbe voraussetzen, dann wird der – bildlich formulierte – Vorwurf des dritten Sklaven, sein Herr sei geldgierig und mache fragwürdige Gewinne, noch einmal bestätigt (vgl. Kähler 1995, 170-179). Wahrscheinlich erscheint er ihnen auch als ein Heide (vgl. Luz 1997, 502).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Herr und Sklaven: Die Parabel ist eine von vielen über einen Herrn und seine(n) Sklaven, wie sie zahlreich nicht nur von Jesus, sondern auch sonst in der frühjüdischen Überlieferung erzählt werden (vgl. Weiser 1971). Im biblischen Traditionsraum gibt es eine geprägte metaphorische Rede von Sklaven/Knechten Gottes. Sie beschreibt den Menschen vor Gott. Ganz Israel, aber auch speziell der demütige Fromme, die Propheten oder große Gestalten der Geschichte Israels, vor allem Mose, gelten als »Knechte Gottes« (Belege bei Weiser 1971, 22-27; Münch 2004, 202). Für die frühjüdischen wie die jesuanischen Sklaven-Parabeln ist eine Anspielung auf diese feste Metaphorik aber nicht in allen Fällen anzunehmen. Vielmehr gilt: »Die Intention des Gleichniserzählers und der konkrete Verlauf des Geschehens oder auch eine bestimmte Typisierung innerhalb der Bildhälfte des Gleichnisses lassen erst allmählich und im Verlauf der Gleichnisrede selbst den Hörer erkennen, um welche Art ›Knecht‹ es sich in ihm handelt, ja ob dem Begriff Knecht für das rechte und vom Erzähler intendierte Verständnis des Gleichnisses überhaupt eine Rolle zukommt.« (Weiser 1971, 41, vgl. 273). Bei Parabeln im Kontext der Evangelien besteht eine starke Tendenz, in auftretenden »Herren« Gott oder den auferstandenen und erhöhten Christus zu entdecken. Ähnliches gilt für andere Autoritätsfiguren wie Grundbesitzer, Hausherrn oder Könige (vgl. Münch 2004, 197-201). In analoger Weise steht in rabbinischen Parabeln der König regelmäßig für Gott. Auch außerhalb der Gleichnisrede werden Gott und – im Neuen Testament – Christus häufig als kÐrio@ (kyrios – Herr) angeredet und bezeichnet. Die Assoziation liegt also – gerade im Zusammenhang mit einer Herr-Sklave-Beziehung – nahe. Die vorliegende Parabel lässt aber auch vor allzu eindeutigen Identifikationen gewarnt sein. Das erzählerische Arrangement und die sozialgeschichtlichen Überlegungen zur Zinsfrage lassen den Herrn der Parabel keineswegs als eine uneingeschränkt positive Figur erscheinen, die ohne weiteres an Gott oder Christus denken lässt. Womöglich führt die Assoziation in die Irre (so Jülicher II 2 1910, 480; Kähler 1995, 181) oder es liegt eine kühne Metaphorik vor. 245

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Parabeln in der Logienquelle Q

Rechenschaft ablegen: In der Parabel geht es um das Verwalten von Geld und Besitz. In der matthäischen Variante ist von »Talenten« die Rede. Auch wenn man weiß, dass mit diesem Begriff eine Geldmenge gemeint ist (s. o.), provoziert er im Deutschen natürlich metaphorische Deutungen. Wie tragfähig sind sie? Die grundlegende Konstellation – Besitz ist anvertraut worden, über den nach einer Zeit Rechenschaft abzulegen ist – hat das Gleichnis mit anderen jesuanischen Parabeln gemein (Mk 12,1-9 parr.; Mt 18,23-35; Mt 24,45-51; Lk 12,35-48; 16,1-8; vgl. Mk 13,34-37). Parallelen finden sich auch in rabbinischen Parabeln (Texte bei Erlemann 1988, 216 f.; weitere Beispiele nennt Luz 1997, 497 f. Anm. 30-33). Es geht im vorliegenden Text allerdings nicht um Schulden – ein metaphorisch stark besetztes Bild (siehe zu Mt 18,23-35; Lk 16,1-8). Zentral ist die Rechenschaft über anvertrautes Gut. Auch diese weckt im biblischen Traditionsraum allerdings Assoziationen. Dass Gott Rechenschaft von Sündern verlangt, ist ein dem Alten Testament vertrauter Gedanke (Dtn 18,19; Hi 10,6; Ps 10,4.13; 2Chr 24,22). Er weitet sich aus. Das Neue Testament und die rabbinische Literatur können von einer Rechenschaft oder einer Abrechnung im Gericht Gottes reden, der prinzipiell alle unterliegen (Mt 12,36 [vgl. 25,31-46]; Röm 14,12; Phil 4,17; Hebr 13,17; 1Petr 4,5 bzw. mAv 3,1; 4,29; vgl. auch Reiser 1990, 118-120.291 f.). Dass dem Rechenschaftfordern ein Anvertrauen vorausgegangen ist, wird in diesen Texten oft nicht gesagt. Aber auch wenn das Anvertrauen thematisiert wird, sind unterschiedliche Dinge gemeint; ein spezifisches anvertrautes Gut zeichnet sich nicht ab. In rabbinischen Parabeln kann das Anvertraute für die Tora stehen (SES 53). Es bleibt aber auch durchaus ungedeutet; dann steht das geschilderte Verhalten der Personen, denen etwas anvertraut wurde, im Vordergrund und illustriert zum Beispiel das Handeln der Sünder (Sem 3,3) oder die Liebe zu Gott (Jalq 267a). Auch in den neutestamentlichen Parabeln werden Rechenschaftsszenen oft auf das göttliche oder endzeitliche Gericht gedeutet. Das belegen interpretierende Verse (Mt 18,35; 21,43 f.; Lk 16,9; 20,18) oder der Kontext (so bei den Parabeln in den Endzeitreden Mk 13 und Mt 24 f.). Und auch hier ist eine regelmäßige oder konsistente metaphorische Deutung des anvertrauten Gutes nicht ersichtlich. Abwesenheit des Herrn: Sehr häufig halten die Parabeln, die von einer Abrechnungsszene erzählen, fest, dass der Rechenschaft fordernde Herr zuvor abwesend war. Das erklärt sich zunächst leicht aus erzählerischen Gründen. Die Abwesenheit des Herrn eröffnet den Raum zu verantwortlichem, rechenschaftspflichtigem Handeln. Speziell im christlichen Kontext kommt ein Weiteres hinzu: Der abwesende Herr lässt an den auferstandenen Jesus denken, auf dessen Wiederkunft (Parusie) die Christen warten. Die entsprechenden Parabeln zeigen in den Evangelien sehr regelmäßig dieses Deutungsmuster (vgl. Jeremias 11 1998, 45-60), wenn nicht andere Faktoren es unmöglich machen (wie im Fall der Winzerparabel, wo Christus im Sohn des abwesenden Herrn erkannt wird). Sie werden in den Kontext der Reden über die Parusie des Menschensohnes hineingestellt (vgl. Mk 13,34-37; Mt 24,45-51; 25,14-30; vgl. Mt 25,1-13) oder mit entsprechenden Deutehinweisen versehen (Lk 12,35-48, hier V. 40 f.; Lk 19,11-27, hier V. 11). Auch der Q-Kontext der Parabel vom anvertrauten Geld weist in dieselbe Richtung (Q 17,24.26.30).

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Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Ein vorbildlicher Wucherer? Die narrative Analyse der Parabel hat gezeigt, wie die Erzählung ihre Adressaten mit der Entscheidung zwischen zwei Positionen konfrontiert, wobei aus Sicht der Erzählung eine starke, allerdings nicht ungebrochene Tendenz besteht, dem Herrn und seiner Beurteilung des Geschehens den Vorzug zu geben. Durch die Ergebnisse der weiteren Analysen wird das Entscheidungsproblem zugespitzt. Stellt man die Parabel in die Bildfeldtraditionen der biblischen Überlieferung hinein, so kann die Figurenkonstellation auf das Leben der Menschen vor Gott und die Rechenschaftsszene auf das göttliche Gericht bezogen werden. Setzt man von dieser Metaphorik ausgehend den Herrn mehr oder weniger mit Gott gleich, dann ist keine Frage, dass er im Recht sein muss. Der Q-Kontext der Parabel redet von der Parusie des Menschensohnes, so dass im Zusammenhang der Redenquelle eine Identifikation Jesu mit dem Herrn nahe liegt. Auch im Q-Kontext scheint deshalb die Entscheidung klar zu sein: Es ist dem Herrn zuzustimmen. Entgegen steht dem die sozialgeschichtliche Analyse. Sie verstärkt den Eindruck, dass der Herr und sein Wirtschaftsgebaren höchst fragwürdig sind. Von ihr her scheint es etlichen Auslegern sehr schwer oder unmöglich, den Herrn in die Nähe Gottes oder des Menschensohnes zu rücken, wie es die Bildfelder und der Kontext tun. Eine mögliche Option besteht darin, den dritten Sklaven uneingeschränkt im Recht zu sehen. Der Versuch, die Position des Herrn für maßgeblich zu halten und in ihm (Gott oder) den Menschensohn zu erkennen, wird dann als unzutreffende Allegorie zurückgewiesen (vgl. z. B. Füssel 2003; L. Schottroff 2005, 239-246.292-294). Diese Interpretation ist allerdings sehr einseitig. Selbst wenn angenommen wird, die Bildfeldtraditionen seien nicht relevant und führten zu einer falschen allegorischen Deutung, hat sie viele Textsignale gegen sich, nicht nur in den jeweiligen Kontexten der Parabel in der Redenquelle, dem Matthäus- und dem Lukasevangelium, sondern auch in der Erzählung selbst. Entsprechend anfechtbar ist sie. Letztlich ist zum Beispiel bei Luise Schottroff auch gar nicht die Textanalyse Ausgangspunkt der Interpretation, sondern ein theologisches Vorurteil, das raffgierige, reiche Grundbesitzer und Sklavenhalter und die Not ihrer ausgebeuteten und misshandelten Sklaven nicht mit Gott zusammenzubringen vermag (vgl. a. a. O., 13.225.292). Man könnte dies leicht als methodisch fragwürdig abtun. Doch legt Schottroff – unbeschadet aller notwendigen Kritik an ihrer Methodik – den Finger in eine Wunde, die viele moderne Leserinnen und Leser der Parabel schmerzhaft empfinden: Kann diese Geschichte wirklich etwas über Gott oder den wiederkommenden Christus lehren? Ist sie nicht viel zu zweideutig, viel zu anfällig, auch für die Rechtfertigung von Ausbeutung und Unterdrückung missbraucht zu werden, wie es etwa Berthold Brecht in seinem »Dreigroschenroman« anprangert? (Vgl. die Hinweise bei Luz 1997, 498 f.505; ganz anders Erlemann 1988, 215-221; zum Problem auch Heiligenthal 2000, 81-84.90 f.) Eine Interpretation der Parabel muss ernst nehmen, dass der Erzähler das Urteil des Herrn über seinen Sklaven stark macht. Es fügt sich in den Gang der Erzählung sehr gut ein und hat in ihrem Zusammenhang einen hohen Grad an Plausibilität (vgl. Kloppenborg 1995, 298). Aber der Herr ist keine freundliche, entgegenkommende Figur wie der Vater in der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32); die Parabel wirbt nicht für 247

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Parabeln in der Logienquelle Q

sein Urteil, indem sie ihn sympathisch erscheinen lässt. Vielmehr ist sein Standpunkt überzeugend, obwohl seine Person fragwürdig oder abstoßend erscheint. Zu überlegen ist, ob unsere Erzählung damit in die Nähe der Parabeln mit »unmoralischen Helden« gehört (wie z. B. EvThom 98, vgl. auch Lk 16,1-8; 18,1-8; Mt 13,44; zu diesen Parabeln Schramm/Löwenstein 1986). Vielleicht mutet die Erzählung vom anvertrauten Geld ähnlich diesen Parabeln zu, aus einem anstößigen Beispiel gleichwohl zu lernen. Ein wesentliches Moment »anstößiger« Geschichten ist die Provokation, der Widerstand, den sie bei ihren Adressaten hervorrufen. Für ihr Verständnis wichtig ist, wie dieser Widerstand aufgenommen, in welche Richtung er bearbeitet wird.

Die Pointe des erzählten Geschehens Weil die handelnde Person so wenig einlädt, sich mit ihr zu identifizieren, gelingt den anstößigen Parabeln »in einzigartiger Weise die Konzentration auf den einen Punkt, um dessentwillen die Geschichte erzählt wird« (Schramm/Löwenstein 1986, 153). Dieser Punkt liegt augenscheinlich beim Handeln oder Nicht-Handeln mit dem anvertrauten Geld, beim Profitmachen. Vor allem darum geht es in den Gesprächen zwischen dem Herrn und den drei Sklaven. Und auch die Sanktion oder der Schlussspruch kreisen um dieses Thema. Im Einzelnen gibt es leichte Variationen, wenn die Pointe der Erzählung im skizzierten Sinne bestimmt wird: Man kann vom übergebenen Geld her denken und den unbedingten Anspruch betonen, der mit ihm verbunden ist und dem es Folge zu leisten gilt (Weiser 1971, 263 f.; Weder 4 1990, 203-205). Man kann aber auch stärker auf die Personen schauen und die Vorsicht, die Zögerlichkeit, die Ängstlichkeit oder das Sicherheitsdenken des dritten Sklaven kritisiert sehen (z. B. Riniker 1999, 245 f.; Heiligenthal 2000, 90). Beides braucht nicht gegeneinander ausgespielt zu werden. Die Frage, wie der dritte Sklave seinen Herrn sieht, spielt in der Parabel ebenfalls eine Rolle – eine rhetorische –, ist aber nicht die Pointe der erzählten Geschichte (anders Bindemann 2004, 131-135). Sie steht weder bei der Antwort des Herrn im Mittelpunkt noch wird sie mit Blick auf die anderen beiden Sklaven thematisiert. Auch in der Sanktion oder im Schlussspruch spielt die Beziehung zwischen Herr und Sklave, etwa das fehlende Vertrauen des dritten Sklaven, keine erkennbare Rolle.

Werbung, nicht Polemik Oben wurde betont, eine Auslegung der Parabel müsse das Urteil des Herrn über den dritten Sklaven ernst nehmen. Es darf umgekehrt aber auch nicht unterschlagen werden, wie sich die Erzählung um – zumindest zeitweilige – Zustimmung für den dritten Sklaven bemüht. Deshalb lohnt es zu fragen, wen oder was der dritte Sklave mit seiner Haltung verkörpert. Immer wieder bringen Ausleger ihn mit einer gegnerischen Position in Verbindung, die zurückgewiesen und kritisiert wird. Konkret werden oft die Pharisäer oder pharisäische Schriftgelehrte genannt; die Parabel weise ihr Gesetzesverständnis oder ihren Umgang mit dem Gesetz zurück (Dietzfelbinger 1989, 229-231; Bindemann 2004, 131-135 u. a.). Doch scheint mir die Festlegung der Adressatinnen und Adressaten auf die Identifikation mit nur einer Figur aus der Parabel der Erzähldynamik nicht gerecht zu werden. Die Parabel spielt mit den Identifikationen und lenkt auf einen Perspektivenwechsel hin. Sie will Hörerinnen und Hörer gewinnen, denen die Haltung des dritten 248

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Sklaven zunächst nahe steht. Die Erzählung holt sie bei ihrem Urteil ab und nötigt sie dann, sein Verhalten – und damit ihre eigene Haltung – aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und neu zu bewerten (so richtig Scott 1989, 231 f.; Dietzfelbinger 1989, 228 f., vgl. aber 231). Insgesamt scheint es vor allem darum zu gehen, sie von der anderen Sicht zu überzeugen, statt ihre Haltung zurückzuweisen, zu bekämpfen oder anzuklagen. Die Parabel ist, sollte sie an »Gegner« gerichtet sein, jedenfalls nicht polemisch ausgerichtet. Die Alternative besteht darin, die Parabel mehr oder weniger nach »innen« gesprochen zu sehen, an potentielle oder tatsächliche Anhängerinnen und Anhänger Jesu. Sie wird dann auf Fragen und Probleme der Nachfolge Jesu gedeutet. Auch hier kann man unter anderem, aber nicht nur an die Gesetzesthematik denken. »So, wie der Dienst für einen menschenfeindlichen Wucherer die ethischen Grenzen überschreitet, verlangt die Jüngerschaft u. U. die Verletzung des mosaischen Gesetzes.« Mögliche Adressaten illustrierten die typisierten Szenen Lk 9,59.61 bzw. Mk 10,17-22 mit Menschen, die Nachfolge mit dem Erfüllen von Pflichten verbinden wollen. Die Aufdringlichkeit des Geldherrn werde zur kühnen Metapher für die Unmittelbarkeit der sich aufdrängenden Gottesherrschaft, die anderes als totale Hingabe nicht zulasse (so z. B. Kähler 1995, 182184, das Zitat ebd. 183). Ähnlich sehen andere Mut zum Risiko angesichts der radikalen Forderungen Jesu und der Schwierigkeiten der Nachfolge gefordert (Riniker 1999, 244247; vgl. Schramm/Löwenstein 1986, 158).

Eine Gerichtsparabel Der Herr der Parabel fordert nachdrücklich den richtigen Umgang mit seinem Geld ein, lobt die beiden ersten Sklaven und straft denjenigen, der sich nicht entsprechend seinen Erwartungen verhalten hat. Die erzählte Welt der Parabel ist über Bildfeldtraditionen auf das Gericht deutbar. Einige Ausleger halten diesen Bezug auch auf den ältesten Traditionsstufen für wesentlich (z. B. Riniker 1999, 243 f.). Andere sehen im Rahmen der Verkündigung Jesu eher einen Zusammenhang zwischen dem drängenden Anspruch in der Erzählung und der nahe kommenden Gottesherrschaft, die umfassende Hingabe und entschlossenes Handeln von den Menschen einfordert (z. B. Weiser 1971, 264 f.; Kähler 1995, 184). Aber auch wenn man nicht im engeren Sinne eine Anspielung auf das Gericht oder einen Bezug zur Reich-Gottes-Verkündigung gegeben sieht, setzen die meisten Auslegungen der Parabel in irgendeiner Weise voraus, es gehe um die Verantwortung, die Menschen vor Gott für ihr Handeln oder ihre Lebensführung tragen (z. B. Jülicher II 2 1910, 481: »Treue in allem, was Gott uns anvertraut hat«). Die Mahnung zur Verantwortung für das eigene Handeln ist ein wesentliches Element der Parabel. Spätestens in der Redenquelle ist die Parabel dann ausdrücklich als eine Gerichtsparabel verstanden worden. Im wiederkommenden Herrn wird hier, nach Ostern, der auferstandene Jesus erkannt, der am Ende der Zeiten zur Vollendung der Gottesherrschaft und zum Gericht über die Menschen erscheint. Vor allem der Kontext trägt zur Fixierung dieses Bezuges bei. Die Parabel ist damit Teil der Gerichtspredigt in Q. Für das Verständnis wichtig ist, in welcher Gesprächssituation sie verortet wird. Die Q-Gemeinde befindet sich vermutlich in einem Prozess der Identitätsfindung, der sich in einer scharfen Polemik gegen jenes jüdische Umfeld äußert, das sich nicht zu Jesus und seiner Botschaft bekennt (vgl. Q 11,14-52 u. a.). Lässt man die Parabel in diese Situation hinein249

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Parabeln in der Logienquelle Q

sprechen, könnte der dritte Knecht für dieses jüdische Umfeld transparent sein; es würde in der Parabel scharf angegriffen, weil es Gottes Gaben verworfen hat (vgl. Bindemann 2004, 141; ähnlich Kloppenborg 1995, 299.317). Für diese Deutung spricht, dass Q 22,28.30, der Folgeabschnitt, vom Gericht über Israel redet. Sieht man dagegen Christen angesprochen, dann fordert die Parabel zum Handeln gemäß dem Willen des Herrn auf und lässt sich mit Aussagen verbinden, die die Notwendigkeit des rechten Tuns einschärfen (Q 6,46-49, vgl. 11,42-44; 16,13.17), besonders auch angesichts der noch ausstehenden Parusie (Q 12,39-46.58 f.; so z. B. März 2004, 242-244.249; C. Heil 2001, 651 f.). Indem Jesus im richtenden Herrn der Parabel erkannt wird, ist etwas für das Parabelverständnis sehr Folgenschweres geschehen: Jesus selbst und seine Geschichte kommen »in der Parabel vor« (vgl. Weder 4 1990, 207.275-277). Die Wirkweise der Geschichte ändert sich damit. Der Fall des dritten Knechtes wird nicht mehr in der spielerischen Distanzierung einer rein fiktiven Geschichte betrachtet und bearbeitet. Zu einem gewissen Grad scheint nun Jesus selbst das Geld an seine »Sklaven« zu verteilen, den Auftrag zu erteilen und Abrechnung zu halten. Alles, was die Leserinnen und Leser an Vorwissen und Voreinstellung zum Thema Gericht mitbringen – aus dem Kontext oder durch ihre christliche Bildung –, wird nun wesentlich unmittelbarer mit in die Parabel hineingenommen und bestimmt ihr Verständnis. Das kann eine interpretatorische Bereicherung sein. Wenn Jesus der Richter ist, dann wird zum Beispiel das abschreckende, harte Bild des Herrn in der Parabel durch andere Jesusbilder, die der Kontext in der Redenquelle und vor allem später in den Evangelien zeichnet, korrigiert. Der kommende Richter ist jener Jesus, der zugleich auch die Seinen gelehrt hat, richtig zu leben (Mt 5-7; Lk 6,20-49), der die Kranken geheilt hat, der versprochen hat, bei seinen Jüngerinnen und Jüngern zu bleiben (Mt 28,20) und ihnen den Geist zu senden (Lk 24,49; Apg 1,5.8; vgl. Luz 1997, 509.555 f.). Das Vorkommen Jesu »in der Parabel« kann aber auch zu großen Verstehensschwierigkeiten führen, wenn z. B. theologische Einwände gegen die Gerichtsbotschaft bestehen. Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass die ganz eigene Pointe und Dynamik der Erzählung nicht mehr zu Geltung kommen, weil zu sehr von der »Sache« her gedacht wird. Dem gegenüber wäre zu betonen: Die Parabel ist nicht eine in Bilder verkleidete Beschreibung des Gerichts. Vielmehr wird das Geschehen des endzeitlichen Gerichtes im Lichte der erzählten Geschichte betrachtet, so dass ein interpretatorisches Wechselspiel zwischen Parabelerzählung und urchristlichen Gerichtsvorstellungen beginnt (vgl. Münch 2004, 226-231.275 f.295-298). Wird dies berücksichtigt, dann bleibt die Eigenständigkeit der Erzählung auch im Kontext der Redenquelle oder der Evangelien gewahrt. Sie kann ihre narrative Dynamik und ihr metaphorisches Potential weiterhin entfalten und im Wechselspiel mit dem Kontext zum Beispiel zu der theologisch lohnenden Frage führen, wie denn der Herr wohl mit einem Sklaven verfahren wäre, der alles riskiert und alles verloren hat (Venetz 2 1992, 136 f.; Luz 1997, 505 Anm. 74).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parallelüberlieferung auch nur einigermaßen gründlich zu untersuchen, bleibt kein Raum. Es muss bei einigen Einzelbeobachtungen bleiben.

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Matthäus 25,14-30 In der Redenquelle ist die Parabel eine Gerichtsparabel. Matthäus greift diesen Gedanken auf. Auch er positioniert sie in der Rede über das Kommen des Menschensohnes und sein Gericht (Mt 24-25). In der matthäischen Parabel sind die Sklaven gegensätzliche ethische Modelle (vgl. Mt 7,24-27; 24,45-51; 25,1-13 u. a.). Die ersten beiden handeln richtig. Sie lobt der Herr und stellt ihnen Lohn in Aussicht. Die Formulierung bei Matthäus ist länger als die in Q und klingt vor allem am Schluss eigentümlich überladen (»Geh ein in die Freude deines Herrn«). Der Evangelist versucht offenbar, die ersten beiden Knechte als positive Beispielfiguren stark zu machen. Vielleicht soll in der Formulierung eschatologischer Lohn anklingen: das »Eingehen« ins Reich Gottes (e§sffrcesqai eiserchesthai: Mt 5,20; 7,21; 18,3; 19,23; vgl. 18,8; 19,17) und die Freude, die dort herrscht (vgl. Röm 14,17; 1Thess 2,19 f.; Hebr 12,2). Das Verhalten des dritten Sklaven wird im Gegenzug klar verurteilt, sein Herr nennt ihn nicht nur »böse« (V. 26: ponhr@ pone¯ros), sondern auch »untätig« (V. 26: ¤knhr@ okne¯ros; die gängige Übersetzung mit »faul« ist nicht treffend; dazu Nielsen 2002) und »nutzlos« (V. 30: ⁄cre…o@ achreios). Über das Wegnehmen des Talents hinaus wird gegen ihn eine weitere, sehr drastisch klingende Sanktion verhängt: Der Sklave solle in die »äußerste Finsternis« hinausgeworfen werden, wo er heulen und mit den Zähnen knirschen wird (V. 30). Der Vers ist eine feste Formel (noch Mt 8,12; 22,13; vgl. 13,42.50; 24,51; vgl. Münch 2004, 209 f.). Mit ihr zeigt der Evangelist, dass er an das endzeitliche Gericht denkt. Sie bringt mit dem Verweis auf die Finsternis als Zeichen des Schreckens und der Gottesferne (Mt 4,16; 24,29; 27,45) zum Ausdruck, was auf dem Spiel steht, und deutet durch das Ausmalen der Reaktion des Verurteilten an, welch schwerwiegende Folgen eine dort verhängte Strafe für ihn hat. Lässt sich näher spezifizieren, woran Matthäus konkret denkt, wenn er mit seiner Parabel zum rechten Handeln auffordert? In einem weiteren Sinn ist das im Kontext des Evangeliums keine offene Frage. Jesus hat an verschiedenen Stellen seine Jünger immer wieder über rechtes Handeln belehrt – allem voran in der Bergpredigt (Mt 5-7). Der Auferstandene wird sie und künftige Generationen darauf verpflichten, alles zu halten, was er ihnen geboten hat (Mt 28,20). Der Erzählung vom großen Weltgericht (25,31-46) zufolge wird insbesondere das Handeln an den geringsten der Brüder Jesu, werden die Taten der Barmherzigkeit gegenüber den Schwachen, Bedürftigen und Notleidenden als Maßstab dienen, nach dem Jesus urteilen wird. Wer vom vorausgehenden Evangelium herkommend die Parabel liest, wird dabei insbesondere erneut betont sehen, dass es auf die Praxis ankommt, auf das tatsächliche Tun des als richtig Bekannten und Erkannten (vgl. Mt 5,17-20; 7,21; 7,24-27; 23,1-33). Der Sklave war untätig. Er hat – mit einem anderen matthäischen Bild formuliert – keine »Frucht« gebracht (Mt 13,22 f.; 21,43 u. ö.). Im engeren Sinne lässt die Parabel aber Spielraum, wie vor allem an der Interpretation der anvertrauten Talente sichtbar wird. Sie sind eines der wirkmächtigsten Elemente der matthäischen Erzählung. Die Summen, die hier gehandelt werden, sind gewaltig (s. o.). Zugleich erhalten bei Matthäus die Sklaven unterschiedliche Beträge, »jeder nach seinen eigenen Fähigkeiten« (V. 15). Das verlangt geradezu nach einer Deutung. In diesem Fall erschließt sich aber – soweit erkennbar – kein klarer, traditionell oder kontextuell vorgegebener Deutungsgehalt. Der Fall liegt ähnlich wie beim Gewand in der matthäischen Version der Gastmahlparabel (Mt 22,12) oder beim Öl in der Parabel von 251

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Parabeln in der Logienquelle Q

den zehn jungen Frauen, die auf den Bräutigam warten (Mt 25,3 ff.). Eine einheitliche Linie der Interpretation ist nicht erkennbar. Moderne Ausleger des matthäischen Textes deuten das Geld unter anderem auf das Wort Gottes, die Gottesherrschaft, auf Fähigkeiten (in Richtung der Charismen in 1Kor 12), auf das Tun der Gerechtigkeit oder Gottes Gaben im Allgemeinen (Belege bei Münch 2004, 230 Anm. 336). Ein ähnlich buntes Bild ergibt ein Blick auf die kirchliche Rezeptionsgeschichte der Parabel (vgl. Luz 1997, 511513). Der Text hat hier eine sehr interpretationsfähige Leerstelle.

Lukas 19,12-27 Lukas erzählt eine ganz eigene Version der Geschichte. Ein Mann aus vornehmem Haus reist fort, um in einem fernen Land die Königswürde zu empfangen, und verteilt vor seiner Abreise Geld an seine Sklaven (V. 12 f.). Eine Gesandtschaft aus der Heimat des Mannes will die Inthronisation verhindern, hat aber keinen Erfolg damit (V. 14-15a). Nach seiner Rückkehr hält der Herr in bekannter Manier zunächst Abrechnung mit dreien seiner Sklaven. Die erfolgreichen beiden werden gelobt und zur Belohnung als Verwalter über Städte (offenbar des Königreiches) eingesetzt. Der dritte wird gescholten und muss sein Geld abgeben (V. 15b-26). Danach erteilt der König auch Anweisungen, jene, die sein Königtum verhindern wollten, zu bestrafen und vor seinem Angesicht niederzumachen (V. 27). Auf der einen Seite bietet Lukas damit das bekannte Grundmuster einer Erzählung über anvertrautes Geld und die Rechenschaft über den Umgang damit. Daneben gibt es aber einen zweiten Erzählfaden um die Auseinandersetzung mit Gegnern des Herrn und seines Anspruchs auf die Königswürde. Der Evangelist platziert die Parabel kurz vor der Ankunft Jesu in Jerusalem – eine Gelenkstelle des Evangeliums (zum Kontext von Bendemann 2001, 153-182). Sie fungiert auch bei Lukas als Mahnung an die Christen zu rechtem Handeln, doch soll hier nur das Lukas eigene Motiv der Auseinandersetzung um die Königswürde näher betrachtet werden. Bildspender ist vermutlich das Klientelkönigtum im Römischen Reich, das die Anerkennung lokaler Herrscher durch die römische Zentralmacht erforderte (Busse 1998, 431-433). Viele Ausleger denken konkret an die Ereignisse um die Einsetzung des Herodessohnes Archelaos zum Ethnarchen über Judäa, von denen Flavius Josephus berichtet (Flav. Jos. Ant. XVII 8-9.11.13; so z. B. von Bendemann 2001, 165-167). Unmittelbarer Anlass für die Parabel ist nach Lk 19,11 der – durch den nahenden Einzug nach Jerusalem provozierte – irrige Glaube, die Herrschaft Gottes würde sofort in Erscheinung treten. Es folgen auf die Parabel der Einzug nach Jerusalem (Lk 19,28-40) und das Weinen Jesu darüber, dass die Stadt ihn nicht als den messianischen Friedensbringer erkennt (vgl. Lk 19,38-40) und deshalb von ihren Feinden zerstört werden wird (Lk 19,41-44). Lukas denkt wohl an die Zerstörung der Stadt Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. und deutet sie als Strafe wegen der Nicht-Anerkennung Jesu. In diesem Kontext ist die Parabel ein Kommentar Jesu zu der in V. 11 artikulierten Erwartung und zu den nachfolgend im Evangelium erzählten Ereignissen, zeigt sein heilsgeschichtliches Vorauswissen über die kommenden Ereignisse – ähnlich wie die Leidensankündigung und das Weinen über Jerusalem. Der »Mann edler Herkunft«, der zum König werden soll, aber von seinen Feinden abgelehnt wird, ist Jesus, dem solche Ablehnung in Jerusalem bald widerfahren wird. Im Einzelnen ist bei den Auslegern aber umstritten, welche Ereignisse mit den einzelnen Elementen der Parabel genau gemeint sind. Die 252

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Gewinnen oder Verlieren Q 19,12 f.15-24.26

»klassische« Deutung (z. B. Klein 2006, 607-611) denkt an den Ereignisbogen von der Kreuzigung als der radikalen Ablehnung Jesu über seine Auferstehung und Himmelfahrt als Einsetzung in Macht (vgl. z. B. Apg 2,22-36) bis zur Parusie bei der Vollendung der Gottesherrschaft (Lk 21,25-28) und bezieht V. 27 auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. Andere versuchen detaillierte Identifikationen zu vermeiden und sehen in der Parabel den Kontrast zwischen der Ablehnung Jesu in Jerusalem und seiner kommenden Königsherrschaft über Israel, die er bei der Parusie endgültig antritt, thematisiert (Busse 1998). Schließlich wird uneschatologisch gedeutet; die Parabel beziehe sich auf die Ereignisse von Lk 19,28-40 und deute den Einzug nach Jerusalem als Inthronisation Jesu und als Erscheinen der Gottesherrschaft in dieser Zeit (Denaux 2002). Unabhängig, wie man sich entscheidet: All diese Deutungen verstehen die Parabel als – von V. 11 ausgelöste – Stellungnahme zu der Frage, wie es sich mit der Vollendung des Gottesreiches angesichts der Anfeindungen, die Jesus in seinem Volk begegnen, verhält. Die Antwort lautet: Gott und sein Messias lassen sich durch sie nicht aufhalten.

Mk 13,34 In Mk 13,34-37 findet sich ein kleines Gleichnis, das ähnlich beginnt wie die hier besprochene Parabel vom anvertrauten Geld und ebenfalls von einem verreisenden Herrn erzählt, der Aufgaben verteilt. Es verwendet weitgehend dieselben Bildfelder (Herr – Sklave, Rechenschaft, Abwesenheit; s. o.). Auch Mk 13,34 ff. ist ein Parusie-Gleichnis. Die Pointe liegt hier aber auf der unbekannten Stunde, zu der der Herr zurückkehrt.

Christian Münch Literatur zum Weiterlesen W. Bindemann, Harter Herr oder gnädiger Gott? Zur Auslegung des Gleichnisses vom anvertrauten Geld (Mt 25,14-30 par. Lk 19,12-27), in: M. Bull/E. Reinmuth (Hg.), Bekenntnis und Erinnerung (FS H.-F. Weiß), Rostocker Theologische Studien 16, Münster 2004, 129150. C. L. Blomberg, The Talents (Mt 25:14-30; cf. Lk 19:12-27), in: ders., Interpreting the Parables, Downers Grove, Il. 2 2012, 269-281. U. Busse, Dechiffrierung eines lukanischen Schlüsseltextes (Lk 19,11-27), in: R. Hoppe/U. Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS P. Hoffmann), BZNW 93, Berlin u. a. 1998, 423-441. A. Denaux, The Parable of the King-Judge (Lk 19,12-28) and its Relation to the Entry Story (Lk 19,29-44), ZNW 93 (2002), 35-57. Ch. Dietzfelbinger, Das Gleichnis von den anvertrauten Geldern, BThZ 6 (1989), 222-233. E. van Eck, Social Memory and Identity: Luke 19:12b-24 and 27, BTB 41 (2011), 201-212. K. Erlemann, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, BWANT 126, Stuttgart u.a 1988, 196-221. C. Heil, Was erzählt die Parabel vom anvertrauten Geld? Sozio-historische und theologische Aspekte von Q 19,12-26, in: D. T. Roth/R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q. FS D. Zeller, WUNT 315, Tübingen 2014, 339-370. R. Heiligenthal, »Gott als Banker«. Die Parabel von den »anvertrauten Talenten« (Mt 25,14-30),

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Parabeln in der Logienquelle Q

in: E. Reil/R. Schieder (Hg.), Wahrheit suchen – Wirklichkeit wahrnehmen (FS H. Mercker), Landau 2000, 81-91. W. R. Herzog II, The Vulnerability of the Whistle-blower: The Parable of the Talents (Matt. 25:14-30; Luke 19:11-27), in: ders., Parables as Subversive Speech. Jesus as Pedagogue of the Oppressed, Louisville, KY 1994, 150-168. Chr. Kähler, Das Vorbild des Wucherers. Mt 25,14-30/Lk 19,12-27, in: ders., Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie. Versuch eines integrativen Zugangs zum kommunikativen Aspekt von Gleichnissen Jesu, WUNT 78, Tübingen 1995, 164-190. J. Lambrecht, Out of The Treasure. The Parables in the Gospel of Matthew, Louvain Theological & Pastoral Monographs 10, Leuven 1998, 217-244. M. Locker, Reading and Re-reading Matthew’s Parable of the Talents in Context, BZ 49 (2005), 161-173. Ch. Riniker, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS.T 653, Bern u. a. 1999, 232-247. L. Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005,239-246 und 290-294. B. B. Scott, Hear then the Parable. A Commentary on the Parables of Jesus, Minneapolis 1989, 217-235. J. R. Wohlgemut, Entrusted Money (Matt. 25:14-28), in: V. G. Shillington (Hg.), Jesus and His Parables. Interpreting the Parables of Jesus Today, Edinburgh 1997, 103-120.

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II. Parabeln im Markusevangelium

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Einleitung Die Gattung Parabel und der Aufbau des Markusevangeliums Die allgemein akzeptierten Parabeln des Mk-Ev haben eine klare Anordnung:  Mk 4,3-9 (Sämann); 4,26-29 (selbstwachsende Saat) und 4,30-32 (Senfkorn) bilden zusammen mit der allegorischen Deutung 4,13-20 zu 4,1-9 die erste große Rede des Mk-Ev, d. i. die Parabelrede Mk 4,1-34.  Mk 13,28-29 und 13,33-37 markieren den Abschluss der zweiten großen Rede, der Rede über die nachösterliche Zeit und das Eschaton Mk 13,5-37.  Die lange Parabel Mk 12,1-12 (böse Winzer) steht isoliert zwischen den fünf Jerusalemer Streitgesprächen Mk 11,27-12,37, die wiederum ein Pendant zu den fünf galiläischen Streitgesprächen Mk 2,1-3,6 darstellen. Die beiden Streitgesprächssammlungen mit jeweils einer Rede schaffen eine Symmetrie zwischen den beiden geographischen Hauptteilen Galiläa Mk 1,16-8,26 und Jerusalem Mk 11,1-16,8. Der Mittelteil Mk 8,27-10,52 stellt die Verbindung her. Er bleibt ohne Parabeln. Denn er ist der Christologie und den Jüngern gewidmet, während die Parabeln das Volk in Galiläa und Jerusalem ansprechen sollen (Mk 4,33 f.). Die isolierte Stellung der Winzer-Parabel hat einen theologischen Grund. Gleich nach dem ersten Jerusalemer Streitgespräch über die Vollmacht Jesu zur Reinigung des Tempels wird auf parabolische Weise geklärt, welche Vollmacht Jesus grundsätzlich als der »geliebte Sohn« (Mk 12,6 f.; 1,11; 9,7) hat und aus welchen zunächst unverständlichen Gründen die Gegner Widerstand leisten. Nun hat der Evangelist die Gattungsbezeichnung parabolffi (parabole¯ – Vergleich), die er 13-mal verwendet, nur elfmal für die klassischen Parabeln eingesetzt, und zwar achtmal für die Parabelrede (Mk 4,2.10.11.13 [2 x].30.33.34), einmal für den Abschluss der eschatologischen Rede (Mk 13,28) und zweimal für die lange, isolierte Parabel (Mk 12,1.12). Weiterhin bezeichnet er mit Mk 3,23 kurze Bildhandlungen als Parabeln (Mk 3,24-25.27: uneinige Königsherrschaft, uneinige Familie und Überwindung des Starken) und mit Mk 7,15 Weisheitsworte ebenfalls als Parabeln (Mk 7,15 keine Verunreinigung durch Nahrung). Außerdem fügt er vier weisheitliche Gnomen als Reihe in die Parabelrede ein (Mk 4,21-25 vom Licht-Anzünden, vom Offenbar-Werden des Verborgenen, vom Messen und vom Haben) und verleiht ihnen durch den Kontext der Rede den Charakter von Parabeln, obwohl sie keine Bildhandlungen im strengen Sinne sind. Jülicher hat dazu in seinem großen Gleichnisbuch nachgewiesen, dass dieser weite Gebrauch des Mk-Ev vom griechischen Gattungsverständnis der Parabel abweicht und auf die hebräische Gattung »Maschal« zurückzuführen ist, den die Septuaginta mit »parabole¯ = Parabel« übersetzt (Jülicher I 2 1910, 32 f.). Die Bedeutung von Maschal im AT ist unscharf und von großer Reichweite. Jülicher stellt resignierend fest: »… vergleichsweise immer: pure Geschichte, einfache Gebote, klare Verheißungen und Drohungen, Loblieder oder schlichte Gebete sind niemals Maschal, immer nur Reden, die eine Vergleichung enthalten oder herausfordern« (Jülicher I 2 1910, 37). Jülicher übernimmt diesen weiten Begriff und ordnet die Erzählhandlungen, Bildworte und Weisheitsworte (Gnomen, Sentenzen) den Gleichnissen im engeren Sinne zu, die er wiederum von den Parabeln absetzt. Die anschließende Gleichnisforschung ist ihm aber mit diesem weiten Gebrauch 257

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Parabeln im Markusevangelium

von Maschal nicht gefolgt, sondern hat sich, wie Jülicher es in seinem »Parabel-Teil« gemacht hat, dem griechischen Begriff von einer komplexen Handlung angeschlossen. Aufgrund dieses weiten, hebräischen Gebrauchs von Maschal werden in der gegenwärtigen Gleichnisforschung die Bildworte und Gnomen aus den Parabeln herausgenommen und anderen Gattungen zugewiesen. Doch diese Reduktion hat bei den Bildworten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die Herausgeber dieses Kompendiums sind der Meinung, dass die Bildworte Mk 3,22-26.27; 7,15, die in Mk 3,23 und 7,15 ausdrücklich als parabole¯ gekennzeichnet sind, kurze Handlungen enthalten und daher der Übertragungsleistung einer »Parabel« ebenfalls entsprechen. Außerdem müssen noch Mk 2,19-20.21-22 (Fest des Bräutigams, Flicken und Wein) und 7,27 f. (Brot der Hunde) als kleine Bild-Handlungen anerkannt und behandelt werden, auch wenn ihnen die Markierung »parabole¯« fehlt. Kommt nun der klare, symmetrische Aufbau des Mk-Ev durcheinander? Im Gegenteil, die Parabeln Mk 2,19-20.21-22 verstärken die Symmetrie. Parallel zur langen Parabel Mk 12,1-12 stehen sie ebenfalls zwischen einer 5-Reihe von Streitgesprächen, und zwar in den Galiläischen Streitgesprächen Mk 2,1-3,6, diesmal im und nach dem 3. Gespräch »Über das Fasten«. Auch hier geht es wie in Mk 12,1-12 um die Klärung des christologischen Anspruchs Jesu. Der irdische Jesus ist schon jetzt der Bräutigam, der neuen Wein in neue Schläuche füllt. Mk 7,15.27 f. stehen dagegen isoliert in einem Gespräch und in einer Wundergeschichte, und zwar in Mk 7,1-23.24-30. Hier sollen die Parabeln den argumentativen Gehalt von Gesprächen und Wundergeschichten veranschaulichen. Der große Komplex der Galiläischen Wundergeschichten mit dem Gespräch Mk 6,30-8,26, die den Galiläa-Teil abschließen und im Jerusalemer Teil keine Entsprechung haben, wird auf diese Weise mit der großen Parabelrede Mk 4,1-34 vernetzt. Diesen letzten Teil kontrastiert in Jerusalem die Passion. Auch in ihr gibt es Bildworte, die aber die Erfüllung einer prophetischen Voraussage des Handelns Gottes anzeigen und nicht mehr eine Vergleichshandlung bilden: »Schlagen werde ich den Hirten und die Schafe werden zerstreut werden« (Sach 13,7; Mk 14,27). Jesus ist bereits der von Gott ausgelieferte Hirte und wird nicht mehr mit ihm verglichen. Die fliehenden Jünger sind die zerstreuten, verängstigten Schafe, die sich nach Ostern wieder neu zusammenfinden müssen. »Hirt« und »Schafe« sind zu festen, urchristlichen Metaphern geworden; sie verschlüsseln Verfolgung, Flucht und Sammlung, um die Tätigkeiten Gottes allegorisch als hintergründige, tröstende Erfüllung aufzuzeigen. Als Ergebnis bleibt, dass der 1. Evangelist den Begriff »Parabel« 13-mal im griechischen Sinne einer bildspendenden Handlung verwandt hat. Auch die nicht markierten Bildhandlungen Mk 2,17.19-20.21-22; 7,27.f.; 9,49 f.; 10,15 sind den Handlungs-Parabeln zuzuordnen. Außerdem erhalten die Weisheitsworte »Vom Licht und rechten Maß« Mk 4,21-25 durch ihre Stellung in der Parabelrede Mk 4,1-34 die Konnotation einer Parabelsprache und werden re-metaphorisiert. Aber es wird nicht aufgrund dieser Erweiterungen des Mk-Ev insgesamt mit allen anderen Kleingattungen zu einer Parabelrede (gegen Donahue 1988).

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Einleitung

Die Theologie der Parabeln im Mk-Ev Die kurzen Bildhandlungen Mk 2,19-20.21-22 eröffnen die Theologie der Parabeln. »Bräutigam« und »Hochzeitsgäste« spielen auf die im AT verheißene Königsherrschaft Gottes an. Sie ist bereits in Jesus als »dem Bräutigam« angebrochen. Er führt Israel in der Vollmacht Gottes als Braut zur Hochzeit in der vollendeten Gottesherrschaft. Allerdings kann der Bräutigam Jesus sein Werben nicht zum vollen Erfolg bringen. Er wird gewaltsam von den »Hochzeitsgästen«, die einen Teil von Israel symbolisieren, genommen werden. Doch schon jetzt ist in seinem Werben die neue, eschatologische Zeit angebrochen: »Neuer« Stoff wird nur auf einen »neuen« Stoff genäht; »neuer Wein« kommt nur in »neue Schläuche«. Die kurzen Parabeln Mk 3,24 f.27 weisen auf die Gefährdung der angebrochenen Königsherrschaft Gottes durch die Herrschaft der Dämonen hin. Für beide übermenschliche Bereiche gelten die Regeln der menschlichen sozialen Grundformen Haus (oikia)/ Familie und »Königsherrschaft (basileia)/ Reich«. Großfamilie, Familie und Herrschaftsbereiche differenzieren sich ständig aus, sie können dabei in feindliche Teile zerfallen und untergehen. Entsprechend ist das Reich der Dämonen und die angebrochene Königsherrschaft Gottes durch die Uneinigkeit ihrer Anhänger gefährdet. Hinzu kommt ein Entscheidungskampf der angebrochenen Königsherrschaft Gottes gegen die Stärke der Dämonenherrschaft. Die Dämonen lassen sich nur im Kampf aus den Beherrschten vertreiben. Die Versuchungsgeschichte und die Wundergeschichten symbolisieren den durchschlagenden Erfolg dieses Kampfes Jesu und seiner Anhänger (Mk 1,12-11,14); dieser Kampf geht über Israel hinaus und muss unter Beachtung des Vorrangs Israels auf alle Menschen ausgedehnt werden (Mk 7,24-30). Die große Parabelrede Mk 4,1-34 verbindet dann den geglückten Anfang der Königsherrschaft Gottes mit dem Schöpfungshandeln Gottes und vertieft das Kampfmotiv. Der Samen des Sämanns, die selbstwachsende Saat und das Saatkorn keimen aufgrund des Schöpfungshandelns Gottes unter Verlusten auf, wachsen unter Verlusten hoch und bringen z. T. reiche Frucht. Der Kontrast zwischen kleinem Anfang und großem Ende wird zusätzlich zum Schöpfungshandeln zum Symbol für den unscheinbaren Anfang der Königsherrschaft Gottes und ihrer überwältigenden Vollendung nach dem Gericht. Die Betonung der Verluste beim Aussäen, der Nicht-Beeinflussbarkeit des Hochwachsens der Saat und der Kleinheit des Samenkorns erzeugen diesen Kontrast. Zur Theologie dieser Gleichnisrede gibt es nun unterschiedliche Auslegungen. Geht es um schon realisierte (Dodd 1935) oder um erst anbrechende Eschatologie (Schweizer 1979). Dieser Gegensatz ist nicht unauflösbar, sondern geht auf die unterschiedlichen Akzentsetzungen zurück. Auch das Unverständnis der Gleichnisse Mk 4,10-12.33-34 ist diskutiert worden. Räisänen behauptet eine Unvereinbarkeit des Gleichnisgeheimnisses mit dem Messiasgeheimnis (1976, 232). Doch diese unüberbrückbare Spannung ist nur gegeben, wenn die Schweigegebote an die Dämonen und an die Jünger als Einheit gesehen und dem Gleichnisgeheimnis entgegengesetzt werden. Im Schweigegebot an die Jünger ist ja das Messiasgeheimnis vom Wundergeheimnis zu unterscheiden, und ebenfalls sind die Dämonen von den Jüngern und Geheilten abzuheben. Räisänen hat darin Recht, dass das Mes259

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Parabeln im Markusevangelium

siasgeheimnis und das Unverständnis differenziert zu sehen sind. Doch der Evangelist fügt nicht konzeptionslos unterschiedliche Traditionsstränge vom Unverständnis zusammen, sondern integriert sie zu einer überzeugenden Einheit. Die Gleichnisse erfordern in jedem Falle die Weiterarbeit des Lesers. Er muss zu der Bildhälfte die theologische Sachhälfte selbst entwickeln (Linnemann 7 1978; Dormeyer 1993, 140-159). Das Unverständnis warnt vor Auslegungen, die sich nicht am Gesamtverlauf des Mk-Ev und seiner praxisorientierten Auslegung durch Nachfolge und Gemeindebildung orientieren. Die Jünger erhalten einen Vorrang im Verstehen und Auslegen der Gleichnisse auf dem Hintergrund der angebrochenen Königsherrschaft Gottes. Diskutiert wird auch das »Mysterium der Königsherrschaft Gottes« in Mk 4,10-12. Ist es auf ihren anfanghaften Anbruch (Lehnert 1999, 24 f.) oder auf ihren verborgenen messianischen Bringer (Gnilka 5 1998, 165) bezogen? Spielt »Mysterium« zusätzlich auf die Nähe der Jesusgemeinschaft zu philosophischen Mysterien-Vereinen an (Klauck 1997, 112-117; Dormeyer 2 2002, 188-191)? Lehnert macht auf die textpragmatische Funktion von »Mysterium« aufmerksam. Der Leser wird paradox auf ein Nichtwissen hingewiesen. Dieses Verfahren wenden sowohl das Prophetenbuch Jesaja als auch hellenistische Philosophenschulen an (1999, 128-181). Der Leser, nicht der Autor, soll also das Mysterium bestimmen. Daher umfasst Mysterium für den Leser den anfanghaften Anbruch der Königsherrschaft Gottes, den verborgenen Bringer Jesus Christus (bes. Mk 12,1-12) und die nachösterliche Auslegung in einer philosophischen Mysteriengemeinschaft. Einigkeit besteht darüber, dass die Rede Mk 13, die im Schlussteil zwei Parabeln enthält, darüber hinaus die eschatologische Vollendung der Königsherrschaft Gottes durch eine kosmische Theophanie und die Zusammenführung der Auserwählten ansagt. Offen bleibt, ob es einen Zusammenbruch des Kosmos mit Weltgericht und anschließender Neuschöpfung geben wird (Geddert 1989, 223-255) oder diese Welt nach einer grundlegenden Krise die Heilswende erfährt (Brandenburger 1984, 54-65.102-104).

Detlev Dormeyer Literatur zum Weiterlesen E. Brandenburger, Markus 13 und die Apokalyptik, FRLANT 134, Göttingen 1984. A. Y. Collins, The Discourse in Parables in Mark 4, in: R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen 2 2011, 521-538. C. H. Dodd, The Parables of the Kingdom, London 1935. J. R. Donahue, The Gospel in Parable. Metaphor, Narrative and Theologie in the Synoptic Gospels, Philadelphia 1988. D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 2 2002. D. Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993. T. J. Geddert, Watchwords Mark 13 in Markan Eschatology, JSNT.S 26, Sheffield 1989. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 1. Teilbd. (Mk 1-8,26), EKK II/1, Zürich/Düsseldorf/ Neukirchen-Vluyn 5 1998.

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Einleitung

J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilbd. (Mk 8,27-16,20), EKK II/2, Zürich/Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 5 1999. H.-J. Klauck, Vorspiel im Himmel. Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, NeukirchenVluyn 1997. V. A. Lehnert, Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion Jes 6,9-10 bei Mk und Lk. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie, Neukirchen-Vluyn 1999. E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen 7 1978. C. Landmesser, Vom Geheimnis des Verstehens. Anmerkungen zu einer anthropologischen Grundkategorie im Anschluß an Markus 4, in: M. Bauks (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. FS B. Janowski, Neukirchen-Vluyn 2008, 281-294. U. Poplutz, Paroimia und Parabole. Gleichniskonzepte bei Johannes und Markus, in: J. Frey/ J. van der Watt/R. Zimmermann (Hg.), Imagery in the Gospel of John. Terms, Forms, Themes, and Theology of Johannine Figurative Language, WUNT 200, Tübingen 2006, 103-120. H. Räisänen, Das »Messiasgeheimnis« im Markusevangelium. Ein redaktionskritischer Versuch, Helsinki 1976. E. Schweizer, Die theologische Leistung des Markus, in: R. Pesch (Hg.), Das Markusevangelium, WdF 411, Darmstadt 1979, 163-190.

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Tabelle der Markus-Texte Nr.

Mk-Faden

Titel

Parallelstellen

1

Mk 2,17

Kein Heimvorteil für den Heiler (Vom Arzt)

2

Mk 2,18-20

3

Mk 2,21 f.

4

Mk 3,22-26

Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit (Vom Bräutigam / Die Fastenfrage) Was passt und was nicht (Vom alten Mantel und vom neuen Wein) Zoff bei Beelzebuls (Beelzebulgleichnis)

5

Mk 3,27

6

Mk 4,3-9. Vom Fruchtbringen (10-12.)13-20 (Sämann mit Deutung)

7

Mk 4,21

8

Mk 4,24

9

Mk 4,26-29

Mt 9,12 f.; Lk 5,31 f.; vgl. Lk 4,23; EvThom 31 Mt 9,14 f.; Lk 5,33-35; EvThom 104 Mt 9,16 f.; Lk 5,36-39; EvThom 47,3-5 Q 11,14-20; Mt 12,22-28; Lk 11,14-20 Mt 12,29; Lk 11,21 f.; EvThom 35 Mt 13,3-9.18-23; Lk 8,5-8.11-15; EvThom 9; Agr 220 Q 11,33; Mt 5,15; Lk 8,16; 11,33; EvThom 33,2 f. Mt 7,2; Lk 6,38 EvThom 21,9 f.

10

Mk 4,30-32

11

Mk 7,14-23

12

Mk 7,27 f.

13

Mk 9,49 f.

14

Mk 10,15

262

Jesus lernt vom Räuberhauptmann (Das Wort vom Starken)

Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht (Die Lampe auf dem Leuchter / Vom Licht auf dem Leuchter) Aus dem Vollen schöpfen (Vom Maß) Mut zur Selbst-Entlastung (Von der selbständig wachsenden Saat) Mehr Hoffnung wagen (Vom Senfkorn)

Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit (Von Reinheit und Unreinheit) Das Brot der Hunde (Von Kindern und Hunden) Vom Wirken des Salzes (Vom Salz) Einssein an Gottes Brust (Stillkinder)

Fundort im Kompendium Lk 4,23

Mk 2,18-20

Mk 2,21 f.

Mk 3,22-26

Mk 3,27

Mk 4,3-9. (10-12.)13-20

Q 11,33

Mk 4,24 Mk 4,26-29

Q 13,18 f.; (Mt 13,31 f.; Lk 13,18 f.); EvThom 20 Mt 15,16 f.; EvThom 14

Mk 4,30-32

Mt 15,26 f.

Mk 7,27 f.

Q 14,34 f.; Mt 5,13; Lk 14,34 f. Mt 18,3; Lk 18,17; EvThom 22

Q 14,34 f.

Mk 7,14-23

EvThom 22

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Tabelle der Markus-Texte Nr.

Mk-Faden

Titel

Parallelstellen

15

Mk 12,1-12

Spiralen der Gewalt (Die bösen Winzer)

16

Mk 13,28 f.

17

Mk 13,33-37

Wir sind schon wer (Vom grünenden Feigenbaum) Seid wachsam (Vom spät heimkehrenden Hausherrn)

Mt 21,33-46; Lk 20,9-19; EvThom 65 Mt 24,32 f.; Lk 21,29-31 (vgl. Mt 25,14 f.; Lk 12,35-38; Lk 19,12 f.)

Fundort im Kompendium Mk 12,1-12

Mk 13,28 f. Mk 13,33-37 (vgl. Lk 12,35-38)

263

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Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit (Vom Bräutigam / Die Fastenfrage) Mk 2,18-20 (Mt 9,14 f. / Lk 5,33-35 / EvThom 104) (18a) Und die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten. (18b) Und sie kommen und sagen zu ihm: »Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, deine Jünger aber fasten nicht?« (19) Und Jesus sagte ihnen: »Können die Söhne des Brautgemachs etwa fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten. (20) Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen weggenommen wird, und dann werden sie fasten, an jenem Tag.«

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Eine seltsame Szene ist es, an der der Verfasser des Evangeliums uns hier als Leserinnen und Leser teilhaben lässt. Ohne erzählerische Überleitung und ohne Nennung von Ort und Zeit lenkt er nach der Schilderung von Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (Mk 2,15-17) den Blick abrupt und kontrastierend auf zwei Gruppen, die er uns in einer vorausgeschickten Leserinformation als »Fastende« (nhsteÐonte@ ne¯steuontes) präsentiert: die Johannesjünger und die Pharisäer (18a). Gleichzeitig ist damit das Leitthema »Fasten« für die folgenden Verse 18-20 vorgegeben (sechsmal nhsteÐw ne¯steuo¯). Ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Lebensweisen scheint vorprogrammiert zu sein, und tatsächlich kommen nun Leute zu Jesus – wer sich hinter den Fragestellern verbirgt, wird nicht gesagt – und bringen die beobachteten Unterschiede in der Lebensweise der Jüngerschaften (vgl. das dreimalige maqhtaffl mathe¯tai) zur Sprache (18b). Jesus antwortet mit einem Bild aus dem Vorstellungskreis der Hochzeit, das er mit einer rhetorischen Frage einleitet und überdies positiv bekräftigt: »Können die Söhne des Brautgemachs etwa fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten« (19). Diese Antwort würde ausreichen, um zu erklären, warum manche nicht fasten, ja aufgrund ihrer Rolle nicht einmal fasten können (m¼/o' dÐnantai nhsteÐein me¯/ou dynantai ne¯steuein). Doch schwingt schon hier eine zeitliche Begrenzung mit: Dieser Zustand gilt nur, solange der Bräutigam in der Gemeinschaft anwesend ist. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, wird durch V. 20 eingeholt, der einen Blick in die Zukunft wirft: »Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen weggenommen wird, und dann werden sie fasten, an jenem Tag.« Die ursprünglich auf eine Kontroverssituation zielende Ausgangsfrage läuft somit ins Leere. Bei der Frage um Nicht-Fasten und Fasten geht es also nicht um sich ausschließende Gruppenzugehörigkeiten, sondern um die jeweilige zeitliche Angemessenheit des Tuns. Wie sehr die Aspekte Gleichzeitigkeit – Zukünftigkeit, Anwesenheit – Abwesenheit des Bräutigams und Nicht-Fasten – Fasten in der Antwort Jesu aufeinander bezogen sind und einander bedingen, sei in folgender Übersicht dargestellt, die sich an der Wortabfolge im griechischen Text orientiert: 265

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Parabeln im Markusevangelium Nicht-Fasten / Fasten

Gleichzeitigkeit / Zukünftigkeit

Anwesenheit / Abwesenheit des Bräutigams

die Söhne des Brautgemachs, der Bräutigam bei ihnen ist, während sie den Bräutigam bei sich haben, fasten? Solange können sie nicht fasten. (20) Es werden aber Tage der Bräutigam von ihnen weggenommen wird, kommen, da und dann an jenem Tag.« werden sie fasten (19) »Können etwa

Der syntaktischen Positionierung, die die Rede vom »Bräutigam« auf der sprachlichen Ebene jeweils ins Zentrum der Sätze rückt, entspricht auf der inhaltlichen Ebene die zentrale Rolle des »Bräutigams« als Kriterium der Fastenfrage. Können die »Söhne des Brautgemachs« aufgrund ihrer gegenwärtigen Gemeinschaft mit ihm gar nicht fasten, verkehrt sich der durch die massiv gehäuften Temporalangaben hereingeholte Blick in die Zukunft zoomartig (Tage – dann – an jenem Tag) ins Gegenteil: Auch für sie wird es einen Tag geben, an dem sie fasten werden, nämlich dann, wenn der Bräutigam von ihnen weggenommen wird – eine innerhalb dieses Bildes eher düster und bedrohlich klingende Aussicht, denn eine Hochzeit ohne Bräutigam ist letztlich ebenso wenig denkbar wie ein Hochzeitsmahl mit fastenden Gästen! Jesu Antwort sperrt sich einem wörtlichen Verstehensversuch. Zielte die Ausgangsfrage auf ein Verhalten der Jünger Jesu, so spricht Jesus in seiner Antwort stattdessen von den »Söhnen des Brautgemachs«. Dem Reizthema »Fasten« setzt er kontrastierend ein Hochzeitsbild entgegen, ein Fest, bei dem Essen und Trinken konstitutive Bestandteile der Feier sind, ebenso wie die Anwesenheit des Bräutigams, die hier gleichwohl mehrfach eigens betont wird. Wenn schließlich in einer Passivformulierung vom »Weggenommenwerden des Bräutigams« die Rede ist, welche als passivum divinum ein göttliches Eingreifen suggeriert, so ist dies ein letzter deutlicher Hinweis auf den metaphorischen Charakter dieser Rede. Die Fastenfrage wird also in Form einer Parabel entschieden – aber wie?

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Fasten Zeitweiliges Fasten als teilweise oder völlige Enthaltung von Speise und Trank aus kultischen Gründen ist ein religionsgeschichtlich weit verbreitetes Phänomen. Im Alten Testament wird es aus unterschiedlichen Anlässen erwähnt. Neben den seltenen Fällen vorbereitenden Fastens als persönlicher Zurüstung für eine Begegnung mit Gott (Mose: Ex 34,28; Elia: 1Kön 19,8) oder für eine Offenbarung (Daniel: Dan 10,3; vgl. das 40-tägige Fasten Jesu zu Beginn seiner Wirksamkeit [Mt 4,2; Lk 4,2]; Paulus: Apg 9,9), ist Fasten in den meisten anderen Fällen Ausdruck für Trauer (um Saul: 1Sam 31,13; 2Sam 1,12; um Abner: 2Sam 3,35) und Buße (1Kön 21,27; Jo 1,14; 2,12; Jes 58,1-9; Neh 1,4-11), um JHWH zur Abkehr von seinem berechtigten Zorn und zum erneuten Erweis seiner Gnade zu bewegen. 266

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Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit Mk 2,18-20

Im nachexilischen Judentum war das Fasten sowohl auf der Ebene des offiziellen Kultes als auch im Bereich der persönlichen Frömmigkeit eine fest etablierte Praxis. Ein öffentliches, d. h. für die Gemeinschaft verpflichtendes Fasten fand z. B. am Jom Kippur, dem jährlichen Versöhnungstag am 10. Tischri (Lev 16,29.31; 23,27.29.32; Num 29,7), statt – auch »das große Fasten« genannt (aB5t‡ am5yr sôma¯’ raba¯’; Flav. Jos. Ant. 3,240-243; ˙ nationaler Katastrophen (vgl. Sach Philo decal. 159 u. ö.) –, ferner an den Gedenktagen 8,19; z. B. 9. Ab: Tag der Zerstörung des 1. und 2. Tempels) sowie in Zeiten der Dürre, bei Missernten, Heuschreckenplagen, Seuchen oder in Kriegsnöten (ausführliche Bestimmungen dazu finden sich in dem rabbinischen Traktat Megillat Ta3anit [= Fastenrolle]). Daneben gab es aber auch das private Fasten im Sinne einer freiwilligen und selbstgewählten Frömmigkeitsübung (Ps 35,13; 69,11; 109,24; Tob 12,8; Jdt 8,6; Sir 34,31 u. ö.; vgl. Lk 2,37; 18,12), so dass die Fastenpraxis als solche in der Außenperspektive geradezu als ein Charakteristikum jüdischer Religiosität wahrgenommen wurde (Suet. Aug. 76,2; Tac. hist. 5,4). Dazu trugen nicht zuletzt eine ganze Reihe weiterer augenfälliger Fastenbräuche bei: das Anlegen eines sackartigen Gewandes, das aus groben Stoffen verfertigt war und mit einem Strick um die Hüften zusammengehalten wurde, das Sitzen in und Bestreuen des Kopfes mit Asche, das Abhalten spezieller Fastengottesdienste auf einem freien öffentlichen Platz oder zwischen den Gräbern des Friedhofs, das Lärmblasen, das Unterlassen des Waschens und Salbens des Körpers, das Ablegen der Sandalen sowie der Verzicht auf Beischlaf, Verlöbnis und Heirat, Handel und den gegenseitigen Friedensgruß (Billerbeck IV/1, 2 1928a, 103-105). Neben einer unbedingten Hochschätzung des Fastens, nach der der Fastende sich damit eschatologischen Lohn verdiene (1Hen 108,7-10) und seine Irrtumssünden sühne (PsSal 3,8), gab es vereinzelt aber auch kritische Stimmen (yNed 9,1/ 41b: »Genügt dir nicht, was die Tora verboten hat, da du dir noch mehr Dinge versagen willst?«) und das Bewusstsein, dass es neben dem zeitgemäßen und angemessenen Fasten auch unzeitgemäßes und unangemessenes Fasten gibt. So benennt mTaan z. B. gleich zu Beginn diejenigen nationalen Freuden- und Feiertage, an denen ebenso wie am Sabbat das Fasten ausdrücklich verboten war, und weist den Montag und den Donnerstag als Hauptfasttage aus (mTaan 1,3-7). Überblickt man die frühchristlichen Aussagen zum Fasten, zeigt sich eine klare Kontinuität zur jüdischen Praxis und eine breite Bezeugung der Fastenpraxis in der frühen Christenheit (Apg 13,2 f.; 14,23; 27,9; 2Kor 6,5; 11,27; Did 8,1: hier lediglich mit einer Verlegung der Fastentage auf Mittwoch und Freitag). Selbst Mt 6,16-18 mit seiner Kritik nicht am Fasten, sondern an heuchelndem Fasten, wurzelt schon im Judentum (vgl. Jes 58,1-9) und bezeugt letztlich nur die Selbstverständlichkeit und den hohen Verbreitungsgrad urchristlicher Fastenpraxis (zusammen mit Almosengeben und Gebet [vgl. Tob 12,8]).

»Söhne des Brautgemachs« Die antike Eheschließung wurde als Freudenfest unter Beteiligung der ganzen Familie und vieler Freunde gefeiert. Die griechische Wendung uo½ to‰ numfno@ (hyioi tou nympho¯nos) in Mk 2,19 ist wörtliche Wiedergabe des hebräischen eQ5Fh jn9 B7 (benê hûpa¯h) und bezeichnet in rabbinischen Texten zunächst i. S. der engeren Zugehörigkeit ˙die zur Hochzeit geladenen Freunde des Bräutigams (bSuk 25b, hier deutlich unterschieden von den Brautführern als eigenem Amt), im weiteren Sinne dann die Gesamtheit der Hoch267

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Parabeln im Markusevangelium

zeitsgäste (z. B. pSuk 2,53a; tBer 2,10), ohne die das Festzeremoniell nicht durchgeführt werden könnte. Ihre Anwesenheit beim Fest wurde allgemein als so wichtig eingeschätzt, dass sie während dieser Zeit sogar von anderen religiösen Pflichten weitgehend befreit waren (bSuk 25b). Ihre Aufgabe bestand vor allem darin, zur Belustigung des Brautpaares während der Hochzeitsfeier beizutragen und für allgemeine Freude und Fröhlichkeit beim Hochzeitszug (1Makk 9,39) und Festmahl zu sorgen, was nach den Worten der Rabbinen so hoch angesehen wurde, als hätten sie Dankopfer dargebracht, oder »eine von den Ruinen Jerusalems aufgebaut« (bBer 6b).

Abwesenheit des Bräutigams? Ein Verständnis von der Rede der »Wegnahme des Bräutigams« wird vor allem durch die semantische Uneindeutigkeit des Verbs ⁄pafflrein (apairein) erschwert, das sowohl in hellenistischen als auch in urchristlichen Belegen einerseits in der Grundbedeutung des Abreisens (z. B. ActPaul 5,26; 7,22; hier allerdings überwiegend aktivisch formuliert) begegnet, andererseits aber auch zur Umschreibung des Getötetwerdens (vgl. LXX Jes 53,8) oder der Entrückung (Apg 1,9D) verwendet werden kann. Eine innerhalb des bildspendenden Bereichs verbleibende Deutungsmöglichkeit könnte auf den in rabbinischer Überlieferung belegten Ritus einer »Vorhochzeit« (vgl. pShevi 4,35c,25) verweisen, nach dem am Sabbat vor der eigentlichen Hochzeitsfeier ein »Vorfest« gefeiert wurde (eine jüdische Variante der im hellenistischen Trauritus breit bezeugten »Vorabendfeier«), bei dem der Bräutigam zusammen mit den Gästen anwesend war, danach aber möglicherweise für die Zwischenzeit bis zum eigentlichen Hochzeitsfest mit der Heimführung der Braut nochmals abreiste (s. dazu ausführlich R. Zimmermann 2001, 236 f.). Gleichwohl sperrt sich Mk 2,20 einer solchen bildinternen Deutung: Da der Bräutigam während der Dauer der »Vorhochzeit« traditionell anwesend war und allenfalls erst im Anschluss daran abreiste, konnte für die Hochzeitsgäste gar keine vergleichbare Situation entstehen, wie sie in unserer Parabel in Form einer »bräutigamslosen Festrunde« vorausgesetzt wird. Zudem sträubt sich die verwendete Passivform des Verbs der Annahme einer vom Bräutigam durch Abreise selbst initiierten Abwesenheit. An dieser Stelle sprengt also das Bild seinen Rahmen und weist den Betrachter an, nach einer tieferen Verständnisebene der Parabel zu suchen.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Messias-Zeit als Hochzeit Wurzelnd in der Prophetie Hoseas mit seinem Bild von der Ehe JHWHs mit Israel findet sich die Verwendung von Braut- und Hochzeitsmetaphorik auch in spät-alttestamentlicher Zeit im Kontext der eschatologischen Heilsverheißung Tritojesajas (Jes 62,5). Einen über die alttestamentlichen Belege hinausgehenden Hinweis auf die Verknüpfung des Bräutigam-Motivs mit der Erwartung einer endzeitlichen Rettergestalt oder gar dem Messias liefern einige Texte aus frühjüdischer Zeit (TgPs 45; 1QIsa 61,10; PesR 37; ausführlich dazu s. R. Zimmermann 2001, 258-276). Auffällig ist, dass alle jüdisch-rabbinischen Belege in diesem Zusammenhang darauf abzielen, die eigentliche Messiaszeit in 268

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Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit Mk 2,18-20

einem heilsgeschichtlichen Zweistufenschema als noch ausstehende Hochzeitsfeier vorzubereiten. Nach ShemR 15 (79b) zu Ex 12,2 wird folgendes Gleichnis erzählt: »Gleich einem König, der sich ein Weib verlobte und ihr wenige Gaben verschrieb; als er kam, sie zu nehmen (heimzuführen), verschrieb er ihr als Gatte viele Gaben. Ebenso war diese Welt die Verlobung(szeit) … Aber in den Tagen des Messias wird die Hochzeit sein … in jener Stunde übergibt er ihnen alles« (zitiert nach Billerbeck I 2 1926, 517). Ähnlich deutet WaR 11 (112c) die 7 Jahre Gogs aus Ez 39,9: »Jene 7 Jahre sind die Vorhochzeit der Gerechten in der zukünftigen Zeit, und als Merkzeichen dient: Wer die Vorhochzeit mitfeiert, der genießt das Hochzeitsmahl« (ebd.). Mk 2,18-20 bietet hier ein anderes Bild. Die Tage, die noch kommen werden, bilden gerade keine Überbietung und Steigerung der Hochzeitsfreude, sondern verkehren sich durch die Abwesenheit des Bräutigams und das damit einhergehende Fasten ins Gegenteil: Wenn es also Grund und Zeit zur Freude gibt, dann jetzt!

Fasten oder feiern? Weiß schon Pred 3,4, dass sowohl Weinen und Lachen als auch Klage und Tanz ihre je eigene Zeit und Berechtigung haben (vgl. Sir 22,6), so bezeugt auch Jo 2,15 f. die Unvereinbarkeit von Fastenzeit und Hochzeit: Wo gefastet wird, kann man nicht feiern! Die sprichwörtliche Unvereinbarkeit von Trauer und Hochzeit findet sich schließlich auch in der rabbinischen Überlieferung, wenn Rab Jannai im Blick auf ein farblich unpassendes Beerdigungskleid die Sorge äußert, nicht »wie ein Bräutigam unter Trauernden« oder »wie ein Trauernder unter Brautleuten« gefunden werden zu wollen (bShab 114a). Wie also ist es zu verstehen, wenn Jesus in der Parabel mit dem Ausblick auf die in Zukunft fastenden Hochzeitsgäste gerade die unmögliche Möglichkeit vor Augen malt und im Bild zusammenbringt, was nicht zusammengehört?

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die traditionelle Auslegung der Parabel, nach der hier eine bestimmte christliche Fastenpraxis (entweder das wöchentliche Fasten am Freitag als dem Todestag Jesu oder ein jährliches Osterfasten) durch ein Wort Jesu nachträglich legitimiert werden soll (z. B. Gnilka 5 1998, 115; Lührmann 1987, 63), greift m. E. zu kurz, denn es geht in dieser Szene um mehr als um eine Terminfrage. Hintergrund der Ausgangsfrage ist – wie wir gesehen haben – die Vorstellung eines freiwilligen und selbstauferlegten Fastens, entweder als Ausdruck einer weltabgewandten eschatologischen Bußhaltung (so wohl die Johannesjünger) oder im Sinne einer verdienstvollen religiösen Leistung, von der erwartet wurde, dass sie die erneute Zuwendung Gottes nach sich ziehe (so die Pharisäer). Dieser Vorstellung widerspricht die Parabel in mehrfacher Hinsicht.

(a) Der zeitliche Irrtum Der von den Fragenden eingeklagten Fastenzeit hält Jesus in der Parabel demonstrativ die mit ihm angebrochene und gegenwärtige Freuden- und Heilszeit entgegen. Solange er als 269

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Parabeln im Markusevangelium

der Messias-Bräutigam anwesend ist, ist Festzeit (vgl. Sach 8,19; Jes 61,3.10)! Diese Haltung spiegelt sich in der gesamten Lebensweise Jesu mit seiner Praxis der Gastmähler wider, die ihm wohl auch das Schimpfwort »Fresser und Weinsäufer« (Lk 7,34) eingetragen hat und für die fastende religiöse Umwelt eine ungeheuerliche Provokation darstellen musste: Wer sich gegen das Fasten stellte, nahm nicht nur den Frommen einen vermeintlich sicheren Bußakt, sondern nahm auch demonstrativ vorweg, was allein der Zukunft vorbehalten war. So verkörpert Jesus in bewusstem Kontrast zur asketischen, weltabgewandten Lebensweise Johannes des Täufers ein gewandeltes eschatologisches Bewusstsein: Dort wo er ist, ist Leben satt (vgl. Q 7,31-35; Joh 6,35; 10,10)! Fasten oder Nicht-Fasten ist in Mk 2,18-20 also keine Frage schlichten Tuns oder Lassens, sondern tiefster Ausdruck für die jeweilige Verbundenheit mit Jesus: Gegenwärtig fasten kann nur, wer die Zeit verkennt und so der Gemeinschaft mit dem Bräutigam entbehrt! – Gleichwohl weiß die Parabel um die Begrenztheit dieser Zeitspanne, indem sie mit der Rede von der »Wegnahme« des Bräutigams vermutlich auf Jesu Tod vorausblickt (vgl. Jesu künftige Fastenansage in Mk 14,25 nach dem letzten gemeinsamen Mahl mit seinen Jüngern). So düster dieses Wissen schon auf der Gegenwart lasten mag, hat es aber auch eine klare Legitimations- und Appellfunktion: Gerade weil die Freudenzeit begrenzt ist, gilt es, sie voll auszukosten!

(b) Der auktoriale Irrtum Wenn Jesus anstatt von den Jüngern in seinem Bild von den »Söhnen des Brautgemachs« und damit von auf den Bräutigam bezogenen funktionalen Rollen spricht, wird auch hier eine Akzentverschiebung gegenüber der Ausgangsfrage deutlich. Die »Söhne des Brautgemachs« handeln nicht in eigenem Auftrag, sondern gehen ganz in der ihnen vom Bräutigam zugewiesenen Rolle auf. Ihre Identität und ihr Verhalten während der Feier sind ganz vom Bräutigam bestimmt. Daher »können« sie in seiner Anwesenheit auch gar nicht fasten (V. 19), selbst wenn sie wollten. Dem eigenmächtigen Fastenentschluss der Johannesjünger und Pharisäer wird hier also auch ein neues, relationales Sein der Jünger gegenübergestellt, dessen Wesen in der Verbundenheit mit Jesus besteht. Fasten oder NichtFasten ist demnach keine Frage des freien Entschlusses mehr, sondern entscheidet sich allein von ihm her. Neben die zeitliche Bindung an die Anwesenheit des Bräutigams tritt eine identifikatorische.

(c) Der motivationale Irrtum Anders als das auf einen außerhalb liegenden Zweck zielende, aktive Fasten der Johannesjünger und der Pharisäer, erscheint das Fasten der Jesusjünger innerhalb der Parabel als zwangsläufige Reaktion auf die »Wegnahme« des Bräutigams. Ein härterer Bruch als das plötzliche Abbrechen-Müssen der Festtafel und ein sofortiger Fastenbeginn ist erzählerisch kaum darstellbar. Die durch die Zeitangaben erreichte enge Verschränkung der Fastenthematik mit der Abwesenheit des Bräutigams legt dabei nahe, dass schon seine Abwesenheit selbst als Fasten empfunden wird. D. h. neben den eher äußerlichen Verzicht auf Speise und Trank tritt der Verzicht auf die feststiftende Gemeinschaft mit dem Bräutigam. Obwohl nun rein äußerlich nichts mehr an eine Hochzeit erinnert, hält die Parabel paradoxerweise an einem Begriff des Bildfeldes fest, der die Kontinuität zwischen den 270

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Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit Mk 2,18-20

Zeiten vermittelt: die »Söhne des Brautgemachs«. Unbeschadet aller äußeren situativen Veränderungen bleiben sie dennoch wesentlich das, was sie sind, nämlich die zur Feier geladenen Gäste und Freunde des Bräutigams! Die Fastenthematik der Ausgangsfrage wird hier mit einem neuen Vorzeichen versehen: Dem selbstgewählten Nahrungsverzicht i. S. einer verdienstvollen Leistung hält Jesus in seiner Antwort das unfreiwillige Entbehrenmüssen des Bräutigams mitsamt der Festfreuden entgegen. Wer als geladener Gast, als »Sohn (oder Tochter) des Brautgemachs«, so fastet, tut dies nicht aus eigener Motivation, sondern erzwungenermaßen und sehnt sich nach diesem Vorgeschmack nur umso mehr nach einem Ende der Fastenzeit und nach der baldigen Rückkehr des Bräutigams, wie sie als eschatologische Hochzeit in Mt 25,1-13 oder Apk 19,6-10 dann explizit erhofft wird.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Dass mit dem Begriff »Fasten« in der Parabel vermutlich mehr gemeint ist als der konkrete Verzicht auf Nahrung, deutet sich auch in der matthäischen Interpretation dieses Textes an (Mt 9,14 f.), wenn Jesus dort in seiner Gegenfrage das umfassendere Verb penqe…n (penthein – »mit Trauer entbehren«; Mt 9,15) gebraucht und so das christliche Fasten primär als Trauerfasten charakterisiert. Die hier des Weiteren vorgenommenen Kürzungen (die vorausgeschickte Leserinformation Mk 2,18a wird bei Mt in die Anfrage der Johannesjünger integriert und quantitativ betont [poll€ polla – viel; Mt 9,14]; die affirmative Bekräftigung Jesu im Anschluss an seine rhetorische Gegenfrage und die Zuspitzung auf »jenen Tag« in der mk Vorlage entfallen ersatzlos) und Glättungen (nach Mt spielt die Szene am vorausgehenden Gastmahl [Mt 9,9-13]; Anpassung der Fragestellung an die 1. Pers. Pl. [Mt 9,14], wobei hier allein die Johannesjünger als Fragende auftreten) lassen ansonsten gegenüber dem mk Text keine abweichenden Akzentsetzungen erkennen. Ähnliches gilt auch für die lk Fassung der Parabel (Lk 5,33-35), die sich ebenfalls um eine szenische Anbindung an das vorausgehende Gastmahl (Lk 5,27-32) bemüht, als Gesprächspartner aber die Pharisäer auftreten lässt, die die mk Ausgangsfrage in Form zweier konstatierender Sätze wiedergeben und zudem mit dem Motiv des Betens verknüpfen (Lk 5,33). Die rhetorische Gegenfrage Jesu richtet sich hier direkt an die Pharisäer und nimmt sie mit in die Verantwortung: »Könnt ihr etwa die Söhne des Brautgemachs fasten lassen, solange der Bräutigam bei ihnen ist?« (Lk 5,34). Eine affirmative Bekräftigung entfällt auch hier. Anders als bei Mk ist die zeitliche Zielperspektive des Fastens dann allerdings nicht singularisch formuliert, sondern vermutlich in Anlehnung an die genannten »kommenden Tage« pluralisch gestaltet (Lk 5,35). Eine von der synoptischen Tradition unabhängige Überlieferung scheint in EvThom 104 bewahrt worden zu sein: EvThom 104: (1) Sie sagten zu Jesus: »Komm, lass uns heute beten und fasten!« (2) Jesus sprach: »Was ist denn die Sünde, die ich getan habe, oder worin wurde ich besiegt? (3) Wenn aber der Bräutigam aus dem Brautgemach herauskommt, dann mag man fasten und beten.«

271

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Parabeln im Markusevangelium

Wie in Mk 2,18-20par. wird das Fasten hier von Jesus zunächst als ein gegenwärtig unangemessenes Verhalten negativ bewertet und der Fastenwunsch der Jünger ausdrücklich zurückgewiesen, da Fasten eine »Sünde« voraussetze. Auffällig ist allerdings auch hier die Gegenüberstellung von Fasten- und Festzeiten mithilfe der Hochzeitsmetaphorik, wobei die Motivkombination von einem »Bräutigam, der aus dem Brautgemach kommt« mit einem »Sühnefasten« eine Anlehnung an Jo 2,12-16 nahe legt. Wirkungsgeschichtlich hat Mk 2,18-20 auf verschiedene Weise Niederschlag im liturgischen Kalender gefunden, denn neben der Frage, ob aus dieser Parabel das wöchentliche Freitagsfasten (Eus. Pascha 12) oder ein jährliches Osterfasten (Tert. ieiun. 2) abzuleiten sei, bemühte man sich auch um eine Lösung für die Spannung zwischen dem Nichtfastenkönnen und dem Dochfastensollen der Jünger, indem man die Zeit des Trauerfastens mit der Quadragesima vor dem Osterfest und die Zeit des fröhlichen Nichtfastenkönnens mit der Quinquagesima zwischen Ostern und Pfingsten gleichschaltete (Schmidt-Lauber/Bieritz 1995, 470-477). Bis heute wird so im nachvollziehenden Erleben des liturgischen Jahreskreises deutlich: Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit!

Gabi Kern Literatur zum Weiterlesen U. Mell, »Neuer Wein (gehört) in neue Schläuche« (Mk 2,22c). Zur Überlieferung und Theologie von Mk 2,18-22, ThZ 52 (1996), 1-31. M. Tait, Jesus the Divine Bridegroom in Mark 2:18-22. Mark’s Christology Upgraded, AnBib 185, Rom 2010. M. Waibel, Die Auseinandersetzung mit der Fasten- und Sabbatpraxis Jesu in urchristlichen Gemeinden, in: G. Dautzenberg u. a. (Hg.), Zur Geschichte des Urchristentums (FS R. Schnackenburg), QD 87, Freiburg i. Br. 1979, 63-96. R. Zimmermann, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis. Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt, WUNT II/122, Tübingen 2001, 227-299.

Zur Wirkungsgeschichte F. G. Cremer, Die Fastenansage Jesu. Mk 2,20 und Parallelen in der Sicht der Patristischen und Scholastischen Exegese, BBB 23, Bonn 1965.

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Was passt und was nicht (Vom alten Mantel und vom neuen Wein) Mk 2,21 f. (Mt 9,16 f. / Lk 5,36-39 / EvThom 47,3-5) (21a) Kein Mensch näht einen Flicken ungewalkten Tuches auf einen alten Mantel. (21b) Sonst reißt das Füllstück von ihm ab, das neue vom alten, und der Riss wird schlimmer. (22a) Und kein Mensch füllt neuen Wein in alte Schläuche. (22b) Sonst wird der Wein die Schläuche sprengen, und der Wein und die Schläuche werden ruiniert. (22c) Sondern: neuen Wein in neue Schläuche.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Worte vom alten Mantel und vom neuen Wein bilden in Mk 2,18-22 den mittleren und letzten Teil einer Antwort Jesu auf eine Anfrage von SchülerInnen des Täufers (Anhängerinnen des Täufers: Mt 21,32; vgl. Mk 1,5) und der pharisäischen Bewegung (Pharisäerinnen: mSota 3,4), weshalb Jesu SchülerInnen (Frauen: Mk 15,40 f. u. a.) nicht fasten. (Für den ersten Teil von Jesu Antwort, Mk 2,19 f., verweise ich auf den Beitrag von Gabi Kern in diesem Kompendium.) Die Fastenfrage Mk 2,18-22 steht in Mk 2,1-3,6 im Kontext einer Folge von Beziehungskonstellationen, in denen Aspekte der Praxis Jesu und seiner SchülerInnen von Angehörigen verschiedener anderer jüdischer Gruppierungen befragt, zum Teil auch kritisiert werden. Eingerahmt wird die Fastenfrage von zwei Abschnitten, in denen es ums Essen geht (Mk 2,15-17 und 2,23-28). Formal sind die beiden Worte Mk 2,21.22 weitgehend parallel gebaut: Mit dem verallgemeinernden »niemand« eingeleitet, wird jeweils ein Verhalten beschrieben. Dieses Verhalten ist unsinnig, wie im anschließenden, mit »andernfalls« eingeleiteten Satz durch die Beschreibung der eintretenden Schädigung und der ruinösen Folgen des zuvor benannten absurden Verhaltens erläutert wird. Die Wiederholung der Satzstruktur von V. 21 und des Kontrastes »alt – neu« in V. 22a.b hat verstärkenden Effekt. V. 22c ergänzt und kontrastiert die Folgen des unsinnigen Handelns mit der Beschreibung von oder dem Appell zu sinnvollem Handeln. Da ein Verb fehlt, kann V. 22c ebenso gut als Aussage wie als Aufforderung verstanden werden. Dass die beiden durch Präsens- und Futurformen zeit- und situationsunabhängig formulierten Doppelsätze »keine Küfer- und Schneider-Regeln meinen«, macht nur der Zusammenhang klar (Lohmeyer 7 1963, 61): Die metaphorische Beantwortung der Fastenfrage durch Jesus V. 19 f. hatte begründet, weshalb seine AnhängerInnen jetzt nicht, aber später fasten werden. Diese Begründung wird mit Hilfe zweier weiterer Parabeln verstärkt. V. 21 und 22 beantworten die Frage von V. 18, indem sie zugleich V. 19 f. erläutern (Berger 1984, 47). Gemeinsam ist den drei Parabeln V. 19-22, dass sie in der Sphäre des Hauses, Haushalts bzw. der Hauswirtschaft angesiedelt sind. 273

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Parabeln im Markusevangelium

Die Handlungen, die in V. 21a und V. 22a beschrieben werden, gelten als solche, die von keiner vernünftigen Person vollzogen werden. Auch formal – Sätze mit der Einleitung »niemand« finden sich auch in Mt 6,24; Lk 11,33; 2Tim 2,4-6 – handelt es sich hier um Parabeln, die Unsinniges oder Unmögliches nennen (Berger 1984, 45 f.). Die Hörenden werden eingeladen, gedanklich zwei Situationen durchzuspielen, um durch Vergegenwärtigung der schädlichen Folgen die jeweils beschriebenen Handlungen als kontraproduktiv zu erkennen: Wer verursacht schon gern vermeidbare Verluste? Bei unsachgemäßer Behandlung wird im ersten Fall ein altes Gut (Mantel) unbrauchbar gemacht, im zweiten Fall ein neues (Wein) und ein altes (Schläuche) zugleich. Die nahe liegende positive Folgerung, zueinander Passendes zusammenzubringen, wird in V. 22c ausdrücklich artikuliert.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Mantel, Wein und Weinschlauch sind Gegenstände, die im antiken Mittelmeerraum der Sicherung der Grundbedürfnisse (Leutzsch 2005, 10-13) Kleidung und Nahrung dienen. Das m€tion (himation), ein den ganzen Körper bedeckendes Obergewand, gab es status- und funktionsbezogen in verschiedenen Ausführungen (Krauss 1910, 167-172; Dalman 1937, 248-251.323; Ben-David 1974, 310 f.; Hamel 1989, 60-62; Kolb 1973). Die einheimische jüdische Textilproduktion war in geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung überwiegend so aufgeteilt, dass Spinnen als weibliche, Weben (auch Mantelweben) als männliche Domäne galt (Peskowitz 1997, bes. 49-76; Hearon/Wire 2002; Krauss 1910, 148-153; Archer 1990, 226-229; Z. Safrai 1994, 192-202; Philo anim. 18). Auf den eigenen Haushalt beschränkt war Walken eine überwiegend weibliche, als Erwerbstätigkeit eine überwiegend männliche Tätigkeit (Krauss 1910, 153.155; Leutzsch 1998, 496 Anm. 464). Der Mantel diente zur Verhüllung des Körpers und zur Wärmung des Leibes (auch in der Nacht). Er war das letzte Kleidungsstück, das man hergab (eher teilten sich zwei einen Mantel, indem sie ihn abwechselnd nutzten, mBB 1,6; Krauss 1910, 134), und auch dann nur in äußerster materieller Not oder in extremer Notlage (Lk 6,29; Mt 24,18). In Israel konnte der Mantel zwar gepfändet werden, musste aber den Bettelarmen zeitweise zur Nutzung überlassen werden (Ex 22,25 f.; Dtn 24,12 f.; Sifre Dtn § 277; MidrTan B Mischpatim § 9). Der Mantel wurde – wie Kleidung überhaupt – wertgeschätzt (Kraus 1910, 129 f.) und fungierte auch als Statussymbol (Leutzsch 2005, 1822). Weite Teile der Bevölkerung trugen und reparierten ihre Kleidung, solange es ging (Hamel 1989, 65-67.72 f.; zum Flicken: Dalman 1937, 183 f.). Nichts wurde ohne Grund weggeworfen, und noch das Weggeworfene fand Verwertung (MacMullen 2 1976, 14). Wein gehörte zusammen mit Getreide und Öl zu den drei landwirtschaftlichen Haupterzeugnissen des antiken jüdischen Palästina (Krauss 1911, 227-244; Dalman 1935, 291-413; Ben-David 1974, 107-111; Z. Safrai 1994, Reg. sv wine; Albright 1980). Mit Wasser vermischt getrunken, befriedigte Wein zusammen mit Brot und Öl das Grundbedürfnis der Nahrung (Hamel 1989, 22). Wein wurde außer in Krügen auch in Schläuchen aufbewahrt und transportiert (Wetstenius 1751, 360 f.; Dalman 1942, 245). Für den ungegorenen jungen Wein mussten sie neu und haltbar sein. Neuer Wein stammte vom laufenden Jahr, bereits der vorjährige wurde als alt bezeichnet (Dalman 1935, 372). In Wertschätzung und Geschmack wurde alter Wein dem neuen vorgezogen 274

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Was passt und was nicht Mk 2,21 f.

(Sir 9,10; Wetstenius 1751, 689 f.; dort zu korrigieren: Pind. O. 9,48 f. [dazu Caduff 1986, 80 f.]). Wie für die Reparatur des Mantels gilt auch für die geeignete Aufbewahrung des Weins die Sorgsamkeit im Umgang mit den knappen Ressourcen: Antike Wirtschaft war Subsistenzwirtschaft; die erreichbaren und vorstellbaren Güter galten als begrenzt (Leutzsch 1996, 24). Was vorhanden war, durfte daher nicht unnötig vergeudet werden, weder von Ansässigen noch von Menschen unterwegs (auf Reisende bezieht die in Mk 2,21 f. benannten Realien Ebner 1998, 208-211).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Die Vielfalt der Metaphorik und Symbolik des Gewandes (A. Kehl 1978), des Weins (Freude, Zorn, Lehre) und des Schlauchs (Hi 13,28 LXX) ist zu unspezifisch, um als relevanter Bedeutungshintergrund für die beiden Parabeln benannt zu werden. Abstrakt gesprochen, geht es in beiden Fällen um Prozeduren und Folgen des Zusammenbringens von nicht Zusammenpassendem. Das widerspricht einem grundlegenden Prinzip des Denkens, Wertens und Handelns in antiken Gesellschaften, wonach Gleiches zu Gleichem, Passendes zu Passendem gehört oder gehören soll. Im antiken Griechenland findet sich das Prinzip »Gleiches zu Gleichem« in Erkenntnistheorie und Naturphilosophie, Ernährungslehre und Medizin, Politik und Freundschaftsethik (C. W. Müller 1965; Leutzsch 1998, 462 Anm. 242) und im Recht (zur Talion vgl. Mühl 2 1963, 45-51.110-112). In der biblischen Welt begegnet »Gleiches zu Gleichem« weisheitlich als Ratschlag und Erfahrungsmitteilung, als Erwartungshorizont für Tun und Ergehen (Freuling 2004; z. B. Mk 4,24 f.; Mt 5,7; 6,12) und in der Justiz (Daube 1947).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Für das Verständnis von Mk 2,21 f. ist entscheidend, dass es sich um den Teil einer Antwort auf eine bestimmte Frage handelt. Die Frage (V. 18) bezieht sich auf einen Unterschied in der Frömmigkeitspraxis dreier jüdischer Gruppierungen. Die Entscheidung, die der jeweiligen Frömmigkeitspraxis zugrunde liegt, ist bereits gefallen. Gefragt wird nach der Begründung. Anders als in der anschließenden Debatte V. 23-28 erfolgt die Begründung nicht durch Bezugnahme auf die Schrift, sondern – wie unmittelbar zuvor in V. 13-15 – durch Evidenz heischende bildliche Rede. Das hier in Rede stehende Fasten bezieht sich nicht auf eine (von der Tora nur für den Versöhnungstag vorgeschriebene) kollektive oder auf eine individuelle Verhaltenserwartung. Es geht um ein für bestimmte religiöse Gruppenidentitäten (Täuferkreis, pharisäische Bewegung) wichtiges Ritual. Gegenüber bis heute dominierenden Auslegungsrichtungen betone ich (unter Aufnahme der Kritik von Schellong 1985; auch Flusser 1987): Die Praxis der beiden in V. 18 genannten beiden Gruppierungen ist nicht generalisierend mit dem Judentum zur Zeit Jesu gleichzusetzen, wie auch Jesu Antwort schon aus historischen Gründen nicht die Position »des« (weder zur Zeit Jesu noch zur Zeit des Mk dem Judentum gegenüberstehenden) »Christentums« formulieren kann. Und – das Nicht-Fasten der AnhängerInnen Jesu kann nicht als eine Abgrenzung oder Überwindung von traditioneller jüdischer Frömmigkeitspraxis verstanden werden: Die 275

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Parabeln im Markusevangelium

Täuferbewegung war erst kurz vor der Jesusbewegung entstanden. Angesichts der Vielzahl religiöser Lebensentwürfe im Judentum des ersten Jahrhunderts kann auch die pharisäische Position nicht verallgemeinert werden (Alexander 1983, 245 mit Anm. 11). Die Voraussetzungen der gängigen Auslegung – dass Jesu Wirksamkeit in den Evangelien in der Kategorie des Neuen verstanden werden solle, dass das Neue das Höherwertige sei und dass es zur Abgrenzung diene – scheitern daran, dass in V. 21 das Alte, in V. 22 das Neue und das Alte bewahrt werden sollen. Das bedeutet, »daß der Gegensatz von neu und alt zum immanenten Bestand der Beispiele gehört und nicht zur externen Nutzanwendung« (Schellong 1985, 114). Die Pointe ist: »Chaque chose à sa place« (Schellong 1985, 113). Für die SchülerInnen Jesu (im Blick in V. 19 f.) geht es um die rechte Zeit des Fastens oder Nicht-Fastens, und die ist von der Ab- oder Anwesenheit des »Bräutigams« abhängig.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Mk 2,21 f. war eine Antwort an Angehörige der Täufer- und der pharisäischen Bewegung. Im Mt (9,14) befragen JohannesschülerInnen Jesus. Im Lk (5,33) ist das Subjekt der Frage nicht genannt, ein Rückbezug auf die PharisäerInnen und ihre Schriftgelehrten (Lk 5,30) möglich. Diese Differenz hat die Auslegung seit der Antike beschäftigt (Cremer 1970). Die Bergrede (Mt 6,16-18) setzt voraus, dass deren AdressatInnen fasten. Schon von daher ist Mt 9,16 f. nicht als grundsätzliche Absage an eine Fastenpraxis zu verstehen. Wie in Mk 2,21 f. wird zueinander Passendes auf die Zeit des Fastens bzw. Nicht-Fastens bezogen. Im Kontext des gesamten Mt gibt es eine weitere Zusammenstellung von Altem und Neuem (als Materialbasis des der Jesusbewegung angehörenden Schriftgelehrten) in Mt 13,52 (I. H. Jones 1995, 367 Anm. 68). Mk 2,21 f. und Mt 9,16 f. schließen unmittelbar an das Bildwort von der Hochzeit an, Lk 5,36 bringt einen Neueinsatz innerhalb der Antwort Jesu: Lk 5,36-39: (36) Er sagte eine Parabel zu ihnen: Niemand näht Stücke von einem neuen Mantel auf einen alten Mantel; sonst zerschneidet er ja den neuen und der Flicken vom neuen Mantel wird zum alten nicht passen. (37) Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der neue Wein ja die Schläuche sprengen, und er fließt heraus, und die Schläuche werden ruiniert. (38) Sondern neuer Wein ist in neue Schläuche zu füllen. (39) Und niemand, der alten trinkt, will neuen. Es heißt ja [oder: Denn er sagt]: Der alte ist gut. In V. 36 wird eine andere Form absurden Verhaltens beschrieben als bei Mk und Mt: Nicht nur ein Mantel, sondern zwei werden zerstört, wenn aus einem Kleidungsstück ein Flicken erst herausgeschnitten wird. V. 39 artikuliert über Mk und Mt hinaus in Übereinstimmung mit antiken Geschmacksurteilen (Dupont 1963) eine ausdrücklich höhere Wertung des alten Weins. In EvThom 47 (dazu Schrage 1964, 109-116) sind konkrete AdressatInnen Jesu nicht genannt; vom gesamten EvThom her liegen die SchülerInnen als Hörende nahe. Das Jesuswort ist hier abgekoppelt von der Frage nach der Fastenpraxis. Es beginnt mit zwei Feststellungen von Unmöglichem (die zweite ist eine Parallele zu Mt 6,24 / Lk 16,13) und fährt dann fort: 276

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Was passt und was nicht Mk 2,21 f.

EvThom 47,3-5: (3) Niemand trinkt alten Wein und hat gleich darauf Lust, neuen Wein zu trinken. (4) Neuer Wein wird nicht in alte Schläuche gefüllt, damit sie nicht bersten. Auch wird alter Wein nicht in einen neuen Schlauch gefüllt, um ihn nicht zu ruinieren. (5) Ein alter Flicken wird nicht auf ein neues Kleidungsstück genäht – ein Riss würde entstehen. Im NT ist Mk 2,21 f. parr. Teil einer innerjüdischen Debatte. In der christlichen Auslegung dominieren seit dem zweiten Jahrhundert Auslegungen, die insbesondere das (zum Sprichwort gewordene; Schulze [Hg.] 1860, 143) Wein-Schlauch-Wort als Kontrast zwischen Christentum und Judentum umdeuten (Material bei Cremer 1967): Das »Alte« wird auf das Alte Testament, die Synagoge, das Gesetz bezogen, das »Neue« auf das Evangelium, die Kirche, den Glauben (Markion laut Tert. Marc. 3,15; Späteres bei Fonck 3 1909, 262). Daneben gibt es seit dem Ende des vierten Jahrhunderts die Deutung, dass die mit dem alten Wein und den alten Schläuchen gleichgesetzten Schüler Christi das von ihnen im neuen Bund erwartete Fasten jetzt, zu Beginn der Nachfolge, noch nicht ertragen (Chrys. hom. in Mt 30,4; Späteres bei Fonck 3 1909, 262). Abgekoppelt von der Fastenfrage, wird seit dem 19. Jahrhundert unter Rückgriff auf Mk 2,21 f. das Christentum mit dem Neuen identifiziert und dem Judentum als dem Alten gegenübergestellt (Fichte 1971, 535; Hegel 1978, 389) und das Neue als Revolution gedeutet (Heine 1976, 598; Marx/Engels 1977, 229; Gutzkow 1875, 335; Levinas 1998, 22). Dabei steht die im 18. Jahrhundert aufkommende Konstruktion Jesu als eines politischen oder kulturellen Revolutionärs im Hintergrund. Sören Kierkegaard lässt einen Geistlichen fragen, wozu Jesus davon rede, »daß man keinen neuen Flicken auf ein altes Kleid setzen kann, ein Wort, das immer das Feldgeschrei jeder Revolution ist, denn darin liegt ja, daß man das Bestehende nicht anerkennen will, sondern daß man es weghaben will, statt sich dem Bestehenden anzuschließen, und es zu verbessern, wenn man ein Reformator ist, oder es zu seiner höchsten Entwicklung zu bringen, wenn man der Verheißene ist« (Kierkegaard 1977, 85). Eine Kritik an der dominierenden Deutungstradition impliziert Hermann Hesse, wenn er in einer Gegenüberstellung von Theologie als Wissenschaft und Theologie als Kunst formuliert: »immer haben die Wissenschaftlichen über den neuen Schläuchen den alten Wein versäumt« (Hesse 1970, 43).

Martin Leutzsch Literatur zum Weiterlesen D. Flusser, Mögen Sie etwa lieber neuen Wein?, in: ders., Entdeckungen im Neuen Testament 1: Jesusworte und ihre Überlieferung, Neukirchen-Vluyn 1987, 108-114. D. Schellong, Was heißt: »Neuer Wein in neue Schläuche«?, Einwürfe 2 (1985), 112-125.

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Zoff bei Beelzebuls (Beelzebulgleichnis) Mk 3,22-26 (Q 11,14-20 / Mt 12,22-28 / Lk 11,14-20) (22) Und die schriftkundigen Leute, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: »Den Beelzebul hat er.« Und: »Mit dem Dämonengebieter wirft er die dämonischen Mächte hinaus.« (23) Da rief er sie zu sich und redete in Parabeln zu ihnen: »Wie kann der Satan den Satan hinauswerfen? (24) Wenn königliche Gewalt sich in sich spaltet, dann kann diese königliche Gewalt nicht fortbestehen. (25) Und wenn eine Hausgemeinschaft sich in sich spaltet, dann wird sie nicht fortbestehen können, diese Hausgemeinschaft. (26) Und wenn der Satan gegen sich selbst vorgeht und sich so spaltet, dann kann er nicht fortbestehen, sondern es hat ein Ende mit ihm.«

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die traditionell so genannte Beelzebulkontroverse gehört zu einem Textabschnitt, der knapp die Hälfte des dritten Kapitels im Markusevangelium umfasst (Mk 3,20-35). Seine Einheit verleiht ihm die markinische Redaktion durch den Ort: Jesus befindet sich im Haus. Zuvor hatte er auf einem Berg den Kreis der Zwölf zusammengestellt (Mk 3,1319) und anschließend lehrt er am Meer Parabeln von der Gottesherrschaft (Mk 4,1 ff.). Die Situation im Haus (Mk 3,20-35) ist davon geprägt, dass drei verschiedene Gruppen von Menschen Jesus aufsuchen. Nach dem Gesetz der wachsenden Glieder wird jede folgende Gruppe detaillierter und ausführlicher charakterisiert als die vorausgehende. Zunächst strömt »das Volk« zu ihm und verunmöglicht es »ihnen« – also wohl Jesus und den soeben zusammengestellten Zwölfen – zu essen (3,20). Mehr wird über diese Menschen nicht berichtet, kein Anliegen ihres Kommens genannt, keine Herkunft erwähnt. Sodann machen sich seine Angehörigen auf, weil ihnen etwas zu Ohren gekommen ist. Von ihnen wird weder der Verwandtschaftsgrad konkretisiert, noch von wo sie kommen, noch was genau ihnen berichtet wurde, wohl aber finden ihre Absicht und die ihr zu Grunde liegende Motivation Erwähnung: Sie wollen Jesus aus dem Verkehr ziehen, weil sie überzeugt sind, er sei übergeschnappt (3,21). Eine dritte Gruppe sind Menschen aus den Reihen der Schriftgelehrten, die aus Jerusalem herabgekommen waren. Wie seine Angehörigen haben auch sie eine Interpretation der Person und des Handelns Jesu parat, ihrem Stand gemäß jedoch keine alltäglich-pragmatische wie jene, sondern eine theologisch-spirituelle. Diese wird in zwei Varianten präsentiert, zum einen: Den Beelzebul habe er! Und zum anderen: Seine Exorzismen geschähen in der Kraft des Dämonenobersten (3,22). Diese Deutung ist für Jesus der Anlass, um »sie« zu sich zu rufen und in Gestalt von Parabeln »zu ihnen« zu sprechen. Der Lehrgegenstand umfasst drei Teile: erstens die Doppelparabel von der notwendigen Einheit jeder Herrschaft samt einleitender Frage und anschließender Anwendung auf den Satan (3,23-26), zweitens die Parabel vom Einbruch in das Haus des Starken (3,27; siehe dazu die Auslegung von A. Merz im Anschluss) und drittens das Wort von der Unverzeihlichkeit von Schmähworten gegen den Heiligen Geist (3,28-29). Der Anlass für gerade diesen Lehrgegenstand wird den 278

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Zoff bei Beelzebuls Mk 3,22-26

Rezipientinnen und Rezipienten des Textes noch einmal in Erinnerung gerufen: Jesus war bezichtigt worden, einen »unreinen Geist« zu haben. An diese Deutungshilfe für das Wirken Jesu schließt sich eine Szene mit den Familienangehörigen an. Damit wird zum einen – in typisch markinischer Schachteltechnik (Inklusion, sandwich arrangement) – die in Vers 21 begonnene Erzählung vom Aufbruch der »Seinen« fortgeführt, zum anderen klingt auch das Thema der Hausgemeinschaft (und deren Einheit) aus dem Parabelwort in Vers 25 wieder an. Die »Seinen«, mittlerweile angekommen, werden jetzt auch identifiziert: Jesu Mutter und Brüder stehen vor »dem Haus« und lassen Jesus bestellen, er möge doch zu ihnen kommen. Auf diese Nachricht hin erklärt Jesus diejenigen zu seiner Mutter, seinen Brüdern und Schwestern, die den Willen Gottes tun (Mk 3,31-35). Durch die markinische Positionierung dieser Passage in unmittelbarer Folge auf das Beelzebulgespräch scheint sich die dort enthaltene allgemeine Regel von der Auflösung der in sich nicht einigen Sozialstruktur Familie (Mk 3,25b) an Jesu eigener Familie exemplarisch zu bewahrheiten. Durch mehrere Elemente ist die »Haus«perikope im Makrokontext verankert. Der ausdrückliche Vermerk, dass die Menge »erneut« (p€lin palin) zusammenströmt (Mk 3,20), verweist auf ähnliche Bemerkungen in den vorausgehenden Kapiteln (etwa Mk 1,32.37.45, 2,2.13, 3,7-8). Die Thematik des Exorzismus wird von Menschen aus der Gruppe der Schriftgelehrten aufs Tapet gebracht, ohne dass ein aktueller Anlass dazu gegeben wäre. Auch hier wird also auf die schon berichtete Tätigkeit Jesu Bezug genommen. So gehört Mk 3,20-35 in den Gesamtzusammenhang der Wirksamkeit Jesu in Galiläa, die insgesamt unter der summarischen Botschaft steht, dass die Gottesherrschaft angebrochen sei (1,15), ein Thema, das im vierten Kapitel in Parabellehrstücken entfaltet wird (siehe 4,11.26.30). Die besondere Funktion der deutlich von markinischer Redaktion geprägten »Haus«perikope (dazu Laufen 1978, 149-155; Wanke 1981, 88 f.; Pesch 2 1989, 209 f. allerdings schmälert den redaktionellen Anteil des Markus) auf diesem Hintergrund ist die paradigmatische Darstellung verschiedener Reaktionen auf Jesu Wirken anhand verschiedener Personenkreise. Somit gehört der Abschnitt zu einem der konzeptionellen Schwerpunkte des Markusevangeliums, nämlich der Frage nach der Identität und Deutung der Person Jesu, die an Anfang, Mitte und Schluss der Schrift eine Antwort erhält: Bei der Taufe Jesu spricht ihm eine Himmelsstimme zu: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir hab ich Wohlgefallen.« (Mk 1,11). Auf der Höhe des Evangeliums, kurz bevor in der zweiten Hälfte die Leidensthematik dominant wird, will Jesus wissen, wie die Menschen ihn sehen und was die Jünger von ihm glauben. Petrus entgegnet: »Du bist der Christus.« (sog. Petrusbekenntnis zu Caesarea Philippi Mk 8,29). Schließlich brechen unter dem Eindruck des Sterbens Jesu aus einem römischen Zenturio die Worte hervor: »Dieser Mensch war tatsächlich Gottessohn« (Mk 15,39). Die Doppelparabel von der uneinigen Königsgewalt und der uneinigen Hausgemeinschaft bildet den Auftakt der Belehrung Jesu »in Parabeln« aus Anlass der zweifach geäußerten Interpretation schriftgelehrter Menschen, er handle unter der Kontrolle des Beelzebul, des Dämonenherrschers (Mk 3,22). Ihr voraus geht nur die Frage Jesu, wie es denn möglich sei, dass der Satan den Satan hinauswerfe (Mk 3,23b). Jesus nimmt also keine der in den Deutungen vorgegebenen Bezeichnungen für den Teufel (Beelzebul, Dämonenherrscher) auf, sondern führt eine neue Bezeichnung ein: Satan. Die Doppelparabel (Mk 3,24 f.), Antwort auf diese selbst gestellte Frage, besteht aus zwei völlig parallel konstruierten und formulierten Bedingungsgefügen. Die einzige lexikalische Variation 279

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Parabeln im Markusevangelium

besteht im Austausch von »Königsgewalt« gegen »Hausgemeinschaft« in der zweiten Periode, die geringe syntaktische Abwechslung besteht in der Vertauschung von Subjekt und Prädikat in der Apodosis sowie in der Verwendung des Futurs statt des Präsens. Ein drittes Bedingungsgefüge, in dem das Gesagte auf den Satan angewendet wird (Mk 3,26: »Und wenn der Satan …«) und das den Abschluss dieses ersten Teils der Jesusrede bildet, hebt sich deutlicher von den vorhergehenden beiden ab: Neben kleineren sprachlichen Variationen werden dem Satan – anders als der königlichen Gewalt und der Hausgemeinschaft – statt einer nun zwei Verbalhandlungen zugeordnet (»gegen sich selbst vorgeht und sich so spaltet«), und auch die Apodosis, nun wieder im Präsens, schließt an das übliche »dann kann er nicht fortbestehen« eine zweite, nicht negierte Verbalhandlung an (»… sondern es hat ein Ende mit ihm.«). Wiederum also wurde die rhetorische Figur angewendet, dass bei einer dreigliedrigen Reihe das letzte Glied am ausgedehntesten erscheint und die größte Variation zu den anderen beiden aufweist.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Mit o§kffla (oikia – Hausgemeinschaft) und basileffla (basileia – Königsherrschaft) sind zwei hierarchisch organisierte Gesellschaftsstrukturen als bildspendender Bereich gewählt. Als Achsen spannen sie das soziale Erfahrungsfeld der galiläischen Landbevölkerung zur Zeit Jesu auf. Die Struktur der o§kffla bildet den primären Referenzpunkt des Individuums, seinen Ort der Eingliederung in die Gesellschaft. Hier ist seine Lebens- und Arbeitssphäre (Guijarro 1997, 62; Moxnes 2003, 133). Guijarro 1997, 57-61 unterscheidet für das Galiläa des ersten Jahrhunderts verschiedene Arten von familiären Wohngemeinschaften. Einer dünnen Oberschicht – Josephus spricht von 70 Familien (Flav. Jos. vit. 14,79) – vorbehalten war die Form der large family, bei der neben Eltern und ledigen Kindern vielleicht auch noch bereits verheiratete Kinder sowie Bedienstete oder Sklaven auf demselben Anwesen wohnten. Die in Mk 6,21 genannten Vornehmen (megist”ne@ megistanes), höheren Militärs (cilfflarcoi chiliarchoi) und Angesehenen (prtoi pro¯toi) Galiläas gehören hierher. Einen zahlenmäßig größeren Anteil bildeten unterhalb dieser führenden Schicht die vor allem in Städten wie Kapernaum und Bethsaida vertretenen multiple families: Zwei oder mehr Ehepaare, meist in verwandtschaftlichem Verhältnis zueinander, mit ihren Kindern hatten zwar jeweils getrennte private Wohnräume, aber teilten sich Hof, Lagerräume u. Ä. eines Gebäudekomplexes (Wohninsel), oder auch Produktionsmittel wie die Olivenpresse oder das Fischerboot. Von Jesu Jüngern scheinen Petrus, Andreas, Jakobus, Johannes und Levi aus solchen Hausgemeinschaften zu stammen (Mk 1,18-20; 2,14). Darauf folgen familiäre Wohnverbände in ärmeren Häusern, für die man eine durchschnittliche Größe von etwa vier Personen veranschlagen darf. Diese Menschen haben, bedingt durch äußere Umstände, nicht die Möglichkeit engere familiäre Bindungen in Form eines Zusammenlebens zu unterhalten. (Guijarro 1997, 60). Ihre Wohnsituation kennzeichnet einen gesellschaftlich unterprivilegierten Status. Die o§kffla in der Parabel, für die es wichtig ist, sich nicht zu trennen, wird wahrscheinlich auf eine Großfamilie der ersten Kategorie zielen (Guijarro 2002, 71 will sie sogar in die Nähe einer königlichen Dynastie rücken.). Wie für eine agrarische Gesellschaft nicht anders zu erwarten, stellte Landbesitz die Quelle und Garantie für Wohlstand dar, es galt also 280

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Zoff bei Beelzebuls Mk 3,22-26

diesen zusammenzuhalten; in diesem Sinne war auch das traditionelle Erbrecht verfasst (Guijarro 1997, 43 f.). Sollte eine solche Familie aus irgendwelchen Gründen ihre Einheit verbüßen und Besitz aufteilen müssen, wäre das zumindest mit einem Statusverlust verbunden. Doch auch für Produktionsgemeinschaften wie sie unter den multiple families vorstellbar sind, etwa einer Gemeinschaft von im Fischfang Tätigen, gewährte Zusammenhalt und Einheit, das nötige Einkommen und somit die Existenz. basileffla (basileia – Königsherrschaft, Königreich) wird in Jesu Lebensumfeld konkret in der Kontrolle der Herodäerdynastie über den Lebensraum der Bauern und Fischer (Moxnes 2003, 133). Der Sprachgebrauch des Neuen Testaments nimmt wenig Rücksicht darauf, dass die Herrscher über die Gebiete, die aus der Teilung des Königsreiches Herodes’ des Großen (4 v. Chr.) entstanden waren (Flav. Jos Bell. 2,94-98 bzw. Flav. Jos. Ant. 17,317-321), nicht alle den Königstitel trugen, so wird etwa Archelaos, der Ethnarch von Judäa, Samaria und Idumäa (4 v. Chr. bis 6 n. Chr.) in Mt 2,22 ebenso basileÐ@ (basileus – König) genannt wie Herodes Antipas, der Tetrarch von Galiläa und Peräa (4 v. Chr. bis 39 n. Chr.) in Mk 6,14.22 ff. In einem Überlieferungsstadium vor Markus konnten also den Rezipientinnen und Rezipienten der Parabel bei »basileffla« Fürstentümer und Königreiche wie die Tetrarchien der Herodäer oder auch das benachbarte Reich der Nabatäer vor Augen stehen. Für die Leserinnen und Leser des Markusevangeliums vermutet Theißen 2 1992, 273, dass sie mit der in sich zerstrittenen basileffla wohl das gegen Ende der 60er Jahre des ersten Jahrhunderts in den Wirren um die Nachfolge Neros von Bürgerkriegen überzogene Römische Reich assoziierten. Sowohl o§kffla als auch basileffla sind nicht nur Bezeichnungen für eine soziale Struktur, sondern auch für eine räumlich-geographische Größe. So meint o§kffla das Haus und basileffla das Königreich. Zumindest für die Q-Variante und in deren Gefolge auch für Lukas und Matthäus dürfte die lokale Deutung sogar im Vordergrund stehen. Von Q wird nämlich die Konsequenz der Uneinigkeit einer basileffla nicht mit »keinen Bestand haben«, sondern mit »verwüstet werden« (¥rhmo‰sqai ere¯mousthai) angegeben, was mehr geographische Assoziationen weckt denn an eine Sozialstruktur denken lässt. Lukas beschreibt auch die Folgen für die o§kffla als die für ein Gebäude (Eckey 2004b, 527): Ein Haus fällt auf das andere (Lk 11,17b; Anschauungsmaterial dafür findet sich etwa bei Josephus, der beschreibt, wie in Gamla während des jüdischen Krieges 66 n. Chr. tatsächlich Häuser aufeinandergestürzt sind, siehe Flav. Jos. Bell. 4,23 f., Klein 2006, 415). Während Lukas also offensichtlich in konkret-räumlichen Kategorien denkt, scheint bei Markus die Sozialstruktur zu dominieren.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Geschichtliche Kenntnisse dürften nicht für die Verständlichkeit eines Gleichnisses erfordert werden, schrieb Jülicher mit lesbarer Empörung (Jülicher II 2 1910, 224). Gleichwohl speisen sich Bilder und Bildfelder aus Traditionen, so dass den Rezipientinnen und Rezipienten beim Lesen oder Hören eines Bildes Anschauungsmaterial aus diesen Traditionen vor Augen stehen kann. Was die Koppelung von Zwist im Inneren einer Dynastie oder eines Reiches mit der Konsequenz des Nichtfortbestehens betrifft, so mögen Jesus und den ersten Tradentinnen und Tradenten noch die Wirren um die Thronstreitigkeiten nach dem Tode Herodes’ des Großen (4 v. Chr.) gegenwärtig gewesen sein. Die Darstel281

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Parabeln im Markusevangelium

lung des Josephus liest sich jedenfalls wie eine Illustration des Wortes von der Uneinigkeit: In Rom melden verschiedene Dynastiemitglieder Anspruch auf den Thron des Herodes an, während in Jerusalem, Galiläa und Peräa sich einzelne Figuren zum König erheben; es gibt Unruhen in der Bevölkerung, und Judäa sendet eine Delegation nach Rom mit dem Ansinnen, doch lieber mit Syrien vereint und durch römische Prokuratoren regiert zu werden als weiterhin unter der Herodäerfamilie zu leiden (Flav. Jos. Bell. 2,192). Zumindest die Ethnarchie des Archelaos hatte dann auch keinen Bestand; nach nicht einmal neun Jahren im Amt wurde er verbannt und sein Vermögen ging in den Besitz des Kaisers über (Flav. Jos. Bell. 2,111). Auch Ereignisse in den 30er Jahren des ersten Jahrhunderts liefern Anschauungsmaterial für die Uneinigkeit unter den Herodäern und deren Folgen. Nachdem Caligula Agrippa I., dem Nachfolger des Philippus, des Tetrarchen der Trachonitis im Nordosten, die Königswürde verliehen hatte, beantragte auch Herodes Antipas diese für sich, laut Josephus auf Betreiben seiner Frau Herodias, ein Streben, das ihm mit der Verbannung vergolten wurde und Agrippa I. eine Erweiterung seines Herrschaftsbereiches eintrug (Flav. Jos. Bell. 2,181-183). Die Vorstellung, dass einer in sich nicht geschlossenen Organisationsform kein Fortbestand beschieden sein kann, liegt auch dem divide-et-impera-Prinzip zu Grunde, das – unter anderem – römischer Außenpolitik als Leitmotiv unterstellt wird: Das Entzweien (dividere und merfflzein [merizein] sind synonym, bedeuten beide »teilen, trennen«) eines gegnerischen Machtblocks eröffnet die Möglichkeit eigener Herrschaftsausübung. Eine in dieses Muster in etwa passende Maßnahme wird von dem ab 57 v. Chr. für Judäa zuständigen Prokonsul Syriens Gabinius berichtet: Er reorganisierte – im Anschluss an einen Putschversuch Alexanders, eines Sohnes des Hasmonäers Aristobul II. – nach Flav. Jos. Bell. 1,169 f. die Verwaltung des ehemaligen Hasmonäerreiches im Sinne einer Dezentralisierung landeseigener Macht, indem er das Gebiet in fünf Distrikte unterteilte und so für Rom leichter kontrollierbar machte. In der Doppelparabel von o§kffla und basileffla selbst ist übrigens das impera-Prinzip lexikalisch nicht angesprochen, doch ruft die Aussicht auf ein Machtvakuum, nämlich wenn die basileffla nicht fortbesteht, unwillkürlich die Frage nach seiner Füllung auf. In der alttestamentlichen Tradition wird das Zerfallen eines Reiches unterschiedlich beurteilt. Während die Reichsteilung nach dem Tode Salomos als Strafe Gottes gewertet (1Kön 11,9-13) und die Vernichtung des Nordreiches durch die Assyrer auf den Zorn Gottes über die Sünde Israels zurückgeführt wird (2Kön 17,7-23), kann etwa bei Daniel das Auseinanderfallen eines Großreiches (etwa Dan 2,41, deutlicher aber 11,4) positiv konnotiert sein als ein Element in der Reihe der Ereignisse, die in Gottes Geschichtsplan begriffen sind. Ebenfalls in einer apokalyptischen Schrift, der wohl aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. stammenden Himmelfahrt des Mose, wird das Ende des Satans in einer Mk 2,26 (tfflo@ ˛cei [telos echei – es hat ein Ende mit ihm]) stark ähnelnden Formulierung für die Zeit angekündigt, wenn Gott seine Herrschaft über die gesamte Schöpfung aufrichtet: »Dann wird seine Herrschaft sich über seiner gesamten Schöpfung sehen lassen. Dann wird es mit dem Teufel ein Ende haben (finem habebit) und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen werden.« (AssMos 10,1). Die Entmachtung oder Vernichtung Satans und ihm zugeordneter Engel ist auch in anderen Texten apokalyptisch-jüdischer Tradition ein Element der Beschreibung der Heilszeit wie etwa in TestJud 25,3 (dazu Labahn 2001, 631).

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Zoff bei Beelzebuls Mk 3,22-26

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Wahl der Bilder im Bereich gesellschaftlicher Strukturen privilegierter Schichten – auch eine o§kffla zählt, wie gezeigt, solange sie noch intakt ist, nicht zu den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen – gibt Aufschluss über die ihr zu Grunde liegende Anthropologie, und die Einbettung der Doppelparabel in den Gesamtzusammenhang der Beelzebulkontroverse schafft exemplarisch Zugang zum Reden der synoptischen Tradition über Besessenheit und Exorzismen insgesamt. o§kffla und basileffla sind Sozialstrukturen. Können Dimensionen des Menschen mit o§kffla und basileffla verglichen werden, so liegt dem ein Menschenbild zu Grunde, nach dem der einzelne Abbild ist der vorfindlichen hierarchischen Gesellschaftsordnung: In seinem Innern gelten Machtstrukturen, die denen der Gesellschaft vergleichbar sind. Das Außergewöhnliche, Nonkonforme, Kranke, Eingeschränkte gilt dabei als durch schlechte Herrschaft hervorgerufen; denn es wird auf dämonische statt auf Gott zugeordnete Mächte zurückgeführt. Zumindest in der Sicht der Gesprächspartner geht es vielleicht sogar in besonderer Weise um aus der Fremde kommende Herrschaft, ist doch Beelzebul eine fremde Macht (zum Aspekt des Heidnischen in Beelzebul siehe Theißen 2003d, 183; Moxnes 2003, 132; Schröter 1997, 253 f.). Herrschaftswechsel, in diesem Falle das Verschwinden einer einen Menschen beherrschenden Gewalt, ist jeweils eine Frage der Macht. Macht kann nur durch eine Form von Macht beseitigt werden, und der Sturz einer Macht lässt zwangsläufig die Frage nach den Machtverhältnissen danach aufkommen. Darum wird im Kontext der Exorzismen Jesu die Machtfrage aufgeworfen, in Mk 3,22 in Form einer Ableitung der Macht Jesu von Beelzebul her, und darum muss für Exorzismen der Jünger diesen von Jesus auch ¥xousffla (exousia – oft als Vollmacht übersetzt) über die Dämonen verliehen werden (Mk 3,15; 6,7). Das Beseitigen der Herrschaftsstrukturen von Geistern, Dämonen und Satan bedeutet den Anbruch des Reiches Gottes (Labahn 2001, 631). Dies ist nicht nur von Q her explizit so dargestellt (Q 7,22 f., 10,9 und 11,20, vgl. Hüneburg 2001a, 644; J. N. Neumann 2005a, 74), sondern muss auch als Hintergrund zu Mk 3,22-26 gelesen werden, wie die Einbettung der Perikope in den Makrokontext des Beginns des Markusevangeliums zeigte. Wenn Markus am Ende der kurzen Argumentation über den Beelzebulvorwurf, pointiert und triumphierend, für den Fall, dass Satan in sich zerstritten ist, formuliert: »Dann hat es ein Ende mit ihm.« (Mk 3,26), verlässt er streng genommen das Ziel, die Unsinnigkeit ihrer Behauptung aufzuzeigen. Denn die müsste ja darauf hinauslaufen, dass Satan nicht in sich zerstritten sein kann. Doch dass Exorzismen das Ende der Macht Satans bedeuten, ist gemeinsame Überzeugung der synoptischen Tradition und wird bei Lukas explizit: Als die Siebzig in Lk 10,17 von ihrer Mission zurückkehren und voll Freude von Exorzismuserfolgen berichten (»Selbst die Dämonen sind uns in deinem Namen untertan.«), antwortet Jesus, er habe den Satan blitzartig vom Himmel fallen sehen (Lk 10,18), was nur eine andere Umschreibung seines Endes bedeutet. Wenn nun im Sinne des Markusevangeliums die eschatologische Befreiung vom Satan (AssMos 10,1; TestJud 25,3 s. o.) an die Gegenwart Jesu gebunden ist, die Zeit seines irdischen Daseins also als eine Vorwegnahme eschatologischen Heils, die Zeit von der Auferstehung bis zur Parusie aber als Zeit der Abwesenheit Jesu zu verstehen ist (du Toit 2006, 63 und 437 ff.), so liegt es auf der Linie des zweiten Evangelisten, bei der Auslegung der Beelzebulperikope auf alle noch nicht geschehene Befreiung, auf alle noch 283

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ausstehende Vernichtung des den einzelnen Menschen und die Menschheit insgesamt beherrschenden und isolierenden Unheils und noch existenter teuflischer Machtstrukturen hinzuweisen. Auf der Ebene des einzelnen Menschen gehören hierher alle den oder die Betroffene(n) selbst oder seine bzw. ihre Umwelt schädigenden Zwänge und Obsessionen, auf der globalen Ebene alle menschenfeindlichen Formen der Machtausübung von der Instrumentalisierung von Kindern, aber auch Erwachsenen zum Töten im Namen von Ideologien oder Religionen, über die das Individuum knechtende Kontrolle durch totalitäre Herrschaftsformen bis zur Vernichtung menschlichen Lebensraumes aus individueller oder als im allgemeinen Interesse erfolgend sanktionierter Profitgier, womöglich euphemisierend kaschiert als »Förderung der Wirtschaft«. Die Beschreibung als Besessenheit, d. h. als Ausgeliefertsein an eine Macht, als Verlust der Selbstkontrolle, der Selbstbestimmung, offenbart die Perspektive und Herkunft dieser Art Krankheitsbeschreibung. Es ist die Sicht von Schichten, die sich gegenüber der herrschenden Klasse machtlos fühlen, ausgeliefert, eingeschränkt, gehindert eine Rolle von Bedeutung in der Gesellschaft zu übernehmen. Sozialanthropologische Studien haben eine deutliche Verbindung zwischen »Besessenheit« als Deutungsmuster und gespannter gesellschaftlicher Situation herausgearbeitet – etwa in Gestalt von »Klassengegensätzen aufgrund wirtschaftlicher Ausbeutung, oder Konflikten zwischen Traditionen, die schleichend ausgehöhlt werden, kolonialer Unterwerfung und revolutionären Bestrebungen« (Guijarro 2002, 68; siehe auch Moxnes 2003, 139; für Kritik an dieser Deutung als »reduktionistisch« und einen Verstehensansatz von Besessenheit als Performanz siehe C. Strecker 2002, 57 ff.). Die Beschreibung von Krankheit als schlechte Herrschaft kann entsprechend als eine dem Individuum zwar nicht bewusste, gleichwohl aber bedeutungsvolle Äußerungsform des Protestes gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse gedeutet werden. Die Kennzeichnung des Auffälligen, Außergewöhnlichen, nicht Normgerechten als Besessenheit lässt sich aber auch als Instrument anwenden. Die Führungsschicht einer Gesellschaft kann sich dieser Etikettierung bedienen, um soziale Kontrolle auszuüben: Jemanden als besessen zu etikettieren bedeutet ihn zu marginalisieren, ihm einen Platz außerhalb des Zentrums, des Normalen anzuweisen (Guijarro 2002, 69). Ein Exorzismus bedeutet in dieser Situation das Entwinden dieses Mittels aus den Händen der herrschenden Schicht, und ist somit ein revolutionärer Akt, der zu Verunsicherung und Angst vor dem Exorzisten führen muss, weil er die zugewiesenen Plätze in der Gesellschaft durcheinander bringt (Guijarro 2002, 68-70). Von daher lässt es sich verstehen, wenn die Aufmerksamkeit des Herodes Antipas offenbar gerade durch Exorzismen auf Jesus gelenkt wird (Lk 13,31-33). Vielleicht darf man dasselbe Phänomen auch Trägern religiöser Macht zuschreiben: Die kritische Einordnung Jesu geht bei Markus und Matthäus von Schriftkundigen bzw. von Mitgliedern der pharisäischen Schule aus. Auf die Person Jesu bezogen ist die Kontroverse »Gott oder Beelzebul« die Frage nach dem Deutungshorizont seines Handelns. Jesu Exorzismen, die sich offenbar am Rande der Norm sonstiger Exorzismuserfahrungen bewegten, verlangten eine Einordnung des Phänomens in die Erlebenswelt, eine Bewertung und dadurch Kontrolle. Damit verbunden war zwangsläufig wahlweise die Integration oder Marginalisierung Jesu. Der Versuch der Gegner, ihn und sein Tun Beelzebul zuzuordnen, ihn also negativ zu etikettieren, ist ein Versuch, seinem Handeln die Legitimität abzusprechen, ihn zu stigmatisieren und auszugrenzen. Jesu Ablehnung ihrer Argumentation ist als Weigerung zu ver284

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Zoff bei Beelzebuls Mk 3,22-26

stehen, diese Rollenattribution zu akzeptieren. Seine bei Markus in der vorliegenden Perikope implizite, bei Q und den anderen Synoptikern aber explizite Selbstzuordnung zum Wirken Gottes, also einer anerkannt positiven Herrschaftsstruktur, bedeutet nicht weniger als die Forderung nach Akzeptanz seines Tuns, nach der Zuerkennung von Integration in die als gut beurteilte Sphäre (zur Anwendung der Labelling-Theorie auf Mk 3,22-26 vgl. Guijarro 2002, 64 f.; Malina/Rohrbaugh 1992, 199-201).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Betrachtung der Textstruktur von Mk 3,20-26 in sich, im unmittelbaren Kontext und auf der Ebene des Markusevangeliums hat zur Feststellung umfassender markinischer Redaktionsarbeit geführt, die verschiedene Reaktionen auf Jesus und zwei Entgegnungen Jesu darauf zu einer »Haus«perikope vereinigte (3,20-35). Der synoptische Vergleich fördert Kongruenzen zwischen Matthäus (12,22 ff.) und Lukas (11,14 ff.) gegen Markus zu Tage, die sich leichter als gemeinsamer Rückgriff auf Q als auf unabhängige Parallelgestaltung plausibel machen lassen: Beide schließen den Beelzebulvorwurf und das Doppelwort vom Nichtbestand des in sich nicht Einigen an die Heilung eines Stummen an (Mt 12,22 f., Lk 11,14) – bei Matthäus ist er im Unterschied zu seiner zweiten Aufnahme desselben Q-Bestandes in 9,32-34 blind und stumm. Auf den Vorwurf folgt hier wie dort als Übergang zur Selbstverteidigung Jesu die Bemerkung, Jesus habe von diesen Beschuldigungen gewusst (Mt 12,25a, Lk 11,17a). Übereinstimmend führen Matthäus und Lukas vor der Parabel vom Einbruch beim Starken die Rückfrage Jesu nach der Bevollmächtigung von Exorzisten aus den Reihen derer, die ihn hinterfragen (»eure Söhne«, Mt 12,27, Lk 11,19), gefolgt von der Deutung der Dämonenvertreibung unter der Autorität Gottes als Ankunft des Gottesreiches (Lk 11,20: »Wenn ich die Dämonen mit dem Finger [Mt 12,28: Geist] Gottes austreibe, dann ist die Gottesherrschaft bereits zu euch gelangt.« Dieses Logion wird meist dem historischen Jesus zugeschrieben; um den Nachweis des Gegenteils bemüht sich Räisänen 1996). Schließlich fügen beide an die Parabel vom Starken dasselbe Logion an: »Wer nicht mit mir ist, ist wider mich …« (Für eine eingehende Analyse des jeweiligen Argumentationsaufbaus aus dem Blickwinkel antiker Rhetorik siehe Robbins 1989). All dies führt – im Verband mit kleineren Beobachtungen (sehr übersichtlich dargestellt bei Schröter 1997, 240-246) meist zum Postulat einer Q-Variante des Doppelwortes (so etwa Gnilka 1998, 145; eine alternative Interpretation des Befundes bietet A. Fuchs 1980: Matthäus und Lukas habe eine Fassung des Markusevangeliums vorgelegen, in die bereits Q-Material eingearbeitet gewesen sei und die von Fuchs als Deuteromarkus bezeichnet wird). Ob die Vorlage des Markus noch dichter bei der Q-Version war, ob er beispielsweise die vorausgehende Heilungsgeschichte selbst getilgt hat (so etwa Trocmé 2000, 104) oder das Beelzebulgespräch auch ohne Heilungsgeschichte im Umlauf war, kann nicht mehr mit Sicherheit entschieden werden. Eine unterschiedliche Gewichtung der Q-Variante im Vergleich zur markinischen Version der Beelzebulkontroverse stellt die bereits erwähnte deutlichere Textgestaltung in Richtung einer räumlichen Deutung von o§kffla und basileffla dar (die vor allem die Untersuchung Moxnes’ von 2003 nachhaltig geprägt hat). Als ein Indiz dafür kann das Verb ¥rhmo‰sqai (ere¯mousthai, verwüstet werden) gesehen werden. Vielleicht unterstützt durch den auch anderweitig bezeugten Gebrauch dieses Verbs zur Beschreibung der Folgen 285

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Parabeln im Markusevangelium

bürgerkriegsähnlicher Situationen (so deutet Schröter 1997, 255 Apk 18,17.19 und Philo, decal. 152), vor allem aber durch die lukanische Variante aufeinanderfallender Häuser (Lk 11,17, noch nicht in Q, hier dürfte Matthäus näher an seiner Vorlage sein) sehen viele Kommentatoren wenigstens bei Lukas, manche auch schon in Q, in der Parabel nicht den Verweis auf eine in sich zerstrittene Dynastie, sondern auf ein in sich zerklüftetes monarchisches Gemeinwesen, wo ganze Bevölkerungsgruppen in kriegerische Aktivitäten gegeneinander verflochten sind (so schon Jülicher II 2 1910, 228; ferner Eckey 2004b, 530). Auffallend unterschiedlich ist auch die Gruppe derer, die den Beelzebulvorwurf gegen Jesus aussprechen. Bei Markus gehörten sie zur Partei der in der Schrift Gelehrten, bei Matthäus sind es Pharisäer, bei Lukas nicht näher bezeichnete Personen aus dem Volk. Alle drei Varianten können auf der Ebene des jeweiligen Evangeliums als redaktionell plausibel gemacht werden; die meisten sehen freilich in der »neutralen« Formulierung des Lukas die sprachliche Gestaltung von Q aufgenommen (so etwa Laufen 1978, 127.131 und Wanke 1981, 52; anders aber: Schröter 1997, 248 f., er denkt, dass ausnahmsweise die Pharisäer nicht matthäischer Redaktion zuzuschreiben sind). Statt dem Paar o§kffla und basileffla bietet Matthäus den Dreischritt o§kffla, pli@ (polis – Stadt) und basileffla, was sich auf der einen Seite gut zu einer Reihe zunehmend größerer räumlicher Manifestationen von Sozialstrukturen fügt, allerdings dann die widergespiegelte Lebenswirklichkeit von der Landbevölkerung eher auf das Kleinstadtmilieu Palästinas verschiebt und mit pli@ eine weniger monarchische Organisationsform aufnimmt (so Jülicher II 2 1910, 221, der pli@ für eine matthäische Erweiterung hält; eine Aufnahme der originalen Textgestaltung durch Matthäus sehen hier Guijarro 2002, 65 und Eckey 2004b, 527). Während Markus die Verteidigung Jesu auf die Doppelparabel von o§kffla und basileffla, die Parabel von der Bindung des Starken sowie das Wort von der Unvergebbarkeit der Sünde wider den Heiligen Geist beschränkt, hat schon Q – und im Anschluss daran dann sowohl Matthäus als auch Lukas, doch wiederum mit eigenen Schwerpunktsetzungen – die Beelzebulkontroverse durch verschiedene Angliederungen zu einer längeren »dämonologischen« Rede gestaltet (Q 11,14-26), die ihrerseits wiederum nur den ersten Teil einer Redekomposition darstellt (Q 11,14-32), die um den eschatologischen Charakter des Auftretens Jesu kreist (Schröter 1997, 275).

Martin G. Ruf Literatur zum Weiterlesen S. Guijarro, The Family in First-Century Galilee, in: H. Moxnes (Hg.), Constructing Early Christian Families. Family as Social Reality and Metaphor, London/New York 1997, 42-65. S. Guijarro, Die politische Wirkung der Exorzismen Jesu. Gesellschaftliche Reaktionen und Verteidigungsstrategien in der Beelzebul-Kontroverse, in: W. Stegemann/B. J. Malina/ G. Theißen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 64-74. J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neukirchen-Vluyn 1997, 240-299. D. S. du Toit, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen, WMANT 111, Neukirchen-Vluyn 2006.

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Jesus lernt vom Räuberhauptmann (Das Wort vom Starken) Mk 3,27 (Mt 12,29 / Lk 11,21 f. / EvThom 35) Es gibt zwei Varianten der Parabel vom Starken, Mk 3,27 und Lk 11,21-22. Matthäus folgt weitgehend der Markusfassung, während die im Bildgebrauch stark abweichende lukanische Variante wohl auf Q zurückgeht. Allerdings ist das Ausmaß der lukanischen Redaktion so umstritten, dass ein Q-Text nicht rekonstruiert werden kann (Schröter 1997, 261 f.), weshalb im Folgenden die mk und lk Variante als zwei charakteristisch verschiedene Varianten der Parabel besprochen werden.

Mk 3,27 Vielmehr kann keiner in das Haus eines Starken eindringen, um seine Besitztümer zu rauben, wenn er nicht zuerst den Starken bindet, dann erst wird er ihn berauben können.

Lk 11,21-22 (21) Wenn ein Starker in voller Bewaffnung seinen Palast bewacht, sind seine Besitztümer sicher, (22) wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und ihn besiegt, nimmt er ihm Waffen und Rüstung, auf die er sich verlassen hat, und verteilt seine Beute.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Mk 3,27 Die nur aus einem einzigen Satz bestehende Parabel vom Starken bildet bei Markus das letzte der Argumente, mit denen Jesus dem Vorwurf entgegentritt, er sei selbst von Beelzebul besessen und treibe die Dämonen mit Hilfe des Dämonenherrschers aus. Sprachlich wird dies daran deutlich, dass die Parabel mit ⁄ll€ (alla – vielmehr) eingeleitet wird, das hier eine Wende in der Argumentation anzeigt. Nachdem Jesus die Absurdität des gegnerischen Vorwurfes im Doppelgleichnis von der gespaltenen Königs- und Hausgemeinschaft samt Anwendung auf den Satan vorgeführt hatte (Mk 3,24-26, siehe dazu die Auslegung von Martin Ruf im Kompendium), gibt er nun – ebenfalls in Gleichnisform – Antwort auf die Frage, wie seine Dämonenaustreibungen stattdessen zu verstehen sind. Die Parabel beschreibt, was geschehen muss, damit ein Starker seiner Besitztümer beraubt werden kann. Jesus nimmt dabei in ganz knapper Weise Bezug auf einen Vorgang, der in der Lebenswelt seiner Hörerinnen und Hörer regelmäßig vorkam, einen bewaffneten Raubüberfall durch Räuberbanden (siehe dazu weiter in der sozialgeschichtlichen Analyse). Im Wort selbst ist nur der Höhepunkt der Konfrontation von einem Starken und seinem Gegenspieler beschrieben, der ihn »bindet«; doch sind an dem da287

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Parabeln im Markusevangelium

hinter vorzustellenden Vorgang auf beiden Seiten viele Akteure beteiligt, denn kein »Starker« ist in der Antike je allein in seinem Haus. Sobald aber der Hausherr gebunden ist, wird der Widerstand seiner Bediensteten aufhören, um das Leben des Herrn nicht zu gefährden. Dann kann die Beute in Ruhe einkassiert werden, die mit einem sehr vieldeutigen Ausdruck als tÞ skeÐh a'to‰ (ta skeue¯ autou) bezeichnet wird. Wörtlich bezeichnet ske‰o@ (skeuos) ein »Gefäß«, das Wort kann aber auch Gerätschaften aller Art bezeichnen und als stehende Metapher Menschen, die unter der Verfügungsgewalt eines anderen stehen, hier also die Sklavinnen und Sklaven eines »Starken«, vielleicht auch seine Familie. Die Beute besteht also aus allen beweglichen Besitztümern des Starken, Menschen und Vieh eingeschlossen. Der in der Parabel beschriebene Vorgang ist demnach problemlos zu verstehen, und durch die kontextuelle Einbindung sind die zu leistenden Transfers auf das Wirken Jesu leicht zu vollziehen. Der Starke ist eine weitere Bezeichnung für den Obersten der Dämonen, Satan (V. 22.23.26). Derjenige, der ihn bindet, um ihn zu berauben, kann im Zusammenhang niemand anders sein als Jesus selbst, der sich hier also mit einem Räuber(hauptmann) vergleicht, der einen erfolgreichen Raubzug durchführt. Dass das Jesuswort der vormk Überlieferung in Gott den Bindenden sah, wird aufgrund der noch zu besprechenden traditionsgeschichtlichen Parallelen oft behauptet (Klauck 2 1986, 182), doch handelt in der Parabel eindeutig nur eine Person, die eindringt, bindet und beraubt. Die Dechiffrierung von Starkem und Eindringling sind nötig, um die argumentative Funktion der Parabel im Kontext des Beelzebulgesprächs verstehen zu können. Es legt sich allerdings nahe, weitere Details des Bildes zu übertragen. Dass der Starke »gebunden« und nicht etwa ermordet wird (wie es in der Realität oft geschah), ist wohl durch traditionelle Bildverwendung angeregt; es soll an apokalyptische Erwartungen über das Schicksal Satans erinnern (s. u.). Die geraubten »Gefäße« kann man aufgrund der Bedeutungsoffenheit des Wortes leicht als die von Satan in Besitz genommenen Menschen identifizieren, also die von den Dämonen Besessenen und dann von Jesus Befreiten, doch auch eine Deutung auf die Dämonen (dann als Instrumente Satans) ist möglich. Unbeantwortet lässt das Gleichnis die Frage, woher die Kraft stammt, den Starken zu besiegen. Dies thematisieren die beiden folgenden Worte Jesu, die mit einem Erzählerkommentar abgeschlossen werden, der zugleich eine Brücke zum Anfang des Gesprächs schlägt und so eine Inklusio bildet. Mit dem gewichtigen doppelten Amen eingeleitet konstatiert Jesus, dass alle Lästerungen den Menschen vergeben werden können mit Ausnahme von Lästerungen gegen den heiligen Geist (V. 29-30a). Der Erzähler kommentiert: »Denn sie sagten: ›Er hat einen unreinen Geist‹« (V. 30b). »Er hat einen unreinen Geist« tritt synonym neben die am Anfang der Perikope genannten Beschuldigungen »Er hat den Beelzebul« und: »Mit dem Obersten der Dämonen treibt er die Dämonen aus«. Den heiligen Geist zu lästern, mit dessen Hilfe Jesus die von Dämonen gepeinigten Kranken heilt, ist also die einzig unvergebbare Sünde. Dass Jesus die in der Kraft des heiligen Geistes durchgeführten Exorzismen in einer Art »Robin Hood Mentalität« mit einem erfolgreichen Raubüberfall vergleicht, ist die in ihrer Anstößigkeit oft unterschätzte Pointe der Parabel vom Starken bei Markus (Myers 2 1990, 164-167).

Lk 11,21-22 Bei Lukas ist die Parabel vom Starken in einen etwas umfangreicheren und anders strukturierten Argumentationszusammenhang eingebettet, den er aus Q übernommen hat 288

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Jesus lernt vom Räuberhauptmann Mk 3,27

(ausführlich dazu Schröter 1997, 261-264). Die wichtigsten Unterschiede sind die Erwähnung der Königsherrschaft (basileia) des Satans in Lk 11,18, die in einen expliziten Gegensatz gestellt wird zur endzeitlichen Königsherrschaft Gottes (basileffla to‰ qeo‰ basileia tou theou), die Jesus bringt: »Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist ja die Gottesherrschaft zu euch gelangt.« (11,20) Im Anschluss an diesen Vers dient die Parabel vom Starken dann der Illustration des »mit dem Finger Gottes« geführten Kampfes gegen den Satan und der Gegenüberstellung von Satansreich und Gottesreich mit ihren Repräsentanten, dem (auch bei Mk begegnenden) »Starken« (¡ §scur@ ho ischyros) und dem hier gegenüber Markus explizit so genannten »Stärkeren« (§scurtero@ ischyroteros). Dieser betont eschatologischen und universalen Perspektive entspricht die dem Bereich militärischer Auseinandersetzungen zwischen Staaten entnommene Metaphorik, die alttestamentliche Wurzeln hat (s. u.). Der seinen Palast (a'lffi aule¯) bewachende Starke wird nicht gefesselt, sondern von einem Stärkeren »besiegt« (nikffis–h nike¯se¯). Die Insignien seiner militärischen Stärke, »auf die er sein Vertrauen setzte« und von denen er »Frieden« für seine Besitztümer erwartete, werden ihm »weggenommen«. Besonders charakteristisch für Lukas ist der letzte Halbsatz: »und er (der Stärkere) verteilt die Beute«. Das hier verwendete Verb diadidnai (diadidonai) ist aufgrund von Lk 18,22 und Apg 4,35 klar konnotiert als »Verteilen von Reichtum zugunsten der Armen«. Die Übernahme des Palastes des Starken, mit der die neue Herrschaft sich etabliert, geht also einher mit einer Verteilung des Vermögens; dasselbe Wort für Besitz wie in Lk 11,21 (tÞ ¢p€rconta a'to‰ ta huparchonta autou) begegnet auch in der Warnung vor törichtem Reichtum Lk 12,15 und der Aufforderung zum Besitzverzicht in Lk 14,33 (Klauck 2 1986, 183).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Markusvariante der Parabel, die aufgrund des im Folgenden zu beschreibenden Lokalkolorits sehr wahrscheinlich auf Jesus selbst zurückgeht, entnimmt die Bildelemente dem in der antiken Welt weit verbreiteten Phänomen des »Sozialbanditentums«, das heute in unseren Breiten relativ unbekannt ist, Jesu Hörerinnen und Hörern aber sicher geläufig war. Das Sozialbanditentum ist in soziologischen Studien (Hobsbawm 1972) beschrieben worden als eine zeit- und kulturübergreifende soziale Desintegrationserscheinung. Sie tritt auf, wenn das ökonomische Gleichgewicht einer Gesellschaft empfindlich gestört ist, weil aufgrund zunehmender Verarmung der Bevölkerungsmehrheit und Akkumulation des Reichtums in den Händen einer kleinen gesellschaftlichen Elite die normalen Menschen trotz harter Arbeit das Existenzminimum kaum oder nicht mehr erwirtschaften können. Besitz- und landlos gewordene ehemalige Bauern schließen sich zu Räuberbanden zusammen und leben von Raub und Erpressung. Im palästinischen Raum der Zeit zwischen Herodes dem Großen und dem jüdischen Krieg ist aufgrund zahlreicher Zeugnisse vor allem bei Josephus unzweifelhaft davon auszugehen, dass das Sozialbanditentum eine durchgängige Bedrohung der Reichen darstellte, wobei die Übergänge zu politisch motivierten Widerstandsgruppen oft fließend waren (Freyne 1988; Horsley 1979a; 1981; Horsley/Hanson 1985; E. W. Stegemann/W. Stegemann 2 1997, 154-167). Es war nicht ungewöhlich, dass die »Räuber« Unterstützung durch die Bevölkerung erhielten. »Ungerecht« sind nämlich in deren Augen der Mammon und 289

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diejenigen, die ihn aufgrund ungerechter gesellschaftlicher Verteilungsmechanismen besitzen, und nicht diejenigen, die sich nehmen, was ihnen zu Unrecht genommen wurde oder vorenthalten wird. Da die Jesusüberlieferung ihren Ursprung bei den armen Bevölkerungsschichten hat, erstaunt nicht, dass sie in manchen Traditionen Sympathie für eine solche Haltung erkennen lässt (A. Merz 2001). Dem Sherwood Forest der Robin-HoodLegenden entsprachen in Galiläa die unzugänglichen Höhlen von Arbela, die einige Kilometer westlich des Sees Genezareth im unmittelbaren Wirkungsbereich Jesu lagen und als berüchtigte, fast uneinnehmbare Rückzugsorte der Räuber und ihrer Familien galten (Flav. Jos. Bell. 1,304-314; 2,573; Ant. 14,413-430; Vit. 188). In der Parabel vom Starken, der in seinem Haus gebunden wird und dessen Besitztümer geraubt werden, beschreibt Jesus das alltägliche Vorgehen solcher Räuberbanden und teilt die Sicht der mit ihnen sympathisierenden armen Bevölkerung. Der beraubte Starke ist nicht etwa ein Opfer, das seinen legitimen Besitz verliert, sondern symbolisiert Satan, dem »seine Gefäße« zu Recht entrissen werden, weil er sich diese widerrechtlich angeeignet hat. Wenn Jesus dies Gleichnis in Gegenwart der von Jerusalem herabgekommenen Schriftgelehrten spricht (Mk 3,22), die als Abgesandte in religiösen Fragen sicher als Mitglieder der Oberschicht und somit potentielle Opfer von Raubüberfällen vorzustellen sind, trifft er sie doppelt. Er weist nicht nur den Vorwurf zurück, er vollziehe seine Exorzismen mithilfe satanischer Mächte; er suggeriert auf subtile Weise zugleich, dass von Räubern beraubte Reiche viel mehr mit Satan zu tun hätten als er selbst. Die Lukasvariante der Parabel vom Starken ist mit einer Reihe bildhafter Details angereichert, die den beschriebenen Vorgang mehr in den Bereich einer militärischen Auseinandersetzung verlegen, wobei zu beachten ist, dass der Übergang zwischen Räuberbanden und politisch motivierten Guerillatruppen oft fließend war. Die Dichte militärischer Termini ist jedenfalls auffällig: Der Starke »bewacht« (ful€ss–h phylasse¯) »in voller Rüstung« (kaqwplismffno@ katho¯plismenos V. 21) seinen Palast, und weiß seine Besitztümer »in Frieden« – ein äußerst zutreffendes Bild und zugleich subtile Kritik der durch Militärpräsenz aufrechterhaltenen Pax Romana. Wenn aber ein Stärkerer »über ihn kommt« und ihn »besiegt«, nimmt er ihm seine panoplffla (panoplia), d. h. die komplette aus Waffen und Rüstung bestehende Soldatenausstattung, und »verteilt« anschließend »die Beute« (sk‰la skyla, die spezifischste Wortbedeutung ist die »dem getöteten Feind ausgezogene Rüstung«, Bauer 6 1988, 1515).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Vom »Binden« (vgl. Mk 3,27; EvThom 35) Dass der Starke laut Mk 3,27 »gebunden« wird, passt in den Kontext der Debatte über Dämonenaustreibungen. Denn Besessenheit wurde als Bindung durch Dämonen bzw. Satan verstanden (Lk 13,11.16) und bei erfolgreicher Austreibung stellte man sich vor, dass der Dämon seinerseits gebunden wurde (Mk 5,3 f.; Tob 8,3). Für Mk 3,27 ist allerdings eine grundsätzlichere, eschatologische Perspektive vorauszusetzen. Es ist ein geläufiger Topos apokalyptischer jüdischer und frühchristlicher Literatur, dass der Teufel und seine Dämonen (und auch sonstige Gottesfeinde) in der Endzeit gefesselt werden. Neben 290

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Apk 20,2 sind etwa zu nennen: 1Hen 10,4 f.; 54,3-5; 69,27 f.; Jub 10,5-11; 48,15.18; TestLev 18,12 (Klauck 2 1986, 181). Besonders interessant mit Blick auf Mk 3,27 und seine Parallelen ist der apokalyptische Text im Testament des Levi 18,10-14, wo das Binden des Satans durch Gott in Verbindung gebracht wird mit der Macht der Menschen über die bösen Geister: »Und Beliar wird von ihm (umstritten ob von Gott oder vom messianischen Hohenpriester) gebunden werden, und er wird seinen Kindern (d. h. den Israeliten) Macht geben, auf die bösen Geister zu treten.« (TestLev 18,12, vgl. auch Röm 16,20) Dem entspricht, dass die Jesusbewegung insgesamt eine exorzistische Bewegung war. Laut Mk 3,15 ging die Einsetzung der zwölf Apostel mit dem Anteilgeben an der Vollmacht zum Austreiben der Dämonen einher, und bei Lk sind es sogar zweiundsiebzig Jüngerinnen und Jünger, die Jesus paarweise aussandte, um Kranke zu heilen und das Reich Gottes zu verkünden (Lk 10,1.9). Bei ihrer Rückkehr sind sie noch stets erstaunt über die ihnen im Namen Jesu gegebene Macht über die Dämonen (Lk 10,17). Jesus berichtet daraufhin von einer Vision vom Fall des Satans »Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Siehe, ich habe euch Vollmacht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und über alle Macht des Feindes, und nichts wird euch schaden. Doch darüber freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind, freut euch aber darüber, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.« (Lk 10,18-20) In verschiedenen Bildern wird demnach dieselbe Überzeugung von der endzeitlichen Überwindung Satans zum Ausdruck gebracht.

Menschen als »Gefäße« Bei Markus und Matthäus werden dem Starken seine »Gefäße« geraubt; der Parabelerzähler verwendet hier ein auffallendes Wort, das Assoziationen verschiedenster Art zulässt. Ein ske‰o@ (skeuos) ist zunächst ein beliebiges zum Hausrat gehöriges »Gefäß«, »Gerät« oder Werkzeug jeglicher Art. Aber in der gesamten antiken Literatur sind übertragene Bedeutungen häufig zu finden. So kann der Körper des Menschen als Gefäß bezeichnet werden (2Kor 4,7; 1QH 4,9; Epict. diss. III,24,33). Aber auch der Mensch als Ganzes wird mit dieser stehenden Metapher beschrieben, wenn er in Dienst genommen (»instrumentalisiert«) wird wie ein Stück Gerätschaft. Polybios 13,5,7; 15,25,1 bezeichnet etwa Menschen, die sich in politischen Intrigen einsetzen lassen, als ske‰o@, in der Apostelgeschichte wird Paulus durch Gott selbst ein »ausgewähltes Werkzeug« zur Durchführung der Heidenmission genannt (Apg 9,15). Im Kontext von Mk 3,27 ist an die Sklavinnen und Sklaven des Starken zu denken, die neben dem Hausrat zum Besitz zählten. Jesus spricht dann in diesem Bild über die vom Satan beherrschten Besessenen. In noch allgemeinerer Form redet das Testament des Naphtali 8,6 vom Menschen als Gefäß des Teufels in der Warnung: »Der das Gute nicht tut: … der Teufel macht ihn sich zu eigen wie sein eigenes Gefäß«. Von den Menschen als »Gefäßen« in der Hand Gottes handeln in Anknüpfung an das Töpfergleichnis (Jer 18,6) SapSal 15,7, Röm 9,20 ff. und in antihäretisch-paränetischem Kontext 2Tim 2,20 f.

»Der Starke« und »der Stärkere«: christologische und theologische Assoziationen »Der Starke« scheint eine bekannte Sprichwort-/Parabelfigur gewesen zu sein; im Unterschied allerdings zu stehenden Metaphern wie »ein König«, der im Gleichnis immer Gott 291

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bezeichnet, wird »der Starke«, »Mächtige« o. Ä. weniger stereotyp gehandhabt und benannt, auch ist er in seiner Bedeutung weniger festgelegt (vgl. Ri 14,14; Jes 49,24; PsSal 5,4; EvThom 98). Die Parabel vom Starken (¡ §scur@), der von einem nicht näher charakterisierten Jemand gebunden wird, will im mk Kontext auf Jesus und den Satan gedeutet werden. Auf der Bildebene erweist sich der Bindende als »der Stärkere«, dies wird jedoch von Markus und Matthäus nicht weiter verfolgt, obwohl es nahe läge, Verbindungen zur Weissagung des Täufers über »den Stärkeren« zu ziehen, der mit Feuer und heiligem Geist taufen wird (Mk 1,7; Q/Lk 3,16). Anders Lukas, der die im Gleichnis angelegte implizite Christologie expliziert, indem er (wohl Q folgend) formuliert, dass »ein Stärkerer« über den Starken kommen muss (Lk 11,22), wobei die Formulierung soweit möglich an Lk 3,16 angepasst ist: Lk 11,22 §scurtero@ a'to‰ ¥pelqðn ischyroteros autou epeltho¯n »ein Stärkerer als er kommt über ihn«

Lk 3,16 ˛rcetai … ¡ §scurter@ mou erchetai … ho ischyroteros mou »es kommt ein Stärkerer als ich«

Vertieft wird die christologische Deutung noch dadurch, dass Lukas die erbeuteten »Gefäße« durch das seiner sonstigen militärischen Metaphorik angemessene Wort sk‰la (skyla – Beute) ersetzt. Dadurch werden verschiedene alttestamentliche Assoziationen stimuliert. Einerseits kommt eine Anspielung auf das vierte Gottesknechtslied zustande, wo es vom Knecht Gottes heißt: »er wird die Beute (sk‰la skyla) der Starken (tn §scurn to¯n ischyro¯n) verteilen« (Jes 53,12). Andererseits liegt auch eine Verbindung mit Jesaja 49,24-26 nahe. Dies Gotteswort im Munde des Propheten beginnt ebenfalls mit einer »Parabel vom Starken«: »Kann man einem Starken die Beute entreißen? Kann einem Mächtigen der Gefangene entkommen?« (Jes 49,24) Die implizierte Antwort ist auch hier, dass dies nur geschehen kann, wenn ein Stärkerer kommt, hier der Gott Israels, »der Starke Jakobs« (§scÐo@ Iakwb ischyos Iako¯b; Jes 49,26), der ankündigt, den Starken ihre Beute zu entreißen und die kriegsgefangenen Söhne und Töchter Israels (aus der babylonischen Gefangenschaft) zu erlösen. Unzweifelhaft stellt Lk diese Bezüge in den Dienst der christologischen Einfärbung der Parabel. Gegenüber vielen Deutungen, die Jes 49,24-26 auch als Interpretationsfolie von Mk 3,27 betrachten, ist festzuhalten, dass Mk mit seiner Metaphorik vom Rauben der Gefäße aus dem Haus ein anderes Bildfeld aktiviert, nämlich das eines Räuberüberfalls.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Jesu exorzistische Wirksamkeit wird in der Parabel vom überwundenen Starken gedeutet als Beweis für den endzeitlichen Sieg über Satan, der »gebunden« (so Mk) bzw. besiegt (so Lk) ist und die von ihm unterworfenen Menschen ziehen lassen muss. Während die Lukasfassung Jesus in mehr alttestamentlicher Manier als Nachahmer des kriegerischen Gottes zeichnet, der die Feinde besiegt und sein Volk aus der Versklavung rettet (die »Exodus-Deutung«), wählt Mk 3,27 – aller Wahrscheinlichkeit nach in Aufnahme eines authenischen Jesuswortes – das Bild eines räuberischen Eindringens ins Haus eines Begüterten, wie es die Räuberbanden seiner Zeit in Galiläa, Judäa und den angrenzenden 292

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Gebieten tagtäglich praktizierten (die »Robin-Hood-Deutung«). Unproblematisch sind beide Bildfelder nicht, da sie gewalttätige Formen des Broterwerbs (Räuberbanden und Militär) zum Vergleich mit dem Handeln Jesu nehmen. Aber die Exorzismen selbst waren ein Akt harter verbaler und körperlicher Auseinandersetzung zwischen dem Exorzisten und dem Besessenen bzw. (in der Wahrnehmung der Zeitgenossen) dem diesen besitzenden Dämon, der Körper und Geist in seiner Gewalt hatte. Es ging dabei laut und oft Furcht erregend brutal zu, man stelle sich die in Mk 5,1-20; 9,14-27 geschilderten Austreibungen nur einmal Szene für Szene bildlich und mit Ton vor. Im Gegensatz zum sanften Heiland der Therapien, der durch Berührung eine symbolische Kraftübertragung in Gang setzt (vgl. z. B. Mk 5,30-34.41), inszeniert Jesus in den Exorzismen bewusst eine symbolische Kampfhandlung, und es ist kaum Zufall, dass diese gewalttätige Form der Heilung mithilfe eines Gleichnisses gedeutet wird, das Gewaltmetaphorik benutzt. Im Folgenden sollen drei Dimensionen der Parabel etwas eingehender untersucht werden, die soziale, die politisch-eschatologische und die existentielle Dimension. 1. Die heute fast verschwundene, zu Zeiten Jesu aber epidemische Krankheit der Besessenheit und ihre Therapie durch Exorzisten lässt deutlicher als andere Krankheitsformen erkennen, dass jede Erfahrung von Krankheit und Heilung kulturell beeinflusst und vermittelt ist. Besonders deutlich tritt bei dieser Störung auch hervor, dass Krankheiten und die Wahl der Therapie immer eine soziale Komponente haben. Besessenheit grassierte z. Z. Jesu vor allem in den unteren Schichten, die besonders betroffen waren von den sich verschärfenden sozialen Gegensätzen und am wenigsten Vorteile aus der instabilen politischen Lage ziehen konnten (Theißen 7 1998, 247-251; Guijarro 2002). Wenn Jesus zur Interpretation seiner Exorzismen auf eine Parabel zurückgriff, die im Räubermilieu spielt, ist dies durchaus passend (A. Merz 2001). Wie das Sozialbanditentum ist auch die exorzistische Tätigkeit eine Reaktion auf Zustände sozialer Desintegration und dient der Herstellung eines Sozialwesens, an dem mehr Menschen ungehindert von Armut und Krankheit partizipieren können. Allerdings hat das Austreiben von Dämonen weniger schädliche soziale Nebenwirkungen als das Räuberwesen, es führt z. B. nicht in eine Spirale der Gewalt, die eine Gesellschaft noch mehr destabilisieren könnte. Gewalt gegen die Dämonen ist daher mit der Predigt Jesu von der Gewaltlosigkeit im zwischenmenschlichen Umgang zu vereinbaren. Vielleicht machte sie diese sogar erst möglich, indem sie durch Verschiebung von Aggressionen auf ein Ersatzobjekt für die Reduzierung und Bearbeitung von Aggression sorgte (vgl. Theißen 2004, 278-289 zu verschiedenen im Urchristentum wirksamen Mechanismen der Aggressionsverarbeitung. Auch Worte, die von einer gewalttätigen Aneignung, ja vom Rauben der Gottesherrschaft durch Jesus und seine Anhänger reden wie der sog. Stürmerspruch (Mt 11,18/Lk 16,16), oder Gleichnisse wie das vom Attentäter (EvThom 98) oder von der Gottesherrschaft, die wie ein Dieb kommt (Q 12,39-40), der die Reichen arm zurücklässt, verwenden Gewaltmetaphorik, um Widerstand gegen ungerechte Strukturen und das Vertrauen auf ihre Verwandlung durch Gott zum Ausdruck zu bringen. Auch heute leiden die Armen an mehr und mehr an Krankheiten als die Reichen. Sie leiden quantitativ »an mehr« Krankheiten, weil sie z. B. durch mangelnde Versorgung mit gutem Trinkwasser von Infektionskrankheiten heimgesucht werden, die in reicheren Ländern praktisch ausgestorben sind. Wenn sie krank geworden sind, leiden sie auch »mehr an« den Krankheiten, denn durch mangelnde medizinische Versorgung haben selbst an sich harmlose Infektionen manchmal gravierende Gesundheitsfolgen bis hin 293

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zum Tod, und durch die mangelnde soziale Absicherung gegen Krankheit sind die sozialen und ökonomischen Konsequenzen viel härter als bei gut versicherten Bürgern der Wohlstandsgesellschaften. Die Sozialkritik der jesuanischen Wunder kann dazu inspirieren, sich mit diesen Zuständen nicht abzufinden und gewaltlose, zeitgemäße Formen des Widerstands gegen die Ungeister zu finden, die sie stabilisieren oder von ihnen sogar profitieren. 2. Die eschatologische und politische Dimension der Parabel gehören unmittelbar zusammen. Dass es bei den Exorzismen letztlich um »Control over space« (Moxnes 2003, 125-141) geht, kommt besonders deutlich in der Lukasfassung zum Ausdruck, wo es um ein dauerhaftes Inbesitznehmen des Palastes des Starken zu gehen scheint und wo das vorangehende Logion Lk 11,20 die Dämonenaustreibungen mit dem Finger Gottes als Ankunft des Reiches Gottes interpretiert (Piper 2001). Aber auch das »Binden« des Satans in Mk 3,27 signalisierte den zeitgenössischen Hörerinnen und Hörern, dass Jesu Exorzismen Ereignisse waren, die im Zusammenhang standen mit der endzeitlichen Durchsetzung, und das heißt der Ausbreitung der Herrschaft Gottes auf Erden. Dass dies nicht nur das Ende der Herrschaft Satans, sondern auch das Ende der römischen Fremdherrschaft bedeuten würde und daher eminente politische Implikationen hatte, lag auf der Hand und tritt in der Bildersprache der Lukasfassung am deutlichsten hervor. Doch bekämpfte Jesus nicht die Besatzungsmacht selbst, sondern vertrieb Dämonen, die allerdings verräterisch fremdländische Namen wie »Beelzebul« und »Legion« trugen, und wusste Satan bezwungen, der in seiner hybriden Weltherrscherpose einem römischen Kaiser nachempfunden sein dürfte (Lk 4,5-8, vgl. Theißen 2001, 96 f.). Auch dieser Aspekt der Deutung Jesu ist heute noch unmittelbar nachvollziehbar, wenn man an die internationalen Auseinandersetzungen denkt, deren einziger Zweck die Kontrolle bestimmter Gebiete, ihrer Menschen und ihrer Ressourcen (Erdöl, Gold, Diamanten etc.) ist, und das schwere Leiden, das die Bewohner aufgrund der miteinander in Streit befindlichen Starken und ihrer Truppen zu erleiden haben. Jesu Plädoyer, in solche machtpolitischen Auseinandersetzungen nicht durch eigene politische gewaltsame Akte einzugreifen, sondern sich vielmehr den betroffenen Menschen zuzuwenden und Einzelnen Linderung von ihrem Leiden zu verschaffen, verdient Aufmerksamkeit ebenso wie seine Deutung, dass solche Befreiung Einzelner einhergeht mit einer Fesselung der verursachenden metaphysischen Macht. Jeder Akt der Menschlichkeit schwächt in den Augen des Glaubens die Macht des Bösen. 3. An den Schluss gestellt sei die für jeden Kranken wichtigste, die existentielle Dimension der Parabel, derzufolge der Heilung eines Individuums von Krankheit das gewaltsame Fesseln eines Starken vorausgeht und das kranke Individuum einem starken Besitzer entrissen wird. Auch heute machen Menschen die Erfahrung, dass manche Krankheit nicht ohne harten Kampf überwunden werden kann oder man ihr so wenigstens zeitweise zu entkommen vermag. Nur selten wird heute noch die biblische Sicht der Erzählungen geteilt, dass der oder die Kranke am Geschehen keinerlei Anteil hat, aber die Erfahrung, dass Therapeutinnen und Therapeuten gemeinsam mit dem oder der Kranken gegen einen starken Widersacher kämpfen, ist noch heute unmittelbar nachvollziehbar. Besonders psychische Krankheiten werden aber auch nach wie vor metaphorisch als dämonisch verursacht wahrgenommen, um den Aspekt des ihnen Ausgeliefertseins und der Selbstentfremdung zum Ausdruck zu bringen. So nannte Andrew Salomon seinen eindringlichen Bericht über Erfahrungen mit der Depression »The Noonday Demon. 294

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An Atlas of Depression« (2001). Man kann beim Kampf aber auch denken an Konfrontation mit dem Verursacher einer Krankheit, z. B. bei psychischen Störungen, die die Folge sind von Missbrauch in der Kindheit, von im wörtlichsten Sinne Besessenwerden durch eine Gewalt, die den Namen satanisch verdient, auch wenn sie durch ganz unauffällige Männer ausgeübt wird. Der Gesundungsprozess geht in diesen Fällen oft einher mit dem Bedürfnis zur Entmaskierung und Entmachtung des einst als unangreifbar und übermächtig erfahrenen Täters. Oder man denke an Krankheiten, die durch Umweltgifte oder Medikamentenschädigung hervorgerufen wurden; harte und zähe Kämpfe sind nötig, um die Verursacher zur Verantwortung zu ziehen und zu verhindern, dass sie auch andere schädigen können.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Unter den Textparallelen ist noch die Variante des Thomasevangeliums zu besprechen: EvThom 35: Jesus spricht: Es ist nicht möglich, dass jemand in das Haus des Starken hineingeht und es gewaltsam nimmt, es sei denn, er fesselt dessen Hände. Dann wird er sein Haus verwandeln. Die Thomasfassung steht Mk/Mt sprachlich näher als Lukas, verwendet allerdings charakteristisch andere Verben für das Tun des Eindringlings ( ji njnah gewaltsam einnehmen, Griechisch vermutlich bi€zesqai biazesthai, und po¯o¯ne verwandeln/umändern, Griechisch vermutlich metatiqffnai metatithenai; die oft gewählte Übersetzung mit »plündern« ist sachlich nicht zwingend und sprachlich nicht naheliegend). Auch fällt die Erwähnung der »Hände« auf, die gebunden werden, ein Bilddetail, das Übertragungen auf nichtmenschliche Akteure wie Satan eher erschwert, es sei denn, man denkt an die ausführenden Dämonen als »Hände Satans«. Verschwunden ist das bei Mk und Lk vorhandene Interesse an den geraubten Gegenständen, mit Gewalt »genommen« wird das Haus. Da jeglicher Kontext des Logions fehlt, wirkt es schwer verständlich und hat völlig gegensätzliche Deutungen erfahren. Entweder man deutet es in der Linie der synoptischen Logien. Die Loslösung vom konkreten Kontext der Dämonenaustreibungen favorisiert dann eine Übertragung auf die gesamte Wirksamkeit Jesu als Fesseln Satans und Aneignung und Verwandlung seines Herrschaftsbereiches (vgl. wiederum das Sich gewaltsam Aneignen der Gottesherrschaft durch die Jesusbewegung in Mt 11,12/Lk 16,16 und EvThom 98). Oder man geht davon aus, dass der Starke im Gegensatz zur synoptischen Tradition als positive Identifikationsfigur für die LeserInnen gemeint ist (so Schrage 1964, 90; Schröter 1997, 297). Für diese Deutung spricht die Parallele in EvThom 21,5-7, wo die Angeredeten im Bild eines Hausherrn, der seinen Besitz gegen Diebe/Räuber verteidigt, zur Wachsamkeit gegenüber der Welt aufgefordert werden. Dies kann dann eine allgemeine Mahnung sein, aber auch spezifischer in gnostischem Kontext als Warnung vor der Übernahme und Verwandlung des Hauses durch das Wiedereindringen der feindlichen Welt gelesen werden (vgl. zu EvThom 35 und verwandten Logien insgesamt Zöckler 1999, 199-210). Anstelle der Wirkungsgeschichte von Mk 3,27 parr., die einer Aufzählung aller möglicher und unmöglicher allegorischer Interpretationen von Einzelzügen gleichkäme (vgl. Luz 3 1999, 261 Anm. 71), sei abschließend ein aus Teilelementen der Parabel kom295

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poniertes positives Gegenbild zitiert, das im Hirten des Hermas, mand 4,5,1 zu finden ist: »Wenn du großmütig bist, wird der heilige Geist, der in dir wohnt, rein sein. Nicht verfinstert von einem anderen bösen Geist, sondern im Geräumigen wohnend, jubelt er und freut er sich mit dem Gefäß (metÞ to‰ skeÐou@ meta tou skeuous), in dem er wohnt.« (zitiert nach Klauck 2 1986, 181).

Annette Merz Literatur zum Weiterlesen S. Freyne, Bandits in Galilee: A Contribution to the Study of Social Conditions in First-Century Palestine, in: J. Neusner u. a. (Hg.), The Social World of Formative Christianity and Judaism: Essays in Tribute of Howard Clark Kee, Philadelphia 1988, 50-69. J. Lambrecht, Three More Notes in Response to John P. Meier: Mark 1,7-8; 3,27 and 10,1-12, EThL 89 (2013), 397-409. A. Merz, Mammon als schärfster Konkurrent Gottes – Jesu Vision vom Reich Gottes und das Geld, in: S. J. Lederhilger (Hg.), Gott oder Mammon, Frankfurt 2001, 34-90. H. Moxnes, Putting Jesus in His Place. A Radical Vision of Household and Kingdom, Louisville/ London 2003, 125-141. H. Räisänen, Exorcisms and the Kingdom. Is Q 11,20 a Saying of the Historical Jesus?, in: Risto Uro (Hg.), Symbols and Strata. Essays on the Saying Gospel Q, SESJ 65, Helsinki/Göttingen 1996, 119-142. J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberliefeurng in Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neukirchen-Vluyn 1997, 240-299. R. A. Piper, Jesus and the Conflict of Powers in Q: Two Q Miracle Stories, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 317-349.

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Vom Fruchtbringen (Sämann mit Deutung) Mk 4,3-9.(10-12.)13-20 (Mt 13,3-9.18-23 / Lk 8,5-8.11-15 / EvThom 9 / Agr 220) (3) Hört! Siehe, der Säende ging aus, um zu säen. (4) Und es geschah beim Säen: Ein Teil fiel auf den Weg und die Vögel kamen und fraßen es auf. (5) Und ein anderes fiel auf felsigen Grund, wo es nicht viel Erde hatte. Und sofort ging es auf, weil es keine tiefe Erde hatte. (6) Und als die Sonne aufging, wurde es versengt, und weil es keine Wurzeln hatte, verdorrte es. (7) Und ein anderes fiel in die Dornen, und die Dornen gingen auf und erstickten es, und es gab keine Frucht. (8) Und andere fielen auf die gute Erde und gaben Frucht, indem sie aufgingen und wuchsen und trugen, ein Teil dreißig und ein Teil sechzig und ein Teil hundert. (9) Und er sagte: Wer Ohren hat zu hören, soll hören! (10) Und als sie allein waren, fragten ihn diejenigen, die um ihn waren, zusammen mit den Zwölf nach den Parabeln. (11) Und er sagte zu ihnen: Euch ist das Geheimnis der Gottesherrschaft gegeben. Jenen aber, die draußen sind, geschieht alles in Parabeln, (12) damit sie sehend sehen und nicht einsehen, und hörend hören und nicht verstehen, damit sie nicht umkehren und ihnen vergeben werde. (13) Und er sagt zu ihnen: Versteht ihr diese Parabel nicht, und wie wollt ihr alle Parabeln verstehen? (14) Der Säende sät das Wort. (15) Diese Menschen aber sind die entlang des Weges, wohin das Wort gesät wird, und wenn sie gehört haben, kommt sofort der Satan und nimmt das Wort fort, das in sie gesät worden war. (16) Und diese sind die auf den felsigen Grund Gesäten, die, wenn sie das Wort gehört haben, es sofort mit Freude annehmen, (17) aber sie haben keine Wurzeln in sich, sondern sind Augenblicksmenschen. Wenn dann wegen des Wortes Bedrängnis oder Verfolgung entstehen, kommen sie sofort zu Fall. (18) Und andere sind die in die Dornen gesäten. Diese sind die, die das Wort hören (19) und die Sorgen der Lebenszeit und die Täuschung des Reichtums und die eingetretenen Begierden um das Übrige ersticken das Wort und es wird unfruchtbar. (20) Und jene sind die auf die gute Erde Gesäten, die das Wort hören und es annehmen und Frucht bringen, ein Teil dreißig, ein Teil sechzig, ein Teil hundert.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel vom Sämann und ihre Deutung stehen im Markusevangelium am Anfang des Gleichniskapitels (Mk 4,1-34) und bilden den Auftakt für die erste große Rede des markinischen Jesus. Im Markusevangelium ist es die einzige Parabel mit Deutung, die nach Mk 4,10-12 angeschlossen wird. Innerhalb der Rede sind die Konturen der Angeredeten instabil; die angeredeten Subjekte lassen sich nicht eindeutig bestimmen und ab

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Mk 4,21 können gar keine klaren Konturen ausgemacht werden. Dadurch gewinnt Mk 4,1-34 eine offene Anredestruktur für die Leserinnen und Leser. Wer griechisch lesen kann, sollte den Text – den antiken Gepflogenheiten entsprechend – laut lesen, denn er ist von einer intensiven Lautgestaltung, die die Erzählung ins Ohr gehen lässt. Besonders die vielen Gleichklänge (vgl. nur die Verben in Mk 4,4-8!) und Wortwiederholungen haben die Funktion, die Rezeption zu erleichtern. Aber auch die sich in Mk 4,1-20 findenden Aufzählungen sind – unter den Bedingungen des lauten Lesens – akustische Stimmungsmacher (vgl. Tolbert 1989, 152). Deshalb sind die beiden Aufrufe (»Hört! Siehe!«) zu Beginn der Parabel weder als »unbegründete Doppelung« (so Mell 1998, 43) noch als »Aufmerksamkeit erheischend« (so Jülicher II 2 1910, 515) zu verstehen, sondern für alle, die mit den Ohren lesen, eine Einübung in Selbiges und bilden den rezeptionsorientierten Auftakt für Mk 4,4-8, bevor in Mk 4,9 wieder durch einen rezeptionsorientierten Schluss eine Inklusion geformt wird, um sodann – vorbereitet durch Mk 4,10-12 – in der Deutung den Rezeptionsprozess selbst zum Thema zu machen. Schon gleich mit der Exposition der Erzählung ist die Mitarbeit der Hörenden gefragt, denn weder erfahren sie, was gesät wird, noch wer der »Säende« ist. Während für Ersteres in der Parabel aufgrund der syntaktischen Voraussetzungen das Wort »Same« (griech. spffrma sperma) zu ergänzen ist, wird die Frage nach dem, der sät, nicht im Text beantwortet. Die Parabel erzählt nicht eine Geschichte, sondern vier (J. Marcus 1986, 21; Luz 3 1999, 308), wobei die vier Geschichten durch eine ähnliche Struktur aufeinander bezogen sind sowie durch die einmalige, zeitgleiche Aktion des Säens in Mk 4,4 (L. Schenke 2005, 127). Auf die ersten drei Einleitungen folgen Szenen, deren Ausgestaltung zwar variiert, aber einen dreigliedrigen, sich wiederholenden Kern hat (Ortslage – Auftreten der Gegenspieler – Zerstörung der Saat): Auf die Mitteilung, dass jeweils ein Teil des Gesäten auf eine bestimmte Ortslage (»auf den Weg« [Mk 4,4b], »auf felsigen Grund« [Mk 4,5a], »in die Dornen« [Mk4,7a]) fiel, folgt immer das Auftreten der Gegenspieler, die das Geschick des Gesäten zum Negativen wenden: »die Vögel« (Mk 4,4c), »die Sonne« (Mk 4,6a), »die Dornen« (Mk 4,7b). An dritter Stelle steht die Zerstörung der Saat: »auffressen« (Mk 4,4d), »versengt werden« (Mk 4,6a) sowie »verdorren« (Mk 4,6b), »ersticken« (Mk 4,7c). Das in sich dreifach ausgestaltete negative Ergehen der Saat wird in einer progressiv sich steigernden Dramatik erzählt: Während die erste Saat keine Chance hat, sich überhaupt zu entwickeln, kann die zweite Saat zwar aufsprießen, wird dann aber zerstört, die dritte Saat kann aufgehen und wachsen, bringt aber keine Frucht (Donahue 1988, 34). Dem negativen steht das mit dem Plural ka½ ˝lla (kai alla) in Mk 4,8a eingeleitete positive Geschick der Saat gegenüber, auch hier wird berichtet, wohin die Saat fällt, nämlich »auf die gute Erde«. Aber an die Stelle des Opponenten tritt nun nicht – wie erwartet – eine die Saat unterstützende Größe. Stattdessen wird sofort das positive Resultat des Fruchtbringens thematisiert, welches in seinem positiven Ergebnis dreifach ausdifferenziert wird und eine klimaktische Zahlenfolge aufweist (Mell 1998, 47). Mit Mk 4,8 wird nicht nur die seit V. 4 vertraute syntaktische Struktur verlassen, sondern im ganzen Vers ist – vermittelt durch die zahlreichen Verben der räumlichen Bewegung – Dynamik. Im Zusammenhang mit dem dreifach differenzierten positiven Ergebnis wird so die bewegende Effektivität des Fruchtbringens am Ende der Parabel betont. Dies wird auch durch die verwendeten Zeiten unterstrichen: Während die Aussaat aoristisch 298

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abgeschlossen erzählt wird, beginnt nur Mk 4,8 hinsichtlich der Aussaat mit einem Aorist, aber der Vollzug des Fruchtbringens wird imperfektisch unabgeschlossen beschrieben. Mk 4,8 ist deshalb der implizite Bewertungsschlüssel für die vorherigen drei Saatgeschichten. Allerdings sollte man nicht von einer Zweiteilung der Parabel in Misserfolgsgeschichten versus Erfolgsgeschichte (gegen Weder 4 1990, 109; Bovon 1989, 405 u. a.) sprechen, sondern besser von Verlustgeschichten und einer Gewinngeschichte. Denn Erfolg und Misserfolg sind immer subjektiv bestimmte Bewertungen (so ist aus der Sicht der Vögel das Auffressen ein Erfolg). Auf der Ebene der Erzählung ist es vielmehr bemerkenswert, dass eine explizite Bewertung fehlt, sondern implizit über das dreifach gesteigerte Fruchtbringen in Mk 4,8 zu erschließen ist. Während also in den ersten drei Saatgeschichten ein Verlustprogramm durch die Verkettung von Gegenspielern abläuft, die die Saat zerstören, wird in Mk 4,8 ein Gewinnprogramm realisiert, das die Saat vermehrt und sich – ohne einen Helfer einzuführen – progressiv entfaltet. Aus diesem Grund trifft auch die seit J. Jeremias (11 1998, 149) üblich gewordene Klassifizierung als Kontrastgleichnis, nach der die Pointe der Erzählung in der Gegenüberstellung zwischen der vielfach erfolglosen Arbeit des Sämanns und dem reichen Erntesegen liegt, nicht (mit Luz 3 1999, 311). Vielmehr liegt die Pointe der Erzählung in der durch die Aktion des Säens sich realisierenden Gleichzeitigkeit von Verlust und Gewinn und zwar so, dass für den Verlust keine offene Rechnung aufgemacht wird, sondern eben nur für den Gewinn. Die Deutung erfolgt – eingeleitet durch eine Jesusfrage (Mk 4,13) nach dem Verstehen »dieses Gleichnisses« – erst in Mk 4,14. Dazwischen steht ein Abschnitt, der für das Parabelverständnis in der Erzählwelt des Markusevangeliums zentral ist und der durch die Härte der Worte, die die Verstockung als göttliche Absicht unter Rekurs auf Jes 6,9-10 bestimmen, zu großen exegetischen Kontroversen Anlass gab und gibt (für einen Überblick: Lehnert 1999, 4-32; Kermode 1979, 23-47.149-152). Mk 4,10-12 weist thematische Ähnlichkeiten mit Mk 4,21-25 auf, wo die Parabeln von der Lampe auf dem Leuchter (Mk 4,21) und vom Maß (Mk 4,24) aufgenommen sind. So weist die Rede vom Verborgenen in Mk 4,22 konzeptuell in die Nähe von Mk 4,11, wo es um ein »Geheimnis« geht. Der Satzteil »denn wer hat, dem wird gegeben werden« (Mk 4,25) formt mit Mk 4,11 »euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben« eine Inklusion. Die Aufforderung in Mk 4,24a ruft Mk 4,12 in Erinnerung, wo ebenfalls zuerst »sehen« und dann »hören« gemeinsam verwendet wird. Sowohl Mk 4,10-12 als auch Mk 4,21-25 zeichnen sich durch eine starke Zentrierung auf Wahrnehmungs- und Rezeptionsphänomene (hören, sehen, verstehen, einsehen) aus, allerdings werden diese in Mk 4,10-12 hinsichtlich ihrer prinzipiellen Relevanz thematisiert, während es in Mk 4,21-25 um deren spezielle Relevanz geht. Weil in Mk 4,10-12 die Art und Weise der Wahrnehmung und Rezeption zu einem prinzipiellen Kriterium der Bestimmung einer Außengruppe wird, ist von einer prinzipiellen Relevanz zu sprechen, während in Mk 4,21-25 die Wahrnehmung relevant wird, die einer speziellen mit »Was« gekennzeichneten Größe entgegenzubringen ist, die in der narrativen Logik nur von den »Insidern« zu leisten ist. Das Erschreckende an Mk 4,11 ist die Entfunktionalisierung der Augen und der Ohren, die die semantische Spannung zwischen »euch« und »jenen aber, die draußen sind« bestimmt. Gegenüber den zahlreichen exegetischen Versuchen, die so beschriebenen Outsider mit hinter dem Text liegenden historischen Gruppen oder Personen zu identifizieren, ist festzuhalten, dass der Text des Markusevangeliums gerade kein Interes299

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se daran hat genauso wenig, wie die mit »euch« eingeführte Gruppe näher bestimmt werden kann. Textstrategisch ist nur festzuhalten, dass die Anrede »euch« (Mk 4,11) denen »um Jesus mit den Zwölf« gilt (Mk 4,10) – also einem Kreis, der größer ist als die zwölf Jünger (J. Marcus 1986, 90). Diese Offenheit hinsichtlich der Angeredeten in Mk 4,10-12 hat für die Rezipientinnen und Rezipienten eine textpragmatische Funktion: Sie sollen sich in den Text hineinlesen. Da es in Mk 4,10-12 nicht um die Charakterisierung der Parabeln geht, wie schon Mk 4,10 verdeutlicht, weil nicht nach dem Zweck, sondern nach dem Inhalt der Parabeln gefragt wird, wird hier auch keine markinische Parabel»theorie« vorgestellt, nach der die Parabeln verhüllte Rede sind, die zusätzlicher Erläuterung bedürfen und nur Eingeweihten vorbehalten sind (mit Reinmuth 2006a, 100; L. Schottroff 2005, 95); dagegen spricht nicht nur der anschließende Vers 13, der vom Nichtverstehen der Eingeweihten spricht, sondern auch die Verwendung des Parabelbegriffs in der Erzählwelt des Markusevangeliums außerhalb von Mk 4 (vgl. Mk 3,23; 7,17; 12,1.12; 13,28). Parabeln, ein nicht im strengen Sinn gattungsgemäß verwendeter Begriff im markinischen Kontext, stehen immer im Zusammenhang mit Wahrnehmungsprozessen und sollen Verstehensprozesse anregen. Wie in Mk 4,13 so ist auch in Mk 7,17 f. und 13,28 f. betont, dass diese Prozesse gerade bei den Jüngern als den Eingeweihten nicht gelingen. Die Härte der Worte in Mk 4,11 f. liegt an der Verunmöglichung der für die Parabeln notwendigen Verstehens- und Wahrnehmungsprozesse, die im narrativen Verlauf des Evangeliums gerade den narrativen Insidern, den Jüngern, abgesprochen werden (vgl. Mk 6,52; 8,15 ff.). Vor dem Hintergrund der von der Verstockung bedrohten narrativen Insider und unter Einbeziehung der offenen Anredestruktur ist Mk 4,10-12 ein »pragmatischer Appell an alle Rezipienten des Evangeliums, sich als solche zu erweisen, die nicht verstockt sind« (Alkier 2005a, 16). Die Verstockungsaussage ist somit eine mahnende, auf eine Innengruppe gerichtete Selbstkritik. Dies bestätigt sich auch unter Berücksichtigung des intertextuellen Bezuges auf das jesajanische Konzept der Verstockung, welches Verstockung als die Strafe Gottes für uneinsichtiges und unverständiges Handeln derjenigen versteht, die zum Volk Gottes gehören (Alkier 2005a, 17-19). Wenn am Ende des markinischen Gleichniskapitels (Mk 4,34) hervorgehoben wird, dass Jesus nicht ohne Gleichnisse redete, aber seinen Jüngern, wenn er allein mit ihnen war, alles auslegte, zeigt sich, dass im markinischen Konzept keiner vorschnell der Verstockung preisgegeben wird, sondern dass an seiner Wahrnehmungs- und Rezeptionsfähigkeit »gearbeitet« wird – und zwar dauerhaft, wie die beiden imperfektischen Verben in Mk 4,34 anzeigen. Die Folgerung, nach der die von Jesus gegebene Auflösung erst den Sinn der Parabeln eröffnet, ohne die sie Rätsel bleiben würden (so ausführlich Räisänen 1973, 53 mit Verweis auf die »Klassiker« Jülicher und Wrede), verkennt, dass die Belehrung nicht aufgrund der Qualität der Parabeln nötig wird, sondern aufgrund des Nichtverstehens der Jünger. Diese Sichtweise unterstreicht auch Mk 12,1-12, wo die narrativen Gegner Jesu gerade »wissen« (vgl. den Aorist in Mk 12,12), was die Parabel bedeutet – ohne eine Deutung erhalten zu haben. Während die Jünger im Markusevangelium also auf die Auflösung der Gleichnisse angewiesen sind und diese durch den markinischen Jesus erhalten, sind die Leserinnen und Leser des Evangeliums angehalten, es nicht den Jüngern gleichzutun, sondern an die ihnen zugesprochene Wahrnehmungsfähigkeit (vgl. dazu auch Mk 13,14 mit der expliziten Anrede an die Wahrnehmungsfähigkeit der Leser des Evangeliums!) anzuknüpfen und von sich aus einen erfolgreichen 300

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Verstehens- und Rezeptionsprozess zu leisten. Wie dieser aussieht, das entfaltet Mk 4,1420. Hinsichtlich der Überleitung zur Parabeldeutung kommt V. 13 eine Scharnierfunktion zu. Einerseits knüpft der Vers an Mk 4,3-8 an, andererseits bereitet er die folgende Deutung vor. Erzähltheoretisch stellt Mk 4,3-8 die erzählte Welt dar, während Mk 4,14-20 die besprochene Welt darstellt (Sellin 1983, 516). In der besprochenen Welt werden die narrativen Elemente von Mk 4,3-8 in ihrer szenischen Struktur übernommen, aber ausdifferenziert auf eine typologische Erklärung von vier verschiedenen Hörern. Diese werden entsprechend den vier verschiedenen Saatorten auf ihre Art und Weise des Hörens des Wortes (griech. lgo@ logos) qualifiziert. Zuerst werden drei Geschichten erzählt, die zum Verlust des Wortes bei den Hörertypen führen. Auch in der Deutung realisieren sich die Verlustgeschichten in einer steigernden Dramatik: Während bei dem ersten Hörertyp der Satan das Wort sofort wegnimmt, verhindern beim zweiten Typ Bedrängnis und Verfolgung die dauerhafte Wirksamkeit des Wortes und beim dritten Hörertyp führen drei negative Einflüsse (Sorgen der Lebenszeit; die Täuschung des Reichtums; die eingetretenen Begierden um das Übrige) dazu, dass das Wort unfruchtbar wird. An vierter Stelle folgt eine »Gewinngeschichte«, die durch das Fruchtbringen der Hörenden bestimmt ist. Hierfür bedarf es wiederum keines externen Helfers, sondern der hörenden, andauernden Annahme des Wortes. Auch bei der Deutung ist ein Blick auf die verwendeten Zeiten im Griechischen aufschlussreich: Nur in Mk 4,20 wird die Aussaat durch die Verwendung des Aorists als ein abgeschlossenes zu seinem Ziel kommendes Faktum verstanden, und lediglich der vierte Hörertyp hört dementsprechend das Wort immer wieder, wie die Verwendung des Präsens anzeigt. Bei den anderen bleibt das ausgesäte Wort unabgeschlossen (Präsens) und das Hören damit nur punktuell (Aorist) (Klauck 2 1986, 200). Vor dem Hintergrund von Mk 4,13-20 erweist sich die Parabel als »völlig auf [ihre] Deutung hin angelegt« (Luz 3 1999, 308; vgl. auch Gerhardsson 1968, 165-193). Die Rahmung durch die Höraufrufe (Mk 4,3.9) bereitet in signifikanter Weise Mk 4,14-20 vor. Jede Szene aus Mk 4,3-8 wird dahingehend interpretiert, wie das Wort unter variierenden Bedingungen gehört wird (vgl. Mk 4,3 mit 4,14; 4,5 f. mit 4,16 f.; 4,7 mit 4,18 f.; 4,8 mit 4,20). Auch die in der Parabel fehlende Nennung des Saatguts erhält von Mk 4,14-20 her seine Plausibilität. Doch eines ist bemerkenswert: Viele Aspekte bleiben auch in der Deutung noch ungedeutet. Immer noch bleibt unklar, wer der Säende ist (van Iersel 1993, 124). Und die vier verschiedenen Hörertypen werden zwar ausführlich beschrieben, aber die verwendeten Demonstrativpronomina werden nicht weiter spezifiziert und konkretisiert. Es wird in Mk 4,14-20 deutlich, was die einzelnen Hörertypen auszeichnet, aber wer zu den jeweiligen Typen gehört, bleibt offen (France 2002, 203). Ebenfalls bleibt »das Wort« unbestimmt und ist »auf den ersten Blick ein recht umfassender Begriff« (van Iersel 1993, 122). Auch fällt auf, dass das Säen aus Mk 4,4-8 ungedeutet bleibt (vgl. Mk 4,14.15.16.18.20) wie auch das Fruchtbringen am Schluss der Deutung (Mk 4,20; vgl. auch 4,19). In der exegetischen Literatur wird häufig darauf hingewiesen, dass Mk 4,14-20 nicht völlig harmonisch aufgebaut ist (z. B. Klauck 2 1986, 202; L. Schenke 2005, 130): Der Säende sät einerseits das Wort, aber andererseits auch Menschen, die vier verschiedenen Hörertypen zugeordnet werden. Statt diesen Umstand als eine Widersprüchlichkeit der Deutung zu werten, der ihren Grund darin hat, dass die Parabel nicht für die 301

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Deutung geschaffen wurde (so mit vielen anderen Klauck 2 1986, 202 f.), ist zu beachten, dass das narrative Verwirrspiel mittels der Saat- bzw. Pflanzenmetaphorik auch im weiteren Verlauf der Deutung durchgehalten wird: Es ist vom gesäten Wort die Rede, dann von Menschen, die keine Wurzel haben, vom Wort, das unfruchtbar wird, und von Menschen, die Frucht bringen. Textstrategisch rücken Wort und Mensch durch das geteilte Bild in ein Naheverhältnis und dieses wird narrativ noch weiter verstärkt, weil Wort und Mensch in der Deutung durch das Hören ebenfalls aufeinander bezogen sind. Denn jeder Hörertyp wird dargestellt hinsichtlich seines Hörens des Wortes. Unter Beachtung dieser doppelten Bezogenheit sind für Mk 4,3-9.13-20 Überlegungen zum sozialgeschichtlichen Hintergrund sowie zum Bildfeld mit einzubeziehen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die sozialgeschichtliche Analyse ist sowohl für die Parabel als auch für die Deutung durchzuführen. Die Parabel beginnt mit der Schilderung eines Aspektes bäuerlicher Tätigkeit: nämlich der Aussaat, bei der »das Ackerland gezielt zur menschlichen Ernährung« (Mell 1998, 82) eingesetzt wird. Da in der Antike die pflanzliche Kost überwog, hatte der Getreideanbau eine herausragende Bedeutung und bildet das »Rückgrat der Landwirtschaft Palästinas« (Lang 2001, 1093). Hinsichtlich des Getreideanbaus war der Anbau von Weizen (vgl. z. B. Dtn 8,8; Ps 81,17; Mt 3,12; 13,25) und Gerste (vgl. Dtn 8,8; 2Sam 21,9; Ruth 2,23) vorherrschend (vgl. zu den Getreidearten: Sallares 1998, 1030-1037). Josephus berichtet, dass in Palästina im 1. Jahrhundert n. Chr. die Armen Gerste aßen, die Reichen aber Weizen (Flav. Jos. Bell. 5,10,2). Ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit widmet die Sekundärliteratur der Frage nach den agrarischen Verhältnissen, die der Text voraussetzt. So gibt es eine breite Diskussion darüber, ob die Saatverluste, die in der Parabel erzählt werden, auf eine unwirtschaftliche, aber normale Anbaumethode im Palästina des 1. Jahrhunderts zurückzuführen seien, nach der der ungepflügte Boden besät und anschließend erst gepflügt worden sei, wobei Unkraut und Trampelpfade mit untergepflügt wurden (so Jeremias 11 1998, 7 f.; anders White 1964, 300-307). Da aber Mk 4,3-8 keine Angaben zum Pflügen macht, ist grundsätzlich zu bedenken, dass hier »kein Handbuch für palästinensische Agrartechnik« (Klauck 2 1986, 190) vorliegt. Vielmehr handelt es sich um eine perspektivische Erzählung, die sich auf die im Erfahrungsbereich des Alltäglichen angesiedelten Kenntnisse im Umgang mit der Saat konzentriert. Die Erzählung knüpft also am allgemein Einsichtigen an; in ähnlicher Weise hebt auch das dialogische »Gespräch über die Haushaltsführung« des Xenophon, in dessen Erzählverlauf die Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielt (Kap. 15-21), immer wieder hervor, dass das Wissen um Saat und Wachstum auf einem Boden keine Verstandessache ist, sondern durch genaues Beobachten und interessiertes Schauen und Hören »erlernt« wird, denn das Notwendigste in der Landwirtschaft wisse man schon durch Zusehen oder Zuhören beim Nachbarn (Xen. oic. 15,4; 15,10; 16,4; 19,17; 20,13; 21,1). Auch die zweite immer wieder traktierte Frage nach der Realitätsnähe des 30- bis 100fachen Ertrages ist in ähnlicher Weise zu beantworten. Während in der heutigen Landwirtschaft in Deutschland durchschnittlich von einem 30-40fachen Ertrag bei Weizen auszugehen ist, so kann man für die Antike mit 10- bis 15fachen Ernteerträgen rechnen (K. C. Hanson/Oakman 1998, 104 f.; Busse 1987a, 171), wobei zu 302

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beachten ist, dass in der Antike generell das Verhältnis zwischen Aussaat und Ernte und nicht wie in der Gegenwart das Verhältnis von Anbaufläche und Ernteertrag für entscheidend gehalten wird (Sallares 1998, 1033; vgl. auch die Ausführungen des römischen Agronomen Var. rust. I,44,1). Aber weil »die Erzählung weder die Größe des Ackers angibt, noch die Menge oder vielmehr das Gewicht der eingesetzten Aussaat bestimmt, will sie quantifizierbare Berechnungen aus dem Verhältnis des nach dem Drusch erwirtschafteten Erntegewichts im Vergleich zum Aussaatgewicht ausdrücklich nicht zulassen« (Mell 1998, 102 f.; gegen Jeremias 11 1998, 149 f.; von Gemünden 1993, 218). Auch hinsichtlich des Ertrages setzt die Erzählung vielmehr auf das Alltagswissen der Rezipienten, nach dem Ackerbau in der Antike mit vielfältigen Ursachen für geminderte Erträge verbunden war. Nicht nur klimatische (vgl. Mk 4,6; schon Theophrast [4. Jh. v. Chr.] bezeichnet die Witterung als wichtigsten Faktor für die Ernteerträge: Theophr. h. plant. 8,7,6) und geologische Einflüsse (der steinige Boden in Syrien ist in der Antike bekannt: vgl. Theophr. c. plant. 3,20,5; Plin. nat.17,30) konnten immer einen Teil des erhofften Ertrages zunichtemachen, sondern auch Unkräuter behinderten das Wachstum der Pflanzen (vgl. Mk 4,7; Theophr. h. plant. 4,10,6; Gen 3,18) ebenso wie tierische Schädlinge (vgl. Mk 4,4; EvThom 9,4; 1Kön 8,37; Am 4,9; 7,1-3; Jub 11,10-24; vgl. Habbe 1996, 80 f.). In der Antike war Ackerbau also immer mit nicht steuerbaren Ursachen für geminderte Ernteerträge verbunden, die das Leben unmittelbar beeinflussten. Das heißt: Die Menschen in der Antike erfuhren sich in ihrer Existenz von ihren natürlichen Ressourcen abhängig. Gleichzeitig stand es nicht in der Macht eines einzelnen Menschen, die zugänglichen Mengen der für das Leben konstitutiven Güter wie Getreide zu erhöhen (Malina 1993, 92). Erst vor dem Hintergrund der Anschauung von den begrenzten Gütern erschließt sich das Bedeutungspotential der Parabel. Die ersten drei Möglichkeiten des Ergehens der Saat gehören zu realen Gefährdungen, die die Wahrung des existenzminimalen Status verunmöglichen, aber eben nicht berechenbar sind. Die auf gute Erde gefallene Saat hingegen ist in ihrem positiven Ergebnis berechenbar und garantiert so einen existenzmaximalen Status. Dieser berechenbare Gewinn verdankt sich jedoch einer ganz bestimmten Sicht auf Nutzpflanzen. Während in unserer säkularisierten Welt Pflanzen nur noch als Objekte betrachtet werden, deren ausschließlicher Wert in ihrem Nutzen liegt, ist für die Antike eine andere Auffassung zu berücksichtigen. Eine Kultivierung von Pflanzen und damit die Herstellung einer den Menschen dienlichen kulturellen Ordnung kann nicht unter Ausklammerung der Götter bzw. Gottes funktionieren (vgl. z. B. Gen 3,17-19; Ex 23,14-17; 34,14-26; Ps 104,14-17; Ez 36,29 f.; Jo 1,11; Sir 35,10). Wenn Flavius Josephus so eindrücklich die landwirtschaftliche Ergiebigkeit Galiläas schildert und es bezeichnet als in »seiner ganzen Ausdehnung nach angebaut und geradezu überreich an fruchttragenden Gewächsen« (Bell. 3,3; vgl. Dtn 8,7 ff.), dann handelt es sich nicht nur um ein agrarökonomisch wichtiges Gebiet, sondern um ein Land, das unter Gottes Zuwendung steht. Ein dreißig-, sechzig- oder hundertfacher Ertrag ist deshalb die Ermöglichung der Sicherung des eigenen Status, aber in einer Weise, die die Menschen nur bedingt beeinflussen können, sondern die sie wesentlich Gott verdanken. Ähnlich wie Gen 26,12; Ps 107(106),37; Jub 24,15 und besonders Sib 3,261-264 soll in Mk 4,8 nicht ein ins fantastisch gesteigerter, eschatologischer Erntegewinn aufgezeigt werden, sondern die berechenbare, aufgrund von Gottes guter Ordnung der Schöpfung grundsätzliche Ermöglichung der eigenen Existenz. Zwar kommt auch die Endzeit nicht ohne Ernteertrag aus, 303

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aber die dort geschilderten paradiesischen Zustände sehen gegenüber Mk 4,8 anders aus: syrBar 29,5 spricht von zehntausendfältiger Frucht (vgl. 1Hen 10,17-19) und auch Papias, ein kleinasiatischer Bischof zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr., sagt für die paradiesischen Zeiten einen zehntausendfachen Ertrag voraus (Papiasfragment 1, nach Körtner 1998, 51). An die elementaren, lebensermöglichenden Vorgaben der Parabel knüpft die Deutung an, stellt aber nun das »Wort« (griech. lgo@ – logos) und seine Rezeption statt den Samen in den Mittelpunkt der Erzählung. Mit der Thematik der Rezeption des Wortes wird sozialgeschichtlich die fundamentale alttestamentliche Einsicht relevant, dass das Wort JHWHs zu hören ist. Wobei »das klassische Grundwort für lgo@ in Geschichtsschreibung und Gesetzgebung, in Prophetie und Poesie […] tbd Wort« (Debrunner u. a. 1942, 90) ist. Besonders in der Schriftprophetie wird herausgearbeitet, dass das Prophetenwort deswegen wirksame Macht ist, weil es das Gotteswort ist (z. B. Jes 40,8; 55,10). So können die Schriften der Propheten bezeichnet werden als »Wort des Herrn«, als ef5 ej7tb4D¶ (debar JHWH; vgl. Hos 1,1; Mi 1,1; Zeph 1,1; sowie den singularischen Gebrauch von tbd als Inbegriff des Deuteronomiums in Dtn 30,14). Der entscheidende Vorwurf, der von den Propheten erhoben wird, ist das Nichthören (vgl. z. B. Hos 9,17; Jes 6,9.10; 42,20; 43,8; Jer 7,13; Ez 3,7). Dem Menschen kommt die grundlegende Aufgabe zu, auf das Wort zu hören. Dies ist die zentrale Aussage des Schema’ Israel (vgl. Dtn 6,4-9; 11,1321; auch Dtn 27,9.10) und der alles bestimmende Satz in den Prophetenbüchern lautet: »Höre das Wort des Herrn« (vgl. Jes 1,[2.]10; Jer 2,4; Am 7,16). Das Wort ist unter alttestamentlicher Perspektive immer schon klangvolles, wirksames und mächtiges Wort Gottes. An dessen Gehörtwerden entscheidet sich die Frage des Heils wie auch des Unheils für Israel. Wo Gottes Wort ergeht, da wird das Hören folgenreich, denn es geht um »ein Hören, das den Einsatz der gesamten Person einschließt, das gelungene Leben in Beziehung zu Gott« (L. Schottroff 2005, 91). An dieses alttestamentliche Verständnis zum Wort und dem Hören können die Rezipienten von Mk 4,14-20 anknüpfen. Der griechische Begriff für »Wort«, lgo@ (logos) meint in seiner Grundbedeutung ein Sammeln und (Aus-)Lesen, zu dem auch das »konkrete Gesprochenwerden« zählt (vgl. Debrunner u. a. 1942, 78), das sich sowohl auf eine mündliche wie auch auf eine schriftliche Kommunikation beziehen kann. Wenn der markinische Jesus die Leserinnen und Leser auffordert zu hören (Mk 4,3.9) und dann im weiteren Verlauf der Deutung den Rezeptionsprozess des Wortes selbst zum Thema macht, dann knüpft er an ihr Wissen bezüglich der Wirkmächtigkeit und der klangvollen Hörbarkeit des Wortes an. Die mit dem Hören des Wortes gegebene Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Israel wird transformiert in den Bereich der Evangeliumskommunikation, denn es geht nun um die im Evangelium inskribierten Worte Jesu, die er als der Sohn Gottes spricht (vgl. Mk [1,1]; 1,11; 9,7; 15,39). So ist es besonders der SohnGottes-Titel, der immer in rezeptionsrelevanten Zusammenhängen des Evangeliums verwendet wird. Es liegt somit an den Hörenden, das Wort Jesu durch ihr lautes Lesen wieder zum Sprechen zu bringen – und damit hörbar zu machen; wie auch das Wort JHWHs durch das Lesen der Tora oder der Prophetenbücher wieder hörbar wird. Aufschluss über die den Rezipienten zugedachte Verantwortung gibt das zugrunde liegende Bildfeld.

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Vom Fruchtbringen Mk 4,3-9.(10-12.)13-20

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Nicht nur weil dem Geschehen von Aussaat und Frucht/Ernte in der antiken Agrarkultur ein hoher Stellenwert zugemessen wird (so Klauck 2 1986, 192), sondern auch weil Pflanzen und Menschen unter dem Aspekt des Lebendigen ein gemeinsamer Grundbestand verbindet, der mit der immer vorhandenen Möglichkeit des Verlustes des Lebendigen zu rechnen hat, eignen sich gerade Nutzpflanzen und die Aspekte von Saat, Wachstum und Frucht/Ernte für metaphorische Bildungen, um Aussagen über den Menschen zu machen. Unter Einbeziehung der reichen Bildfeldtradition, die in komprimierter Zusammenstellung in den einzelnen Erzählzügen wirksam ist, zeigt sich, dass eine landwirtschaftliche Szenographie in der Parabel »kontrafaktisch durchbrochen« (von Gemünden 1993, 217) wird. Das die Parabel bestimmende Bildfeld Saat – Wachstum – Frucht steht vielmehr im Dienste einer theologischen Anthropologie, welche in der Deutung in bestimmter Weise vertieft wird. Schon das Fehlen des Wortes »Same« in Mk 4,3-8 sowie die Verwendung des nichtagrarischen Wortes »der Säende« (griech. ¡ spefflrwn ho speiro¯n; vgl. Mell 1998, 113 Anm. 308) in Mk 4,3 sind ein Signal für den metaphorischen Charakter der Parabel. Im AT ist Gott mehrfach als Säender beschrieben, wobei es in diesen Fällen immer um das Säen von Menschen bzw. das Säen von Israel geht (die Septuaginta verwendet in Sach 10,9; Hos 2,25; Jer 38[31],27 f.; Ez 36,9 spefflrw [speiro¯ – säen]). Auch in späteren jüdischen Schriften spielt das Bild des Säens von Menschen eine Rolle und kann in den Zusammenhang mit einer Schöpfungstheologie gestellt werden, wie in der um ca. 100 n. Chr. entstandenen Apokalypse, die Esra zugeschrieben wird. So wird in 4Esra 8,43 ff. Gottes Erbarmen gegenüber Israel aufgrund seiner Schöpfung mittels der Saatmetaphorik thematisiert (vgl. auch 4Esr 5,48; 8,41; 8,43 ff.; 3Bar 70,2; 1Hen 62,8; PsSal 14,4; Jub 36,6; 1QS 8,5). Diese Gott-Mensch-Relation innerhalb der Saatmetaphorik lässt sich erweitern um eine dritte Komponente. Diese ist überwiegend in jüdischen Schriften aus hellenistischer Zeit zu finden (Klauck 2 1986, 193). Nun werden von Gott nicht die Menschen gesät, sondern gesät wird etwas durch Gott in die Menschen: Bei Philo von Alexandrien werden das Schöne, die Einsicht und die Tugend in die Menschen gesät (Philo, AL 1,49; weitere Belege bei von Gemünden 1993, 221, Anm. 101), aber die Metapher vom Säen wird auch mit der Schrift bzw. mit der Tora in Verbindung gebracht. Besonders in 4Esra ist Israels Nichteinhaltung des Gesetzes das große Thema, welches mittels einer Saat- und Fruchtmetaphorik bearbeitet wird. »Höre, Israel, auf mich! Du Jakobsstamm! Merke jetzt auf meine Worte! Ich säe heute mein Gesetz in euch; in euch bringt dieses Frucht, und dadurch sollt ihr ewige Glorie erlangen […]« (4Esra 9,30 ff.; vgl. auch 4Esr 8,6; 9,15 ff.). Die Saatmetaphorik steht nicht im Zusammenhang mit der Verkündigung (Lohfink 1986, 59; gegen Weder 4 1990, 109 f.), sondern ist auf das Gottesvolk bezogen. »Sie meint die Restitution Israels, den Neuanfang, den Gott selbst als Tat seines Erbarmens setzt« (Lohfink 1986, 60). Die Thematik der Aussaat lässt vor dem Hintergrund der alttestamentlich-jüdischen Schriften an Gott als den Souverän des Säens denken und rekurriert auf das Verhältnis Gott/Mensch, wobei Gott auch etwas in die Menschen säen kann. Die Leser und Leserinnen werden durch die Anknüpfung an die Saatmetaphorik schon in Mk 4,4-8 vorbereitet auf eine Situation, wie sie in Mk 4,14-20 entfaltet wird. Sofern die einzelnen Saatorte betrachtet werden, verdichtet sich diese mit Mk 4,3-8 gegebene Leserlenkung, 305

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denn die Beschreibungen der einzelnen Saatorte fallen mit metaphorischen Signifikationen für Menschen zusammen. Das Bild der fressenden Vögel (vgl. Mk 4,4) ist in den alttestamentlichen Schriften ein Bild für die Vernichtung von Menschen (vgl. z. B. Dtn 28,26; 1Sam 17,44; 1Kön 14,11; 16,4; 21,24; Jer 7,33; 15,3; 19,7; 34,20; Ez 29,5; Ps 79,2 [vgl. auch Hos 2,12 LXX]). Welken und Verdorren ist »Ausdruck menschlicher Hinfälligkeit« (Klauck 2 1986, 195) wie Ps 37,2; 90,5; 102,5; Jes 40,6-8.24; Jo 1,17 belegen. In der Tradition der Weisheit (SapSal 4,3 f.) wird das Schicksal der Gottlosen mit einer schlecht verwurzelten Pflanze verglichen (vgl. auch Sir 23,25; 40,15). Dornen sind ebenfalls ein Bild für Negativaussagen. So heißt es in Spr 15,19, dass »die Wege der Faulen von Dornen versperrt sind« (vgl. Spr 26,9 LXX; Jer 4,3). In der Schriftprophetie wird von den aufschießenden Dornen im Zuge von Vernichtungsandrohungen gegenüber Menschen/Volk Gebrauch gemacht (vgl. Jes 5,6; 7,23-25; 27,4; 32,13; 34,13; Jer 12,13; Hos 10,8; auch 2Sam 23,6 f.; Hi 31,40). Demgegenüber steht der Prozess des Fruchtbringens für eine gelingende Gottesbeziehung: In Ps 92,15 wird der Gerechte mit einer fruchtbringenden Pflanze verglichen. Das Bild des Fruchtbringens wird vor allem mit Bezug auf die menschlichen Werke verwendet (z. B. Jes 3,10; Jer 17,10; Ps 1,3; Spr 10,16; 11,30; 12,14; 13,12; 18,20, aber auch 4Esr 3,20.33; 6,28; vgl. Mell 1998, 63). Auch das Wachsen steht bildlich für einen positiven Vorgang: das Wachsen des Gottesvolkes (vgl. Gen 17,6.20; 26,22; 28,3; 35,11; 47,7; 48,4; Ex 1,7; 23,20; Lev 26,9; Ps 104[105], 24; Jer 3,16; 23,3). In dem narrativen Bild des Nebeneinanders der verschiedenen Saatgeschichten wird in Mk 4,3-8 eine komprimierte Konzentration von metaphorischen Elementen geboten, die auf der Grundlage alttestamentlich-frühjüdischer Schriften auf die GottMensch-Relation bzw. auf das Ergehen der Menschen vor Gott Bezug nehmen. Auch unter Einbeziehung der Bildfeldtradition erweist sich die Parabel als ganz auf die Deutung hin angelegt, in der die komprimierte Konzentration der einzelnen metaphorischen Elemente sich fortsetzt, aber nun einen explizit gemeinschaftskonstitutiven Bezug erhält, der sich in der Fokussierung auf den Rezeptionsprozess realisiert. Besonders die unbildlichen Begriffe bei den ersten drei Hörertypen in der Deutung stellen den (frühchristlichen) Gemeinschaftsbezug heraus. So begegnet die Formulierung »das Wort mit Freude annehmen« in 1Thess 1,6 und die Bedrängnis (griech. ql…vi@ thlipsis), die die Not der christlichen Gemeinde meint, z. B. in Mk 13,19.24; Apg 11,19; 14,22; 2Thess 1,4; Röm 8,35. Auch die Verfolgung (griech. diwgm@ dio¯gmos) stellt eine Gemeindeerfahrung dar (vgl. Mk 10,30; Apg 8,1; 13,50; 22,4). Die Täuschung (griech. ⁄p€th apate¯) begegnet in der Briefliteratur (vgl. Eph 4,22; Kol 2,8; 2Thess 2,10; Hebr 3,13; 2Petr 2,13) ebenso wie die Begierden (griech. ¥piqumffla epithymia; vgl. z. B. Röm 7,7 f.; Gal 5,24; 1Thess 4,5; 2Tim 3,6; Jak 1,14 f.); beide Begriffe verweisen auf gemeindebedrohende Einflüsse. Zu diesen ist auch der Satan zu zählen (vgl. z. B. 1Thess 3,5; 2Kor 11,3). Der gemeinschaftskonstitutive Bezug der Parabeldeutung wird ebenfalls betont durch die Verwendung des Begriffs lgo@ (logos – Wort), welches nur hier im Munde Jesu begegnet und in frühchristlichen Schriften ein terminus technicus für die Verkündigung ist (vgl. z. B. Apg 4,4; 6,4; 8,4; Gal 6,6; Kol 4,3 u. ö.). Auch »Frucht« ist in der frühchristlichen Literatur häufig ein Bild für den Ertrag der Verkündigung (vgl. z. B. Röm 1,13; Phil 1,22; Kol 1,6; Joh 15,5). Da die Metaphorik von Saat und Wachstum in der Deutung explizit im Hinblick auf eine Gemeinschaft und ihre Probleme verwandt wird, ist hier von einer Innovation des Bildfeldes zu sprechen (von Gemünden 1993, 416-419). Ebenso wie in Mt 13,36-43 306

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werden die Saat- und Wachstumsbilder als ein neues Gemeinschaftsbild für die christliche Gemeinde verwendet. Jedoch ist mit Blick auf das Bildfeld auf eine Besonderheit für Mk 4,14-20 hinzuweisen, nämlich der doppelte Bezug der Saat- und Wachstumsbilder, die sich sowohl auf eine Gemeinschaft beziehen, wie auch auf das Wort. In der doppelten Bezogenheit der Bilder gewinnt die Parabeldeutung ihre Kontur für eine christliche Gemeinschaft, denn Saat und Wachstum von Wort und Gemeinschaft sind nicht zwei unabhängig voneinander ablaufende Prozesse, sondern sich bedingende, die zudem über das Hören miteinander verbunden sind. Entscheidend ist nun das Zusammenspiel des gesäten Wortes und der gesäten Menschen hinsichtlich der durch die Gemeinschaft zu leistenden Rezeption. Unter der Handlungsperspektive, dass Gott es ist, der sowohl das Wort wie auch die Menschen sät, darf sich die Leserin und der Leser vergewissert sehen, dass beide Größen die Qualität mitbringen, um Wachstum und Frucht hervorzubringen. Allerdings kommt nun auch ein neuer Aspekt hinzu: die Verantwortung für eine erfolgreiche Rezeption des Wortes, die durch die Rezipienten zu leisten ist. Hier geht es keineswegs um eine »Ethisierung« (gegen Jeremias 11 1998, 77 u. a.; mit Weder 4 1990, 113). Denn in der Deutung geht es nicht um ethische Phänomene, sondern vielmehr um die existentielle Ausrichtung des Menschen. Auch die ungedeutete Metaphorik des Fruchtbringens in Mk 4,20 spricht gegen ein ethisches Verständnis, denn sie sagt eben nicht konkret, was zu tun ist.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel und ihre Deutung sind eng aufeinander bezogen, so dass davon auszugehen ist, dass die Sämannsparabel »genauso gemeint war, wie es in Mk 4,13-20 gedeutet wurde« (Luz 3 1999, 310). Sowohl in narrativer struktureller Hinsicht als auch unter Einbeziehung des Bildfeldes zeigt sich, dass sie sich gegenseitig erschließen. Entgegen vielen modernen Deutungen handelt es sich deswegen bei der Parabel vom Sämann weder um einen alltäglichen Vorgang, noch um einen besonderen Fall, es handelt sich in seiner vorliegenden Textgestalt auch nicht um ein Reich-Gottes-Gleichnis, da die Sachhälfte »Reich-Gottes« nicht explizit angesprochen wird. Vielmehr veranschaulicht die Erzählung die gute Ordnung der Schöpfung (Vouga 2001, 162). In dieser Ordnung ist die Möglichkeit, dass nicht alles Frucht bringt, einkalkuliert, aber unter der Voraussetzung, dass diese gute Ordnung sich gerade deshalb als gute Ordnung erweist, weil sie die Prozesse des Fruchtbringens gleichzeitig zuverlässig ermöglicht. Dafür werden in der Parabel vier sich gleichzeitig realisierende Geschichten erzählt, bei der sich die Verlässlichkeit des Schöpfers darin zeigt, dass es genug Saat gibt, die aufgeht und Frucht bringt. Hier wird nicht abgerechnet, wohl aber gerechnet: Es gibt eben die anderen Samen, die Frucht bringen, mit ihnen muss man rechnen. Auf der Grundlage dieser von Gott bestimmten Ordnung der Schöpfung argumentiert auch die Deutung in enger narrativer und bildlicher Bezogenheit auf die Parabel, bei der nun ausgehend von vier verschiedenen Hörergruppen der Rezeptionsprozess des Wortes in typologischer Weise thematisiert wird. Hier zeigt sich die Verlässlichkeit des Schöpfers darin, dass der lebensermöglichende Grund – nämlich sein Wort – vorhanden ist, d. h. die Grundvoraussetzung der Deutung ist, dass es immer schon etwas zu hören gibt. Dieser Gedanke gewinnt unter Einbeziehung der alttestamentlichen Perspektive von 307

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der Hörbarkeit des wirkmächtigen Wortes Gottes sein Gewicht. Deshalb ist »hier der unbedingte Vorrang des Indikativs vor dem Imperativ« (Weder 4 1990, 113) zu betonen. Die in der Bildfeldanalyse herausgearbeitete doppelte Bezogenheit der Saat-, Wachstums- und Fruchtmetaphorik, die sowohl dem Wort als auch den Menschen bzw. Hörern gilt, betont nicht nur für beide Größen das mit der (Nutz-)Pflanze Gemeinsame, dessen Grundbestand die Bewahrung des Lebendigen ist, sondern setzt durch die in Mk 4,3-9.13-20 ungedeutete Figur des Säenden, die im Rahmen der Bildfeldtradition auf Gott als den Souverän des Säens hinweist, einen besonderen Schwerpunkt: Die Saatmetaphorik, die im AT auf Israel bezogen ist und die Restitution des Gottesvolkes meint, wird nun transformiert in die Zeit der Hörerinnen und Hörer der im Evangelium inskribierten Worte Jesu; für sie gilt nun noch einmal der Neuanfang, den Gott mit der sich konstituierenden Gemeinde macht. Erst die Theozentrik der Saatmetaphorik ermöglicht eine christologische Deutung des Säenden für die Zeit der Leserinnen und Leser des Evangeliums. Denn Gott selbst »beginnt die endzeitliche Erneuerung des Gottesvolkes, aber er beginnt sie in Jesus« (Lohfink 1986, 62). Da über die Metaphorik des Säens festgehalten wird, dass das Wort wie auch die Menschen aufgrund von Gottes Gesätsein die Qualität haben Frucht zu bringen, erwächst den Menschen nun über den zu leistenden Rezeptionsprozess eine Verantwortung für das Ergehen des Wortes. Mk 4,3-9.13-20 ist deshalb nicht als Paränese zu verstehen, sondern weist die Rezipienten ein in eine Evangeliumshermeneutik (ähnlich Luz 3 1999, 318), die auf der Grundlage von Gottes guter Schöpfung für die fruchtbringende Rezeption des göttlichen Wortes wirbt. Im markinischen Kontext heißt Fruchtbringen in die Nachfolge treten. Die Nachfolgegemeinschaft ist die Gemeinschaft, die um Jesu Willen und des Evangeliums Willen (vgl. Mk 10,29) vieles verliert (Mk 10,29 f.) und erleidet (Mk 13,9.11 f.), aber eben auch 100fach empfangen wird (Mk 10,30). Sie bleibt nur ein communio-Fragment, denn in Mk sind es gerade die engsten Verbündeten Jesu, die Jünger, die in der Nachfolge scheitern. Angesichts der Passion Jesu sind sie es, die nicht nachfolgen (vgl. Mk 14,50). D. h.: eine gelingende fruchtbringende Rezeption des Wortes wird nicht ideal vorausgesetzt, aber es wird hoffungsvoll an ihr festgehalten, wie Mk 4,20 zeigt. Die Parabel und ihre Deutung ist deshalb keine Erzählung, die zu einem guten Ende führt, sondern die am Ende einen guten Anfang macht. Gerade dadurch ist es eine »zukunftsoffene Geschichte« (Lampe 2006, 157).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Mt 13,3-9.18-23 Die Parabel steht innerhalb des matthäischen Gleichniskapitels (Mt 13,1-52), das gegenüber Mk 4 deutlich erweitert ist. Es finden sich wenige Änderungen gegenüber Mk 4,39.13-20: So schließt der Aufruf zu hören (Mt 13,9) umittelbar an die Parabel an und in Mt 13,8.23 werden die Ertragszahlen in absteigender, nicht in aufsteigender Folge genannt. Signifikant ist bei ihm die Einfügung von »verstehen« in der Deutung (Mt 13,19.23). Mt ordnet dem Nichthören und Nichtverstehen aus Mt 13,13, dem Hören und Nichtverstehen aus Mt 13,9 das Hören und Verstehen in Mt 13,23 zu, so dass durch diese Inklusion die Deutung »ganz auf das Leitwort Verstehen ausgerichtet ist« (von Ge308

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münden 1993, 231). Doch ist in der matthäischen Lesestrategie Verstehen keine kognitive Angelegenheit, sondern hat eine ganz praktische Dimension, die sich im Fruchtbringen und Tun (vgl. 13,23; diff. Mk 4,20; Lk 8,15) ausdrückt. Gerade die Fruchtmetaphorik, die sich bei Mt sehr häufig findet (vgl. Mt 3,8.10; 7,16-20; 12,33; 13,8.22 f.26; 21,34.41.44), verdeutlicht, »dass er mit ›Frucht‹ vor allem das Handeln (in Wort und Tat) meint, das untrennbar mit dem Menschen selbst, seinem Herzen, seinem Glauben oder Unglauben, verbunden ist« (Münch 2004, 188). Deshalb ist die Einheit von Verstehen, Fruchtbringen und Tun das Signum gelingender Jüngerschaft (Roloff 2005, 46). Zusammen mit der imperativischen Anrede in Mt 13,18 und dem durchgängigen Bezug der Saatmetapher auf die Hörer des Wortes sollen die Rezipienten das Gleichnis auf sich selbst beziehen und nach ihren Früchten fragen; so steckt in der Deutung »ein gehöriges Stück Selbstkritik« (Luz 3 1999, 319). Denn Hörersein konkretisiert sich für Matthäus im tätigen und wirkungsvollen Erweis. Die Zuhörenden können sich an die Schlussparabel aus der Lehre auf dem Berg in Mt 7,24-27 erinnert fühlen (Frankemölle 1997, 175). Auch hier ging es um das Hören und Tun des Wortes. Die antiklimaktische Schilderung des Ertrages in Mt 13,(8).23 weist die Adressaten durch die Voranstellung des höchsten Fruchtertrages in das Machbare ein und hält doch gleichzeitig fest, dass die Verwirklichung des Hörens im Tun nicht durch eine stetig steigende Quantifizierung ihr Ziel findet.

Lk 8,5-8.11-15 Im signifikanten Unterschied zur markinischen Version ordnet Lukas die Parabel und die Deutung nach der Geschichte von der Frau, die Jesus salbt (Lk 7,36-50), ein, in der es um Vergebung und Glaube geht. Der Abschnitt über Jesu wahre Familie, welcher im Markusevangelium vor der Sämannsparabel platziert ist, steht bei Lk nach der Parabel, ihrer Deutung und den daran anschließenden drei Sprüchen (Lk 8,16-18) in Lk 8,19-21. Die Parabel ist beträchtlich gekürzt (vgl. Mk 4,5 f. mit Lk 8,6), besonders die abgestufte Nennung des positiven Ertrages entfällt. Die Deutung der Parabel wird in der lukanischen Version hingegen durch Ergänzungen erweitert und der Same explizit mit dem Wort Gottes gleichgesetzt. Auffällig ist, dass der Teufel hier als aktiver Gegenspieler des Glaubens genannt wird. Da der Teufel zu der Zeit des Jesuswirkens entmachtet ist (vgl. Lk 4,13 und Lk 22,3), ist die Aussage von Lk 8,12 auf die Rezipientengegenwart bezogen; besonders die Schlussfolgerung ist wichtig: »damit sie nicht glauben und gerettet werden«. Unter Berücksichtigung, dass Lukas in seiner sog. Parabeltheorie Mk 4,12 ausgelassen hat, setzt Lukas einen eigenen Akzent. Der Gegenspieler Gottes mag zwar das Wort Gottes aus ihrem Herzen entfernen und so den Prozess des rechten Hörens, der zum Glauben und damit zur Rettung führt, unterbinden, aber er verhindert nicht, dass das mit dem Auftreten Jesu realisierte Rettungshandeln Gottes (vgl. Lk 3,6) und seines Wortes sich auch in einer Welt, die gegen Gott und sein Wort agiert, weiter vollzieht. Die Deutung, die sich auf das Schicksal derer, die vom Wort Gottes getroffen werden, konzentriert, thematisiert die vergeblichen Strategien, das eigene Leben sichern zu wollen unter Absehung des Wortes Gottes. Die Strategien führen nicht zum Glauben noch zur Rettung des Menschen, sondern »offenbaren seine Rettungslosigkeit« (Reinmuth 2006a, 125). Wenn in Lk 8,421 das Leitthema das »Wort Gottes« ist (Bovon 1989, 405; Klein 2006, 302), zeigt die lukanische Konzeption, wie dem Rettungshandeln Gottes entgegen zu gehen ist: Das gehörte Wort behalten und in Ausdauer Frucht bringen. Ausdauer (griech. ¢pomonffi hypo309

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mone¯) meint nicht passive Geduld, sondern Standhaftigkeit (Bovon 1989, 412). Aus diesem Grund ist auch das Wie des Hörens (Lk 8,18) wichtig und nicht das Was (diff. Mk 4,24). Im Zusammenhang mit dem Aufruf zu Hören aus Lk 8,8 wird die Parabel und ihre Deutung zu einer Entscheidung für die Rezipienten, ob sie sich auf der Grundlage ihrer faktischen Hörfähigkeit glaubend von der Rettung durch das Wort Gottes heimsuchen lassen. In der Deutung werden nicht die Erfahrungen der Christen in der Mission verarbeitet (gegen Klein 2006, 308), sondern derer, die in die Nachfolge der Brüder und Schwestern treten, die das Wort Gottes hören und tun (Lk 8,21).

EvThom 9 (1) Jesus sagt: Siehe, einer zog aus, um zu säen. Er füllte seine Hand, warf aus. (2) Einiges fiel auf den Weg. Die Vögel kamen, pickten es auf. (3) Anderes fiel auf den Fels, und es trieb keine Wurzeln hinab in die Erde und trieb nicht Ähren in die Höhe. (4) Und anderes fiel unter die Dornen, sie erstickten die Saat, und der Wurm fraß sie. (5) Und anderes fiel auf gute Erde, und sie brachte gute Frucht hervor. Es kam sechzigfältig und hundertzwanzigfältig. Das Logion steht durch das Verb »werfen« (kopt. nuje) in einem Stichwortzusammenhang mit Logion 8 und 10. Gegenüber der markinischen Version fällt auf, dass im EvThom die Aufrufe zu Hören nicht direkt an die Parabel anschließen (vgl. aber EvThom 8), es fehlt nicht nur die Überleitung zur Deutung der Parabel (Mk 4,10 ff.), sondern die Deutung selbst (Mk 4,14-20). Ähnlich wie in der lukanischen Version bietet auch EvThom eine gegenüber dem markinischen Text gekürzte Schilderung der auf den felsigen Boden gestreuten Saat. Bei dem vierten positiven Saatort wird betont, dass es die »gute Erde« ist, die gute Frucht hervorbringt. Hinsichtlich der ersten drei negativen Saatorte ist von keinerlei Wachstum die Rede, die Erzählung konzentriert sich vollkommen auf die Vernichtung durch die jeweiligen Opponenten. Dadurch wird die Erzählung fokussiert auf die Dichotomie zwischen der Ineffektivität hinsichtlich des Fruchtbringens versus der Effektivität des Fruchtbringens. Durch die fehlende Deutung ist es schwieriger, die Bedeutung der Erzählung im EvThom zu bestimmen. Unter Berücksichtigung der Feststellung, dass nach der Konzeption des Thomasevangeliums die Worte Jesu verschlüsselt sind und entschlüsselt werden müssen (vgl. EvThom 1), ist die »gute Erde«, auf die der fruchtbringende Same fällt, mit denjenigen gleichzusetzen, die die Interpretation der Worte Jesu finden (vgl. Schröter 1997, 318), während die ineffektiven Saatorte diejenigen sind, die nicht in der Lage sind, die Worte Jesu zu entschlüsseln. Die Parabel wird so zu einer Erklärung der Scheidung der Hörerinnen und Hörer angesichts der »verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte« (gegen Klauck 2 1986, 200; Mell 1998, 22).

Agr 220 Der Messias hat gesagt: Ein Samenkorn sprießt in guter Erde, aber nicht auf hartem Fels. So wirkt die Weisheit in einem demütigen Herzen, nicht aber in einem stolzen. Wer seinen Kopf so hoch trägt, dass er damit bis ans Dach reicht, wird ihn sich anstoßen. Wer aber mit gebeugtem Haupt eintritt, dem spendet das Dach des Hauses Schatten und Schutz. 310

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Agr 220, überliefert bei Abu Hamid al-Ghazali (gest. 505/1111), lässt Jesus als den Messias sprechen. Es findet sich keine vierfache Differenzierung der Saatorte, sondern nur eine zweifache (gute Erde versus harter Fels). Der Samen wird mit der Weisheit gleichgesetzt, die gute Erde mit einem demütigen Herzen und der harte Fels mit einem stolzen Herzen. Der Aspekt von Demut und Hochmut bleibt auch im weiteren Verlauf des Agraphons bestimmend und findet sich in ähnlicher Formulierung z. B. auch in Spr 11,2. Die Struktur des Spruches ist durch die positive Voranstellung der guten Erde und durch die Darstellung einer für jeden erfahrbaren alltäglichen Wirklichkeit auf Zustimmung angelegt. Diese wird sodann mit Bezug auf die Weisheit transformiert in den Bereich des menschlichen Verhaltens, so dass hier von einer ethisierenden Analogiebildung zu sprechen ist, die Maßstäbe für das eigene Handeln gewinnen will. Im Verlauf der Kirchengeschichte ist die Parabel vom Sämann und ihre Deutung überwiegend paränetisch verstanden worden. Besonders die Deutung bot sich an, um die verschiedenen Hörertypen für die Gegenwart zu kontextualisieren (vgl. Luz 3 1999, 303). Der herausgearbeitete warnende Charakter der Parabel und ihrer Deutung, die immer zu der Frage führt: »zu welchem Hörertyp gehörst du?«, veranlasste D. Bonhoeffer dazu, diese als »gesetzlich-pietistisch« (Bonhoeffer 1959, 590) zu charakterisieren. Dennoch fehlen in der reformatorischen Theologie auch nicht die Versuche, den Aspekt der göttlichen Gnade stärker zu betonen. So ist für Luther die Erzählung nicht so sehr eine vom Ackerboden bzw. vom menschlichen Herzen, sondern vom Samen bzw. »von gluck und ungluck verbi« (Luther, WA 17/I, 46). »In der reformatorisch geprägten Auslegung wird deshalb häufiger als anderswo der Sämann nicht nur mit Christus, sondern mit jedem Prediger identifiziert« (Luz 3 1999, 305 mit Belegen). Durch den Aspekt der Gnade kann gleichzeitig ein Gewissheitsmotiv fruchtbar gemacht werden, das sich bis in gegenwärtige Gleichnisauslegungen finden lässt: »Wie wir auf dem Felde immerfort das Sterben und das fröhliche Leben nebeneinander haben, die Enttäuschung und den lohnenden Gewinn, so müssen auch in Sachen des Wortes Gottes Erfolg und Erfolglosigkeit nebeneinander hergehen, das eine ist so sicher wie das andere« (Jülicher II 2 1910, 536). Ein wichtiger Impuls für die gegenwärtige praktisch-theologische Arbeit wäre einerseits die Aufarbeitung der engen Verwobenheit von Parabel und Deutung sowie andererseits die Arbeit an einer Überwindung einer paränetischen, auf den Kontrast zwischen Erfolg und Misserfolg aufbauenden Auslegung. Hinsichtlich des letzten Punktes ist das Gedicht »Sämann« von Hilde Domin ein Beispiel, wie durch die innovative Neubesetzung des Gegenspielers des Weizensamens eine paränetische, kontrastive Auslegungstradition verlassen wird und rezeptionsästhetisch die Frage relevant wird, was wir lernen müssen, um mit Gottes guter Ordnung der Schöpfung, die das »blühende Unkraut« wie auch die Nutzpflanze gleichermaßen vorsieht, kokreativ umzugehen.

Kristina Dronsch

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Literatur zum Weiterlesen D. Bauer, »Ein Sämann ging aus, um zu säen«. Das »älteste« Jesusgleichnis (Markus 4,1-9), BiHe 48 (2012), 13 f. U. Busse, Der verrückte Bauer: Mk 4,3-8, Kairos 29 (1987), 166-175. Ch. Dietzfelbinger, Das Gleichnis vom ausgestreuten Samen, in: E. Lohse u. a. (Hg.), Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde, FS Joachim Jeremias, Göttingen 1970, 80-93. P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Fribourg/Göttingen 1993, 209-234. B. Gerhardsson, The Parable of the Sower and its Interpretation, NTS 14 (1968), 165-193. H. Kaiser, Und jetzt hört mir bitte ganz genau zu. Das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3-20), in: A. Leinhäupl (Hg.), Das Markusevangelium. »Jesus Christus – was für ein Mensch?«. Bibelauslegungen mit Praxisvorschlägen, Stuttgart 2012, 54-63. M. Lau, Entlang des Weges gesät – doch nicht vergebens!: Eine Notiz zu Mk 4,4 im Licht von Mk 10,46, BN 142 (2009), 99-103. J. Liebenberg, The Parable of the Sower in the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, in: ders., The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin u. a. 2001, 350-414. G. Lohfink, Das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3-9), BZ 30 (1986), 36-69. J. Marcus, The Mystery of the Kingdom of God, SBL.DS 90, Atlanta 1986, 19-123. U. Mell, Die Zeit der Gottesherrschaft. Zur Allegorie und zum Gleichnis von Markus 4,1-9, BWANT 149, Stuttgart 1998. P. Müller/G. Büttner/R. Heiligenthal et al., Die sich durchsetzende Saat (Mk 4,3-9.13-20), in: dies., Die Gleichnisse Jesu. Ein Studien- und Arbeitsbuch für den Unterricht, Stuttgart 2002, 82-98. D. Peters, Vulnerable Promise from the Land (Mark 4:3b-8), in: V. G. Shillington (Hg.), Jesus and His Parables. Interpreting the Parables of Jesus Today, Edinburgh 1997, 69-84. J. Roloff, Jesu Gleichnisse im Matthäusevangelium. Ein Kommentar zu Mt 13,1-52, hrsg. v. H. Kreller und R. Oechslen, BThSt 73, Neukirchen-Vluyn 2005. M. A. Tolbert, Sowing the Gospel. Mark’s World in Literary-Historical Perspective, Minneapolis 1989, bes. 148-164.

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Aus dem Vollen schöpfen (Vom Maß) Mk 4,24 (Mt 7,2 / Lk 6,38) Und er sprach zu ihnen: Seht, was ihr hört! Mit dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden, und es wird euch hinzugegeben werden.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Das Logion vom Maß steht innerhalb der markinischen Gleichnisrede nach der Deutung der Sämannsparabel (Mk 4,13-20) im Zusammenhang mit weiteren Logien (vgl. Mk 4,21-25). Mit Mk 4,21 ist der Spruch sinnsemantisch verbunden durch die Nennung des Messgerätes »Scheffel« (mdio@ modios). Die Konzentration auf Phänomene der Wahrnehmung lässt sich sowohl in Mk 4,23 als auch in Mk 4,24a finden, so dass sich ein chiastischer Aufbau für Mk 4,21-25 ergibt, bei dem deutlich wird, dass Mk 4,24b-25 zusammen mit 4,21-22 rezipiert werden soll (Mk 4,21-22 [A]; Mk 4,23 [B]; Mk 4,24a [B’]; Mk 4,24b-25 [A’]). Der auf die Parabel vom Maß folgende Spruch in Mk 4,25 ist analog zur Struktur von Mk 4,21 f. mit einem »denn« (g€r gar) angeschlossen und gibt sich als verstärkende Begründung der Aussage des Logions vom Maß zu erkennen (Dautzenberg 1990, 51). Den Auftakt zur Parabel vom Maß im markinischen Kontext bildet die Aufforderung Jesu an die mit »ihr« eingeführten Subjekte: »Seht, was ihr hört!«, die weit mehr ist als eine Einführung in die Parabel vom Maß. Hier wird nicht nur voraus greifend das handelnde Subjekt in der 2. Pers. pl. eingeführt, welches auch bei der Parabel vom Maß bestimmend ist, sondern zugleich wird das Thema der folgenden zwei Verse vorbereitet: es geht um Wahrnehmungsprozesse. Durch die gleichzeitige Nennung von »hören« und »sehen« steht Mk 4,24 f. in einem Zusammenhang mit Mk 4,11 f. Dieser wird noch dadurch verstärkt, dass der Satzteil »denn wer hat, dem wird gegeben werden« (Mk 4,25) mit Mk 4,11 »euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben« eine Inklusion formt (J. Marcus 1986, 153). Bei der Parabel vom Maß (V. 24b) wird der Zusammenhang zwischen beiden Satzteilen durch eine kausale Relation der Verben gesichert, in der den mit »ihr« eingeführten Subjekten das demnächst angetan wird, was sie jetzt tun. Es wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem eigenen, gegenwärtigen Messen (aktiv) und dem zukünftigen Gemessenwerden (passiv). Dieser kausalen Relation liegt die folgende narrative Grundstruktur zugrunde: geben und erhalten bzw. Gabe und Gegengabe. D. h., dem Wortspiel liegt nicht eine kontrastive Gegenüberstellung zugrunde (wie in Mk 4,21), sondern durch den zweifachen Gebrauch des gleichen Verbs wird eine Gleichheit zwischen zwei (zeitlich) unterschiedlichen Situationen suggeriert, die diese Miniaturerzählung konstituieren. Generell kann das Prinzip der Gegenseitigkeit sowohl für oder als auch gegen die mit »ihr« eingeführten Subjekte verwendet werden. Durch die Hinzufügung von prosteqffisetai (prostethe¯setai – hinzugegeben werden) wird das Gemessenwerden jedoch in einem für die angesprochenen Subjekte positiven Sinn reinterpretiert (France 2002, 211). Da die »Beziehung zwischen Tat und Folge […] als Regel mit Allgemeingültigkeit 313

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Parabeln im Markusevangelium

formuliert« (Berger 1972b, 20) wird, wirkt das Bild vom Maß besonders dort, wo ein Erfahrungsdefizit bei den Leserinnen und Lesern vorhanden ist, in das hinein die Parabel vom Maß weisheitlich belehrend spricht. Dass die Parabel vom Maß bildlich zu verstehen ist, zeigt sich an ihrer doppelten Offenheit: weder ist erwähnt, was womit gemessen werden soll, noch wird erwähnt, wer zukünftig messen wird. Hinsichtlich des letzten Punktes sind die Leserinnen und Leser gefragt, Gott als den impliziten Akteur zu ergänzen – wie die Bildfeldtradition zeigt. Aber auch hinsichtlich der Frage, was womit gemessen wird, ist die Mitarbeit der Leserinnen und Leser gefragt. Aus dem näheren narrativen Kontext (Mk 4,1-25) ergibt sich, dass es sich entweder um das Hören und Verstehen des Wortes (Mk 4,13-20) oder um das Hören und Verstehen des Geheimnisses des Reiches Gottes handelt (Mk 4,10-12), je nach dem wie die Rezipienten das nicht näher erläuterte »Was« (tffl – ti) in Mk 4,24a bestimmen. Das Maß des Hörens und Verstehens des Wortes bzw. der Geheimnisse des Reiches Gottes steht in Relation zur erwarteten Gegengabe.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Bevor der Vorgang des Messens in den Mittelpunkt der sozialgeschichtlichen Analyse gestellt wird, sind einige einleitende Bemerkungen zum Verständnis des Begriffs »Maß« in der Antike notwendig. Während im 20. Jahrhundert das Wort »Maß« im Sinne einer empirisch zu vollziehenden Analyse Verwendung findet, trägt »Maß« in der Antike kosmologische Implikationen. Gott hat den Kosmos nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, und der Mensch hat die Verpflichtung, sein eigenes Maß durch das Erfassen der kosmologischen Gesamtordnung zu finden (vgl. z. B. Hi 28,25; 38,5, Jes 40,12; Weish 11,21) – wie schon Hegel (1986, 224 f.) herausgearbeitet hat. Diese Angewiesenheit auf die kosmologische Ordnung als der Maß-gebenden Form wird besonders schön in der apokalyptischen Schrift 4Esra deutlich: »Und mit dem Maß hat er die Zeiten gemessen und mit der Zahl die Zeiten gezählt, und er wird nicht in Bewegung setzen und er wird nicht auferwecken, bis erfüllt ist das vorherige Maß« (4Esr 4,37). An dieser Maß-gebenden Ordnung hatte der Einzelne oder das Kollektiv sich zu orientieren, so dass der Begriff »Maß« häufig in Verbindung zum Problemfeld der Ethik steht (Gumbrecht 2006, 235), wie nicht nur die Kontexte von Mt 7,2 und Lk 6,38 zeigen, sondern auch die sozialgeschichtliche Analyse zur Aktivität des Messens. Die Aktivität des Messens gehört in der Antike zu einem grundlegenden, alltäglichen Vorgang, der die soziale Interaktion hinsichtlich des Naturalientausches bzw. -handels (vgl. Ebner 1998, 87) in einer Gemeinschaft bestimmte. So wird in demotischen und griechischen Verträgen aus Ägypten festgehalten, dass beim Ausleihen und bei der Rückgabe von Saatgetreide derselbe Messbehälter zu verwenden ist (Couroyer 1970, 369-370). Während wir es heute mit Normmaßen und geeichten Messgeräten zu tun haben, sind die Werkzeuge des Messens in der Antike deutlich variabler und störanfälliger für eine missbräuchliche Nutzung. Lev 19,35 warnt davor, dass nicht unrecht gehandelt werden soll »mit der Elle, mit Gewicht, mit Maß«, sondern dass »rechte Waage, rechtes Gewicht, rechter Scheffel und rechtes Maß« die Grundlage des gemeinschaftlichen Austausches sein sollen. Vor zweierlei Maß, welches vor Gott als unrein gilt, warnt Spr 20,10 (vgl. Ez 45,10 f.). In sozialkritischer Perspektive greift Am 8,5 die Missbräuchlichkeit der Messvorgänge auf. Und Hesiod mahnt: »lass gut messen vom Nachbar und gib ihm selber 314

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Aus dem Vollen schöpfen Mk 4,24

auch reichlich wieder mit gleichem Maß, ja, mehr noch, wenn es dir möglich, dass du in Zeiten der Not auch später das Nötige findest« (Hes. erg. 349-351). Pseudo-Phokylides 14 rät: »miss zu mit richtigem Maß; gib lieber bei allem eine Zugabe«. Die Parabel vom Maß knüpft an die die Antike bestimmende soziale Interaktion von Gabe und Gegengabe an. Grundlegend ist dabei die ausnahmslose Erwartung der Reziprozität (France 2002, 210). Gutes und rechtes Maß lässt erwarten, dass auch dem Gebenden die gleiche Quantität an Gegengabe zusteht. Vorausgesetzt wird bei dieser reziproken Interaktion eine Zeit-Dimension: Das eigene Messen steht in der Erwartung, dass in Zukunft diese vorausgegangene Leistung erwidert wird, wobei der Standard des Wertes unverändert bleiben soll. D. h., dem auf der Grundlage von Gabe und Gegengabe operierenden Vorgang des Messens liegt immer ein Begriff der Gleichheit (bzw. Richtigkeit) zugrunde. Es ist gerade diese Gleichheits-Dimension, die bei der Parabel vom Maß in ihren neutestamentlichen Kontexten destruiert wird, indem eine mir zu gute kommende Maßlosigkeit durch meinen Interaktionspartner formuliert wird, die auch gegenüber der Bildfeldtradition einen eigenen Akzent setzt.

Analyse des Bedeutungshintergrundes (Bildfeldtradition) Die eben skizzierte soziale Logik, bei der einerseits eine Zeit-Dimension, andererseits der Aspekt der Gleichheit hervorgehoben wird, wirkt auch in der Bildfeldtradition bestimmend. Hier wird der Vorgang des Messens aus seinem gewohnten sozialen Kontext herausgenommen und in eine Gott-Mensch-Relation gestellt, wie besonders die jüdische Literatur zeigt. Diese Einordnung in eine Gott-Mensch-Relation ist möglich aufgrund der kosmologischen Implikationen, die sich als Suche nach Vorgaben für menschliches Handeln konkretisieren können. Deshalb ist auch in der Bildfeldtradition ebenso wie in der sozialgeschichtlichen Analyse ein Zusammenhang von »Maß/Messen« und einer »Ethik« auszumachen. So in mSot 1,7: »Mit dem Maß, mit dem der Mensch misst, misst man ihn«; die Qualität dieser Gott-Mensch-Relation wird in besonderer Weise im palästinensischen Targum zu Gen 38,25-26 hervorgehoben, wo es heißt: »Mit welchem Maß ein Mensch auf Erden misst, misst man ihm im Himmel; sei es ein gutes Maß oder sei es ein böses Maß«. Das rationale Prinzip dieses Bildes lautet: Maß um Maß – nicht mehr und nicht weniger. Das Prinzip von Gabe und Gegengabe wird hier in den Kontext des göttlichen Gerichts aufgenommen (vgl. zu weiteren jüdischen Belegen: Rüger 1969, 174 ff.), das in Analogie zur menschlichen strafenden Gerechtigkeit gestaltet ist. In Dtn 25,2 f. wird festgehalten, dass den Schuldigen nach dem Maß der Schuld Schläge gegeben werden sollen, aber eben keine weiteren hinzugefügt werden sollen (vgl. LXX o' prosqffisousin ou prosthe¯sousin, vgl. auch Flav. Jos. Ant. 4,8,21,238; Plato leg. 845a). Bestimmend ist hier der Gedanke der Retaliation, der Wiedergabe, der übertragen wird auf den göttlichen Interaktionspartner: Gott gibt so viel, wie man selber gibt (vgl. Sir 16,14; auch 1Clem 13,2; Polyk 2,3). Während auch für Mk 4,24 die Verbindung von göttlichem und menschlichem Handeln gilt, erfährt das Bildfeld doch eine Neuakzentuierung: Das stabilisierende Prinzip der Gleichheit, das dem Bild vom Maß inhärent ist, wird zugunsten eines dem Menschen zugewandten göttlichen Interaktionspartners aufgebrochen, der mehr gibt.

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Parabeln im Markusevangelium

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Der Spruch vom Maß, der vom menschlichen und göttlichen Messen spricht, bringt unsere intellektuelle Einsicht, nach der das Handeln Gottes verbunden ist mit unserem Handeln, in eine »tat«-sächliche Einsichtigkeit dieses Zusammenhangs durch das Wortspiel, mittels dessen das aktive Verb »messen« in ein Passivum divinum verwandelt wird (Tannehill 1975, 109). Hinter dem passiven Gemessenwerden steht Gott als der implizite Akteur. Durch sein am menschlichen Tun partizipierendes Handeln ist unser mit- und zwischenmenschliches Handeln nicht mehr relationslos, sondern erhält seine Bezogenheit auf Gott hin. Das in der Parabel verwendete Bild vom Maß ist deshalb als Handlungsmotivation zu verstehen. Diese wird jedoch in spezifischer Weise akzentuiert. Das klare, rationale Prinzip »Maß um Maß«, das die sozialen Interaktionen einer Gemeinschaft bestimmt, wird durchbrochen zu Gunsten einer Maßlosigkeit des göttlichen Interaktionspartners, denn es wird über das Maß im positiven Sinn hinzugegeben. Diese besondere Akzentuierung arbeitet wiederum rückwirkend an unseren menschlichen Einstellungen: Es wird zwar kein Schlaraffenland versprochen, in dem alles Gute umsonst zu haben ist, aber es besteht auch kein Grund, bei unserem eigenen menschlichen Geben zurückhaltend zu sein, denn wir dürfen eine Gegengabe erwarten, die aus dem Vollen schöpft.

Aspekte der Parallelüberlieferung und der Wirkungsgeschichte Mt 7,2 Denn mit dem Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch gemessen werden. Während Mt in seinem Gleichniskapitel unmittelbar im Anschluss an seine Version der sog. Parabeltheorie den Spruch vom Haben anschließt (Mt 13,2), wird die Parabel vom Maß bei Mt wie auch bei Lk innerhalb ihres Q-Stoffes im Zusammenhang mit dem Logion vom Richten verwendet und ist eingebettet in die »Rede auf dem Berg« (Mt 5-7) in den Abschnitt Mt 6,19-7,11, in dem es thematisch um alternative christliche Grundhaltungen geht. In weisheitstheologischer Adaption (Frankemölle 1994, 255 f.) werden Leseanleitungen für ein gelingendes, auf das menschliche Miteinander ausgerichtetes Leben gegeben. In Mt 7,1 steht das im negativen Imperativ formulierte Verbot des Richtens, welches in Mt 7,2 eine doppelte Begründung erfährt, die die Reziprozität des gegenwärtigen Richtens und Messens und des zukünftigen Gerichtetwerdens und Gemessenwerdens hervorhebt. Dabei fungiert die Parabel vom Maß nicht als bloße Warnung vor dem Richten (gegen Neuhäusler 1970, 109 u. a., mit Klauck 2 1986, 239), sondern sie bereitet auf die in Mt 7,12 eingespielte grundlegende Verhaltensregel (goldene Regel) vor, die nicht die Menschlichkeit im Blick hat, sondern die Mitmenschlichkeit (Weder 4 2002, 234). Aus diesem Grund steht auch nicht eine eschatologische Ausrichtung im Zentrum von Mt 7,2, sondern die zwischen dem gegenwärtigen Messen und zukünftigen Gemessenwerden gegebene Zeit als der Faktor, der zum wohlwollenden mitmenschlichen Verhalten verpflichtet. Es ist die gegebene Zeit, die Zeit lässt, das eigene Tun zu qualifizieren, und zwar in selbstkritischer Weise, wie Mt 7,3-5 darlegt. 316

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Aus dem Vollen schöpfen Mk 4,24

Lk 6,38 Gebt, und euch wird gegeben werden. Ein gutes Maß, zusammengepresst, geschüttelt und überfließend wird man euch in den Bausch des Gewandes legen. Denn mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch wieder zugemessen werden. Im Anschluss an die Forderung »seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist« (Lk 6,36) folgt eine viergliedrige Spruchreihe von je zwei Verboten und Geboten (Lk 6,37 f.), an die die Parabel vom Maß in deutlicher Erweiterung des Bildes vom Maß als abschließende Begründung anschließt. Es geht nicht um eine »strenge Retaliation« (gegen Ebner 1998, 85) beim Logion vom Maß im lukanischen Kontext, sondern – dies macht besonders Lk 6,38ab mittels der Rede vom vollen, überfließenden Maß deutlich – um die Zusage einer überreichen Gabe Gottes. Diese Zusage ist die Voraussetzung, aufgrund derer die Parabel vom Maß ihr argumentatives Profil gewinnt: dem eigenen Messen liegt immer schon das zugesagte Gegebensein des überfließenden Maßes voraus, das der als Tasche verwendete Bausch des Gewandes nicht fassen kann – was also nach menschlichen Maßstäben unfassbar ist (Neuhäusler 1970, 111). Die Korrektheit von Messvorgängen zum Zwecke der Quantifizierung und Limitierung des Gegebenen wird im lukanischen Kontext zu einem Bild der Maßlosigkeit – narrativ unterstrichen durch die klimaktisch angeordneten Adjektive in Lk 6,38ab. Dieses unkalkulierbare, göttlich Gegebene ist das, was der Maßstab von Mitmenschlichkeit ist, die sich in Barmherzigkeit und Vergebung zeigt. Die Parabel vom Maß hat eine »sprichwörtliche« Wirkungsgeschichte, die auf dem in ihr zur Sprache gebrachten Prinzip der Reziprozität gründet. Dabei wird das stabilisierende Prinzip der Gegenseitigkeit in seiner sprichwörtlichen Verwendung überwiegend im Zusammenhang des Sprachgebrauchs der strafenden Gerechtigkeit angewandt. Genau an dieser Stelle vermögen die neutestamentlichen Kontexte der Parabel vom Maß eine neue Perspektive zu eröffnen, indem sie in der Logik des Spruches gegen dessen Logik argumentieren und ein göttliches »Mehr« ins Spiel bringen, das gerade den strafenden Aspekt grundsätzlich in Frage stellt.

Kristina Dronsch Literatur zum Weiterlesen M. Ebner, Jesus – Ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, HBSt 15, Freiburg i. Br. u. a. 1998, 54-87. E. Neuhäusler, Mit welchem Maßstab mißt Gott die Menschen? Deutung zweier Jesussprüche, BiLe 11 (1970), 104-113. H. P. Rüger, »Mit welchem Maß ihr messt, wird euch gemessen werden«, ZNW 60 (1969), 174182.

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Mut zur Selbst-Entlastung (Von der selbständig wachsenden Saat) Mk 4,26-29 (EvThom 21,9 f.) (26) Und er sagte: So ist die Königsherrschaft Gottes, wie wenn ein Mensch den Samen aufs Land geworfen hat (27) und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same keimt und wächst empor, der Mensch weiß nicht wie. (28) Selbsttätig bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. (29) Wenn es aber die Frucht gewährt hat, sendet er sofort die Sichel hin, weil die Ernte da ist.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Innerhalb der ersten Rede des Mk-Ev, der Parabelrede 4,1-34, leitet die Anreihungsformel »und er sagte/sagt« V. 26 zum dritten Male eine Parabel ein (V. 2-9; 13-20; 26-29). Die Wiederholung der Formel in V. 30 grenzt dann deutlich diesen Text vom Folgenden ab und bringt die letzte Parabel der Rede (4,30-32). Auch die eingestreuten Gespräche und Spruchgruppen der Rede werden mit dieser Formel eingeführt (11-12; 21-23; 2425). Sie bildet achtmal das durchgängige Aufmerksamkeitssignal für einen neuen Text. Mit »so« (o˜tw@ houto¯s) setzt eine singuläre Parabeleinleitung ein. Allerdings hat sie im Mt-Ev die übliche Variante ¡moffla ¥stffln (homoia estin) oder £moiðqh (ho¯moio¯the) (Mt 20,1; 18, 23; Jülicher II 2 1910, 539). Die Königsherrschaft Gottes ( basileffla to‰ qeo‰ he¯ basileia tou theou) ist das Thema des Vergleichs mit der anschließenden Erzählung. Bei dem folgenden »wie« (£@ ho¯s) muss das »wenn« (¥€n ean) mit Konjunktiv mitgedacht werden: »wie wenn«; V. 27 b löst sich dann aber von dem »Wenn«-Satz und bildet einen eigenen Hauptsatz (Jülicher II 2 1910, 539). Die Erzählung selbst führt sehr allgemein einen »Menschen« ein, der in der Landwirtschaft tätig ist. Der einleitende Nebensatz und die folgenden Hauptsätze bauen jeweils ein Erzählereignis (= Sequenz) auf und fügen eine Erläuterung ein: V. 26b-27a = Ereignis 1 (Säen, Schlafen und Aufstehen); 318

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Mut zur Selbst-Entlastung Mk 4,26-29

V. 27b = Ereignis 2 (Keimen, Empor-Wachsen, Nicht-Wissen); V28 = Erläuterung (Selbsttätigkeit der Erde); V. 29 = Ereignis 3 (Frucht Gewähren, Sichel Aussenden, Ernten) Ereignis 1 bringt mit dem Aorist Konjunktiv den Abschluss einer landwirtschaftlichen Haupttätigkeit, und zwar der des Säens. Bereits der Anfang der Parabelrede spricht von der Komplikation der Aussaat (4,29). Nun wird ein anderer Aspekt des Säens betont, und zwar die Zeit nach der Aussaat. Das folgende Präsens »schläft« und »aufsteht« markiert den Wendepunkt. Das weitere Handeln des Bauern/der Bäuerin wird aktualisiert und in die Nahperspektive gerückt (Viktor 2004, 27-29). Nach getaner Arbeit ruht sich »der Mensch« aus (Gegenaktion) und »steht« zu neuen Tätigkeiten »auf« (neuer Zustand). »Nacht und Tag« geben den sich wiederholenden, langen Zeitrhythmus an, zu dem »sofort« (e'qÐ@ euthys) im Schlussereignis 3 in Kontrast steht. Der Schlaf gehört zur Nacht, der Tag zur Arbeit. Die Ereignisse 1 und 3 umschließen das Ereignis 2 mitsamt der Erklärung und rücken es in den Mittelpunkt (von Gemünden 1993, 186 f.). V. 29 wiederholt den Wechsel vom Aorist (»wenn gewährt hat«) zum Präsens und verstärkt so die Umschließung mit V. 26. Es liegt ein Gleichnis im engeren Sinne bzw. eine Natur-Parabel vom Wachstum vor. Ereignis 2 bringt eine naturwissenschaftliche Beschreibung im Präsens. Der kollektiv gemeinte Same »keimt« und wächst hoch, doch Bauer/Bäuerin wissen nicht um die Ursache von erfolgreichem Wachsen. Mit der Erläuterung V. 28 rückt der Erzähler die Perspektive des Lesers noch näher an das aufwachsende Kornfeld heran. Er veranschaulicht die beschreibende Sentenz von der Selbsttätigkeit der Erde an einer Einzelpflanze: Zuerst werden der grüne Halm, dann die Ähre, dann die Körner in der Ähre hervorgebracht. Der bestimmte Artikel fällt zwar erst am Schluss für »das Korn in der Ähre«, muss dann aber auch auf den vorausgehenden Halm mit Ähre bezogen werden. So schlagen die Luther- und die Einheitsübersetzung zu Recht »den Halm … die Ähre … das volle Korn …« vor. Mit dieser Erläuterung hat der Erzähler für die Zuhörer das anfängliche Nichtwissen von Bauer/Bäuerin aufgelöst und dem Leser eine Weiche für die Übertragung der Bildhälfte in die Sachhälfte »Königsherrschaft Gottes« gestellt. Dazu gleich mehr. Ereignis 3 bringt mit dem Aorist den Abschluss des Wachstums. »Die Frucht« wird zum Handlungsträger; sie bestimmt den Zeitpunkt der Ernte. »Sofort« reagiert der Mensch und beendet den gleichbleibenden Rhythmus von Schlafen und Wachen. Er »sendet« (⁄postffllw apostello¯) die Arbeiter und Arbeiterinnen hin, die zum einen »die Sichel« zum Kornschneiden besitzen, zum anderen wie im Buch Ruth für das Binden der Ähren und die Nachlese sorgen (Ruth 2,1-3,15). Das Aussenden der kollektiv gemeinten Sichel mit der Begründung der angekommenen Erntezeit klingt allerdings noch deutlicher an Jo 4,13 an, den die Septuaginta ein wenig variiert: »Sendet die Sicheln aus (¥xaposteffllate drffpana exaposteilate drepana), weil die Weinlese/Ernte da ist« (ˆti parffsthken trÐghto@ hoti pareste¯ken tryge¯tos [Mk 4,29: ¡ qerism@ ho therismos]) (Klauck 2 1986, 219 f.). Die hebräische Fassung hat wie hier den kollektiven Singular »Sichel« und den weiten Begriff »Ernte«, ansonsten aber bleiben die Verben in allen drei Texten gleich. In Joel ist das Aussenden der Sichel zur Ernte ein Jubelruf (Jeremias 11 1998, 151; Gnilka 5 1998, 184). Er verheißt das kommende

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Parabeln im Markusevangelium

heilvolle Gericht Gottes für Israel, zu dem alle Völker und Israel mit schwingenden Kampf-Sicheln eilen. Apostello¯ (»Senden«) hat im Mk-Ev eine herausragende Bedeutung. Es geht zum einen um die von Gott vollmächtige Sendung von Engeln (Mk 13,27), von Johannes dem Täufer (Mk 1,2), von Jesus (Mk 9,37; 12,6), vom Zwölferkreis (Mk 3,14; 6,7; 14,13), von Jüngern (Mk 11,13), von Geheilten (Mk 8,26), von Dämonen (Mk 5,10), von Knechten (Mk 12,2.3.4.5), zum anderen um die unheilvolle, menschliche Sendung durch die Familie Jesu (Mk 3,31), durch Herodes (Mk 3,17.27), durch Pharisäer und Herodianer (Mk 12,13). Die zweite Gruppe der Sendenden missbraucht ihre Vollmacht, die erste Gruppe handelt in der Vollmacht Gottes. Ernte ist im AT und in der Apokalyptik eine »feste Metapher für das Endgeschehen« (Klauck 2 1986, 223). Der Mensch, der die Sichelträger und Arbeiterinnen ausschickt, gehört aufgrund des indirekten Schriftanklangs zu den von Gott bevollmächtigten Helfern an der eschatologischen Ernte. Das Gleichnis erhält mit diesem Zitat für den schriftkundigen Leser eine zweite Weiche der Übertragung. Der »Mensch« wirkt mit Gott bei der Durchsetzung von dessen Königsherrschaft mit und fordert indirekt den Hörer auf, ebenfalls mitzuwirken. Jülicher sieht in dieser doppelten Weichenstellung eine Störung. Er schließt aus ihr, dass V. 29 mit dem Aussenden zur Ernte später hinzugefügt oder überarbeitet wurde (Jülicher II 2 1910, 545). Die Störung liegt aber nur dann vor, wenn nur ein tertium comparationis (Vergleichspunkt) angenommen wird und theologische Assoziationen in der Bildhälfte von vornherein als nicht jesuanisch gelten. Richtig ist, dass das Ereignis 2 (V. 27b) mit der Erläuterung V. 28 von den Ereignissen 1 und 3 umrahmt wird und daher im Mittelpunkt steht. Der Vergleichspunkt zur Gottesherrschaft ist daher: »Die keines Nachhelfens bedürftige Sicherheit der Weiterentwicklung« (Jülicher II 2 1910, 544). Zu Letzterem gehört dann noch das gute Ende, also die Ernte bzw. die Vollendung der Königsherrschaft Gottes, die mit Jesus ihren Anfang gefunden hat. Eine Doppelpoligkeit ist zwar deutlich angelegt, sie durfte aber nach der nach Jülicher orientierten Auslegung nicht mit Handlungsträgern und mit atl. Intertextualität verbunden werden. Gnilka hebt dagegen die Doppelreihe der Subjekte heraus, die ineinandergreifen: »Landmann-Same-Landmann/Frucht-Landmann« (Gnilka 5 1998, 1,183). »Erde« und »Ernte« mit der Sichel sind zu ergänzen. Tatsächlich wechseln bei jedem Ereignis die Subjekte. In Ereignis 1 dominiert der »Mensch« als erster Handlungsträger. Er hat als zweiten Handlungsträger den »Samen«; dieser steht im Dienst des »Menschen«. In Ereignis 2 dominiert dann der Same. Zum »Menschen« entsteht eine Distanz. Die Erläuterung trägt die Erde als weiteren Handlungsträger nach. »Mensch« und »Erde« arbeiten gemeinsam zusammen mit positiven Synergieeffekten für den Samen (Theißen 1994, 174). In Ereignis 3 wird schließlich der zur Frucht verwandelte Same wieder zum ersten Handlungsträger, der den Menschen zur Tat auffordert. Anschließend handelt der Mensch mit neuen Mitakteuren, die die Handlung mit der »Ernte« abschließen. Dieser ständige Wechsel der Subjekte lädt zur Identifikation ein. Zum einen wird die bäuerliche Welt in ihren vielfältigen Handlungsträgern und Interaktionen weisheitlich zutreffend wiedergegeben. Zum anderen verläuft die Königsherrschaft Gottes in vergleichbarer Weise. Viele Akteure und Interaktionen ermöglichen erst die Sichtbarkeit ihres Anbruchs. Es liegt in der Linie der vorangegangenen Parabel vom Sämann (Mk 4,1-9), die Verkünder mit dem Sämann zu identifizieren, den Samen mit der Botschaft, nicht mit der Got320

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Mut zur Selbst-Entlastung Mk 4,26-29

tesherrschaft selbst, und den Boden mit den Hörern. Wie der Sämann die Geduld nicht verlieren und seine Aufgabe aufgeben darf, der Boden unterschiedlich aufnahmebereit ist, – ohne die allegorische Zuordnung zu Stufen des Glaubens wie in der nachgetragenen Auslegung Mk 4,13-20 –, und die Botschaft verloren gehen und ankommen kann, so repräsentiert in dieser Parabel weiterhin der »Mensch« die weiblichen und männlichen Verkünder, der Same die Botschaft, die Erde die Hörer. Hinzu kommen die Erntearbeiter-Innen als Helfer von Bauer/Bäuerin. Das Zusammenwirken aller dieser Personen und Tätigkeiten lässt die Königsherrschaft Gottes in ihren Anfängen erkennbar werden und gibt sogar schon an der beginnenden Ernte Anteil.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Kommentatoren sind sich einig, dass diese Parabel zur Welt der Landwirtschaft gehört. Bauer/Bäuerin erfüllen im Winter ihre Berufspflicht. Nach getaner Tat schlafen sie in der Nacht und stehen dann am nächsten Tag auf zu neuer Tätigkeit. Ob diese sich weiterhin auf die Pflege der Saat bezieht, ist umstritten. Die Parabel vom Unkraut unter dem Weizen Mt 13,24-30 setzt eine solche Pflege voraus. Sie widerspricht auch nicht dieser Parabel. Denn das Nichtwissen von Bauer/Bäuerin bezieht sich ausschließlich auf den Vorgang des Auskeimens und Austreibens des Samens, nicht auf die weiteren Umstände wie Unkraut, Bewässerung und Dünger. Daher verweist der Erzähler ausdrücklich auf die »selbsttätige« (a'tom€th automate¯) Macht der Erde. Durch sie wirkt gemäß dem 1. Schöpfungsbericht Gen 1,11 Gottes Schöpfungsmacht (Philo opif. 167). Ohne das Zusammenkommen mit der Erde kann das Samenkorn nicht Halm, Ähre und Frucht hervorbringen. Daher sollte dieser V. 28 nicht zu einem »allegorischen Zug«, der eventuell später hinzugewachsen ist, erklärt werden (gegen Pesch 5 1989, 258 f.; Kuhn 1971, 107109). Der Schöpfungsglaube bildet für die damalige, bäuerliche Gesellschaft in Palästina die naturwissenschaftliche Erklärung für die Wachstumsprozesse in der Natur (Rau 1990, 124-129). Er verweist zugleich auf die neu angebrochene Königsherrschaft Gottes. Auffällig ist dagegen der indirekte Schriftanklang Jo 4,13. Warum werden die theologisch gefüllten Begriffe »aussenden/apostello¯«, »sofort«, »Sichel« und »Ernte« so massiv mit diesem Schriftanklang an den Schluss gesetzt? Bringt jede Ernte Bauer/Bäuerin auf apokalyptische Gedanken? Zum einen geht es ja um Jubel aufgrund der geglückten Ernte. Zum anderen kann aber auch die Erntezeit psychische Enttäuschungen und Krisen anheizen. Für wen wird diese Ernte eingefahren? – mögen sich viele verarmte Bauern und Tagelöhner gefragt haben, die an die Großgrundbesitzer hohe Pacht, an die Römer Grund- und Kopfsteuer und Zölle und an den Tempel die Tempelsteuer abführen mussten. Die drei Wallfahrtsfeste zum Tempel waren ja Erntefeste: Gerstenernte = Passa, Weizenernte = Wochenfest (Pfingsten), Obsternte = Laubhüttenfest. Die Wallfahrtstage waren beim römischen Präfekten gefürchtet, weil an ihnen in Jerusalem immer wieder Tumulte entstanden (Flav. Jos. Bell. 2,223-228). Die Betonung der »Sichel« macht daher Sinn. Nach Jo 4,10 vermögen die Bauern aus den Sicheln »Lanzen« zu schmieden. Der »heilige Krieg« gegen Israel wird von allen Völkern ausgerufen und mit umgeschmiedeten Sicheln geführt (Jo 4,9 f.). Ob es Jahwe zu einem Endkampf kommen lässt oder die Völker selbst entwaffnet, lässt Joel offen (Jo 4,11-21). 321

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Parabeln im Markusevangelium

Sicheln vermögen aber nicht nur die Bauern feindlicher Völker, sondern auch die Bauern Israels zu Dolchen und Schwertern umzuschmieden. Josephus berichtet von der Widerstandsgruppe der »Sikarier«, der Messerträger (Flav. Jos. Bell. 2,254-257). In Verbindung mit der Sichel warnt die Betonung des Schlafens und Aufstehens vor einem solch gewalttätigen Herbeizwingen der Königsherrschaft Gottes. Der Jubelruf gilt nur denen, die friedlich und erfolgreich die Botschaft aufgenommen haben und mit den Verkündern anfanghaft eine vollendete Gemeinschaft bilden. Dieser geglückte Anfang, der an die hl. Schriften Israels erinnernd zurückgreift, vermag die Gewalttätigkeit der Widerstandskämpfer und den realitätsfernen Eifer pharisäischer Gruppen zum Herbeizwingen der eschatologischen Königsherrschaft Gottes zurückzuweisen (Jeremias 11 1998, 151 f.).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Die Metapher »Samen« (spro@ sporos) beherrscht die Parabelrede Mk 4. Jes 61,11 betont wie die Erläuterung Mk 4,28, dass »die Erde die Saat wachsen lässt« (vgl. Philon, de opif.mund.167). Ps 126,5 f. kontrastiert das Aussäen des Samens unter Tränen mit dem Jubel beim Ernten. Die beständige Arbeit bedarf des Segens Gottes: »Isaak säte in diesem Land, und er erntete in diesem Jahr hundertfältig. Der Herr segnet ihn« (Gen 26,12; vgl. Pred 11,5 f.); das Verbot von Säen und Ernten im Sabbatjahr setzt die mehrfache Ernte im sechsten Jahr aufgrund des Segens Gottes voraus (Lev 25,20-22). »Übertragen wird das Bild auf Menschen, die ›gesät und gepflanzt sind‹ (Jes 40,24), oder die Israeliten, die Gott unter die Völker gesät hat (Sach 10,9), mehr noch auf das sittliche Gebiet (›Gerechtigkeit säen‹, vgl. Hos 10,12 Hi 4,8 Spr 22,8)« (Schnackenburg 2001, 400) Besonders breit ist das Bildfeld »Samen/Säen« im NT entfaltet. Das Substantiv (spro@ [sporos – Saatkorn]) kommt allerdings nur sechsmal vor, allein im Mk-Ev zweimal, und zwar hier in Mk 4,26.27. Es folgen zweimal Lk-Ev (8,5.11) und zweimal Pl (2Kor 9,10 [2]). Das Verb »Säen« ist hingegen breiter vertreten (52). Es handelt sich um die weisheitliche und prophetische Rede von Säen und Ernten. Paulus verwendet in der großen Abhandlung über die Auferweckung 1Kor 15 die Parabel vom Wachsen des gesäten Korns: 1Kor 15,35-49. Das Bildfeld »Same-Säen-Ernten« ist besonders geeignet, den Anbruch der Königsherrschaft Gottes in Jesus und jedem Glaubenden und deren spätere sichere Vollendung zu symbolisieren. Da der jüdische Tag mit dem Abend beginnt, kennzeichnen Nacht und Tag die übliche Grobeinteilung des Tages. Es liegt hier keine apokalyptische Aufladung und Entgegensetzung von Unheil und Heil vor, sondern der gewohnte Zeitrhythmus der Schöpfung, den die Schöpfungspsalmen preisen. Auch das Mitwirken der »Erde« gehört in den Lobpreis des täglichen Schöpfungswirkens Gottes. »Frucht-Bringen« und »Frucht« gehören einerseits wie hier zum Bildfeld der eschatologischen Ernte, andererseits zur Metaphorik vom Leben nach dem Glauben, so in der Allegorie der Sämannparabel Mk 4,20, in der Bergpredigt Mt 7,16-20, bei Paulus (Röm 1,13; 6,21.22; 15,28; 1Kor 9,7; u. ö.). »Sichel« spielt nur noch in Apk 14,14-19 (7) eine Rolle. Dort allerdings ist sie im Gegensatz zu dieser Parabel Symbol des Zorngerichts des Menschensohnes. Jo 4,13 wird ebenfalls zitiert (Apk 14,15). Allerdings wird statt »apostello¯« abweichend von der Sep322

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tuaginta pffmpw (pempo¯ – schicken) gebraucht. Auch der Plural wird zum Singular der hebräischen Vorlage verändert. Die Sichelträger sind die Engel, nicht die Bauern mit ihren Helfern. Während Apk 14,15-16 wie Jo 4,13 in offener Weise nur den Vorgang der eschatologischen Ernte beschreibt, ohne von Vernichtung zu sprechen, wiederholt Apk 14,17-19 den Erntevorgang für den Wein und fügt mit V. 20 eine Vernichtungsaussage an. Wie die geernteten Trauben in der Kelter zertreten werden, so werden die gesammelten Völker vernichtet; sie bilden mit ihrem Blut einen riesigen See. Das Sichelbild der Bauern/Bäuerinnen mit ihren apostolischen Helfern in Mk 4,19 enthält hingegen keine eschatologische Vernichtung. Auch Joh 4,35-38 hat die friedvolle, präsentische Eschatologie vom Beginn der Erntearbeit durch die »Jünger«. Innerhalb des Gesprächs der Samariterin mit Jesus Joh 4,1-42 findet ein Gespräch Jesu mit den Jüngern über »Essen« statt (Joh 4,31-38). Jesus lenkt den Blick von der »Speise« (brm€ bro¯ma, V. 34) zur Ernte: Der in vier Monaten Erntende empfängt schon jetzt Lohn und freut sich gemeinsam mit dem Säenden über die kommende Ernte (V. 35-36). V. 38 bringt die Anwendung: »Ich schickte euch zu ernten, worum ihr euch nicht gemüht habt; andere haben sich gemüht, und ihr seid in ihre Mühe eingetreten«. Offenkundig werden die Jünger mit den Erntearbeitern verglichen (R. Zimmermann 2004a, 120 f.). Die Säenden werden von ihnen abgehoben. Es bleibt unklar, ob diese eine ältere Gruppe von Jüngern meinen, z. B. den Zwölferkreis, oder sich nur auf Jesus beziehen (Schnackenburg I 7 1992, 482-488). Im Joh-Ev bleibt dieser Rückbezug bewusst in der Schwebe. Paulus hingegen bezieht das Nacheinander von »Pflanzen« und »Begießen« eindeutig auf sich selbst und seinen Nachfolger Apollos: »Ich pflanzte, Apollos goss, aber Gott ließ wachsen« (1Kor 3,6). Das Bildfeld von »Säen-Wachsen-Ernten« für den Prozess der Verkündigung ist ab den paulinischen Briefen breit bezeugt.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) »Das semitisierende Gleichnis kann ohne Schwierigkeiten in den Kontext der eschatologischen Botschaft Jesu eingeordnet werden« (Klauck 2 1986, 224; ähnlich Pesch 5 1989, 258). Da die Bildfelder Säen-Same und Frucht-Ernte eine breite Verankerung in der frühen ntl. Literatur haben, lässt sich die Parabelsprache des vorösterlichen Jesus aus ihr mit großer Plausibilität erschließen (Gnilka 5 1998, 186). Viele Kommentatoren betonen wie Klauck den eschatologischen Gehalt dieser Bildfelder. Für den Kontrast von kleinem Samenkorn und reichhaltiger Frucht trifft diese Deutung sicherlich zu. In Jesus ist die Königsherrschaft Gottes schon jetzt angebrochen und wird sich in Kürze vollenden. Allerdings reichen für diese eschatologischen Übertragungen die Erzählzüge vom »Samen auf dem Land« und von reicher »Frucht«, die den Kontrast vom kleinen Anfang und großen Ende schaffen. Sie bilden dann auch die kleine Natur-Parabel vom Senfkorn, die die Parabelrede abschließt: Mk 4,30-32. Doch die vorliegende Parabel geht über diese eschatologische Spannung hinaus. Sie bringt zusätzlich das Leben in der Zeit zwischen Anbruch und Vollendung der Gottesherrschaft und verbindet es mit der Schöpfungstheologie. Ähnlich war die einleitende Parabel vom Sämann verfahren (Mk 4,1-9); im Vordergrund stehen die Verluste des Aussäens, die zur mühseligen Arbeit an der Schöpfung gehören (Gen 3,19); erst in einem 323

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zweiten Gipfel wird die eschatologische Spannung von kleiner Saat-großer Frucht betont (Mk 4,8). In dieser Parabel wiederum wird ein freudiger Kontrast zur Mühsal des Sämanns gesetzt. Es wird die Fortsetzung erzählt. Nach getaner Aussaat darf der Sämann sich ausruhen, schlafen und dann wieder zu anderen Taten aufstehen. Er darf sich von der Sorge entlasten, ob denn auch die Saat guten Boden gefunden hat, aufgeht und reiche Frucht bringt. Übertragen heißt das: Gottes Schöpfungshandeln sorgt dafür, dass die Botschaft von seiner Königsherrschaft angenommen wird und »von selbst« (automatisch) wirksam wird. Verkündet werden muss mit menschlichem Wort das Evangelium von der angebrochenen Königsherrschaft Gottes in Jesus von Nazaret. Doch für die Wirkung dieser Verkündigung übernimmt Gott zuerst die Verantwortung, wie er auch zuerst die Verantwortung für die Schöpfung trägt. Der Hörer kann die Schöpfung durch Verweigerung der Pflege und durch Aggression stören, so erzählt das Gleichnis vom »Unkraut« unter dem Weizen Mt 13,24-30; er kann aber nicht das Aufgehen des Samens vollständig verhindern. So schafft die Korrelation mit der gesetzmäßigen Erfahrung der Schöpfung und Natur die Sicherheit, dass der Anfang der Verkündigung nicht erfolglos bleibt. Die Verkünder können gelassen der Verkündigung ihren eigenen Raum belassen. Die Verkündigung setzt sich durch, nicht der Verkünder. Er darf sich vom selbstgesetzten Erfolgszwang befreien. Das sichere Vertrauen, dass Gott selbst seine Botschaft vollenden wird und nicht die Verkünder unter einen kontraproduktiven Erfolgsstress setzt, erfüllt die Anhänger Jesu. Da die reife Frucht schon da ist, steigert sich das Vertrauen zum Jubel. Schon jetzt können die Verkünder des Evangeliums die Anfänge der Ernte sehen und miternten. Schon jetzt gibt es eine sichtbare Gemeinde, die der Beginn der künftigen Vollendung ist. Gegen die allegorische Auslegung des Sämanngleichnisses, die bereits die hundertfache Vollendung in der Gemeinde gegeben sieht (Mk 4,20), wird noch einmal der Anfang betont. Es kann erfüllte Augenblicke der Gemeinde geben, sie kann aber auch wieder ganz auf den bescheidenen Anfang der Verkündigung zurückgeworfen werden, also auf die Zeit des Wartens ohne sichtbaren Anfangserfolg. »Sichel« bleibt daher zweischneidig. Die Vollendung der Königsherrschaft Gottes bringt einen unvermeidbaren Schnitt mit der Schöpfungsordnung mit sich (Mk 13,2425). Danach entsteht eine neue Schöpfung, in der fortwährend eine fröhliche Ernte stattfindet (Apk 22,1-5). Zugleich aber mahnt die »Sichel«, dass das Vergängliche vernichtet wird und nur die Auserwählten vor dem Menschensohn »zusammengeführt« werden (Mk 13,26-27). Inwieweit der Einzelne seine Schöpfungsanlagen unter Einwirkung des Wortes Gottes zur Frucht gebracht hat, wird der Auferstandene am Gerichtstag entscheiden.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die vorliegende Parabel gehört zu dem wenigen Sondergut des Mk-Ev. Manche vermuten, dass das Mt-Ev die Sondergut-Parabel vom »Unkraut unter dem Weizen« (Mt 13,24-30) als Parallele angesehen und ihr den Vorzug gegeben hat (Kuhn 1971, 127 f.). Allerdings ist zu bedenken, dass die Unkraut-Parabel nur einen Einzelfall anspricht, und zwar das Einsäen von Unkraut durch einen feindlichen Nachbarn, und nicht eine gene324

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relle Betrachtung der Schöpfungsgesetzmäßigkeiten anstellt. Warum der Evangelist Matthäus diese grundsätzliche, immer gültig bleibende Natur-Parabel nicht aufgenommen hat, bleibt m. E. nicht erklärbar. Das Lk-Ev hängt an die Parabelrede Lk 8,4-18, die Mk 4,1-34 zur Vorlage hat, das Apophthegma von der erweiterten Familie Jesu an (Lk 8,19-20 par. Mk 3,31-35) und lässt wie die Markus-Vorlage die Sturmstillung folgen (Lk 8,22-25 par. Mk 4,35-41). Das Gleichnis vom Senfkorn Mk 4,30-32 wird in den Reisebericht geschoben (Lk 13,18-19). Die Kürzung der mk Parabelrede ist offenkundig. Weniger klar ist, weshalb die Parabel Mk 4,26-29 ausgelassen worden ist. Klauck vermutet, dass sich die »betonte Untätigkeit des Landmanns … mit der Aufforderung zum christlichen Tun Lk 8,15.21 unerträglich hart gestoßen« hätte (Klauck 2 1986, 227). Doch der Landmann ist ja gar nicht untätig; er greift nur nicht in den Schöpfungsprozess des Keimens und Wachsens ein. Denn die biologische Kompetenz der Steuerung von Wachstumsprozessen ist erst in der Neuzeit entwickelt worden. Das Lk-Ev betont außerdem wie die anderen Synoptiker, dass das Hören und Annehmen der Königsherrschaft Gottes dem Tun vorausgeht (Lk 4,43; 6,20 u. ö.). Wie für das Mt-Ev bleibt das Fehlen von Mk 4,26-29 für das Lk-Ev rätselhaft. Es kann ein Verlust in der Handschriften-Überlieferung des Mk-Ev vorliegen, der beide Evangelien getroffen hat. Ob dieser Verlust auf eine Deutero-Markus-Redaktion zurückgeht, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Weitergegangen ist die Überlieferung dieser Parabel aber im EvThom. Das dritte Bildwort im Logion 21 (85,15-18) lautet: EvThom 21,9 f.: (9) »Möge unter euch ein verständiger Mensch entstehen. (10) Als die Frucht reif wurde, kam er schnell mit der Sichel in seiner Hand (und) mähte sie ab« (übers. v. Guillaumont u. a. 1959, 17). Die Parabel ist auf das Erntebild verkürzt worden. Die Träger der Sichel fallen aus. Nur der anonym bleibende Mensch tätigt die Ernte. Die Einleitung setzt ihn mit einem »verständigen« Menschen gleich. Es geht lediglich um eine individuelle Rettung, nicht um die Vollendung der Menschheit (vgl. die Einleitung zum EvThom). Der 1. Clemensbrief verbindet die beiden Parabeln Mk 4,26-29 und Mk 13,28-29 miteinander: »O Unverständige, vergleicht euch mit einem Baum. Nehmt einen Weinstock: Zuerst verliert er das Laub, dann entsteht ein Spross, dann ein Blatt, dann eine Blüte und hierauf ein Herling, dann eine reife Traube. Seht, wie in kurzer Zeit die Frucht des Baumes zur Reife kommt« (1Clem 23,4; übers. v. J. Fischer). Die Imperative an den Hörer, sich mit einem Gehölz (xÐlon xylon), und zwar mit dem Weinstock gleichzusetzen, entspricht der Parabeleinleitung Mk 13,28, vom Feigenbaum eine Parabel zu lernen. Die anschließende Handlungsfolge des Wachstums klingt an die selbständige Tätigkeit der Erde in Mk 4,27 f. an. Der abschließende Imperativ lässt wieder an Mk 13,29 denken. Die nachfolgende Anwendung verengt allerdings den Blick auf den wiederkommenden Christus und das Warten der Gläubigen auf ihn. Der durchaus ansehnliche Anbruch der Königsherrschaft im imposanten Feigenbaum und im erntereifen Saatfeld kommt nicht mehr in den Blick. Knoch dagegen bringt nicht nur wie 1Clem die beiden Wachstum-Parabeln zusammen, sondern setzt die beiden Reden Mk 4 und 13 zueinander in Beziehung. Dann gewinnt auch Mk 13,10 für Mk 4,26-29 entscheidende Relevanz (»Aber zu allen Völkern muss zuerst verkündet werden das Evangelium«). »Die Kirche war bereits Weltkirche aus 325

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Juden und Heiden und erfuhr ein ungewöhnliches Wachstum in der Mission« (Knoch 3 1987, 88). Geduld mit der Bescheidenheit der Anfänge, Vertrauen auf Gottes Mitwirken und gleichzeitig Freude am erkennbaren Erfolg darf und soll die Gemeinde nach dem Mk-Ev schon jetzt aufbringen und so die Intention des irdischen Jesus fortsetzen.

Detlev Dormeyer Literatur zum Weiterlesen B. Eltrop, In einer Ähre Korn Gottes Herrschaft schmecken – Markus 4,26-29, in: M. Crüsemann u. a. (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014, 226-236. P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 18, Göttingen/Freiburg (Schweiz) 1993, 186-195. H. W. Kuhn, Ältere Sammlungen im Markusevangelium (SUNT 8), Göttingen 1971. L. Oberlinner, Die Verwirklichung des Reiches Gottes. Entwicklungslinien beim Gleichnis von der selbstwachsenden Saat Mk 4,26-29, in: U. Busse (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung. FS R. Hoppe, BBB 166, Bonn 2011, 197-214. E. Rau, Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse (FRLANT 149), Göttingen 1990. R. Schnackenburg, Art. Säen, NBL 3, 2001, 400. G. Theißen, Der Bauer und die von selbst Frucht bringende Erde. Naiver Synergismus in Mk 4,26-29?, ZNW 85 (1994) 167-182. U. Viktor, Der Wechsel der Tempora in griechisch erzählenden Texten, mit besonderer Berücksichtigung der Apostelgeschichte, in: C. Breytenbach u. a. (Hg.), Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung, FS E. Plümacher (AGAJU 62), Leiden 2004, 27-59. R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004, 105-137.

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Mehr Hoffnung wagen (Vom Senfkorn) Mk 4,30-32 (Q 13,18 f. / Mt 13,31 f. / Lk 13,18 f. / EvThom 20) (30) Und er sagte: Wie sollen wir die Königsherrschaft Gottes vergleichen, oder in welcher Parabel sollen wir sie darstellen? (31) Wie (bei) einem Senfkorn, das, wenn es auf die Erde gesät wird, kleiner ist als alle Samenkörner auf der Erde, (32) und wenn es gesät wird, aufwächst und größer wird als alle Gartengewächse und große Zweige bildet, so dass unter seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel vom Senfkorn steht im Zusammenhang des Abschnitts Mk 4,1-34 (Collins 2011). Dieser bietet neben der Ein- und Ausleitung V. 1 f.33 f. Parabeln bzw. Bildworte sowie Reflexionen über Parabeln, ihr Hören und Verstehen. Auch V. 2.33 f. heben auf die Bedeutung von Parabeln für die Lehre Jesu ab. Innerhalb von V. 1-34 setzt mit V. 10 – nach der öffentlichen Rede Jesu V. 1-9 – eine Belehrung für Jesu engeren Kreis und »die Zwölf« ein; auf diese Adressaten wird mit a'to…@ (autois – ihnen) V. 13.21.24 Bezug genommen. Bis V. 25 haben wir Ausführungen vor uns, die an diese Gruppe gerichtet sind. Die Vertiefung der Thematik des Hörens und Verstehens V. 21-25 schließt mit dem Aufruf zum Hören V. 23 und dem merksatzartigen Spruch V. 25 ab. Danach bilden V. 26-29.30-32 einen Zusammenhang: Beiden Einheiten fehlt, gegenüber V. 10-25 auffällig, der Rückbezug auf die Adressaten und damit der ausdrückliche Bezug auf die dort vorausgesetzte Situation interner Belehrung. Auch unterscheiden sich V. 26-29.30-32 durch Einleitungen mit Vergleich (V. 26) bzw. Frage und Vergleich (V. 30) formal vom Vorhergehenden. Gemeinsam ist V. 26-29.30-32 ferner die Nennung der basileffla-(basileia-/Königsherrschaft-)Thematik in V. 26.30, die in der Parabel V. 39 und in ihrer Deutung V. 14-20 keine Entsprechung hat. Zugleich beziehen sich die Erwähnungen der basileffla (basileia) in V. 26.30 auf das Vorkommen dieses Wortes im Rahmen der Verstehensthematik V. 11 zurück, jedoch in auffälligem Kontrast: Während der Besitz des Geheimnisses der basileffla (basileia) in V. 11 in Gegensatz zur Rede in Parabeln gestellt wird, ist in V. 26.30 gerade die basileffla (basileia) der Gegenstand von Parabelrede. Damit repräsentieren V. 26-29.30-32 die in V. 33 angesprochene Rede in Parabeln, die der Aufnahmefähigkeit der »Außenstehenden« (V. 11) entspricht (und deshalb bleiben V. 26-29.30-32 ohne die in V. 35 angesprochene Auflösung für »die Seinen«, wie sie V. 10-20 für V. 3-9 bieten). Dass die Erwähnung von Parabelrede in V. 33 auf V. 26-29.30-32 zielt, zeigt auch der Verweis auf »ebensolche Parabeln« wie die in V. 2629.30-32 gebotenen. Innerhalb des Zusammenhangs V. 26-32 beginnt mit V. 30 eine neue Einheit. Sprach bis einschließlich V. 29 Jesus, so wird in V. 30 mit ka½ ˛legen (kai elegen – und er sagte) die übergeordnete Erzählebene eingeblendet, worauf wieder Jesus das Wort hat. Nach der abgeschlossenen Ereignisfolge von der Saat bis zur Ernte in V. 26-29 bieten V. 30-32 eine neue Ereignisfolge von Saat und Wachstum. Ab V. 33 kommt wieder der 327

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Parabeln im Markusevangelium

von Jesus unterschiedene Erzähler zu Wort. V. 33 f. verlassen Motivzusammenhang und Geschehensfolge von Saat und Wachstum, nehmen mit »und mit vielen ebensolchen Parabeln redete er zu ihnen« rückschauend auf die in V. 2-32 dargestellte Verkündigung in und über Parabeln Bezug und schließen so den Zusammenhang ab. Im Blick auf narrative Merkmale fällt auf, dass jede Erwähnung menschlicher Charaktere fehlt. Auch der Schluss schildert nicht etwa eine Ernte, sondern das Nisten von Vögeln im Schatten der Senfpflanze. Neben dieser selbst (bzw. dem Senfkorn) und den Vögeln werden nur noch »alle Samen« erwähnt. Das Subjekt kkk†w sin€pew@ (kokko¯ sinapeo¯s – einem Senfkorn) steht ohne Artikel. Sollte bei dem ˆtan spar–» (hotan spare¯ – wenn es gesät wird) V. 31.32 an einen säenden Menschen zu denken sein, bliebe dieser hinter der passivisch-unpersönlichen Formulierung gleichsam verborgen. Die Zeit- und Raumangaben bleiben allgemein. Die Angabe ¥p½ t»@ g»@ (epi te¯s ge¯s – auf die/der Erde) spezifiziert nicht nach Garten, Acker, Wildnis o. Ä. Eine Zeitangabe fehlt; das verwendete Tempus – Präsens – weist auf generelle Aussagen, ebenso wie der zweimal (V. 31 f.) vorkommende Iterativ ˆtan spar–» (hotan spare¯ – wenn es gesät wird). V. 30-32 bestehen aus der Parabeleinleitung V. 30 und der Parabel selbst in V. 31 f. In V. 30 folgt auf die Einleitungsformel ka½ ˛legen (kai elegen – und er sagte) ein einleitender Fragesatz, der zunächst nach einem Vergleich, dann nach einer Parabel für die basileffla (basileia) fragt; V. 31 f. bietet die Parabel, ebenfalls in einem einzigen, mehrfach untergliederten Satzgefüge. Dieses ist zunächst von dem grammatischen Subjekt kkk†w sin€pew@ (kokko¯ sinapeo¯s – einem Senfkorn) bestimmt. Der abschließende konsekutive Nebensatz hat ein neues Subjekt, tÞ peteinÞ to‰ o'rano‰ (ta peteina tou ouranou – die Vögel des Himmels). Einleitung und Parabel sind durch die Voranstellung des Subjekts kkk†w sin€pew@ (kokko¯ sinapeo¯s) im Dativ mit einleitendem £@ (ho¯s – wie) miteinander verknüpft; damit ist die Parabel als Antwort auf die vorausgehende Frage gestaltet. Die Darbietung der Parabel setzt in V. 31.32 zweimal mit ˆtan spar–» (hotan spare¯ – wenn es gesät wird) an. Neben dem zweimaligen wortgleichen Einsatz fällt das Gegenüber der Komparative mikrteron (mikroteron – kleiner) bzw. me…zon (meizon – größer), jeweils mit folgender Form von p€nte@ (pantes – alle), auf. Neben diesen Entsprechungen steht der Unterschied zwischen dem Partizip in V. 31 und den drei finiten Verben in V. 32. V. 31 f. sind thematisch von Saat und Wachstum, daneben durch die gemeinsame syntaktische Abhängigkeit von dem Subjekt kokko¯ sinapeo¯s geprägt. Es folgt der konsekutive Nebensatz, der mit ¯ste (ho¯ste – so dass) an das Vorangehende anschließt und auch durch das zurückverweisende a'to‰ (autou – seine) darauf bezogen ist. Zugleich ist er durch ein Verb im Infinitiv, Subjektswechsel und thematisches Fortschreiten über Saat und Wachstum hinaus abgesetzt. So ergibt sich ein Dreischritt: (1) partizipial-zuständliche Größenaussage, (2) mehrfach entfaltete verbale Wachstumsschilderung, (3) erweiternd-abschließender Ausblick. Nach ˆtan spar–» (hotan spare¯ – wenn es gesät wird) erwartet man eine verbale Handlungsschilderung. Doch folgt die partizipial-zuständliche Größenaussage, an die sich die Wiederholung des iterativen Einsatzes anschließt. Auf dieses retardierende Moment erst folgt im zweiten Schritt die Beschreibung des Wachstums, das in drei durch kaffl (kai – und) verbundenen finiten Verben entfaltet wird, wobei die Verbalaussagen, beginnend mit einem bloßen finiten Verb über einen Vergleich bis hin zu einem Satz mit Akkusativobjekt, das ein Attribut bei sich führt, an Komplexität zunehmen. Auch stehen 328

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Mehr Hoffnung wagen Mk 4,30-32

dem einmaligen mikrteron (mikroteron – kleiner) des ersten Schritts im zweiten Schritt zwei Belege des Wortfelds »groß« usw., me…zon (meizon – größer) und meg€lou@ (megalous – große), gegenüber. Die komparativische Aussage, das Senfkorn werde größer als alle Gartengewächse, die der vorangegangenen über seine Kleinheit komplementär entspricht, steht nun jedoch nicht abschließend an dritter Stelle der Verbreihe, obwohl sie die folgende Aussage über das Wachsen der Zweige sachlich voraussetzt. Vielmehr steht an letzter Stelle die weiterführende dritte Verbalaussage über das Wachsen der Zweige, die den folgenden Nebensatz vorbereitet. So wird das zweistellige Gegenüber komparativischer Größenaussagen auf einen dritten Schritt hin geöffnet. Dieser schließt mit ¯ste (ho¯ste – so dass) an die Folge von Saat und Wachstum an und führt darüber hinaus, wie er auch thematisch und durch Subjektswechsel weiterführt. So ergibt sich eine ebenso kurze wie kunstvoll aufgebaute Sequenz, die mit deutlichem Gefälle vom expositionsartigen, umständlich-retardierenden Anfang über eine zunehmend elaborierte, beschleunigte Geschehensschilderung auf den abschließenden Höhepunkt hin abläuft und darin der geschilderten Entwicklung vom kleinsten Samenkorn bis zum Nisten der Vögel im Schatten der ausgewachsenen Pflanze in eindrücklicher Weise entspricht. Die Parabel öffnet durch ambivalente und überraschende Elemente Freiräume der Imagination, die sie zum Schluss teils wieder ausfüllt. Zu Beginn überrascht nach der Frage, womit die Gottesherrschaft zu vergleichen sei (V. 30), der Hinweis auf das winzige Senfkorn. Der Ausdruck ˆtan spar–» ¥p½ t»@ g»@ (hotan spare¯ epi te¯s ge¯s – wenn es auf die Erde gesät wird) ist ambivalent: Er schließt zwar die Annahme eines säenden Menschen nicht aus; ein solcher wird aber bezeichnenderweise nicht erwähnt, bliebe vielmehr hinter der passivischen Formulierung gleichsam verborgen. Ebenso ist ein unpersönliches Verständnis ohne Beteiligung eines Menschen möglich, im Sinne von »wenn es (das Senfkorn) auf die Erde fällt« (vgl. die Wiedergabe von ˛pesen [epesen – es fiel] V. 4.5.7.8 mit spefflretai [speiretai – es wird gesät] V. 15). Denn die Senfpflanze verbreitet sich auch ohne menschliche Aussaat und Pflege und kommt als Wildpflanze vor (vgl. die Sozialgeschichte). Dieser Ambivalenz entspricht das Fehlen einer näheren Angabe über die »Erde«, auf die gesät wird – Gartenland, Acker, gar kein Kulturland? Uneindeutig ist schließlich die Formulierung der Aussagen über die Größenverhältnisse. Meist werden sie superlativisch wiedergegeben (die Koine kann den Superlativ durch den Komparativ ersetzen, vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf 18 2001, §§ 2,2; 60), doch wären sie wörtlich komparativisch zu fassen: Senfkorn und Senfpflanze würden dann nicht zu den anderen (kultivierten) Samen bzw. den Gartengewächsen gezählt, sondern diesen vergleichend gegenübergestellt. Das würde den Eindruck verstärken, dass wir es nicht mit Gartenoder Ackerbau, sondern mit bloßen Naturvorgängen zu tun haben. Diese Ambivalenzen sowie das Fehlen von Angaben über ein menschliches Handlungssubjekt laden ein, die näheren Umstände des Geschehens zu imaginieren. Überraschend ist auch der Schluss der Parabel: Ernte oder Nutzung von Pflanzen und Samen, wie sie erwartet werden könnten, bleiben aus, und das »Nisten« der Vögel führt über die Erwartungen hinaus, die mit dem Stichwort »Gartengewächse« geweckt werden. So führt der Schluss die Parabel, ihre bisherigen Ambivalenzen aufnehmend und anfängliche Erwartungen nochmals enttäuschend, über die Welt von Gartenbau und Landwirtschaft hinaus und stellt ihr ein menschlicher Beteiligung und Zwecksetzung fremdes Naturgeschehen gegenüber. Darin zeigt sich eine Gemeinsamkeit mit der vorangehenden Parabel von der Selbstwachsenden 329

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Parabeln im Markusevangelium

Saat (V. 26-29), die ebenfalls das vom Menschen nicht herbeiführbare, selbsttätige Naturgeschehen herausstellt. Schon die Frage nach einem Vergleich und die Bezeichnung des Folgenden als Parabel (V. 30) verdeutlichen den metaphorischen Charakter des ab V. 31 gebotenen Textes, der darauf auch selbst verweist mit dem einleitenden £@ (ho¯s – wie) und durch den Dativ kkk†w (kokko¯ – einem Korn) in V. 31, der sich auf die Frage tfflni (tini – wem) von V. 30 zurückbezieht. Auch die Referenzgröße – die in V. 30 genannte basileffla to‰ qeo‰ (basileia tou theou – Gottesherrschaft) – steht von vornherein fest. Bei der Rede von Saat und Wachstum ist im Rahmen des Kapitels Mk 4 – zumal durch den Bezug auf die Gottesherrschaft und die Verbindung mit der Reflexion auf das Verstehen der Verkündigung Jesu (V. 33 f.) – der Bezug auf die Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft und auf den Zusammenhang ihrer Geschichte mit Jesu Verkündigung vorgegeben. Schließlich ist die Kopplung der Einheiten V. 26-29.30-32 unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt des von menschlichem Zwecksetzen und Handeln weithin unabhängigen Naturgeschehens (s. o.) eine Vorgabe für die Interpretation. Die Rede von »großen Zweigen«, welche die Senfpflanze hervorbringe, öffnet die ungewöhnliche Verbindung von Samenkorn/-staude und basileffla (basileia) ansatzweise für das geprägte Bildfeld vom Weltbaum als Bild imperialer Herrschaft. Von einer Bildfeldtradition kann man auch bei der Erwähnung der Vögel sprechen, die auf die Völker gedeutet werden können. Das Aufwachsen der Pflanze und das Kommen der Vögel bilden einen allegorischen Zug: In der endzeitlichen Herrschaft werden die Völker gesammelt (vgl. die Bildfeldtradition).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Antike kennt eine Vielzahl von Senfsorten bzw. senfähnlichen Pflanzen (Steier 1935, 813 f.). Die griechischen Texte sprechen von n”pu (napy) oder von sfflnapi, sfflnapi@ (sinapi, sinapis) u. Ä. Lateinisch heißt der Senf sinapi, sinape u. Ä., aber auch napy u. Ä. Die rabbinischen Texte verwenden die hebräische Bezeichnung lD·t¶h4 harda¯l oder das aramäi˙ oder einheimischer sche al5D¶t¶h4 hardela¯’. Sie unterscheiden hardal baladi (gewöhnlicher ˙ ˙ Senf) und hardal mazri (ägyptischer Senf) (Dalman 1932, 293; Billerbeck I 2 1926, 668 f.). Auch˙ Plinius kennt einen ägyptischen Senf, den er semen Aegyptium nennt (nat. XIX 171). Gewöhnlicher und ägyptischer Senf gelten den Rabbinen als so ähnlich, dass das halachische Verbot, unterschiedliche Samen bei der Aussaat zu mischen (Lev 19,19; Dtn 22,10), auf diese beiden Samensorten keine Anwendung findet (mKil 1,2). Die Zuordnung der in antiken Texten gemeinten Pflanzenarten zu den von der modernen Botanik beschriebenen ist nicht frei von Schwierigkeiten (Steier 1935; Kogler 1988, 48-51; Hepper 1992, 133). Heute wird der sfflnapi (sinapi – Senf) unserer Parabel gewöhnlich mit der brassica nigra, dem Schwarzen Senf der modernen Botanik, identifiziert. Daneben sind der Weiße Senf (sinapis alba), der Gelbe Senf (sinapis arvensis) und der sog. Senfbaum (salvadora persica) zu erwähnen, die in älterer Literatur ebenfalls auf den sfflnapi (sinapi) unserer Parabel bezogen worden sind (vgl. Jülicher II 2 1910, 575 f.; Bovon 1996, 413 f.). Klar dürfte allerdings sein, dass der Senfbaum salvadora persica seiner Größe wegen nicht gemeint sein kann: Er könnte kaum sinnvoll mit »Gartengewächsen« verglichen bzw. zu ihnen gezählt werden. Dagegen kommen der Schwarze, 330

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Weiße und Gelbe Senf grundsätzlich in Frage. Die drei genannten Senfsorten gehören zur Familie der Kreuzblütler (cruciferae), die in Palästina »in Massen als Unkraut wachsen« (Hepper 1992, 47). Auch Dalman hat alle drei Sorten als Wildpflanzen bzw. Unkräuter beobachtet (Dalman 1928b, 369 f.; 1932, 293 f.; vgl. Hepper 1992, 133). Der Schwarze Senf ist »an Straßenrändern und auf Feldern, vor allem in Galiläa« (Hepper 1992, 47) und zumal rund um den See Genezaret sowie weiter nördlich verbreitet (M. Zohary 3 1995, 93). Er ist »eine einjährige Pflanze mit großen Blättern, die hauptsächlich an der Basis der Pflanze stehen. Sein Hauptstengel ist im oberen Teil reich verzweigt und bringt zahlreiche gelbe Blüten hervor, woraus sich kleine mehrsamige, längliche Früchte entwickeln, die den Zweigen angedrückt sind« (M. Zohary 3 1995, 93). Die ausgewachsene Staude kann armesdick werden; in den Zweigen bzw. Trieben lassen sich Vögel nieder (Fauna and Flora of the Bible 2 1980, 145 f.; Jeremias 11 1998, 147 Anm. 2). Die Samenkörner haben einen Durchmesser von 0,95-1,6 mm und wiegen etwa 1 mg. Der Same des Weißen Senfs ist etwa doppelt so groß wie der des Schwarzen. Der Gelbe Senf (sinapis arvensis) kann bis über 1 m, der Schwarze Senf (brassica nigra) bis zu 2 m hoch werden. Am See Genezaret können Senfstauden bis zu einer Höhe von 2,5-3 m heranwachsen (Dalman 1928b, 369; 1932, 293). Wenn in unserer Parabel vermutlich an den Schwarzen Senf zu denken ist, dann deshalb, weil bei dieser Sorte die Samen besonders klein sind und die Staude besonders hoch aufschießen kann, so dass der Kontrast hier besonders eindrücklich ist (wenn auch die Behauptung, das Senfkorn sei kleiner als alle [anderen] Samen auf Erden, botanisch nicht stimmt). Darüber hinaus ändert die Entscheidung zwischen den Senfsorten inhaltlich nichts am Verständnis der Parabel. Theophrast zählt den Senf in seiner Historia plantarum zu den im Garten angebauten Gemüsepflanzen (Theophr. h. plant. VII 1,1). Er wird im Monat Metageitnion (Spätsommer) ausgesät, kann jedoch auch das ganze Jahr über angebaut werden (VII 1,2). Der Same keimt nach fünf Tagen (VII 1,3). In anderem Zusammenhang spricht Theophrast davon, dass es Zwischenformen zwischen Baum, Strauch und Gemüse gibt. Manche Kräuter sind der Gestalt nach als Bäume anzusprechen, da sie einen einzigen Stamm haben und Zweige bilden; sie unterscheiden sich von den Bäumen jedoch durch Größe und Lebensdauer (I 3,1-4). Columella (Colum.) schildert in de re rustica Acker- und Gartenbau des kaiserzeitlichen Italien (vgl. Flach 1990, 266). Über den Senf (sinape) spricht er im Kapitel über den Gartenbau (XI 3). Er zählt ihn zu jenen Gartenpflanzen, die in einem sonnigen und dem Meer nahen Klima nur einmal im Jahr, und zwar im Herbst, auszusäen sind (XI 3,15). Doch kann Senf auch im Frühjahr gesät werden. Er erfordert kaum gärtnerische Pflege (XI 3,29). Plinius d. Ä. erwähnt den Senf in seiner Naturgeschichte (Plin. nat.). Auch er zählt ihn zu den Gartengewächsen (XX 236). Senf soll zur Zeit des Herbst-Äquinoktiums gesät werden. Die Pflanze bedarf keiner Pflege. Der Same, auf die Erde gefallen, keimt sofort; die Pflanze sät ihre eigenen Samen aus und verbreitet sich rasch. Sie ist, hat sie einmal Fuß gefasst, nur schwer zu entfernen. Der Senf ist scharf im Geschmack, doch heilsam; die Schärfe kann durch Kochen gemildert werden. Auch die Blätter werden gekocht und als Gemüse verzehrt (XIX 170 f.). Plinius schreibt dem Senf Heilkraft zu: Er wird in verschiedenen Zubereitungen gegen Gifte, zur Behandlung von Verschleimung im Mundund Rachenraum, zum Gurgeln, gegen Magenerkrankungen und anderes mehr einge331

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nommen, zum Einreiben der Haut und für Umschläge verwendet usw. (XX 237-240). Der scharfe Geschmack des Senfs ist sprichwörtlich; er wird in der ganzen Antike als Heilmittel geschätzt (Steier 1935, 815 f.). Anders als die griechischen und lateinischen Autoren zählen die Rabbinen den Senf zu den Feld-, nicht zu den Gartenpflanzen und untersagen seinen Anbau im Garten (mKil 3,2; TKil 2,8). Das Aussäen des Senfs in einem Garten (Q/Lk 13,19) erscheint daher für palästinisch-jüdische Verhältnisse als außergewöhnlich, dagegen ist es für die hellenistisch-römische Antike das Übliche. Für palästinisch-jüdische Verhältnisse typisch wäre die Aussaat auf einem Acker (Mt 13,31). Ob im antiken Palästina Senf nur wild wuchs (so Habbe 1996, 76.98), scheint fraglich. Die Kleinheit des Senfkorns und die Größe der ausgewachsenen Pflanze werden in der rabbinischen Literatur, anders als bei den griechischen und lateinischen Autoren, eigens herausgestellt, allerdings auch dort nicht kontrastierend auf einander bezogen. In der Mischna und in den Talmudim wird mehrfach das Senfkorn als kleinste Mengeneinheit genannt (mNas 1,5; mNid 5,2; jBer 5,8d,36; bBer 31a). Nach jPea 7,20b,17-19 soll eine ausgewachsene Senfstaude einmal die Größe eines Feigenbaums erreicht haben. Das ist ebenso übertrieben wie die Nachricht, mit drei Zweigen einer Senfstaude habe man eine Hütte decken können (jPea 7,20b,15-17). Ebenso ist die Bezeichnung der ausgewachsenen Pflanze als dffndron (dendron – Baum) in Mt 13,32; Q/Lk 18,19 hyperbolisch zu verstehen. Doch mag man auch an Theophrasts Klassifizierung von Gemüsen und Kräutern als baumartig denken (s. o.). Der Senf wurde um der Körner willen wie auch als Gemüse angebaut. Die Körner wurden als Zukost gereicht oder süß-sauer eingelegt und so als Beigabe zu Fleischgerichten geboten. Von häufigem Genuss wurde der Schärfe wegen abgeraten (bBer 40a). Auch als Vogelfutter wurden die Senfkörner verwendet. Die Knospe der Senfblüte und die Blätter der Senfpflanze wurden als Gemüse verzehrt (TMaas 3,7; bBM 86b; bChul 133a).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Hier ist zunächst ein – aussagekräftiger – negativer Befund zu verzeichnen: Von Senf oder Senfkörnern ist in den kanonisch gewordenen hebräischen Schriften Israels ebenso wie in deren griechischer Übersetzung (der Septuaginta) nirgends die Rede. Die hebräischen und aramäischen Wörter für Senf fehlen in den Schriften vom Toten Meer (Qumran) ebenso wie ihre griechischen Äquivalente in den frühjüdischen Apokryphen und Pseudepigraphen, aber auch in den neben- bzw. nachneutestamentlichen frühchristlichen Schriften der sog. Apostolischen Väter. Daran wird deutlich, welches Innovationspotential in unserer Parabel liegt: Ein Senfkorn zum Gegenstand religiöser Rede – und zumal zum Vergleichsgegenstand für die Königsherrschaft Gottes – zu machen, muss für antike jüdische und hellenistisch-römische Rezipienten ausgesprochen ungewöhnlich und überraschend gewesen sein (vgl. von Gemünden 1993, 200.419 f.). Von einem traditionellen Bildfeld kann man dagegen bei der Erwähnung der Vögel des Himmels sprechen, die bei einer großen Pflanze oder in einem Baum bzw. in seinen Zweigen oder in deren Schatten wohnen. Mit teils bis ins Wörtliche gehenden sprachlichen Berührungen, insbesondere aber mit wesentlichen Gemeinsamkeiten in Motivik und Thematik sind hier drei auch untereinander zusammenhängende Stellen aufgenom332

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men: Dan 4,7-9.11.18 f. (LXX/q’ V. 10-12.14.21 f.); Ez 17,22-24; Ez 31,6. Gemeinsam ist das Bild des Baumes und der in seinen Zweigen wohnenden Vögel sowie der in seinem Schatten lebenden Tiere, das jeweils auf einen König und seine Herrschaft über viele Völker (die Vögel und Tiere des Bildes: Ez 31,6) gedeutet wird. Im Hintergrund steht die altorientalische Vorstellung vom Weltbaum. In Ez 17,1-24 ist der König Israels, in Ez 31,1-18 der Pharao, in Dan 4,1-34 der babylonische Herrscher im Blick. Doch an allen drei Stellen wird das Bild aufgenommen, um Demütigung und Sturz anzusagen, die auf königliche Hybris folgen. So ist das Bild schon in der Tradition gebrochen, insofern es königlich-imperiale Macht in ihrem Widerspruch zur Herrschaft Gottes und im Sturz durch Gottes Wirken thematisiert. Erst nach dem Sturz wird für Israel ein Neuanfang möglich, der im Bild eines aus dem Baum herausgenommenen Zweigs erscheint, der nun seinerseits zum Baum aufwächst, in dem alle Vögel wohnen (Ez 17,22-24): Die angekündigte Herrschergestalt Israels soll auch die Völkerwelt aufnehmen (Carter 2011, 197-201; Collins 2011, 536 f.). Zu den Fortschreibungen dieses Bildfeldes gehört 1QH XVI (früher VIII),4-12 (vgl. 1QH XIV [früher VI],15-17). Dort ist die Rede von Bäumen und Sträuchern, die verborgen wachsen und aus denen ein Spross zu einer ewigen Pflanzung hervorgehen soll (XVI 5 f.10 f.). »… sein Gezweig [diente] allen Flugvögeln« (XVI 9, Übersetzung Maier). Das Bildfeld wird hier auf das eschatologische Geschick einer Gemeinschaft bezogen, wobei der Kontrast von Verborgenheit und ewiger Bestimmung wie auch die künftige Aufnahme aller Vögel an unsere Parabel erinnern (vgl. Mußner 1960). Auch in 2Bar 36.39 f. ist Ez 17 verarbeitet. Die Zeder ist wiederum Bild für imperiale Herrschaft, nun aber ausschließlich negativ besetzt als Darstellung eines gott- und israelfeindlichen Großreichs. Von einer endzeitlichen Sammlung der als Tiere und Vögel vorgestellten Völker (doch ohne das Bild des Baumes) spricht 1Hen 90,30.33.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Lassen wir uns vom Text in seiner vorliegenden mk Endgestalt leiten, so ist, gegen die beiden gängigsten Deutungen, weder der Kontrast von Klein und Groß noch der zwischen beidem stattfindende Wachstumsvorgang die Pointe der Parabel. Ebenso kehrt die geläufige Auskunft, die Parabel ermutige dazu, dem unscheinbaren Anfang zu trauen, das narrative Gefälle der Geschehenssequenz um. Dieses Gefälle öffnet das zweistellige Gegenüber von Klein und Groß, Saat und Wachstum in beschleunigter Geschehensfolge auf ein Drittes hin, das über den Themenkreis von Saat, Wachstum, Ernte usw. hinausführt. Die Parabel will den Blick weiten. Ihr Interesse gilt über die Gegenwart hinaus dem »überraschenden, überwältigenden, unerklärlichen, wunderbaren Ende« (Schmithals 1979, 251), auf das die Sequenz zueilt. Mit dem sich beschleunigenden Ablauf der Geschehensschilderung wird die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf dieses Ende hin mitgerissen. Die Gottesherrschaft wird, unvorhersehbar, unableitbar, eintreffen und die Welt verwandeln: Diese Hoffnung atmet etwas vom Geist der Utopie. Damit verbunden ist zweitens das Fehlen menschlicher Charaktere, das Selbständige des Naturvorgangs (herausgehoben durch die Kopplung mit V. 26-29) bis hin zum Auslaufen in einer Szene, die den Bereich von Saat und Wachstum, Garten- und Acker333

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bau verlässt und ganz in der nichtmenschlichen Welt verbleibt. Zur Verwegenheit der Hoffnung tritt damit das Befremdende hinzu, das im Absehen von menschlicher Aktivität liegt. Schwerlich könnte religiösen und ethischen Plausibilitäten radikaler widersprochen werden als dadurch, dass bei dem zur Veranschaulichung der Gottesherrschaft gewählten Vorgang menschliche Akteure schlechterdings nicht in den Blick kommen. Wie das Nisten der Vögel allem Garten- und Ackerbau unverbunden und für menschliche Zwecke unbrauchbar gegenübersteht, kommt auch die Erfüllung der Hoffnung auf Vollendung den Menschen als fremdes, ohne ihr Zutun eintretendes Geschehen entgegen. Schließlich besteht drittens eine Spannung zwischen der Wahl des winzigen Senfkorns als Vergleichsgröße und dessen Bezug auf Gottes basileia sowie der Verbindung dessen mit dem gebrochen-ambivalenten Bildfeld des Baums und der Vögel für königlich-imperiale, aber gefährdete und von Gott zu erneuernde Herrschaft. Das Senfkorn wirkt in seiner Verbindung zum Motiv des Weltbaums in geradezu grotesker Weise disproportional, ja vor dem Hintergrund der biblischen Belege für die Zeder als Bild für Herrschergestalten hat der Vergleich mit Senfkorn und -staude etwas fast Armseliges, dadurch aber auch Ironisch-Subversives, das geeignet ist, Träume von imperialer Größe in ein komisches Licht zu setzen. Damit wird die Hoffnung auf Vollendung der Gottesherrschaft, so sehr sie die Erwartung der Sammlung aller Völker aufnimmt, als Hoffnung auf eine Gegen-Herrschaft zu bestehenden Herrschaftsformen konturiert (Garroway 2009; Carter 2011). So lenkt diese Parabel den Blick über gegenwärtige Wahrnehmungen hinaus auf die Zukunft der Herrschaft Gottes und ermutigt damit, sich auf eine Hoffnung von verwegener Größe und Fremdheit einzulassen – die Hoffnung auf die nicht durch menschliches Handeln herbeiführbare, von Gott verheißene Verwandlung der Welt.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Unsere Parabel ist neben Mk 4,30-32 in Mt 13,31 f., Lk 13,18 f. und EvThom 20 überliefert; auf der Grundlage der Lk- und Mt-Fassungen wird eine Q-Fassung (Q 13,18 f.) rekonstruiert. Diese lautet in der Rekonstruktion des Internationalen Q-Projekts: Q 13,18 f.: (18) Wem gleicht die Königsherrschaft Gottes oder wem sollen wir sie vergleichen? (19) Sie gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und in seinen Garten warf, und es wuchs und wurde zu einem Baum, und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen. Es lassen sich zwei Grundtypen der Parabel unterscheiden, wobei Mk/Thom den einen, Q/Lk den anderen Typ repräsentieren. Die Mt-Fassung ist eine Mischform. Die Senfkornparabel beginnt in Q, wo sie mit der vom Sauerteig (Q/Lk 13,20 f.; Mt 13,33) verbunden ist, mit einer Doppelfrage, welche die Gottesherrschaft als Referenzgröße nennt, jedoch den Begriff parabolffi (parabole¯ – Parabel) nicht verwendet. Sie berichtet im Aorist von einem ˝nqrwpo@ (anthro¯pos – Menschen) als Handlungssubjekt, der ein Senfkorn in seinen Garten warf. Damit liegt eine Erzählung vor. Der Größenvergleich, auch ein Vergleich des Senfkorns bzw. der Senfpflanze mit Samenkörnern bzw. Gartengewächsen, unterbleibt. Das Wachstum wird in zwei kurzen Verbalsätzen geschildert. In der Q/Lk-Parabel fallen zwei Subjektswechsel auf (Subjekt sind zunächst der 334

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»Mensch«, dann das Senfkorn, schließlich die Vögel). Die ausgewachsene Pflanze wird als dffndron (dendron – Baum) bezeichnet. Der Schluss ist dem der Mk-Fassung ähnlich. Überraschend ist der für palästinisch-jüdische Verhältnisse ungewöhnliche Anbau von Senf im Garten, extravagant-unplausibel das Säen nur eines einzigen Senfkorns und die Rede vom »Baum«. Die bei Mk beobachteten Ambivalenzen haben hier keine Entsprechungen. Das Auftreten des »Menschen« ist ein allegorischer Zug, den man vielleicht mit der Herrschererwartung verbinden darf, die von Ez 17,22-24 her am Bild des Baumes haftet. Die extravagante Rede vom Baum weist überdeutlich auf die aus Ez 17; 31; Dan 4 bekannte Bildfeldtradition hin. In EvThom 20 lautet die Parabel: (1) Die Jünger sprachen zu Jesus: Sage uns, wem das Königreich der Himmel gleicht! (2) Er sprach zu ihnen: Einem Senfkorn gleicht es. (3) [Es] ist der kleinste von allen Samen. (4) Wenn es aber auf die Erde fällt, die bearbeitet wird, bringt sie einen großen Zweig hervor (und) er wird zum Schutz für die Vögel des Himmels. Menschen werden nicht erwähnt. Wie bei Mk wird das Senfkorn mit »allen Samen« verglichen, setzt die Handlungsschilderung mit »wenn …« ein. Mk wie EvThom erwähnen die »Erde« und das Hervorbringen von Zweigen (EvThom: Sg.). Ein typisch-alltägliches Geschehen wird geschildert. Doch EvThom leitet die Parabel mit einer Frage der Jünger ein, versteht sie also als Jüngerbelehrung über die basileffla (basileia). Die bei Mk beobachteten Ambivalenzen sind teils getilgt: Das Senfkorn »fällt«, die Erde wird bearbeitet. Der Größenvergleich wird nur zum Teil geboten – der Vergleich der Senfpflanze mit den Gartengewächsen entfällt. In EvThom 20,4 ist die Erde Subjekt; sie bringt den großen Zweig hervor. Die alttestamentlichen Anklänge treten zurück. Der Größenvergleich ist schwerlich von einer einfacheren hin zur umständlichen Mk-Fassung erweitert, sondern umgekehrt von einer komplexeren Vorform hin zur Thom-Fassung verkürzt worden; durch die Auslassung folgt abrupt der »Zweig« auf das Samenkorn. Aufschlussreich ist der Subjektswechsel, der die Erde den Zweig hervorbringen lässt, und der Zusatz, die Erde werde bearbeitet. Das verschiebt den Sinn vom Wachstum der Pflanze zur Aufnahmebereitschaft und Aktivität des Bodens (übertragen: der Menschen) (vgl. Ménard 1975). Umstritten ist, ob es eine allen Fassungen zugrundeliegende Überlieferung gab (so u. a. Weder 4 1990, 104 f.128-131). Der Größenvergleich ist aber aus dem ersten Grundtyp kaum zu tilgen. Andererseits ist dem zweiten Grundtyp sein erzählender Zug mit dem Auftreten des »Menschen« nicht zu nehmen. (Vgl. Schröter 1997, 320-325). Ein Verweis auf unsere Parabel findet sich in der aus dem 2. Jh. stammenden Schrift »Dialog des Erlösers« (Dial NHC III 5, 144,5-8 [§ 88]). Hier fragt Maria (Magdalena), ob das Senfkorn von himmlischer oder irdischer Art sei (teils rekonstruierter Text). Doch bleibt die Erwähnung zu knapp, um nähere Rückschlüsse zu gestatten. In der Auslegungsgeschichte wurde die Parabel gern auf die Ausbreitung des Glaubens und der Kirche gedeutet (Beispiele bei Luz 3 1999, 328 f.). Eine dem liberalen Protestantismus des 19. und 20. Jh.s verbundene Exegese sah darin den Optimismus Jesu im Blick auf Wachstum und Entwicklung des Gottesreiches in der Geschichte ins Bild gesetzt (Jülicher II 2 1910, 569.576). Dagegen betonte eine der Wort-Gottes-Theologie verbundene Exegese, es gehe um das unverbundene Nacheinander von Klein und Groß (Jeremias 11 1998, 145-148). Seither ist die Auffassung verbreitet, es handle sich um ein »Kon335

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Parabeln im Markusevangelium

trastgleichnis«, das auf den Gegensatz zwischen der Unscheinbarkeit des geringen Anfangs der Gottesherrschaft und der Größe ihrer Vollendung abhebe. Das utopische Hoffnungspotential der Parabel bleibt zu entdecken.

Georg Gäbel Literatur zum Weiterlesen C. L. Blomberg, The Mustard Seed and the Leaven (Lk 13:18-21pars.), in: ders., Interpreting the Parables, Downers Grove 2 2012, 391-395. W. Carter, Matthew’s Gospel, Rome’s Empire, and the Parable of the Mustard Seed (Matt 13:3132), in: R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen 2 2011, 181-201. A. Y. Collins, The Discourse in Parables in Mark 4, in: R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen 2 2011, 521-538. E. van Eck, When Kingdoms are Kingdoms no More. A Social Scientific Reading of the Mustard Seed (Lk 13:18-19), Acta Theologica 33 (2013), 226-254. J. Garroway, The Invasion of a Mustard Seed: A Reading of Mark 5.1-20, JSNT 32 (2009), 57-75. P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Göttingen/Freiburg (Schweiz) 1993, 73-89. C. Kähler, Unkraut setzt sich durch, oder: von der Kraft der Ansteckung. Mk 4,30-32 und Lk 13,20 f., in: ders., Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie. Versuch eines integrativen Zugangs zum kommunikativen Aspekt von Gleichnissen Jesu, WUNT 78, Tübingen 1995, 81-99. F. Kogler, Das Doppelgleichnis vom Senfkorn und vom Sauerteig in seiner traditionsgeschichtlichen Entwicklung. Zur Reich-Gottes-Vorstellung Jesu und ihren Aktualisierungen in der Urkirche, fzb 59, Würzburg 1988. S. Lampe-Densky, Die größere Hoffnung – Gleichnis vom Senfkorn – Markus 4,30-32, in: M. Crüsemann u. a. (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014, 202-210. A.-J. Levine, The Mustard Seed, in: dies., Short Stories by Jesus. The Enigmatic Parables of a Controversial Rabbi, New York 2014, 151-167. J. Liebenberg, The Parable of the Mustard Seed in the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, in: ders., The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin u. a. 2001, 276-335. P. Müller/G. Büttner/R. Heiligenthal u. a., Das Gleichnis vom Senf (Mk 4,30-32), in: dies., Die Gleichnisse Jesu. Ein Studien- und Arbeitsbuch für den Unterricht, Stuttgart 2002, 118-126. R. Schellenberg, Kingdom as Contaminant? The Role of Repertoire in the Parables of the Mustard Seed and the Leaven, CBQ 71 (2009), 527-543. J. Schröter, Jens, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neukirchen-Vluyn 1997, 320-324. K. R. Snodgrass, The Mustard Seed (Matt 13:31-32; Mark 4:30-32; Luke 13:18-19), in: ders., Stories with Intent. A Comprehensive Guide to the Parables of Jesus, Minneapolis 2008, 216-228. A. Steier, Art. Senf, PRE.S VI (1935), 812-817. R. Zimmermann, The Mustard Seed (Mark 4:30-32) and the Parables in Mark, in: ders., Puzzling the Parables of Jesus. Methods and Interpretation, Minneapolis 2015 (im Erscheinen).

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Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit (Von Reinheit und Unreinheit) Mk 7,14-23 (Mt 15,16 f. / EvThom 14) (14) Erneut rief Jesus eine Menschenmenge zusammen und sagte ihnen: »Hört alle genau zu und begreift! (15) Es gibt Nichts, das von außen in den Menschen hineinkommt, das ihn unrein machen kann, sondern das, was aus dem Menschen herauskommt ist es, das den Menschen unrein macht.« (17) Und als er abseits von der Menschenmenge in ein Haus kam, fragten ihn seine Jüngerinnen und Jünger nach der Bedeutung des Gleichnisses. Darauf antwortete er ihnen: »Begreift denn auch ihr nichts? Versteht ihr nicht, dass alles, was von außen in einen Menschen hineinkommt, ihn nicht verunreinigen kann? (19) Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Magen und von dort geht es hinaus in die Toilette.« – Damit erklärte Jesus alle Speisen für rein. (20) Jesus aber fuhr fort: »Das, was aus dem Menschen herauskommt, jenes (andere) verunreinigt den Menschen. (21) Denn von innen her, aus den Herzen der Menschen kommen die bösen Gedanken, Sexgier, Diebstahl, Mord, (22) Ehebruch, Selbstsucht, Bosheit, Arglist, Maßlosigkeit, Neid, üble Nachrede, Überheblichkeit und Dummheit. (23) Alle diese bösen Dinge kommen von innen her und verunreinigen den Menschen.«

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel über die rechte Reinheit (Mk 7,14-23) steht inmitten des Kapitels sieben mit dem thematischen Schwerpunkt »Reinheit«. Dem entspricht die funktionale Bedeutung von Kapitel sieben als Kapitel, in dem der Übergang zur Heidenmission vorbereitet wird (Mk 7,24 ff.). Das Stichwort Brot bzw. die Thematik des Essens bildet eine lockere semantische Verknüpfung zu den vorausgehenden Taten Jesu (Mk 6,30-44 Speisung der 5000; 6,52 Unverständnis der Jünger) sowie zu den nachfolgenden (Mk 7,24-30 die syrophönizische Frau (Brotkrumen); 8,1-10 Speisung der 4000; 8,16-21 Rückbezug auf Speisungswunder angesichts des Brotmangels im Boot). Parabel und Deutungen (Mk 7,14-23) sind eingebunden in die narrative Rahmenhandlung eines Streitgespräches zwischen Anhängern und Anhängerinnen der pharisäischen Bewegung, diesen religiös nahe stehenden Toragelehrten aus Jerusalem, und Jesus (Mk 7,1 f.5). Der Auslöser der argumentativen Auseinandersetzung besteht in dem Verhalten der Jüngerinnen und Jünger, die ihr Brot mit unreinen, d. h. mit ungewaschenen Händen essen (koina…@ cersffln koinais chersin). Diese Szenerie und ihre Akteure werden für den gesamten Abschnitt Mk 7,1-23 implizit vorausgesetzt. Mk 7,1-23 lässt sich anhand inhaltlicher und formaler Kriterien in folgende Abschnitte gliedern: a) Mk 7,1-5 Einleitung als Streitgespräch; b) Mk 7,6-13 Verteidigung mittels Gegenvorwurf Jesu und c) Mk 7,14-23 Lehre Jesu als Parabel. Der Gesamtabschnitt Mk 7,1-23 erweist sich »als ein komplexes Gebilde« (Klauck 2 1986, 262), das 337

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Parabeln im Markusevangelium

redaktionell als Einheit konzipiert ist. Die semantische Verzahnung der Parabel mit den beiden vorausgehenden Abschnitten ist gegeben durch die Stichworte: koin@ (koinos – unrein) in Mk 7,2.5 und dem Verb koinw (koinoo¯ – verunreinigen) in Mk 7,15.18. 20.23, kardffla (kardia – Herz) in Mk 7,6 und 7,19.21 sowie die Gegensatzpaare zum Themenbereich »außen-innen«: ce…lo@ – kardffla (cheilos – kardia – Lippe – Herz) Mk 7,6; ˛xwqen – ˛swqen (exo¯then – eso¯then – von außen/außen – von innen/innen) Mk 7,15.18.21.23 und kardffla – koilffla (kardia – koilia – Herz – Bauch) Mk 7,19. Mk 7,1-5 führt am Beispiel der ungewaschenen Hände der Jünger in die Thematik der Reinheit ein und endet in der Frage der Pharisäer an Jesus (Mk 7,5), ob sich seine Jünger und Jüngerinnen nicht an die überlieferte Tradition halten. Auf die Frage folgt in Mk 7,6-13 der Gegenvorwurf Jesu unter Anknüpfung an das Stichwort der überlieferten Tradition. Das argumentative Ziel des Gegenvorwurfs Jesu besteht in guter Manier klassischer Rhetorik (Salyer 1993, 144-151) in der Dekonstruktion der Argumentationsbasis der Gegner, hier der überlieferten Tradition. Dies geschieht zum einen mittels direkter Transformation prophetischer Kultkritik (Jes 29,13) auf die Pharisäerinnen und Pharisäer (Mk 7,6 f.), zum anderen durch den Nachweis eines Widerspruchs zwischen dem göttlichen Gebot der Elternehrung (Ex 20,12; Dtn 5,16) und einer überlieferten pharisäischen Tradition (Mk 7,10-12). Damit wird jegliche überlieferte Tradition der Pharisäerinnen und Pharisäer, wozu auch die Reinheitskonzeptionen, konkret das Händewaschen, gehören, abgelehnt, weil sie im Widerspruch zu den Geboten Gottes stehen. Erst jetzt ist der Ort zur Darlegung der Reinheitskonzeption Jesu. Der Neueinsatz in Mk 7,14 markiert den Textabschnitt Mk 7,14-23 als eigene Einheit in dem narrativen Gesamtrahmen »rein und unrein«, was die Wiederaufnahme von koinw (koinoo¯ – verunreinigen: 7,15.18.20.23) bestätigt. Die Lehre Jesu in Mk 7,15, die in V. 17 explizit Parabel genannt wird, und deren Deutungen (Mk 7,18-19 und 7,20-22) bilden den argumentativen Höhe- und Endpunkt. Der Text schließt mit einem Resümee über die Bedeutung von Unreinheit in V. 23 und beendet die theoretische Argumentation. Es folgt in Mk 7,24 ff. die Schilderung der praktischen Umsetzung der Reinheitskonzeption Jesu. Die Parabel (Mk 7,15) wird narrativ eingeleitet als Lehre Jesu an das Volk, das er in Mk 7,14 zu diesem Zwecke herbeiruft. Die der Parabel unmittelbar vorausgehenden doppelten Imperative im Plural mit dem unbestimmten Bezug auf alle (hört und versteht) vermitteln einerseits zwischen der erzählten Situation und der Parabel und verweisen gleichzeitig auf die Problematik der Aneignung dieses Wortes. Die Parabel beginnt in Mk 7,15 mit einem antithetischen Parallelismus (Klauck 2 1986, 260; Gnilka 5 1998, 284), bestehend aus zwei präsentisch formulierten Hauptsätzen. Die beiden antithetischen Hauptsätze beinhalten Grundsatzaussagen über die Möglichkeit menschlicher Verunreinigung. Die Dinge, die für Reinheit oder Unreinheit ursächlich sind, bleiben ungenannt und sind in der indikativisch formulierten Aussage (Theißen/Merz 3 2001, 327) einzig durch das Adverb ˛xwqen (exo¯then – von außen) und die Partizipien e§sporeumenon (eisporeuomenon – hineinkommend), ¥kporeumen€ (ekporeuomena – herauskommend) sowie die Präposition ¥k (ek – aus) näher bestimmt. Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, verunreinigt, sondern das, was aus dem Menschen herauskommt, verunreinigt. Auffallend sind die Raum- bzw. Richtungsangaben: »von außen – in den Menschen« und »aus dem Menschen« mit der Zuordnung des Wirkens von »rein« – »unrein«. Die Häufung der Ortsadverbien (Blass/Debrunner/Rehkopf 18 2001, § 104,2) ˛xwqen 338

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Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit Mk 7,14-23

(exo¯then – von außen/außen: Mk 7,15.18), ˛swqen (eso¯then – von innen/innen: Mk 7,21.23) und der beiden richtungsweisenden Verben e§sporeÐesqai (eisporeuesthai – hineinkommen: Mk 7,15.18.19) und ¥kporeÐesqai (ekporeuesthai – herauskommen: Mk 7,15.19.20.21.23) in dem gesamten Abschnitt unterstreichen die Bedeutung von Raum- und Richtungsangaben. Die Lehre Jesu als Parabel suggeriert in ihrer offenen und unbestimmten Formulierung bei historischen und gegenwärtigen Leserinnen und Lesern auf den ersten Blick ein Verständnis der Aussage im Literalsinn. Doch gerade ein realistisches Verständnis der Parabel steht in Spannung zu den doppelten Imperativen zu Beginn. Auch scheint die damit implizierte Gleichsetzung dessen, was aus dem Menschen herauskommt, im zweiten Teil der Aussage von Mk 7,15b mit menschlichen Ausscheidungen oder Körperausflüssen banal. Überdies verweist die Mehrdeutigkeit von ¥kporeÐesqai (ekporeuesthai – herauskommen) im Zusammenhang mit Körper und Leib in der LXX auf die Möglichkeit einer metaphorischen Bedeutung (Theißen 2003, 78 f.). Das Verb findet sich sowohl in der Beschreibung von Materiellem, das den Körper verlässt (Fehlgeburt: Num 12,12; Hi 3,16 und Geburt: Hi 38,8.29), als auch in der Beschreibung für Worte, die den Mund verlassen (Num 32,24; Dtn 8,3 der Mund Gottes; 23,23; Ps 88,34). Ein übertragener Gebrauch im Sinne von Worten (Mt 4,4 = Dtn 8,3; Lk 4,22 [Worte d. Gnade]; Eph 4,29 [faules Geschwätz]) ist ebenso im NT zu belegen und bestätigt die Möglichkeit einer metaphorischen Verstehensweise von Mk 7,15b. Die Deutungen der Parabel auf Nachfrage der Jünger in Mk 7,18-19 und Mk 7,2022 entsprechen der Reihenfolge der beiden Parallelismen in Mk 7,15. Die doppelte Rückfrage nach dem Verständnis der Jünger in V. 18, wobei die zweite eine Wiederholung der diesmal positiv formulierten Aussage von Mk 7,15a in Frageform darstellt, ist ein Vorwurf an das Unverständnis der Jünger. Die in V. 19a durch Jesus selbst vorweggenommene Antwort deutet die Aussage von Mk 7,15a als natürlichen Verdauungsprozess und identifiziert das, was in den Menschen hineingeht, mit Speisen. Die Absage an alle Speisevorschriften der Tora und davon abgeleiteten Speiseregeln benennt der redaktionelle Kommentar in Mk 7,19b. Analog zum Außen-Innen-Gegensatz von Mk 7,15a demonstriert hier die Metaphorik von Bauch und Herz ein realistisches Verständnis des ersten Teils der Parabel. Die Speisen gehören zu dem »Außen«, das nicht verunreinigt, da sie ohne Konsequenzen den Körper wieder verlassen. Dagegen wird das »Innen« mit dem Herz identifiziert (Mk 7,21), aus dem die in Mk 7,22 aufgelisteten dreizehn Laster entspringen. Sechs als Abstraktbegriffe im Plural und die letzten sechs im Singular. Die Nennung von Diebstahl, Mord, Ehebruch und Neid entsprechen sachlich dem siebten, fünften, sechsten und achten Gebot. Diese Dinge aus dem »Inneren« verkörpern die wahre Unreinheit, so V. 23 zusammenfassend. Danach ist der erste Teil der Parabel realistisch und der zweite metaphorisch interpretiert. Zu erwähnen ist auch die Einzeichnung der so genannten »markinischen Parabeltheorie« Mk 4,10-12 in Mk 7,14-23 (Klauck 2 1986, 261 f.). Folgende Elemente der Parabeltheorie sind in Mk 7,14-23 erkennbar: Mk 7,14 erinnert an Mk 4,12b; auf das öffentlich verkündete Wort Jesu folgt die Anfrage der Jünger (Mk 4,10a/7,17a) nach der Bedeutung der Parabel an einem Ort abseits der Menschenmenge, gefolgt von einer rhetorischen Rückfrage Jesu (Mk 4,13/7,18a), die das Unverständnis der Jünger betont und letztlich die Auslegung Jesu einleitet (Mk 4,13-20/7, 18b-22).

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Parabeln im Markusevangelium

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Die Unterscheidung zwischen »rein« und »unrein« lässt sich in unterschiedlichen Religionen und Kulturen nachweisen. Charakteristisch ist dabei die Verbindung einer physischen Komponente mit einer rituellen und/oder einer ethischen. Meist wird dabei die Reinheit mit Leben, Gesundheit, kosmischer und sozialer Ordnung identifiziert, im Gegensatz zur Unreinheit, die mit Tod, Krankheit, kosmischem und sozialem Chaos assoziiert wird. Innerhalb der Kulturen und Religionen sind jedoch spezifische Eigenarten und Ausprägungen der Phänomene erkennbar. In den Nachbarkulturen des alten Israel, in Babylonien, Ägypten und Mesopotamien, finden sich strukturelle Ähnlichkeiten in der Annahme von heiligen, d. h. reinen Orten, Menschen und Gegenständen sowie von Unreinheit oder Sünde als Kulthindernis. So galt die Reinigung durch Wasser für Priester, Tempel und Tempelgeräte sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien als wichtige Voraussetzung für die Verehrung der Götter (Wenham 2002, 378 f.). Im Israel der exilisch-nachexilischen Zeit gilt das Allerheiligste, der Wohnort Gottes, als Zentrum von Heiligkeit und Reinheit. Ausgehend vom Innersten des Tempels verbreitet sich eine nach außen abnehmende Reinheit sowohl bezüglich der Personen als auch der Räume.

Reinheit besteht demzufolge zunächst für den Tempel, das Tempelpersonal, die Priester sowie die Tempelgerätschaften. Mit der Forderung der Nachahmung der Heiligkeit Gottes durch das gesamte Volk (Lev 11,44) wird auch die Reinheitsforderung auf das gesamte Volk und die Bereiche des sozialen, kultischen und religiösen Lebens übertragen. Die Wiederherstellung von Reinheit nach eingetretener Unreinheit und damit die Beseitigung von Hindernissen in der Kommunikation mit Gott im Kult, sind je nach Art der Verunreinigung sehr unterschiedlich und reichen von einer gewissen Wartezeit (Lev 11; 12 u.15), über Waschungen (Lev 15; 22) zur Darbringung verschiedener Opfertiere (Lev 5; 16). In der Gemeinde von Qumran, die sich als Reaktion auf die Öffnung der Priesteraristokratie gegenüber dem Hellenismus und damit der Bedrohung des Tempels und seines Kultes durch hellenistische Überfremdung als das wahre Heiligtum (1QS 8,4-9) absonderte, kam den Reinheitsgeboten hohes Gewicht zu. In diese Richtung weisen auch die archäologischen Funde vielfacher Wasserbecken mit hinab- und hinaufführenden 340

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Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit Mk 7,14-23

Stufen, die eine Verwendung derselben als Miqwaot nahe liegend erscheinen lassen. Das Ganzkörper-Tauchbad in der Miqwe, die mit fließendem Wasser gefüllt sein muss, diente nicht der körperlichen Säuberung, sondern war eine rituelle Pflicht für aus natürlichen Gründen Verunreinigte vor den Gebetsgottesdiensten, die die Stelle des Tempelkults einnahmen, bzw. vor dem Essen (4Q 514). Dabei galt das Untertauchen im Wasser nur als äußeres Zeichen der durch Gott im Inneren vollzogenen Reinigung. Nicht Eingrenzung auf eine egalitäre Gruppe, sondern Ausdehnung der biblischen Reinheitsbestimmungen auf ganz Israel ist die Reaktion der Bewegung der Pharisäerinnen und Pharisäer auf den Einfluss hellenistischer Lebensweise auf Tempel, Kult und Priesterschaft. Die Transformation priesterlicher Bestimmungen auf alle Bevölkerungsschichten sowie die Bemühungen um weitergehende Reinigung sind wichtige Aspekte in dem durch die pharisäische Bewegung (Neusner 2 1979, 83; Goldenberg 1998, 484) angestoßenen Akt der Demokratisierung und Individualisierung innerhalb des Judentums. Ein Grundprinzip in dem pharisäischen Bemühen um weitergehende Reinigung besteht in dem prophylaktischen Prinzip der Vorbeugung gegen alle Eventualitäten potentieller Verunreinigungen zum Schutz der Reinheit. Das pharisäische Prinzip der Vorbeugung und frühzeitigen Abwehr gilt ebenso bezüglich der Gesetzesübertretung, offenkundig in dem Ausspruch »einen Zaun um die Tora machen«, (mAv I,1). Welche konkreten Reinheitsbestimmungen die Pharisäerinnen und Pharisäer im 1. Jh. n. Chr. vertraten und wie groß ihr Einfluss in der Bevölkerung war, ist umstritten. Trotz der Zeugnisse des Josephus über die Gesetzesobservanz der Pharisäer und Pharisäerinnen sind konkrete Bestimmungen nur sekundär über die später entstandene Mischna zu erschließen. In dem Mischnatraktat Jadajim (Hände) finden sich die Bestimmungen zur rituellen Reinigung der Hände vor den Mahlzeiten (Billerbeck I 2 1926, 695-704; II 2 1924, 13 f.; IV/2 2 1928b, 616.620-622.624-627; sowie bChul 104b-107b). Auf eine in der Bevölkerung verbreitete pharisäische Reinigungspraxis durch äußere Waschungen zur Zeit Jesu lassen dagegen die archäologischen Funde von Miqwaot und Steingefäßen im Palästina des ersten Jh. (Deines 1993, 4-11.228-233) schließen. Die große Verbreitung von Steingefäßen, die im Gegensatz zu Tongefäßen ideale Aufbewahrungsbehälter und Wasserschöpfer zum Händewaschen sind, da sie nach pharisäischem Verständnis keine rituelle Unreinheit aufnehmen und übertragen konnten, spricht eher für eine hohe Akzeptanz pharisäischer Reinheitspraktiken in der jüdischen Bevölkerung des 1. Jh. n. Chr. Für die Auslegung der Parabel ist die erhöhte Reinheitsobservanz und Praktizierung verschiedener Reinheitsriten, hier das Waschen der Hände vor den Mahlzeiten als Eigenart der pharisäischen Bewegung zu erkennen. Die Thematik der Reinheit war für diese Bewegung ein wichtiges und auch ein Konflikt beladenes Thema. Eine Kontroverse zwischen den Pharisäerinnen und Pharisäern und Anhängern der frühchristlichen Bewegung zur Reinheitspraxis liegt bei Mk eher im Bereich der erinnerten als im Bereich der realen Möglichkeit

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Mit dem Begriff koin@ (koinos – unrein), der zuerst in den Makkabäerbüchern (1Makk 1,47.62; 4Makk 7,6) auftaucht und synonym mit ⁄k€qarto@ (akathartos – unrein) ver341

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Parabeln im Markusevangelium

wendet wird (Stettler 2004, 472; gegen Hauck 1938b, 797), kommt die biblische Reinheitskonzeption als Referenzbereich für Mk 7,14-23 in den Blick. »Rein« und »unrein« stellen in der biblischen Welt (AT und NT) Ordnungskategorien dar, die alle Lebensbereiche des Menschen im Blick auf die Gottesrelation strukturieren. Als religiöse Begriffe umfassen sie einen über das hygienische Denken hinausführenden Bedeutungsrahmen und sind eher als funktionale Begriffe zur Beschreibung der Gottesrelation und damit auch der Gemeinschaftsfähigkeit zu verstehen. »Rein« und »unrein« sind »Relationsmetaphern«, die die Voraussetzung für die Nähe Gottes und die Möglichkeit, sich Gott zu nähern, anzeigen. Reinheit ist die Bedingung der Möglichkeit der Gottesbegegnung und Unreinheit das Hindernis derselben. Inhaltlich reicht der Referenzbereich der »Relationsmetapher« rein und unrein im Alten Testament von der priesterlichen Vorstellung materiell anhaftender bzw. physisch greifbarer Unreinheit bis zur ethisch-religiösen Unreinheit, wie dem Fremdgötterkult in der prophetischen und weisheitlichen Literatur. In übertragenem Sinn wurde die »Relationsmetapher« rein/unrein auf alles ausgedehnt, was dem göttlichen Willen entsprach oder widersprach (Jes 1,16; 6,5; 64,5; Jer 2,22 f.; 13,27). Die priesterlich geprägten Bildfelder von einer materiell anhaftenden Unreinheit umspannen die elementaren Lebensvollzüge des Menschen wie Geburt (Lev 12,2 f.), Tod (Lev 21,1 ff.; 10 ff.; Num 19,11 ff.), Sexualität (Lev 15), Essen (Lev 11; Dtn 14) und Krankheit (Lev 13 f.). Die innerhalb dieser Bereiche auftretenden Unreinheiten sind qualitativ von Götzendienst (Lev 20,2-5), Mord/Totschlag (Num 35,33) und unerlaubten Sexualkontakten (Inzest) (Lev 18) unterschieden. Letztere stehen im Widerspruch zu Gott, der heilig ist, Leben stiftet und erhält, so dass eine Wiederherstellung von Reinheit nur durch den Tod des Sünders gegeben ist. Während die übrigen Verunreinigungen durch verschiedene Reinigungsriten überwunden werden können (Wenham 2002, 380 f.). Die in der Parabel implizit angesprochenen und in Mk 7,19b mit dem summarischen Begriff brðmata (bro¯mata – Speisen) explizit erwähnten Speisen, verweisen auf das alttestamentliche Bildfeld der Speiseregeln. Zu den wichtigsten Speiseregeln gehören: das Verbot des Blutgenusses (Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26 f.: 17,10-14; 19,26; Dtn 12,16.23; Ez 33,25), die Erlaubnis des Verzehrs von gefallenen oder gerissenen Tieren (Dtn 14,21); das Verbot das Zicklein in der Milch seiner Mutter zu kochen (Ex 23,19; 34,26; Dtn 14,21), das später als Verbot der Vermischung von Fleisch und Milch gedeutet wurde (mChul 8,4; bChul 115b), und die zum Verzehr erlaubten bzw. verbotenen reinen und unreinen Tiere (Lev 11,1-47 und Dtn 14,3-21). Der Einteilung in wesensmäßig reine und unreine Tiere unterliegt ein Ordnungsprinzip, wonach nur die Tiere als rein gelten, die entsprechend den Lebensräumen der Schöpfung (Erde, Wasser, Luft) durch Aussehen und Fortbewegung eindeutig einem der Lebensräume zuzuordnen sind (Podella 1997, 479). Die Tiere, die diesem Ordnungsschema nicht oder nur teilweise entsprechen, gelten als unrein, wie beispielsweise alle Krebs- und Muscheltiere, die zwar im Wasser leben, aber keine Schuppen und Flossen haben. Darin zeigt sich, dass wesensmäßig vorgegebene Reinheit gleichgesetzt wird mit Unversehrtheit, Ganzheit und Integrität gegenüber allem Vermischten, das den Charakter des Unreinen erhält. Das Verbot des Essens von Schweinefleisch ist erst für die Zeit des zweiten Tempels und dort besonders in der Abwehr der hellenistischen Bestrebungen des Antiochus IV. Epiphanes in den Makkabäerkriegen (2Makk 6,18-32; 7,1) nachweisbar. Die Gültigkeit der alttestamentlichen Speisevorschriften ist auch durch die Litera342

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Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit Mk 7,14-23

tur des zweiten Tempels bezeugt (Dan 1,8-16; 1Makk 1,48.62; 2Makk 5,27; 6,19; Jdt 12,1-4; JosAs 7,1; 4Makk 1,32-35; Jub 6,7.12-14; 22,16; TestLev 9,13; Arist. 144154.161-168; CD 12,8-15; Philo spec. 4,97-118; Flav. Jos. Ant. 3,259 f.) (Löhr 2003, 1823). Häufig stellt dabei die Abgrenzung gegenüber den Heiden, denen man generell Götzendienst und damit Unreinheit unterstellt, ein wichtiges Kriterium dar (Arist 139). Die Bildfeldtradition verunreinigender und damit verbotener Speisen als äußeres Zeichen der Abgrenzung von allen, die nicht zu Gottes auserwähltem Volk gehören, ist bei den Hörern und Hörerinnen der Parabel vorauszusetzen. Die zweite Bildfeldtradition, die in der Parabel anklingt, wenn auch negativ ausgedrückt, ist die Reinheit von Innen, aus dem Herzen, womit die ethisch-religiöse Ausrichtung menschlichen Denkens und Handelns angedeutet wird. Die inhaltliche Verknüpfung des Reinheitsbegriffs mit ethischen Kategorien findet sich in der Weisheitsliteratur (Spr 20.,9; Ps 51,4.9.12) aber auch in der prophetischen Literatur (Jer 33,8; Ez 36,25-28). Damit wird ein Reinigungsprozess beschrieben, der die innere Ausrichtung des Menschen betrifft, dessen Urheber Gott selbst ist und der die Handlungen des Menschen bestimmt. Diese positive innere Macht wird zusammengefasst in dem Ausdruck »Reinheit des Herzens«. Die bereits im AT vorhandene Tendenz, die »Relationsmetapher« rein/unrein nicht ausschließlich als materiell anhaftende bzw. physisch greifbare Veränderung am Menschen, sondern auch als ethisch-religiösen Vorgang im Inneren des Menschen zu verstehen, setzt sich im hellenistischen Judentum fort (Berger 1972a, 465 ff.; Theißen 1998b, 246 f.). So kommentiert Philo Num 19,22 (»Und alles, was der Unreine berührt, wird unrein«) mit den Worten: »Dieser Spruch scheint eine allgemeine Lehre zu verkünden, er bezieht sich nicht bloß auf das Körperliche, sondern geht auch auf die Beschaffenheit und Eigentümlichkeit der Seele ein. Denn unrein ist recht eigentlich der Ungerechte und Gottlose, der weder vor Menschlichem, noch vor Göttlichem Scheu empfindet …« (Philo spec. 208 f.). Für Philo widersprach dies keineswegs einer wörtlichen Befolgung der Reinheitsbestimmungen (Philo migr. 89-93).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel in Mk 7,15 ist eine grundsätzliche Reflexion über Reinheit und Unreinheit und damit eine theologische Reflexion zur Gottesbeziehung des Menschen. Die religiösen Begriffe »rein« und »unrein« als Ausdruck der Nähe Gottes werden beibehalten und implizit auch die jüdische Reinheitsvorstellung. Die Hauptfrage ist, was ist und verursacht Unreinheit als Ausdruck des Missverhältnisses zwischen Gott und Mensch? Der Erwartung, die durch den doppelten Imperativ in Mk 7,14 sowohl bei Hörerinnen und Hörern als auch bei Leserinnen und Lesern aufgebaut wird, scheint die Parabel in Mk 7,15 nicht zu entsprechen. Was gibt es da zu begreifen? Mk 7,15b scheint unter der Annahme von Exkrementen Banalitäten auszudrücken, und Mk 7,15a muss bei damaligen Hörerinnen und Hörern aufgrund der Reinheitspraktiken wie auch bei heutigen Leserinnen und Lesern wenn nicht Widerspruch, so doch zumindest Ungläubigkeit hervorrufen. Wie kann etwas, das von außen in den Menschen hineinkommt, nicht verunreinigen, oder modern ausgedrückt, folgenlos bleiben? Diese Spannung evoziert die Suche nach anderen Verstehensmöglichkeiten. 343

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Parabeln im Markusevangelium

Dabei geben die zahlreichen Raum- und Richtungsbegriffe Hilfestellung. Es geht bei der Reinheitskonzeption Jesu um einen Perspektivenwechsel bzw. eine veränderte Wirkrichtung von Unreinheit sowie von Reinheit. Nicht das, was von außen nach innen gelangt, ist entscheidend, sondern das, was innen ist, ist auch entscheidend für das Außen. Hier führt das sozialgeschichtliche Wissen über die Reinheitskonzeption der pharisäischen Bewegung zur stärkeren Profilierung derjenigen Jesu. Während die Reinheitskonzeption der pharisäischen Bewegung defensiv ausgerichtet ist und Unreinheit mittels prophylaktischer Reinheitspraktiken abwehrt, ist die Wirkrichtung der »offensiven Reinheit« Jesu (Berger 1988, 238-248) von innen nach außen. Mit der veränderten Wirkrichtung ist implizit auch die Ursache für Reinheit bzw. Unreinheit angesprochen. Die Vorstellung einer materiell anhaftenden Unreinheit, die von außen in den Körper gelangt (Mk 7,15a), wird durch die wahre Reinheit bzw. Unreinheit des Herzens (Mk 7,15b) zurückgewiesen. Nicht der Verdauungsprozess des Menschen, so Mk 7,18-19, sondern das Herz des Menschen als Ort, an dem sich Nähe oder Ferne zu Gott (Jes 29,13) realisiert, ist der Ausgangspunkt der Reinheit bzw. Unreinheit. Also doch Verdauung, nun aber auf Mk 7,15a bezogen. Ein gewisses Spiel mit den Assoziationen von Hörern und Lesern ist erkennbar. Die drastische, aber anschauliche Deutung mittels des Gegensatzes Bauch-Herz umschreibt einerseits das Herz als entscheidenden Ausgangspunkt für die Gottesrelation (rein/unrein), verengt andererseits die Abwehr materiell anhaftender Unreinheit auf die Speisen, was der Offenheit der Formulierung in Mk 7,15a nicht entspricht. Die in Mk 7,19b gezogene Konsequenz, dass alle Speisen erlaubt seien, wodurch implizit die alttestamentlichen Speisegesetze und damit ein Teil der Tora bedeutungslos werden, ist eine mögliche, aber keine zwingende Folgerung (Theißen 1998b, 242), wie auch aus Röm 14,14 ersichtlich ist. Die Folgerung einer Ablehnung der gesamten Tora durch Jesus aufgrund von Mk 7,15 ist nicht überzeugend, eine konkrete Handlungsanweisung fehlt. Die religiös fundierte Bedeutung von rein und unrein im Sinne einer Relationsmetapher für Gott und Mensch wird beibehalten und radikalisiert. Etwas an sich Reines oder Unreines wird abgelehnt. Reinheit bzw. Unreinheit ist eine Wirkmacht aus dem Inneren des Menschen, die strukturell der Wirkung des Pneumas entspricht. Die in der prophetischen Literatur vorhandene Tradition des von Gott erbetenen reinen Herzens sowie die göttliche Zusage der Gabe eines neuen Herzens und eines neuen Geistes (Ez 36,25 ff.) ist erkennbar. Mit der anbrechenden Gottesherrschaft, worauf die Eintragung der markinischen Parabeltheorie verweist, ist die Möglichkeit der inneren (Un)Reinheit für alle Menschen gegeben (Stettler 2004, 494 f.501). Die Relationsmetapher rein /unrein will im Zusammenhang der Verkündigung und Person Jesu verstanden sein. Dies ist die christologische Komponente der rein/unrein Thematik (Deines 2003, 1128). Eine Deutung der Parabel nach dem Schema: Ethik statt Kultus und die Betonung einer privaten Innerlichkeit wären verfehlt. Gegen eine reine Gesinnungsethik oder Innerlichkeit spricht der in Mk 7,22 aufgezählte Lasterkatalog. Im größeren Kontext von Mk 7,1-23 ist die Parabel über rein und unrein im Zusammenhang der Auseinandersetzung der frühchristlichen Bewegung mit der pharisäischen zu lesen, wie auch aus den von Q stammenden Weherufen gegen die Pharisäer in Mt 23,25 f. und in Lk 11,37-41 ersichtlich wird. Die Härte der Auseinandersetzung erweist das Thema als ein zentrales, theologisches Thema, es geht um die Gottesbeziehung. 344

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Die rechte Reinheit – eine Herzensangelegenheit Mk 7,14-23

Ein auch innerjüdisch (jBer IX, 14b; bSota 22b) häufig geäußerter Kritikpunkt gegen die Anhängerinnen und Anhänger der pharisäischen Bewegung ist die Heuchelei. Damit wird die Diskrepanz zwischen nach außen gerichteten Reinheitsforderungen und ethisch-religiöser Defizite im Inneren ausgedrückt. Die Folge einer ausschließlich auf Abwehr äußerer Unreinheit aufgebauten Reinheitskonzeption.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Im Matthäusevangelium wird die Parabel analog zur markinischen Vorlage im Großkontext von Speisungswundern – Unverständnis der Jünger – Brot für Kanaanäerin – Speisung der 4000 überliefert. Mt 15,16 f.: (16) Er (Jesus) aber erwiderte: Seid auch ihr immer noch einsichtslos? (17) Begreift ihr nicht, dass alles, was durch den Mund hineinkommt, in den Bauch gelangt und dann hinaus in die Toilette? Die Spannungen und damit die Offenheit der Parabel von Mk 7,15 fehlt in der Rezeption des Mt. Mt 15,11: »Nicht das, was in den Mund hineingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund herauskommt, verunreinigt den Menschen«. Die Einfügung des Wortes »Mund« in Mt 15,11 und 15,17 beseitigt jede Uneindeutigkeit bezüglich des zweiten Teils der Parabel und legt den ersten Teil auf Speisen fest. Die Betonung einer veränderten Wirkrichtung von Reinheit bzw. Unreinheit, bei Mk ausgedrückt durch die Gegensätze »außen/innen« oder »Bauch/Herz«, fallen bei Mt weg. Nach Mt müssen die beiden Teile der Parabel nicht ausschließend, sondern können gradualistisch verstanden werden (Theißen 1998b, 244; dagegen Luz 3 1999, 424 f.) im Sinne einer Vorordnung ethisch-religiöser Reinheitsbestimmungen gegenüber den Speisevorschriften. Es sind zwei Bereiche, die aber nicht gegeneinander ausgespielt werden, worauf die Umformulierung in Mt 15,11, das Fehlen eines Großteils der Verse von Mk 7,18 u. 19 sowie der Wegfall der in Mk 7,19c gezogenen Konsequenz: »Damit erklärte er alle Speisen für rein«, hindeuten. Die Speiseregeln werden nicht abgelehnt, ihnen wird jedoch keine theologische Konsequenz beigemessen, von daher kommt auch dem Händewaschen keine Bedeutung zu (Mt 15,20). Wahre Unreinheit besteht in dem Verstoß gegen die Gebote der zweiten Tafel (Mt 15,19). Im Lukasevangelium fehlt die Parabel aufgrund der großen Auslassung von Mk 6,45-8,26. Eine Mk 7,15 vergleichbare Pointe findet sich jedoch in Lk 11,41: »Vielmehr, gebt das Innere als Almosen, und siehe, alles wird rein für euch.« EvThom 14: Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr fastet, werdet ihr euch Sünde erwerben, und wenn ihr betet, werdet ihr verurteilt werden, und wenn ihr Almosen gebt, werdet ihr Schlechtes für euren Geist (pl.) tun. Und wenn ihr in irgendein Land gehen werdet und wandert in den Gebieten umher (und) wenn man euch aufnimmt, esst das, was man euch vorsetzen wird. Die Kranken unter ihnen (in den Gebieten) heilt. Denn was hineingehen wird in euren Mund, wird euch nicht beflecken. Doch das, was herauskommt aus eurem Mund, das ist es, was euch beflecken wird. EvThom 14 beinhaltet die Antwort Jesu auf die Anfrage der Jünger bezüglich fasten, Almosen, beten und Speisegeboten in EvThom 6. Die im EvThom vorliegende Rezeption 345

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Parabeln im Markusevangelium

der Parabel weist eine Orientierung am MtEv auf (Mund). Der Begründungscharakter der Parabel am Ende des Abschnittes betont die Nutzlosigkeit von Speisegeboten zugunsten einer aus dem Inneren kommenden universalen Reinheit mit heilender Wirkung. Dagegen sind es bestimmte Frömmigkeitspraktiken (fasten, beten, Almosen geben) im nicht öffentlichen Bereich, die die Gottesbeziehung stören und verunreinigen können, werden sie nicht um ihrer selbst willen getan. EvThom 14 zeigt sowohl die praktisch missionarische Bedeutung der Reinheitskonzeption Jesu auf, als auch die theologische.

Claudia Losekam Literatur zum Weiterlesen K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988), 231-262. R. Deines, Art. Rein und unrein, Calwer Bibellexikon 2003, 1126-1128. M. Fletcher, What Comes into a Woman and what Comes out of a Woman: Feminist Textual Intervention and Mark 7:14-23, Journal of Feminist Studies in Religion 30 (2014), 25-41. Y. Furstenberg, Defilement Penetrating the Body: A New Understanding of Contamination in Mark 7.15, NTS 54 (2008), 176-200. M. Meiser, Reinheitsfragen und Begräbnissitten. Der Evangelist Markus als Zeuge der jüdischen Alltagskultur, in: R. Deines (Hg.), Neues Testament und hellenistisch-jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen. III. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti 21.-24. Mai 2009, WUNT 274, Tübingen 2011, 443-460. L. Scornaienchi, Die Relativierung des Unreinen. Der Einfluss des Paulus auf »Markus« in Bezug auf die Reinheit, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paul and Mark. Comparative Essays. Part 1: Two authors at the beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin 2014, 505-526. G. Theißen, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: K. Wengst/G. Saß (Hg.), Ja und nein: Christliche Theologie im Angesicht Israels. FS zum 70. Geburtstag von Wolfgang Schrage, Neukirchen-Vluyn 1998, 235-251. L. Wehr, Christliche Identitätsfindung in Auseinandersetzung mit dem Frühjudentum am Beispiel der Reinheits- und der Fastenfrage, in: G. F. Chiai (Hg.), Athen, Rom, Jerusalem. Normentransfers in der antiken Welt, ESt 66, Regensburg 2012, 41-54.

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Das Brot der Hunde (Von Kindern und Hunden) Mk 7,27 f. (Mt 15,26 f.) (27) Und er (sc. Jesus, s. Mk 6,30) sprach zu ihr (sc. einer Griechin aus Syrophönizien, s. 7,26): »Lass zuerst die Kinder satt werden! Denn es ist nicht recht, den Kindern ihr Brot wegzunehmen und es den Hunden zum Fraß vorzuwerfen.« (28) Sie aber antwortete und sprach zu ihm: »Herr! Und doch ernähren sich die unter dem Tisch befindlichen Hunde von den von Mädchen und Jungen [fallen gelassenen] Brotkrümeln!«

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Das aus Rede und Gegenrede bestehende »Gespräch« zwischen Jesus und einer namentlich unbekannt bleibenden Frau, das vom Bild der häuslichen Nahrungsversorgung geprägt ist, gehört zur Einheit Mk 7,24-30, die mit der Überschrift »Die Syrophönizierin (Kanaanitin)« (Aland 15 1996) o. ä. nur unzureichend erfasst wird. Die Erzählung schildert, wie der um Hilfe an einem kranken Mädchen gebetene Wundertäter erst auf die »logische Argumentation« (V. 29a: lgo@ logos) der Mutter hin bereit ist, ihre namenlose Tochter mittels Fernheilung von einem Dämon zu befreien. Die theologische Wundergeschichte besitzt zwei Schwerpunkte: 1. Durch die Charakterisierung der Jesus aufsuchenden Frau hinsichtlich ihrer kulturellen Identität und geografischen Herkunft (zu V. 26a vgl. Apg 4,36c; 18,2a) gelten Mutter und folglich auch ihre Tochter als Nichtjüdinnen, die aus der nördlich von Palästina liegenden Levante stammen. Ihnen gegenüber erscheint der Wundertäter Jesus hinsichtlich seiner Abstammung (vgl. Mk 6,3) und seinem Geburtsort Nazaret (vgl. 1,9) als palästinischer Jude. Wie schon 2Kön 5,1-14 erzählt, geschieht Heilung ausnahmsweise an einem Nichtjuden aus Syrien. 2. Das »dialogisierte Bildwort« (Klauck 2 1986, 273) begründet diese Ausnahme. Mk 7,27 f. bilden sachlich eine Einheit, insofern sie vom Gedanken der Versorgung aller Hausgenossen geprägt sind (anders Jülicher II 2 1910, 254 f. u. a. m.): In Jesus-Rede wird zunächst in Befehlsform eine Regel formuliert, die die vorrangige Versorgung bestimmter Haushaltsglieder festlegt (Mk 7,27a). Diese Position wird ethisch begründet (V. 27b: »denn«). Die Replik der Syrophönizierin beginnt mit einer höflichen Anrede an Jesus als Autorität (V. 28a, vgl. Q 7,6), um auf eine Durchbrechung der Norm aufmerksam zu machen (V. 28b). Dieser Einwand ist für den Wundertäter so gravierend, dass er seinen Standpunkt als relativiert (an-) erkennt und als argumentativ Bezwungener den Exorzismus vollzieht (V. 29 f.). In der Thema-Episode Mk 6,30-8,21 geht es in missionsgeschichtlich folgerichtig angeordneten Jesusgeschichten um das Israel (vgl. 8,19) und die Völker (vgl. V. 20) umfassende Evangeliumsheil. Durch das rational reflektierte Ausnahmewunder erscheint Jesus, der auch außerhalb des jüdischen Mutterlandes liegende Gebiete bereist, als vollmächtiger Stifter einer neuen Religion. Da Mk 7,27 f. in literarischer Spannung zur umgebenden Fernheilungserzählung 347

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der V. 25 f.29 f. stehen (vgl. Theißen 2 1992, 63 f.67), dürfte die Mischgattung einer apophthegmatischen Wundertradition erst literarisch geschaffen worden sein (vgl. Pesch 5 1989, 386). Bei der Aufnahme in das Mk (dazu Fander 2 1990, 63-66) erhielt die vormk. Tradition eine ortsbezogene Einleitung (7,24a, s. V. 31; 10,1) und gemäß dem Messiasgeheimnis wurde sie mit der Spannung von Verhüllung und Offenbarung der Person Jesu versehen (7,24bc, vgl. 1,45; 2,1 f.; 6,31 f.; 9,30). Mit dem Kontext ist die Wundergeschichte durch die Stichworte »Brot« und »Essen« verbunden (vgl. 6,36-44; 7,2.5; 8,2-9.14-21).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Mk 7,27 f. par. nimmt auf den Alltag hell.-röm. Kultur Bezug (Luz 19993 , 436): Zum Mahl wird in einem bescheidenen Haushalt auf dem Boden sitzend an einem niedrigen Tisch, in einem vermögenden auf Speisesofas liegend an mehreren Tischen Platz genommen (vgl. 2,15). Hauptbestandteil der Mahlzeit ist Brot, das nach Mk 7,27 f. par. als fester Brotfladen gereicht wird. Das gebrochene Brot wird mit einer Zukost aus Früchten, Gemüse, Käse oder / und Fisch etc. separat dazu oder auch mit ihnen gemischt verzehrt (vgl. Lumpe 1966, 613.623; Sigismund 2005, 31 f.). Auch Hunde werden vom Geruch der aufgetischten Speisen angezogen. Aufgrund des sprachlichen Kontextes meint das Diminutiv von »Hund« im Unterschied zum herrenlos herumstreunenden Gassenköter (vgl. Lk 16,21) einen zum Haushalt gehörenden zahmen Haus- und Hofhund (s. Bauer 6 1988, s. v.). Das in der Bibel nur Mk 7,27 f. (par. Mt 15,27 f.) gebrauchte Diminutiv ist in der Gräzität eher selten (so Connolly 1987, 158). Es kann einen kleinwüchsigen oder jungen Hund bezeichnen, der sich aggressiv verhält. Eine Übersetzung mit »Hündlein« ist in einer modernen, hundefreundlichen Gesellschaft unangemessen, weil sie zu verniedlichenden Assoziationen führt. Die Verkleinerungsform unterbindet eine pejorative Interpretation, wie sie besonders in atl.-jüd. Literatur für den vagabundierenden (Aas-) Hund anzutreffen ist (dazu Maiberger 1995, 204; griech. und röm. Belege bei Hünermann 1998, 756 f.). Haushunde waren weit verbreitet: Sie werden als Nutztiere gehalten (vgl. Ps-Phokylides 202), um u. a. für die Abfallbeseitigung zu sorgen (vgl. BQ 80a+b, R. Jischmael, T 3 [Billerbeck I 2 1926, 722]): So stellen Hunde Käfern nach und ernähren sich von Küchenabfällen und Tierkadavern (vgl. Ex 22,30; 1Kön 21,19.23; Ps.-Phokylides 148 f.). Darüber hinaus schätzen Kinder sie als Spielgefährten (vgl. Plin. epist. IV,2,3 f.) und Streicheltiere. Die hell.-röm. Esskultur kennzeichnet jedoch einen Widerspruch: Im Unterschied zu den im Luxus schwelgenden Haushalten, die ihre Schoßhündchen zu überfüttern beliebten (vgl. Petron. 64,6), ist es unüblich, Hunde mit Brot oder anderen Speisen als den für die menschliche Ernährung wichtigen und mit viel Mühe hergestellten Lebensmitteln zu füttern (vgl. JosAs 10,13; Ber 50b Bar. [Billerbeck IV/2 2 1928b, 637]). Diese Einstellung spiegelt nach Aristoteles den Versorgungsgrundsatz antiker Ökonomik wider (gen. an. 2,6 = 744b): »Und im Hauswesen ist die beste Nahrung für die Freien bestimmt, die geringere, die davon abfällt, für die Dienerschaft, während man den Abfall den Haustieren überlässt«.

Mk 7,27 drückt diese haushaltsethische Maxime in positiver und negativer Weise aus: 348

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Das Brot der Hunde Mk 7,27 f.

Hunde gehören zwar zu den auf Versorgung Anspruch habenden Hausgliedern, sie haben jedoch den niedrigsten Status, so dass ihre Ernährung stets nachrangig und zudem nur mit Speiseabfällen zu erfolgen hat. In der Befolgung dieser Norm werden die für den menschlichen Verzehr ungenießbaren Speiseanteile wie Knochen, Schalen, Fischgräten etc. auf den Boden geworfen (vgl. Eurip. Cret fr. 469; Apul. met. 7,14), wo sich Hunde an ihnen gütlich tun. Diese Tischsitte war so geläufig, dass sie zu einer stehenden Redefigur führte (vgl. Quint. inst. 8,3,22; Pes 118a, R. Eleazar b. Azarja, T 2 [Billerbeck I 2 1926, 724]). Auf der anderen Seite ist es beim Mahl nicht zu verhindern, dass Hunde unbeabsichtigt Lebensmittel fressen. Wird mit den Fingern von den bereitstehenden Speisen genommen (vgl. Ov. ars III,755 ff.), so gibt es Speiseteile, darunter Brotkrümel, die auf dem Weg zum Mund aus Unachtsamkeit zu Boden fallen. Diese Ungeschicklichkeit kommt Mk 7,28 zufolge bei Mahlteilnehmern vor, die wie die (kleinen) Kinder bei der Nahrungsaufnahme (nicht) genügend Obacht geben (können). Ein Beobachter hell.-röm. Mahlpraxis wird also einen unvereinbaren Umgang mit Nahrungsmitteln feststellen, insofern bei Tisch fahrlässig der Verteilungsgrundsatz antiker Haushaltsökonomik missachtet wird. Und da die Hunde nicht vom Gemeinschaftsmahl ausgesperrt werden, wird die Ausnahme zur akzeptierten Normalität.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Von der täglich bei Tisch stattfindenden Versorgung von Hunden wurde im übertragenen Sinn negativ (vgl. Ri 1,7; Ps.-Phokylides 156 f.) wie positiv Gebrauch gemacht. Bei Philostratos (Vit. Apol. 1,19) ist ein Mk 7,27 f. formal ähnliches Gespräch überliefert, das durch die Metapher vom »Brot der Hunde« literarische Tagebücher mit dem Titel »Brosamen« als gleichrangig zur mündlichen Lehre des göttlichen Apollonios verteidigt. Beobachtungen zeigen, dass demgegenüber die Bildlichkeit Mk 7,27 f. in einem erwählungstheologischen Kontext steht: 1. Die Erwähnung gerade von Kindern als freien Hausgenossen spielt auf die atl.jüd. Bezeichnung von Israeliten als Söhne und Töchter JHWHs an (vgl. Dtn 14,1; 32,5.19; Dtjes 43,6; 45,11; Hos 2,1; Weish 9,7; PsSal 17,27). Von R. Aqiba (T 1) ist dabei das erwählungstheologische Selbstverständnis überliefert (Av 3,14, vgl. Jdt 9,4): »Geliebt sind die Israeliten, denn sie sind Söhne Gottes genannt worden.« 2. Im urchristlichen Bekenntnis (Röm 10,9; 1Kor 12,3) besitzt der christologische Titel kÐrio@ (kyrios – Herr) über Jesus seine besondere Pointe darin, dass seine Homologie ohne (erwählungstheologischen) Unterschied Juden wie Nichtjuden rettet (Röm 10,12). Angesichts der innovativen Sprache liegt Mk 7,27 f. keine Allegorie (gegen Pesch 5 1989, 388, u. a. m.), sondern, am Kriterium der Wirklichkeitsnähe gemessen, ein Gleichnis im eigentlichen Sinn vor (vgl. Jülicher I 2 1910, 69-92). Die sprachlichen Neuerungen lassen von einer »kühnen« Metaphorik (vgl. Harnisch 4 2001, 125 ff.) sprechen. Ihr argumentatives Ziel ist es nicht, den für die antike Ordnung des Hauswesens konstitutiven Unterschied zwischen frei geborenen Kindern und Haustieren zu relativieren (so Feldmeier 1994, 213), sondern die Einheit des sittlichen Handelns zu betonen, das sich aus den mit Absicht gewünschten und den unabsichtlich zustande kommenden Handlungsresultaten zusammensetzt. Erfolgt letztendlich Heilung, so artikuliert sich ein 349

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Parabeln im Markusevangelium

fürsorgliches Gottesbild: Als Hausvater der Schöpfung lässt Gott in seiner weisen Ökonomik des Menschenhauses auch nachrangig gesetzten Hausgliedern unbeabsichtigt Heilsglück zukommen.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Sowohl der Römerbrief, der in 1,16 das (widersprüchliche) Programm nennt, dass das allein aus Glauben rettende Evangelium den heilsgeschichtlichen Vorrang Israels wahrt, als auch die Apostelgeschichte, die in 3,26 und 13,46 die sich zuerst an Israel wendende urchristliche Missionsstrategie mitteilt, dürften auf den heilsprärogativen Grundsatz von Mk 7,27 rekurrieren. Während Paulus jedoch die Dialektik des Evangeliums entfaltet, dass Gottes zürnende Gerechtigkeit das Vorrechtsdenken Israels als Sünde markiert (vgl. Röm 2,9; 3,9), damit die derzeit von Völkerangehörigen gefundene Glaubensgerechtigkeit letztendlich die Israel bleibend gehörenden Auszeichnungen bestätigt (vgl. 9,4-6), urteilt lk Theologie geschichtlich: Für sie ist die Dokumentation Israels Ablehnung des Evangeliums Grund, die zeitlich begrenzte Israelmission zugunsten derjenigen aller Völker einschließlich Israels aufzugeben (vgl. Apg 13,47 mit 28,23-28). Die mt Redaktion macht Mt 15,21-28 »aus dem fernwirkenden Exorzismus zugunsten einer Heidin … ein Glaubenswunder« (Luz 3 1999, 431, s. V. 28a!). Mk 7,24-30 wird dabei nach dem Muster von 10,46-52 und unter Einarbeitung des Logions Mt 10,6 neu formuliert (s. Luz 3 1999, 430 f.). Indem das für Fernheilungserzählungen traditionelle Erschwernismotiv intensiviert und das Glaubensmotiv eingeführt wird, entsteht eine Parallele zu 8,5-13. Das lk Doppelwerk über die Zeit Jesu (= Lk) und die der urchristlichen Gemeinde (= Apg) muss den mk Jesus-Text übergehen, weil Völkermission erst in »nachösterlicher« Zeit (s. Apg 10 f.) begonnen wurde. Mit dem atl.-abwertenden Ausdruck »Kanaanäerin« (vgl. Gen 24,3; Ex 33,2; Ri 1,1-10) hebt Matthäus hervor, dass die Jesus um Hilfe angehende Frau zu den religiös und sittlich verachteten Heiden gehört. Ihr gegenüber wird Jesus durch die dem Gespräch vorgeschaltete Sendungschristologie (15,24) als exklusiver Wundermessias pro Israel vorgestellt. Die Streichung von Mk 7,27a dürfte auf ein negativeres Hundebild zurückzuführen sein, das Haushunde aufgrund ihrer andersartigen Nahrung nicht mehr zu den auf Versorgung Anspruch habenden Hausgliedern zählt (Mt 15,26 f.). Die Einrede der Kanaanitin stimmt ihrer Ausgrenzung zu und erklärt begründend die Speisung von Hunden bei Tisch zur Ausnahme, die die Regel bestätigt. Durch die Hirtenmetaphorik wird der nachfolgende Dialog zu einer Allegorie (vgl. Klauck 2 1986, 275-277, u. a. m.), die mit den konventionalisierten Metaphern »Kinder« für Israeliten (vgl. LXX: Hos 11,1; Jes 27,6; Jub 1,24; Apg 10,36) sowie »Brot« für (Lebens-)Heil (vgl. JosAs 8,5.11; 15,4; Joh 6,35) und dem insinuierten Bild des Diminutivs »Hunde« für Heiden (vgl. »[Paria-]Hund« AZ 54b, R. Gamaliel II., T 2; Tan emftv 100a, R. Aqiba, T 2 = Billerbeck I 2 1926, 725 f.) arbeitet. Ihre Decodierung geht dahin, dass der inständig bittende Glaube (vgl. Mt 8,10.13; 9,22.29; 15,22a.25b) ein Wissen um Gottes grenzüberschreitende Macht enthält (vgl. 7,11), so dass der pro Israel eingestellte Partikularismus von Jesus in einen pro Völker eingestellten Universalismus verwandelt und Heil als unverdiente Gnade definiert wird. 350

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Das Brot der Hunde Mk 7,27 f.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) 1. Eine biographische Deutung, insofern Mk 7,27 f. die Reflexion einer Enttäuschung des historischen Jesus an seinen Volksgenossen sei (vgl. Jülicher II 19102 , 259), wird kaum noch vertreten. Versucht werden historisierende Auslegungen, die von einer tatsächlichen Jesus-Reise in nichtjüdisches Gebiet ausgehen (vgl. Theißen 2 1992, 83) bzw. einen Zusammenhang mit Jesu Gottesherrschaftsverkündigung herstellen (vgl. Feldmeier 1994, 222 f.). 2. Die paradigmatische Auslegung, die im Verhalten der Frau ein Beispiel für den auch gegen Widerstände am Zutrauen zu Jesus festhaltenden Glauben sieht (herausragend M. Luther 1525, 200, vgl. Roloff 1970, 159-161), interpretiert nicht Mk 7,2430, sondern die mt Version (s. Mt 15,28). 3. Die von feministischen Fragestellungen geleitete Exegese, die eine Aufwertung der Frau vornimmt, insofern Jesus von ihr gelernt habe, sein enges Gottesbild zu korrigieren (vgl. Ringe 1989, 83), übersieht, dass Mk 8,27-30 die zentrale christologische Perikope des Markusevangeliums ist. 4. Die heilsuniversalistische Auslegung des wunderhaften Streitgesprächs ist die heute übliche (vgl. Pesch 5 1989, 390, u. a. m.). Sie bestimmt als »Sitz im Leben« die urchristliche Debatte, ob Nichtjuden am Heil Israels beteiligt werden können (vgl. Gal 2,25). Die vormk Normenwundergeschichte zählt zu den frühen Versuchen, den auf Israel konzentrierten urchristlichen Heilspartikularismus »durch einen den Rang Israels nicht bestreitenden, aber im Blick auf Gottes freie Gnade und Barmherzigkeit … relativierenden Heilsuniversalismus« (Pesch a. a. O., 390) zu verändern. Das narrative Modell einer Fernheilung durch Jesu besitzt den Vorzug, die Völker und Israel trennende (Reinheits-) Tora unübertreten bestehen zu lassen, um mit der metaphorischen Haushaltsethik vereinzeltes Völkerheil als inkludierendes Gotteshandeln zu garantieren. Bleibt der religiöse Status der geheilten Nichtjüdin unreflektiert, wird urchristlich das atl. Konzept von JHWH-Verehrern außerhalb Israels (vgl. 2Kön 5,15; 8,8; Jon 1,16) aktualisiert.

Ulrich Mell Literatur zum Weiterlesen J. N. Aletti, Analyse narrative de Mc 7,24-30: difficultés et propositions, Bib. 93 (2012), 357-376. P. Alonso, The Women Who Changed Jesus. Crossing Boundaries in Mk 7,24-30, Biblical Tools and Studies 11, Leuven 2011. D. Becker, »Die Kinder, die Hunde und das Brot – Jesus im interreligiösen Streitgespräch«: Markus 7,24-30; biblische Perspektiven, Interkulturelle Theologie 39 (2013), 168-174. R. Liu, A Dog under the Table at the Messianic Banquet. A Study of Mark 7:24-30, Andrews University Seminary Studies 48 (2010), 251-255. J. C. H. Smith, The Construction of Identity in Mark 7:24-30: The Syrophoenician Woman and the Problem of Ethnicity, Bibl.Interpr. 20 (2012), 458-448. C. Usarski, Jesus und die Kanaanäerin (Matthäus 15,21-28). Eine predigtgeschichtliche Recherche, PThe 69, Stuttgart 2005.

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Spiralen der Gewalt (Die bösen Winzer) Mk 12,1-12 (Mt 21,33-46 / Lk 20,9-19 / EvThom 65) Über die Jahrhunderte wurden die bösen Winzer zum Bild für die mörderische Haltung der Juden, die Gottes Propheten missachten und schließlich Gottes Sohn umbringen. Diese anti-jüdische Deutung schwingt in den Ohren vieler LeserInnen bis heute mit. Die Parabel stellt uns daher eindringlich vor die Frage, wie mit ihrer unheilvollen Wirkungsgeschichte umgegangen werden kann. Diese Frage hat die folgenden Interpretationsschritte mitbestimmt. (1) Und er begann, zu ihnen in Parabeln zu reden. »Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und umzäunte ihn und grub einen Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Bauersleute und ging ins Ausland. (2) Und als die Zeit kam, schickte er einen Sklaven zu den Bauersleuten, damit er von ihnen seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs erhalte. (3) Und sie packten ihn und schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen davon. (4) Und wieder schickte er einen anderen Sklaven zu ihnen; den schlugen sie auf den Kopf und beschimpften ihn. (5) Und er schickte einen anderen, den töteten sie, und viele andere, die einen schlugen sie, die anderen töteten sie. (6) Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn. Den schickte er zuletzt zu ihnen, denn er sagte sich: ›Meinen Sohn werden sie achten.‹ (7) Jene Bauersleute aber sagten sich: ›Das ist der Erbe. Kommt, wir wollen ihn töten, dann gehört das Erbe uns.‹ (8) Und sie packten und töteten ihn und warfen ihn aus dem Weinberg hinaus. (9) Was wird der Besitzer des Weinbergs nun tun? Er wird kommen und die Bauersleute umbringen und den Weinberg anderen geben. (10) Habt ihr nicht die Schrift gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden; (11) durch Gott her geschah dies. Es ist ein Wunder in unseren Augen.« (12) Da versuchten sie ihn festzunehmen und hatten Angst vor dem Volk. Denn sie begriffen, dass er das Gleichnis gegen sie gesprochen hatte. Da ließen sie ihn in Ruhe und gingen davon.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Mit dieser Parabel mag es manchen LeserInnen ähnlich ergehen wie beim Lösen eines Rätsels. Ziemlich bald wollen wir wissen, um was es hier denn eigentlich geht. Wer zum Beispiel ist gemeint mit dem Weinbergbesitzer? Ist er ein Bild für Gott? Und falls sich diese Vermutung bestätigt, wer sind die Bauersleute? Wer sind die Sklaven? Wer ist mit dem Sohn gemeint? Mit jeder dieser Fragen katapultieren wir uns aus der Geschichte heraus und versuchen, den Sinn der Parabel woanders zu finden – wie zum Beispiel in der problematischen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Die moderne Gleichnishermeneutik hat diesem Phänomen einen Namen gegeben 352

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Spiralen der Gewalt Mk 12,1-12

und sich an ihm abgearbeitet. Die allegorisierende Deutung der Parabel ist nach Auffassung vieler ExegetInnen kein ursprünglicher Teil der Jesusüberlieferung, sondern entspricht einer Jahrhunderte alten christlichen Deutungspraxis (Jeremias 11 1998, 68 ff.). Dass sich diese Praxis im Fall der bösen Winzer bis heute aufzudrängen scheint, liegt vielleicht an der extremen Brutalität der Erzählung. Die Parabel ist eine Horrorgeschichte (L. Schottroff 2005, 17) und nicht wenige LeserInnen mögen den Drang verspüren, das Blutbad schnell wieder zu verlassen und zur »eigentlichen Botschaft« des Textes überzugehen. Doch was passiert, wenn wir uns tatsächlich einmal auf die erzählte Welt einlassen? Die Parabel handelt von drei verschiedenen Personen bzw. Personengruppen, die im Laufe der Erzählung immer stärker in Konflikt miteinander geraten. Akteure sind der Besitzer des Weinbergs und die Gruppe der WinzerInnen. Passiv verhält sich die Gruppe der Sklaven, zu der aus dramaturgischer Sicht auch der Sohn des Besitzers gezählt werden muss. Die Personenkonstellation ist geprägt von der zunehmend aggressiven Weise, in der die einzelnen Figuren miteinander interagieren. Allerdings kommt die Erzählung zunächst nur langsam in Schwung. Sie wird eröffnet durch eine detaillierte Beschreibung des im Entstehen begriffenen Weinbergs. Ein Weinberg muss nicht nur angepflanzt werden, es braucht eine Umzäunung, einen Kelter und einen Turm. Bevor es zur ersten Interaktion kommt, entsteht ein Eindruck aus der Welt der Landwirtschaft. Doch dann geht es noch im selben Satz zügig weiter: Der Weinberg wird an Bauersleute verpachtet und der Besitzer geht ins Ausland. Mit dem Umzug des Gutsherrn entsteht eine räumliche Dimension, die den Handlungsverlauf entscheidend mitbestimmt. Denn von nun an spielen sich die Interaktionen vor dem Hintergrund zweier Orte ab, dem Weinberg selbst und der Residenz des Weinbergbesitzers im Ausland. Dazwischen liegt eine Distanz, die von den Figuren überbrückt werden muss. Ort der Auseinandersetzung ist jedesmal der Weinberg. Die Residenz des Besitzers bleibt von den Konflikten unberüht. Neben diesen Raumangaben gibt es eine einzige vage Zeitangabe, nämlich der Moment, an dem der Gutsbesitzer seinen ersten Sklaven schickt, um seine Pacht einzufordern. Damit wird die erste spannungsreiche Frage in die Erzählung eingeführt: Werden sich die Bauersleute an die Pachtvereinbarung halten oder nicht? Beantwortet wird diese Frage auf schockierende Weise. Die WinzerInnen brechen nicht nur die Vereinbarung über die Pacht. Sie brechen die Grundlagen menschlicher Beziehungen. Der Sklave des Gutsherrn, der die Früchte einsammeln soll, wird nicht nur mit leeren Händen abgewiesen, sondern auch misshandelt. Misshandelt wird nicht nur dieser erste Sklave, sondern auch ein zweiter und dritter. Dabei steigert sich das Maß an Gewalt und kulminiert in der Ermordung des dritten Sklaven. LeserInnen, die das erzählerische Gesetz der dreimaligen Wiederholung gewohnt sind, mögen bereits denken, dass es nun mit der Gewalt-Serie ein Ende hat, doch da wird sie auf unbestimmte Weise verlängert: Vielen anderen Sklaven, so wird berichtet, erging es ebenso. Entweder wurden sie geschlagen oder getötet. Je länger die Gewalt andauert, desto deutlicher drängt sich die Frage auf, was wohl in den Köpfen der Akteure vor sich geht. Was denkt sich der Gutsbesitzer, wenn er einen Sklaven nach dem anderen einer offensichtlich gefährlichen Situation aussetzt? Wann kommt er endlich auf die Idee, seine Strategie zu ändern? Und was denken sich die Bauersleute, wenn sie sich der Pachtvereinbarung mit systematischer Gewalt zu entziehen versuchen? Wie stellen sie sich vor, soll das Ganze ausgehen? 353

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Parabeln im Markusevangelium

Die Spannung, die sich bis zu diesem Punkt der Erzählung aufgebaut hat, steht im Gegensatz zur Schlichtheit und Monotonie der Satzstruktur. Sowohl der Bau des Weinbergs als auch die Gewalthandlungen werden durch eine gleichförmige Syntax erzählt, in der Verben und die Konjunktion kaffl (kai – und) dominieren. Mit Vers 6 wird dieses Muster aufgebrochen. Anders als es bei den meisten der vorherigen Verse der Fall ist, wird dieser Vers nicht mit kaffl eröffnet, sondern mit ˛ti eti (»noch einen hatte er …«). Diese Änderung im Satzbau ist ein Signal für die LeserInnen, dass die Erzählung an dieser Stelle eine wichtige Wendung nimmt. Und tatsächlich: Der weitere Verlauf gibt einen Einblick in die Beweggründe der Figuren, die bislang im Dunkeln lagen. In direkter Rede wird eine Überlegung des Gutsherrn wiedergegeben, der hofft, dass seinem Sohn mehr Respekt entgegengebracht werde. Ebenfalls in direkter Rede wird die Reaktion der WinzerInnen erzählt. Dabei wird deutlich, was diese Leute bewegt, nämlich die Hoffnung, selbst in den Besitz des Weinbergs zu gelangen. Mit der wohlüberlegten Ermordung des Sohnes hat die Erzählung ihren nächsten Krisenpunkt erreicht. Dabei wird wiederum eine spannungsreiche Frage eingeführt, die mehrere Möglichkeiten eröffnet. Werden die Bauersleute den Weinberg jetzt in Besitz nehmen können? Oder wird der Gutsherr noch einmal in Aktion treten? »Was wird der Besitzer des Weinbergs nun tun?« (V. 9a) Die Spannung wird aufgelöst durch die Handlung des Weinbergbesitzers, die im Futur erzählt wird. Er wird kommen und die Bauersleute umbringen. Hier, am Ende der Erzählung, ist es der Weinbergbesitzer selbst, der die Distanz von seiner Residenz zum Weinberg zurücklegen muss. Es ist das erste Mal seit der Verpachtung des Weinbergs, dass er in persönlichen Kontakt mit den Bauersleuten tritt, dies jedoch nur, um dem Kontakt ein für allemal ein Ende zu bereiten. Der eigentliche Abschluss der Erzählung liegt in einem weiteren Erzählelement, das ebenfalls dazu beizutragen scheint, die zuvor erzeugte Spannung zu lösen. Zur Eigenartigkeit der Parabel gehört das Schriftzitat aus Psalm 118. Spätestens hier werden LeserInnen daran erinnert, dass die Parabel einen Erzähler hat, nämlich Jesus. Jesus verweist auf die Schrift, als läge der Zusammenhang mit seiner Erzählung offen auf der Hand. Doch ist dies wirklich der Fall? Was hat der verworfene Stein, der zum Eckstein wurde, mit den Ereignissen im Weinberg zu tun? Mit diesem Vers endet das Jesus-Zitat. In Vers 12 ergreift die Stimme des Erzählers des Markusevangeliums wieder das Wort und nimmt den Faden auf, der mit der Einleitung in Vers 1 geknüpft wurde. LeserInnen werden daran erinnert, dass sie gerade einen bestimmten Sprechakt mitverfolgt haben. Jesus hat in einer konkreten Situation vor einem bestimmten Publikum ein Gleichnis erzählt und damit Reaktionen hervorgerufen. Bevor diese näher in den Blick kommen, möchte ich noch einen Moment in der erzählten Welt der Parabel verweilen. Die bisherige Analyse hatte den Zweck, die erzählte Welt ernst zu nehmen und wirken zu lassen. Doch wie gelangen wir aus ihr hinaus? Auf was werden LeserInnen verwiesen, die die Erzählung nicht als Allegorie behandeln wollen, die Zug um Zug entschlüsselt werden muss? Nach Paul Ricœur handelt es sich bei den Parabeln Jesu um metaphorische Erzälungen, die in der Lage sind, uns eine neue Sicht der Dinge zu eröffnen (Ricœur 1975). Die größte Herausforderung für die Interpretation liegt darin, die metaphorische Spannung zu erkennen, durch die LeserInnen dazu angeregt werden, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Wir müssen den Blick schärfen für die ungewöhnlichen Züge, die den alltäglichen Rahmen der Erzählung sprengen, für das, was Ricœur das Element der Extra354

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Spiralen der Gewalt Mk 12,1-12

vaganz nennt. Nun ist es den ExegetInnen noch nie schwer gefallen, Ungewöhnliches an der Parabel von den bösen Winzern zu entdecken. Ricœur selber schreibt: »Consider the extravagance of the landlord in the ›Parable of the Wicked Husbandmen,‹ who after having sent his servants, sends his son. What Palestinian property owner would be foolish enough to act like this landlord?« (Ricœur 1975, 115) Der Einbruch des Ungewöhnlichen beginnt m. E. jedoch früher, und zwar bereits dort, wo sich die WinzerInnen entschließen, die Sklaven des Gutsherrn nicht nur abzuweisen und zu beschimpfen, sondern zu schlagen und gar zu töten. Ob diese Handlungen aus der Lebenswirklichkeit damaliger Menschen her verständlich werden, ist im nächsten Abschnitt zu diskutieren. Doch egal wie realitätsnah die Welle der Gewalt auch sein mag, wirkt sie auf viele heutige LeserInnen extrem. Surreal wird sie dort, wo aus den drei einzelnen Vorfällen der Brutalität eine ganze Serie der Gewalt wird. In den Kommentaren wird Vers 5b regelmäßig als Beweis zitiert, dass die Parabel nachträglich allegorisierend überarbeitet wurde (Jeremias 11 1998, 69). Demnach wurde dieser Versteil in der Annahme eingefügt, dass die vielen Sklaven in der Erzählung auf Gottes Propheten verweisen wollen. Falls wir die Parabel jedoch in der Fassung ernst nehmen wollen, in der sie uns im Markusevangelium überliefert wurde, so ist Vers 5b und seine Wirkung als Teil des metaphorischen Prozesses mit zu bedenken. Das Blutbad, das hier beschrieben wird, sprengt die Vorstellungskraft der meisten LeserInnen. Am Ende steht eine Szene der Zerstörung: die Sklaven tot, der Sohn tot und die Bauersleute ebenfalls ermordet – ein krasser Gegensatz zur Eröffnungsszene, in der ein Mensch einen Weinberg baut und ihn verpachtet. Diese Spannung gilt es zu verarbeiten. Liest man die Parabel in ihrem literarischen Kontext, stößt man bereits auf konkrete Deutungsangebote. Nach dem Markusevangelium erzählt Jesus die Parabel von den bösen Winzern während seines öffentlichen Auftretens in Jerusalem, also kurz vor seiner Verhaftung und Hinrichtung. Unterschiedliche Leute sind interessiert daran, herauszufinden, wer Jesus ist und was er vertritt. Von verschiedenen exponierten Gruppen wird er in Gespräche verwickelt, in denen er sozusagen abgecheckt wird: Aus welcher Vollmacht handelt er? Wie steht er zur Steuer? Wie steht er zur Frage der Auferstehung? Welches ist seiner Meinung nach das höchste Gebot? Nicht alle dieser Diskussionen sind polemischer Natur. Jesus trifft auf Kritik und Misstrauen, aber auch auf Menschen, die ihm zustimmen und beeindruckt sind (Mk 11,18; 12,28-34). Die Stimmung um Jesus herum ist zwar angespannt, aber nicht durchweg feindselig. In diese Atmosphäre hinein erzählt Jesus die Parabel von den bösen Winzern. Im Kontext des Markusevangeliums ist die Parabel ein wichtiger Teil von Jesu Selbstdarstellung. Ähnlich wie die so genannte Tempelreinigung prägt die Parabel das Bild, das andere von ihm in Jerusalem gewinnen. Verdichtet kommt dies in den Reaktionen der unmittelbaren Zuhörer zum Ausdruck, von denen in Vers 12 berichtet wird. Jesus erzählt seine Parabel zu denselben Hohepriestern, Toragelehrten und Ältesten, die ihn kurz zuvor nach seiner Vollmacht gefragt hatten. Ihre Reaktion auf die Parabel sind heftig. Sie verstehen, dass die Parabel auf sie gemünzt ist, und dies scheint sie so zu verstören, dass sie Jesus am liebsten festnehmen würden. Was sie abhält, ist die Furcht vor dem Volk, das Jesus zu diesem Zeitpunkt positiv zugewandt ist (Mk 12,37). Für LeserInnen entsteht durch diesen abschließenden Vers eine Leerstelle, die bearbeitet werden muss. Es ist nämlich nicht deutlich, aus welchem Grund sich Jesu Zuhörer über die Parabel derart aufregen. Warum genau fühlen sie sich kritisiert? Welchen Nerv hat der markinische Jesus mit seiner Erzählung von den bösen Winzern getroffen? 355

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Parabeln im Markusevangelium

Wer die Parabel im Kontext des Markusevangeliums aufmerksam liest, wird in eine bestimmte Richtung der Interpretation gelenkt. Im Parabeltext stößt man nämlich auf Worte, deren Bedeutung durch den literarischen Kontext bereits so zugespitzt sind, dass sie uns dazu drängen, den Sohn des Großgrundbesitzers mit Jesus selbst zu identifizieren und damit die gesamte Parabel als Selbstdarstellung im engen Sinne zu verstehen. Jesus – so kann man schließen – redet hier über sich selber. Diese Deutung wird LeserInnen vor allem durch die Wortkombination u@ ⁄gapht@ (hyios agape¯tos – geliebter Sohn) zugeschoben. Dieser Wortkombination sind LeserInnen bereits an zwei entscheidenden Stellen des Markusevangeliums begegnet. Im ersten Kapitel wird die Identität Jesu durch eine Stimme aus dem Himmel offenbart: »Du bist mein geliebter Sohn«. Mit fast denselben Worten wird in der so genannten Verklärungsszene im 9. Kapitel Jesu Identität noch einmal bestätigt. Wieder tönt eine Stimme aus dem Himmel: »Dies ist mein geliebter Sohn«. Die Beschreibung des Sohnes des Großgrundbesitzers als u@ ⁄gapht@ (hyios agape¯tos) drei Kapitel später erinnert an diese beiden Szenen. Könnte Jesus hier die Stimme aus dem Himmel zitieren und auf sich selbst aufmerksam machen wollen? Dieser Identifikation schließt sich fast automatisch ein ganzer Deutungsapparat an. Wenn Jesus mit dem Sohn auf sich selbst verweist, dann bekommen auch andere Elemente der Erzählung eine ganz bestimmte Bedeutung. Der Großgrundbesitzer wird zum Bild für Gott. Die bösen Winzer werden zum Bild für die Elite des jüdischen Volkes, die den Gottessohn ans Kreuz zu schlagen trachten. Diese Deutung hat über die Jahrhunderte hinweg Hass gegen Jüdinnen und Juden geschürt. Somit stellt sich am Ende der sprachlichen Analyse die Frage, ob allein dieses Deutungsangebot vorliegt oder andere Deutungen möglich bleiben.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Auf eine völlig andere Spur der Interpretation setzt uns die sozialgeschichtliche Analyse. Die Parabel von den bösen Winzern gab immer wieder Anlass, nach der Realitätsnähe der Erzählung zu fragen. Sind die Ereignisse, von denen berichtet wird, vorstellbar im Palästina des 1. Jahrhunderts? Ausgelöst wurde diese Diskussion bereits vor über 100 Jahren durch Adolf Jülicher, der den Handlungsablauf vehement als »irrationell« (Jülicher I 2 1910, 116) bezeichnete und die gesamte Parabel aus diesem Grund als Allegorie abqualifizierte. Diese Einschätzung wurde bald widerlegt. In seinem Standardwerk über die Gleichnisse Jesu schreibt Joachim Jeremias: »Das Gleichnis schildert … die revolutionäre Stimmung der galiläischen Bauern gegen die landfremden Großgrundbesitzer … Wir müssen uns klar machen, dass nicht nur der ganze obere Jordangraben und wahrscheinlich auch das Nord- und Nordwestufer des Sees Genezareth, sondern auch große Teile des galiläischen Berglandes damals Latifundiencharakter trugen und dass diese galiläischen Latifundien zum großen Teil in der Hand von landfremden Besitzern waren« (Jeremias 11 1998, 72-73). Diese Sätze haben die Diskussion stark beeinflusst. Was InterpretInnen bis heute beschäftigt, sind die Einzelheiten dieses sozialgeschichtlichen Arguments. Kann die Lebenswirklichkeit sowohl von Großgrundbesitzern als auch von Bauersleuten der damaligen Zeit noch schärfer in den Blick genommen werden? Bekommen die »irrationell« anmutenden Züge der Parabel vor dem Hintergrund der sozialen Verhältnisse einen 356

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Sinn? Helfen sie uns, die Motivationen der handelnden Personen besser zu verstehen? Die notwendige Quellenarbeit wurde u. a. von Martin Hengel (1968), Willy Schottroff (1999) und John S. Kloppenborg (2006) geleistet. Die folgende Zusammenfassung stützt sich auf diese Beiträge. Zu den wichtigen Zeugnissen für die Pachtverhältnisse in der Antike gehört die so genannte Zenonkorrespondenz aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. Zenon (Zen.) arbeitete für einen staatsmännischen Großgrundbesitzer in ptolemäischer Zeit, der Briefe über den Zustand der Grundstücke archivierte. In einem der Briefe kommt ein Konflikt zwischen dem Verwalter eines großen Landguts in Galiläa und seinen Pächtern zur Sprache. Die Pächter beschweren sich darüber, dass ihnen zu hohe Abgaben auferlegt wurden und plädieren für eine Senkung der Pacht (W. Schottroff 1999, 178-179). Pachtverhältnisse waren offenbar bereits in dieser Zeit konfliktträchtig. Aufschlussreich ist außerdem das Lehrbuch Columellas (Colum.) über die Landwirtschaft. Columella, römischer Schriftsteller im 1. Jahrhundert n. Chr, empfiehlt Großgrundbesitzern, die möglichst große Gewinne erzielen wollen, im Falle ihrer Abwesenheit ihren Besitz zu verpachten, anstatt ihn von Sklaven verwalten zu lassen. An einer anderen Stelle weist Columella auf die Gefahr hin, dass Grundstücke, deren Besitzer weit entfernt leben, von den Leuten vor Ort unrechtmäßig in Besitz genommen werden könnten (W. Schottroff 1999, 192). Aus den Briefen eines weiteren römischen Schriftstellers, Plinius dem Jüngeren (Plin. epist.), der wenige Jahrzehnte später schrieb, geht hervor, dass Pachtbauern immer wieder mit ihren Abgaben in Rückstand kamen. Manchen von ihnen erschien die eigene Lage so aussichtslos, dass sie sich gar nicht mehr bemühten, den Rückstand aufzuholen und stattdessen die Ernte selbst verbrauchten. Die Zahlungsunfähigkeit von PächterInnen scheint ein strukturelles soziales Problem gewesen zu sein, für das es keine einfachen Lösungen gab (W. Schottroff 1999, 190). Dass das Problem über mehrere Jahrhunderte anhielt, zeigen die vielen verschiedenen Konfliktfälle zwischen Grundbesitzern und Pächtern, wie sie in der rabbinischen Literatur belegt sind. Ein rabbinisches Gleichnis über einen Besitzer, der seinen Pächtern Teile der Ernte großzügig überließ, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt (Hengel 1968, 24 f.). Vor dem Hintergrund der Quellen kann die Parabel von den bösen Winzern folgendermaßen kommentiert werden. Der Mensch, der in Vers 12,1 einen Weinberg pflanzt, gehört zu einer kleinen, privilegierten Gruppe von Großgrundbesitzern, die es bevorzugen, nicht auf ihren Besitztümern, sondern weit entfernt im gesellschaftlichen Klima einer größeren Stadt zu leben. Schon allein die Tatsache, dass der Gutsherr die Mittel zu einem solchen Lebensstil hat, ist ein Hinweis auf seinen Reichtum. Es ist anzunehmen, dass er den Wein nicht mit eigenen Händen anbaut, sondern SklavInnen dafür einsetzt (W. Schottroff 1999, 169). Für ihn ist es lukrativer, einen fertig gebauten Weinberg zu verpachten als ihn von den Pächtern selbst bauen zu lassen. Ein weiteres Zeichen für sein Profitinteresse ist die Tatsache, dass er sich für den Anbau von Wein entschließt, denn der Weinbau war schon damals die »kapitalintensivste, arbeitsintensivste und ertragsintensivste Art der Landwirtschaft.« (Hengel 1968, 16 f.) Wie andere Männer in seiner Situation muss er sich Gedanken darüber machen, wie sein Weinberg trotz seiner Abwesenheit möglichst große Gewinne abwerfen kann. Er 357

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entscheidet sich für die Verpachtung als profitabelste Möglichkeit. Vier oder fünf Jahre später jedoch, zur Zeit der ersten Traubenernte, stößt er auf erhebliche Schwierigkeiten, die symptomatisch sind für den sozialen Brennpunkt der Bodenpacht. In dem Moment, in dem die Pächter sich gewaltsam weigern, die Pacht abzugeben, sieht er sich mit der reellen Gefahr konfrontiert, dass der Weinberg von ihnen usurpiert werden könnte. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als weitere Sklaven zu schicken, denn er kann sich nicht auf die rechtlichen Strukturen vor Ort verlassen (Hengel 1968, 25 f.). Seine Entscheidung, den eigenen Sohn ins entfernte Gut zu schicken, ist nicht so absonderlich, wie es modernen LeserInnen erscheinen mag. Als rechtsfähiger Vertreter stellt der Sohn in dieser Situation die einzige Möglichkeit dar, die Abgaben einzufordern (Hengel 1968, 30). Wie der Weinbergbesitzer so gewinnen auch die Bauersleute aus sozialgeschichtlicher Sicht Konturen. Zunächst ist die androzentrische Perspektive zu korrigieren, die unser Bild von der Parabel traditionellerweise bestimmt. Auch Frauen leisteten Feldarbeit und konnten Pachtvereinbarungen eingehen (W. Schottroff 1999, 170 f.). Bei den »bösen Winzern« muss es sich keineswegs um eine reine Männergruppe handeln. Was diese Menschen gemeinsam haben, sind die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, in denen sie sich wiederfinden. Als landlose Bauern stehen ihnen nur wenige Möglichkeiten offen, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Boden zu pachten und zu bearbeiten war eine Alternative zu zwei anderen möglichen Lebensformen: Sklaverei oder Lohnarbeit. Sie entscheiden sich für die Pacht, denn als Pächterinnen und Pächter können sie relativ eigenständig Landwirtschaft betreiben (W. Schottroff 1999, 175 f.). Dieses Arrangement ist jedoch von vorneherein konfliktträchtig. In den Augen der pachtenden Bauersleute ist es möglicherweise bereits eine Provokation, Wein anbauen zu müssen, denn Wein ist ein Luxusgut. Auf demselben Land wurden vermutlich in früheren Zeiten Früchte geerntet, die zum Überleben von Familien beitrugen. Wenige Jahre später sollen sie die vereinbarten Abgaben leisten. Dabei kommen sie nicht mit dem Besitzer persönlich in Kontakt, sondern mit seinem Sklaven. Sie weisen ihn auf brutale Weise ab, und zwar nicht deswegen, weil sie die Abgaben nicht leisten wollen, sondern weil sie sie nicht leisten können (W. Schottroff 1999, 189 f.). Das kann daran liegen, dass die Pacht von Anfang an zu hoch war, oder dass es Schwierigkeiten bei der Ernte gab. Die sich steigernde Brutalität, mit der sie die Sklaven und schließlich den Sohn des Gutsherrn behandeln, ist Ausdruck ihrer aussichtslosen wirtschaftlichen Lage. Die sozialgeschichtliche Frage nach der Lebenswirklichkeit damaliger Menschen hat in mehrfacher Hinsicht ethische Dimensionen. Zum einen hat sich gezeigt, dass sich die anti-jüdische Lesart der Parabel oft dort durchgesetzt hat, wo »das soziale Geschehen nicht ernst« genommen wurde (L. Schottroff 2005, 30). Es ist bezeichnend, dass Jülicher, der die Realitätsnähe der Parabel verkennt, die Parabel als heilsgeschichtliche Allegorie einstufen muss, um überhaupt etwas mit der Erzählung anfangen zu können. Sobald die Parabel mit ihren zeitgeschichtlichen Echos lebendig wird, gibt es jedoch keinen Grund mehr, den Sinn einzelner Elemente zu entschlüsseln. Diese gewinnen aus sich selbst heraus Plausibilität. Ethische Konsequenzen hat die sozialgeschichtliche Arbeit noch in einem anderen Sinn. Wer den historischen Rekonstruktionen folgt, vollzieht möglicherweise einen bemerkenswerten Perspektivenwechsel. Üblicherweise liegen die Sympathien der LeserInnen beim Weinbergbesitzer, seinen Sklaven und seinem Sohn, denen so viel Gewalt zu358

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gefügt wird. Diese gängige Lesart bezeugt allein schon der traditionelle Titel der Parabel: Die bösen Winzer. Doch wer ist hier eigentlich »böse«? Die Boshaftigkeit der WinzerInnen hat ihre Ursache in ungerechten sozialen Verhältnissen. Sie handeln böse, weil sie verzweifelt sind. Gleichzeitig kommt der Weinbergbesitzer in ein moralisch fragwürdiges Licht. Auch er ist Täter und Nutznießer eines gesellschaftlichen Systems, das Menschen an den Rande der Existenz bringt. Für Luise Schottroff ist die historische Arbeit an der Parabel »ein Akt der Solidarität mit Menschen auch über Jahrhunderte hinweg« (2005, 42). Sie ruft vergangenes Unrecht in Erinnerung und fordert uns auf, die gewalttätigen Ereignisse im Weinberg mit neuen Augen zu sehen.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Es gibt in der Parabel von den bösen Winzern einen Aspekt, der sich nicht ohne weiteres in die damalige Lebenswirklichkeit einordnen lässt, und das ist der Racheakt des Großgrundbesitzers gegen die PächterInnen am Ende der Erzählung. Nach Einschätzung von J. S. Kloppenborg sprengt der eigenmächtige Vergeltungsschlag des Besitzers den realistischen Rahmen der Erzählung, denn es gab zu dieser Zeit rechtliche Instanzen, die eine solche Art der Selbstjustiz zumindest nicht ungestraft hingenommen hätten (Kloppenborg 2006, 335 ff.). In der Parabel dagegen scheint der Racheakt jeden Konflikt ein für allemal zu beseitigen. Schlägt sich hier am Ende der Erzählung nun doch die unterschwellige Verknüpfung zwischen dem Weinbergbesitzer und Gott durch? Muss die Bildebene an diesem Punkt nun endgültig verlassen werden? Was für einen Großgrundbesitzer im Palästina des 1. Jahrhunderts unwahrscheinlich anmutet, macht möglicherweise Sinn im Hinblick auf Gott, der bekanntlich den Ungerechten den Garaus macht. Mit dieser Vermutung schlägt Kloppenborg in die Kerbe einer langen Argumentation, nach der die markinische Parabel letztlich als eine Allegorie für das Handeln Gottes verstanden werden muss. Diese Deutung ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Weinberge und ihre Besitzer in der jüdischen Tradition immer wieder als Bild für die Beziehung zwischen Gott und Israel auftauchen. Wichtigster Beleg für diese Bildfeldtradition ist das so genannte Weinberglied in Jesaja 5,1-7. In diesem Lied pflanzt jemand einen Weinberg, hegt und pflegt ihn, hofft auf gute Trauben und wird bitter enttäuscht. Der Weinberg produziert nur saure Beeren und wird daraufhin von seinem Besitzer der Zerstörung preisgegeben. Anders als in der markinischen Parabel sind im Weinberglied die allegorischen Verknüpfungen explizit (V. 7). Der Weinberg ist Israel. Der Besitzer ist Gott. Es gibt allerdings eine Reihe von Indizien, die darauf schließen lassen, dass das Weinberglied als eine Art Folie für die Parabel von den bösen Winzern diente. So wird in beiden Texten der Anbau des Weinbergs im Detail beschrieben (Jes 5,2), teilweise mit denselben Begriffen (Weren 1998, 7-11). In beiden Texten gibt es zudem einen drastischen Stimmungsumschwung (Milavec 1989, 91 f.). Auf die Erwartung der Ernte folgt Enttäuschung. Auf Enttäuschung folgt Zerstörung. In beiden Texten werden LeserInnen aufgefordert, diesen Stimmungsumschwung aktiv mitzuvollziehen. »Was wird der Besitzer des Weinbergs nun tun?«, heißt es bei Markus. Und bei Jesaja: »Aber nun will ich euch wissen lassen, was ich meinem Weinberg antun will.« (Jes 5,5) Die deutlichen Resonanzen zwischen den beiden Texten weisen darauf hin, dass die impliziten LeserInnen der Parabel an das Weinberglied erinnert werden sollen. 359

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Doch was genau will die Erinnerung an das Bild vom Weinberg bewirken? Bilder sind nicht statisch. Sie werden im Laufe der Geschichte umgedeutet und neu akzentuiert. Sie können je nach rhetorischer Situation zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. Anhand rabbinischer Gleichnisse hat David Stern beispielsweise gezeigt, wie vielfältig die Botschaften sein können, die durch Bilder vom Weinberg transportiert werden (Stern 1989, 59-63). Es lohnt sich daher, genau hinzuschauen und neben den Parallelen auch die Dissonanzen zwischen dem Weinberglied und der markinischen Parabel in den Blick zu nehmen. Dabei fällt auf, wie unterschiedlich das Verhältnis zwischen dem Weinberg und seinem Besitzer beschrieben wird. Das Weinberglied beginnt als Liebeslied und diese emotionale Färbung schlägt sich auch auf die Figur des Besitzers nieder. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt folgendermaßen: »Singen will ich von meinem Schatz, das Lied meines Lieblings über seinen Weinberg. Einen Weinberg hatte mein Schatz auf einer fruchtbaren Anhöhe. (2) Mein Schatz grub ihn um, entfernte seine Steine und bepflanzte ihn mit edlen Reben, baute einen Turm mitten hinein, hob eine Keltergrube aus und hoffte darauf, dass er gute Trauben trüge, aber er trug saure Beeren.« Beim Lesen dieser Verse entsteht das Bild einer Person, die vor den Reben steht und mit Eifer ihr Wachstum mitverfolgt. Der Besitzer des Jesajatextes hängt an seinem Weinberg. Auch die Enttäuschung ist als lebendiges Gefühl beschrieben. »Was hat es noch zu tun gegeben an meinem Weinberg, das ich nicht für ihn getan habe?«, fragt sich der Besitzer (V. 4). Im Vergleich zu der Intensität der Beziehung zwischen Weinberg und Besitzer sind die Untertöne der Parabel bei Markus viel nüchterner. Folgt man der sozialgeschichtlichen Analyse, hat der Besitzer lediglich ein geschäftliches Interesse an seinem Weinberg. Er will ihn nicht selber bewirtschaften und baut ihn noch nicht einmal selber an. Stattdessen verlässt er den Weinberg, sobald er verpachtet ist. Enttäuscht wird er nicht vom Weinberg, sondern von den Pächtern, die ihm den Profit verweigern. Könnte es sein, dass hier ein Bild zitiert wird, um es in entscheidender Hinsicht zu untergraben? Luise Schottroff hat sich in jüngster Zeit vehement gegen die Gleichsetzung von Gott und den Machtfiguren der Gleichnisse Jesu ausgesprochen. Auch im Hinblick auf die Parabel von den bösen Winzern argumentiert sie gegen die Annahme, dass der Weinbergbesitzer mit Gott gleichzusetzen sei. Im Gegenteil: »Der Weinbergbesitzer handelt wie ein Widerpart Gottes« (L. Schottroff 2005, 30). M. E. ist Schottroffs Argument zu nuancieren. Das Bild des Weinbergbesitzers lässt sich nicht eindeutig übersetzen, sondern stellt, wie einige andere Elemente der Geschichte, eine Leerstelle dar. Die Parabel von den bösen Winzern will zwar an Gott erinnern, tut dies aber auf kreative Art und Weise. LeserInnen werden aufgefordert, die Verbindung zwischen Gott und Weinbergbesitzer herzustellen, um sie wenig später zu hinterfragen. So soll Gott handeln? Die Parabel nimmt Bezug auf das traditionelle Bild von Gott als Weinbergbesitzer, nicht um seine Bedeutung allegorisch festzulegen, sondern um eine weitere Spannung auszulösen, die von den LeserInnen verarbeitet werden muss. Ähnlich ist das so genannte Steinwort aus Psalm 118,22 f. zu behandeln, mit dem die Parabel schließt. Auch hier wird ein alttestamentliches Echo gebraucht, nicht, um die Erzählung abschließend zu deuten, sondern um den LeserInnen eine weitere Aufgabe zuzuschieben. Was hat es auf sich mit dem Stein, der verworfen wurde und zum Eckstein wurde? Alexander Weihs hat sich ausführlich mit der Motivgeschichte des Eckstein-Wortes befasst. In seiner Monographie Jesus und das Schicksal der Propheten beschreibt er 360

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Psalm 118 als Danklied, in dem die Errettung eines Einzelnen von der ganzen Gemeinde als Heilstat Gottes gepriesen wird. »Ein Verschmähter kommt zu Ehren«, (Weihs 2003, 40) – ist die Botschaft des Eckstein-Wortes in seinem alttestamentlichen Kontext. Im Laufe der Zeit rief das Wort vom Stein eine bemerkenswerte Vielfalt an Deutungen hervor. In der rabbinischen Literatur wurde der Eckstein auf verschiedene Figuren der hebräischen Bibel bezogen (Weihs 2003, 42). Im Neuen Testament gibt es Belege dafür, dass das Eckstein-Wort als Metapher für die Kreuzigung und Auferstehung Jesu gebraucht wurde (Apg 4,11). Für Weihs ist dies die Bedeutung, die dem Eckstein-Wort auch im Kontext der markinischen Parabel zukommt. Mit dem verworfenen und dann doch zu Ehren gekommenen Stein – so Weihs – wird eine passionstheologische Aussage über Jesus gemacht. Dieser Deutung stehen andere gegenüber. So wurde der Stein in der neueren Literatur mit Israel (L. Schottroff 2005, 37), mit König David (Milavec 1989, 108) und auch mit Johannes dem Täufer (Stern 1989, 66 ff.) in Verbindung gebracht. Anstatt den Stein definitiv zu übersetzen, ist das Steinwort m. E. als lebendige Metapher zu würdigen, die je nach Kontext neue Bedeutungshorizonte eröffnen kann.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel von den bösen Winzern stellt heutige LeserInnen vor besondere Schwierigkeiten. Nicht nur handelt es sich um eine grausame Geschichte, diese Geschichte hat zudem anti-jüdische Untertöne, die bis heute deutlich zu hören sind und nach der Shoah besonders in Deutschland Unbehagen auslösen müssen. Wie kann die Parabel mit ihrer unheilvollen Wirkungsgeschichte gedeutet werden? Müssen wir sie auf den Stapel der zu meidenden biblischen Texte legen – oder eröffnen sich neue Sinnhorizonte? In der neueren Gleichnisliteratur gibt es einige Ansätze, die sich ausführlich mit dem Problem des christlichen Anti-Judaismus beschäftigen. In einem Aufsatz von 1989 sucht Aaron Milavec nach Möglichkeiten, wie die Parabel nach der Shoah verantwortungsbewusst gelesen werden kann. Dabei unterscheidet er zwischen der anti-jüdischen Rezeptionsgeschichte und der ursprünglichen Bedeutung der Parabel, so wie sie vom Evangelisten Markus intendiert war. Milavecs Analyse zu Folge handelt es sich bei der Parabel um eine genuin jüdische Geschichte über die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Markus zitiert das altbekannte Motiv vom Weinberg Gottes, wie es aus Jesaja bekannt ist, um es auf bestimmte Art zu modifizieren und zuzuspitzen (Milavec 1989, 91). Im Gegensatz zum Jesajatext, der mit der Zerstörung des Weinbergs endet, werden in der markinischen Parabel nicht der Weinberg, sondern die Pächter zerstört. Für Milavec ist dieser Unterschied ein zentraler Hinweis für die Interpretation. Die Pointe des markinischen Zitats liegt darin, dass Gott an der Integrität des Weinbergs und damit des Volkes Israel festhält. Der kritische Fokus liegt auf der jüdischen Führungselite, nicht auf dem Volk selber. Ihnen wird die Autorität über das Volk weggenommen, und zwar mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft für Israel. Diese Deutung bestätigt sich laut Milavec im literarischen Kontext der Parabel, speziell in der Reaktion der Zuhörer (12,12), den Hohepriestern, Toragelehrten und Ältesten, die sich von Jesus angegriffen fühlen. Innerhalb des damaligen jüdischen Bedeutungshorizontes enthält die Parabel nach Milavecs Auffassung also zwei Botschaften: Die Kritik an der Führungselite und die Zusicherung, dass Gott zu seinem Volk hält. Auf diese Weise hofft Milavec, die anti-jüdi361

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Parabeln im Markusevangelium

sche Maske zu beseitigen, die im Laufe der Zeit über die Parabel gestülpt wurde (Milavec 1989, 110 f.). Auch Luise Schottroffs Interpretation ist motiviert von dem Wunsch, die anti-jüdische Vereinnahmung der Parabel zu überwinden (L. Schottroff 2005, 27-43). Anders als Milavec liegt für sie der Schlüssel des Verstehens nicht in der Intention des Evangelisten Markus, sondern in der Sozialgeschichte. Die Parabel von den bösen Winzern wollte ihrer Ansicht nach gegen eins der dringlichsten sozialen Probleme der damaligen Zeit Einspruch erheben, nämlich gegen die Ausbeutung jüdischer Bauern durch reiche Großgrundbesitzer. Nach dieser Auslegung waren die WinzerInnen in Wirklichkeit Opfer eines ungerechten Wirtschaftssystems, die sich nicht anders zu helfen wussten als durch Gewalt. Im Gegensatz zu Milavec will Schottroff die Pächter der Parabel nicht mit der jüdischen Elite gleichsetzen. Zwar enthält die Parabel eine Kritik an der jüdischen Führungsschicht, die den wirtschaftlichen Notstand der Menschen nicht verhindert hatte. Die eigentliche Botschaft der Parabel liegt jedoch in ihrer eschatologischen Dimension. Der beschriebene Notstand wird ins Licht des kommenden Gottes gestellt. Ausschlaggebend für diese Deutung ist das Steinwort in Vers 10-11, ein in Schottroffs Worten traditioneller »Hoffnungstext für das leidende jüdische Volk« (L. Schottroff 2005, 37). Im Bild vom Stein, der verworfen wurde und dann zum Eckstein wurde, kommt die Verheißung zum Ausdruck, dass die Menschen, die sich auf Grund ihrer verzweifelten Lage nicht anders zu helfen wissen als durch Gewalt, verwandelt werden. »Es geht um Israel und seine Befreiung (V. 10.11) aus dem in der Erzählung zugespitzt dargestellten Leiden an erlittener und selbst verübter Gewalt« (L. Schottroff 2005, 39). Ich halte die Ansätze von Milavec und Schottroff für hilfreich, da sie den anti-jüdischen Untertönen der Parabel bewusst widerstehen und alternative Lesemöglichkeiten eröffnen. Jedoch möchte ich den hermeneutischen Rahmen in eine bestimmte Richtung erweitern. Sowohl Milavec als auch Schottroff führen uns auf je eigene Weise in die Welt des 1. Jahrhunderts und verharren dort. Doch weder Milavec noch Schottroff beschäftigen sich ausführlich mit der Frage nach den Erfahrungen von LeserInnen in der Gegenwart. Was passiert, wenn die markinische Parabel heute gehört wird, z. B. als Schriftlesung in einem Gemeindegottesdienst? Die Parabel von den bösen Winzern, wie sie uns im Markusevangelium überliefert wurde, ist Teil kirchlicher Perikopenordnungen und hat schon allein dadurch einen institutionalisierten Sitz im Leben in unserer Zeit. Was m. E. beachtet werden muss, ist der metaphorische Prozess, in den die Parabel heutige LeserInnen (und HörerInnen) verwickeln kann. Die sprachlich-narrative Analyse hat ergeben, dass die Parabel für ihre LeserInnen einige Stolpersteine bereit hält, allen voran Vers 5b, in dem die brutale Antwort der Bauersleute auf die Pachtforderung in eine Gewaltserie ausartet. Drei Sklaven wurden misshandelt oder getötet – und viele andere ebenso. Wer sich auf dieses Erzählelement einlässt, kann gar nicht anders als zu stutzen: Das darf doch nicht wahr sein! Der Gleichnistheorie Paul Ricœur zu Folge sind die außergewöhnlichen Erzählelemente einer Parabel mit ein Grund, warum LeserInnen einen Transfer herstellen von der erzählten Welt hinein in die Wirklichkeit. Ricœur vermutet, dass es Grenzerfahrungen des menschlichen Lebens sind, auf die uns die Parabeln verweisen wollen. Die Anhäufung physischer Gewalt kann LeserInnen dazu führen, sich »Erfahrungen von Katastrophe, Verzweiflung, Tod, Leid, Schuld und Hass« zu vergegenwärtigen, um Ricoœurs Sprache der existentiellen Philosophie zu gebrauchen (Ricœur 1975, 128). Diese Erfahrungen sind natürlich immer situationsgebunden. Die Parabel 362

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wird sehr unterschiedliche Bilder und Erinnerungen auslösen können, je nachdem von wem und in welchem Kontext sie gelesen wird (Oldenhage 2002, 144 f.). Stimmt meine Analyse des Bildfeldes vom Weinberg und seinem Besitzer, so stellt die Parabel ihre RezipientInnen vor eine weitere Spannung, und zwar vor die Spannung zwischen der traditionellen Identifizierung des Weinbergbesitzers mit Gott und dem profit-gesteuerten Verhalten des Besitzers, wie er uns in der Parabel entgegenkommt. Ist das wirklich Gott, der so handelt? Je stärker LeserInnen mit den sozialgeschichtlichen Hintergründen der Parabel vertraut sind, desto stärker ist die Irritation. Ein ausbeuterischer, rachegetriebender Großgrundbesitzer ist ein merkwürdiges Bild für Gott. Wer sich dieser Irritation stellt, vollzieht, wie oben bereits angedeutet, einen wichtigen Perspektivenwechsel. In dem Moment, in dem nicht mehr klar ist, ob hier von Gott berichtet wird, ist auch die Unterscheidung zwischen gut und böse, Recht und Unrecht nicht mehr eindeutig. Dann müssen LeserInnen die Annahme hinterfragen, dass der Gutsherr mit seinen Pachtforderungen im Recht ist. Das, was als normale Geschäftsverhandlung erschient, muss als Symptom eines ungerechten Wirtschaftssystems erkannt werden. Wenn sich dieser Perspektivenwechsel mit eigenen Gewalt- und Leiderfahrungen verbindet, können eindrückliche Deutungen für unsere Zeit entstehen. Als Beispiel sei hier die höchst aktuelle Interpretation der Parabel von Richard Q. Ford erwähnt (R. Q. Ford 2003). In seinem Aufsatz »The Iraqi Conflict and a Parable of Jesus« stellt Ford eine Verbindung her zwischen dem Verhalten des Weinbergbesitzers und dem Verhalten der AmerikanerInnen während des Irakkrieges. In beiden Fällen diagnostiziert Ford eine Unfähigkeit, geschichtliche Tatsachen zu erkennen. Der Weinbergbesitzer geht davon aus, dass es sein gutes Recht ist, seine Pacht einzufordern, während diese Forderung doch in Wirklichkeit auf einer ungerechten Gesetzgebung basiert. Er selbst bleibt für die ausgebeuteten Bauern unerreichbar. Er bleibt unberührt von der Leidensgeschichte dieser Leute, deren Familien einst das Land geraubt wurde. Als die amerikanische Regierung sich im Frühjahr 2003 dazu entschloss trotz UNO Resolution und internationaler Proteste in den Irak einzumarschieren, waren große Teile der amerikanischen Bevölkerung von den guten Intentionen ihrer Regierung überzeugt. Viele Menschen erwarteten, dass die amerikanischen Soldaten und Soldatinnen im Irak mit Freude empfangen würden, weil sie ein unterdrücktes Volk von einer schrecklichen Diktatur befreiten. Ford zufolge waren diese Leute ähnlich wie der Weinbergbesitzer unfähig, die Situation richtig einzuschätzen und sich Rechenschaft zu geben über die Motive der US-Regierung. Sie waren Welten getrennt von den betroffenen Menschen im Irak und deren Erfahrungen mit der Gewalt des westlichen Imperialismus. Wie der Weinbergbesitzer glaubten sie an ihre eigene Güte, und aus dieser Fehleinschätzung heraus ließen sie ihre Söhne und Töchter in den Krieg ziehen. Das Resultat ist – wie in der Parabel – eine Gewaltkette, die nicht abreißt. Die Parabel beleuchtet die Blindheit derer, die fest daran glauben, im Recht zu sein, obwohl sie sich in Wirklichkeit in geschichtlich gewachsenen Strukturen der Ungerechtigkeit befinden. Die metaphorische Verbindung zwischen der markinischen Geschichte und der US-amerikanischen Politik hat natürlich Grenzen. Wie in jeder lebendigen Metapher schwingt neben dem »ist gleich« ein »ist nicht gleich« mit. Resonanzen stehen neben Dissonanzen. So kann selbstverständlich gefragt werden, ob der lügnerische Raubüberfall des Präsidenten Bush mit dem Racheakt des Weinbergbesitzers wirklich zu vergleichen ist. Es kann eingewendet werden, dass der zweite schließlich einen existentiellen Grund 363

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zur Selbstwehr hatte. Doch genau durch solche Fragen kann die Parabel von den bösen Winzern zu einer aufwühlenden Geschichte für unsere Zeit werden, zu einer nachdenklichen Anti-Kriegs-Erzählung, die uns Wege eröffnet, menschliches Handeln im 21. Jahrhundert zu verstehen und zu hinterfragen.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parabel von den bösen Winzern ist uns in vier verschiedenen Versionen überliefert. Aus der Fülle des Materials, das uns in den Parallelüberlieferungen bei Matthäus, Lukas und im Thomasevangelium entgegenkommt, sollen im Folgenden lediglich zwei Beobachtungen hervorgestrichen werden, die für die Wirkungsgeschichte der Parabel von besonderer Bedeutung sind. Die matthäische Fassung der Parabel (21,33-46) enthält neben einzelnen Variationen im Erzählverlauf ein bemerkenswertes Deutungsangebot, das bei Markus fehlt. Jesu Rede endet bei Matthäus nämlich nicht mit dem Schriftzitat aus Psalm 118, sondern geht weiter: »Deshalb sage ich euch: Das Gottesreich wird von euch weggenommen werden und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt« (V. 43). Mit diesem Satz wird Jesus eine ganz bestimmte Interpretation der Parabel in den Mund gelegt. Demnach liegt die Pointe der Erzählung im Entschluss des Gutsherrn, seinen Weinberg an andere Leute zu vergeben. Anders als bei Markus, wird dieser Zug inhaltlich gefüllt. Es ist von einem »anderen Volk« die Rede. Hier findet die Vorstellung der Verwerfung Israels und der Erwählung der Kirche als das neue Gottesvolk seinen biblischen Anhaltspunkt. Der matthäische Zusatz ist mit verantwortlich dafür, dass die Parabel im Laufe der Zeit in unterschiedlichen Variationen als Polemik gegen das Judentum verstanden wurde. J. S. Kloppenborg zeigt, wie sich diese Deutung im Laufe der ersten Jahrhunderte n. Chr. langsam durchsetzte (Kloppenborg 2006, 22-25). Bereits Ende des 2. Jahrhunderts identifizierte Irenaeus (Iren.) die Sklaven mit Gottes Propheten und die Tötung des Sohnes mit der Kreuzigung Jesu. Nach der Konstantinischen Wende bekam die Auslegung der Parabel eine triumphalistische Färbung und wurde von Eusebius als Sieg des Christentums über andere Religionen verstanden. Im späten 4. Jahrhundert wurde die Parabel von Erzbischof Chrysostomus (Chrys.) in ihren Einzelheiten als heilsgeschichtliche Allegorie ausgemalt. Der Rachezug des Gutsherrn wird dabei zur Strafe Gottes gegen die Juden, die Christus ans Kreuz schlugen (Milavec 1989, 83). Eine völlig andere Spur der Auslegung ist im Thomasevangelium angelegt. Im Gegensatz zu Matthäus, der die Parabel durch ein zusätzliches Deutewort verlängert, fehlt bei Thomas der Schluss der Erzählung: EvThom 65: »Ein (Wucherer / gütiger Mensch) besaß einen Weinberg. Er gab ihn Bauern, damit sie ihn bearbeiteten (und) er von ihnen seine Frucht bekomme. Er schickte seinen Sklaven, auf dass die Bauern ihm die Frucht des Weinbergs gäben. Sie packten seinen Sklaven. Sie schlugen ihn, fast hätten sie ihn getötet. Der Sklave ging zurück, er sagte es seinem Herrn. Sein Herr sagte. ›Vielleicht haben hsie ihni nicht erkannt.‹ Er schickte einen anderen Sklaven, die Bauern schlugen den anderen. Dann schickte der Herr seinen Sohn, er sagte: ›Vielleicht werden sie Achtung vor 364

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meinem Sohn haben.‹ Jene Bauern, weil sie wissen, dass er der Erbe des Weinbergs ist, sie ergriffen ihn, sie töteten ihn. Wer Ohren hat, soll hören.« (Petersen 1999a, 199-200). Nachdem diese Parallele durch die Nag Hammadi Funde zugänglich wurde, zog sie die Aufmerksamkeit einiger ExegetInnen auf sich, die hier den ursprünglichen Wortlaut der jesuanischen Parabel vermuteten. Zum einen erscheint der Handlungsablauf im Thomasevangelium weitaus plausibler zu sein als bei Markus oder Matthäus. Es gibt keinen Massenmord und die Entscheidung des Weinbergbesitzers, seinen Sohn zu schicken, scheint einleuchtend. Zum anderen eröffnet das Fehlen des Vergeltungsschlages die Möglichkeit, die Parabel so zu interpretieren, dass sie sich besser in ein bestimmtes Bild des historischen Jesus fügt. J. D. Crossan ist bekannt für seine These, dass Jesus gerne die konventionellen Vorstellungen seiner ZeitgenossInnen auf den Kopf stellte. Auf der Basis der kürzeren Fassung bei Thomas interpretiert Crossan die Parabel als schockierende Geschichte über einen erfolgreichen Mord (Crossan 1973, 96). Ähnlich argumentieren T. Schramm und K. Löwenstein in ihrem Buch Unmoralische Helden, wobei sie der Parabel eine didaktische Botschaft abgewinnen können: »Die Pächter … sind in einem Punkte vorbildlich – sie erfassen die Bedeutsamkeit der Situation, sie sehen ihre Chance und reagieren entschlossen: Sie bringen das Erbe an sich« (Schramm/Löwenstein 1986, 36). Gegen diese Interpretation kann eingewendet werden, dass der Text des Thomasevangeliums keinen Hinweis darauf gibt, ob die WinzerInnen das Erbe wirklich an sich brachten, ob der Mord des Sohnes also in diesem Sinne »erfolgreich« endete oder nicht. Der Schluss bleibt vielmehr offen. Bemerkenswert scheint mir allerdings folgendes: Für Schramm und Löwenstein ist die Version des Thomasevangeliums u. a. deswegen zu bevorzugen, weil sie eine Deutung ermöglicht, die sich von der anti-jüdischen Lesart absetzt. Der Handlungsablauf ist in sich so schlüssig, dass keine Versuchung besteht, allegorische Verbindungen zwischen Sklaven und Propheten oder zwischen dem Sohn und Christus herzustellen. Zudem fehlt mit dem Racheakt des Weinbergbesitzers jeder Grund, die Pointe der Parabel in der Strafe Gottes gegen Israel zu finden. »Die Rekonstruktion des ursprünglichen Wortlauts befreit das Gleichnis auch von seinen antijudaistischen Zügen« (Schramm/Löwenstein 1986, 35). Die Auslegungen von Crossan, Schramm und Löwenstein sind m. E. wertvolle Bestandteile des Deutungshorizontes, weil sie kreative Wege aufzeigen, mit einem der schwierigsten Texte der christlichen Tradition umzugehen. Die Parabel von den bösen Winzern ist in Luise Schottroffs Worten eine Horrorgeschichte und auf Grund ihrer antijüdischen Wirkungsgeschichte ein gefährlicher Text. Solange uns die Parabel jedoch dazu veranlasst, mit dem Erbe des Anti-Judaismus zu ringen und historische sowie gegenwärtige Gewalterfahrungen zu reflektieren, bleibt sie ein wichtiger Teil der Jesusüberlieferung.

Tania Oldenhage Literatur zum Weiterlesen J. D. Crossan, The Parable of the Wicked Husbandmen, JBL 90 (1971), 451-465. E. van Eck, Jesus and Violence. An Ideological-Critical Reading of the Tenants in Mark 12:1-12

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and Thomas 65, in: G. R. de Villiers (Hg.), Coping with Violence in the New Testament, Studies in Theology and Religion 16, Leiden 2012, 101-131. R. Q. Ford, The Iraqi Conflict and a Parable of Jesus, Constellation (Fall 2003): http://www. tcpc.org/resources/constellation. W. Harnisch, Der bezwingende Vorsprung des Guten. Zur Parabel von den bösen Winzern (Markus 12,1 ff. und Parallelen); in: W. Harnisch,: Die Zumutung der Liebe. Gesammelte Aufsätze, hg. v. U. Schoenborn, FRLANT 187, Göttingen 1999, 65-79. M. Hengel, Das Gleichnis von den Weingärtnern. Mc 12,1-12 im Lichte der Zenonpapyri und der rabbinischen Gleichnisse, ZNW 59 (1968), 1-39. W. R. Herzog II, Peasant Revolt and the Spiral of Violence: The Parable of the Wicked Tenants (Mark 12:1-12), in: ders., Parables as Subversive Speech. Jesus as Pedagogue of the Oppressed, Louisville 1994, 98-113. K. R. Iverson, Jews, Gentiles, and the Kingdom of God. The Parable of the Wicked Tenants in Narrative Perspective (Mark 12:1-12), Bibl. Interpr. 20 (2012), 305-335. H.-J. Klauck, Das Gleichnis vom Mord im Weinberg; BiLe 11 (1970), 118-145. J. S. Kloppenborg, The Tenants in the Vineyard, WUNT 195, Tübingen 2006. U. Mell, Die ›anderen‹ Winzer. Eine exegetische Studie zur Vollmacht Jesu Christi nach Markus 11,27-12,34, WUNT 77, Tübingen 1994, 29-41.74-188. A. Milavec, A Fresh Analysis of the Parable of the Wicked Husbandmen in the Light of JewishChristian Dialogue, in: C. Thoma/M. Wyschogrod (Hg.), Parable and Story in Judaism and Christianity, New York 1989, 81-117. T. Oldenhage, How to Read a Tainted Text. The Wicked Husbandmen in a Post-Holocaust Context, in: A. K. M. Adam (Hg.) Postmodern Interpretations of the Bible, St. Louis 2001, 165-176. J. C. O’Neill, The Shocking Prospect of Killing the Messiah (Luke 20:9-19), in: V. G. Shillington (Hg.), Jesus and His Parables. Interpreting the Parables of Jesus Today, Edinburgh 1997, 165-176. A. Puig i Tàrrech, The Parable of the Tenants in the Vineyard: The Narrative Outline and its Socio-Historical Plausibility, BN 158 (2013), 85-112. A. Puig i Tàrrech, Metaphorics, First Context and Jesus Tradition in the Parable of the Tenants in the Vineyard, BN 159 (2013), 75-120. D. Sattler, Gottes Selbstauslieferung an die Menschen: Das Winzergleichnis als Zeugnis für das »Vielleicht« in Gottes Handeln; Mk 12/Lk 20/Mt 21, BiLi 81 (2008), 253-257. T. Schramm/K. Löwenstein, Die entschlossenen Pächter (Mk 12,1-12), in: dies., Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen 1986, 22-42. K. R. Snodgrass, The Parable of the Wicked Tenants, WUNT 27, Tübingen 1983. W. Stegemann, Das Gleichnis vom Weinberg. Markus 12,1-12 – kontextuell gelesen, in: M. Crüsemann u. a. (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014, 70-80. D. Stern, Jesus’ Parables from the Perspective of Rabbinic Literature: The Example of the Wicked Husbandmen, in: C. Thoma/M. Wyschogrod (Hg.), Parable and Story in Judaism and Christianity, New York 1989, 42-80. R. Zimmermann, The Parables of Jesus as Media of Collective Memory. Making Sense of the Shaping of New Genres in Early Christianity, with Special Focus on the Parable of the Wicked Tenants (Mark 12:1-12), in: J. Rogge (Hg.), Making Sense as Cultural Practice. Historical Perspectives, Mainz Historical Cultural Sciences 18, Bielefeld 2013, 23-44.

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Wir sind schon wer (Vom grünenden Feigenbaum) Mk 13,28 f. (Mt 24,32 f. / Lk 21,29-31) (28) Vom Feigenbaum aber lernt die Parabel: Wenn jetzt sein Zweig weich wird und die Blätter herauswachsen, erkennt ihr, dass nahe ist der Sommer. (29) so erkennt auch ihr, wenn ihr seht, dass dies geschieht, dass (er/es) nahe vor der Tür ist.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Die Parabel besteht nur aus 2 Versen. Diese bilden wiederum im Griechischen nur einen einzigen, komplexen Satz. Gleich im einleitenden Imperativ-Satz fällt die Gattungsbezeichnung »Parabole´« (Gleichnis) mit bestimmtem Artikel. Die vier Jünger, die nach Mk 13,3 die Zuhörer der langen, vorausgehenden Rede von der nachösterlichen Zeit sind (Mk 13,5-27), sollen von folgender Parabel »lernen«. Das Subjekt der Parabel wird im Imperativsatz ebenfalls vorweg genannt: der Feigenbaum suk» (syke¯). Nun ist diese Einleitungsformel »Lernet« im NT singulär (Gnilka 5 1999, 203). Üblicherweise spricht die Parabeleinleitung vom »Vergleichen«. Es liegt dagegen hier ein Wortspiel mit dem Aorist Imperativ des Verbs manthano¯ (lernen) und dem »Jünger«-Begriff maqhtffi@ (mathe¯te¯s – der Lernende, Lehrling, Anhänger, Jünger) vor. Das Staunen der Jünger über den Tempel Mk 13,1 bereitete die lange Rede Mk 13,3 f.5-37 vor. Die Jünger sollen im Schlussteil der Rede ab V. 28 »lernen« = m€qete (mathete). Sie sollen nicht nur das Vergleichen mit dem Feigenbaum, sondern auch die Beschaffenheit des Feigenbaumes lernen, d. h. »den Feigenbaum als Lehrer« erkennen (Jülicher II 2 1910 3). Es liegt eine Natur-Parabel vor, die auch Gleichnis im engeren Sinne genannt werden kann (Linnemann 7 1978, 18 f.). Doch was vermag der allgemein in der Mittelmeerwelt bekannte Feigenbaum zu lehren? Es folgt mit einem Temporalsatz ˆtan (hotan – wann, wenn) eine Kurzbeschreibung des Grünwerdens des Feigenbaums. Einige Übersetzungen entfernen sich weit vom Urtext: M. Luther: »Wenn jetzt seine Zweige saftig werden und Blätter treiben«; angelehnt an ihn die Einheitsübersetzung: »Sobald die Zweige saftig werden und Blätter treiben«. Die Erzählung geht aber nicht über die Zweige, sondern »den Zweig« im kollektiven Sinne. Er wird in der Rinde »weich«, um neue Triebe durchbrechen zu lassen, aber er wird nicht im Aussehen »saftig«, weil sich die Rinde nicht verfärbt. Erst recht nicht treibt der Zweig aufgrund des Saftes die Blätter hervor – diese biologische Erkenntnis wird hier nicht beschrieben –, sondern die Blätter wachsen von sich aus aus den Knospen hervor. Neue Triebe und neue Blätter werden für den Beobachter unabhängig voneinander sichtbar. 367

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Parabeln im Markusevangelium

Der folgende imperativische Hauptsatz, nun im Präsens, führt weiter aus. »Erkennt« den nahen »Sommer« als treibende Ursache für Sprossen und Blätter. Warum wird nicht der Frühling als zutreffende Jahreszeit genannt? Der »Palästinenser Jesus aber unterscheidet für gewöhnlich nur zwei Jahreszeiten, Winter und Sommer« (Jülicher II 2 1910, 10). Denn Frühling und Herbst nehmen in Palästina nur einen kurzen Zeitraum ein. Der kalte Winter kann im April-Mai unvermittelt seine Regenschauer einstellen und in die lange Dürrezeit des Sommers umschlagen. Der Winter ist der ungenannte, vorausgesetzte Gegner, der das Grünen und Austreiben des Feigenbaumes wirksam verhindert. Er ergrünt erst als letzter der Laubbäume unmittelbar vor dem Sommer. Was sollen die Hörer mit dieser selbstverständlichen Erfahrung anfangen? Der dritte Imperativ dieser langen Hypotaxe bringt die Anwendung. Jülicher ist hoch erfreut: »Wir beginnen mit einem Gleichnis …, das … namentlich den Vorzug hat, beide Glieder, comparatum und comparandum, intakt zu besitzen« (Jülicher II 2 1910, 3). Aber gerade gegen diesen vermeintlichen Vorzug hat sich die anschließende Gleichnisforschung gewandt. Die Bildhälfte, das »comparatum«, liefert die Parabel V. 28. Das »comparandum«, die theologische Sachhälfte, hat der Hörer selbst zu erstellen (Linnemann 7 1978, 31-38.). Vor dem Hintergrund dieser Forschungsgeschichte wirkt V. 29 überflüssig. Gestaltet er das Metaphern-Potential der Natur-Parabel vom Feigenbaum im Sinne Jesu aus und kann er wie bei Jülicher stehen bleiben, oder entfernt er sich von Jesu Intention aufgrund neuer, nachösterlicher, redaktioneller Interessen und muss für die Rückfrage nach Jesus gestrichen werden (Gnilka 5 1999, 203; Knoch 3 1987, 161 f.)? Vor zu schneller Entscheidung sollte das Fehlen des Subjekts im abschließenden Behauptungssatz warnen: Wer oder was »ist vor der Tür?« Die theologische Übertragung bezieht durch die beiden »dass«-Schlusssätze mit dem demonstrativen »dies« die ganze vorhergehende Rede mit ein, sowohl die Zeichen vor dem Weltende V. 5b-23 (Pseudo-Christusse, Pseudo-Propheten, Kriege, Erdbeben, Hungersnöte, Verfolgungen, Tempelentweihung und –zerstörung, Flucht), als auch den Untergang des Kosmos mit dem Kommen des Menschensohnes zum Sammeln der Auserwählten V. 24-27. Die Anwendung V. 29 zwingt weiterhin den Hörer und Leser zum produktiven Auffüllen mit Königsherrschaft Gottes und Menschensohn und muss nicht als nachträgliche Einengung auf den wiederkommenden Christus gestrichen werden. Der Evangelist hält den Raum der möglichen Übertragungen im Sinne des irdischen Jesus offen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Der Feigenbaum gehört sowohl zur Agrarkultur des Landes als auch zur Gartenkultur der Stadt (Lk 13,6-9). Im Unterschied zu den vorherrschenden, immergrünen Bäumen in Palästina wirft er im Winter die Blätter ab. Seine Blüten sind unscheinbar, auch die Farbe seiner Rinde verändert sich nicht, so dass die normale Bevölkerung den bevorstehenden Sommer erst an den Sprossen und überraschend austreibenden Blättern zu erkennen vermag. Das Tragen von Früchten gilt zu Recht als abhängig von der Baumpflege (Lk 13,69). Bei guten Bedingungen und guter Pflege erbringt der Feigenbaum drei Ernten pro Jahr. Die Haupternte findet im Hochsommer statt (Neumann-Gorsolke 2003, 351). 368

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Wir sind schon wer Mk 13,28 f.

Die Feige selbst war in biblischer und nachbiblischer Zeit ein wichtiges Nahrungsmittel und eine begehrte Zukost zum täglichen Brot, sowohl frisch als auch getrocknet. Feigenkuchen aus getrockneten Feigen galt als Reiseproviant und Leckerbissen (1Sam 25,18). Feigenkuchen wurde auch als Heilmittel verwendet (2Kön 20,7; Jer 38,21). Der Feigenbaum war daher in Palästina hochgeschätzt. In der Jotam-Fabel vom Anspruch auf die Königswürde rangiert er an zweiter Stelle nach dem Ölbaum (Ri 9). Außerdem werden Feigenbaum und Weinstock wiederholt nebeneinander genannt (Jes 34,4; Jer 8,13; Joel 2,22; Hag 2,19). Der Feigenbaum wurde oft innerhalb oder am Rande eines Weinberges angepflanzt. Er diente dort und an den anderen Stellen zum Ausruhen und Studieren. Jesus sieht Natanael »unter einem Feigenbaum« (Joh 1,48). Schriftgelehrte wählen gern den Platz unter dem Feigenbaum für das Schriftstudium (Midr Qoh 5,11; Midr HL 4,4; Billerbeck II 2 1924, 371).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Das Bild vom Feigenbaum bietet ein atl. geprägtes Metaphernfeld: Gott verheißt: »Feigenbaum und Weinstock bringen ihren Ertrag« (Joel 2,22), und zwar in der kommenden Endzeit. Dagegen klagt Gott durch den Propheten Jeremia: »Will ich bei ihnen ernten, so sind keine Trauben am Weinstock, keine Feigen am Feigenbaum und das Laub verwelkt« (Jer 8,13). Jeder Hörer in Palästina und in der Mittelmeerwelt konnte die Symbolisierung Israels durch den Feigenbaum als hohe Wertschätzung durch Gott nachvollziehen; Gott würdigt die besondere Leistung der Bevölkerung in Baum-, Weinberg- und Gartenkultur und honoriert die eigenständige Verantwortung. Der Feigenbaum gewinnt für das NT nicht die zentrale Bedeutung wie der Weinstock, steht aber weiterhin für die Verlässlichkeit Gottes und für den Abfall Israels von Gott. Jesus vollzieht sein einziges Strafwunder an einem Feigenbaum, an dem er nach Jer 8,13 keine Frucht findet und dessen Laub er deshalb durch einen Fluch zum Verdorren bringt (Mk 11,12-14.20-25). Das Gegenbeispiel eines unfruchtbaren Feigenbaumes innerhalb eines Weinberges und der Rettung dieses Feigenbaumes bietet jedoch die Parabel Lk 13,6-9. Gott lässt zwar den Feigenbaum als Symbol für Israel während und nach Jesu öffentlichem Auftreten immer wieder Sprossen und Blätter treiben, d. h. theologisch, dass Gott sein Bundesangebot an Israel immer wieder erneuert und mit dem Anbruch seiner Königsherrschaft in Jesus vertieft und nicht aufhebt. Doch Israel und »alle Hörer« (Mk 13,37) stehen in der Verantwortung, den Glauben an die angebrochene Königsherrschaft nicht zu verweigern, sondern zu vertiefen, die Hoffnung auf ihre Vollendung durch den erhöhten Menschensohn Jesus Christus nicht aufzugeben, Früchte zu bringen (Mk 4,1-34) und sich als »Auserwählte« zu bewähren (Mk 13,27), weil sie sonst beim Weltgericht als »Verdorrte« dastehen (Mk 11, 20-25). Von den Früchten spricht die Parabel allerdings nicht ausdrücklich; diese Assoziation bringen erst das Bildfeld und die vorhergehende Parabelrede Mk 4,1-34 ein. Daher steht nicht die Ernte mit dem Gerichtsgedanken im Vordergrund, sondern die Verstärkung des Vertrauens aufgrund des sicheren Kommens des Sommers (Klauck 2 1986, 321).

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Parabeln im Markusevangelium

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Jülicher setzt unkritisch die markinische Parabelerzählung mit einem historischen Vorgang gleich: »Der Blick auf eine grünende Feige am Weg wird Jesus zur Wahl gerade dieses Gleichniswortes veranlasst haben.« (Jülicher II 2 1910, 10). Die Plausibilität einer realistischen Erzählung ist richtig getroffen worden, aber noch nicht die Plausibilität für die Historizität. Erst der so genannte Querschnittsbeweis legt nahe, aufgrund der zwei Parabeln und dem einen Wunder vom Feigenbaum auf Erzählungen Jesu vom Feigenbaum zurückzuschließen. Die kleine Parabel Mk 13,28 hat auch die Plausibilität, dass Jesus mit dem atl. geprägten Bild vom Feigenbaum, der ja gesellschaftlich hoch geachtet war, seinen Hörern die nahe Vollendung der Königsherrschaft Gottes für Israel attraktiv zusichern und sie zugleich ermahnen konnte, Früchte dem kommenden Menschensohn vorzuweisen. Klauck vermutet: »Es ist anzunehmen, dass die Parabel nach Ostern den Referenten wechselte und nicht mehr die spannungsvolle Gegenwart der Basileia, sondern die Erwartung der nahen Parusie illustrierte. Sprachlich hat sich diese Umdeutung kaum niedergeschlagen« (Klauck 2 1986, 322). Doch muss eine Parabel sich immer nur auf einen Referenten beziehen? Als Abschluss der Rede Mk 13 illustriert das Einwirken des nahen Sommers auf den Feigenbaum sowohl die spannungsvolle Königsherrschaft Gottes als auch das baldige Kommen des Menschensohnes. Ohne sprachliche Abstriche kann der Referent Menschensohn bei der Rückfrage zum vorösterlichen Jesus entfallen, kann aber auch je nach Jesus ChristusBild beibehalten werden. Denn es ist ja äußerst umstritten, ob sich der vorösterliche Jesus schon mit dem kommenden Menschensohn gleichgesetzt hat oder ihn noch getrennt von sich für die nahe Zukunft erwartet hat (Dormeyer 2 2002, 177-185). Zwar gilt Mk 13,29 als offenkundige »Anwendung« geradezu als Paradebeispiel dafür, Jesus diesen Vers formkritisch abzusprechen. Doch diese Formkritik hängt von dem Jesusbild des jeweiligen Auslegers ab. Die Überschrift »Jesus als Dichter. Die Gleichnisse Jesu« von Theißen/Merz (3 2001, 285) bringt die heutige Rezeptionsästhetik auf den Punkt. Fügt der Poet Jesus in seine gelungenen Parabeln Anwendungen, Allegorien, formelhafte Einleitungen und Stichwortkompositionen (z. B. den Anschluss Mk 13,30-33) ein und an? Wir wissen es nicht. Doch die Gleichnisse und Fabeln von Äsop und Phädrus, die Exempel-Sammlungen von Valerius Maximus, die frührabbinischen Gleichnisse und die Gleichnisse u. a. lassen durchaus erkennen, dass es ein variables, gemeinsames narratives Formmuster für Gleichniserzählungen gab, das großen Wert auf das Verbleiben des Erzählers in der narrativen Welt legte; Autor-Kommentare und Appelle an die Hörer wurden weitgehend vermieden, sind aber ebenfalls reichhaltig bezeugt (Schnur 2 1985, 11 f.; Dormeyer 1993, 140-159). So stimme ich dem formkritischen Ausscheiden der Imperative und der Anwendung in Mk 13,29 zu, da ich Jesus wie die gesamte Parabelforschung nach Jülicher für einen Poeten halte. Äsop, Phädrus, Valerius Maximus und die Rabbiner entwickelten gezielt eine »einfache« Poetik für die Unter- und Mittelschicht. Die Anwendung mussten und konnten die Hörer selber leisten. Es gab nicht nur eine Auslegungsmöglichkeit, sondern eine Vielzahl plausibler Anwendungen. Auch das Mk-Ev bleibt daher bei seiner Anwendung bewusst offen und geheimnisvoll. Die Offenheit der beiden unkommentierten Parabeln Mk 4,26-29.30-32 in der ersten großen Rede, der Parabelrede Mk 4,1-34, bleibt auch bei dieser Anwendung in der zweiten großen Rede, die gleichzeitig die Schlussrede 370

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Wir sind schon wer Mk 13,28 f.

des Mk-Ev. ist, erhalten, zumal das Subjekt in Mk 13,29 fehlt und weiterhin wie in der Bildhälfte der spannungsvollen Königsherrschaft Gottes und zugleich des Menschensohnes als Ergänzung bedarf. Und der allegorische Kommentar zur ersten, offenen Parabel Mk 4,1-9 galt ja nur für den Innenkreis (Mk 4,10-20). Auch der Autor-Kommentar Mk 13,29 soll keine Eindeutigkeit schaffen, sondern nur Verstehensmöglichkeiten andeuten: Vollendung der Königsherrschaft Gottes und/oder vollendete Ankunft des Menschensohnes (Jesus Christus). Der Feigenbaum beweist zum einen, dass eine Vollendung der Welt so sicher kommen wird, wie nach jedem Winter der Sommer kommt, er gibt Vertrauen, dass schon jetzt die Glaubenden einen ehrenvollen Feigenbaum bilden, und er ermahnt zugleich, dass jeder Mensch dafür verantwortlich ist, ob er zu den Auserwählten gehören wird oder nicht. Vom Feigenbaum lernt die Gemeinde, trotz Verfolgungen ein selbstsicheres »WirGefühl« zu entwickeln. Anscheinend herrscht noch der Winter, der Kirchenspaltungen, Verfolgungen der Glaubenden, Vernichtung der kirchlichen Versammlungsplätze und unerträgliche Gewalt in der gesamten Menschheit erzeugt. Das Elend dieses Weltalters (Äon Mk 4,19), das bis heute anhält, besonders in der 3. Welt, wird nicht verschwiegen, sondern mit der Beschreibung der apokalyptischen Wehen schonungslos aufgedeckt. Doch die Gemeinden haben ja schon jetzt in Jesus den vollmächtigen und wiederkehrenden Menschensohn erkannt und erfahren in ihrem Zusammenhalt die Kräfte der sich bald vollendenden Königsherrschaft Gottes. Die Gemeinden sind gegen den Winter dieses Äons machtvolle Symbole der Fürsorge und Solidarität Gottes mit der gesamten Menschheit und kommenden Vollendung.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Das Mt-Ev. folgt der Mk-Vorlage fast wörtlich (Mt 24,32-33). Am Schluss von V. 28 wird das Verb »ist« gestrichen, in V. 29 wird »dieses« mit »alles« verstärkt und das Partizip »geschieht« gestrichen. Diese Auslassungen sind aber nicht bedeutungsvoll, sondern schaffen Leerstellen, die jeder Leser sofort auffüllen kann. Das Lk-Ev. hingegen verändert stärker (Lk 21,29-31). Eine narrative Einleitung führt Jesus als Parabelerzähler ein. Der Feigenbaum wird mit allen Bäumen gleichgesetzt. Das »Austreiben« (proballo) trifft für alle Bäume zu als Ankündigung des nahen Sommers. Der Überraschungseffekt des Feigenbaumes mit dem plötzlichen Austreiben von Blüten, Trieben und Blättern ist aufgehoben. Es geht nicht mehr um die Plötzlichkeit, sondern nur noch um die Gewissheit des Kommens der »Königsherrschaft Gottes«, die am Schluss zusätzlich zu Mk 13,29 genannt wird. Die Gewissheit der Weltvollendung soll allen Völkern zugesagt werden, unabhängig von ihren speziellen ökologischen und sozialen Erfahrungen. Die Feigenbaumparabel sollte zunächst in der Fassung von Mk 13,28 f. gelesen werden. Der Feigenbaum als »Lehrer« bleibt ein gelungener Appell, nicht nur für die Bewohner der Mittelmeerwelt, sondern auch für ihre Kenner in anderen Weltregionen. Gewissheit und Mahnung gehören zusammen. Der dreifache Appell (Lernen, Erkennen, Sehen) und der selbstverständliche, immer wiederkehrende Jahreszeitenwechsel sorgen für eine breite Rezeptionsmöglichkeit des Feigenbaumbildes. 371

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Parabeln im Markusevangelium

Der dreifache Appell »Sehen, Erkennen, Handeln« wird zum Leitprogramm der CAJ (Christliche Arbeiter-Jugend). Der heimische Baum wird zum Sinnbild des Volkscharakters. Gegenwärtig ist der 25. April der »Tag des Baumes«. Die »deutsche Eiche« beflügelte die Nationaldichtung und Denkmalkultur. Der »Tannenbaum« steigt seit dem Biedermeier zum Hauptsymbol der Weihnachtszeit für die ganze Welt auf. Das weltbekannte Volkslied »O Tannenbaum« von Ernst Anschütz (1824) paraphrasiert in der dritten und letzten Strophe die Parabel vom Feigenbaum: »O Tannenbaum, o Tannenbaum, dein Kleid will mich was lehren: die Hoffnung und Beständigkeit gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit! O Tannenbaum, o Tannenbaum, dein Kleid will mich was lehren.«

Mit Biedermeier-Perspektive wird der Tannenbaum zum ethischen Symbol für eine Hoffnung, die auf die Tugenden von Beständigkeit, Trost und Kraft ausgerichtet ist. Die eschatologische und universale Perspektive des Feigenbaums ist nur noch implizit gegeben. Strophe 1 richtet den Blick auf die immergrünen Blätter des Tannenbaums, die gegen den Schnee des Winters bis zum Sommer durchhalten, und Strophe 2 überträgt diese Symbolik auf die Weihnachtszeit. Weihnachten wird zum Symbol für innere Stärke und privates Glück. Die Außergewöhnlichkeit des Feigenbaums ist vom preiswerten Massenprodukt Tannenbaum abgelöst worden. Doch bleibt die eschatologische Botschaft unüberhörbar, jedem Weltbürger ein Weihnachtsfest mit einem eigenen »Tannenbaum«, sei er aus Naturholz, sei er aus Plastik, als Hoffnungssymbol zu ermöglichen, das an ihn appelliert, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen, um Beständigkeit, Trost und Kraft im Glauben an Jesus, den Weltenrichter, schon jetzt zu leben. Luthers berühmtes Wort, das er angeblich gesprochen hat: »So lasst uns denn einen Apfelbaum pflanzen; denn es ist soweit«, ist eine noch gelungenere Transformation des extravaganten Feigenbaums zum Apfelbaum für Gefilde nördlich der Alpen, ganz im Sinne von Lk 21,29. Der Apfelbaum als Lehrer schlägt ein neues Kapitel von Ökologie auf, mahnt unübersehbar an das nahe Ende dieser Zivilisation und stiftet zugleich Vertrauen auf die künftige Vollendung der in Jesus Christus angebrochenen Königsherrschaft Gottes. Gottfried Benn kommentiert diesen Zusammenhang in einem heiteren Gedicht: Gottfried Benn: Was meinte Luther mit dem Apfelbaum? Sämtliche Werke. Band II: Gedichte 2 (zitiert nach Vinçon 1996, 115) Was meinte Luther mit dem Apfelbaum? Mir ist es gleich – auch Untergang ist Traum – ich stehe hier in meinem Apfelgarten und kann den Untergang getrost erwarten – ich bin in Gott, der außerhalb der Welt noch manchen Trumpf in seinem Skatblatt hält – wenn morgen früh die Welt zu Bruche geht, ich bleibe ewig sein und sternestet –

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Wir sind schon wer Mk 13,28 f.

meinte er das, der alte Biedermann u. blickt noch einmal seine Käte an? Und trinkt noch einmal einen Humpen Bier u. schläft, bis es beginnt – frühmorgens vier? Dann war er wirklich ein sehr großer Mann, den man auch heute nur bewundern kann.

Detlev Dormeyer Literatur zum Weiterlesen U. Bail, Gespräche über Bäume. Überlegungen zum Gleichnis vom grünenden Feigenbaum – Markus 13,28-29, in: M. Crüsemann u. a. (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014, 185-189. G. Benn, Was meinte Luther mit dem Apfelbaum, in: H. Vinçon (Hg.), Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?, Stuttgart 1996, 115. D. Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993, 140-159. D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 2 2002, 177-185. E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen 7 1978, 13-57. U. Neumann-Gorsolke, Art. Feige, Feigenbaum, Calwer Bibellexikon I (2003), 350-351. H. C. Schnur, Fabeln der Antike: griechisch – lateinisch – deutsch, hg. u. übers. v. E. Keller, München/Zürich 2 1985, 7-34. B. Schwank, Vom Feigenbaum, E u A 72 (1996), 425-427. H. Vinçon (Hg.), Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?, literarische Lektionen von Hans Sachs bis Sarah Kirsch, Stuttgart 1996.

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Seid wachsam (Vom spät heimkehrenden Hausherrn) Mk 13,30-33.34-37 (Lk 12,35-38) (30) Amen, ich sage euch: Nicht mehr geht vorüber diese Generation, bis dieses alles geschieht. (31) Der Himmel und die Erde werden vorübergehen, meine Worte werden aber niemals vorübergehen. (32) Über jenen Tag aber oder die Stunde weiß keiner, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, außer dem Vater. (33) Seht, seid wachsam; denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. (34) Wie ein Mensch auf Reisen, zurücklassend sein Haus und gebend seinen Sklaven und Sklavinnen die Vollmacht, – jedem sein Werk – und dem Türhüter oder der Türhüterin gebot er, dass er oder sie wache: (35) Wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob spät oder zu Mitternacht oder beim Hahnenschrei oder in der Frühe, (36) damit er nicht, plötzlich kommend, finde euch schlafend. (37) Was ich aber euch sage, sage ich allen: Wachet!

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) V. 30-33 sind im Griechischen jeweils Einzelsätze. Es decken sich die griechischen Satzeinteilungen mit der späteren Verseinteilung. V. 34-36 bilden wie die Feigenbaumparabel im unmittelbar vorangehenden Kontext 13,28 f.) eine komplexe Hypotaxe. Es wird wie in V. 28 f. eine Parabel mit ihrer Anwendung erzählt. V. 37 deckt sich wieder mit dem griechischen Einzelsatz. Die Schlusskomposition V. 28-36 und die gesamte Rede V. 5-36 finden mit V. 37 ihren Abschluss. V. 30-33 stellen vier Sprüche zusammen: eine Prophezeiung (V. 30), zwei indikativische Gnomen (V. 31-32) und eine imperative Gnome (V. 33). Die beiden äußeren Worte umrahmen die beiden inneren Worte. Die beiden eingerahmten indikativischen

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Seid wachsam Mk 13,30-33.34-37

Gnomen bilden den semantischen Schwerpunkt. Es geht um die Unvergänglichkeit der Worte Jesu und um sein und der Engel Unwissen über den Zeitpunkt des Weltendes. Die einleitende Prophetie V. 30 hat die gewichtige Amen-Einleitung. Die Voraussagen der Feigenparabel Mk 13,28 f. und der vorhergehenden Rede werden sich ganz sicher innerhalb »dieser Generation« noch erfüllen. Da der irdische Jesus der Sprecher der Rede ist, kann Generation nicht eng im Sinne von 30 Jahren verstanden werden. Sie muss kollektiv gedehnt werden auf das Weitergehen der damaligen Menschheit. Deren Frist weiß nur der »Vater« (V. 32). V. 33 nimmt mit dem ersten Imperativ »seht« und mit seiner Begründung ebenfalls auf die Feigenbaumparabel Bezug. Kair@ (kairos) = »Augenblick« spielt auf den »Sommer« V. 28 an. Zugleich leitet der zweite Imperativ »wachet« auf die folgende Parabel von der nächtlichen Rückkehr des Hausherrn über. Die Verbindung von V. 33 zu V. 34 ist locker und künstlich (A. Weiser 1971, 131). Mit V. 34 beginnt eine eigenständige Erzählung. Der Wechsel von ⁄grupnffw (agrypneo¯; V. 33) zum synonymen grhgorffw (gre¯goreo¯; V. 34.35.37) für »wachen« unterstreicht die Trennung zwischen V. 33 und V. 34-37. 3Agrupnffw (agrypneo¯) ist singulär für das Mk-Ev, während grhgorffw (gre¯goreo¯) sechsmal gebraucht wird, dreimal in der Parabel und dreimal in der Passionsgeschichte, die ja unmittelbar nach 13,37 einsetzt. Wachsamkeit gilt besonders in der Verfolgungszeit, wie der Gebetskampf Jesu dreimal im Garten Getsemani vorführt (14,34.37.38) V. 34a leitet mit dem »Wie«-Anfang in klassischer Weise die folgende Parabel ein (vgl. Mk 4,26-31). »Mensch« (˝nqrwpo@ anthro¯pos) ist völlig unbestimmt. Das Adjektiv ⁄pdhmo@ (apode¯mos – »von seinem Stadtbezirk abwesend«) kennzeichnet den Zustand des Menschen. Er befindet sich unterwegs. V. 34 b-f bauen in elementarer Weise ein Erzähl-Ereignis, d. i. eine Sequenz, auf. Der »Mensch« lässt als Beginn der Abreise sein »Haus« zurück, übergibt als Aktionswechsel den Zurückbleibenden seine Vollmacht und entfaltet exemplarisch »Werk« und »Vollmacht« des »Türhüters« als auf das »Wachen« ausgerichteten neuen Zustand. Allerdings wird das Vergleichssubjekt nicht wie in Mk 4,26 genannt, sondern muss vom Leser mit Hilfe der rahmenden V. 33.35 erschlossen werden. Es geht um den Zeitpunkt der Vollendung der Welt durch Gott und um die Ankunft des »Herrn«. Der Hauptakteur »Mensch« soll vom Leser mit den theologischen Akteuren Gott und wiederkommendem Jesus korreliert werden. A. Weiser versucht hingegen, das »Wachen« des Sklaven mit dem Wachen der Gemeinde als Anfangskorrelation zu bestimmen (Weiser 1971, 133). Doch diese Korrelation erfolgt erst im Verlauf der Parabelhandlung. Entsprechend geht die »zweite Unebenheit …, dass man nach der Einleitung (V. 33) in der Parabel selbst (V. 34) als Subjekt … die wachenden Knechte erwarten würde«, allein auf das Konto von A. Weiser (1971, 133). Der Evangelist lenkt dagegen den Leser durch die Identifikation mit dem »Menschen« als Hauptfigur und den Sklaven/ Sklavinnen als Nebenfiguren. In V. 35 wird die Parabel nur bruchstückhaft zu Ende erzählt. Der Hausherr will zurückkommen, und zwar in einer Nacht. Er verlangt vom Türhüter, dass er und alle Sklaven bei der Ankunft nicht schlafen. Den neuen Zustand muss der Hörer ergänzen. Die Wachenden werden belohnt, die Schlafenden bestraft werden. Das Rollenkonzept ist deutlich erkennbar. Hauptfigur ist der Hausherr, Neben375

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figuren oder so genannte Helfer sind die Sklaven. Die Nebenfigur »Gegner« ist verdeckt. Es handelt sich um die Nacht, die zum Einschlafen verführt. Daher werden vier Weckzeiten als Ausgestaltung angehängt. Der Hausherr verlangt nichts Unmögliches. Der Türhüter muss dafür Sorge tragen, dass viermal in der Nacht sein Wachen überprüft werden kann. Dann lassen sich die Arbeit des Wachens und die Vollmacht zum Wachen, Wecken und Einlassen erfolgreich durchführen. Allerdings baut der Erzähler eine extravagante Forderung an das Hauspersonal auf. Sie müssen zu den vier Weckzeiten der Nacht mit der Rückkehr des Hausherrn rechnen »… als ob man von weiten Reisen gerade Nachts heimzukehren pflegte« (Jülicher II 2 1910, 169). Es wird ein Sonderfall konstruiert, den Jülicher mit dem o. g. Argument für »eine verunglückte Komposition« hält (Jülicher II 2 1910, 169). Es handelt sich aber bei der Parabel um eine individuelle Handlungsfolge, nicht um ein immer wiederkehrendes Handlungsmuster. Das Zurückkommen des Hausherrn in der Nacht ist mit Absicht ungewöhnlich. Die Sklaven und Sklavinnen erhalten auf ihr Werk bezogene individuelle Vollmachten. Mit diesen müssen sie sich bewähren. Es wird die Vollmacht nicht auf einen »Verwalter« (o§konmo@ oikonomos; Lk 12,42), sondern auf alle Sklaven übertragen. Die Parallelen des Mannes auf Reisen Mt 25,14 f.16-30; Lk 19,12 f.14-27, die eine gemeinsame Vorlage in Q haben, bilden noch deutlicher individuelle Einzelfälle aus. Während Mt 25,29 und Lk 19,26 eine allgemeine, indikativische Gnome anhängen, spricht die Anwendung Mk 13,35 f. wie Mk 13,28 f. die vier Jünger und über sie die Hörer direkt mit »ihr« an. Der Leser soll sich mit den Sklavinnen und Sklaven identifizieren, insbesondere mit dem Türhüter, doch der Hausherr bleibt der Hauptakteur. Die zusätzliche Identifikation mit ihm verleiht die Sicherheit, dass der erhöhte Jesus Christus auch feierlich zur Vollendung von Welt und Hauswesen kommen wird. Das Wachen wird ausdrücklich zum einleitenden Appell für V. 33.35 und 37. Der Schwerpunkt des Wachens ist für die Zuhörer sofort verständlich. Es geht um die vier dem Hörer bekannten Weckzeiten in der Nacht. Der Hausherr kann extravagant in der Nacht plötzlich kommen und den Türhüter und die Hörer schlafend vorfinden. Denn die Knechte, der Türhüter und die Hörer haben einen gemeinsamen Herrn und eine gemeinsame Nacht als Gegner. Daher kann der Schluss den Wach-Appell auf alle Hörer ausdehnen. Über die vier Jünger hinaus betrifft er alle, die das Mk-Ev. gehört haben, hören und hören werden. Der Herr aller realen und fiktiven Hörer wird die Wachsamkeit bei seinem Kommen belohnen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Das Bildfeld geht über das antike »Haus«. Der Hausherr gibt seine »Vollmacht« (¥xousffla exousia) über das Haus an seine Sklaven und Sklavinnen weiter. Anlass und Zeitraum für die Abwesenheit fehlen völlig. Auch der unscharfe Begriff »auf Reisen, vom Wohnbezirk weg« (⁄pdhmo@ apode¯mos) lässt keine konkrete Entfernungsvorstellung zu. Es kann sich um einen kurzen Besuch im Nachbarort, aber auch um einen langen Fernaufenthalt 376

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Seid wachsam Mk 13,30-33.34-37

handeln. Allerdings war in beiden Fällen eine Rückkehr bei Nacht ungewöhnlich. Landstraßen galten bei Nacht als ungesichert und gefährlich. Auch die Straßen und Gassen in der Stadt und auf dem Dorf waren ungeschützt. Gastmahle sollten daher vor Einbruch der Dunkelheit beendet werden (Weeber 2004, 253-261; Stein-Hölkeskamp 2005, 115131). Daher gab es in der Gemeinde von Korinth den Streit um die Anfangszeit des gemeinsamen Sättigungsmahls (1Kor 11). Ausnahmen waren selbstverständlich möglich wie die Abschiedseucharistiefeier des Paulus in Troas (Apg 20,7-12), die Symposien von Sokrates und anderen Philosophen (Plato symp.) und die Trinkgelage der wohlhabenden Jugend (Weeber 2004; Stein-Hölkeskamp 2005). Der Begriff »auf Reisen« deutet zwar nicht auf ein Gastmahl in der nahen Umgebung hin, das sich unüblich in die Nacht ausdehnt, schließt aber solch eine Lokalität nicht aus. »Auch wenn man lieber bei Tag als bei Nacht reist, ist es trotzdem denkbar, dass jemand, der auf der Heimkehr begriffen ist, nicht eine halbe oder viertel Tagesreise vor seinem Wohnort noch mal übernachtet, sondern zusieht, dass er noch in der gleichen Nacht heimkommt« (Michaelis 1956, 83.251 f.). Die Übertragung der einzelnen Vollmachten auf das Hauspersonal ist dann eine Selbstverständlichkeit, wenn kein Hausverwalter für die Zeit der Abwesenheit eingesetzt wird. Der Herr vertraut den einzelnen Personen, dass sie auch ohne eine stellvertretende Leitung ihre »Vollmacht« verantwortungsvoll wahrnehmen können. Das Amt »Türhüter/Türhüterin« verweist auf eine große Hausanlage. Die kleinen Wohninseln im galiläischen Kafarnaum oder die Würfelhäuser mit wenigen Zimmern und Lagerhöhlen in Nazaret bedurften keiner Türbewachung und ließen auch kein weiteres Hauspersonal außer einer Küchenhilfe zu. Der Eingang eines griechisch-römischen Hauses, dessen Typ auch die 70 n. Chr. verbrannten Priesterhäuser in Jerusalem prägte, führte durch einen schmalen Flur in das überdachte Atrium. Sowohl Männer als auch Frauen konnten das Amt des Türhüters ausüben. Dessen Machtfülle illustriert die farbige Erzählung von der Befreiung des Petrus Apg 12,6-19. Der befreite Petrus klopft an das Außentor des Hauses der Maria in Jerusalem. Die »Sklavin« Rhode kommt als Türhüterin, öffnet aber nicht, sondern organisiert zunächst einen feierlichen Empfangszug. Wann und wie Hausbesitzerin oder Gast empfangen werden, regelt die Türhüterin. Die vier Zeitpunkte der Nachtwache entsprechen dem römischen Militärbrauch. Die Nacht beginnt um 21.00 Uhr, der Hahnenschrei wird um 03.00 Uhr morgens angesetzt. Die Frühe entspricht 06.00 Uhr morgens. Die militärische Nachtwache war nach den schriftlichen Quellen ein riskantes Unternehmen. Ein Soldat, der auf der Nachtwache einschlief, war des Todes schuldig (Apg 12,20-23; Mt 27,62-66; 28,1-15). Ob tatsächlich jedes Einschlafen mit dem Tode bestraft oder mit leichteren Strafen geahndet wurde (Gebhardt 1994, 50 f.), kann offenbleiben. Denn die griechisch-römische Geschichtsschreibung und Erzählliteratur bevorzugte parteiisch harte Anekdoten zur Hebung der Manneszucht und Lobpreisung oder Satire der eigenen Tüchtigkeit. Petronius schiebt in seinen Roman »Satyricon« die Novelle »Die Witwe von Ephesus« ein (Petron. 111-113). Ein Soldat, der einen Gekreuzigten in der Nähe eines Grabmals bewacht, verliebt sich in eine dort trauernde Witwe und verlässt seinen Wachposten. Der Gekreuzigte wird von seinen Verwandten gestohlen und der Soldat »fürchtet sich vor der Todesstrafe« (Petron. 112). 377

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Parabeln im Markusevangelium

Ein Türhüter musste für den Fall des Einschlafens nicht mit der Todesstrafe rechnen, konnte sie aber auch nicht ausschließen, da der Hausherr bis zur Hadrianszeit das uneingeschränkte Strafrecht über seine Sklaven besaß. Theologisch greift wie bei der Feigenbaumparabel, dass nur der Wachsame und Erkennende zu den »Auserwählten« V. 24-27 gehören wird. Den Schläfer trifft das militärische Todesurteil. Zugleich wird die Parabel um »jedes Werk« (˛rgon ergon; V. 34) erweitert. Das Verb ¥rg€zomai (ergazomai – arbeiten) meint jede Form von Handarbeit und Arbeit. Jeder, der mit Energie die Umwandlung von Masse in Produkte bewirkt, arbeitet mit der »Vollmacht« der angebrochenen Königsherrschaft Gottes und trägt Verantwortung für sein »Wirken« (Dormeyer/Siegert/de Vos 2006).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) »Vollmacht« (¥xousffla exousia) ist im Mk-Ev. theologisch hoch aufgeladen. Jesus lehrt mit einer neuen Vollmacht (1,27). Sie fehlt den Schriftgelehrten (1,22). Er besitzt die Vollmacht des Menschensohnes zur Sündenvergebung (2,10) und zur Tempelreinigung und allen weiteren Handlungen der angebrochenen Königsherrschaft Gottes (11,28(2). 29.33). Diese Vollmacht gibt er an den Zwölferkreis weiter (3,15; 6,7) und erweitert am Schluss den Kreis der Zwölf um alle Hörer (13,37) (Scholtissek 1992, 266-275). In der antiken Popularethik bezeichnet das Haus die Welt: »Es fragte ihn, Epiktet, einmal einer seiner Schüler, der Sympathie für den Kynismus zu haben schien, welcher Art von Mensch der Kyniker sein müsse und was die Grundlage seiner Lehre sei. Darauf erwiderte Epiktet: Lass uns die Sache in Ruhe untersuchen. So viel aber kann ich dir vorweg sagen, dass der Mann, der sich ohne Gottes Hilfe an eine solche Sache heranwagt, ein Gottesverhasster ist und sich nur öffentlich blamieren will. Denn auch in einem wohlgeordneten Haushalt kommt keiner so einfach daher und sagt zu sich selbst: ›Hier muss ich Hausherr sein.‹ Täte er das aber doch, so würde ihn der echte Herr des Hauses, wenn er sich umdrehte und sähe, wie ein Hergelaufener in überheblichem Ton Anweisungen erteilte, einfach packen und verhauen lassen. So geht es einem auch in diesem großen Staat, der Welt. Denn auch hier gibt es einen Hausherrn, der alles anordnet« (Epict. diss. 3,22,1 ff.). Zu dieser Parabel von der Haus- und Weltherrschaft des göttlichen Prinzips passen Jesu Parabeln vom mit der Aufsicht betrauten Knecht (Lk 12,42-46; Mt 24,4551), vom Türhüter (Mk 13,33-37 par.), vom Hausherrn und Dieb (Lk 12,39 f.; Mt 24,43 f.), vom Sklaven (Lk 17,7-10), von den ungleichen Söhnen (Mt 21,28-32; Flusser 1981, 148 f.), vom Schalksknecht (Mt 18, 23-35), von den anvertrauten Geldern (Mt 25,14-30; Lk 19,11-27) und vom ungerechten Haushalter (Lk 16,1-8). Gegenüber dem Ordnungsdenken Epiktets stellen die Parabeln Jesu allerdings die unmittelbare Nähe und das plötzliche Sich Vollenden der alles verändernden Gottherrschaft heraus. Auch der Kaiser versteht sich als der pater patriae, als der Hausverwalter des Vaterlandes. Doch nicht nur von Senat und Volk (senatus populusque) leitet sich das Imperium des Kaisers ab, sondern auch von der Vollmacht Jesu als dem Verkünder der Gottesherrschaft über die Welt. Während der Kaiser und die Imperiumträger (Archonten) die Völker unterdrücken (Mk 10,42) und damit ihre Aufgabe nicht vorbildlich ausführen, 378

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soll der Christ durch den Dienst herrschen (Mk 10,43-45) und wie »der Türhüter wachsam sein« (Mk 13,34-36). Lk 12,35-38 (die wachenden Sklaven) ist abhängig von Mk 13,34-36, während Lk 12,42-46/Mt 24,45-51 (der treue und der treulose Sklave) und Lk 19,12-27/Mt 25,14-30 (das anvertraute Geld) unabhängige Vorlagen im Spruchevangelium Q haben. Die Motive vom Aufbruch des Hausherrn und von seiner unbestimmten Rückkehr sind also breit bezeugt. Sie sind mit dem atl. Motiv vom Weinbergbesitzer, der einen Weinberg anlegt und ihn bis zur Zeit der Ernte verlässt, eng verwandt (Jes 5,1-2). Die Überprüfung der Ernte sowie die Kontrolle des zurückgelassenen Hauspersonals symbolisieren das Gericht Jahwes. Das Bild vom aufbrechenden und rückkehrenden Hausherrn passt daher zu Jesu Verkündigung von der angebrochenen und sich überraschend bald vollendenden Königsherrschaft Gottes. Weder zieht zwar aus den angeblichen Widersprüchen den Schluss: »dass hier zwei verschiedene Motive miteinander vermengt worden sind: das Motiv von einem spät des Nachts heimkehrenden Herrn auf der einen Seite (V. 33.34b. 35 f.; dieses liegt auch der Lk-Version zugrunde) und das Motiv von einem lange Zeit abwesenden Herrn auf der anderen Seite (V. 34a)« (Weder 4 1990,163). Beide Motive lassen sich zwar auf den vorösterlichen Jesus zurückführen, allerdings nur in voneinander getrennter Tradierung; ihre hier vorliegende Kombination ist aber »eine Re-Apokalyptisierung eines ursprünglich auf den Anspruch des Reiches Gottes zielenden (Jesus-) Gleichnisses« (Weder 4 1990, 164). Doch kann solch ein hypothetisches, nachösterliches Zwischenstadium überzeugen? Besaß nicht Jesus bereits die Fähigkeit, das Motiv von seinem eigenen Anspruch und kurzer oder langer Wartezeit mit dem der angebrochenen Königsherrschaft Gottes zu verknüpfen? Ob auf Jesus alle drei Parabelerzählungen vom wachsamen Türhüter, vom gewalttätigen Hausverwalter und vom Minen/Talente verteilenden Hausherrn zurückgehen, bleibt daher umstritten. Doch es passt durchaus zur Parabelverkündigung Jesu, dass er alle drei Varianten selbst erzählt hat. Sie legen ja sehr deutlich auf sehr verschiedene Handlungsweisen Gewicht, und auch die Kombination der Motive miteinander ist ihm zuzutrauen. Die eigene Arbeit wachsam im Hinblick auf die plötzliche Vollendung der Königsherrschaft Gottes auszuüben, gehört zum Kernbestand der Weisheitsworte und weiterer Parabeln Jesu (Mt 6,19-34/Lk 12,22-31.39 f.). Allerdings ist die Stellung Jesu zum »Haus« nach den Evangelien ambivalent. Jesus besitzt kein Haus, sondern zieht als »unbehauster« Wanderlehrer durch Palästina (Mk 1,16-14,52; Q Lk 9,57-58). Seine Jünger fordert er zum Verlassen des Hauses auf (Mk 10,28-31 parr.; Q Lk 9,59-62). Das »Haus« (o ko@/o§kffla [oikos/oikia]) umfasst nicht nur das Gebäude, sondern die Kern-Familie, die Groß-Familie und alle im Haushalt Beschäftigten (Mk 3,25 (2); 6,4). Entsprechend verlangt Jesus von sich selbst und seinen Jüngern den Bruch mit der Kern-Familie, der Groß-Familie und dem Dienstpersonal. Die Familie Jesu tritt erst nach Jesu öffentlichem Wirken in Kafarnaum und in ganz Galiläa in Erscheinung. Auffallend ist, dass bei ihrem ersten Auftritt in Mk 3,20 f. die Mitglieder anonym bleiben und sich in feindlicher Absicht Jesus nähern (Gnilka 5 1998, 231 f.). Die Abweisung der leiblichen Familie: »Wer ist meine Mutter und sind meine Brüder?« Mk 3,33 ist vorbereitet. Mit dem Verfahren der Inversion ist das Streitgespräch um die charismatische Wundervollmacht Jesu (Mk 3,22-30) in diese Begegnung eingebettet (Pesch 5 1989, 221): Die Familie ist mit den gegnerischen Schriftgelehr379

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Parabeln im Markusevangelium

ten, die von Jerusalem herabkommen, auf eine Ebene gestellt. Entsprechend gilt die gnomische Feststellung, dass der Zerfall des »Hauses« zu dessen Untergang führt, bereits für die Familie Jesu (Mk 3,25). Die abschließende Identifikation der gläubigen Hörer Jesu als Mutter und Brüder (Mk 3,31-35) ist keine Ersetzung der biographischen Familie, sondern eine metaphorische Erweiterung. In der Gottesherrschaft wird allen Menschen das Vertrauen und die Unbedingtheit der Beziehung zugesprochen, die in der familialen und häuslichen Sozialisation erfahren wurde. Die Metaphorisierung der familialen Positionen baut produktiv ein neues Bildfeld auf, die gesellschaftlichen Beziehungen von der Gottesherrschaft her zu verstehen (Gnilka 5 1998, 147). Aus dieser »Umkehrung« des Verstehens entstehen die neuen Handlungsmöglichkeiten, dem Willen Gottes gemäß dem anderen zum Bruder, zur Schwester, zur Mutter zu werden und die Häuser für die Besitzlosen zu öffnen (Mk 10,30). Die Metaphorisierung von Familie und Haus ist die Antwort Jesu auf die Herrschaftsansprüche der biographischen Familie. Die familiale und häusliche Prägung kann nur durch eine antithetische Entscheidung für die Gottesherrschaft durchbrochen werden. Die Metaphorik sichert aber das Weiterbestehen der Verantwortung für die biographische Familie trotz des Unverständnisses, das sich aufgrund der Verkündigung der Gottesherrschaft ergibt und sich bis zur apokalyptischen Feindschaft steigert (Pesch 1968, 133 ff.). Die biographische Familie und das Haus verbleiben bis zum Schluss (Mk 16,8) in der antithetischen Entscheidungssituation. Die Antithetik wird durch die Metaphorik zu einem offenen Entscheidungsprozess verflüssigt, der bis zur Vollendung des Eschaton anhält. Erst dann wird entschieden sein, ob Familie, Volk, Jünger und Gegner im totalen Unverständnis ohne Glauben verblieben sind oder ob sie den Glauben an den Anbruch der Gottesherrschaft in Jesus gegen alles Unverständnis gewagt haben (Mk 13,14-37). Zugleich entschärft die Metaphorik die radikale, lokale Trennung von der Familie und dem Haus bei der Jüngerberufung zu einer Grundeinstellung. Die neue Familie Jesu weiß sich von der biographischen Familie zu lösen und sich mit ihren Häusern den anderen Christen zu öffnen, ohne die Wanderexistenz Jesu und seines Zwölferkreises zu übernehmen (Dormeyer 1989, 116.123). Die Mitglieder des neuen »Hauses« Jesu müssen ihre unterschiedlichen Vollmachten kompetenzgerecht koordinieren, sonst fällt auch dieses neue Haus zusammen.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel wird allgemein zu den so genannten »Parusiegleichnissen« gerechnet. Jesus sagt seine baldige Wiederkunft zum Weltgericht voraus. Doch hat Jesus sich selbst als den zum Gericht kommenden Menschensohn verkündet? Wie bei der Feigenbaumparabel kommt hier die komplexe Diskussion um den Hoheitstitel Menschensohn ins Spiel (s. o. Mk 13,28-29). Jesus steht mit dem zum Gericht kommenden Menschensohn in einmaliger, exklusiver Beziehung (Q Lk 12,8). Beim kommenden Weltgericht werden der Menschensohn und der erhöhte Jesus Christus zu einer Einheit verschmelzen. Der Menschensohn Jesus Christus wird alle Formen der »Vollmacht« in der angebrochenen Königsherrschaft Gottes bestätigen, wenn sie »wachsam« ausgeübt wurden. 380

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Da diese Parabel das öffentliche Wirken Jesu abschließt, bringt der nochmalige Durchblick durch das Mk-Ev. eine breite Fülle von Vollmachts-Realisierungen im »Hause« zu Tage (Dormeyer 1989, 119-122). In der vollendeten Königsherrschaft Gottes wird die erneuerte Schöpfung ein »Haus« mit unerschütterbarem Fundament (Mt 7,24-27) und mit unendlich vielen Vollmachten sein (Joh 14,2).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die nachösterliche Gemeinde trifft sich zwar in »Häusern« von Mitgliedern (Röm 16,5; Apg 2,24), bezeichnet sich aber nicht selbst außer in den späteren Briefen (1Tim 3,15; Hebr 3,2 u. ö.) als »Haus Gottes / Jesu Christi«. Dieser Titel wäre zu sehr vom antiken, familialen Clan- und Sippendenken beherrscht gewesen. Wohl versteht sich die Gemeinde als Tempel Gottes (1Kor 3,16 f. u. ö.), den dann die späten Briefe mit dem »Haus« gleichsetzen. In der Spätantike entstehen ab den Toleranz-Edikten von Galerius (311) und Konstantin (313) prachtvolle Kirchengebäude. Sie erhalten den Titel »Gotteshaus«, den in der Bibel der Tempel in Jerusalem trägt. Entsprechend stellen sich die Bild-Feld-Assoziation von der Pfarrgemeinde als die zum Gotteshaus zugehörige Groß-Familie mit patriarchaler Leitung ein. Theologisch wird von der »Heils-Ökonomie« für die gesamte Kirche und die Einzelkirchen in Anlehnung an Eph 1,10 gesprochen. Die Ambivalenz von Jesu Handeln mit den »Häusern« wird weitgehend übersehen. Sie muss aber wiederentdeckt werden, um die Spaltungen in den Kirchen, Pfarreien und Familien als unvermeidbare Gegebenheiten der »Wehen der Endzeit« anzuerkennen und zugleich in der Gewissheit auf das vollendende Wiederkommen des Menschensohnes Jesus Christus an deren Versöhnung zu arbeiten.

Detlev Dormeyer Literatur zum Weiterlesen D. Dormeyer, Die Familie Jesu und der Sohn der Maria im Markusevangelium (3,20 f.,3135;6,3), in: H. Frankemölle/K. Kertelge (Hg.), Vom Christentum zu Jesus, FS J. Gnilka, Freiburg 1989, 109-136. D. Dormeyer/F. Siegert/J. C. de Vos (Hg.), Arbeit in der Antike, in Judentum und Christentum, MJ St 20, Münster 2006. K. Erlemann, Gleichnisdiskurs vom Türhüter (Mk 13,33-37), in: ders., Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB.W 2093, Tübingen u. a. 1999, 251-259. D. Flusser, Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, I. Teil: Das Wesen der Gleichnisse, Bern u. a. 1981. P. Galbreath, Mark 13:24-37, Interp. 62 (2008), 422-424. J. Gebhardt, Prügelstrafe und Züchtigungsrecht im Alten Rom und in der Gegenwart, Köln u. a. 1994. W. Michaelis, Gleichnisse Jesu, Hamburg 1956, 81-87. R. Pesch, Naherwartungen. Tradition und Redaktion in Mk 13, Düsseldorf 1968, 131-203.

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Parabeln im Markusevangelium

K. Scherberich (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 9-52. K. Scholtissek, Die Vollmacht Jesu, NTA.NF 25, Münster 1992, 266-275. E. Stein-Hölkeskamp, Das römische Gastmahl, München 2005, 115-131. K. W. Weeber, Nachtleben im alten Rom, Darmstadt 2004, 253-261. A. Weiser, Die Knechtgleichnisse der synoptischen Evangelien, StANT 29, München 1971, 131-161. K. Wengst, Nicht schläfrig, sondern hellwach! Markus 13,33-37, in: M. Crüsemann u. a. (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014, 285-294.

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III. Parabeln im Matthäusevangelium

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Einleitung Zum Bild vom Gleichniserzähler Jesus, das die Evangelien zeichnen, hat Matthäus vieles beigetragen. Zwar gilt er nicht als der Erzähler wie Lukas. Und etliche der berühmtesten Parabeln – wie jene vom verlorenen Sohn oder vom barmherzigen Samariter – kennt das Evangelium nicht. Doch muss Matthäus weder bei der Zahl der Parabeln hinter Lukas zurückstehen noch fehlt es dem Gleichniserzähler Jesus im Matthäusevangelium an eigenem Profil. Dies deutlich zu machen, ist das Ziel der folgenden Seiten. Das Kompendium der Gleichnisse Jesu bespricht 51 Texte des Matthäusevangeliums. Viele sind schon in den Kapiteln zu Q und Markus behandelt worden. Es stehen noch jene aus, zu denen es keine synoptischen Parallelen gibt. Sie sind (mit einer Ausnahme: EvThom 22 par. Mt 18,3) im Anschluss zu finden. Die Überlegungen dieser Einleitung gelten aber nicht nur diesen Letztgenannten. Es soll ein Überblick zu den Parabeln des Matthäusevangeliums insgesamt gegeben werden (zum Folgenden Münch 2004).

Parabeln als Gattung im Matthäusevangelium Die Evangelist Matthäus zeigt ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Gattung der Parabeln; er erkennt und behandelt sie als eine besondere Form der Verkündigung Jesu. Geht man zunächst vom Begriff aus, so werden vor allem die Erzählungen Jesu in Mt 13,1-52 und 21,28 – 22,14 als »Parabeln« bezeichnet (Mt 13,3.10.13.18.24.31.33.34.35.36.53; 21, 33.45; 22,1 vgl. außerdem Mt 15,15; 24,32). Die Verwendung berührt sich in wichtigen Punkten mit dem im Kompendium verwendeten Gleichnisbegriff. Fast alle so bezeichneten Texte sind kleine Erzählungen, deren Deutung auf metaphorischen Prozessen beruht. Man wird allerdings kaum davon ausgehen dürfen, dass im Sinne des Matthäus nur die ausdrücklich so genannten Texte als Parabeln zu gelten haben. Zu deutlich ähneln sie weiteren Texten, die im Evangelium nicht dieses Etikett tragen. Der Evangelist setzt mit dem Terminus vielmehr ein Signal und nennt Gleichnisse besonders häufig dann explizit parabolaffl (parabolai – Parabeln), wenn es im Zusammenhang um das nicht selbstverständliche Verstehen oder um die Deutungsbedürftigkeit dieser Redeform geht (vgl. Mt 13,10-14; 13,51; 15,15; 24,33). Das Gattungsbewusstsein des Matthäus wird aber nicht nur an seiner Verwendung des Begriffs parabolffi (parabole¯ – Parabel) sichtbar. Es zeigt sich vor allem im markanten Formprofil dieser Textsorte im Evangelium.

Form und Sinnbildung der matthäischen Parabeln Gleichnisse und Kontext Die Parabeln sind eine Form des Lehrens Jesu (zur kontextsensiblen und leserorientierten Lektüre der matthäischen Parabeln bes. Carter/Heil 1998). Ihre Adressaten sind die Jünger, die Volksmenge, Pharisäer, Schriftgelehrte und Hohepriester, d. h. im Wesentlichen alle Hörergruppen Jesu. Als Form der Lehre sind die Parabeln in größere Redeeinheiten eingebunden und durch Stichwortbrücken, Wiederholungen sowie durch die Parabelein385

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Parabeln im Matthäusevangelium

leitungen und -schlüsse mit diesem Kontext verbunden. Häufig stehen Parabeln am Ende von Reden oder Redeabschnitten (z. B. Mt 7,24-27; 11,16-19; 13,52; 18,23-35; vgl. auch 12,43-45; 20,1-16). In dieser Position erfüllen sie unterschiedliche Funktionen: Sie sollen zum Handeln motivieren, Forderungen begründen, das Verständnis vorausgehender Aussagen vertiefen u. a. Daneben zeigt Matthäus eine ausgesprochene Neigung, Parabelkompositionen zu schaffen. Das ist auch bei kurzen Gleichnissen zu beobachten (Mt 5,13-16; 9,15-17; 15,13 f.), fällt aber besonders bei den langen Parabelreden in Mt 13,1-52, Mt 21,32 – 22,14 und Mt 24,42 – 25,30 auf. Hier werden Parabeln zusammengestellt und durch ihre Rahmungen, mit Stichwortbrücken, durch Strukturentsprechungen, parallele Formulierungen, ähnliche Szenen, Personenkonstellationen und Handlungsabläufe oder gleiche Milieus intensiv aufeinander bezogen. Die Auswahl und Anordnung der Parabeln ist dabei nicht beliebig. Vielmehr zeigt sich immer wieder, dass der Evangelist in den »Gleichnisreden« bestimmte Themen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet oder einen fortschreitenden Gedankengang entwickelt. Mt 13,1-52 nimmt die Gottesherrschaft, den Erfolg und Misserfolg ihrer Verkündigung und ihre Wirklichkeit in der Welt in den Blick. Mt 21,28 – 22,14 entwickelt einen Gedankengang, der wahrscheinlich – die Deutung dieser Parabelkomposition ist sehr umstritten – von der Reaktion auf das Auftreten des Täufers Johannes (Mt 21,28-32) über Annahme und Ablehnung Jesu (Mt 21,33-46) bis hin zur christlichen Gemeinde reicht, die als »Antwort« auf diese Ablehnung hin entsteht (Mt 22,1-14). Mt 24,42 – 25,30 schließlich behandelt die Frage, wie im Sinne des Matthäus christliche Lebensführung in der begrenzten Zeit bis zur Parusie des Menschensohnes aussehen soll und worauf es angesichts des kommenden endzeitlichen Gerichtes besonders ankommt. Die jeweiligen Themen dieser Blöcke sind auf den Stand der Jesusgeschichte im Evangelium abgestimmt. Den Hintergrund von Kapitel 13 bildet die Verkündigung des Gottesreiches durch Jesus in Wort und Tat; Folie des zweiten Blocks ist der sich zuspitzende Konflikt zwischen Jesus und den religiösen Führern des Volkes Israel; und die letzte Parabelkomposition hat der Evangelist in die Rede über die Endzeit und das kommende Gericht des Menschensohnes eingebettet (vgl. U. Luz 3 1999, 370 f.).

Gleichniseinleitungen Auch die einzelnen Parabeln für sich weisen charakteristische Merkmale auf (dazu auch M. D. Goulder 1968). Sehr häufig haben matthäische Parabeln eine Art von Einleitung und beginnen mit einer Gleichnisformel der Art »XY gleicht einem …« (z. B. Mt 7,24; 11,16; 18,23; 20,1; 22,2; 25,1 sowie in Kap. 13), mit einer Frage, die ein Urteil zur Geschichte erbittet (Mt 18,12; 21,28; 24,45), oder mit einem Imperativ, der zum Hören, Verstehen und Lernen auffordert (Mt 15,10; 21,33; 24,32.43; vgl. 13,3). Unter den Gleichnisformeln sind besonders diejenigen markant, die das Himmelreich (basileffla tn o'rann basileia to¯n ourano¯n) als Bezugsgröße der Parabel nennen. Sie springen als feste, regelmäßig wiederkehrende Formeln zur Einleitung der Parabeln ins Auge. Alle drei Formen der Parabeleinleitung lenken die Aufmerksamkeit auf das Verstehen des nachfolgenden Textes – durch den Hinweis auf das »Gleichen«, durch eine Frage oder einen entsprechenden Imperativ. Ein besonderer Verstehensakt ist erforderlich, so wird signalisiert (vgl. Mt 13,9). Darüber hinaus geben die Gleichnisformeln erste thematische Hinweise für das Verständnis der Parabeln (z. B. Mt 7,24: »Jeder, der meine Worte hört 386

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Einleitung

und sie tut, gleicht …«). Speziell die Himmelreichformeln sind zwar so stereotyp, dass vor allem das Signal gesetzt wird: »Achtung, eine Parabel!«. Es ist aber auch hier die Themenangabe ernst zu nehmen. Die Parabeln sind im Matthäusevangelium die wichtigste Form, in der Jesus seine Zuhörerinnen und Zuhörer über das Himmelreich belehrt.

Handlungsmuster und Personenkonstellationen Die Gleichniserzählungen selbst zeigen Handlungsmuster und Personenkonstellationen, die häufig bei den synoptischen Parabeln zu beobachten sind (vgl. W. Harnisch 4 2001, 2641.71-84). Besonders typisch für Matthäus sind eine auf den Kontrast ausgelegte Gegenüberstellung von Personen oder Gruppen sowie Erzählungen, die auf eine Abrechnungsoder Rechenschaftsszene zulaufen. Insgesamt ist die matthäische Erzählweise formelhaft, nicht nur in solchen Strukturen, sondern auch in den Formulierungen. Der Evangelist liebt Gegensatzpaare mit Adjektiven wie gut – schlecht, gut – böse, klug – töricht o. Ä. (Mt 7,17-19.24.26; 13,48; 22,10; 24,46.48; 25,1 ff.; 25,21.23.26 u. a.). Mehrfach begegnen die Formeln »dort wird Heulen und Zähneknirschen sein« (Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30) und »äußerste Finsternis« (Mt 8,12; 22,13; 25,30) – zum Teil miteinander verbunden. Bestimmte Verben häufen sich in den Parabeln. Dazu gehören Worte wie »sammeln« oder »(hinaus)werfen«, besonders aber Wendungen, die eine Form physischer Schädigung zum Ausdruck bringen wie umhauen, zertreten, verbrennen, ausreißen, binden, den Folterknechten übergeben, vernichten, entzweischneiden u. a.

Formelsprache Die Formelhaftigkeit und Konventionalisierung der Erzählsprache ist auch ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der matthäischen Parabeln (dazu auch Luz 3 1999, 368370). Es zeigt sich, dass viele, gerade wiederholt vorkommende Strukturelemente, Begriffe und Formulierungen der Erzählungen für Matthäus mit relativ festen thematischen Assoziationen besetzt sind und als Transfersignale fungieren. Bei etlichen v. a. längeren Parabeln stellt der Evangelist mit ihrer Hilfe einen Bezug zwischen der Gleichniserzählung und einer »Sache« her, auf die hin er die Parabel deutet – zum Beispiel die Ablehnung der Verkündigung Jesu (Mt 21,33-42) oder das menschliche Leben angesichts des kommenden Gerichts (Mt 24,42 – 25,30). Es entsteht ein Wechselspiel, in dem die Parabel vor den Hintergrund eines bestimmten thematischen Zusammenhangs gestellt wird und ihrerseits – durch die Gleichniserzählung, ihre Dramatik und ihre Pointe – diesen Hintergrund in ein bestimmtes Licht rückt resp. ihn durch die »Brille« der Erzählung hindurch wahrnehmen lässt.

Gleichnisschlüsse Häufig – allerdings nicht immer – verfügen matthäische Parabeln auch über Gleichnisschlüsse, d. h. den Parabeln nachgeordnete, auf sie bezogene, kürzere oder längere Äußerungen des Gleichniserzählers Jesus. Ihre Form ist nicht so regelmäßig wie die der Gleichniseinleitungen. Die Gleichnisschlüsse sind durch Konjunktionen mit der Parabel verbunden, die signalisieren: Hier werden Analogieschlüsse vollzogen (z. B. mit o tw@ [houto¯s – so]), Folgerungen gezogen (z. B. mit diÞ to‰to [dia touto – deshalb]) oder 387

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Parabeln im Matthäusevangelium

Erläuterungen gegeben (g€r [gar – denn]). In einigen Fällen wird von den Jüngern nach einer Deutung oder Erklärung der Parabel gefragt (vgl. 13,36; 15,15; vgl. 13,10). Die Mehrheit der Gleichnisschlüsse sind Mahnungen oder Belehrungen mit deutlich mahnendem Unterton – grammatisch kenntlich als Imperativ- oder futurische Indikativ-Formen (z. B. Mt 5,16; 12,45; 13,49; 18,35; 21,43; 24,33.37; 25,13). Hier spiegelt sich die paränetische Grundausrichtung vieler matthäischer Parabeln (s. u.). Eine zweite Gruppe bilden allgemein formulierte, spruchartige Sätze (Mt 20,16; 22,14; vgl. 25,29). Sie sollen offenbar an allgemeingültige oder aus anderen Zusammenhängen bekannte Erfahrungen erinnern, damit diese für die Deutung der Parabel fruchtbar werden. Zwei von ihnen sind zudem auch in anderen Zusammenhängen als Jesuswort zitiert, was ihnen zusätzlich Autorität verleiht (Mt 20,16: Mt 19,30; Lk 13,30; Mt 25,29: Mt 13,12; Mk 4,25). Eine dritte Gruppe schließlich bezieht die Parabel auf gegenwärtige oder zukünftige Ereignisse – zum Beispiel auf die Tatsache, dass Jesus und Johannes der Täufer trotz ihres unterschiedlichen Auftretens beide auf die Ablehnung ihrer Zeitgenossen gestoßen sind (Mt 11,18 f.; vgl. außerdem 12,45; 13,18-23.37-43.49 f.; 21,31 f.42-44). Bei diesen Texten zeigt sich ein ähnlicher Mechanismus wie bei den konventionalisierten und formelhaften Elementen der Erzählungen: Es werden punktuelle Entsprechungen zwischen der Gleichniserzählung und einer Deuteebene erkennbar (besonders deutlich in 13,18-23.37-43), so dass ein Wechselspiel zwischen beiden in Gang kommt.

Theologische Grundlinien der matthäischen Parabeln Ohne die Auslegung einzelner Texte ersetzen zu wollen und ohne sie alle auf einen einheitlichen Sinn zu fixieren, lassen sich doch theologische Grundlinien der matthäischen Parabeln aufzeigen (vgl. Luz 3 1999, 371-375; Donahue 1988, 199-203).

(Heils-)Geschichte Parabeln sind zunächst eine wesentliche Form des matthäischen Jesus, um von der Geschichte Gottes mit den Menschen und von der Gottesherrschaft zu reden. Er thematisiert in ihnen das Handeln Gottes an seinem Volk und v. a. sein eigenes Wirken in Israel (Mt 11,16-19; 12,43-45; 21,28-32; 21,33-43), aus Sicht der Leserinnen und Leser also die zurückliegende (Heils-)Geschichte. Daneben sind aber auch das gegenwärtige Leben der christlichen Gemeinde (Mt 18,23-35; vgl. 22,1-14) und das kommende Gericht des Menschensohnes (Mt 24,42 – 25,30) im Blick. Mt 13,1-52 ist – nach markinischem Vorbild (Mk 4,1-34) – als große Rede über das Himmelreich konzipiert. »So öffnen die Gleichnisse den Jüngern die Perspektive über den jeweiligen Standort hinaus und lassen sie immer wieder den Sinn und das Ziel der ganzen Geschichte erkennen. Sie funktionieren in der matthäischen Geschichte als Einblendungen, die den Leser/innen deutlich machen, wo sie stehen und wohin der Wagen fährt« (Luz 3 1999, 372).

Paränese Die matthäischen Parabeln haben daneben eine stark ethische Ausrichtung. Etliche sind direkt in paränetische Kontexte eingebunden und schärfen die Weisungen Jesu ein, ver388

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Einleitung

deutlichen oder illustrieren sie (neben den zahlreichen kürzeren Parabeln in der Bergpredigt [Mt 5-7] zum Beispiel Mt 18,12-14; 18,23-35 oder 20,1-16). Aber auch die zuvor genannten »heilsgeschichtlichen« Parabeln beinhalten fast immer eine Mahnung zu richtigem Handeln (vgl. nur Mt 13,18-23; 22,11-14 oder 24,42 – 25,30). Der ethischen Ausrichtung entsprechen Formmerkmale wie die Vorliebe für auf Gegensätze auslegte Personenkonstellationen, in der die Figuren als Handlungsmuster dienen, wie die antithetischen, wertenden Adjektivpaare gut/böse, klug/töricht etc. oder wie die mahnenden Gleichnisschlüsse.

Gericht Beides findet zusammen im hohen Stellenwert, den das Gericht in matthäischen Parabeln hat. Auf der einen Seite ist es Teil der Durchsetzung und Vollendung des Himmelreiches. Davon spricht Matthäus vorwiegend in Form von Parabeln. Auf der anderen Seite ist der Verweis auf das Gericht ein – vor allem in den Parabeln eingesetztes – wesentliches Motivationsmittel der matthäischen Ethik. Trotz dieses starken Akzentes besteht die in den Parabeln entwickelte Motivierung zum richtigen Handeln allerdings keineswegs nur aus Gerichtsdrohung. Die matthäischen Parabeln sind immer wieder und grundlegend die »gute Nachricht«, zeigen das Himmelreich als Gabe und Schatz (Mt 13,1-52; 25,14-30), die Barmherzigkeit Gottes (Mt 18,23-35; 20,1-16), sein »Suchen« und Werben um die Menschen (Mt 18,12-14; 21,28 – 22,14), seinen Willen, das Himmelreich auch gegen Widerstände zum Guten der Menschen durchzusetzen (Mt 21,33 – 22,14; 25,1-13).

Gleichnisse verstehen Parabeln sind bei Matthäus deutungsbedürftige Rede. Der Schlüssel zu ihnen ist letztlich ihr Erzähler selbst: Jesus. Die Parabeln reden immer wieder von ihm und seiner einzigartigen Rolle in der Geschichte Gottes mit den Menschen. Wer sich ihm verweigert, dem bleiben diese Erzählungen und die notwendigen Konsequenzen, die aus ihnen zu ziehen wären, unzugänglich (vgl. Mt 21,45 f.). Die Parabeln fordern wiederholt das richtige Handeln ein. Verstehen ist bei Matthäus eminent praktisch, hat sich in entsprechendem Tun zu erweisen (Mt 7,21-23). Wie gerechtes Handeln aussieht, hat Jesus die Seinen gelehrt (vgl. Mt 5-7 u. a.). Seine Autorität als Lehrer des Willens Gottes muss anerkennen, wer von Jesus den Weg der Gerechtigkeit lernen will (vgl. Mt 28,20). Den Jüngerinnen und Jüngern, also denen, die sich Jesus öffnen und glaubend anschließen, sind deshalb die »Geheimnisse der Gottesherrschaft« in den Parabeln verständlich. Denjenigen, die sich – für Matthäus letztlich unverständlich – Jesus verweigern, denen bleiben sie verschlossen (Mt 13,10-17).

Zur Forschungsgeschichte Wiewohl schon Adolf Jülicher durchaus ein eigenes Profil der matthäischen Parabeln wahrgenommen hatte (»Mt … zeigt bei den Parabeln, die er weit zahlreicher als Mc bringt, einen wenig entwickelten Trieb zu Ausmalen, einen desto stärkeren zur Alle389

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Parabeln im Matthäusevangelium

gorese«; I 2 1910, 196), brachte doch erst das Aufkommen der Redaktionsgeschichte mit ihrem Interesse an der Arbeit der Evangelisten wirkliche Aufmerksamkeit für den Gleichniserzähler Matthäus. Die ab den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erscheinenden Gleichnisbücher enthalten regelmäßig zu den einzelnen Parabeln Abschnitte, die auch die redaktionelle Bearbeitung durch die Evangelisten untersuchen. Eine erste größere Studie speziell zu Matthäus legt Jack Dean Kingsbury mit seiner Dissertation zu Mt 13 vor. Er stellt konsequent diese Gleichnisrede in den Zusammenhang des Evangeliums und seines Erzählgangs hinein, indem er das Kapitel als »turningpoint« interpretiert, mit dem sich Jesus als Reaktion auf die Ablehnung, die seine Verkündigung erfährt (Kap. 11 f.), nun den Jüngern zuwendet. Methodisch ist die Arbeit redaktionskritisch, aber mit besonderer Sensibilität für Fragen der Narrativität und Leserorientierung auf der Ebene des Endtextes. Die nachfolgenden, nicht eben zahlreichen, aber in den letzten 20 Jahren doch regelmäßig erscheinenden Arbeiten entscheiden sich meist für eine der beiden Ausrichtungen. Jan Lambrecht präsentiert klassisch redaktionsgeschichtliche Auslegungen der längeren Parabeln des Matthäusevangeliums, die jeweils die verschiedenen Stufen der Überlieferung nachzeichnen (wie zuvor schon C. E. Carlston für die bei Mk, Mt und Lk gemeinsam überlieferten Gleichnisse). Im Blick sind vor allem die einzelnen Parabeln sowie die Gleichniskomposition von Kapitel 13. An einer Gesamtsicht ist Lambrecht weniger interessiert. John R. Donahue und Warren Carter/ John Paul Heil stellen in ihren jeweiligen Büchern die Kontextualisierung in den Vordergrund. Donahue tut dies mit dem Interesse, die Theologie der Parabeln im Zusammenhang mit der Theologie des Evangeliums in den Blick zu bekommen. Carter/Heil gewinnen Profil durch ihre konsequente Orientierung an den Leser(inn)en und an der Einbettung der Parabeln in die kontinuierliche Lektüre des Evangeliums. Die Dissertation von Wesley G. Olmstead behandelt mit Mt 21,28 – 22,14 eine weitere, theologisch sehr brisante matthäische Gleichniskomposition. In der Methodik ist sie der programmatische Versuch, die Erzähltextanalyse, die das Evangelium als Einheit betrachtet, mit der Redaktionskritik zu verbinden, die den Text als Produkt seiner Entstehungsgeschichte sieht und für die verschiedenen Überlieferungsstufen und deren Wandlungen sensibel ist. In gewisser Weise schließt sich hier der Kreis. Ausgeblendet wurden bislang Arbeiten, die sich im Schwerpunkt der Gattung Parabel im Kontext des Matthäusevangeliums widmen. Eine erste Bresche hat hier Michael D. Goulder schon 1969 geschlagen, indem er die Gleichniscorpora der synoptischen Evangelien hinsichtlich ihrer Form miteinander verglich. Abgesehen von der problematischen Quellentheorie, die Goulder mit seinen Beobachtungen verbindet (Mk ist die einzige Quelle für Mt; alle nicht-markinischen Parabeln hat er geschaffen), sind seine Beobachtungen sehr fruchtbar. Auf breitere Basis gestellt und weitergeführt sind sie in der Dissertation von Christian Münch (vgl. außerdem den Exkurs bei Luz). Sie analysiert die Form und die kontextuelle Einbindung der Parabeln im Matthäusevangelium und fragt, wie die verschiedenen Elemente als Transfersignale zur Sinnbildung der Parabeln beitragen. Es zeigt sich, dass Matthäus ein ausgeprägtes Gattungsbewusstsein hat. Die Studie von Ivor Harold Jones fragt nach den Parabeln im Zusammenhang mit der Gattung des Matthäusevangeliums insgesamt. Jones’ These ist, das Evangelium leiste eine integrative Funktion für die verschiedenen Gruppierungen, die in den Adressatengemeinden zusammenkommen und ihre divergenten Überlieferungen einbringen. Zu den Parabeln macht er einerseits viele Beobachtungen, die auf den komplizierten Über390

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Einleitung

lieferungsprozess dieser Texte hindeuten. Andererseits wird die Kontextbezogenheit und integrierende Funktion vieler Gleichnisse hervorgehoben. Beides soll die Grundthese abstützen. Als Lücken der bisherigen Forschung zeichnen sich vor allem zwei Themen ab: eine gründliche Untersuchung der Parabelkomposition Mt 24,32-25,30 als Teil der matthäischen Endzeitrede (Kap. 24 f.) und eine umfassendere Gesamtdarstellung zur Theologie der matthäischen Gleichnisse.

Christian Münch Literatur zum Weiterlesen W. Carter/J. P. Heil, Matthew’s Parables. Audience-Oriented Perspectives, CBQ.MS 30, Washington 1998. J. D. Crossan, Rhetorical Violence. The Parable Gospel According to Matthew, in: ders., The Power of Parable. How Fiction by Jesus Became Fiction about Jesus, London 2012, 177198. J. R. Donahue, The Gospel in Parable. Metaphor, Narrative, and Theology in the Synoptic Gospels, Philadelphia 1988, 63-125. J. Drury, The Parables in the Gospels. History and Allegory, New York 2 1989, 70-107. A. O. Ewherido, Matthew’s Gospel and Judaism in the Late first Century C. E. The Evidence from Matthew’s Chapter on Parables (Matthew 13:1-52), New York u. a. 2006. M. D. Goulder, Characteristics of the Parables in the Several Gospels, JThS 19 (1968) 51-69. I. H. Jones, The Matthean Parables. A Literary and Historical Commentary, NT.S 80, Leiden/ New York/Köln 1995. J. D. Kingsbury, The Parables of Jesus in Matthew 13. A Study in Redaction-Criticism, London 1969. J. Lambrecht, Out of the Treasure. The Parables in the Gospel of Matthew, Louvain Theological & Pastoral Monographs 10, Leuven 1998 (1 1992). L. McKinnish Bridges, Preaching the Parables of Jesus in Matthew’s Gospel in Ordinary Time. The Extraordinary Tales of God’s World, Review & Expositor 104 (2007), 325-362. Chr. Münch, Die Gleichnisse Jesu im Matthäusevangelium. Eine Studie zu ihrer Form und Funktion, WMANT 104, Neukirchen-Vluyn 2004. W. G. Olmstead, Matthew’s Trilogy of Parables. The Nation, the Nations and the Reader in Matthew 21.28-22.14, MSSNTS 127, Cambridge 2003. P. Y. Oppong-Kumi, Matthean Sets of Parables, WUNT II/340, Tübingen 2013. J. T. Pennington, Matthew 13 and the Function of the Parables in the First Gospel, The Southern Baptist Journal of Theology 13 (2009), 12-20. C. Rohmer, Valeurs et paraboles. Une lecture du discours en Matthieu 13, 1-53, Études bibliques 66, Pendé 2014. J. Roloff, Jesu Gleichnisse im Matthäusevangelium. Ein Kommentar zu Mt 13,1-52, hg. von H. Kreller/R. Oechslen, BThSt 73, Neukirchen-Vluyn 2005. R. Zimmermann, Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu. Ethik durch literarische Ästhetik am Beispiel der Parabeln im Matthäus-Evangelium, in: F. W. Horn/R. Zimmermann (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ, WUNT 238, Tübingen 2009, 235-265. R. Zimmermann, Parables in Matthew. Tradition, Interpretation and Function in the Gospel, in: J. Verheyden (Hg.), An Early Reader of Mark and Q. New and Old on the Composition, Redaction, and Theology of the Gospel of Matthew, Leuven 2015 (im Erscheinen).

391

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Tabelle der Matthäus-Texte Nr.

Mt-Faden

Titel

Parallelstellen

1

Mt 5,13

Vom Wirken des Salzes (Vom Salz)

2

Mt 5,14

3

Mt 5,15

4

Mt 5,25 f.

5

Mt 6,22 f.

Jesu Nachfolger als Lichter der Welt und als Stadt auf dem Berge (Von der Bergstadt) Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht (Die Lampe auf dem Leuchter / Vom Licht auf dem Leuchter) Forderung zu außergerichtlicher Einigung (Der Gang zum Richter) Das Auge als Lampe des Körpers (Vom Auge als des Leibes Licht)

Q 14,34 f.; Mk 9,49 f.; Lk 14,34 f. EvThom 32

6

Mt 6,24

7

Mt 6,26.28-30

8

Mt 7,2

9

Mt 7,3-5

10

Mt 7,6

11

Mt 7,7-11

12

Mt. 7,13 f.

13

Mt 7,16-20

14

Mt 7,24-27

15

Mt 9,12 f.

16

Mt 9,14 f.

392

Über die Notwendigkeit ungeteilter Leidenschaft (Vom Doppeldienst) Vertrauen in die Sorge Gottes (Sorgt euch nicht)

Aus dem Vollen schöpfen (Vom Maß) Die Behebung einer Sehschwäche (Vom Splitter und dem Balken)

Perlen vor die Säue (Von der Entweihung des Heiligen) Bitten lohnt sich (Vom bittenden Kind) Tretet ein! (Von der verschlossenen Tür) Von den Früchten des Baumes und dem Sprechen des Herzens (Vom Baum und seinen Früchten) »Einstürzende Neubauten« (Hausbau auf Felsen oder Sand) Kein Heimvorteil für den Heiler (Vom Arzt)

Fasten oder feiern? – Eine Frage der Zeit (Vom Bräutigam / Die Fastenfrage)

Q 11,33; Mk 4,21; Lk 8,16; 11,33; EvThom 33,2 f. Q 12,58 f.; Lk 12,58 f. Q 11,34 f.; Lk 11,34-46; EvThom 24 Q 16,13; Lk 16,13; EvThom 47,1 f. Q 12,24.26-28; Lk 12,24.26-28; EvThom 36,1-4 (P.Oxy. 655); Agr 124 Mk 4,24; Lk 6,36 Q 6,41 f.; Lk 6,41 f.; EvThom 26 (P.Oxy. 1) EvThom 93; (vgl. Agr 166) Q 11,9-13; Lk 11,9-13 Mt 7,22 f.; 25,10-12 Lk 13,24-27 Q 6,43-45; Mt 12,33-35; Lk 6,43-45; EvThom 45 Q 6,47-49; Lk 6,47-49 Mk 2,17; Lk 5,31 f.; (vgl. Lk 4,23;) EvThom 31 Mk 2,18-20; Lk 5,33-35; EvThom 104

Fundort im Kompendium Q 14,34 f.

Mt 5,14

Q 11,33

Q 12,58 f. Q 11,34 f. (vgl. EvThom 24) Q 16,13

Q 12,24.26-28

Mk 4,24 Q 6,41 f.

Mt 7,6; Agr 166 Q 11,9-13 Q 13,24-27 Q 6,43-45

Q 6,47-49 Lk 4,23

Mk 2,18-20

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Tabelle der Matthäus-Texte Nr.

Mt-Faden

Titel

Parallelstellen

17

Mt 9,16 f.

18

Mt 9,37 f.

19

Mt 10,24-25a

20

Mt 11,16-19

21

Mt 11,27

22

Mt 12,22-28

23

Mt 12,29

24

Mt 12,33-35

25

Mt 12,43-45

26

Mt 13,3-9.1823

27 28

Mt 13,2430.36-43 Mt 13,31 f.

29

Mt 13,33

30

Mt 13,44.45f.

31

Mt 13,47-50

32

Mt 13,52

33

Mt 15,13

Was passt und was nicht Mk 2,21 f.; (Vom alten Mantel und vom neuen Wein) Lk 5,36-39; EvThom 47,3-5 Folgenreiche Bitte! Q 10,2; (Arbeiter für die Ernte) Lk 10,2; EvThom 73 Größenwahn?! Q 6,40; (Vom Schüler und Lehrer) Lk 6,40; Joh 13,16; 15,20 Vom misslingenden Spiel Q 7,31-35; (Von den spielenden Kindern) Lk 7,31-35 Der Meisterschüler Gottes Q 10,22; (Von der Lehre des Sohnes) (Lk 10,22;) Joh 5,19-23; 8,35 Zoff bei Beelzebuls Q 11,14-20; (Beelzebulgleichnis) Mk 3,22-26; Lk 11,14-20 Jesus lernt vom Räuberhauptmann Mk 3,27; (Das Wort vom Starken) Lk 11,21 f.; EvThom 35 Von den Früchten des Baumes und dem Q 6,43-45; Sprechen des Herzens Mt 7,16-20; (Vom Baum und seinen Früchten) Lk 6,43-45; EvThom 45 Q 11,24-26; Füllt den Raum aus – es kommt sonst Lk 11,24-26 noch schlimmer! (Beelzebulgleichnis) Vom Fruchtbringen Mk 4,3-9.(10-12.) (Sämann mit Deutung) 13-20; Lk 8,5-8.11-15; EvThom 9; Agr 220 Ausreißen oder wachsen lassen? EvThom 57 (Vom Unkraut unter dem Weizen) Mehr Hoffnung wagen Q 13,18 f.; (Vom Senfkorn) Mk 4,30-32; (Lk 13,18 f.;) EvThom 20 Gott knetet nicht Q 13,20 f.; (Vom Sauerteig) Lk 13,20 f.; EvThom 96 Die Freude des Findens EvThom 76; 109 (Vom Schatz im Acker und von der Perle) Am Ende wird sortiert EvThom 8 (Vom Fischnetz) Neues und Altes aus dem Schatz des – Hausherrn (Vom rechten Schriftgelehrten) Falsche Herkunft! EvThom 40 (Vom Ausreißen der Pflanze)

Fundort im Kompendium Mk 2,21 f.

Q 10,2

Q 6,40

Q 7,31-35 Joh 5,19-23

Mk 3,22-26

Mk 3,27

Q 6,43-45

Q 11,24-26

Mk 4,3-9.(1012.) 13-20

Mt 13,24-30.3643 Mk 4,30-32

Q 13,20 f.

Mt 13,44.45f. Mt 13,47-50 (vgl. EvThom 8) Mt 13,52

Mt 15,13

393

Gt 08020 / p. 408 / 25.6.2015

Parabeln im Matthäusevangelium Nr.

Mt-Faden

Titel

34

Mt 15,14

Absturzgefahr (Vom Blinden als Blindenführer)

35

Mt 15,16 f.

36

Mt 15,26 f.

37

Mt 16,2 f.

38

Mt 18,3

39

Mt 18,12-14

40

Mt 18,23-35

41

Mt 20,1-16

42

Mt 21,28-32

43

Mt 21,33-46

44

Mt 22,1-14

45

Mt 24,28

46

Mt 24,32 f.

47

Mt 24,40 f.

48

Mt 24,43 f.

49

Mt 24,45-51

50

Mt 25,1-13

51

Mt 25,14-30

52

Mt 25,32 f.

394

Parallelstellen

Q 6,39; Lk 6,39; EvThom 34 Die rechte Reinheit – eine Herzensangele- Mk 7,14-23; genheit EvThom 14 (Von Reinheit und Unreinheit) Das Brot der Hunde Mk 7,27 f. (Von Kindern und Hunden) Wetterregeln Q 12,54-56; (Von der Beurteilung der Zeit) Lk 12,54-56; EvThom 91 Einssein an Gottes Brust Mk 10,15; (Stillkinder) Lk 18,17; EvThom 22 Neunundneunzig sind nicht genug! Q 15,4-5a.7; (Vom verlorenen Schaf) Lk 15, 1-7; EvThom 107 Das Aufleben der Schuld und das Auf– heben des Schuldenerlasses (Vom unbarmherzigen Knecht) Jedem das Seine? Allen das Volle! – (Von den Arbeitern im Weinberg) Was heißt Gottes Willen tun? – (Von den ungleichen Söhnen) Spiralen der Gewalt Mk 12,1-12; (Die bösen Winzer) Lk 20,9-19; EvThom 65 Verheißung für alle Völker (Q 14,16-23;) (Von der königlichen Hochzeit) Lk 14,12-24; EvThom 64 Schnell und unausweichlich Q 17,37; (Vom Aas und den Geiern) Lk 17,37 Wir sind schon wer Mk 13,28 f.; (Vom grünenden Feigenbaum) Lk 21,29-31 Die plötzliche Alternative mitten im Alltag Q 17,34 f.; (Mitgenommen oder zurückgelassen) Lk 17,34 f.; EvThom 61,1 Achtung Menschensohn! Q 12,39 f.; (Vom Dieb) Lk 12,39 f.; EvThom 21,5; (vgl. Agr 45) Es ist stets höchste Zeit Q 12,42-46; (Vom treuen und untreuen Haushalter) Lk 12,42-46 Kluge Mädchen kommen überall hin … vgl. Q 13,24-27 (Von den zehn Jungfrauen) Gewinnen oder Verlieren Q 19,12 f.15-24.26; (Von den anvertrauten Geldern) Mk 13,34; Lk 19,12-27 Der Hirt wird sie scheiden – (Von den Schafen und Böcken)

Fundort im Kompendium Q 6,39

Mk 7,14-23

Mk 7,27 f. Q 12,54-56

EvThom 22

Q 15,4-5a.7

Mt 18,23-35

Mt 20,1-16 Mt 21,28-32 Mk 12,1-12

Mt 22,1-14; vgl. Lk 14,12-24 Q 17,37 Mk 13,28 f. Q 17,34 f. (vgl. EvThom 61) Q 12,39 f. (vgl. Agr 45)

Q 12,42-46 Mt 25,1-13 (vgl. Q 13,24-27) Q 19,12 f.1524.26 Mt 25,32 f.

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Jesu Nachfolger als Lichter der Welt und als Stadt auf dem Berge (Von der Bergstadt) Mt 5,14 (EvThom 32) Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Mt 5,14 ist in den zweiten Teil der Einleitung der Bergpredigt integriert. Die erste große Rede Jesu im Matthäusevangelium wird durch die Seligpreisungen eröffnet, die zunächst als unpersönliche Aussagen formuliert sind (Mt 5,3-10). Erst der Abschluss der Makarismen (Mt 5,11 f.) wendet sich in persönlicher Anrede direkt an die textexternen Leser, die um Jesu willen verfolgt werden und aus diesem Grunde ermutigt werden sollen (auf der textinternen Ebene kann zu diesem Zeitpunkt der Erzählung von einer Verfolgung der Anhänger Jesu noch nicht die Rede sein). Diese persönlich gestaltete Anrede wird im zweiten Teil der Einleitung der Bergpredigt fortgeführt, in welchem die Jünger Jesu zunächst als das Salz der Erde bezeichnet werden. Nachdem die Bedeutung dieses Bildwortes präziser erläutert wurde (zur Interpretation von Mt 5,13 vgl. den Kommentar in diesem Kompendium), folgt in Mt 5,14 eine zweite Parabel. Mt 5,14 besteht aus zwei kurzen Aussagesätzen, in denen mit Hilfe zweier unterschiedlicher Bildebenen die besondere Stellung der Jünger Jesu zur Geltung gebracht wird. Mt 5,14a ist wiederum als eine unmittelbare Anrede an die Jünger bzw. Leser gestaltet, die als Licht der Welt bezeichnet werden. Dieser Metapher ist ein deutlich »hyperbolischer Charakter« zu eigen (Luz 5 2002, 223), da einer kleinen Schar verfolgter Jünger zugestanden wird, eine für die gesamte Welt erkennbare Wirkung zu haben. Die universale Dimension des Bildwortes Mt 5,14a wird in Mt 5,14b abgemildert. In Gestalt einer unpersönlich formulierten These wird die exponierte Stellung der Jünger nun mit einer Stadt verglichen, die auf einem Berg liegt und aus diesem Grund weithin sichtbar ist. Das Verhältnis dieser Teilverse lässt Interpretationsfreiräume offen, in welcher Weise die Bildworte aufeinander bezogen sind. Beiden Stichoi ist gemeinsam: Die Vergleichsgrößen bringen zur Geltung, dass die Jünger Jesu ihre Identität kaum verbergen können. Zudem könnten die Bildworte eine implizite lichtmetaphorische Korrespondenz aufweisen, wenn in Mt 5,14b darauf angespielt werden soll, dass eine auf einem Berg gelegene Stadt auch des Nachts sichtbar ist, wenn z. B. von bewachten Stadttoren bzw. Stadtmauern der Schein brennender Fackeln ausgeht. Die zentrale Aussageintention wird jedoch durch die narrative Einbettung von Mt 5,14 erkennbar. Bereits in Mt 5,11 f. wird auf Entwicklungen der nachösterlichen Zeit hingewiesen, in der die Jünger Jesu Repressalien ausgesetzt sind (vgl. Mt 24,9-14 etc.). Das unmittelbar auf Mt 5,14 folgende Bildwort vom Leuchter unter dem Scheffel (Mt 5,15 f.) bringt u. a. zur Geltung, dass die Jünger Jesu sich nicht vor der Welt verbergen sollen, in die sie durch Jesu Missionsbefehl ausgesendet wurden (vgl. Mt 28,16-20). Im Kontext von Mt 5,13-16 kann Mt 5,14 somit als eine ›erweiterte Metapher‹ bzw. ein ›fragmentarisches Gleichnis‹ verstanden werden (vgl. Erlemann 395

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Parabeln im Matthäusevangelium

1999, 70, der hierunter Texte versteht, die »zwar die Metapher als Baustein verwenden, aber keine dramaturgische Entfaltung mit szenischer und zeitlicher Strukturierung aufweisen«). Der Autor des Matthäusevangeliums hebt hervor, dass die Jünger, die um Jesu Namen willen verfolgt werden (Mt 5,10-12), ihrem Sendungsauftrag gerecht werden sollen und ihre Identität nicht verbergen dürfen.

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Der Verfasser des Matthäusevangeliums verortet verschiedene wichtige Ereignisse seiner Erzählung auf Bergen (Mt 14,23; 15,29; 17,1; 24,3; 28,16). Dass auch die Bergpredigt auf einem nicht näher identifizierten Berg in Galiläa lokalisiert wird, scheint nicht nur die subtile theologische Botschaft zu implizieren, dass Jesus als der in Dtn 18,15-18 verheißene zweite Mose verstanden werden soll (zum Verhältnis von Mt 5,1; 7,28 und Ex 19,3.12; 25,15.18; 34.1 f.4; Dtn 18,15-18 vgl. U. Luz 5 2002, 198), sondern sie spiegelt auch das Lokalkolorit der gebirgigen Region Galiläa wider (vgl. Theißen/Merz 3 2001, 161-170). Allerdings bleibt es spekulativ, ob mit der in Mt 5,14b angesprochenen Stadt auf dem Berge eine konkrete Stadt gemeint ist. Dies gilt auch für die verschiedentlich geäußerte Einschätzung, dass hiermit Jerusalem, geschweige denn das auf dem eschatologisch erhöhten Zionsberg sich offenbarende himmlische Jerusalem gemeint sei (zu entsprechenden Deutungsversuchen vgl. Campbell 1978, passim).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Lichtmetaphorische Motive begegnen in unterschiedlichsten kulturellen Kontexten und religiösen Traditionsbildungen. Die in Mt 5,14a vorliegende Prädikation der Jünger Jesu als Licht der Welt (Mt 5,14a) besitzt im Spektrum alttestamentlich-frühjüdischer Schriften v. a. zwei aufschlussreiche Bezugsgrößen. Im Sinne des Missionsauftrags Mt 28,16-20 kommt den Jüngern in der nachösterlichen Zeit die Aufgabe zu, die Botschaft Jesu zu verbreiten bzw. zu lehren. Da der Verfasser des Matthäusevangeliums die Jünger somit zu Lehrern der Worte Jesu erklärt, könnte ihre Prädikation als ›Licht der Welt‹ einen Bezug zu Ps 119,105 implizieren, wo die Worte Gottes als ein Licht bezeichnet werden, das Menschen davor bewahrt, von dem richtigen Weg abzukommen (entsprechend können auch in der Psalmenrolle Qumrans bzw. von Paulus Lehrer des Wortes Gottes als Licht bezeichnet werden; vgl. 11QPs XII,2 (11Q5 und die in polemischer Abgrenzung formulierte These Röm 2,19). Eine weitere Bildfeldtradition, die Mt 5,14a inspiriert haben könnte, lässt sich in den deuterojesajanischen Gottesknechtsliedern finden (Jes 42,14; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12). Der Gottesknecht wird nämlich als das ›Licht der Völker‹ bezeichnet, der die Aufgabe hat, die Botschaft von dem universalen Heilswillen Gottes auch in den entlegendsten Regionen unter nichtisraelitischen Adressaten zu verbreiten (vgl. Jes 42,6; 49,6). Auch diese Bildfeldtraditionen implizieren somit wie Mt 5,13-16 eine missionstheologische Ausrichtung (zu weiteren möglichen lichtmetaphorischen Assoziationen zu Mt 5,14a in wesentlich jüngeren rabbinischen Traditionen vgl. U. Luz 5 2002, 223 f.). Im Gegensatz zur Prädikation der Jünger als Licht der Welt hat der in Mt 5,14b 396

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Jesu Nachfolger als Lichter der Welt und als Stadt auf dem Berge Mt 5,14

vorliegende Vergleich der Nachfolger Jesu mit einer Bergstadt keine alttestamentlichfrühjüdischen Vorgaben. Es würde der Aussageintention von Mt 5,14b nicht gerecht werden, wenn man das Motiv der Bergstadt als eine Anspielung auf die in Jes 2,2-4; Mi 4,1-3 dokumentierte Hoffnung verstehen würde, dass der Zion zum höchsten Berg erhoben wird und zum Zentrum einer eschatologischen Völkerwallfahrt avanciert (so Jeremias 11 1998, 215, der auf diese Weise Mt 5,14b als ein Trostwort an die Jünger interpretieren will, die um die für Jes 2,2-4; Mi 4,1-3 konstitutive Verheißung eines dauerhaften Friedensreiches wissen). Mt 5,14b zielt demgegenüber darauf ab, die Jünger zu ihrer Mission zu ermutigen, obwohl sie Verfolgungen um Jesu willen erleiden. Die einzige Analogie zu Mt 5,14b findet sich demgegenüber in der frühchristlichen Parallelüberlieferung EvThom 32.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Durch die Parabel Mt 5,14 werden die Adressaten des Matthäusevangeliums dazu ermutigt, sich ihrem Sendungsauftrag gemäß zu verhalten. In Anspielung auf Bildfeldtraditionen wie Ps 119,105 bzw. Jes 42,6; 49,6 wird ihnen vermittelt, dass sie die Botschaft Jesu verbreiten sollen und auf diese Weise zum Licht der Welt werden. So wie eine auf einem hohen Berg errichtete Stadt nicht verborgen bleiben kann, so würde es auch der Bestimmung der Nachfolger Jesu widersprechen, wenn sie ihre Identität nicht zu erkennen geben und entsprechend ihrer Berufung handeln (Mt 5,16). Auch wenn sie aus diesem Grunde Verfolgungen und Repressalien erleiden werden, gelten ihnen gerade in dieser Situation die Verheißungen Jesu. Die Zuordnung der Seligpreisung der Verfolgten (Mt 5,11 f.) und der Parabeln Mt 5,13-16 lässt somit in nuce erkennen, in welcher Weise im Matthäusevangelium Zuspruch und Anspruch miteinander verschränkt werden.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Obwohl die im Kontext von Mt 5,14 angeordneten Parabeln über das Salz und den Leuchter synoptische Parallelüberlieferungen besitzen (Mk 4,21; 9,50; Lk 8,16; 11,33), begegnet eine Parallele zu Mt 5,14a nur im Johannesevangelium (Joh 8,12), eine Parallele zu Mt 5,14b hingegen im Thomasevangelium. Dies spricht dafür, dass es sich bei den Teilaspekten von Mt 5,14 um zwei ursprünglich selbstständige Bildworte handelt, die erst von dem Verfasser des Matthäusevangeliums zu einer Einheit verbunden wurden (Jeremias 11 1998, 89 f.). Die Parabel von der Bergstadt ist bereits in den griechischen Fragmenten des Thomasevangeliums überliefert (P.Oxy I,36-41/EvThom 32). EvThom 32: Jesus spricht: »Eine Stadt, auf einem hohen Berg erbaut und befestigt, kann nicht fallen, noch wird sie verborgen sein können.« (Übersetzung nach: H.-M. Schenke/Bethge/Kaiser 2001) Sie besitzt ebenso wie die meisten Logien des Thomasevangeliums keinerlei narrative Einbettung. Doch auch der vorliegende Wortbestand lässt erkennen, dass die Aussageintention von EvThom 32 sich von Mt 5,14b unterscheidet. Die für die matthäische Vari397

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Parabeln im Matthäusevangelium

ante zentrale Aussage, dass eine auf dem Berg liegende Stadt nicht verborgen bleiben kann, bildet nur einen zweiten Teilaspekt von EvThom 32, wo zunächst davon die Rede ist, dass eine auf einem hohen Berg erbaute Stadt militärische Sicherheit bietet. Dass dieses Motiv auf die bereits zuvor angesprochene Hoffnung auf eine eschatologische Erhöhung des Zions und der Gottesstadt abheben soll (so Nordsieck 3 2006, 142), hat am Text selbst keinen Anhalt und widerspricht einer Vielzahl weiterer Logien des Thomasevangeliums, in denen die alttestamentlich-frühjüdischen Wurzeln der Botschaft Jesu eher kritisch beurteilt werden (vgl. v. a. EvThom 52; 53). Die Nähe zur unmittelbar folgenden Aufforderung zur Verkündigung (EvThom 33,1) und zu dem Gleichnis von dem Leuchter unter dem Scheffel scheint EvThom 32 eine missionstheologische Aussagedimension zu vermitteln und eine Nähe zur Kompositionen von Mt 5,14-16 anzuzeigen. Die Betonung der Sicherheit einer auf dem Berg befestigten Stadt scheint demgegenüber wiederum dafür zu sprechen, dass EvThom 32 auf einer Kompilation von Mt 5,14b und der Parabel vom Hausbau in Mt 7,24 f. basiert (so Schrage 1964, 38; Fieger 1991, 119). Gleichwohl muss festgehalten werden, dass die genaue Aussageintention von EvThom 32 nicht bestimmt werden kann. Auch wenn der Text zu denjenigen Logien des Thomasevangeliums zählen könnte, die ein verhältnismäßig altes Stadium von Jesustraditionen erhalten haben, zeigt sich hier eindrücklich, welche Bedeutung narrative Einbettungen für eine theologische Deutung früher Jesustraditionen hatten. Die deutlichste Parallele zur Prädikation der Jünger als Licht der Welt begegnet ohne Zweifel in der johanneischen Prädikation Jesu als Licht der Welt. Die Affinität dieser Stellen dokumentiert sich ferner darin, dass sie auf ähnliche traditionsgeschichtliche Vorgaben rekurrieren. Verschiedene Indizien sprechen dafür, dass es sich bei Joh 8,12 um eine Modifikation von Mt 5,14a handelt (vgl. Theobald 2002, 272 f.; Schwankl 1995, 221 f.). Eine grundlegende Differenz zwischen den theologischen Konzepten, die diesen Texten zugrunde liegen, besteht nämlich darin, dass im Johannesevangelium die lichtmetaphorischen Motive strikt christologisch verwendet werden. Bereits im Prolog Joh 1,1-18, der als eine hermeneutische Leseanweisung für die nachfolgende Erzählung der Worte und Taten Jesu verstanden werden kann, wird der Logos als das Licht prädiziert, das in die Welt kam und nicht von der Finsternis überwunden werden konnte, sondern nach wie vor in der Welt leuchtet (Joh 1,4 f.9 f.). Entsprechend wird im späteren Erzählverlauf des vierten Evangeliums das zustimmende und ablehnende Verhalten gegenüber Jesus lichtmetaphorisch umschrieben (Joh 3,19-21; 9,4 f.39; 11,9 f.). Mit dem Ende der Beschreibung der öffentlichen Tätigkeit Jesu endet zugleich die Verwendung lichtmetaphorischer Motive (vgl. Joh 12,46). Auch wenn die Sendung Jesu in der Sendung der Jünger ihre Fortführung erfährt (Joh 17,18; 20,21), werden die Glaubenden nicht als Licht der Welt bezeichnet. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, Jesus als das Licht der Welt zu verkündigen (zur christologischen Konzentration der Lichtmetaphorik im Johannesevangelium vgl. E. E. Popkes 2005b, 229-239).

Enno Edzard Popkes Literatur zum Weiterlesen P. R. Berger, Die Stadt auf dem Berge. Zum kulturhistorischen Hintergrund von Mt 5,14, in:

398

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Jesu Nachfolger als Lichter der Welt und als Stadt auf dem Berge Mt 5,14

W. Haubeck/M. Bachmann (Hg.), Wort in der Zeit. FS K. H. Rengstorf, Leiden 1980, 8285. H. D. Betz, The Sermon on the Mount. Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5.3-7.27 and Luke 6.20-49), Hermeneia, Minneapolis 1995, 160-162. K. M. Campbell, The New Jerusalem in Mt 5,14, SJTh 31 (1978), 335-363. J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 11 1998, 108.215. G. von Rad, Die Stadt auf dem Berge, EvTh 8 (1948/49) 439-447. R. Schnackenburg, »Ihr seid das Salz der Erde, das Licht der Welt«. Zu Mt 5,13-16, in: ders., Schriften zum Neuen Testament, München 1971, 177-200. G. Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 2 1985, 52 f.

399

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Perlen vor die Säue (Von der Entweihung des Heiligen) Mt 7,6 (EvThom 93) Gebt nicht das Heilige den Hunden und werft nicht eure Perlen den Schweinen vor, damit sie sie nicht mit ihren Füßen zertreten, und sie sich nicht umwenden und euch zerreißen.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Der Text umfasst zwei kurze, verneinte Imperative, denen ein zweigliedriger Finalsatz (»damit nicht«) folgt. Der Finalsatz könnte sich allein auf die Schweine beziehen. Er ist in der Sache aber besser zu verstehen, wenn eine chiastische Struktur angenommen wird (a-b-b’-a’). Der erste Teil des Finalsatzes würde dann die zu vermeidenden Folgen des untersagten Verhaltens gegenüber den Schweinen benennen und der zweite von den Hunden reden. So machen die Ereignisse mit Blick auf das Verhalten der genannten Tiere einen besseren Sinn (vgl. von Lips 1988, 173 f.). Der Satz ist metaphorisch zu verstehen, es geht weder um den Umgang mit Hunden noch um den mit Schweinen an sich. Darauf weist zweierlei hin. Zum einen hat das Metier des Verses – Perlen, Heiliges, Hunde, Schweine – sachlich im Kontext keinerlei Anknüpfungspunkt. Zum anderen ist die Parallelisierung auffällig (vgl. Luz 5 2002, 495). Sie lenkt von den Einzelaussagen ab und richtet den Blick auf einen den beiden Aussagen gemeinsamen Grundgedanken (vgl. Mt 10,16; Mk 10,43 f.; Lk 11,9 f./Mt 7,7 f. u. a.). Worauf der zielt, ist aus der sprachlich-narrativen Analyse allein nicht sicher zu gewinnen (vgl. von Lips 1988, 174).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Das griechische Wort kÐwn (kyo¯n) bezeichnet allgemein einen Hund, in den meisten Fällen sind in der Sache allerdings herrenlose Straßenhunde gemeint (vgl. Lk 16,21). Kleine Hunde und Hündchen, die als Haus- oder Schoßhunde mit den Menschen leben, werden eher als kun€rion (kynarion; vgl. Mt 15,26 f.) oder kunffldion (kynidion) bezeichnet (vgl. O. Michel 1938, 1100-1103). Straßenhunde leben von dem, was sie zu fressen finden (vgl. Ex 22,30; 1Kön 14,11). Ihr ständiger Hunger ist oft Thema (Jes 56,11; BQ 92b: »Ein Hund verschlingt vor Hunger Exkremente«; vgl. von Lips 1988, 175 f.). Dass von ihnen Gefahr ausgehen kann, leuchtet ein. Im biblischen Raum sind solche Hunde insgesamt wenig geschätzte, häufig verächtlich betrachtete Tiere (Pedersen 1992, 822). Mit co…ro@ (choiros) sind – wegen des Fütterns – wahrscheinlich Hausschweine, nicht Wildschweine gemeint. Die Zucht von Schweinen war im hellenistischen und römischen Bereich verbreitet (vgl. Mk 5,1 ff.; Lk 15,15; Colum. VII,9-11). Im Judentum dagegen gelten sie als unrein (Lev 11,7; Dtn 14,8). Nicht zuletzt deshalb werden sie – wie die Hunde – in der Bibel gering geachtet (Spr 11,22; Sir 22,13; Jes 65,4; 2Petr 2,22). 400

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Perlen vor die Säue Mt 7,6

Die Perle dagegen gilt als etwas überaus Kostbares. Mit ihrem großen Wert spielt auch die Parabel in Mt 13,45 f. (Weiteres siehe dort).

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Zunächst ist noch einmal festzuhalten, dass Hund und Schwein im biblischen Raum oft mit negativen Assoziationen besetzte Tiere sind. »Hund« ist im Alten wie im Neuen Testament als abwertender Begriff oder Schimpfwort belegt (2Sam 9,8; 16,9; Spr 26,11; Ps 22,21; Phil 3,2; Apk 22,15 u. ö.). Schweine werden für wenig schmeichelhafte Vergleiche herangezogen (Spr 11,22; Jes 65,4; 2Petr 2,22; vgl. auch Billerbeck I 2 1926, 448 f.). Immer wieder wird ins Spiel gebracht, dass Hunde (und eventuell auch Schweine) metaphorisch auf Heiden bezogen werden können (vgl. Mt 15,21-28; rabb. Belege bei Billerbeck I 2 1926, 724 f.; II 2 1924, 447.449). Den Hunden soll »das Heilige« nicht gegeben werden. Den besten Sinn macht es im Rahmen der Bildwelt, wenn an Fleisch aus dem Opferbetrieb am Tempel gedacht ist (anders Cranford 2004, 356 f., der meint, mit Heiliges müsse wie mit den Perlen etwas nicht Essbares gemeint sein). Für den Verzehr von Fleisch, das bei den Opfern übrig blieb, oder andere Opfermaterie galten besondere Regeln (Lev 22,3.10-14; vgl. Ex 29,33 f.; Num 18,9-19). In den Qumranschriften findet sich ein Verbot, Hunde ins »heilige Lager« zu bringen, mit der Begründung, sie könnten Knochen des Heiligtums verspeisen und Fleisch, das noch an ihnen ist (4Q394 fr. 8 kol. 4,8 ff. [58 f.]). Rabbinische Quellen aus nach-neutestamentlicher Zeit kennen folgende Regel: »Man löst Heiliges nicht aus, um es die Hunde fressen zu lassen« (z. B. bBekh 3,15 zu Dtn 12,15 u. ö.), wobei im Kontext klar ist, dass von Fleisch geredet wird. Diese Befunde deuten darauf hin, dass das Verbot, Hunde Heiliges fressen zu lassen, in neutestamentlicher Zeit ein im jüdischen Umfeld bekannter Grundsatz gewesen sein könnte (vgl. van de Sandt 2002, 230-238; kritisch McEleney 1994, 495). Vorsichtige Hinweise gibt es, dass Perlen den Schweinen vorzuwerfen eine sprichwörtliche Wendung war. Sie taucht in einer parthischen Fabel und einem mandäischen Text auf (von Lips 1988, 167 f.). Letzterer lautet zum Beispiel: »Die Worte des Weisen an den Toren sind wie Perlen vor eine Sau« (Ginza R VII 218,30). In beiden Fällen ist die Pointe, etwas Wertvolles an die Falschen (an Toren oder – in der Fabel – an Gegner) zu verschwenden. Durch die Parallelen ist nicht sicher zu belegen, dass ein solches Sprichwort im Umfeld des Neuen Testaments allgemein bekannt war. Sie sind aber doch beachtlich und geben einen Hinweis, wo die Sinnspitze des Spruches liegt. H. von Lips (1988, 174-179) macht auf antike und orientalische Tiersprichwörter als traditionsgeschichtlichen Horizont aufmerksam. Viele dieser Sprichwörter formulieren Kontraste, indem sie etwas sagen, das zum Tier nicht passt (Wölfe als Wächter bei Schafen lassen u. Ä.). Auch das Thema ›falsches oder ungeeignetes Futter‹ kommt mehrfach vor. Die Pointe zielt je nach Spruch zum Beispiel darauf, dass etwas Überflüssiges gegeben wird (Hes. erg. 25: »dem Frosch Wasser zu trinken geben«) oder etwas Falsches (Apostol. cent. X, 31: »dem Hund die Spreu, dem Esel aber die Knochen« geben). Für den Finalsatz bietet das bislang besprochene Material kaum Parallelen (nur einige Tiersprichwörter nennen mögliche Folgen). Für das Verständnis im Kontext des Matthäusevangeliums ist wichtig, dass auch viele andere Parabeln am Ende Verben ent401

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Parabeln im Matthäusevangelium

halten, die eine Form von physischer Schädigung zum Ausdruck bringen (z. B. Mt 7,19: umhauen; 13,29 f.: ausreißen, binden, verbrennen; 21,41: vernichten, 24,51: entzweischneiden; vgl. Münch 2004, 210 f.). Häufig ist gut zu erkennen, dass Matthäus solche Verben auf das (endzeitliche) Gericht bezieht.

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) In der Literatur zu Mt 7,6 begegnet regelmäßig der Stoßseufzer, der Text sei ein Rätsel. Immer wieder wird daher diskutiert, ob ein Übersetzungsfehler vom Aramäischen zum Griechischen vorliegt. Die Worte »Ring« und »Heiliges«, die im Aramäischen denselben Konsonantenbestand haben (aUds qdsch’), seien miteinander verwechselt worden. Über diesen und weitere Übersetzungsfehler wird als Urform rekonstruiert: »Legt den Hunden keinen Ring an. Und hängt eure Perlen nicht an den Rüssel der Schweine« (z. B. Jeremias 1966). Die sehr hypothetische Diskussion trägt für Mt 7,6 nichts aus. Hier ist der griechische Text zu interpretieren, den der Evangelist geschrieben und offenbar für sinnvoll gehalten hat. U. Luz schlägt vor, im Kontext des Matthäusevangeliums auf eine Deutung zu verzichten (5 2002, 497). Bei Autorinnen und Autoren, die dem nicht folgen, sind methodisch zwei grundsätzliche Vorgehensweisen zu beobachten, die miteinander kombiniert werden können: (1) Es besteht die Option, nach einer metaphorischen Bedeutung für die Begriffe der Parabel zu suchen, d. h. einerseits die mit Schweinen und Hunden gemeinten Personen oder Gruppen zu identifizieren (häufig Ungläubige und Andersgläubige) und andererseits das durch Perle und Heiliges bezeichnete Gut zu entschlüsseln (z. B. die Verkündigung, die Eucharistie, …). Dieses Vorgehen ist besonders bei Autoren zu beobachten, die den Spruch an sich für unverständlich halten (etwa McEleney 1994, 495-497; H. D. Betz 1995, 493-500). (2) Daneben kann die Pointe der parallelen Aussagen bestimmt und versucht werden, sie im Kontext zu deuten. Da der Text m. E. auf der Bildebene zumindest einigermaßen verständlich ist (vgl. Luz 5 2002, 496), muss dies der grundlegende Schritt sein (mit von Lips 1988, 170). H. von Lips (1988, bes. 179 f.) hat zu zeigen versucht, dass es um ein den Gewohnheiten widersprechendes, unangemessenes Füttern (und dann allgemeiner um unangemessenes Verhalten) geht. Hunde, die eigentlich gar nicht gefüttert würden, bekämen sogar Opferfleisch und Schweine, die sonst gut gemästet würden, völlig ungeeignetes Futter. Doch wird hier zu wenig berücksichtigt, dass es sich in beiden Fällen um sehr kostbares und zum Verfüttern gar nicht gedachtes »Futter« handelt. Die Pointe zielt eher auf das Geben von etwas sehr Wertvollem an unwürdige, unangemessene Adressaten (vgl. Strecker 2 1985, 151). Der zweite Teil des Verses warnt – zunächst auf der Bildebene verbleibend – vor den Folgen des falschen Verhaltens. Im Kontext des Matthäusevangeliums wird dies überlagert, indem die angekündigten Folgen – durch die Verben »zertreten« und »zerreißen« und ihr Assoziationspotential – für das göttliche Gericht transparent sind, also mit diesem gedroht wird für den Fall, dass mit dem wertvollen Gut – was immer gemeint ist – so umgegangen wird. Mit diesen Überlegungen ist allerdings noch nicht sehr viel gewonnen. Schwierig bleibt, was der Spruch in seinem matthäischen Kontext besagen soll. Viele ziehen den 402

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Vers zu Mt 7,1-5. Er wolle eine Grenze für das Gebot, nicht zu richten, ziehen. Ab einem bestimmten Punkt, wenn die Wahrheit des Glaubens auf dem Spiel steht, müsse doch ein deutlicher Trennungsstrich gezogen werden (z. B. Strecker 2 1985, 152). Ein solches Ringen mit Grenzen des Vergebens und aufeinander Zugehens lässt sich auch in Mt 18 (bes. V. 15-18) beobachten. Andere denken an Erfahrungen der Mission. Wenn die Verkündigung auf Ablehnung und Verhöhnung stößt, dann muss das Evangelium vor Unwürdigen geschützt werden (z. B. Gnilka 3 1993, 259). Oder geht es um die Abgrenzung von häretischen Gruppen (H. D. Betz 1995, 500)? Die Schwierigkeit all dieser Vorschläge ist, dass ihr jeweiliger Bezug im unmittelbaren Kontext von Mt 7,6 durch nichts nahe gelegt wird. H. Frankemölle ordnet 7,6 u. a. wegen des gemeinsamen Stichwortes ›geben‹ Mt 7,7-11 zu und sieht eine ähnliche Logik wie in den Folgesprüchen: Wenn schon Menschen sich nicht unsinnig verhalten (nämlich Hunden Heiliges geben etc.), dann erst recht nicht Gott (Frankemölle 1994, 265 f.). Manchmal wird der Text auch als Weiterführung des Vaterunsers verstanden und auf die Versuchungsbitte (Mt 6,13; vgl. Cranford 2004) oder auf die Bitte um die Heiligung (!) des Gottesnamens (Mt 6,9; so Zeilinger 2002, 192 f.) bezogen. Die Zahl divergierender Varianten ließe sich leicht mehren (in jüngerer Zeit noch Bennett 1987). Eine konsensfähige Lösung des »Rätsels« ist also nicht in Sicht.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Parabel hat Sprichwort-Qualitäten, auch im Deutschen ist »Perlen vor die Säue« zum geflügelten Wort geworden (belegt seit etwa 1230; vgl. von Lips 1988, 165). Der Sprichwort-Charakter macht den Text für viele Bereiche anwendbar. Im Falle des Thomasevangeliums ist aus dem (nur unvollständig erhaltenen) Text nicht klar zu erkennen, was gemeint ist. Werden hier – wie in anderen Schriften auch – mit Hilfe des Spruchs negative Erfahrungen mit unwürdigen oder feindseligen Adressaten der Verkündigung reflektiert (vgl. EvThom 68; so Fieger 1991, 241)? EvThom 93: Gebt das Heilige nicht den Hunden, damit sie es nicht auf den Misthaufen werfen. Werft nicht die Perlen den Schweinen hin, damit sie sie nicht zu … machen. (Übersetzung nach: H. M. Schenke/Bethge/Kaiser 2001) Eine weitere Parallelüberlieferung liegt in Agr 165 vor (s. dort). In der Didache (Did 9,5) wird mit dem Verweis auf das Jesuswort »Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben« begründet, dass bei der Eucharistiefeier Brot und Wein nur getauften Christen vorbehalten sind. Die Pseudo-Clementinen beziehen das Bild von den Schweinen auf den Umgang mit der Verkündigung gegenüber unwürdigen oder ablehnend eingestellten Hörern (PsClem, Rec 2,3,4-5; 3,1,2-7). Ein regelmäßiges Muster der Rezeption von Mt 7,6 ist die Deutung der Hunde und Schweine auf Ungläubige, kirchliche Gegner und Apostaten (z. B. Hier. comm. in Matt. I zu 7,6 = CChr.SL LXXVII; I,903-913; weitere Hinweise zur Rezeptionsgeschichte und Parallelüberlieferung bei H. D. Betz 1995, 496-498; Luz 5 2002, 497)

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Literatur zum Weiterlesen H. D. Betz, The Sermon on the Mount. Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3-7:27 and Luke 6:20-49), Hermeneia, Minneapolis 1995, 493-500 L. L. Cranford, Throwing your Margaritas to the Pigs. A rhetorical Reading of Matthew 7,6, in: L. Lybæk/K. Raiser/St. Schardien (Hg.), Gemeinschaft der Kirchen und gesellschaftliche Verantwortung (FS E. Geldbach), Ökumenische Studien 30, Münster 2004, 351-363. H. von Lips, Schweine füttert man, Hunde nicht – ein Versuch, das Rätsel von Matthäus 7,6 zu lösen, ZNW 79 (1988) 165-186. N. J. McEleney, The Unity and Theme of Matthew 7:1-12, CBQ 56 (1994) 490-500. U.-K. Plisch, »Perlen vor die Säue«: Mt 7,6 im Licht von EvThom 93, ZAC 13 (2009), 55-61. F. Zeilinger, Zwischen Himmel und Erde. Ein Kommentar zur »Bergpredigt« Matthäus 5-7, Stuttgart 2002, 191-193.

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Ausreißen oder wachsen lassen? (Vom Unkraut unter dem Weizen) Mt 13,24-30.36-43 (EvThom 57) (24b) Mit dem Himmelreich verhält es sich wie mit einem Menschen, der guten Samen auf seinem Acker säte. (25) Als aber die Menschen schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut darauf, mitten in den Weizen, und ging weg. (26) Als aber die Halme anfingen zu sprossen und anfingen, Früchte zu tragen, da wurde auch das Unkraut sichtbar. (27) Da kamen aber die SklavInnen des Hausherrn und sagten zu ihm: »Herr, hast du nicht guten Samen auf deinem Acker gesät? Woher hat er nun Unkraut?« (28) Er aber sagte zu ihnen: »Ein feindlicher Mensch hat das getan.« Die SklavInnen aber sagten zu ihm: »Willst du (nun), dass wir weggehen und es zusammenlesen?« (29) Er aber spricht: »Nein, damit ihr nicht beim Zusammenlesen des Unkrauts zugleich mit ihm den Weizen entwurzelt! (30) Lasst beides zusammen wachsen bis zur Ernte. Und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: ›Lest zuerst das Unkraut zusammen und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen, den Weizen aber sammelt in meine Scheune!‹« (36) … Und seine JüngerInnen traten zu ihm und sagten: »Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker.« (37) Er aber antwortete und sagte: »Der, welcher den guten Samen sät, ist der Menschensohn. (38) Der Acker (aber) ist die Welt, der gute Same (aber), das sind die Kinder des Reiches. Das Unkraut aber sind die Kinder des Bösen; (39) der Feind, der es säte, ist der Teufel; die Ernte ist das Ende der (Welt-)Zeit; die Schnitter (aber) sind die Engel. (40) Wie nun das Unkraut zusammengelesen und im Feuer verbrannt wird, so wird es am Ende der (Welt-)Zeit sein: (41) Der Menschensohn wird seine Engel aussenden und sie werden aus seinem Reich alle zusammenlesen, die Anstoß geben*, und die TäterInnen der Gesetzlosigkeit; (42) und sie werden sie in den Feuerofen werfen; dort wird Heulen und Zähneklappern sein. (43) Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne im Reich ihres Vaters. Wer Ohren hat, soll hören.« *Möglich ist auch die Übersetzung: »alles Anstößige zusammenlesen« (s. Bauer 6 1988, 1505).

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Mt 13,24-30 steht innerhalb des matthäischen Gleichniskapitels. Mit der vorangehenden Parabel vom vierfachen Acker und ihrer Deutung (Mt 13,3-9.18-23) ist unser Text thematisch verbunden durch die Begriffe Same, Säen, Acker und das Wirken des Bösen bzw. des Feindes (Mt 13,19.28.38), mit den beiden folgenden Parabeln formal durch die gleiche Einleitungsformel (Mt 13,24.31.33). Die Deutung, die im EvThom fehlt, folgt nicht unmittelbar, sondern erst nach dem Doppelgleichnis von Senfkorn und Sauerteig. Text-

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intern richtet sich die Parabel an die Volksscharen (Mt 13,34a), die Deutung an die JüngerInnen (Mt 13,36). Die Parabel wird durch die Oppositionen säen und ernten (V. 24.30), wachsen und getrennt werden (V. 26.30) zusammengehalten, denen der Weizensame (zuerst gesät) und das Unkraut (zuerst geerntet) chiastisch verschränkt zugeordnet sind. Auf die für Matthäus charakteristische Einleitungsformel in 13,24ba (»das Himmelreich gleicht …«) folgt eine Exposition (13,24bb-26), die in der erzählten Welt Entstehung und Erkenntnis des Problems formuliert: Unter dem Weizen befindet sich Unkraut. Dieses Problem wird dann in der besprochenen Welt in zwei Gesprächsgängen im Hinblick auf Verursachung (13,27-28a) und Handlungskonsequenzen (13,28b-30) erörtert. Der erste Gesprächsgang führt zur Erkenntnis, dass ein Feind Unkraut gesät hat. Der zweite Gesprächsgang ist durch Tempuswechsel vom Aorist ins Präsens abgesetzt. In ihm folgt auf die kurze Frage der SklavInnen (13,28b) eine ausführliche Antwort des Hausherrn (13,29 f.), die wiederum durch Tempuswechsel ins Futur zweigeteilt ist und im zweiten Teil die zukünftige Erntezeit und die Schnitter einführt (13,30ba). Der Hausherr nimmt in seiner Rede vorweg, was er zu den Schnittern sagen wird (13,30bbg). Die Einleitungsformel in 13,24 signalisiert, dass der Text als Parabel zu verstehen ist. In der Exposition (13,24b-26) werden sukzessive ein Mensch als Protagonist und sein Feind als Antagonist eingeführt und damit eine die Parabel durchziehende Opposition. Beide säen, Ersterer den durch das Adjektiv »kal@ kalos« explizit positiv qualifizierten »guten« Samen, der in V. 25 als »Weizen« präzisiert wird, Letzterer Unkraut (ziz€nia zizania). Die Opposition zwischen Protagonist und Antagonist wird so auf der Ebene des Saatgutes fortgeführt. Während der Mann auf seinen Acker sät, sät sein Feind »mitten in den Weizen«. Die Ortsangaben weisen im ersten Fall auf das Besitzverhältnis, im zweiten Fall auf das Problem. Die Formulierung »als die Menschen schliefen« (V. 25) macht deutlich, dass die Tat des Feindes unbemerkt geschieht (vgl. Mk 4,27a). Das bereitet die Frage der SklavInnen vor, woher das Unkraut kommt (13,27). Das Weggehen (V. 25) wird nur vom Feind ausgesagt. V. 26 beschreibt (im ingressiven Aorist) das später erkennbar werdende Resultat des feindlichen Säens: das Erscheinen des Unkrauts. In einer Reihe von Handschriften fehlt in dem Satz »da wurde auch das Unkraut sichtbar« das kaffl (kai – auch), das indirekt auf den Weizen verweist, der in Mt 13,26 nicht explizit genannt wird. Durch Einführung der SklavInnen in Mt 13,27 als Adjuvanten wird die Voraussetzung dafür geschaffen, das Problem in der besprochenen Welt zu behandeln (vgl. analog Lk 13,7). Die Beziehung des Protagonisten zu den SklavInnen wird durch den Wechsel von dessen Bezeichnung als »Mensch« zu »Hausherr« präzisiert. Der erste Gesprächsgang zwischen ihnen (13,27-28a) nimmt die Oppositionen der Exposition auf. Die erzählte Welt wird in Frage und Antwort in die besprochene Welt aufgehoben und damit bewusst gemacht. Mit der Rückführung des Problems auf den Antagonisten kommt der Spannungsbogen dieses Gesprächsgangs zum Abschluss. Der Hausherr stellt fest: »Ein feindlicher Mensch hat das getan«. Während des ersten Gesprächsgangs gibt es gegenüber der erzählten Welt keinen Handlungsfortschritt. Der zweite Gesprächsgang (13,28b-30) ist durch den Wechsel ins Präsens historicum besonders betont (V. 28b.29a, Schenk 1976, 468). Er behandelt Lösungsmöglichkeiten für das Problem. Wieder ergreifen die SklavInnen die Initiative. Zielte ihre erste 406

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Frage auf den Ursprung des Problems (V. 27), so ihre zweite auf eine Problemlösung: »Willst du, dass wir … das Unkraut zusammenlesen?« (V. 28). Die mit dff (de – aber) dagegen gestellte negative Antwort des Hausherrn nimmt in ihrem ersten Teil die Formulierung der SklavInnen auf, geht dann jedoch über diese hinaus, indem sie (im Aorist) eine Begründung für die Ablehnung ihres Vorschlags liefert: Das Entwurzeln des Unkrauts träfe zugleich (¿ma hama) den Weizen. Die Begründung erweitert die in Mt 13,24-27 angelegten Oppositionen durch den Weizen, der hier zum ersten Mal als solcher bezeichnet wird (vgl. auch V. 30): Während die Bezeichnung für das Unkraut in der Parabel gleich bleibt, wird sein positives Pendant verschieden benannt; nur er wird in seinen verschiedenen Wachstumsstadien beschrieben (V. 26) und nur er wird mit dem Protagonisten verbunden. Das zeigt das große Interesse am guten Samen/Weizen. Auf die Begründung folgt die dem Vorschlag der SklavInnen entgegengesetzte Lösung durch den Befehl des Hausherrn, Unkraut und Weizen bis zur Ernte zusammen wachsen zu lassen (V. 30a). Neu in den Vordergrund tritt hier das Zeitmoment, der Ausblick auf die Ernte. Diese Zeitangabe signalisiert innerhalb dieses zweiten Gesprächsgangs einen neuen Abschnitt: Der Hinweis auf die Ernte wird durch »Zeit« (kair@ kairos) ergänzt, die Schnitter werden als neue Figuren eingeführt, das Tempus wechselt ins Futur in V. 30ba. Der Lösungsvorschlag wird unter dem Blickwinkel der Zukunft betrachtet. In einer antizipierten Rede in der Rede wird parallel zu V. 29 die Opposition Unkraut – Weizen aufgegriffen. Während in V. 28b die SklavInnen sich anbieten, das Unkraut zusammenzulesen, will der Hausherr in V. 30bb diese Arbeit Schnittern zuweisen. Letztere nehmen die Stelle der SklavInnen ein. Wurde das Schicksal von Unkraut und Weizen in Mt 13,29 noch durch ¿ma (hama – zugleich) zusammengebunden, so steht es jetzt in 13,30b in Opposition: Dem gemeinsamen Entwurzeln (V. 29) steht jetzt der Kontrast von künftigem Zusammenlesen, Binden und Verbrennen des Unkrauts auf der einen, Sammeln des Weizens auf der anderen Seite gegenüber (V. 30). Damit kommt der Spannungsbogen des zweiten Gesprächsgangs zum Abschluss. In ihm sind die Anweisungen in Bezug auf das Unkraut ausführlicher als in Bezug auf den Weizen. Das betonte »zuerst das Unkraut« (V. 30bb) kehrt die Reihenfolge bei der Aussaat um (V. 24 f.), so dass die Parabel mit dem Ergehen des Weizens schließt. Das letztes Wort in ihr: mou (mou – mein; in: meine Scheune) weist auf den Menschen zurück, der den guten Samen gesät hat. Die Deutung des Gleichnisses in Mt 13,37-43 ist an die JüngerInnen im Haus gerichtet (13,36). Die Ortsangaben in 13,36a und 13,1 f. bilden ebenso wie beide Aufmerksamkeitsformeln in 13,43 und 13,9 eine inclusio. Dadurch, dass am Anfang auf die Parabel als »Parabel vom Unkraut« (13,36b) zurückgegriffen wird, wird allein deren negative Aussage angesprochen. Die Deutung selbst zerfällt in zwei Teile: einen Deutungskatalog in 13,37b-39 und eine »kleine Apokalypse« in 13,40-43 (Jeremias 11 1998, 79). Der lexikonartige Katalog deutet fünf Metaphern aus der Exposition des Gleichnisses und zwei aus dem abschließenden Vers 30 nach dem Schema: Das Bild A ist die Sache B. Dabei ist in der Auslegung die Reihenfolge Acker – Same; Unkraut – Feind gegenüber der Parabel vertauscht, was den Kontrast zwischen den Söhnen der Königsherrschaft und den Söhnen des Bösen (V. 38) verschärft (vgl. das Schema von Gemünden 1993, 245). Nicht gedeutet werden das Wachsen (V. 26) und ein Großteil des Dialogs (V. 27-29). Der Wechsel zum zweiten Teil der Deutung, der kleinen Apokalypse (13,40-43), die als Applikation fungiert, wird durch einen Übergang vom Präsens ins Futur markiert, wobei Stichwortaufnahmen den Bezug zum Deutungskatalog festhalten (von Gemünden 1993, 407

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245). Diese »kleine Apokalypse« rekurriert allein auf den Schluss der Parabel (Mt 13,30) und konzentriert sich auf den Kontrast zwischen dem Ergehen der ÜbertreterInnen des Gesetzes und dem der Gerechten, wobei Ersteres breiter geschildert und damit besonders akzentuiert ist, während der Weizen und die Scheune nicht mehr aufgegriffen werden. Die Gerichtsschilderung weist Gemeinsamkeiten mit Mt 13,49 f. auf (vgl. weiter Mt 25,31-46).

Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich) Der Mensch, der nach 13,24 selbst säte, hat nach 13,27 ff. als o§kodespth@ (oikodespote¯s – Hausherr) Verfügungsgewalt über seinen Acker und über SklavInnen, die für ihn arbeiten. Das ist nicht »unstimmig« (gegen Luz 3 1999, 321), sondern weist auf einen freien Kleinbauern. Diese konnten in Palästina SklavInnen besitzen (vgl. Lk 17,7-9; von Gemünden 1993, 239 f. Anm. 215). Gutes und sortenreines Saatgut ist für die Existenzerhaltung von großer Bedeutung (s. Philo legat. 293; EkhaR zu 1,1), deshalb wird es sorgfältig ausgewählt und gereinigt (von Gemünden 1993, 240 Anm. 218 f.; Schnebel 1925, 119-125). Gelegentliche Fehden zwischen Bauern sind gut bezeugt (Verg. ecl. 3,10 f.17-24; Lib. or. XLVII, 4 f.; Keener 1999, 387). Dabei konnte es zu feindlichen Aktionen kommen. Im römischen Recht z. B. wird der Fall erörtert, dass jemand Lolch oder Windhafer in die Saat eines anderen sät, um diese zu verunreinigen (Dig. IX,2,27,14, s. dazu MacCormack 1973, 341-348). So etwas muss also häufiger vorgekommen sein (s. Dig. I,3.4 f., A. J. Kerr 1997, 108 f.). Das zeigt auch die Bemerkung in Midr. Tanch B Naso § 5 (Tan), dass der Mensch nicht wisse, was sie (sc. die Samen) sind, »bis das Wasser auf sie herabströmt und kundtut, ob sie vom Eigentümer des Feldes (ausgesät) sind, oder was andere gesät haben« (Übers. Bietenhard 1982, 228). Es gibt außerdem ethnographische Analogien für solch ein schädigendes Vorgehen (von Gemünden 1993, 240 f. mit Anm. 223 f.; Tripp 1999, 628). Das in Mt 13,25 geschilderte Ausstreuen von Unkrautsamen ist also nicht unbedingt unrealistisch (gegen Pirot 1949, 109; Weder 4 1990, 120, u. a.). Auf den Einwand: »… welcher Feind … hätte … genügend Lolchsamen parat?« (Luz 3 1999, 324) ist zu entgegnen: Das Saatgut wurde vor der Aussaat gereinigt, wie die entsprechende Verpflichtung in ägyptischen Pachtverträgen zeigt (Schnebel 1925, 118 f.125). Aufgrund ihrer im Unterschied zum Weizen gelblich-braunen Färbung (Wittmack 2 1922, 247) sind Lolchkörner gut von Weizenkörnern zu unterscheiden und können getrennt werden, da sie kleiner und leichter sind (Guthe 1918, 165). Dennoch wurde keine vollkommene Sortenreinheit erreicht. Das war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts unmöglich (Mell 2006, 121). Die Trennung erfolgte im Orient durch Sieben (Sprenger 1913, 92; Dalman 1932, 325; Dalman 1933, 139-148) – dabei fielen genug Unkrautsamen an. Lolchsamen wurden als Hühnerfutter verwandt (Colum. VIII,4,1; VIII,8,6), so dass man ihn (wohl zum Verkauf) auch transportierte (Geop. 14,7,3; mKil I,1; jKil 1,26d; Dalman 1932, 250.325) und das impliziert auch: sammelte. Damit wären wir schon bei der Frage, wie sich das Unkraut botanisch näher bestimmen lässt. Ziz€nia zizania, sing: ziz€nion zizanion ist ein semitisches Lehnwort (Löw 1881, 133; Löw 1928, 728; griech.: a ra aira). Es fehlt in der LXX und auch sonst im Neuen Testament. Die Informationen im Gleichnis, sprachliche Anklänge an arabisch 408

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Ausreißen oder wachsen lassen? Mt 13,24-30.36-43

ziwan bzw. aramäisch zonin (Guthe 1918, 164) und die Väterauslegungen legen es nahe, an den Taumellolch zu denken: Lolium temulentum L. (Sprenger 1913, 90 f.; Fonck 3 1909, 139), nicht an den Syrischen Schuppenkopf, Cephalaria syriaca L. (Mell, 2006, 115 f. mit Anm. 48). Taumellolch ist ein Gras, das in der Antike weit verbreitet war und unter Getreide wächst (Theophr. h. plant. VIII,8,3; Verg. georg. I,154; Verg. ecl. 5,37). Es ist in Größe und Gestalt dem Weizen besonders im ersten Wachstumsstadium sehr ähnlich (Hier. comm. in Matt. 13,37 [SC 242]; Moldenke 1952, 134). Oft galt er als verhexter oder »verhurter«, d. h. entarteter Weizen (vgl. hebr. zona = »Hure«. Zur Frage insgesamt s. Dalman 1928b, 407 f.; Dalman 1932, 249; Löw 1928, 725 f.; vgl. Theophr. h. plant. VIII,7,1; 8,3). Nach Ausbildung der Ähren sind Lolch und Weizen leicht unterscheidbar (Hier. comm. in Matt.13,37 [SC 242]; EvThom 57, sowie die Abbildung des Lolchs auf dieser Seite und im Unterschied dazu die Abbildungen von Weizenähren verschiedener Sorten in: D. Zohary/Hopf 2 1993, 20-27, Abb. 2-5). Ein geübtes Auge erkennt den Lolch aber auch schon vorher an den etwas schmaleren Blättern (Theopr. h. plant. VIII,7,1). Nach Dalman 1932, 325 sind »eine Woche vor der Entwicklung der Ähren die Blätter des Taumellolchs 2-4 mm breit …, die des Weizens 4-5 mm«. Ihr Unterschied sei dennoch »mühsam« zu erkennen (Dalman 4 1967, 201). Lolch verdirbt (Geop. II,43) und erstickt (Ov. met. 5,485 f.; Ennius fr. var 31 [ed. Vahlen]) den Weizen. Lolch ist giftig – vielleicht, weil er selbst toxisch ist (Roth/Daunder/Kormann 4 1994, 465), wahrscheinlich aber wird er erst aufgrund eines durch den Parasiten Claviceps purpurea evozierten Pilzes toxisch (Pyrrolizidin-Alkaloide, Habermehl/ Ziemer 2 1999, 49). Nach Verzehr z. B. von Brot, dessen Mehl mit Lolch verunreinigt war, kann dieses Gift (Arist. somn. 456b30) Schwindel, Gleichgewichtsstörungen – daher Taumellolch –, Erbrechen, Sehstörungen bis zur Blindheit und im Extremfall Tod durch Atemlähmung hervorrufen (Geop. 2,43; Ov. fast. 1,691; Bömer 1958, 75 f.; Moldenke 1952, 134; Ha- Lolch im Entwicklungs- und ausgewachsenen Stadium. Zeichnung © Ch. Beckmann. bermehl/Ziemer 2 1999, 49). Was das Jäten des Lolchs in der Antike anlangt, war die Praxis nicht ganz einheitlich bzw. vom Zeitpunkt abhängig: Gewöhnlich wurde der Lolch ausgejätet (Sprenger 1913, 91-92: bis kurz vor der Ernte; Krauss 1911, 185; Enn. b. Prisc. inst. gramm. 10,42; Dalman 1932, 324 f., Letzterer für das arabische Palästina). Bisweilen wurde er aber auch stehen gelassen (jKil 1,26d; Dalman 4 1967, 201; dagegen als begründete Ausnahme: Dalman 1932, 325). Von gelegentlichem Jäten nach der Ährenbildung spricht Dalman 4 1967, 201. Zu diesem Zeitpunkt sind die Wurzeln des Lolchs mit denen des Weizens schon so stark 409

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Parabeln im Matthäusevangelium

verflochten, dass die Gefahr besteht, mit dem Lolch auch den Weizen aus der Erde zu reißen (Dalman 1932, 325; vgl. Mt 13,29: ¥krizw [ekrizoo¯ – entwurzeln]). Dass man sich dessen bewusst war, eine Kultur durch Unkrautbekämpfung schädigen zu können, zeigt das Sprichwort bBQ 92a: »Mit der Unkrautstaude wird der Kohl gezüchtigt« (= herausgerissen). Während in der Saat- und Wachstumsphase nur der Bauer und seine SklavInnen (do‰loi douloi) für die Landwirtschaft zuständig sind, wurden zur Ernte üblicherweise Tagelöhner (qeristaffl [theristai – Erntearbeiter, Schnitter]) eingestellt (Mt 20,1-16; Jak 5,4; vgl. von Gemünden 1993, 243 mit Anm. 247; Hezser 1990, 58; Dalman 1933, 17 f.). Da bei der Ernte alle Hände gebraucht wurden, mussten Tagelöhner(Innen) die SklavInnen unterstützen, jedoch findet sich bei Var. rust. I,17,2 auch der Rat, die eigenen (kostbaren) SklavInnen zu schonen und zu harten Arbeiten wie Erntearbeiten lieber Tagelöhner(Innen) einzusetzen. Die Ernte erfolgte meist mit der Handsichel (vgl. Jes 17,5; Ps 129,7; Abb. in von Gemünden 1993, 77). Ein Sammeln, Zusammenbinden und Verbrennen des Lolchs noch vor der Ernte des Weizens ist unwahrscheinlich (Dalman 1928b, 408 f.; Dalman 1932, 325; gegen Fonck 3 1909, 139). BemR 4 zu 3,40 setzt Tennen mit Lolch und eine mit Getreide voraus (Israel). Der Lolch konnte als Hühnerfutter oder Brennmaterial verwandt werden, während der Weizen in der Scheune gesammelt wurde. Insgesamt kann man also trotz aller Bedenken feststellen: Die Bildlichkeit des Gleichnisses bleibt im Bereich des Möglichen.

Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition) Das Bild des Säenden (Mt 13,3.18.31; Mk 4,26) begegnet im Alten Testament selten und spät. Es weist manchmal auf einen allgemeinen Tun-Ergehens-Zusammenhang (von Gemünden 1993, 220 f. mit Anm. 97, vgl. auch TestLev 13,6). Zuweilen ist Gottes Handeln gemeint (Jes 28,25; Esr 9,2 und unten). Das gilt auch für das Bild des o§kodespth@ (oikodespote¯s – Hausherr; 13,27): Es fehlt in der LXX und bei Josephus. Wir finden es in Bezug auf Gott aber bei Epict. diss. III, 22.4; bei Philo somn. I, 149, im Neuen Testament (Mt 20,1.11; 21,33 diff. Mk 12,1; u. ö.) und bei den Rabbinen (PesK Anh. IB bei Thoma/Lauer 1986, 321 [Nr. 76]; ShirR zu 7,3). Das Bild ist bei Mt positiv konnotiert. In Mt 10,25 steht der Begriff oikodespote¯s für Jesus (vgl. IgnEph 6,1: kÐrio@). Daher liegt für Mt 13,27 schon aufgrund des Bildes eine Identifikation des Hausherrn mit Jesus nahe, wofür auch die Anrede als kÐrio@ (kyrios – Herr) spricht (Mt 13,27, vgl. Mt 25,20.22.24; Lk 14,22 u. ö.). In der Deutung wird der Säende dann explizit mit dem Menschensohn identifiziert (13,37); sein Feind dagegen – wohl sekundär verengend (Dschulnigg 1988, 498 f. Anm. 11) – mit dem Teufel (13,39). Die Deutung auf den Teufel entspricht verbreitetem jüdischem Sprachgebrauch (ApkMos 2,4; 7,2; 28,4; 3Bar 13,2; TestDan 6,3; TestHiob 47,10). Auffällig ist: Die SklavInnen werden in Mt 13,36 ff. nicht gedeutet (s. schon Chrys. hom. in Mt 47). Diese Leerstelle soll evtl. die Identifizierung der LeserInnen und HörerInnen mit ihnen erleichtern (Erlemann 1988, 62 Anm. 129). Theologisch tiefer geht die Deutung, dass die SklavInnen nicht eindeutig auf der Seite des Menschensohns stehen sollen (Luz 3 1999, 348 Anm. 69). Die Metapher des Sklaven konnte im Alten Testament 410

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Ausreißen oder wachsen lassen? Mt 13,24-30.36-43

JHWHs Propheten (2Kön 17,23; Jer 7,25; 25,4 u. ö.) oder wie im Urchristentum Fromme bezeichnen (Ps 19,14; PsSal 10,4; vgl. Ps 68,37 LXX; 1Petr 2,16; Apk 1,1; 7,3 u. ö.). Die Erntearbeiter werden in Mt 13,39.41 mit Engeln identifiziert, was der Vorstellung von Strafengeln entspricht (1Hen 53,3-5; 54,6; LibAnt 15,5; Apk 14,14-19). Auch in Mt 24,30 f. sendet der Menschensohn seine Engel zur eschatologischen Sammlung der Erwählten. Die Metaphorik von Säen und Saat ist im Alten Testament im Unterschied zum Bild des Pflanzens und der Pflanzung (Quell 1964, 542 Z. 11 ff.) nicht ausgeprägt und begegnet erst spät. In Sach 10,9; Hos 2,1-3.25; Jer 31,27 f. (dtr.); evtl. auch Ps 90,5 (Lohfink 1985, 216-219) findet sich der Gedanke, dass Gott Menschen (Israel) sät. In Jes 1,4 LXX spricht der Prophet von Juda und Jerusalem als Volk von Sündern, bösem Samen (spffrma ponhrn sperma pone¯ron) und gesetzlosen Söhnen. Weitere Belege für die Aussaat von Menschen finden sich in der Apokalyptik (4Esr 5,48; 8,41[44]; 2Bar 70,2). Bei Philo von Alexandrien sät Gott menschliche Seelen (Philo Mos. I, 279). Interessant sind die Einschränkungen. Oft ist nicht ganz Israel Saat Gottes: In Jes 6,13 und – in Verbindung mit dem Gebot der Absonderung und dem Verbot der Mischehen – in Esr 9,2 wird nur der Rest Israels als »heiliger Same« bezeichnet, in 1Hen 62,8 ist nur von der Aussaat der Gemeinde der Heiligen und Auserwählten die Rede. Oft wird das, was Gott sät, auf etwas Positives im Menschen eingeschränkt: Nach Philo von Alexandrien sät Gott bei seiner »psychischen Landwirtschaft« (det. 111; agr. 25) das Schöne, die Einsicht und die Tugend in die Seelen (LA I 45.49.79; III 181; Cher. 44.52). Das erinnert an den König, der Zuneigung und Liebe sät (Arist. 230). Aber nicht nur Gutes wird ausgesät. Im 4. Esrabuch lesen wir: »Denn das Böse … ist ausgesät; aber seine Ernte ist noch nicht gekommen. Bevor also nicht geerntet ist, was ausgesät war, und der Platz nicht verschwunden ist, wo das Böse gesät worden war, wird der Acker nicht erscheinen, wo das Gute gesät ist« (4Esr 4,28f). Ohne Identifikation des Säenden ist hier von der Saat des Bösen und des Guten die Rede – jedoch ist diese anders als in Mt 13 auf diesen und den kommenden Äon verteilt. In Mt 13,38 wird der gute Same auf die Kinder des Reiches, das Unkraut auf die Kinder des Bösen (»TäterInnen der Gesetzlosigkeit« nach 13,41!) gedeutet, der Acker auf die Welt. Das Problem des gemeinsamen Wachsens von Unkraut wie Disteln und Nutzpflanzen wie Weizen begegnet selten und spät. Bei Plutarch (mor. 439B; 497C) ist es ein Bild für das In- und Miteinander von Gutem und Schlechtem im Menschen. Das Bild der Unkrautbeseitigung benutzt er zur Beseitigung von unguten Extremen (mor. 529AB). Ähnlich wird bei Philostrat Gut und Böse kontrastiert: »Schneide die hohen … Ähren nicht ab … Aber die Bosheit rotte aus wie die Disteln im Saatfeld! Erwecke in den Aufrührern Furcht … vor der Strafe« (Apollonius von Tyana V,36). Auch Anthisthenes gebraucht das Bild für ein Plädoyer dafür, Schurken von der Staatsführung auszuschließen (D. L. VI,6). Dieses Bild bringt also eine Option für eine Selektion zum Ausdruck. Anders braucht es jedoch Aulus Gellius 19,12,7-9 in einer Argumentation gegen das Ausreißen der Affekte. Mit Mt 13,24 ff. vergleichbar ist die rabbinische Parabel vom Baum mit Lebenssaft (= Jakob) und vom Baum mit Todessaft (= Esau) in PesK Anh IB, in der sich der Pächter sagt: »Wenn ich in diesem Weinberg jäte, wird der Baum mit Todessaft mit ihm [dem Baum mit Lebenssaft] groß. Wenn ich aber in diesem Weinberg nicht jäte, stirbt der Baum mit Lebenssaft ab. Vielmehr sagte der Pächter: Soll ich mich mit diesem Weinberg 411

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Parabeln im Matthäusevangelium

abmühen, wo doch der Hausherr weiß, ob er in seinem Weinberg will jäten lassen oder nicht?« (Thoma/Lauer 1986, 321 f.; s. dazu Dschulnigg 1988, 494 ff.). Diese rabbinische Parabel bewegt sich nicht im Bildfeld von Saat und Ernte, sondern von Baum und Frucht. Das Unkraut ist eine dritte Größe. Die Parabel erzählt auch nicht, wie sich der Hausherr entscheidet – der Bibel ist gleichwohl zu entnehmen, dass Gott beide Bäume, Jakob und Esau, wachsen lässt. Dabei ist zu beachten, dass in das Gleichnis hinein die Gleichsetzung von »Jakob = Israel, Esau = Weltvölker« wirkt (Thoma/Lauer 1986, 322). Philo lehnt von vornherein eine Vermischung fruchtloser und fruchtbringender Bäume ab (All I, 49 f.). Einmal finden wir auch die Option, die Scheidung Gott zu überlassen. R. Eleazar, der in römischen Diensten Diebe festnahm, sagte: »Ich entferne die Dornen aus dem Weinberg!« und bekam darauf von R. Jehoschua b. Qarda die Antwort: »Mag der Besitzer des Weinbergs [= Gott] kommen und selber seine Dornen entfernen.« (bBM 83b). Auch hier befinden wir uns im Bildfeld von Baum und Frucht, da der Weinstock den Bäumen zugerechnet wurde. Verbreitete Gerichtsbilder sind das Entwurzeln (Zeph 2,4; Dan 4,14 LXX; Sir 3,9; SapSal 4,4; Mt 15,13; Jud 12), die Ernte (Jes 17,5; Jer 51,33; Jo 4,13; Apk 14,14 ff.) und das Verbrennen (Mt 3,10.12). Dabei nimmt der Feuerofen in Mt 13,42.50 Dan 3,6(-11) auf (vgl. 1Hen 98,3; 1Hen 10,6). Die Ernte kann auch positiv als Einsammeln der Auserwählten verstanden werden (Jes 27,12; Mi 4,12 f.; Mt 9,38). Das Sammeln in die Scheune (vgl. 4Esr 4,35 f.; 2Bar 70,2) findet sich in Opposition zum Verbrennen auch in Mt 3,12 in einem Johannes dem Täufer zugeschriebenen Bildwort. In Mt 13,39 wird die Ernte einer geläufigen jüdischen Ausdrucksweise entsprechend als »Ende der (Welt-)Zeit« gedeutet (vgl. TestBen 11,3; TestLev 10,2; TestHiob 4,6; Billerbeck I 2 1926, 671). Weder der Weizen noch die Scheune werden in der Deutung wieder aufgegriffen. Während Unkraut bisweilen mit heidnischen Völkern konnotiert ist (ShirR zu 2,2; PesR 10), ist Weizen meist ein Gemeinschaftsbild für Israel (MTeh zu 2,13.16; ShirR zu 7,3; PesR 10; BemR 4 zu 3,40; TanB Bemidbar § 22). Sehr viel häufiger als das Bild des Unkrauts findet sich in rabbinischem Kontext freilich das Bild von Stoppeln, Stroh, Spreu, Mist für Heiden (von Gemünden 1993, 183 Anm. 10; 238 f. mit Anm. 209; von Gemünden 1996, 416) – Bilder, die im Alten Testament noch nicht so stark auf die out-group konzentriert sind (von Gemünden 1993, 80 f.). Midr. Sam I § 3 interpretiert das fruchtlose Unkraut auf die Frevler, den fruchtbringenden Weizen auf die Gerechten. Es gibt eine sehr späte Fabel vom Streit zwischen Lolch und Weizen (AgBer 23, ed. Buber 1903, 48): »Es sagten die Lolche zum Weizen: Wir sind besser als ihr, und sowohl auf euch als auch auf uns fällt der Regen und scheint die Sonne. Da sagte ihnen der Weizen: Nicht was ihr sagt, ist richtig, sondern was wir sagen; denn der Worfler kommt und sammelt uns in die Scheune ein, ihr aber werdet den Vögeln zum Frass. So sind die Weltvölker und Israel zusammen in der Welt vermischt, wie geschrieben steht: ›Sie vermischten sich mit den Völkern und lernten ihre Werke‹ (Ps 16,35). Die Weltvölker sagen zu Israel: Wir sind besser als ihr, und auf uns und auf euch fällt der Regen und scheint die Sonne. Dann spricht zu ihnen Israel: Nicht was ihr sagt, ist richtig, sondern was wir sagen. Es wird nämlich der Tag kommen, an dem die Gerechten ins Paradies und die Frevler in die Hölle kommen werden (vgl. Dan 12,2)« (Übers. Flusser 1981, 135). Die aus dem Bildfeld realisierten Elemente sind also mehrheitlich nicht breit und eher spät bezeugt. Sowohl das Problem des Miteinanders von Unkraut und Weizen in der 412

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Wachstumsphase als auch die Reaktion darauf in Mt 13 ist auf dem Hintergrund des Bildfelds überraschend. Denn das Problem des Miteinanders stellt sich v. a. entweder im Hinblick auf die Körner auf der Tenne oder aber im Bildfeld Baum-Frucht. Die Bilder von Saat und Ernte werden erst selten und spät auf eine Gemeinschaft bezogen. Die Bildtradition zielt mehrheitlich auf eine Scheidung. Die nächste Parallele zu unserer Parabel ist ein Jesusgleichnis. Auffällig ist die Übereinstimmung sehr vieler Elemente (sogar in der Akoluthie) mit denen der – nur von Markus bezeugten – Parabel von der selbst wachsenden Saat in Mk 4,26-29 (s. Klauck 2 1986, 226; Sheppard 1965, 274). Weil unsere Sondergutparabel zudem an deren Stelle steht, hat man immer wieder erwogen, ob die Parabel vom Unkraut im Weizen als »vertiefende oder kritische Weiterführung von Mk 4,26-29 gebildet worden« sei (Luz 3 1999, 323; Manson 9 1977, 192 dagegen: Keener 1999, 386 Anm. 40).

Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte) Die Parabel vom Unkraut unter dem Weizen und die Parabel vom vierfachen Acker (siehe oben zu Mk 4,3-9.13-20) sind die beiden einzigen Vegetationsparabeln im Neuen Testament, die mit einer allegorischen Deutung überliefert sind. Beide greifen nicht auf das traditionelle Bildfeld Baum-Frucht zurück, um von einer Gemeinschaft und ihren Problemen zu handeln, sondern auf das Bildfeld Saat-Ernte, das in der Tradition bisher nur sehr selten auf eine Gemeinschaft gedeutet wurde. Ist doch die kurze Zeit zwischen Saat und Ernte als Bild für eine lange dauernde Gemeinschaft weniger geeignet als ein Baum, der viele Jahre überdauert. Diese Parabeln besetzen daher eine bisher leere Bildfeldstelle neu. Schon deswegen ist eine zusätzliche Deutung nahe liegend. Zudem enthalten diese beiden Parabeln im Unterschied zu denen von der selbst wachsenden Saat und vom Senfkorn so genannte »Differenzierungsbilder«. Diese differenzieren eine Pluralität aus: Sie handeln von mehreren Samen und ihrem verschiedenen Geschick und integrieren auch Negativa ins Bild (von Gemünden 1993, 321.257.419). Da das Verständnis dieser »Differenzierungsbilder« durch keine vorgegebene Bildtradition gestützt wird, sind sie besonders deutungsoffen. Von daher ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass »gerade die Gleichnisse mit Differenzierungsbildern (und nur sie) eine allegorische Auslegung im Neuen Testament erfahren haben« (von Gemünden 1993, 419). Hier ist eine Deutung notwendig. Da diese Deutungen – wohl aufgrund einer Problem- und Situationsverschiebung – gegenüber der jeweiligen Parabel neue Akzente setzen, betrachten wir zunächst die Parabel in Mt 13,24-30 für sich. Das Himmelreich wird in Mt 13,24 – erstmals in Mt 13 (vgl. aber 13,11.18) – explizit als Thema des Gleichnisses genannt. Zwar bezieht sich der Vergleich grammatikalisch auf den säenden Menschen, die formelhafte Formulierung meint aber das im Folgenden erzählte Geschehen (Roloff 2005, 54; Münch 2004, 141). Auffällig gegenüber Mt 13,3.31 ist die doppelte Aussaat durch den Menschen und seinen Antagonisten in der narrativen Einführung. Während der Mensch guten Samen aussäte und damit schon deutlich wird, dass er darauf abzielt, die Frucht desselben zu ernten, säte sein Feind ein ähnlich aussehendes giftiges Unkraut. Diese Exposition macht unmissverständlich deutlich, dass das auf dem Acker nach einiger Zeit sichtbar werdende (13,26) Unkraut nicht als natürliches (und damit als unvermeidlich zu akzeptierendes) 413

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Parabeln im Matthäusevangelium

Phänomen zu werten ist, sondern auf das Agieren eines Feindes zurückgeht. Letzteres kam bisweilen vor und dürfte den AdressatInnen daher plausibel erschienen sein. Trotz der Aussaat guten Samens wachsen nun giftiges Unkraut und Weizen auf dem Acker zusammen, was angesichts von ungünstigen Bedingungen (vgl. nur Mt 13,3 ff.) durchaus existenzbedrohend sein kann. Diese erschreckende Situation wird in zwei Gesprächsgängen zwischen den SklavInnen und ihrem Hausherrn reflektiert. Der erste gilt der kognitiven Klärung der Situation: die SklavInnen, in denen sich die AdressatInnen wieder finden können, suchen zu verstehen, was sie beobachtet haben, indem sie nach der Ursache fragen. Die Antwort des Hausherrn verweist auf das Tun des Feindes (ohne dass ersichtlich wird, woher er das so sicher weiß). Dieser Gesprächsgang hebt das Erzählte ins reflektierende Bewusstsein. Die damit zum Ausdruck gebrachte Wertung der vorgefundenen Wirklichkeit ist klar: Das faktische Miteinander von Unkraut und Weizen ist nicht selbstverständlich, im Rahmen des kultivierten Ackerbaus weder »natürlich« noch letztendlich zu akzeptieren. Die Frage, wie auf diese Situation zu reagieren sei, wird im zweiten, sehr viel längeren und durch die Schlussstellung betonten Gesprächsgang behandelt. Soll man das Unkraut ausjäten oder zusammen mit dem Weizen wachsen lassen? Die Antwort ist schwierig, denn jede der beiden Optionen ist mit einer Ertragsminderung verbunden. Dennoch entscheidet sich der Hausherr klar gegen das Ausjäten, da die Wurzeln schon miteinander verwoben sind – sei es wegen des späten Zeitpunkts der Entdeckung oder wegen der Menge des Unkrauts (Bugge 1903, 135; W. D. Davies/Allison 1991, 414; Nolland 2005, 546). Die Entscheidung des Hausherrn ist vom Schutz des Weizens her motiviert, wie der Hausherr erklärt (da das Jäten die normale Praxis gewesen sein dürfte, war seine Entscheidung explikationsbedürftig). Seine Anweisung: »Lasst beides zusammen wachsen bis zur Ernte« (13,30) bildet den Höhepunkt des Gleichnisses. Die SklavInnen dürfen also – was sehr ungewöhnlich ist (Münch 2004, 170) – nicht aktiv eingreifen und dabei nolens volens zu HandlangerInnen des Feindes werden, indem sie den Weizen gefährden. Nicht jetzt ist die Zeit der Trennung, sondern zur Erntezeit – das entspricht der in der apokalyptischen Literatur verbreiteten (jedoch dort nicht mit dem Bildmaterial unserer Parabel verbundenen) Vorstellung, dass Ungerechte und Gerechte bis zum Gericht zusammen sind. Aber auch dann werden nicht die SklavInnen die Trennung durchführen, sondern (auf Initiative des Hausherrn) die Schnitter. Diese werden (entgegen landwirtschaftlicher Praxis, aber verbreiteter jüdischer Gerichtserwartung entsprechend, s. Luz 3 1999, 325; Apk 19 f.) zuerst das Unkraut einsammeln und verbrennen und sodann den Weizen einbringen. Der Ausblick auf die endzeitliche konsequente Scheidung macht deutlich: Die bedrohliche Mischung von Unkraut und Weizen in der Gegenwart berührt nicht deren negative oder positive Wertung. Aber jetzt, so mahnt die Parabel, ist nicht die Zeit der Scheidung – noch wird sie die Aufgabe der SklavInnen sein. Diese dürfen nicht selektierend eingreifen, denn der Weizen darf nicht gefährdet werden. Das stellt in tröstend-ermutigender Weise das große Interesse des Herrn an der Frucht des guten Samens heraus. Zeigt sich die Parabel selbst an der Erhaltung des Weizens interessiert und mahnt zum geduldigen Ertragen der Gegenwart, so verschiebt sich in der Parabelauslegung das Gewicht auf das Ergehen des Unkrauts im Gericht und damit auf die Zukunft. Der Horizont wird explizit universalisiert, der Kontrast (zwischen den Kindern des Reiches und denen des Bösen) stärker profiliert (V. 38) und die zukünftige Vernichtung des Unkrauts breit ausgemalt (V. 40-42). 414

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Ausreißen oder wachsen lassen? Mt 13,24-30.36-43

Während die Deutung aufgrund von Sprache, Stil und Inhalt (Jeremias 11 1998, 7983; Jeremias 1962, 59-61) auf mt Herkunft weist (Wiefel 1998, 258), wird häufig angenommen, dass Matthäus die Parabel vormatthäischer Tradition entnommen hat (Marguerat 2 1995, 428), ja dass diese eine Neuerzählung von Mk 4,26-29 sei (s. o.). Gelegentlich wird die Parabel sogar (in einem Vorstadium) auf den historischen Jesus zurückgeführt (Hill 1972, 232; Weder 4 1990, 123 ff.). Die jeweilige Einordnung hat Auswirkungen auf die Interpretation: Ist die Parabel (meist: eine Vorform der Parabel) auf dem Hintergrund von Bestrebungen innerhalb des Judentums zu verstehen, eine reine Gemeinde der Endzeit durch konsequente elitäre Abgrenzung von anderen zu verwirklichen? Dabei wird v. a. an Zeloten, Essener und Pharisäer gedacht und an die Auseinandersetzungen Jesu mit Letzteren wegen seines Umgangs mit Sündern (Jeremias 11 1998, 221 f.; vgl. Conzelmann 1957, 285 mit Anm. 2; H. Braun 2 1969, 59 Anm. 1 von S. 57). Dann wäre das Lösungsmuster der Parabel in der Jesustradition singulär (G. Barth 1978, 164) und zu fragen, ob das Bild der SklavInnen wirklich als angemessenes Identifikationsgebot für Mitglieder einer out-group zu werten ist (von Gemünden 1993, 247 f. Anm. 266). Das Bild verweist eher auf JesusanhängerInnen. Denkt die Parabel an die christliche Gemeinde, so gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder grenzt sie die christliche Gemeinde zur Außenwelt ab, sei es (so Luz 3 1999, 342: in der vormatthäischen Tradition) zum nicht-christusgläubigen Israel (s. die Unkraut-Weizen-Metaphorik; Mt 11 f.; 15,13; Luz 3 1999, 325; Kingsbury 1969, 72 f.; vgl. Luomanen 1998, 479: »the Jewish leaders … of Matthew’s own time«), sei es zur nicht-christlichen Umwelt insgesamt (vgl. Mt 13,38)? Oder die Parabel will deutlich machen, dass eine Grenze durch die eigene Gemeinde läuft: Sie zielt dann auf das Problem einer faktischen Mischung innerhalb der eigenen Gemeinde, obwohl diese ihre Existenz auf das Wirken Jesu, auf dessen Aussaat guten Samens zurückführt (Marguerat 2 1995, 429 mit Anm. 20; Hendriksen 1973, 573; für Matthäus nach der Trennung von der Synagoge: Luz 3 1999, 325). Oder ist die Mischung in der Welt oder in der Kirche letztendlich keine Alternative (Strecker 3 1971, 217-219)? Die optimistische Erwartung, dass ausgesäte (Weizen-)Samen ohne menschliches Zutun bis hin zur Ernte reifen, teilt die Parabel auf jeden Fall mit Mk 4,26-29 (Roloff 2005, 52) und bekräftigt sie noch durch die Aufnahme negativer Elemente ins Bild. Während der mt Jesus die Parabel erzählt, identifiziert die Deutung den Säenden mit dem Menschensohn (13,37), der auch als Herr des Gerichts vorgestellt wird (13,41): Das Himmelreich (13,24) wird christologisch reinterpretiert (Zumstein 1997, 94). Der Acker ist die Welt als Missionsfeld der Kirche, der gute Same (häufig in der Parabel aufgrund von Mt 13,19 auf Jesu Verkündigung vom Himmelreich interpretiert) steht für die Kinder des Reiches, das Unkraut für die Kinder des Bösen. Letztere tauchen auch in der Gemeinde auf. Die Deutung mahnt nicht zur Geduld um des Weizens willen, sondern warnt – Mt 13,30 ausbauend – vor dem Gericht. Damit lenkt sie den Blick paränetisch auch nach innen, auf die Gemeinde und das Verhalten ihrer Glieder (13,41): Alle stehen unter dem eschatologischen Gericht, das in der Zukunft die Trennung bringen wird (Marguerat 1978, 123 f.). Die in Mt 13 gewählte Saatmetaphorik vermag dabei besser als die traditionelle Baummetaphorik einen begrenzten Zeitraum ins Bild zu setzen und damit die eschatologische Spannung festzuhalten. Das Bildfeld von Saat-Ernte erhielt auch aufgrund der Naherwartung im Urchristentum einen prominenten Platz. Betrachten wir beide, Parabel und Deutung, im Kontext des Gleichniskapitels Mt 415

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Parabeln im Matthäusevangelium

13, so können wir eine zunehmende Ausdifferenzierung und Vertiefung beobachten: Während die Parabel vom vierfachen Acker (Mt 13,3-8) den partiellen Verlust der Aussaat durch äußere Faktoren beschreibt und im Kontrast dazu die überreiche Frucht betont, verlagert sich in der Deutung (Mt 13,18-23) das Gewicht hin zum Misserfolg. Die Parabel vom Unkraut unter dem Weizen geht noch einen Schritt weiter, wenn sie weiter ausdifferenziert und deutlich macht: mit (guter) Saat auf guter Erde ist der Erfolg noch nicht gesichert: Denn nicht nur der (gute) Säende agiert, sondern auch sein feindlicher Gegenspieler. Nicht nur gute Samen gibt es, sondern auch giftige Unkrautsamen. Damit wird der Blick auf die Beschaffenheit des Samens gelenkt. Über Mt 13,8.23 hinausgehend kommt in der Parabel das Verbrennen von Unkraut und das Sammeln von Weizen in die Scheune (in umgekehrter Reihenfolge zu Mt 3,12) in den Blick. Fragt man sich bei der Lektüre der Parabel vom vierfachen Acker mit zunehmender Beklemmung: Wird es überhaupt zu einer Ernte kommen?, so wird eine Weizenernte (trotz des Unkrauts) vom säenden Menschen in Mt 13,24 ff., der anders als zuvor präsent bleibt, zuversichtlich vorausgesetzt (Roloff 2005, 52). Dieser Optimismus bestimmt auch die beiden folgenden Parabeln (Mt 13,31 f.33). In der Deutung der Parabel vom Unkraut wird die Saat explizit personalisiert und die Perspektive ausdrücklich auf den Kosmos ausgeweitet (Cazeaux 1989, 417). Der Gerichtsaspekt in Mt 13,40-43 wird in der Parabel vom Fischnetz (Mt 13,47-50), die nicht mehr auf die Ernte vorausblickt, sondern schon von ihr her formuliert ist, vertieft – nicht ohne vorher in zwei Parabeln die Kostbarkeit des Himmelreiches herauszustellen (Mt 13,44.45). Damit erweist sich Mt 13 als »Zentrum des ganzen Evangeliums« (Luz 3 1999, 375).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Im Thomasevangelium finden wir eine kürzere Version der Parabel vom Unkraut: EvThom 57: Jesus sprach: Das Reich des Vaters gleicht einem Menschen, der einen [guten] Samen hatte. Sein Feind kam des Nachts. Er säte Unkraut unter den guten Samen. Der Mensch ließ sie das Unkraut nicht ausreißen. Er sprach zu ihnen: Damit ihr nicht hingeht, um das Unkraut auszureißen und damit ihr nicht mit ihm den Weizen ausreißt. Am Tag des Erntens nämlich wird das Unkraut offenbar werden. Man wird es herausreißen (und) verbrennen. Die Parabel setzt offensichtlich Mt 13,24 ff. (oder einen ähnlichen Text) voraus (mit Schrage 1964, 124 gegen de Suarez 1975, 212) – so ist das »sie« und »ihnen« ohne Bezug (Ménard 1975, 159; Fieger 1991, 170). Außerdem setzt »damit ihr nicht hingeht« Mt 13,28 voraus (Lindemann 1980, 241 Anm. 125). Es fehlt der Acker, der vielleicht unpassend wirkte, da Mt 13,38 ihn als Welt interpretiert (Fieger 1991, 171). Es fehlen aber auch die SklavInnen und die Schnitter, das Wachsen und die Trennung zur Erntezeit. Das Unkraut kommt erst ganz am Ende, am Tag des Erntens, »zum Vorschein« und wird erkennbar. Das steht in Spannung zum unmotivierten Verbot des Mannes, das Unkraut auszureißen. Es liegt deshalb nahe, EvThom 57 als Reinterpretation von Mt 13,24 ff. oder einer Variante dieser Parabel zu verstehen (Sevrin 2004, 358; W. D. Davies/Allison 1991, 415). Das Verständnis des Gottesreichs ist im EvThom anders. Statt vom Himmelreich lesen wir vom »Reich des Vaters« (vgl. EvThom 76; 96-98). Es wird in EvThom 3 als 416

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Ausreißen oder wachsen lassen? Mt 13,24-30.36-43

»inwendig in euch und außerhalb von euch« vorgestellt. Es meint die Herkunft der Erleuchteten und steht im dualistischen Gegensatz zur Welt: In EvThom 50 spricht Jesus von ihrer Herkunft »aus dem Licht«, das Unkraut lässt an den Feind des Lichts, die Finsternis (EvThom 24) und die Welt der Materie denken, wobei in EvThom 57 der Dualismus guter – schlechter Same anklingt. Darauf folgen einige Logien, die von Tod und Leben handeln. Die Interpretation von EvThom 57 bleibt gleichwohl unsicher. Möglicherweise ist die Parabel im Hinblick auf die Mischung von (göttlichem) Lichtelement und Materie im Menschen zu verstehen (Sheppard 1965, 278.282). Es hat dann – anders als Mt 13,24 ff. – kein Kollektiv, sondern das Individuum im Blick (Blomberg 1985, 183). Die Pointe ist in EvThom 57 verschoben: Es fehlt der Höhepunkt der mt Parabel, die bewusste Entscheidung: »lasst beides zusammen wachsen!« Anders als in Mt 13 steht das Erkennen im Vordergrund: Die Erkenntnis des Unkrauts hat dessen Vernichtung zur Folge (vgl. EvThom 56, wonach derjenige, der die Welt erkannt hat, einen Leichnam gefunden hat). Positiv gewendet würde das bedeuten: Die Gnosis hat die vollständige Ablehnung der Welt zur Folge. Der Tag der Ernte wäre dann die heilvolle Loslösung des Menschen von der materiellen Welt (Fieger 1991, 172). Näher am kollektiven und eschatologischen Verständnis von Mt 13,24 ff. bleibt A. Lindemanns Interpretation von EvThom 57: Der Lolch repräsentiere den Nicht-Gnostiker, der gute Same den Gnostiker, die Ernte schließlich das Gericht über den Nicht-Gnostiker (Lindemann 1980, 241 f.; vgl. Ménard 1975, 160). In der weiteren Wirkungsgeschichte von Mt 13,24 ff.36 ff. (vgl. dazu bes. Luz 1989, 154-171; Luz 3 1999, 343-348; die Beiträge in CrSt 26 [2005]) wurde der Acker auf den Menschen, auf die Welt, v. a. aber auf die Kirche gedeutet. a) Die Deutung auf den Menschen findet sich z. B. bei Origenes (10,2 [SC 162]), Hieronymus (Hier. Pelag. 1,13 [PL 23, 528 Nr. 705]) und Zwingli (1836, 428 ff.). Im Menschen selbst finden sich Weizen und Unkraut – meist mit ethischem Akzent: »Wenn du willst, kannst du … Weizen werden!« (Ath. hom. sem. 5 [PG 28, 149 f. Nr. 149 f.]). Oder es wird im Blick auf den anderen Menschen gefordert: Keiner solle sich mit Gewalt zum Richter über andere machen! (Paulus 2 1805, 250). b) Ausgesprochen selten wurde der Acker wie in Mt 13,38 auf die Welt gedeutet (Orig. 10,2 [SC 162]; Th. v. Aquino 5 1951, Nr. 1134). Maldonat 1874, 275 denkt an den Samen (= Wort), der bei der Schöpfung in die Welt kommt, Petrus Chrysologus, Sermo 96 (PL 52,469-471) an die Saat des Evangeliums/der Irrlehre in die Welt. c) Vorherrschend ist die Deutung auf die Kirche, wobei über die mt Deutung hinausgehend Elemente der Parabel aktualisierend interpretiert werden konnten – so der Schlaf der Menschen in 13,25 kritisch auf Menschen in kirchlichen Verantwortungspositionen (Chrys. [PG 58]; Hier. comm. in Matt. 13,37 [SC 242]; Luther, WA 52 833,18 ff.); die Sklaven auf Prediger (Luther, WA 52 835,1 ff.). Meist wird Mt 13,24 ff.36 ff. rezipiert im Hinblick auf das ekklesiologische Selbstverständnis (die Reinheit bzw. Mischung der Kirche) und den praktischen Umgang mit Sündern oder/und Häretikern (bzw. deren falschen Lehren, Or. 10,2 [SC 162]; Tert. praesc. 31). So argumentierte schon Bischof Calixt (Kallistos) (Hipp. haer. 9.12.22 f. [Wendland 1916, 26]): »Lasst den Lolch mit dem Getreide zusammen wachsen, d. h. die Sünder in der Kirche.« Besonders im Kampf gegen abweichende (schismatische) Gruppierungen (Bainton 1962, 99 f.) wird gerne auf Mt 13,24 ff. verwiesen und daher das eigene Verständnis der Kirche als eines corpus permixtum entwickelt. So Augustin im 417

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Parabeln im Matthäusevangelium

Kampf gegen die Donatisten (Aug. c. epist. Par. 3,2,11 ff. = CSEL 51 [1908] 112 ff., vgl. weiter: Lettieri 2005, 90 ff.) oder die reformatorischen Theologen im Kampf gegen die Täufer (bes. gegen Th. Müntzer) und die Mönche (Luther, WA 51 174-187). Das hat weitergewirkt, wenn bei Ausführungen über die Natur der Kirche auf Mt 13,24 ff. verwiesen wird (Apologie der CAVII-VIII; Confessio Helvetica posterior XVII [BSRK 199]). Luz 3 1999, 345 kritisiert m. R.: Die Kirche ist zwar faktisch ein corpus permixtum, doch das ist nicht ihr Wesen. Der Bezug auf Mt 13,24 ff. bedeutete gleichwohl keinen vollkommenen Verzicht auf das Ausreißen des Unkrauts: Unter bestimmten Bedingungen – wenn keine Gefahr für den Weizen besteht (V. 29!) oder Weizen und Unkraut leicht zu unterscheiden sind (Bainton 1962, 105 f. mit Anm. 32; Zinzendorf 1767, 944 f.) – kann Letzteres entfernt werden (Bainton 1962, 99; Savigni 2005, 190 f. mit Anm. 7). Luther (WA 38 561, 23-31) und Calvin (XII/1 1966, 397.399) betonen jedoch die Trostfunktion von Mt 13,24 ff. Das zusammen Wachsenlassen kann motiviert werden mit der Autorität Jesu, dem Hinweis auf das Eschaton (Bonhoeffer 1994, 299; Köhn 2005, 340 f.), der mangelnden Unterschiedenheit und sehr häufig mit der (vom dualistischen Bild in Mt 13 her nicht gerade nahe liegenden) Möglichkeit, dass sich das Unkraut in Weizen wandeln könne (Cramer 1811, 106 [= Orig. ad Mt 13,30]; u. a., s. Bainton 1962, passim. Landgraf Philipp wendet auch im Blick auf Mt 13,24 ff. ein: »… es mocht … ein mensch … wieder von seinem jrthumb abtretten. Solt nhun derselbig so gestracks von vns zum dodt verurteilt werden, sorgen wir warlich, wir mochten seins bluts nicht vnschultdig sein.« [Wappler 1910, 233 f. = Anh. I, Nr. 89]). Andere votierten für eine »reine« Kirche: Die Donatisten verstanden sich als Weizen (Aug. ep. 76 = BKV IX/1 Nr. 76); Th. Müntzer forderte die Eliminierung der Ungläubigen, da die Zeit der Ernte da sei – hier verschiebt sich das Gewicht auf Mt 13,47 ff. (Bühler 2005, 95). Im Humanismus (S. Castellio; J. Acontius) und der Aufklärung (H. E. G. Paulus) dagegen wird die Parabel als Forderung der Toleranz interpretiert. 1936 formuliert D. Bonhoeffer: »Weder Sichtung, also ›reine‹ … Gemeinde, noch Quasikirche, also zum Beispiel Volkskirche, ist ein legitimes Programm. Sondern Kirche, in der das Wort frei verkündet wird zur Entscheidung und Scheidung der Geister« (Bonhoeffer 1996, 192). Er verweist ebenso wie Ragaz 4 1991, 148 ff., der im Hinblick auf Mt 13,24 ff. vor falschem Liberalismus einerseits und Unterdrückung andererseits warnt, auf Gott: Er allein scheidet.

Petra von Gemünden Literatur zum Weiterlesen G. Barth, Auseinandersetzung um die Kirchenzucht im Umkreis des Matthäusevangeliums, ZNW 69 (1978) 158-177. K. Erlemann, Die Parabel vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24-30), in: ders., Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB.W 2093, Tübingen u. a. 1999, 229-240. L. Fonck, Die Parabeln des Herrn im Evangelium exegetisch und praktisch erläutert. Dritte, vielfach verbesserte und vermehrte Aufl., Christus, lux mundi III/1, Innsbruck 3 1909, 129160. H. Geist, Menschensohn und Gemeinde. Eine redaktionskritische Untersuchung zur Menschensohnprädikation im Matthäusevangelium, fzb 57, Würzburg 1986, 74-104.

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Ausreißen oder wachsen lassen? Mt 13,24-30.36-43

P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1993, 234-249. J. D. Kingsbury, The Parables of Jesus in Matthew 13. A Study in Redaction-Criticism, London 1969, 64-76.94-110. A. Köhn, Zum »Gleichnis vom Unkraut des Ackers« und seiner Deutung in der theologischen Reflexion des 20. Jahrhunderts, CrSt 26 (2005) 321-348. J. Liebenberg, The Reception of the Parable of the Weeds in Mt 13:24-30 and GTh 57, in: ders., The Language of the Kingdom and Jesus. Parable, Aphorism, and Metaphor in the Sayings Material Common to the Synoptic Tradition and the Gospel of Thomas, BZNW 102, Berlin u. a. 2001, 179-224. U. Luz, Der Taumellolch im Weizenfeld. Ein Beispiel wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik, in: H. Frankemölle/K. Kertelge (Hg.), Vom Urchristentum zu Jesus. FS J. Gnilka, Freiburg/ Basel/Wien 1989, 154-171. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 2. Teilband. Mt 8-17, EKK I/2, Zürich u. a. 3 1999, 320326.337-348. R. K. McIver, The Parable of the Weeds among the Wheat (Matt 13:24-30,36-43) and the Relationship between the Kingdom and the Church as Portrayed in the Gospel of Matthew, JBL 114 (1995) 643-659. J. P. Meier, The Parable of the Wheat and the Weeds (Matthew 13:24-30). Is Thomas’s Version (Logion 57) Independent?, JBL 131 (2012), 715-732. U. Mell, »Unkraut vergeht nicht!« – Bemerkungen zum Gleichnis Mt 13,24-30, in: ders. (Hg.), Pflanzen und Pflanzensprache der Bibel. Erträge des Hohenheimer Symposions vom 26. Mai 2004, Frankfurt a. M. u. a. 2006, 107-133. P. H. Poirier/É. Crégheur, La parabole de l’ivraie (Matthieu 13,24-30.36-43) dans le »Livre des lois des pays«, in: A. Frey/R. Gounelle (Hg.), Poussiéres de christianisme et de judaïsme antiques. Études réunies en l’honneur de Jean-Daniel Kaestli et Éric Junod, Publications de l’Institut Romand des Sciences Bibliques 5, Prahins 2007, 297-305. J. Roloff, Jesu Gleichnisse im Matthäusevangelium. Ein Kommentar zu Mt 13,1-52, hg. von H. Kreller/R. Oechslen, Biblisch-Theologische Studien 73, Neukirchen-Vluyn 2005, 4757. K. Schiffner, Unkraut vergeht nicht: Gott wird’s richten – Matthäus 13,24-30, in: M. Crüsemann u. a. (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen auf der Basis der Auslegung von Luise Schottroff, Gütersloh 2014, 211-225. F. Zeilinger, Redaktion in Mt 13,24-30, in: K. Kertelge/T. Holtz/C.-P. März (Hg.), Christus bezeugen, FS W. Trilling, EThSt 59, Freiburg/Basel/Wien 1990, 102-109.

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Die Freude des Findens (Vom Schatz im Acker und von der Perle) Mt 13,44.45 f. (EvThom 76; 109) (44) Mit dem Himmelreich verhält es sich wie mit einem Schatz, verborgen in dem Acker, den ein Mensch fand und (wieder) verbarg, und aus seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker.

(45) Wiederum verhält es sich mit dem Himmelreich wie mit einem Kaufmann auf der Suche nach schönen Perlen: (46) Er fand aber eine kostbare Perle,

ging weg und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit) Bei der Parabel vom Schatz im Acker handelt es sich um einen einzigen Satz. Das Himmelreich wird mit einem Schatz verglichen, der in einem Acker verborgen ist, den ein Mensch findet und wieder verbirgt, für den dieser Mensch all seinen Besitz verkauft und den er schließlich erwirbt. Es handelt sich also nicht um einen Vergleich Himmelreich = Schatz bzw. Perle; das Himmelreich ist vielmehr mit dem erzählten Geschehen insgesamt in Beziehung gesetzt. Deshalb ist die Übersetzung der Einleitung und des nachfolgenden Dativs mit »es verhält sich mit dem Himmelreich wie …« angemessen. Das Finden des Schatzes steht in der Vergangenheitsform, das daran sich anschließende Handeln des Menschen aber im Präsens: er geht hin, verkauft, was er hat, und kauft den Acker. Der Tempuswechsel zeigt, dass auf dem Handeln des Menschen der Akzent liegt. Motiviert wird dieses Handeln durch einen ausdrücklichen Hinweis auf die Freude des Finders. Auch in der Parabel von der Perle Mt 13,45-46 wird der erzählte Vorgang insgesamt zu dem Himmelreich in Beziehung setzt. Dieser Vorgang ist allerdings ganz in der Vergangenheitsform erzählt, und die grammatikalische Verknüpfung wird nicht zwischen dem Himmelreich und der kostbaren Perle, sondern zwischen Himmelreich und Kaufmann hergestellt, der – wie der Text ausdrücklich festhält – nach solchen Perlen gesucht hat. Auch fehlt hier das Motiv der Freude des Finders über seinen Fund. Auf der anderen Seite besteht die Parabel ebenfalls aus einem Satz und auch die grundlegende Abfolge des Geschehens stimmt überein. Sie lässt sich folgendermaßen darstellen: Freude Schatz Himmelreich >>>