Die Bergpredigt und die Gleichnisse Jesu im Unterricht [Reprint 2022 ed.] 9783112677568, 9783112677551


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German Pages 106 [124] Year 1939

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Ein Kapitel Luther zur Vorbesinnung
Einleitung zur Bergpredigt
Eingangsworte
Hauptteil: Die bessere Gerechtigkeit (Match. 5,17-7,12)
I. Die bessere Gerechtigkeit, erläutert an fünf Geboten aus dem Alten Testament (5,21—48)
II. Die bessere Gerechtigkeit, erläutert an den drei Hauptbeispielen pharisäischer Frömmigkeitsübung (6,1—18).
III. Gott über alle Dinge lieben, vertrauen und fürchten (6,19—7, 5).
IV. Drei Einzelworte mahnender Zusammenfassung (7,6—12)
Abschluß: Drei Doppelgleichnisse für das Verhalten gegenüber den Forderungen Jesu (7,13—27)
Ausklang der Bergpredigt
Anhang: Die Gleichnisse Jesu nach den synoptischen Evangelien, unter Heraushebung ihrer Kerngedanken für den Unterricht geordnet
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Die Bergpredigt und die Gleichnisse Jesu im Unterricht [Reprint 2022 ed.]
 9783112677568, 9783112677551

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Erwin Wißmann /Die Bergpredigt

Die Bergpredigt und die Gleichnisse Jesu im Unterricht

Von

Lic. Erwin Wißmann

Verlag Alfred Töpelmann Berlin 1939

DruckvonWalterdeGruyterLCo./BerlinW35 Pr inted in Germany

Meiner lieben Mutter

Vorwort Einer der wichtigsten und schwierigsten Stoffe christlicher Unterweisung ist

die Bergpredigt. Das weiß jeder Religionslehrer und Pfarrer, mag er nun im Schulreligionsunterricht oder in der Konfirmandenstunde/ in der Christen­

lehre oder vor Erwachsenen die Bergrede behandelt haben. Denn hier lauern mehr Gefahren als bei irgend einem anderen biblischen Stoffe. Schon in der Geschichte des theologischen Verständnisses der Kapitel 5—7 des Matthäus­

evangeliums streiten durch die Jahrhunderte hindurch die verschiedensten

Anschauungen miteinander : man denke nur an die rein historisierende Be­ trachtungsweise oder an die Behauptung einer „Jnterimsethik", an das gesetzliche Mißverständnis der Schwärmer und eines Tolstoi und an die

dogmatische Auffassung lutherischer Orthodoxie, an die katholisch-mittel­

alterliche Parole der „evangelischen Räte" und an das moderne Wort von der „Gesinnungsethik" usw. Dazu kommen die Schwierigkeiten des Einzelwortverftändniffes, das Problem des Verhältnisses zwischen dem Textwort­

laut und der Textanordnung bei Matthäus und bei Lukas, und zu allem Sachlichem im Unterricht dann noch die methodischen und jugendkundlichen Fragen, die Notwendigkeiten einer jugendgemäßen Erklärung, Erarbeitung

und Veranschaulichung mit den auch hier schlummernden Gefahren der Moralisierung, Humanisierung, Idealisierung oder auch Profanisierung und Bagatellisierung und mit alledem der Umbiegung, der Entleerung, der Ver­ flachung und der Entchristlichung. Und wenn der Junglehrer oder -Pfarrer zu

einem Hilfsbuch greift, um sich da Rat und Auskunft zu holen, dann fehlt es bei den theologischen Kommentaren an den notwendigen Winken für den Unterricht und bei den rein methodischen Hilfsbüchern oft genug an einer

hinreichend gediegenen und erschöpfenden sachlichen Grundlegung und Einzel­ erklärung, so daß auch die da und dort gegebenen Ratschläge für die „An­ wendung" und etwaige „Beispielgeschichten" nur selten befriedigen und ins Schwarze treffen.

Die Hauptnot, auf die alle übrigen Nöte mehr oder weniger zurückgehen,

liegt m. E. bei der Frage des rechten sachlichen Verständnisses der einzelnen Teile der Bergpredigt. Erst wenn das Sachverständnis gesichert ist, können auch die unterrichtlichen und methodischen Notwendigkeiten richtig erkannt und aufgebaut werden. Deshalb legt die hier dargebotene Handreichung den Hauptnachdruck auf eine gründliche und möglichst klare sachliche Erläuterung der Heilandsworte und glaubt, damit den Religionslehrern und Pfarrern das wesentlichste

Rüstzeug für ihren mannigfachen Unterricht in die Hände geben zu können.

VIII

Vorwort

Sie fügt gleichzeitig bei jedem Abschnitt Winke für die Besprechung mit

Jugendlichen bei/ getreu der notwendigen Stufenfolge jeder katechetischen Vorbesinnung/ die stets der Reihe nach zu fragen hat: Was sagt der Text? Was sagt der Text mir für mein Leben? Was sagt der Text dem Kinde, bzw.

dem Jugendlichen, für sein Leben? Wie kann ich die Jugend zu solch richtigem Verstehen und Erfassen des Textes hinführen? Diese vier kateche­

tischen Vorfragen haben auch die vorliegende Arbeit an jedem Punkte mit­ bestimmt, auch wenn sie nicht überall schematisch aufgezählt und beim Namen

genannt sind. Das wird der aufmerksame Leser Schritt für Schritt erkennen.

Er wird ebenso bemerken, daß die einschlägige Literatur sorgfältig ver­ glichen wurde, obwohl sie weder zustimmend noch kritisch zitiert ist. Die mög­ lichst handliche und billige Ausstattung dieses Hilfsbuches verbot jede der­

artige Belastung. Darum wurde auch nicht die Frage nach dem Verhältnis zum Lukastext und erst recht nicht die der Komposition der Gesamtrede durch Matthäus ausführlicher behandelt. Vielmehr ist — den Erfordernissen des Unterrichts entsprechend — der Matthäustext so, wie ihn das Neue Testament dar­ bietet, als Ganzes zugrunde gelegt, und nur gelegentlich wird auf die anders lautende Lukasform hingewiesen. Um an den Urtext zu gemahnen und schon dadurch die sachliche Überlegung

zu befruchten, habe ich den einzelnen Sinnstücken nicht einfach die Luther­ übersetzung, sondern eine mit verschiedenen wissenschaftlichen Übertragungen verglichene eigene Übersetzung des griechischen Wortlauts vorangestellt.

Erklärende Zusätze sind dabei in runde Klammern gesetzt, unsicher überlieferte bzw. später zugefügte Teile in eckige Klammern. Zur Vertiefung des Verständnisses und zur entsprechenden unterrichtlichen Verwertung wurden, wo erforderlich und möglich, wichtige biblische Par­ allelstellen -und geeignete Gesangsbuchstrophen herangezogen, letz­

tere — soweit dort vorhanden — im Wortlaut des „Deutschen Evangelischen Gesangsbuchs". Außerdem glaubte ich, Luther mit seinen Predigten über Matthäus 5—7 (aus den Jahren 1530/32) zu Wort kommen lassen zu sollen, um sein sachliches Urteil und seine bildhaft-volksnahe Sprechweise der Über­

legung des Katecheten und dem Unterricht selbst nutzbar zu machen. Das war

freilich nicht überall möglich, da die Predigten streckenweise stark zeitgebunden sind und an diesen Stellen für die heutige katechetische Besinnung weniger

Ertrag liefern. Neben diesen Hinweisen auf Bibel, Gesangbuch und die Meinung des Re­ formators konnten außerbiblische Begleitftoffe und Beispielgeschichten nur in ganz geringem Umfang beigegeben werden, und zwar vornehmlich

Vorwort

IX

aus zwei Gründen. Zum ersten: Die Hauptsache ist und bleibt das richtige Verständnis der Worte Jesu selbst; die soll die Jugend in Gewissen und Leben hinein aufnehmen und bei sich behalten. Zum andern: Die nötige Ver­ anschaulichung und Anwendung aus das Leben der Jugendlichen muß der

Lehrer und Katechet selbst vornehmen; dafür kann man ihm keine fertigen Ratschläge geben, das muß vielmehr aus dem Zusammenleben mit der Ju­ gend erwachsen. Größere Beispielgeschichten aber/ wie sie etwa Martin Rang in seinem „Biblischen Unterricht" (Furche-Verlag 1936/ S. 317ff.) als Aus­

gangs- oder Begleiterzählung zur Klärung von Situationen und Begriffen,

zur Verdeutlichung von Problemen, zur Veranschaulichung von Worten Jesu, als Nachfolgegeschichten oder als Gegengeschichten empfiehlt, sind erstens nicht überall nötig und müssen zweitens im wesentlichen erst noch gesucht und gesammelt werden. Diese Aufgabe konnte die vorliegende Schrift, die zunächst einmal die wichtigste sachliche und methodische Hilfe geben möchte, nicht auch noch übernehmen. Hier ist sie zu ihrer Ergänzung auf die freund-

wMge Mitarbeit der Leser angewiesen, und herzlich bittet sie um jede dies­ bezügliche (oder sonstige) Anregung. Überdies zeigt sich auch in der Benutzung

von Beispielgeschichten der Meister in der Beschränkung. Denn deren über­ mäßige Heranziehung würde nicht nur ein solches Buch über Gebühr be­ lasten, sondern auch die unterrichtliche Behandlung der Bergpredigt, die —

selbst in Auswahl — schon eine beträchtliche Zeitspanne erfordert, allzusehr in die Länge ziehen. Je größer aber die Reife unserer Schüler ist, um so mehr werden wir bestrebt sein müssen, einmal die ganze Bergpredigt im Zusammen­ hang mit ihnen zu besprechen.

Auf welcher Stufe wir aber auch und wie oft wir die Bergpredigt behandeln mögen, immer wollen und müssen wir als Lehrende ihre Schüler und Lernende bleiben; sonst ist unser Bemühen von vornherein vergeblich. Nur in solcher Erkenntnis und Haltung wurden auch die nachfolgenden Seiten geschrieben, veranlaßt durch mancherlei Erfahrungen und Anstöße während

meiner Tätigkeit als Pfarrer und Religionslehrer, als Dozent in der Lehrer­ bildung und derzeitiger Leiter des Katechetischen Seminars an der Universität Marburg. Aus dieser mannigfachen Amts- und Lehrtätigkeit heraus weiß ich, wie notwendig und ersehnt ein solches Hilfsbuch ist. Möchte es den ver­ schiedenen Wünschen einigermaßen gerecht werden und seinen Dienst zum Segen evangelischer Unterweisung leisten dürfen!

Als Anhang füge ich eine ebenfalls aus vieljähriger Praxis erwachsene

kürzere Unterrichtshilfe zur Behandlung der Gleichnisse Jesu bei. Diese

sind neben der Bergpredigt das zweite große Gebiet des Evangelienstoffes/ b

Wißrnann, Bergpredigt

X

Vorwort

für das immer wieder sachliche und katechetische Wegweisung erbeten und nötig wird. Eine der größten Gefahren bei der Gleichnisbesprechung ist nach wie vor das Abgleiten in eine allegorisierende Ausdeutung, daneben gelegent­ lich auch ein Zu^ammenordnen der Gleichnisse nach den Ähnlichkeiten ihrer Bildhälfte anstatt nach dem entscheidenden sachlichen Vergleichspunkt. Ich glaubte deshalb, besonders in Richtung aus diese beiden Hauptgefahren positive Hilfen geben zu müssen, und biete darum eine sachliche Gruppierung sämtlicher synoptischer Gleichnisse Jesu unter Heraushebung ihrer Kern­ gedanken dar. Diese Zusammenstellung dürfte in Verbindung mit den bei­ gefügten Hinweisen auf geeignete Anschlußstoffe den dringendsten Bedürf­ nissen einstweilen genügen. Lic. Erwin Wißmann.

Inhalt Vorwort................................................................................................................... VII

Inhaltsübersicht......................................................................................................... XI Ein Kapitel Luther zur Vorbesinnunss............................................................

1

Einleitung zur Bergpredigt (5,1—2)................................................ ...

- - .

6

Eingangsworte (5,3—16)....................................................................................

7

1. Die Seligpreisungen (5,3—12)................................................................ 2. Die Bildworte vom Salz der Erde und vom Licht der Welt (5,13—16)

7 20

Hauptteil: Die bessere Gerechtigkeit (5,17—7, 12).................................. 24 Grundsätzliches zum Thema (5, 17—20).......................................... Exkurs: Die wichtigsten religiösen Gruppen im Judentum zur Zeit Jesu

24 25

I. Die bessere Gerechtigkeit, erläutert an fünf Geboten aus dem Alten Testament (5,21—48)........................ 27 1. Das fünfte Gebot (5,21—26)......................................................................... 27

2. 3. 4. 5.

Das sechste Gebot (5,27—32) Gegen das unnütze Schwören (5,33—37)............................................ Gegen die Wiedervergeltung (5,38—42)................................................ Von der Feindesliebe (5,43—48)....................

32 35 38 43

II. Die bessere Gerechtigkeit, erläutert an den drei Hauptbeispielen pharisäischer Frömmigkeitsübung (6,1—18)............................................................................. 55

1. Vom Almosengeben (6,2—4)......................................................................... 55 2. Vom Beten (mit Vaterunser) (6,5—15)..................................................... 61 3. Vom Fasten (6,16—18)................................................................................. 69 III. Gott über alle Dinge lieben, vertrauenund fürchten (6,19—7, 5). - -

72

1. Gegen das Schätzesammeln (6,19—24)........................................................ 72 2. Gegen das Sorgen (6,25—34)............................... 75 3. Gegen das Splitterrichten (7,1—5)............................................................ 79 IV. Drei Einzelworte mahnender Zusammenfassung (7,6—12)..................... 82

1. Gegen die Entweihung des Heiligen (7,6)................................................. 82 2. Aufforderung zum Beten (7,7—11)............................................................. 83 3. Die goldene Regel (7,12)............................................................................. 87 Abschluß: Drei Doppelgleichnisse für das Verhalten gegenüber den Forderungen Jesu (7,13—27)......................................................................................................90

1. Enge und weite Pforte (7,13—14)............................................................. 90 2. Guter und schlechter Baum (7,15—23)..................................................... 91 3. Kluger und törichter Baumeister (7,24—27)......................................... 93

Ausklang der Bergpredigt (7, 28)..........................................................................95

Anhang: Die Gleichnisse Jesu nach den synoptischen Evangelien, unter Heraus­ hebung ihrer Kerngedanken für den Unterricht geordnet.................................. 98

Ein Kapitel Luther zur Vorbesinnung Wenn eS nach Luther gegangen wäre, hätte es nicht zu jenem weitverbrei­ teten Mißverständnis der Bergpredigt kommen können, auS dem heraus immer wieder die schärfsten und seltsamsten Angriffe gegen Jesu Botschaft und das Christentum erhoben wurden und bis auf diesen Tag gehört werden.

Unermüdlich hat der Reformator versucht, den Unterschied zwischen Reich Gottes und Reich der Welt so herauszustellen, daß ihn jeder begreifen

könnte, vornehmlich im ersten Teil der grundlegenden Schrift „Von welt­ licher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" (1523). Dort heißt es u. a.*1): „Hier müssen wir Adams Kinder und alle Menschen teilen in zwei Teile: die ersten zum Reich Gottes, die andern zum Reich der Welt. Die zum Reich Gottes gehören, das sind alle Rechtgläubigen in Christo und unter Christo.

Denn Christus ist der König und Herr im Reich Gottes ... und nennet auch das Evangelium ein Evangelium des Reiches GotteS, darum, daß es das Reich Gottes lehret, regiert und enthält. Nun siehe, diese Leute bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist rechte Gläubige, wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht not oder nütze. Denn wozu sollt's ihnen, dieweil sie den Heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehret und macht, baß sie niemand Unrbcht tun, jedermann lieben, von jedermann gern und fröhlich Unrecht leiden, auch den Tod? Wo eitel Unrechtleiden und eitel Rechttun ist, da ist kein Zank, Hader, Gericht, Richter, Strafe, Recht noch Schwert not.... Zum Reich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht

Christen sind. Denn sintemal wenige glauben und der wenigere Teil sich hält nach christlicher Art, daß er nicht widerstrebe dem Übel, ja daß er nicht selbst

Übel tue, hat Gott denselben außer dem christlichen Stand und Reich GotteS

ein anderes Regiment verschafft und sie unter das Schwert geworfen, daß, ob sie gleich gern wollten, sie doch nicht tun könnten ihre Bosheit, und wenn sie es tun, daß sie es doch nicht ohne Furcht noch mit Friede und Glück tun

können. Gleichwie man ein wildes, böses Tier mit Ketten fasset, baß es nicht beißen noch reißen kann nach seiner Art, wiewohl es gern wollte, des doch ein zahmes, kirres Tier nicht bedarf, sondern ohne Ketten und Banden dennoch *) Zitiert nach: Martin Luther. Ausgewählte Werke. Hsg. von H. H. Borcherdt und Georg

Merz, 2. Ausl., 5. Banb, S. 8 ff. Chr. Kaiser Verlag, München 1936. — Die betreffenden Stellen finden sich in der Weimarer Lutherausgabe (WA.) Band 11, S. 294 ff. — (Vgl. Reclams Universalbibliothek Nr. 2445/6, S. 71 ff.) 1

Wißmann, Bergpredigt

2

Luther: Reich Gottes und Reich der Welt

unschädlich ist. Denn wo bas nicht wäre, sintemal alle Welt böse und unter Tausenden kaum ein rechter Christ ist, würde eines bas andere fressen, baß niemand könnte Weib und Kind ziehen, sich nähren und Gott dienen, womit die Welt wüste würde. Darum hat Gott die zwei Regiments verordnet: bas geist­

liche, welches Christen und fromme Leute macht durch den Heiligen Geist, unter Christo, und das weltliche, welches den Unchristen und Bösen wehrt,

daß sie äußerlich müssen Friede halten und still sein ohne ihren DankT)... Wenn nun jemand wollte die Welt nach dem Evangelio re­ gieren und alles weltliche Recht und Schwert aufheben und vorgeben, sie wären alle getauft und Christen,... Lieber, rate, was würbe derselbe machen? Er würde den wilden bösen Tieren die Bande und Ketten auflösen,

baß sie jedermann zerrissen und zerbissen... Denn die Bösen sind immer

viel mehr denn die Frommen.... Darum muß man diese beiden Regimente mit Fleiß scheiden und beides bleiben lassen, eines, bas fromm macht, das andere, bas äußerlich Frieden schaffe und bösen Werken wehret. Keines ist ohne bas andere genug in der Welt. Denn ohne Christi geistlich Regiment kann niemand fromm werben vor Gott durchs weltlich Regiment. So geht Christi Re­ giment nicht über alle Menschen, sondern allzeit ist der Christen am wenigsten und sind mitten unter den Unchristen... Da siehst du, wo Christi Worte hingehen, daß die Christen sollen nicht rechten noch das weltlich Schwert unter sich haben (Matth. 5,39). Eigentlich sagt ers nur seinen lieben Christen. Die nehmens auch allein an und tun auch also ... Wenn nun alle Welt Christen wären, so gingen sie alle diese Worte an, und sie täten also. Nun sie aber Unchristen sind, gehen sie diese Worte nichts an, und sie tun auch nicht also, sondern gehören unter baS an­ dere Regiment, da man die Unchristen äußerlich zwingt und bringt zum Frieden

und zum Guten." Soweit Luthers Darlegungen aus seinem Büchlein „Von weltlicher Obrig­ keit." Dazu vergleiche man die folgenden Abschnitte aus der Schrift „Ein Senbbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern" (1525) 2) und aus den Tischreden2): *) „Ohne ihren Dank" bedeutet in der damaligen Zeit soviel wie „gegen ihren Willen",

„ob sie wollen ober nicht". Dgl. ebenso in der letzten Strophe des Liedes „Ein fest« Burg" die Wendung . und kein Dank dazu haben". ') a. a. O., Band 4, S. 314ff = WA. 18, S. 389ff. 3) a. a. O., Band 7, S. 208 = WA. Tischreden 3, 3810.

Luther: Reich Gottes und Reich der Welt

3

„ES sind zweierlei Reiche: eins ist Gottes Reich/ bas andere ist der

Welt Reich; wie ich so oft geschrieben habe/ daß mich's wundert, wie man solches noch nicht wisse oder merke... GotteS Reich ist ein Reich der Gnade

und Barmherzigkeit und nicht ein Reich des Zorns oder der Sttafe. Denn daselbst ist eitel Vergeben, Schonen, Lieben, Dienen, Wohltun, Fried und Freude haben usw. Aber das weltlich Reich ist ein Reich des Zornö und des Ernsts. Denn daselbst ist eitel Sttasen, Wehren, Richten, Urteilen, zu zwingen die Bösen und zu schützen die Frommen. Darum hat es auch und führet das Schwert... Die Sprüche nun, die von Barmherzigkeit sagen, gehören in Gottes Reich und unter die Christen, nicht in das weltlich Reich. Denn ein Christ soll nicht allein barmherzig sein, sondern auch allerlei leiden: Raub, Brand, Mord, Teufel und Hölle, geschweige denn, daß er sollte jemand schlagen, töten oder vergelten. Aber das weltlich Reich, welches ist nichts denn gött­

lichen Zornes Diener über die Bösen..., soll nicht barmherzig, sondern streng, ernst und zornig sein in seinem Amt und Werk. Denn sein Handzeug ist nicht ein Rosenkranz oder ein Blümlein der Liebe, sondern ein bloß Schwert; ein Schwert aber ist ein Zeichen des Zorns, Ernsts und der Strafe, und ist auch nirgendhin gerichtet denn auf die Bösen: auf dieselbigen siehet es, daß es sie strafe und im Zaun und Frieden halte zu Schutz und Rettung der Frommen.... Darum ist angezeigt, daß die weltlich Obrigkeit in ihrem eigenen Amt nicht kann noch soll barmherzig sein, wiewohl sie das Amt mag feiern aus Gnade.... Wiewohl aber solcher Ernst und Zorn des weltlichen Reichs ein unbarmherzig Ding scheinet, wo mans doch recht ansiehet, ists nicht das ge­

ringste Stück göttlicher Barmherzigkeit. Denn nehme ein jeglicher sich selbst vor und sage mir hierauf ein Urteil: Wenn ich Weib und Kind, Haus und Gesinde habe und Güter hätte und ein Dieb ober Mörder überfiele mich, erwürgte mich in meinem Hause, schändete mir Weib und Kind, nähme dazu, was ich hätte, und er sollte dazu ungestraft bleiben, baß er mehr tät, wo er wollte; sage mir, welcher wäre hier der Barmherzigkest am würdigsten und nötigsten: ich, oder der Dieb und Mörder? Ohn Zweifel: mir wäre eS am nötigsten, daß man sich mein erbarmte. Wo will man aber solche Barm­ herzigkeit an mir und meinem armen, elenden Weib und Kinde beweisen, man wehre denn solchen Buben und beschütze mich und halt mich beim Rech­ ten; oder wo er sich nicht wehren läßt und fortfähret, baß man ihm sein Recht tue, strafe also, daß ers lasten müsse. Welch eine feine Barmherzigkest

wäre mst bas, baß man dem Diebe und Mörder barmherzig wäre und ließe mich von ihm ermordet, geschändet und beraubt bleiben?" i»

4

Luther: Reich Gottes und Reich der Welt

„Ja, man muß streiten für Weib, Kinderlein, Gesinde und Untertanen, die ist man schuldig zu schützen vor unrechter Gewalt. Lebe ich und vermag's,

so will ich eine Vermahnung schreiben an alle Stände in der ganzen Welt von der Notwehre, daß ein jeglicher schuldig ist, die Seinen vor unrechter

Gewalt zu verteidigen." Ganz die gleiche Grundhaltung bezeugen Luthers Predigten über die

Bergrede Jesu, wo er im Blick auf Matth. 5, 38—42 zusammenfafsend sagt:')

„So kommen wir nun mit solchem Unterschied auf den Text und gehen durch alle diese Stück, nämlich daß ein Christ soll keinem Übel widerstehen,

wiederum eine Weltperson soll allem Übel widerstehen, sofern sein Amt gehet... Also auch soll ein Christ mit niemand rechten, sondern beide den Rock und Mantel lassen fahren, wenn man's ihm nimmt. Mer eine Welt­

person soll sich mit dem Recht schützen und verteidigen, wo er kann, wider Gewalt und Frevel. Summa: in Christus Reich heißt es allerlei leiden,

vergeben und Gutes für Böses vergelten; wiederum in Kaisers Regiment soll man kein Unrecht leiden, sondern dem Bösen wehren und strafen und das Recht helfen schützen und erhalten, darnach eines jeglichen Amt und Stand

fordert.

Sprichst du aber: Ja, hat doch Christus allhie mit klaren Worten gesagt, ihr sollt dem Übel nicht widerstehen; bas lautet ja dürre, als sei es aller Dinge verboten. Antwort: Ja, siehe auch, mit wem er solches redet. Denn er spricht nicht: „Man soll gar nicht dem Übel widerstehen", denn das wäre, schlecht

all Regiment und Oberkeit aufgehoben, sondern er spricht: „Ihr, Ihr solltet's

nicht tun." Was sind diese „Ihr"? ES heißen Christus Jünger, die er

lehret, wie sie für sich selbst leben sollen außer dem weltlichen Regiment. Denn Christen sein ist ein ander Ding (wie genug gesagt ist) denn ein weltlich

Amt oder Stand haben und führen. Darum will er sagen: Wer im weltlichen

Regiment ist, den lasset dem Bösen widerstehen, rechten und strafen usw., wie die Juristen und Rechte lehren. Euch aber als meinen Schülern, die ich lehre,

nicht wie ihr äußerlich regieren, sondern vor Gott leben sollet, sage ich: Ihr sollt nicht dem Übel widerstehen, sondern allerlei leiden und gegen die,

so euch Unrecht oder Gewalt tun, ein rein freundlich Herz haben..." 1) Wochenprebigten über Matth. 5—7 aus den Jahren 1530/32: WA. 32, S. 393 f. Diese

Predigten werden von uns auch weiterhin zitiert. Sie wurden auf Grund von Nachschriften

im Herbst 1532 herausgegeben und von Luther mit einer Vorrede versehen. Wer sie für den Druck bearbeitete, ist nicht bekannt.

Luther: Reich Gottes und Reich der Welt

5

Bei all diesen Lutherzeugnifsen von dem Unterschieb der beiden Reiche

dürfen wir aber nie des Heilands Gleichnisse vom Kommen des Gottesreiches vergessen (Mark. 4 und Matth. 13) mit ihrer freudekünden­ den Verheißung, vor allem nie das Gleichnis vom Sauerteig (Matth. 13,33 = Luk. 13,20f.) und das inbrünstige Gebet der harrenden Gemeinde: „Dein Reich komme!"

Einleitung zur Bergpredigt Matth. 5,1 u. 2: Da Jesus aber die VolkSmafsen sah, ging er auf einen Berg hinaus; und als er sich gesetzt hatte, testen seine Jünger zu ihm. Da tat er seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Nach dem in Vers 1 von Matthäus erwähnten Berge (zum Unterschied von Lukas 6,17: „Platz auf dem Felde") nennen wir die Zusammenstellung

der Rebe bei Matthäus „Bergpredigt". Wichtig ist, sofort auS den ersten

Versen zu erkennen, daß JesuS hier nicht allgemein zu einer Volksmenge spricht, sondern—wie in LukaS6,20 — zu der Schar seinerJünger und Anhänger,

d. h. also zu allen, die ihm damals nachfolgten oder mit Ernst zuhörten

und die heute in seiner Gemeinde und Nachfolge stehen ober stehen möchten. Unvergleichlich schön hat der Dichter deS Heliand die seelische Bereitschaft

der Jünger und die Hinwendung deS Heilandes zu ihnen dargestellt und aus­

gemalt. Auch wir werden bei Besprechung deS Anfangs der Bergpredigt un­ seren Schülern jene wundervollen Strophen nicht vorenthalten *): Dem Beseliger Christ

zunächst da kamen

die Gesellen zu stehn,

die von ihm selber erkoren Die weisen Männer

waren, dem Waltenden.

umgaben den Gottessohn:

ihre Begierde war groß,

der Erwählten Wunsch,

seine Worte zu hören.

Sie schwiegen und horchten,

der Waltende, wollte

waS der Herr der Völker,

in Worten verkünden Da saß der LandeShirt

den Leuten zuliebe. den Guten gegenüber,

GotteS eigner Sohn,

wollt' in seiner Rede,

manch sinnvollem Rat,

die Leute lehren,

wie sie GotteS Lob

in diesem Weltreiche

wirken sollten.

Erst saß er und schwieg,

sah sie lange an,

war ihnen hold im Herzen,

mild im Gemüte.

Den Mund nun erschloß er

deS Waltenden Sohn,

und «ieS mit Worten,

deS Hochherrlichen viel.

Christ, der Allwaltende, welche von allen

Den Helden sagt' er die zur Besprechung dort

in spähen Sprüchen,

Gott die wertesten

der heilige Herr,

gekoren hatte,

Erdenbewohnern wären der Menschen.

*) Heliand, Vers 1279—1299, übertragen vom Verfasser. Die stabreimenben Laut« sind

im Druck hervorgehoben.

Eingangsworte i. Die Seligpreisungen

(Matth. 5, 3—12) Die ersten Worte Jesu sind ein achtfacher Heilrus für alle, deren Herz in Not und Elend und Sehnsucht nach dem wahren Heile GotteS brannte. „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch

erquicken!" (Matth. 11,28): dieser Heilanbsruf erklingt auch hier, „ein feiner,

süßer, freundlicher Anfang seiner Lehre und Predigt", „aufs allerfreundlichst mit eitel Reizen und Locken und lieblichen Verheißungen" (Luther, WA. 32,

S. 305). Das achtmalige „Selig" ist für Kinder zunächst ein ungeläufiger Aus­ druck. Bei „selig" denken sie zumeist an bas Gestorbensein („mein Vater selig") und an die ewige Seligkeit im Himmel. Mit Hilfe von Lukas 11,28: „Selig sind, die GotteS Wort hören und bewahren!" und dem Liedanfang: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit !" kann man sie spüren und erkennen lassen, daß dies nicht gemeint ist, daß der Heiland vielmehr die von ihm genannten Menschen jetzt schon glücklich preist. „Heil den geistlich Armen!" „Wohl den Friedfertigen!" wären sinnentsprechende Verdeusschungen, wie denn auch Luther das betreffende hebräische Wort am Anfang des ersten Psalms mit „Wohl dem Manne, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen..übersetzt hat. Die Seligpreisungen zerfallen inhaltlich in zwei Gruppen, die man — wie die zehn Gebote — nach den Gesichtspunkten der Gottesliebe und Nächstenliebe ordnen kann (Matth. 22,37—40): die erste, zweite, dritte(?), vierte und sechste Seligpreisung (Vers 3,4,5?, 6,8) handeln von der Gottes­ liebe, die dritte (?), fünfte und siebente (Vers 5?, 7 und 9) von der Nächsten­ liebe. Auch hier umschließt freilich — wiederum wie bei den zehn Geboten — die GotteSliebe die Nächstenliebe; diese quillt auS jener mit Notwendigkeit

hervor. Zum Unterschied von den zehn Geboten sind aber die Seligpreisungen keine Gebote oder Verbote, sondern Heilrufe, Lockungen, Einladungen, Tröstungen und Verheißungen. Sie sind Evangelium, d. h. Frohbotschaft, und nicht Gesetz, also nicht in erster Linie und einseitig Forderung. Christus sieht als der Heiland da, nicht als der neue Gesetzgeber. Er beschreibt, schil­ dert, zählt auf, wer auf dem rechten Wege zu Gott ist, und macht Mut, diesen Weg weiter zu gehen und die Vaterhände Gottes ganz zu ergreifen. Sofern in solcher Beschreibung nun freilich auch eine Forderung steckt, die

Forderung nämlich, ebenfalls bas eigene Leben nach dieser Richsschnur ganz

8

Seligpreisungen

zu gestalten, macht Christus diese Forderung, die und niederdrücken könnte, leicht, indem er gibt, was er fordert, und fordert, was er gibt. Denn wir

wissen: nur in seinem Namen, nur in seinem Geist und nur mit seiner Kraft kann man so leben und lieben, wie es hier von ihm als die Neuordnung beS Reiches Gottes verkündet wirb. Erste Seligpreisung

Matth. 5,3: Heil den Armen im Geist! Denn ihrer ist das Himmel­ reich. Die erste Seligpreisung ist in ihrem Wortlaut für das Verständnis der Schüler die allerschwierigste. Wer sind die „geistlich Armen", wie Luther übersetzt, ober wie es genauer heißt, „die Armen im Geist"? Nun, jedenfalls nicht die „geistig Armen", „die an Geist Armen", d. h. die Dummen, eben­ sowenig wie die an Geld und Gut Armen, trotz dem diesbezüglichen Wort­ laut von Lukas 6,20. Denn daß Mangel an Verstand und Mangel an Geld allein die Menschen nicht Gott näher bringen und Gott wohlgefällig machen, das wisien auch unsere Kinder schon aus ihrer Kenntnis der Menschen und des Lebens. Von dem Verhältnis zu Gott aber redet Jesus hier in der Berg­ predigt wie überall sonst. Und Luthers Übersetzung „geistlich arm" weist ja geschickt in eben diese Richtung, da auch der „Geistliche" von Gott und GotteS Willen zu künden hat. „Darum sei leiblich und äußerlich arm ober reich, wie dir's bescheret ist, da fragt Gott nicht nach; und wisie, daß ein jeglicher müsse für Gott, das ist geistlich und von Herzen, arm sein" (Luther, WA. 32, S. 307).

Es geht demnach in der ersten Seligpreisung um ein Sich-arm-wissen vor Gott, und man könnte den griechischen Wortlaut der Seligpreisung

ebensogut mit „Bettler im Geist", d. h. Bettler vor Gott übersetzen. Jesus hat das in klassischer Weise in dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner veranschaulicht. Der Zöllner dort kommt sich in seinem Geiste arm­ selig vor Gott vor, im Gegensatz zu dem Pharisäer, der sich brüstet und voll Verachtung auf den Zöllner herabsieht. Diese Beispielgeschichte vom Zöllner und Pharisäer bietet deshalb unter­ richtlich den besten Schlüssel zur Verständlichmachung der ersten Seligprei­ sung dar. Sie zeigt zugleich, zu wem der Heiland einst seine Seligpreisungen gesprochen hat. Er wendet sich an Männer und Frauen aus dem „Volk des Landes", die nicht wie die Schriftgelehrten und gesetzesfrommen Pharisäer

die 613 Verbote und Gebote kannten und befolgen konntenT). Er dachte x) Vgl. unten S. 25 f. und Luther, WA. 32, .), wer sich Gott und Christo zu eigen gibt, der ist Reichsgenosse und darf sich der ewigen Gemeinschaft mit Gott

und Christus gettösten. Das galt damals den Zuhörern Jesu, seinen Jüngern und Jüngerinnen,

und das gilt heute uns und unseren Kindern. Nicht die Selbstzufriedenen und Selbstgerechten sind auf dem rechten Wege zu Gott und seinem Reich,

sondern die „Bettler im Geist", die um ihren Abstand von Gott, um ihr Un­ recht, ihre Schuld, ihre Sünde wissen und darunter leiden. Wer wie der

verlorene Sohn deS Gleichnisses zu der Erkenntnis kam: „Vater, ich bin

nicht wert, daß ich dein Sohn heiße", gerade der darf wissen, baß Gott ihn dennoch als Kind annehmen will.

Um Schuld und Unrecht in ihrem Leben wissen aber auch schon unsere Kinder und Jugendlichen, und deshalb ttifft sie der Licht-und Gnaden­

strahl dieser ersten Seligpreisung ebenso wie uns Erwachsene. So müssen rote sie dahin führen, baß sie begreifen: Hier sind wir gemeint! Auch unS gilt diese Verheißung, gerade wenn wir in die Not der Schuld geraten sind. Und und ihre großen Heiligen. Denn er gibt ihnen bald im Anfang einen harten Stoß mit diesen

Worten, verwirft und verdammt ihre Lehre und predigt gleich das Wiberspiel, ja er schreiet

Weh über ihr Leben und Lehren, wie Lukas 6 anzeigt."

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Seligpreisungen

wie wir als Kinder uns alle Liebe unserer Eltern und all ihr tägliches Ver­ geben schenken ließen und schenken lassen, so sollen und dürfen wir als echte Kinder unseres himmlischen Vaters getrost auch im Sonnenglanz seiner täg­ lichen Vergebung leben, wie der Heiland selbst eS meinte, als er sprach: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich GotteS" (Mark. 10,14; vgl. Matth. 19,14: „denn solcher ist daS Himmelreich"). Die Haltung dieser Seligpreisung war zeitlebens die Haltung Luthers, in dessen Sterbezimmer in Eisleben sich nach seinem Tode auf dem Tisch ein Zettel sand mit den Worten: „Wir sind Bettler. Das ist wahr." Es ist die Haltung deS Christen, der von sich weg auf Gott blickt; der „geistlich arm" ist, aber eben deshalb von Gott den heiligen Geist empfangen darf,

den Pfingstgeist, der nicht ein knechtiger Geist ist, daß wir uns abermals fürchten müßten, sondern ein Geist der Kindschaft, durch welchen wir rufen: „Abba! Lieber Vater!" (Röm. 8,15). Die zweite, dritte und vierte Seligpreisung wiederholen und vertiefen den Gedanken der ersten Seligpreisung nach den verschiedensten Sesten hin.

Zweite Seligpreisung Matth. 5,4: Hell den Traurigen! Denn sie sollen getröstet werben. Gemeint sind in dieser zweiten Seligpreisung — ebenso wie in VerS 3 und 6 — die über ihre Sünde Traurigen, denen ihr Unrecht und ihr Ver­ sagen vor Gott leid tut. Als Beispiel bietet sich neben dem Gleichnis vom verlorenen Sohn die Geschichte von der großen Sünderin Luk. 7,36—50 an, in der Christus dem Simon — und damit uns und unseren Kindern — zu verstehen gibt, daß ein Mensch, der wie jene Frau weinend (V. 38.44) und hilfesuchend die Irrwege seines Lebens bereut, der Vergebung (V. 47) und des Trostes (V. 50: „Gehe hin in Frieden!") gewiß sein darf. Die gewöhnliche Beziehung dieser zweiten Seligpreisung auf die um Ver­ storbene Trauernden trifft nicht den Zusammenhang der Seligpreisungen, so richtig und wichtig eS selbstverständlich ist, bei anderer Gelegenheit die Kinder auch den Trostruf des Heilandes für Todesnot und -trauer hören zu lassen (Joh. ll,25f.: „Ich bin die Auferstehung und das Leben..."; 14, lf.: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. . ."; 16,33: „In der Welt habt ihr Angst..."; 17,24: „Vater, ich will, daß, wo ich bin...").

Seligpreisungen

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Dritte Seligpreisung

Matth. 5,5: Heil den Sanftmütigen! Denn sie werben das Erd­ reich erben. Diese dritte Seligpreisung ist handschriftlich unsicher überliefert und wahr­ scheinlich ein späterer Einschub aus Psalm 37,11: „Die Dulder werden das Land besitzen und sich freuen an der Fülle des Heils" (Luther: „Die Elenden werben bas Land erben und Lust haben in großem Frieden"). Sachlich handelt es sich bei dem zugrunde liegenden hebräischen Wort ebenso um „Sanft­

mütige" wie um „Demütige", und bei dem „Erben des Erdreichs" um den Besitz der erneuerten Erde, auf die das „Himmelreich" herabkommt. Wer im Unterricht nicht auf die Herkunft aus Psalm 37,11 verweisen will, muß die brüte Seligpreisung entweder im Sinn von VerS 3 auf die vor Gott Demütigen beziehen, oder die Seligpreisung der „Sanftmütigen", Freundlichen, Milden zusammen mit der der „Friedfertigen" in Vers 9 be­ handeln (s. u.)> Sanftmut, Güte und Milde wären bann entscheidend für den Geist, den JesuS hier meint, im Sinne von Matth. 11,29: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig", Luk. 9,51—56: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?" und Gal. 5,22: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütig­ keit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit" (vgl. ebenso Gal. 6,1; Eph. 4,1—3; Kol. 3,12—14; I. Tim. 6,11—12). Die ursprünglich auf die Endzeit und Heilszeit bezogene Verheißung „sie werden das Erdreich besitzen" kann man für seine Schüler dadurch gegenwartS- und lebenswichtig machen, daß man ihnen die Augen öffnet für das in diesen Worten gleichzeitig zum Ausdruck kommende wundersame Gottesgesetz, wonach selbst im Leben dieser sonst so christusfernen Welt zu­ letzt nicht die Gewalt, sondern die Güte, nicht Terror, sondern Vertrauen „das Erdreich besitzen" x). Das Gewaltreich eines Napoleon zerfiel; die *) Luther macht das in seinen Predigten ganz praktisch an den häuslich-nachbarlichen Ver­

hältnissen klar. Nach seiner Meinung lehret uns hier Christus, „baß, wer da will daS Seine, Gut, HauS und Hof usw. mit Fried regieren und besitzen, der müsse sanftmütig sein... Denn «S kann nicht fehlen, eS wirb zuweilen dein Nachbar sich an dir vergreifen und zuviel

tun, entweder aus Versehen, ober auch aus Mutwillen. Jst'S Versehen, so machst bu'S deinet­ halben nicht gut, baß du nichts willst noch kannst vertragen. Jst'S aber Mutwillen, so machst du ihn nur ärger, daß du feindlich scharrest und pochest und er dazu lachet und seine Lust büßet,

baß er dich erzürnet und Leid tut, so daß du doch keinen Frieden kannst haben noch des Deinen

mit Ruhe brauchen. Darum wähle der zweien eins, welches du willst, baß du entweder mit Sanftmut und Geduld unter den Leuten lebest und behältst, was du hast, mit Fried und gutem

Gewissen, oder mit Poltern und Rumoren das Deine verlierst und keine Ruhe dazu habest. Denn da stehet beschlossen: Die Sanftmütigen sollen daS Land besitzen" (WA. 32, S. 317).

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Seligpreisungen

Schreckensherrschaft eines Stalin wird zerbrochen werden. Kein Tyrann be­ sitzt die Herzen seiner Untertanen, kein Herrenmensch wird Liebe ernten. Nur Liebe erntet Liebe, nur Sanftmut und Güte wirken Vertrauen und Hingabe. DaS ist in der Familie nicht anders als in der Schule. Und so tief dies alles in das Leben unserer Kinder hineingreift und so viel Freude — oder Bitter­ nis — darob in ihren Herzen leben mag, so werden auch wir als Religions­ lehrer oder Pfarrer nur durch Liebe und Güte, aber niemals durch Gewalt

und kaltes, herrisches Wesen bas Land ihrer Herzen und Seelen und daö Verttauen unserer Gemeinden besitzen.

Vierte Seligpreisung

Matth. 5,6: Heil denen, die hungern und bürsten nach Gerechtigkeit! Denn sie sollen satt werden. Wie in der ersten Seligpreisung geht eS hier in der vierten um „die Gerechtigkest, die vor Gott gilt" (Röm. 1,17), d. h. um baS „Rechtsein vor Gott",

baS sich der Mensch nicht selbst und nicht auS eigenen Kräften zu erwirken

vermag. ES ist also daS Gegenteil der pharisäischen Gerechtigkest, die auf die eigene Leistung pocht (vgl. Luk. 6,25: „Wehe euch, die ihr jetzt satt seid!

Denn ihr werdet hungern"), daS Gegenteil mithin aller Werkgerechttgkeit, gegen die Luther sein Leben lang kämpfte und die ttotzdem unter unS „Evan­

gelischen" noch lange nicht auSgestorben ist. ES ist selbstverständlich auch etwas völlig anderes als die bügerliche Gerechtigkeit, b. h. daS Rechtsein vor den

Menschen, und hat deshalb auch nichts zu tun mst der juristischen Gerechtig­ keit, wie der Helianddichter fälschlicherweise noch meinte (V. 1308ff.: „Selig die Getreuen auch, die nach Gerechtigkeit richteten..."). Christus denkt in

der vietten Seligpreisung vielmehr an Menschen in der Lage beS verlorenen

Sohnes in Luk. 15,18f., beS Zöllners in Luk. 18,13, der Sünderin in Luk. 7,37f. ober — um für die Behandlung dieser Seligpreisung ein neues Beispiel heranzuholen — an „Hungernde und Dürstende" ähnlich dem Ober­

zöllner Zachäus in Luk. 19,3ff. Der machte sich auf, um Jesus zu sehen,

weil er eS nicht mehr aushielt in seinem Leben der Raffgier und Erpressung,

deS Schuldbewußtseins und der GotteSferne, der Lieblosigkeit und deS VerachtesseinS von allen Menschen. Zu ihm kam der Heiland mit seinem Heil

(83.9) und machte ihn satt. Und so lädt er unS alle ein, Junge und Alte: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!" (Joh. 7,37). „Denn wer,

des WasserS ttinken wird, daS ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten. Sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, daS wird in ihm ein Brunnen

Seligpreisungen

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des Wassers werden, bas in das ewige Leben quillet" (Ioh. 4,14). „Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten "(Ioh. 6,35).

Fünfte Seligpreisung Matth. 5,7: Heil den Barmherzigen! Denn sie werden Barm­ herzigkeit erlangen. Mit dieser fünften Seligpreisung wendet sich Jesus — wie möglicherweise schon in der dritten (s. o.) — dem Verhalten gegenüber den Mitmenschen

zu. Barmherzigkeit war freilich auch im Alten Testament schon hin und wieder gefordert (z. B. Hiob 6,14; Psalm 41,2—4; 112,5f.; Sprüche 14,21. 31; 19,17; Jesaja 58,7 f.; Hosea 12,7; Sach. 7,9) und wurde von den Schriftgelehrten zu Jesu Zeiten mit Worten hoch gepriesen. Doch dachten die Israeliten und Juden vor allem an die Barmherzigkeit gegenüber den jüdischen Volksgenossen (Jes. 58,8 wörtlich: „und entziehe dich nicht deinen Volksgenossen"), und selbst da war das Verhalten der Pharisäer dem nicht­ pharisäischen „Volk des Landes" gegenüber oft alles andere als barmherzig (vgl. Matth. 23,13 u. 23). Christus rückt die Barmherzigkeit nun in die Mitte und würdigt sie als eine der wichtigsten Äußerungen. wahrer Gotteskindschaft. Nur wer. selbst,

barmherzig ist, darf auf Gottes Barmherzigkeit, von der in der 1., 2. und 4. Seligpreisung die Rede war, hoffen (Matth. 18, 23—35: Gleichnis vom Schalksknecht! Matth. 25, 31—46: Gleichnis vom Jüngsten Gericht! Jak. 2,13: „Es wird aber ein unbarmherzig Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkest getan hat"). „Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist" (Luk. 6,36). Seid barmherzig im Vergeben (5. Bitte des Vaterunsers und Matth. 6, 14 f.) und seid barmherzig im Helfen (Luk. 10, 29ff.: Barmherziger Samariter) gegenüber jedem, der euren Weg kreuzt und der eurer äußeren oder inneren Hilfe bedarf.

An Beispielen aus dem täglichen Leben und an echten Gelegenheiten für solche Barmherzigkeit im Leben unserer Jugendlichen wird es nicht fehlen. Wir werben sie immer wieder darauf Hinweisen und ihnen helfen, ihr Herz warm zu halten (barmherzig — warmherzig), auch dadurch, daß wir ihnen erzählen von Menschen, die ihr ganzes Leben dem Dienst der Barm­

herzigkeit geweiht haben wie unsere evangelischen Krankenschwestern und -brüder und wie ein Friedrich von Bodelschwingh, der sein Leben unter das Wort gestellt hatte: „Nachdem unö Barmherzigkeit widerfahren ist, werden wir nicht müde" (II. Kor. 4,1).

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Seligpreisungen

Sechste Seligpreisung Matth. 5/ 8: Heil denen, die reines Herzens sind! Denn sie werden Gott schauen. Diese sechste Seligpreisung steht zunächst im Gegensatz zu den „Reinheits"Aussasiungen der Pharisäer und Schriftgelehrten, wie sie Jesus selbst in Matth. 15,1—20 (vgl. Mark. 7,1—23) und Matth. 23,25—28 an den

Pranger gestellt hat. 3m schärfsten Widerspruch gegen baS äußerlich gesetz­ liche Reinheitsstreben jener Musterfrommen fordert er an jenen Stellen die Reinhest des inwendigen Menschen und der Herzen. Unter „Herzensreinheit" versteht Christus nun aber nicht eine völlige Reinheit von Sünden — die er nach den ersten vier Seligpreisungen eben nicht voraussetzt —, sondern die Lauterkeit und Herzenseinfalt derer, die sich mit voller Aufrichttgkeit und Schlichtheit ihrem Gott hingeben und öffnen. Sie, die sich wie ein klarer Kristall von Gottes Sonnenauge willig durchscheinen lasten, dürfen schon jetzt diese Sttahlen seines Liebesblickes spüren und werben ihn in der Herrlichkeit des Reiches schauen von Angesicht zu Angesicht. „Jetzt

blicken wir nur wie in einen Spiegel und schauen alles in einem undeutlichen Bilde, dann aber von Angesicht zu Angesicht" (I. Kor. 13,12). „Denn wir werden ihn sehen, wie er ist" (I. Joh. 3,2). Der Lobpreis solcher Lauterkeit und Offenheit für Gott in Jesu Seligprei­ sung führt freilich rasch ins Gebet, da diese Herzenseinfalt weder unser noch unserer Kinder Teil ist. Darum werden wir mit ihnen bei dieser Be­ sinnung beten: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze und gib mir einen neuen, gewisten Geist; verwirf mich nicht von Deinem Angesicht und nimm Deinen heiligen Geist nicht von mir" (Psalm 51,12f.). Und ebenso werben wir mit ihnen die Strophen des nach dieser Psalmstelle gedichteten LiedeS singen: „Ein reines Herz, Herr, schaff in mir, schleuß zu der Sünde Tor und Tür; vertteibe sie und laß nicht zu, daß sie in meinem Herzen ruh" (H. G. Neuß). Und werden mit Tersteegen aus seinem Liede „Gott ist gegenwärtig" sprechen und beten und singen: Du durchdringest alles;

laß dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte. Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, laß mich so still und froh deine Sttahlen fasten nnd dich wirken lasten.

Mache mich einfältig, innig, abgeschieden, sanft und still in deinem Frieden; mach mich reines Herzens, baß ich deine Klarheit

schauen mag in Geist und Wahrheit; laß mein Herz überwärts

wie ein Adler schweben und in dir nur leben.

Seligpreisungen

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Siebente Seligpreisung Matth. 5/ 9: Heil den Friedensstiftern! Denn sie werben Kinder („Söhne") Gottes heißen.

Neben der Barmherzigkeit (V. 7) steht die Friedfertigkeit als Erweis wahrer Liebesgesinnung gegen den Nächsten (vgl. auch V. 5). Gemeint sind nicht

die unter allen Umständen „Friedlichen", die womöglich in Schwachheit ober Feighett einem Stteit aus dem Wege gehen oder sich um anderer Stteitig-

keiten grundsätzlich nicht kümmern, sondern Jünger Jesu, die die Weihnachts­ botschaft „Friede auf Erden" ernst nehmen und deshalb auch ihrerseits dazu helfen wollen, baß in den Menschen und zwischen den Menschen Friede

werde, wie auch Luther sagt: „Hier preiset der Herr mit einem hohen Titel

und westlichen Ruhm die, so sich befleißigen, daß sie gern Frieden schaffen, nicht allein für sich, sondern auch unter anderen Leuten" (WA. 32, S. 330).

Daß solche Bereitschaft zum Frieden und solche Fähigkeit, es „fertig zu bringen", daß wieder Friede wird, wo früher Stteit war, viel, viel schwerer ist, als den Streit mit anderen fortzusetzen oder bloß zuzuschauen, wie die

Gegner sich befehden, oder gar deren Feindschaft zu schüren, bas wisten unsere Kinder und Jugendlichen aus ihrem jungen Leben heraus so gut wie wir Älteren. Angesichts mancher karikierenden Verächtlichmachung christlicher Liebeskraft haben rott aber die Pflicht, gerade darauf immer wieder besonders aufmerksam zu machen. Nicht die Streitsüchtigen, sondern die Friedens­ stifter sind die stärkeren Charaktere; sie sind die wahren Helden, denn oft

genug gehört wirklich Heldenkraft dazu, Frieden zustande zu bringen, wo

vorher Feindschaft und Gegnerschaft herrschte. Nicht umsonst sagt Jesus: „Habt Salz bei euch und habt Frieden untereinander!" (Mark. 9,50).

Die Sache, um die es in dieser siebenten Seligpreisung geht, kehrt noch ein­ mal bei Besprechung der Feindesliebe (V. 21—26, 38—+8) wieder und

wird dort Wetter zu erörtern sein. Wie programmatisch wirb aber hier beretts von Jesus vorausgeschickt, daß nur die Friedensliebe und Friedensbereitschaft

ihren Ruhm bei Gott hat und nie das Gegenteil solcher Haltung. Dies Grundsätzliche ist auch im Unterricht schon an dieser Stelle herauszuarbeüen; einzelne Beispiele für solches Verhalten können z. T. später bei Besprechung der von Jesus selbst angeführten Fälle (s. u.) folgenx). *) Wie sehr Friedfertigkeit auch auf dem politischen Gebiet von den Völkern ersehnt und dankbar umjubelt wirb, ließ die ungeheure politische Spannung des Septembers 1938 (Tsche­

choslowakei und Subetenbeutsch«) mit ihrer herrlichen Lösung in den Münchener Friedens­

besprechungen der vier großen Staatsmänner Deutschlands, Italiens, Englands und Frank­ reichs erkennen.

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Seligpreisungen

Die Aufforderung, dem Frieden nachzujagen, findet sich gelegentlich be­ reits im Alten Testament, z. B. in Psalm 34,15: „Laß vom Bösen und

tue GuteS; suche Frieden und jage ihm nach"; oder Sprüche 12,20: „Die Böses raten, betrügen; aber die zum Frieden raten, schaffen Freude..." Die schönsten Beispiele für alttestamentliche Friedferfigkeit sind daS Ver­

halten deS „sanften, wahrhaft urväterlichen" x) Abraham gegenüber Lot (I. Mos. 13) und Davids gegen Saul (I- Sam. 26). Was hier an Einzclfällen überliefert wurde, hat Christus, „unser Friede" (Eph. 2,14), das „FriebenSkind GotteS", wie der Helianddichter

so unvergleichlich schön sagt, zur neuen LebenSnorm in seinem Reiche erhoben, und die Apostel haben wohl begriffen, daß gerade an diesem Punft sich ChristuSgeist und Weltgeist scheiden. (Vgl. Röm. 12,18: „Ist eS möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden." Hebr. 12,14: „Jaget nach dem Frieden gegen jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird.") Auch unsere Kinder müssen wissen: „Kinder GotteS", „Söhne" und „Töchter GotteS", sind sie erst dann, wenn sie in dieser Hinsicht Gott und dem Heiland ähnlich zu werden sich bemühen. „Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern deS Friedens" (I. Kor. 14,33). Dazu gehört, daß sie ihr junges Leben in Familie, Freundschaft, Kameradschaft, Schule usw. in diesem Geiste deS Friedens zu gestalten bereit sind, daß sie den Mut und die Kraft besitzen, als Erste die Hand zum Frieden zu bieten, wenn Unfriede auSgebrochen ist, daß sie tapfer versuchen, Friedensstörungen zu beseitigen und als „Friedensstifter" zwischen streitenden Kameraden zu vermitteln. Dieser Geist deS Friedens (Gal. 5,22: „Die Frucht deS Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit...") mag heute mehr als ftüher verspottet sein: in Wirklichkeit leben alle Menschen innerlich nur von solchem Frieden. Denn nur wo Friede herrscht, ist auch Freude und Glück. Für daS Leben der Familie und der Freundschaft erkennt daS jedermann an, auch der Gegner christlichen Glaubens. Gott aber und Christus wollen,

daß wir alle eine große Familie seien, wahrhaft Söhne und Töchter deS einen Vaters und damst Brüder und Schwestern untereinander. Wer sich zu Christus bekennt, bekennt sich damit zum Frieden, wird ein Vor­ kämpfer deS Friedens und betet um solchen Frieden und um solche

FriedenSkrast: „Vater unser in dem Himmel, Dein Name werbe geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe,... denn Dein ist daS Reich und

die Kraft...". *) Goethe, Dichtung und Wahrheit I, 4. Buch.

Seligpreisungen

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Selig sind, die Frieden bringen, Schuld und Kränkung übersehn, Feindeshaß mit Huld bezwingen, für Verfolger segnend flehn! Trifft sie auch der Menschen Spott,

seine Kinder nennt sie Gott" *).

Achte Seligpreisung

Matth. 5,10—12: Heil denen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden! Denn ihrer ist das Himmelreich. Heil euch, wenn man euch um meinetwillen schmäht und verfolgt und redet alles mögliche Schlechte von euch — wider die Wahrheit! Freuet euch und frohlockt! Euer Lohn ist groß im Himmel; denn ebenso hat man die Propheten vor euch auch verfolgt. Die achte Seligpreisung (V. 10) wendet sich zunächst an die zu Jesu Zeiten wegen ihrer Stellung zur „Gerechtigkeit vor Gott" Verfolgten. Damit wird der Ring zurück zur ersten Seligpreisung über die vierte hin geschlossen. Ge­ meint sind immer dieselben Menschen: die von den Pharisäern wegen ihres Mangels an „Gerechtigkeit" verachtet und verfolgt waren, die selbst über ihren Mangel an Gerechtigkeit vor Gott verzweifeln wollten (V. 3 und 4) und nach voller Gerechtigkeit hungerten (V. 6) — und die nun von dem

Heiland gerade in dieser Lage und wegen der Verfolgungen von feiten der herrschenden Gesetzesgerechtcn selig gepriesen werden. Sie sind die wahren Bürger des Reiches! Ihnen — und nicht den Schriftgelehrten und Pha­ risäern — ist Gott-Vater zugetan! Die Seligpreisung meint also nicht allgemein die Menschen, die um ihres Gerechtigkeitssinnes oder um ihrer bürgerlichen Rechtbeschaffenheit willen in der Welt leiden müssen, so wie man mit dem Sprichwort zu sagen pflegt: „Der Gerechte muß viel leiden!" (Übrigens stammt dies „Sprich­

wort" auS dem Alten Testament, aus Psalm 34,20, versteht unter „Gerechtig­ keit" die alttestamentliche Frömmigkeit und hat im Psalm die Fortsetzung: „Aber der Herr hilft ihm aus dem allem"). Weder die alttestamentliche noch die gut bürgerliche noch die heroische (heldische) Ethik steht hier zur De­

batte. Denn das erleben wir jeden Tag, daß der, der sich für Gerechttgkeit und Wahrheit einsetzt und gegen Lüge, Gemeinheit, List, Schurkerei und Un­ recht kämpft, sofort seinerseits dem Haß und der Feindschaft der Betroffenen *) Aus dem Lieb „Hört das Wort voll Ernst und Liebe" von K. L. Garv«. Di« Strophen

3—10 dieses Liebes umschreiben je eine Seligpreisung; Strophe 11 besingt Matth. 5,13—16.

2

Wißmann, Bergpredigt

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Seligpreisungen

und der anderen in ihrem Unrecht Aufgestörten ausgeliefert ist und mit Ver­

folgung mancherlei Art rechnen muß. Das ist nun einmal so in dieser wahr­ haftig nicht vollkommenen Welt. Aber so gewiß dies ist und so gewiß wir jeden offenen Kämpfer für Wahrheit und Reinheit, Gerechtigkeit und Sauber­

keit — zumal wenn er verfolgt wird! — preisen und bewundern, so bedarf

es dazu nicht erst eines ausdrücklichen Heilrufes Jesu. Das alles weiß jeder anständige Mensch von sich aus, ob er Christ ist oder nicht.

Erst wo all solches Handeln unter Gottes Auge gestellt wird, erst wo der Mensch sich nach seinem Rechtsein vor Gott fragt und um dieses Ringens

vor Gott willen von den anderen Menschen verlästert wird, ist der Punkt

erreicht, auf den Jesus abzielt.

Die Verse 11 und 12 denken darüber hinaus an die, die wegen ihrer Hinwendung zu Christus nun doppelte Verfolgung leiden wer­

den. Ihnen ruft dieser Vers zu, sie sollen sich über ihre Verfolgungen, nicht trotz ihrer, freuen. Denn gerade die Verfolgungen durch die Christusfeinde

beweisen, daß sie selbst auf die Seite Gottes und seines Christus gehören. So stehen die Worte „euer Lohn ist groß im Himmelreich" ganz gleichlaufend

zu dem vorangegangenen Nachsatz: „Denn ihrer ist das Himmelreich." Demnach wäre bas „Himmelreich", die „Königsherrschaft Gottes", jener „Lohn"; aber weil es sich um die Gottesherrschaft handelt, ist dies eben kein

„Lohn" im Sinne von Entgelt oder Verdienst oder Begleichung einer Rech­

nung, sondern eitel Geschenk, Friede und Freude (V. 8) und Erbarmen Gottes (D. 7). So hat man ehedem die Propheten verfolgt, und Gott hat sich ihrer erbarmt, wie Jakobus es Kap. 5, Vers 10 und 11 so fein ausführt (Über­ setzung von Menge): „Nehmt euch, liebe Brüder, im Leiden und in der Ge­ duld die Propheten zum Vorbild, die im Namen des Herrn geredet haben. Seht, wir preisen die selig, die geduldig ausgeharrt haben. Von der Stand­

haftigkeit Hiobs habt ihr gehört und von dem Ausgang, den der Herr ihm bereitet hat; erkennet daraus, daß der Herr reich an Mitleid ist und voll Er­

barmen."

Christus hat auch sonst seinen Jüngern deutlich zu verstehen ge­ geben, daß die Nachfolge Leid und Verfolgung mit sich bringt. Man lese mit den Schülern nur Matth. 10,16—25 und 16,21—28. Es kann ja

nicht anders sein: „Der Jünger ist nicht über seinen Meister noch der Knecht über seinen Herrn.... Haben sie den Hausvater Beelzebulx) geheißen, wie

viel mehr werden sie seine Hausgenossen ebenso heißen" (Matth. 10,24 f.).

„So euch die Welt haßt, so wisset, daß sie mich vor euch gehaßt hat" *) Beelzebul = sonst nicht vorkommenber Satanöname. Luther folgt der Lesart „Beelze­

bub" = Fliegenbaal.

19

Seligpreisungen

(Joh. 15/ 8). „Geliebte/ laßt euch die Feuerglut der Leiden/ die zur Prüfung über euch ergeht/ nicht befremden/ als ob euch damit etwas Unbegreifliches

widerführe, sondern freuet euch in dem Maße/ wie ihr an den Leiben Christi teilnehmt/ damit ihr auch bei der Offenbarung seiner Herrlichkeit euch freuen

und jubeln könnt. Wenn ihr um des Namens Christi willen geschmäht wer­ det/ so seid ihr selig zu preisen/ denn der Geist der Herrlichkeit und der Macht,

der Geist Gottes, ruht auf euch" (I. Petr. 4, 12—14 nach Menge).

Diese Worte des Neuen Testamentes wurden durch das Schicksal der Ur­ gemeinde und der Christenheit bis auf den heutigen Tag bewahrheitet und be­ stätigt. Zahllos sind die Beispiele, die wir vom Märtyrertod der Apostel an

bis zu den baltischen Märtyrern und den heute in aller Welt um Christi willen

Verfolgten bringen könnenx). Wir werden davon vor unseren Schülern das eine und andere erwähnen, erzählen oder vorlesen, ohne jedoch diesen Ab­

schluß der Seligpreisungen mit einem Abriß der Kirchengeschichte zu über­ lasten. Wichtiger ist, daß den Kindern zweierlei klar wird: 1. Wer Christus nach­ folgen will, muß auf Verfolgung, Lästerung, Hohn und Spott gefaßt sein,

auch heute noch. Zum Chriftsein gehört das in dieser Welt dazu. Es ist also

nichts Absonderliches, wenn auch schon unsere Schüler gelegentlich etwas von dem Christushaß der Christusgegner zu spüren bekommen. Äm Gegen­

teil : Es wäre wunderbar, wenn dergleichen ihnen noch nicht begegnet wäre. Und sicher ist, daß ihnen in ihrem Leben, wenn sie nur fest zu Christus halten, auch irgendwann einmal die Woge der Christusfeindschaft ins Antlitz schlagen wird. Westen Lebensweg in dieser Hinsicht völlig unangefochten bleibt, der

muß sich ernsthaft fragen, ob in seinem Glaubensleben alles in Ordnung ist*2). (Vgl. Luk. 6,26: „Wehe euch, wenn jedermann mit Reden vor euch

schön tut! Genau so haben es ihre Väter mit den falschen Propheten auch gemacht.") — 2. Daraus folgt das Zweite: Haß, Ärger, Verleumdung, An­ griff auf unsere Ehre usw. können uns nie überraschen oder verblüffen, sondern

zeigen uns nur, daß wir auf der rechten Seite stehen — vorausgesetzt, baß die Worte „so sie daran lügen" (Luther) in Matth. 5,10 zutreffen. „Darum,

willst du ein Christ sein, so erwäge, daß du unerschrocken seiest und nicht darum verzagest noch ungeduldig werdest, sondern fröhlich und gettost dazu *) Vgl. Otto Michaelis, Protestantisches Märtyrerbuch,

Steinkopf

=

Stuttgart.

— Hans Dittmer, Raft im Allrag, Vanbenhoeck L Ruprecht — Göttingen, S. 131—151 (Fünf Berichte aus Rußland). 2) „Wer nicht Hafter, Lästerer und Verfolger hat, der ist noch nicht ein Christ ober hat

ja noch nicht sein Christentum beweiset mit äußerlicher Tat und Bekenntnis" (Luther, WA. 32,

S. 505). 2*

seiest und wissest, eS stehe nicht übel um dich, wenn dir's so gehet" (Luther, WA. 32, S. 335). Deshalb bedauert uns auch der Heiland nicht, sondern ruft uns sein „Heil euch!" zu. Damit ist aber auch dieser ernste Abschluß der Seligpreisungen nicht minder tröstlich und freudevoll als ihr Anfang. 2. Die Bildworte vom Salz der Erde und vom Licht der Welt

Matth. 5,13—16: Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit soll es wieder salzig gemacht werden (seine Salz­ kraft zurückerhalten)? Es taugt dann zu weiter nichts, als hinaus auf die Straße geschüttet und von den Leuten zertreten zu werden. Ihr seid das Licht der Welt. Rur eine Stadt, die oben auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stellt es unter einen Scheffel (Hohlmaß), sondern auf einen Leuchter; dann leuchtet es allen, die im Hause sind. So soll auch euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen (ehren).

Die Jünger Jesu sind in ihrem in den Seligpreisungen gekennzeichneten und in der ganzen Bergpredigt weiter ausgeführten Verhalten „Salz der Erde" und „Licht der Welt". Sie sollen es nicht erst sein, — sie sind es. Trotz der in Vers 11 und 12 vorausgesagten Verfolgungen! Auch hier liegt der Gegensatz gegen die pharisäisch-gesetzliche Frömmigkeit offen zu Tage. Die Schriftgelehrten und Pharisäer hielten ja sich für „ein Licht derer, die in Finsternis sind" (Röm. 2,19). Wie mußte ihre Empörung und ihr Haß hochschlagen, als Jesus seine von ihnen so ver­ achteten Anhänger gar als „Salz der Erde" und „Licht der Welt" be­

zeichnete ! Aber der Herr wußte, was er tat. Er zeigte mit diesem doppelten Gleichnis­ wort seinen Jüngern ihren hohen, unvergleichlichen Beruf und rief sie gleichzeitig zur Treue auf. Das Bild vom Salz und Licht ist ja klar und durchsichtig. Salz würzt die Speisen, macht sie schmackhaft und schützt sie vor Fäulnis und Ver­

derben (Einsalzen von Fleisch, Bohnen, Gurken). So gibt das Christusleben der Jünger dem Leben der Welt erst den richtigen „Geschmack": es zeigt der Welt, was eigentlich „Leben" im Vollsinn deS Wortes nach Gottes Willen ist — das Johannesevangelium sagt dafür „Ewiges Leben", z. B. 3, 36; 6,47; 5,24; 4,14; 6,27; 6,33; 10,11; 17,3 — unb hilft der Welt im Kampfe

gegen alles Faule und Schlechte. Unter einer Voraussetzung: daß Jesu Jünger so sind und bleiben, wie die Seligpreisungen eS umschreiben, und daß sie damtt Gott und Christus die Treue halten. Ein Jünger, der das nicht tut,

gleicht einem Salz, daS keine Salzkrast hat.

Salz 6et Erbe — Licht der Welt

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Licht leuchtet und wärmt, macht die dunkle Stube wohnlich und siegt

über jede Finsternis. So sind Jesu Jünger Licht für die Welt, Heller, strahlen­ der Schein und Siegkraft über alles Dunkel — vorausgesetzt, daß sie als echte Jünger in die Welt hinausziehen und sich nicht verstecken und im Winkel bleiben. Eine Stadt im Gebirgskessel bleibt verborgen; nur eine oben auf der Höhe ist weithin sichtbar. Ebenso gehört ein Licht (zu Jesu Setten eine Hl-

lampe) auf einen Leuchter und nicht unter ein Hohlgefäß (oder unter den Tisch oder unter die Bank, vgl. Mark. 4,21, Luk. 8,16), wenn es allen leuchten soll, die im Hause (in der einen Stube des palästinensischen HauseS) sind. Deshalb muß der Mensch Christi ins Leben hinaus, mitten unter die Menschen, Kamst alle schauen und sehen und schmecken können, waS es heißt, ein Christenmensch zu sein. Das Leben, bas er dort lebt, gleicht den Strahlen, die das Licht aussendet: die „guten Werke" sind selbstverständlicher Ausfluß seines Christseins, un­ reflektierte Äußerungen seines Innenlebens, „gute Früchte eines guten Baumes" (Matth. 7,17; s. u.) und damit grundsätzlich fern von jedem Verdienstgebanken. Gott allein die Ehre! Das ist die Haltung des eigenen Herzens und zugleich der Ruf der Menge, die — votz solchem Leben, von solchen „Werken" und Taten bezwungen und gewandelt — Gott in Demut preist und rühmt. All diese sachlichen Überlegungen sind auch für unsere Schüler ver­

ständlich und deshalb leicht mü ihnen im Wechselgespräch zu erörtern. Aus

der Geschichte der christlichen Kirche werden wir unschwer Beispiele anführen können, wo einzelne Christen oder die christliche Gemeinde zum Salz

und Licht für ihre Umgebung wurden. Was war doch einst in den ersten Jahrhunderten im Mittelmeerraum die stärkste Werbekraft für die Ausbrei­ tung des Christentums? Die Standhaftigkeit des Glaubens im Martyrium der Christenverfolgungen und die Liebe der Gemeindeglieder untereinander. „Seht, wie sie sich untereinander lieben und wie einer für den anderen in den Tod zu gehen bereit ist!" So sprach damals (nach Tertullian) die heid­ nische Umwelt über die Christengemeinden — und so leuchten die Zeugnisse christlichen Glaubens und christlicher Liebestätigkest durch die Jahrhunderte

hindurch immer wieder auf bis zum heutigen Tag (Werbekraft christlichen Glaubenslebens unter den germanischen Völkern; Überwindung des katho­ lischen Mittelalters durch Luther; Innere Mission; Äußere Mission; Mathilda

Wrede; Albert Schweitzer). Zum Abschluß bleibt wie immer die Frage: WaS sagt bas uns für unser eigenes Leben? Sind wir auch „Salz der Erde" und „Licht der Welt"? Können wir als junge Menschen oder gar als Kinder denn bas schon sein?

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Salz der Erde — Licht der Welt

Der Heiland würde sagen: Gewiß! In eurer Familie, unter euren Ge­

schwistern, in eurer Klasse, in eurem Freundeskreis, unter euren Kameraden

und Kameradinnen, ja auch unter Erwachsenen seid ihr immer dann Salz und Licht, wenn ihr — ohne nach links oder rechts zu schielen — gerade­ aus euren Weg geht als echte, rechte junge Christen, fest und unbekümmert in eurem Glauben, mit dem Mut, diesen Glauben auch, wenn es nötig ist,

offen zu bekennen; ebenso fest aber in der Liebe, in der Wahrhaftigkeit, in der Reinheit, in der Barmherzigkeit, in der Friedfertigkeit (vgl. die Seligprei­

sungen !) usw. So werdet ihr, bewußt und unbewußt, ein Salz sein gegen Glaubenslosigkeit, Spottsucht und Oberflächlichkeit, ein Licht im Dunkel

von Neid, Haß, Streitsucht, Unverträglichkeit, Schmutz, Unreinheit und was es sonst sei (Beispiele durch die Kinder aufzählen lassen! Selbst Beispiele

aus dem Leben nennen! erzählen! vorlesen!). Durch eure bloße Anwesenheit oder durch eure Blicke oder durch den Ausdruck eures Gesichtes oder durch eure Worte zur rechten Zeit werdet ihr das Böse, Gemeine, werdet ihr schlechte,

unanständige Redensarten und dergleichen im Keim ersticken. Ihr werdet euren Geschwistern, ihr werdet dem oder jenem Kameraden stille Helfer sein,

werdet — vielleicht ohne es zu wissen — ihn stärken und ihn vor Ver­ suchungen bewahren.

Freilich könnt ihr das nur, wenn ihr selbst ganz treu seid, ganz fest, ganz stark im Glauben und in der Liebe. Mit halbem Glauben, halber Liebe ist

nichts getan. Halbe Menschen, halbe Jünger Jesu kann man nicht zu Salz

und Licht gebrauchen. Sie sind fades Salz, sie sind keine Leuchte, sondern eine Funzel, ein rauchender, stinkender Docht. Hier gilt auch für Kinder schon das furchtbar ernste, ewig wahre Wort, das in der Gegenwart nach seinen

verschiedenen Seiten hin eine so erschütternde Erfüllung findet: „Ach daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm,

werde ich dich ausspeien aus meinem Munde" (Offbg. Joh. 3,16). Und noch zweierlei gilt es zu bedenken. Zum ersten: Um Salz für andere

sein zu können, muß man selbst Salzkraft besitzen; deshalb mahnt der Hei­ land: „Habt Salz bei euch und habt Frieden untereinander!" (Mark. 9,50).

Um als Licht leuchten zu können, muß man sich vorher Leuchtkraft schenken lassen. Dazu bietet sich Christus selbst an, indem er spricht: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolget, der wird nicht wandeln in der Fin­ sternis, sondern wird das Licht des Lebens haben" (Joh. 8,12). „Ohne mich

könnt ihr nichts tun!" (Joh. 15,5). „Meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig" (II. Kor. 12,9). Zum andern: Salz, das zum Salzen der Speisen verwendet wird, löst

sich auf, ist nachher nicht mehr zu sehen. Die Kerze, die leuchtet, brennt ab;

Salz der Erde — Licht der Welt

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das Öl (Petroleum) verbrennt; die elektrische Glühbirne verbraucht Kraft und Strom. Dasselbe gilt auch für ein rechtes Christenleben. Ohne Einsatz

von Kraft und Leben, ohne baß man sich aufzehrt und hingibt, kann man

nicht Salz und Licht im Namen Jesu sein. Das Gesetz seiner Nachfolge lautet: Lebenshingabe

und

Opfer. Wenn schon Schiller in „Wallensteins

Lager" die Soldaten singen läßt: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein", so gilt dies Wort erst recht für den Soldaten Jesu Christi: „Wer sein Leben behalten will, der wird's verlieren; und wer

sein Leben verliert um meinet- und um des Evangeliums willen, der wird's

behalten" (Mark. 8,35). Deshalb „leide mit als ein guter Streiter Jesu

Christi!" (II. Tim. 2, 3). Aber wie bringen wir das fertig? Wie können wir dem allem gerecht wer­

den? Wir spüren es: Auch hier mündet schließlich alles wieder ins Gebet; wie das feine Jugendlied es in seiner Weise zum Ausdruck bringt:

In der Welt ist's dunkel,

Jesus, unsre Sonne,

leuchten müssen wir,

Du nur kannst's allein,

du in deiner Ecke,

dring mit Deinen Strahlen

ich in meiner hier.

tief ins Herz uns ein.

Ach, wir können leuchten

Denn in Jesu Glanze

von uns selber nicht,

können leuchten wir,

ob wir's gleich versuchen,

du in deiner Ecke,

gibt's oft gar kein Licht.

ich in meiner hier.

Haupttell: Die bessere Gerechtigkeit (Match. 5,17-7,12) Matth. 5/17—20: Meint nicht, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. sDenn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht ein Iota*) oder ein Häkchen?) vom Gesetz vergehen, bis alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und die Leute so lehrt, wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreichs Denn ich sage euch: Wenn euere Gerechtig­

keit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so werdet ihr sicher nicht in das Himmelreich kommen.

Vers 17 und 20 sind eine wuchtige Überschrift über den folgenden Haupt­ teil der Bergpredigt, der von der „besseren Gerechtigkeit" handelt. Jesus wollte ja in all seinem Kampf gegen die pharisäisch-schriftgelehrte Gesetzes­

gerechtigkeit seiner Zeit (1.—4. Seligpreisung!) nicht den in „Gesetz und Pro­

pheten" (Bezeichnung für das A. T.) geoffenbarten Gotteswillen (vgl. Hebr. 1,1) aufheben, sondern die Menschen gerade zu der wahren, rechten,

tiefen „Erfüllung" der göttlichen Urgebote (Gottesliebe — Nächstenliebe) und damit zu einer neuen, „überschwänglich" anderen „Gerechtigkeit" hin­

führen.

Bei dieser Sicht der Verse 17 und 20 geben die dazwischen stehenden

Dersel8undl9 freilich ein schweres Problem auf. Es erhebt sich die Frage: Was ist hier mit „Gesetz" und mit den „kleinsten Geboten" gemeint? Viele

Forscher vermuten in diesen beiden Versen einen judenchristlichen Zusatz,

der — im Gegensatz zum Heidenchristentum (vgl. Apg. 15 und Gal. 2) — doch an allen jüdischen Einzelgeboten festhalten wollte und das „Erfüllen" von V. 17 gerade wieder buchstäblich-falsch verstand. Denn ein buchstäbliches

Festhalten an den „kleinsten" jüdischen Gesetzesvorschriften im Sinn der Auslegung der Schriftgelehrten wäre das genaue Gegenteil dessen, was Christus in der Fortsetzung der Bergpredigt und ebenso in Mark. 2,18—3,5

und anderwärts lebte und lehrte. Jesus kann die Verse 18 und 19 in diesem

Sinne nimmermehr gesprochen haben. Aber auch wenn man „Gesetz" in V. 18 als den ewigen Gotteswillen auf­

faßt, wie er etwa in den zehn Geboten zum Ausdruck kommt (vgl. Luk. 16,17), bleibt die Schwierigkeit, was in V. 19 mit den „kleinsten Geboten" gemeint sei. 1) Jota („Job") = kleinster hebräischer Buchstabe: ' 2) Häkchen = kleines Strichelchen an einzelnen hebräischen Buchstaben, z. B. dreimal

oben an dem v.

Religiöse Gruppen im Judentum

25

Hier muß sich der Katechet in seiner Stellung gegenüber dem Text klar ent­ scheiden, und er muß von dem Sachverhalt, wie er ihn sieht, dann auch deut­ lich den Kindern Kunde geben. Entweder muß man die Verse 18 und 19 als späteren judenchristlichen Zusatz einklammern lassen, oder man muß unter

„Gesetz" und „kleinsten Geboten" die von Christus übernommenen und im Gegensatz zur jüdischen Auslegung „erfüllten" Gottesgebote verstehen lehren. Auf diese zweite Weise glaubte auch Luther einst den Text recht zu begreifen

und auSzulegen, „nämlich daß er (JesuS) keine andere Lehre will bringen, als sollte die vorige nicht mehr gelten, sondern will dieselbige recht predigen

und auSstreichen, den rechten Kern und Verstand zeigen, daß sie lernen, waS das Gesetz ist und haben will wider der Pharisäer Glossen, so sie hinein­

tragen, und nur die Schalen oder Hülsen davon gepredigt haben" (WA. 32, S. 357).

Exkurs: Die wichtigsten religiösen Gruppen im Judentum zur Zeit Jesu Zur Kennzeichnung der in VerS 20 erwähnten Schriftgelehrten und Phari­ säer sei für den Nichttheologen folgende Übersicht über die wichtigsten religi­ ösen Gruppen der damaligen Juden hier eingefügt (vgl. bereits oben S. 8f.). 1. Die Schriftgelehrten waren die Sachverständigen für die Auslegung der Heiligen Schrift (— Altes Testament). Insbesondere befaßten sie sich mit dem „Gesetz", b. h. dem Inhalt der fünf Bücher MoseS, und zwar nach seiner religiösen und nach seiner rechtlichen Seüe. Sie waren also sowohl die Theologen wie Juristen jener Zeit, die maßgebenden Lehrer für Glauben und Leben; ein hochgeehrter Stand, angeredet mit „Rabbi", „Herr", „Lehrer" usw. Als Lehrer hatten sie Schüler, d. h. Jünger. Zum Gesetz der Schrift („Thora") fügten sie ihre Auslegungen und Er­ läuterungen hinzu („Halacha" = Weg; vgl. Matth. 15,6: „eure Aussätze" — Zusätze). Als rechtskundige und theologische Fachleute hatten sie im Hohenrat große Bedeutung. In den Synagogengottesdiensten übersetzten sie die verlesenen hebräischen Schriftabschnitte in die aramäische Volkssprache und legten sie aus. Die meisten Schriftgelehrten gehörten der Partei der Pharisäer an. 2. Die Pharisäer waren die wichtigste Partei im Volk. Sie waren be­ dacht auf strengste und peinlichst genaue Befolgung deS Gesetzes (Thora) und der Zusätze (Halacha) der Schriftgelehrten und hielten sich so für voll­ kommen, rein und gerecht. Hochmütig sahen sie auf das gemeine schlichte Volk herab (vgl. u. 4 und Joh.7,49), daS diese kleinliche Gesetzesbefolgung nicht zu üben vermochte, und nannten sich darum „Pharisäer", d. h. die „Abgesonberten". So schlug ihre eifrige und ernste Frömmigkeit leicht in Selbstgerechttgkeit und Werkgerechttgkeit um. Die Pharisäer gehörten wohl meist den gehobenen Schichten an (vgl. z. B. Matth. 6,2 ff., Luk. 16,4 und 18,12).

26

Religiöse Gruppen im Judentum

Religiös pflegten sie die messianische Hoffnung und vertraten den erst jungen Glauben an die Auferstehung der Toten. 3. Die Sadduzäer waren die ausgesprochenen Gegner der Pharisäer. Sie entstammten den adligen Priestergeschlechtern bzw. scharten sich um die vornehmen, politisch mächtigen Priester. Ähren Namen führten sie zurück auf den (Hohen-) Priester Zadok zu Zeiten des Königs Salomo (II. Samuel 15,24; I. Kön. 1,8). Zum Unterschied von den Pharisäern erkannten die Sadduzäer nur das in der Schrift (Altes Testament) enthaltene Gesetz (Thora) an, nicht die Über­ lieferungen der Ältesten und die Ergänzungen der Schriftgelehrten. Religiös waren sie Rationalisten, hatten keine eschatologische (endzeitliche) und keine meffianische Sehnsucht und lehnten den Glauben an eine Auferstehung der Toten ab (Matth. 22,22). Politisch hatten sie sich mit der Fremdherrschaft der Römer abgefunden und stellten sich — im Gegensatz zu den Pharisäern — freundlich zu ihnen. Äm Hohenrat hatten sie die politische Macht. Bei der Verurteilung Jesu wirkten Sadduzäer und Pharisäer einmütig zusammen. 4. Neben diesen drei Gruppen der Schriftgelehrten, der Pharisäer und der Sadduzäer lebte die große Menge des einfachen Volkes, von den Pharisäern „Am ha arez" = „Volk des Landes" genannt. Darunter waren die stillen Frommen und die ausgestoßenen Zöllner (die den Zoll für die römische Re­ gierung erhoben), „Sünder" und „Sünderinnen" (Dirnen) und die Kranken, in denen der Volksglaube die Gefäße unreiner Geister erblickte. w 5. Außer diesen religiösen Gruppen gab es dann noch die kultischen Ämter des Hohenpriesters, der Priester und der Leviten für den Tempeldienst in Jerusalem und die Synagogenvorsteher und Synagogendiener für die an jedem Sabbat im ganzen Lande stattfindenden Synagogengottesdienste.

I. Die bessere Gerechtigkeit,

erläutert an fünf Geboten aus dem Alten Testament (Matth. 5, 21-48)

i. Das fünfte Gebot Matth. 5/ 21—22: Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: „Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der wird dem Gericht verfallen." Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen. Wer aber zu seinem Bruder sagt: „Racha!" (= Dumm­ kopf), soll dem Hohenrat (in Jerusalem) verfallen; wer aber sagt: „Du gottloser Kerl!", soll dem Feuer der Hölle verfallens Die „bessere Gerechtigkeit" von Vers 20 erläutert Jesus zunächst an drei

Beispielen aus den zehn Geboten. „Hier nimmt er nun etliche von den zehn Geboten für sich, recht zu erklären, und zeigt an, wie sie die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht anders gelehret noch weiter getrieben und gedeutet

haben, denn wie die bloßen Worte da liegen und lauten von den äußerlichen groben Werken" (Luther, WA. 32, S. 360). Voranftellt er das fünfte Gebot (II. Mos. 20,13 = V. Mos. 5, 17),

das einst von Moses „den Alten" verkündigt wurde. Nach der landläufigen Auslegung war und ist nach diesem Gebot der Mörder des Todes schuldig (vgl. II. Mos. 21,12; III. Mos. 24,17; IV. Mos. 35,16ff.). Jesus aber will, daß wir tiefer sehen: nicht nur auf die Tat, sondern auf den Ursprung

der Tat, auf die dahinter stehende Gesinnung. „Denn aus dem Herzen kommen arge Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung " (Matth. 15,19). So greift Christus an die Wurzel, ist „radikal" (radix = Wurzel) und lehrt uns bedenken, daß der, der seinem Nächsten

zürnt, ja genau die gleiche Gesinnung gegen den Bruder hat wie der, der im Zorn mordet. Vor Gott stehen beider Gedanken auf der gleichen Linie: beide zürnen, beide lieben nicht, beide versündigen sich damit an dem Bruder. Daß der eine sich vielleicht mehr beherrschen kann als der andere oder keine

Gelegenheit zum Morde hatte oder zu feige dazu ist und deshalb nicht gleich zum Totschläger wird, macht die Gesinnung seines Herzens nicht besser;

vielleicht wünscht er dem anderen in Gedanken den Tod! Immer sind jeden­ falls die Gefühle des Zornes, des Hasses, der Feindschaft, der Bosheit hüben

und drüben gleich. Die Fortsetzung in den zwei restlichen Teilen des Verses 22 biegt von

dieser klaren Grundlinie ab und wird deshalb von manchen Forschern für einen späteren Zusatz gehalten. In der Tat ist die Steigerung der Bestrafung

für die verschieden schweren Schimpfworte unverständlich, wenn bereits die

5. Gebot

28

zu Grunde liegende böse Gesinnung des Zürnens als die Wurzelsünde für alle Fälle gebrandmarkt ist.

Wer vor seinen Schülern von der Möglichkest bzw. Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusatzes nicht sprechen will, muß in Verö 22a das „Gericht" als das OrtSgericht (Lokalgericht) verstehen und entsprechend der höheren

Bestrafung die Steigerung: zornige Gedanken — leichtes Schimpfwort —

schweres Schimpfwort einführen. (Dabei könnte auch an Jak. 3,2—12 er­ innert werden, an die Zunge, „das unruhige Übel voll tödlichen Giftes"). Die Tat des Mordes würde Jesus bann in dieser Stufenfolge überhaupt

nicht mehr erwähnen, wohl weil sie für einen Jünger gar nicht in Frage kommt

und schon nicht mehr menschlich, sondern teuflisch ist.

Aber diese ganze Staffelung läuft doch immer Gefahr, von dem Grund­ gedanken von V. 22a abzuführen:

Gott

siehet

ins

Herze

(vgl.

I. Sam. 16,7: „Ein Mensch siehet, was vor Augen ist; der Herr aber

siehet das Herz an"); und wo im Herzen Zorn ist, da schon ist der Mensch des Gerichts schuldig, um so mehr, als der andere ja vor Gott sein Bruder

ist! Knapper und schärfer gesagt, mit I Joh. 3,15: „Wer seinen Bruder

hasset, der ist ein Totschläger." „Darum ist's soviel gesagt 'Du sollst nicht töten', als ob er (JesuS) sagte:

So manch Glied du hast, so mancherlei Weise du finden magst zu töten, es sei mit der Hand, Zunge, Herzen oder Zeichen und Gebärden, Sauer-ansehen

und Das-Leben-mißgönnen mit den Augen oder auch mit den Ohren, wenn

du nicht gern hörest von ihm reden: das heißet alles getötet, denn da ist Herz und alles, was an Dir ist, so gesinnet, daß es wollte, er wäre schon tot.

Und obgleich dieweil die Hand stille hält, die Zunge schweiget, Augen und Ohren sich verbergen, doch steckt das Herz voll Mord und Totschlag" (Luther, WA. 32, S. 363). Matth. 5,23—26: Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und dich dort daran erinnerst, baß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß dein Opfer dokt vor dem Altar und gehe erst hin und söhne dich mit deinem Bruder aus, und bann geh und bringe deine Gabe dar. Deinem Prozeßgegner sei schnell willfährig, solange du noch mit ihm auf dem Wege (zum Gericht) bist, damit dich dein Prozeßgegner nicht dem Richter übergebe und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen wirft. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlt hast.

Der mehr negativen Warnung der Verse 21 und 22 läßt Christus zwei positive Gegenbeispiele folgen. Nicht Zorn, sondern Liebe und Versöhnungs­

bereitschaft sei der Inhalt eures Lebens!

5. Gebot

29

Das erste Beispiel (V. 23 und 24) ist darüber hinaus in zweierlei Hin­ sicht bedeutungsvoll: Einmal führt es die prophesische Linie deS HoseaworteS

(6,6) „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer" weiter und stellt damit die Pflicht der Versöhnung und der Nächstenliebe über die kultischgottesdienstlichen Pflichten. Zum andern verlangt es die Initiative zur Ver­ söhnung sogar dort, wo nicht ich etwas gegen den andern habe, sondern der andere etwas gegen mich hat. Ob ich dabei mitschuldig bin oder nicht, ob

ich dem andern für seinen Zorn einen Grund gegeben habe oder nicht, wirb von JesuS nicht näher untersucht. Genug, daß der andere mir zürnt. Des­ halb soll ich hingehen und als erster die Hand zur Versöhnung bieten. DieS Wort verlangt von uns also noch mehr als das in mancher Beziehung ähnliche Wort bei Markus 11,25: „Wenn ihr stehet und betet, so vergebet,

wenn ihr etwas gegen jemand habt, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Übertretungen vergebe!" Das zweite Beispiel (V. 25 und 26) kleidet dieselbe Forderung der Versöhnungsbereitschaft in die Form eines klugen Rates. Wir werden diese Stelle freilich nur dann sinngemäß verstehen, wenn wir sie wie ein Gleichnis­ wort fassen und als ensscheidendcn Vergleichspunkt die rechtzeitige, rasche

Vergebung herauslesen, die — wie hier beim Gericht — auf allen Wegen unseres Lebens von uns gefordert wird. Biete die Hand, solange du noch mit dem andern zusammen bist! Versöhne dich so bald wie möglich, ehe es zu spät ist! „O lieb, solang du lieben kannst, o lieb, solang du lieben magst, die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst."

Die unterrichtliche Behandlung dieser Christusworte zum fünften Gebot (Vers 21—26) wird zunächst — wie eben angedeutet — den Sinn­ gehalt der einzelnen Versgruppen herausarbeiten. Sie wird ferner, soweit die Zeit reicht, nicht versäumen, Luthers klassische, bewußt auf der Bergpredigt

fußende Erklärungen des fünften Gebotes im Kleinen und Großen Kate­ chismus heranzuziehen, besonders auch die treffenden Sätze aus dem Großen Katechismus, wonach Christus hier selbst sagt, „daß man nicht töten soll, weder mit Hand, Herzen, Mund, Zeichen, Gebärden noch Hilfe und Rat. Darum ist darin jedermann verboten, zu zürnen... Denn wo Totschlag

verboten ist, da ist auch alle Ursache verboten, daher Totschlag entspringen mag. Denn mancher, ob er nicht tötet, so flucht er doch und wünscht, daß, wer eS sollte am Halse haben, würde nicht weit laufen. Weil nun solches

jedermann von Natur anhängt und in gemeinem Brauch ist, daß keiner etwas vom andern leiden will, so will Gott die Wurzel und dm Ursprung weg-

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5. Gebot

räumen, durch welche das Herz wider den Nächsten erbittert wird, und uns gewöhnen, daß wir allezeit dies Gebot vor Augen haben."l) Man wird dies alles ins Leben des Kindes bzw. der Jugendlichen um­ setzen. Und ebenso zu den Versen 21/22 wie zu 23/24 und 25/26 die nötigen Anwendungen bringen und suchen lassen. Der unerhörte, in den letzten Winkel des Gewissens bringende Ernst der Heilandsworte wird ebenso

deutlich werden müssen wie unser immer neues Versagen vor solcher For­ derung. Und diese Einsicht und Selbstdemütigung wird vor jedem falschen Pharisäerrichten bewahren. Durch solche Besinnung aus die von Jesus gemeinte Sache wirb dann auch klar werden, daß es hier in der Bergpredigt nicht um ein Verbot der Todes­ strafe im staatlichen Leben oder des Tötens im Kriege, sondern um das Verhalten von Mensch zu Mensch, von Nächstem zu Nächstem, von Bruder zu Bruder geht. Für die zwischenmenschlichen und zwischenchristlichen Beziehungen gelten diese Worte, nicht aber für die politischen Verhältnisse

der Völker und Staaten. Deren Leben steht unter den Notgesetzen dieser Welt, solange hie Me,nschei^ nych, nicht allx auf.datz Evangeliuy, hören., Dgs.hat Luther in einer bis heute unübertroffenen Weise klargemacht, und auf ihn sollten wir Protestanten endlich auch in diesem Punkte alle ernsthaft hören (vgl. oben S. 1 bis 4 und die entsprechenden Ausführungen zum fünften Gebot in meinem Buche „Katechismusunterricht..." S.48/49). Als Begleiterzählung zu Vers 23—26 hat Martin Rang (Bibl. Unterricht, S. 326ff.) die Erzählung von Otto Funcke „Am Grabe von Bohnenstange" vorgeschlagen, die auch wir hier dankbar abbrucken, um wenigstens eine Möglichkeit geeigneter Veranschaulichung zu zeigen. Der Bericht Funckes tautet:2) In meinem Heimatort Wülfrath (im Bergischen) gingen wir Schulkinder nach alter Sitte bei jeder Beerdigung mit, um zu singen. „Nun habe ich mein Leben lang immer gern gesungen und hatte damals auch eine hübsche Stimme. So mußte ich mich denn immer in der Nähe des Lehrers halten; ich war eine seiner hauptsächlichsten und sichersten Stützen. Nur einmal, als man einen sehr langen Mann zu Grabe ttug, sang ich gar nicht mit. Es half auch nicht, daß der Lehrer mich ernst mahnte, bann zornig anschaute. Es half nicht, daß er mir einen Puff und Knuff gab, um dadurch mein Pflichtgefühl in Tätigkeit zu bringen. Der liebe Mann entdeckte bald selbst, daß mir die Tränen in den Augen standen, und so überließ er mich meinen Gedanken und Empfindungen. *)

301, S. 157f.; vgl. Erwin Wißmann, Katechismusunterricht nach Luthers

Kleinem und Großem Katechismus, Verlag Töpelmann, Gießen 1932 (jetzt Berlin), S. 46. 2) Otto Funcke, Die Fußspuren beö lebendigen Gottes in meinem Lebenswege, Altenburg.

5. Gebot

31

Nachher suchte er aus mir herauszukriegen, warum ich so bewegt gewesen sei. Das Weinen gehörte nämlich nicht mit zu unserem Dienst und kam auch wohl nie vor. Hier vollends handelte es sich um einen alten Junggesellen, der gar keine näheren Verwandten in der Gegend hatte und der nichts weniger war als das, was man so gemeinhin liebenswürdig zu nennen pflegt. Das Weinen also, das am Grabe dieses Junggesellen zu einem lauten Schluchzen wurde, war in der Tat höchst auffallend. Der Grund ist dieser: In der Nähe von Wülfrath liegt der Mühlenteich. Hier hielten wir Jungens uns begreiflicherweise viel auf, ließen Schiffchen schwimmen, suchten Fische zu fangen oder wagten auch je und dann auf einer Waschbütte eine kleine Fahrt. An diesem Mühlenteich war auch ein Waschapparat, d. h. ein in den Teich hineingebautes Holzgestell, darauf standen die Wäscherinnen und wu­ schen die schmutzige Wäsche aus. Das Brett nun, auf dem sie zu stehen pfleg­ ten, war einmal an einer Seite losgegangen. Man konnte also darauftreten und "wippeln". So tat ich auch an einem Nachmittag, und mein Bruder Bern­ hard war auch dabei. Das Vergnügen war groß, und es half nichts, daß ein vorübergehender Bauersmann uns warnte, es sei das gefährlich und der Teich sei an dieser Stelle sehr tief. Wir ließen uns nicht stören. Da auf einmal — ein furchtbarer Krach — und Brett und Buben waren tief ins Wasser ge­ sunken. Welche Gefühle mich in diesem Augenblick der Todesgefahr bewegten, kann ich nicht sagen. Aber das weiß ich, daß ich zweimal wieder hoch kam, um zweimal wieder zu versinken. Und nun wäre es um mich geschehen gewesen, wenn nicht plötzlich eine Hand mich gefaßt, herausgezogen und aufs Trockene gestellt hätte. Der das tat, war der lange Mann, von dessen Beerdigung ich soeben berichtete. Er schüttelte mich derb und ranzte mich an: "Du dumme Blag, nu mak, dat du na Hus kömmst? Ich bedankte mich hoffentlich und lief jedenfalls spornstreichs nach Hause. Indessen, wie sehr es mich auch fror, so brannte es doch auf meinem Kopf — es brannten nämlich die feurigen Kohlen! Mein Lebensretter war Chaufseewärter und, wie gesagt, von ganz außer­ ordentlicher Länge, dabei schmal und dürr, nichts wie Haut und Knochen. So hatten wir Buben ihm denn den Namen "Bohnenstange" zu verleihen geruht und dem stillen Mann, der uns nie Leids getan, dieses spöttische Wort auch öfters nachgerufen. Der Witz war doch zu brillant! — Und nun mußte glück­ licher- oder unglücklicherweise der es gerade sein, der mir leichtsinnigem Buben das Leben rettete." Am Abend beichtete ich alles der Mutter. Und so weit schien die Sache gut zu sein. „Aber nun kommt das, was allen denen unbegreiflich sein wird, die den Trotz der Verzagtheit des Menschenherzens noch nicht kennen. Am ande­ ren Tage nämlich wanderten Bernhard und ich nach dem Kirschhäuschen — so hieß die Hütte, wo mein Retter wohnte. Wir trugen einen Korb, der allerlei nützliche Dinge für so einen einsamen Junggesellenhaushalt enthielt, wie Tabak, Kaffee, Zucker u. dgl.; zugleich aber auch eine quittierte Rechnung meines Vaters (der Vater war Arzt), der noch eine Forderung an den Mann hatte und sie nun durch die seinen Söhnen erzeigte Wohltat reichlich bezahlt erklärte. Zugleich hatte ich strenge Weisung, mich nicht nur nochmals zu be­ danken, sondern auch um Verzeihung zu bitten wegen der "Bohnenstange". Obgleich es mir sehr schwer erschien, den langen Mann um Verzeihung zu

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6. Gebot

bitten, so hatte ich eS doch der Mutter versprochen. Ich hatte auch sest vor, es zu tun. Aber wie ging's? Der Mann war schon tief gerührt, als er den Korb auspackte. Als er vollends die quittierte Rechnung sah, machte er ein so grundvergnügtes, ja verklärtes Gesicht, wie wir es bei ihm nie für möglich gehalten hätten. Da schien es mir des Guten genug zu sein, wenn ich einfach und herzlich nochmals dankte. Ja, ja, das junge Herrchen hatte sich zwar nicht der Sünde geschämt; wohl aber schämte es sich, die Sünde zu bekennen. Es log sich vor, der Mann er­ warte ja offenbar kein Sündenbekennmis mehr, also —! Daß er es nicht erwartete, war ja richtig; aber das Also, die daraus gezogene Schlußfolge­ rung, daß eS also unnötig sei, war eine echte Eingebung deS Teufels. Daß das Bekenntnis unserer Schuld und das Verzeihung-Erbitten ein Akt ist, den wir in erster Linie ausführen müssen nicht um der anderen, sondern um unser selbst willen, um der Freiheit und Versöhnung unseres Gewiffens willen, das ist zwar eine einfache Wahrheit, — aber ach, Große und Kleine, Weltweise und Narren wissen sich darum herumzudrücken. Wie es uns zu Hause ergangen ist, vermag ich nicht mehr zu sagen. Jeden­ falls ist nicht herausgekommen, daß wir unser Schuldbekenntnis Unterlasten hatten. Ob ich mich von da unter einem gewissen Bann fühlte, oder ob ich es nach etlichen Tagen wieder vergaß, weiß ich auch nicht. Eins aber steht fest: nls bald hernach die 'Bohnenstange' starb, und als ich dann hinter dem Sarg herging, da brach die Wunde des Herzens auf, da stürmte es furchtbar auf mich ein: Pfui, du häßlicher Mensch! Den braven Mann beleidigen, das mochtest du; ihn um Verzeihung zu bitten, das vermochtest du nicht, obgleich er dir das Leben gerettet hatte. Du hast es nicht getan, obgleich du eS deinen Eltern versprochen, obgleich du es selbst für Recht hieltest! Und nun hat er den Schmerz mit ins Grab genommen, und du kannst es nicht wieder gut machen. Es ist zu spät, es ist zu spät!"

2. Das sechste Gebot Matth. 5,27—32: Ihr habt gehört, daß (zu den Alten) gesagt ist: „Du sollst nicht ehebrechen." Ich aber sage euch: Jeder, der eine (verheiratete oder verlobte) Frau mit begehrlichem Blick ansieht, der hat schon in seinem Herzen Ehebruch mit ihr getrieben. Wird dir dein rechtes Auge zum Verführer, dann reiß es aus und wirf es von dir; denn es ist dir bester, daß eins deiner Glieder um­ komme und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde. Und wird dir deine rechte Hand zum Verführer, so haue sie ab und wirf sie von dir; denn es ist dir bester, daß eins deiner Glieder umkomme und nicht dein ganzer Leib in die Hölle dahingehe. Es ist gesagt: „Wer seine Frau entläßt, gebe ihr einen Scheide­ brief." Ich aber sage euch: Wer seine Frau entläßt — seS sei denn, daß auf ihrer Seite Unzucht vorliegtj —, der macht, daß (bei Wieder­ verheiratung) mit ihr die (erste) Ehe gebrochen wird; und wer eine Entlassene heiratet, der bricht die Ehe.

6. Gebot

33

Nach dem fünften Gebot spricht Jesus vom sechsten (II. Mos. 20,14 = V. Mos. 5/18), um auch hier die rechte „Erfüllung" des Willens Gottes kund zu tun. In Vers 27 und 28 weist er wiederum die Gesinnung als die eigentliche Sünde nach und reißt damit allen selbstgerechten Männern jede scheinheilige Maske vom Gesicht (vgl. Joh. 8,7: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!"). Die Schlußverse 31 und 32 beziehen sich auf V. Mos. 24,1, radikalisieren auch hier und stellen den ewig­ göttlichen Sinn der lebenslänglichen Einehe im Gegensatz zur damaligen

laxen jüdischen Scheidungspraxis heraus (vgl. auch Matth. 19,3—9!). Die

Ehe bestand für JesuS auch nach einer solchen „Scheidung" grundsätzlich noch fort.

Nach V. M o s. 2 4,1 durfte ein Mann seine Frau mit Scheidebrief entlassen, wenn „er etwas Schändliches an ihr gefunden" hatte. Die Worte „etwas Schändliches" wurden nun von manchen Schriftgelehrten so sehr verharmlost, daß jeder Mann schließlich unter diesem Vorwand seine Frau entlassen konnte. Es genügte eine angebrannte Suppe oder die Tatsache, baß eine andere Frau dem Manne plötzlich besser gefiel, um der ersten Ehefrau den Laufpaß zu geben. Weitere Gründe waren: Essen oder Trinken der Frau auf der Straße; Übertretung irgend eines Gebotes durch die Frau; Verletzung der Pflicht, dem Manne die gebührende Ehre zu erweisen; jahrelange Kinder­ losigkeit und vieles andere. Aber auch wenn der Ehemann die Frau zu einem die Frau entwürdigenden Gelübde gezwungen hatte, mußte die Ehe geschieden werden: dem Anschein nach als Strafe für den Mann und als Schutz für die Frau — in Wirklichkeit aber war dies ein satanisch raffiniertes Mittel, das jedem Ehemanne die Möglichkeit an die Hand gab, durch Nötigung der Frau nach seinem Willen einen Zustand herbeizuführen, nach dem die Ehe ge­ schieden werden mußte! Freilich mußte dabei die „Hochzeitsverschreibung", d. h. die Aussteuer, zurückgezahlt werden.

Zwischen die beiden Stellen, in denen sich Jesus gegen das jüdische Ehe­ recht wendet, sind die Worte vom Auge und von der Hand eingeschoben: Worte, die ebenso bas tiefe Wissen um den Weg der Versuchung über Auge

und Hand bezeugen wie die einzig mögliche praktische Hilfe für den Augen­ blick geben möchten, in dem die Versuchung bereits am Werke ist. Macht über uns zu gewinnen. Dann kann der Rat nur lauten: Unter allen Umständen das Auge weg und die Hand fort — sonst ist es zu spät! Die Schärfe der Formulierung dieser Worte („Reiß das Auge aus! Hacke die Hand ab!") beweist, wie ernst Jesus diesen Kampf genommen haben will und welch un­ geheuerlichen Einfluß er dm Gliedem unseres LeibeS im Ringen um dessen Reinheit beimißt. Das Unterrichtsgespräch wird die lediglich für Verheiratete gültigen

Anfangs- und Schlußverse unserer Stelle nur kurz berührm, um auch hier 3

Witzmann, Bergpredigt

34

6. Gebot

von der Tat aus die Gedanken zurückzuweisen (93.27 f.) und die Gottes- und

ChristuSforderung der LebenSehe herauszustellen (93.31 f.). Dabei wird selbst­ verständlich — wie beim fünften Gebot — auch aus Luthers Erklärungen im

Kleinen und Großen Katechismus zurückgegriffen werden können (abgedruckt

in meinem Buch „Katechismusunterricht..." S.49ff.), soweit das an dieser Stelle zeitlich möglich ist.

Mit um so größerem Nachdruck wirb man sich — zumal bei Heranwachsen­ den Jugendlichen — dann der Besprechung der Mittelverse 29 und 30

zuwenden und die nötige seelsorgerliche und sexualpädagogische Hilfe geben. Dabei müssen die Dinge in der rechten offenen und ernsten Weise beim Namen

genannt werden. Man muß daran erinnern, wie so manches, waS daS Auge in Büchern liest oder auf Bildern oder sonstwie sieht, zur Versuchung werben

kann, und wie die Hand bann immer wieder nach solchen Dingen greifen möchte. Da gibt eS nur den einen Rat: Weg kamst, ehe es zu spät ist! Prin-

cipiis obsta! b. h. Widersteh den Anfängen! Ebenso gilt es, darauf auf­

merksam zu machen, wie auf dem Wege über bas Ohr schlechte Gedanken getpeck,t tyrd. übles. Wsollxn gefördert wxrdsn kar^n. Auch hier: PVeg damit!. „Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht!"

(Sprüche 1,10). Oder wenn gar die Hand den Körper zur Unkeuschhest miß­

brauchen und der Fuß (Matth. 18,8) dich zu schlimmen Freunden bzw.

Freundinnen führen will: Halte ein! Gib nicht nach! Gehe nicht hin! „Fliehe vor der Sünde tote vor einer Schlange, denn wenn du ihr zu nahe kommst,

so sticht sie dich!" (Sstach 21,2). Luther hat das in seiner Weise folgendermaßen ausgedrückt: „Daß der Teufel nicht sollte einen ins Herz schießen mit bösen Gedanken und (mst böser) Lust, ist nicht möglich zu wehren. Mer da siehe zu, daß du solche Pfeile

nicht stecken und einwachsen lässest, sondern bald wieder ausreißest und weg­ werfest und tätest, wie vorzeüen ein Altvater hat gelehret und gesagt: ,Jch kann nicht wehren, daß mir ein Vogel über den Kopf fliege; aber das kann ich wohl wehren, daß sie mst nicht im Haar nisten ober die Nase abbeißen.' Also stehet nicht in unserer Macht, diese oder andere Anfechtung zu wehren,

baß uns nicht Gedanken einfallen, wenn mans nur beim Fallen bleiben lässet, daß man sie nicht einlafse, ob sie gleich anklopfen, und wehre, daß sie nicht einwurzeln, bamst nicht ein Vorsatz und Bewilligung draus werde" (WA. 32, S. 373). AuS eigener Kraft wirst du solche Anfechtungen und Versuchungen, von

denen bas Leben voll ist, freilich nicht immer meistern; zuletzt hilft doch nur daS Gebet: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet! Der Geist ist willig, aber bas Fleisch ist schwach" (Mark. 14,38). Voranstehe

Gegen bas unnütze Schwören

35

dabei das Vaterunser mit der sechsten Bitte: „Führe mich nicht in Versuchung"

(vgl. Luthers Erklärung!) und der verheißungsvollen Gewißhest: „Denn Dein ist die Kraft". Dieses Gebet muß abends und morgens helfen,

unseren Gedanken die rechte Richtung zu geben: „Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an Dich; wenn ich erwache, so rede ich von Dir" (Psalm 63,7). Ja, im Gebet müssen wir um die rechten, reinen Gedanken

selbst bitten: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze und gib mir einen neuen, gewissen Geist" (Psalm 51,12; 6. Seligpreisung!). „Herr, Gott,

Vater und Herr meines Lebens, behüte mich vor unzüchtigem Gesicht und wende von mir alle bösen Lüste!" (Sirach 22, 4f.). Bei solchem Beten

werden die Gedanken immer wieder von Gott selbst gesell werden gegen

das Böse, wird Er uns die innere Reinheü erringen helfen. Wenn Er uns aber die Gedanken und Kräfte der Reinhell schenkt, sind wll an dem Punkt angelangt, wo auch das Auge nicht mehr zum Versucher und die Hand nicht

mehr zum Verführer wlld, denn dann erst gilt bas letzte, köstlichste Wort: „Den Reinen ist alles rein" (Titus 1,15).

(Weitere Hilfen zur sexualpädagogischen Betreuung der Jugendlichen sind angegeben in meinem Katechismusbuch ©. 55 ff.).

z. Gegen das unnütze Schwören Matth. 5,33—37: Ihr habt weiter gehört, daß zu den Allen ge­ sagt ist: „Du sollst keinen Meineid schwören" und: „Du sollst dem Herrn deine Eide erfüllen." Ich aber sage euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören; auch nicht bei dem Himmel, denn er ist „Gottes Thron"; auch nicht bei der Erde, denn sie ist „seiner Füße Schemel"; auch nicht bei Jerusalem, denn sie ist „des großen Königs Stadt". Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören, denn du vermagst nicht, ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja—ja, Nein—nein. Was darüber hinauSgeht, das ist vom Übel. AlS drittes Beispiel für die falsche und richtige „Erfüllung" des Willens Gottes wählt Jesus bas Gebiet deS Schwörens. Er stellt in Anlehnung

an III. Mos. 19,12 zunächst das herkömmliche Verbot des Meineids voran und in Übereinstimmung mll IV. Mos. 30,3 und V. Mos. 23,21 (bzw. 22)

die allen selbstverständliche Forderung der Erfüllung der Gott geleisteten Gelübde. Dann aber wendet er sich mit unerwarteter Schärfe plötzlich der

Frage nach der Berechtigung des Eides überhaupt zu und verurteill das Schwören schlechthin.

Warum diese Schroffheit? Und wie ist das Verbot deS Schwörens hier zu verstehen? 3*

36

Gegen das unnütze Schwören

Wir müssen, um die Dinge richtig zu sehen, von rückwärts her, d. h. aus dem Inhalt der Verse 37 und 34—36 den knappen Text erhellen und das, was den Zeitgenossen Jesu bekannt und geläufig war und waö deshalb nicht

ausdrücklich im Texte steht, unseren Schülern aufzeigen und klarmachen. Jesus wendet sich — um das Ergebnis gleich vorwegzunchmen — nicht gegen unseren heutigen Schwur vor Gericht, sondern gegen den damaligen jüdischen Mißbrauch deS Schwörens und gegen die spitzfindige Un­

terscheidung von gültigen und ungültigen Schwüren, wie sie unter den Schriftgelehrten seiner Zeit gang und gäbe war. Diesem aus­ geklügelten Spiel von Wortklauberei und Raffinesse setzt er die heilige Ma­ jestät des allgegenwärtigen Gottes und damit die ehrfurchtgebietende Heilig­ keit des echten Eides entgegen, der für den Alltagögebrauch, zur Beteuerung

der einfachen Wahrheit zwischen Mensch und Mensch, nicht erniedrigt und mißbraucht werden darf. Der selbst mst Eiden jonglierenden und dadurch

den Eid zersetzenden Schriftgelehrtentheologie jener Tage stellt Jesus den Jünger gegenüber, der im Bewußssein der auf ihm ruhenden Augen Gottes die Wahrheit sagt und sonst nichts. Machen wir uns diesen Sachverhalt nun noch in Einzelheiten klar; der Weg dazu ist — auch in Unterricht — nicht ganz einfach. 1. Die schriftgelehrte Tradition zu Jesu Zeiten und späterhin unterschied alle möglichen Arten von Schwüren, darunter auch die Schwüre zur Beteuerung und Bekräftigung ganz gleichgültiger und belangloser Dinge im Alltagsleben. Und selbst für diese letzte Art deS Schwörens gab es wieder vier Klassen von Eiben, z. B.: Ich schwöre, daß ich essen werde — Ich schwöre, daß ich nicht essen werbe — Ich schwöre, daß ich gegessen habe — Ich schwöre, daß ich nicht gegessen habe. Schon ein derartig verflachender Ge­ brauch des Eides bedeutete seine tatsächliche Entleerung. 2. Dazu kam die Haarspalterische Unterscheidung zwischen gültigen

und ungültigen Eidesformeln. Ein besonders krasses Beispiel dafür gibt Jesus selbst in Matth. 23,16—22. Nach Vers 16 war ein Schwur „beim Tempel" nicht verbindlich, ein Schwur „beim Golde des Tempels" jedoch bindend. Ebenso war nach V. 18 der Schwur „beim Altar" unverbind­ lich, der Schwur „bei dem Opfer auf dem Altar" jedoch verpflichtend. In ganz gleicher Weise — übereinstimmend mit Matth. 23,22 — sind die von Jesus angeführten Schwurformeln in Matth. 5,35 zu verstehen. Nach jüdischer Meinung war ein Eid „bei dem Himmel" oder „bei der Erbe" ober „bei Jerusalem" kein bindender Eid. Jesus aber macht klar, daß man sich

mit solch spitzfindigem Versteckspiel hinter dem und jenem Wort vor Gott

Gegen baS unnütze Schwören

37

doch nicht verstecken kann; denn auch der Himmel ist „Gottes Thron" und die Erde „seiner Füße Schemel" (Jes. 66,1) und Jerusalem „des großen Königs Stadt" (Psalm 48,3). Ein Eid mag nennen, was er will: immer ist Gott, der ewige, allmächtige, allgegenwärtige Herr und Schöpfer, mitgenannt. In diesem Sinn schließt dann auch Vers 36 an V. 35 an: Auch der Schwur

bei dem eigenen Haupte ist ein Schwur bei Gott, dem Herrn und Erhalter unseres Lebens, der uns jung und alt werden läßt (schwarzes und weißes Haar gibt), und darum ist auch ein solcher Schwur unter allen Umständen verbindlich. 3. So deckt Jesus die völlige Unhaltbarkest der Unterscheidung zwischen

„bindenden" und nicht „bindenden" Schwüren aus und kennzeichnet gleich­ zeitig auch den Gebrauch der „unverbindlichen" oder, wie man damals sagte, „abgeschwächten" Eidesformeln als Mißbrauch des Namens Gottes (2. Gebot!). 4. Denn im täglichen Leben, zur einfachen Beteuerung und Bekräfti­ gung der Wahrheit, ist überhaupt kein Eid vonnöten; da soll der Mensch — voraus der Jünger Jesu — nichts als die Wahrheit sagen: entweder Ja — ober Nein, ohne Umschweife. Jedes weitere Wort ist „vom Übel" (man

kann auch übersetzen: „kommt von einem bösen Menschen" oder „kommt aus deinem Bösen") und bezeugt nur, daß der schlichten, nackten Wahrheit und Wahrhaftigkeit nicht die Ehre gegeben wird. Die doppelte Nennung „Ja — ja" und „Nein — nein" nimmt mög­ licherweise Bezug auf eine damals übliche jüdische Beteuerungsformel, darf aber nicht im gesetzlichen Sinn als eine neue, von Jesus befohlene Versiche­ rungsformel aufgefaßt werden. Wir erklären die Wendung unseren Schülern wohl am besten als einfache Unterstreichung des „Ja" bzw. des „Nein" oder im Sinne von Jak. 5,12 als ein „Ja, das Ja ist" und ein „Nein, das Nein ist", ohne Vorbehalte und Hintergedanken. 5. Mit alledem ist nicht verworfen der Schwur vor Gericht. Dort ist er leider — angesichts der Tatsache, daß die Menschen nicht alle so wahr­ heitsliebend sind, wie Christus es hier von seinen Jüngern fordert (s. o. S. 1 ff.)

— nötig, um die Wahrheit herauszustellen, den Nächsten vor Unrecht zu schützen und Gott damit die Ehre zu geben. Auch Jesus hat sich nach Matth. 26,63 unter Eid stellen lassen, und Luther weift in seinem Großen Katechismus ebenso darauf hin wie auf die Notwendigkeit des Eides vor Gericht (vgl. Wißmann, Katechismusunterricht, S. 34f.; außerdem Luther in seiner Predigt über Matth. 5,33 ff., WA. 32, S. 382: „Wir haben aber

genug gehört, daß Christus hier gar nichts will reden in das weltlich Regi­

ment und Ordnung noch der Obrigkeit etwas genommen haben, sondern

38

Gegen die Wicdervergeltung

allein den einzelnen Christen predigt, wie sie für sich in ihrem Wesen leben

sollen.")

6. Zusammenfassend zeigt sich, wie Jesus auch bei diesem Beispiel deS Schwörens an die Wurzel führt: die Wurzel jedes Eides ist Gott; und die Absicht jedes EibeS die Bezeugung der Wahrheit. Wer an Gott und an die

Wahrhest denkt, der braucht im alltäglichen Verkehr zwischen Mensch und Mensch, zwischen sich und dem Bruder keinen Eid. Der sagt Ja, wenn er Ja meint, und Nein, wenn er Nein meint, und läßt GotteS heiligen Namen

(im Sinn deS zweiten Gebotes und der ersten Bitte) dabei aus dem Spiel. 7. Diese letzte Besinnung muß — entsprechend dem Vers 37 der Matthäus­

stelle — auch das Ziel der unterrichtlichen Behandlung sein, damit das

zur Sacherklärung notwendige Gespräch über den zu Jesu Zeit herrschenden jüdischen Mißbrauch des Schwurs nicht im Historischen stecken bleibt, sondern uns da trifft, wo wir in Gefahr stehen, in ähnlicher oder anderer Weise gegen

das zweite Gebot zu verstoßen.

4. Gegen die Wiebervergeltung Matth. 5,38—42: Ihr habt gehört, daß gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ich aber sage euch: Ihr sollt euch dem Bösen nicht widersetzen; sondern, wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann wende ihm auch die andere zu. Und wenn jemand mit dir vor Gericht gehen will, um so deinen Rock zu bekommen, dann laß ihm auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, ihn eine Meile zu begleiten, dann gehe zwei Meilen mit ihm. Dem, der dich bittet, gib, und von dem, der von dir leihen will, wende dich nicht »bl Als viertes Beispiel für den Aufweis der „besseren Gerechtigkeit" erinnert

Jesus an den alttestamentlichen Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn"

III. Mose 24,20 und V. Mose 19,21), der bis in seine Zeit Gültigkeit hatte, wenn auch die entsprechende Körperbestrafung durch Geldstrafen ab­

gelöst sein mochte. Der Grundsatz der unbedingten Wiedervergeltung blieb auch so in Kraft, wie er überhaupt in der Antike selbstverständlich war

und unendlich vielen Menschen heute ebenso selbstverständlich ist (vgl. die Redensart: „Wie du mir, so ich dir").

Jesus aber setzt dieser starren Rechtsauffafsung der Wiedervergeltung sein „Ich aber sage euch" entgegen: Der Jünger Jesu soll sich im Verkehr zwischen

Mensch und Mensch, zwischen Bruder und Bruder überhaupt nicht auf den

Rechtsstandpunkt stellen; er soll vielmehr dazu imstande sein, auf das Recht zu verzichten und gegebenenfalls lieber daö Gleiche noch einmal zu erdulden, als selbst zu vergelten.

Gegen bei Wiebervergeltung

39

Die Formulierung Jesu ist denkbar schroff und hat immer wieder den

empörten Widerspruch aller Nichtchristen und ebenso des „alten Adam" in vielen „Christen" hervorgerufenx). Aber der Heiland geht auch hier wieder nur an die Wurzel und zeigt auf, daß echte menschliche Gemeinschaft nie

auf dem Boden der Rache und der Vergeltung, sondern nur durch Verzicht auf beides wachsen und bestehen kann. Deshalb sagt er in Vers 39: Ihr sollt euch dem Bösen, das euch wider­

fährt — oder anders übersetzt: dem bösen Menschen, der gegen euch handelt —

nicht gewaltsam widersetzen, sondern lieber doppelt Böses leiden und doppelt Gutes tun, als selbst auf die Bahn des Bösen geraten und Kamst daS Böse

nähren und mehren. Drei Beispiele führt Jesus für solche Haltung an:

Erstens das Beispiel vom Backenstreich. Dies ist besonders oft mißver­ standen und mißdeutet worden, ganz besonders dann, wenn man solches Ver­

halten als feige oder als ehrlos bezeichnete. Beide Deutungen verkennen das An­ liegen Jesu jedoch völlig. Christus spricht gerade nicht von Fällen, in denen die

Ehre eines Menschen als politischer Person, als Beamter, als Offizier usw.

auf dem Spiele steht, er spricht überhaupt nicht von bürgerlich-rechtlichem Allgemeinverhalten, sondern wählt in paradox zugespitzter Form dies Bei­ spiel vom Backenstreich, um seinen Jüngern zu zeigen und zu sagen, daß sie

lieber sich noch einmal schlagen und Unrecht zufügen lasten sollen, als daß sie selbst Unrecht tun und dadurch die Feindschaft zwischen anderen und sich

und die Kette der Wiedervergeltungen verewigen. Es ist also durchaus richtig, wenn Luther hierzu erklärt: Christus „lässet der Oberkeit ihr Recht und Amt rein, lehret aber seine Christen als einzelne Leute außer dem Amt und Re­ giment, wie sie für ihre Person leben sollen, sogar, daß sie keiner Rache be­

gehren und so geschickt seien, wenn sie jemand auf einen Backen schlägt, daß sie bereit seien, wo es not wäre, den andern auch darzureichen, und sich nicht allein mit der Faust der Rache enthalten, sondern auch im Herzen, mit Ge­

danken und allen Kräften. Kürzlich, er will ein solch Herz haben, das nicht

ungeduldig, rachgierig noch ftiedbrechig sei" (WA. 32, S. 387f.). Von Feigheit kann aber bei solchem Verhalten schlechterdings nicht die

Rede sein. Denn das begreifen auch schon unsere Kinder und Schüler, daß es *) „Dieser Text hat auch überaus viel Fragen und Irrtum gemacht schier allen Lehrern,

so nicht recht gewußt haben, zu scheiden die zwei Stück: weltlichen und geistlichen Stand ober Christus und das Weltreich. Denn wo die zwei untereinander gemenget und nicht rein und fein getestet werben, da kann nimmermehr ein rechter Verstand in der Christenheit bleiben, wie ich oft gesagt und beweiset habe" (Luther, WA. 32, S. 387; vgl. auch die oben im Eingang

S.4 abgebruckte Stelle WA. 32, S. 39Zf.).

40

Gegen die Wiebervergeltung

weit/ weit schwerer ist, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, als um­

gekehrt *). Und auch das verstehen sie: daß nur durch diese Tapferkeit des Stillhalten- und Dergebenkönnens einem Streit zwischen zwei Menschen ein Ende gemacht werden kann.

Daß Jesus gerade einen „Backenstreich" als Beispiel wählt, ist — wie der

ganze Zusammenhang beweist — nicht entscheidend; er hätte gerade so gut ein Schimpfwort oder einen Streit oder Unrecht und Leid, das jemand einem anderen zufügt, erwähnen können. Überwunden wird dies alles nur durch Vergebung; ein Ende kann solchem Zustand nur gesetzt werden, indem einer

den Anfang macht. Dazu aber gehört ungeheuere Stärke und Tapferkeit.

DaS Sprichwort sagt: „Der Klügere gibt nach." Jesus aber erklärt: Du, als mein Jünger, sollst nachgeben! Du sollst den Frieden zustande bringen!

„Selig sind die Friedfertigen, denn sie werben Gottes Kinder heißen!" (s.o. S. 15 f.).

Daß Jesus, wenn es darauf ankam, auch seine Ehre zu wahren wußte, zeigt uns J o h. 18,23, wo er auf den Backenstreich, den er vor dem Hohenrat

erhielt, erwiderte: „Habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sei; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich?" (vgl. ebenso Paulus in Philippi Apg. 16,35—40; Paulus vor dem Hohenrat Apg. 23,1—3; Paulus

vor Festus Apg. 25,11). An solche Fälle aber denkt Jesus in der Jüngerlehre der Bergpredigt eben nicht. Vielmehr geht es ihm um bas Zusammenleben seiner Anhänger in der neuen Gemeinschaft der Liebe, so wie Vater und Mutter in der Ehe und Freund und Freund in der Freundschaft und Kamerad und Kamerad in der Kameradschaft auch zusammenleben und sich gegenseitig

tragen und vergeben und nicht daran denken, sofort den Ehrenstanbpunkt

herauszukehren und womöglich voneinander Satisfaktion zu fordern. Man muß solche einfachen häuslichen und kameradschaftlichen Beispiele aus der täglichen Umwelt beS Kindes mit heranziehen, um zu zeigen, daß es in der

Tat solches Zusammenleben nach den Gesetzen der Liebe und der Verträglich­

keit gibt und daß ein wahres Zusammenleben von uns Menschen ohne solche Haltung der Friebfertigkest überhaupt nicht möglich ist. Von da her werden auch Jugendliche dann schnell und mühelos begreifen, daß diese von Jesus hier geforderte Haltung nicht nur möglich, sondern nötig ist, baß sie

freilich unendlich viel Tapferkeit und Selbstüberwindung erfordert; baß eS l) Vgl. hierzu bas Buch „Der Hitlerjung« Quer" von K.A. SchenziNger nebst Filmbearbeitung, wo bi« Schar der Hitlerjungen am Bahnhof mit Kommunisten zusammen­ trifft und sich im „Stillgcstanden" von diesen verhöhnen läßt (S. 29 f.). Außerdem die Worte

beS Bannführers zu Quex: „ES gehört oft mehr Kraft dazu, die Faust in der Tasche zu lasten, anstatt zuzuschlagen, das kannst du mir glauben, Quex" (S. 244).

Gegen die Wiebervergeltung

41

deshalb aber lächerlich ist, im Zusammenhang dessen, waS Jesus meint, überhaupt die Bewertungen „ehrlos" oder „feige" auch nur zu erwägen. Eine besondere Schwierigkeit bereitet manchen Auslegern der Umstand,

daß eS Matth. 5,39 heißt: „Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt." Denn der normale Schlag mit der rechten Hand trifft ja die linke Wange. Nun hat eS freilich im Judentum zu Jesu Zeiten auch einen Schlag mit dem Hand­

rücken der rechten Hand auf die rechte Backe gegeben, der als besonders

schimpflich galt. Er mußte nach den damaligen Vorschriften mit der doppelten Geldsumme gebüßt werden wie der Schlag auf die linke Wange (400 Zuz statt 200 Zuz). Wenn Jesus wirklich an diesen Schlag mit dem rechten

Handrücken gedacht hätte, dann wäre seine Forderung, selbst in einem solchen

Fall nicht wieberzuschlagen, nur noch krasser formuliert, aber grundsätzlich

auch so nicht geändert. Ich glaube jedoch nicht, daß JesuS hier an diese jüdische Unterscheidung dachte, zumal LukaS in der Parallelstelle Luk. 6,29

den Wortlaut überliefert: „Dem, der dich auf die eine Backe schlägt, dem

biete die andere auch bar." Ich meine deshalb, daß wir diese ganze Spekula­ tion vor unseren Schülern beiseite lassen sollten; sie verwirrt höchstens und

verdunkelt nur den Blick auf die Hauptsache. Die Beispiele 2 und 3 in VerS 40 f. können nun wesentlich rascher behandelt

werden als V.39. Beispiel 2 denkt an den Prozeßgegner, der den Leibrock

(daS hemdartige Untergewand — tunica) als Pfand für ein Guthaben (vgl.

II. Mose 22, 25 f.) durch Gerichtsbeschluß erlangen will und dem man, ehe eS zu diesem Gerichtsurteil kommt, den noch wertvolleren Mantel, daS Ober­ kleib (toga), hinzugeben soll. Der entscheidende Gedanke ist auch hier: nicht

rechten, sondern entgegenkommen, nachgeben, versöhnen, ganz entsprechend Matth. 5,25 (s. o. S. 29) und I. Kor. 6,1—8 (Mahnung des Apostels gegen

daS Prozessieren vor Gericht). Beispiel 3 betrifft die Sitte und Gepflogenheit von Dorfbewohnern, den

Fremden zu ge leit en, wenn erbarumbsttet. JesuS sagt: Wenn dich jemand

hierzu „nötigen" will, d. h. wenn er einen BefehlSton anschlägt und sich gleich auf den Rechtsstandpunkt stellt, daß diese Pflicht doch Herkommen sei, dann

gehe flugs von dir auS bereitwilligst zwei Meilen statt einer mit und überwinde

so die schroffe Forderung deS anderen durch deine zuvorkommende Güte. (Eine römische Meile betrug tausend Doppelschritte, d. h. rund 1500 m.)

Auf diese drei Beispiele folgt zuletzt mildernd und abschließend die Schluß­ bemerkung in VerS 42: „Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von

dem, der von dir ein Darlehen haben will." Dieser Satz fällt insofern etwas auS dem Zusammenhang, als er den Grundgedanken von VerS 39: „Ihr sollt euch dem Bösen nicht widersetzen", außer Acht läßt. Denn daS „Bitten"

42

Gegen die Wiebervergeltung

und „Borgenwollen" steht doch nicht in Parallele zu den Gewalttätigkeiten von Vers 39—41. Vielleicht ist der VerS 42 von Matthäus anderswoher an die vorausgehenden Aussprüche Jesu angefügt worden. Die unterrichtliche Behandlung des ganzen Abschnittes Matth. 5, 38—42 wird nach Herausarbeitung deS Anliegens Jesu vor allem noch auf Luk. 9,51—56 Hinweisen mit den entscheidenden Versen 55 f.: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten"; außerdem auf die einschlägigen Stellen der Paulusbriefe, zuvörderst auf Röm. 12,17 und 21: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem" — „Laß dich nicht vom Bösen

überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Guten"; desgleichen auf I- Thefs. 5,15: „Sehet zu, daß keiner BöseS mit Bösem vergelte, sondern allezest jaget dem Guten nach, untereinander und gegen jedermann." Auch I. Kor. 13,7 wird nicht fehlen dürfen: „Die Liebe verttägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles." Ms kleine Beispielgeschichte diene ein« Erzählung vom alten BobelschwinghH: Ein gewerbsmäßiger Bettler, dem die Arbeitslosensiedlung in WilhelmStal den Grund zum Betteln in seinem Stammbezirk genommen hatte, stieß den alten Bodelschwingh bei einem Zusammentreffen in einen mit Master gefüllten Straßengraben. Ohne Zorn sagte Vater Bodelschwingh: „Nun hast du mich alten Mann in den Graben herein geworfen, nun hilf mir aber auch wieder heraus!" Völlig überwunden half ihm der Bettler und folgte ihm nach Wilhelmstal. Nicht Vergeltung, sondern Liebe! muß als Erttag deS Unterrichts­ gesprächs und als Leit- und Lebenswort herausspringen. Damit sind alle falschen oder schiefen Frage- und Problemstellungen von vornherein abge­ wiesen und unmöglich gemacht, ebenso ein falsches Hereinzerren deS Ehr­ begriffs (s. o.) wie ein Übertragen dieser zwischenmenschlichen Forderungen

Jesu auf das politische Ringen der Völker und Staaten. JesuS spricht hier nicht von der Politik und nicht von der Pflicht zur Verteidigung der Ehre, sondern von der neuen GotteSordnung der Liebe in der Gemeinschaft seines Reiches und seiner Gemeinde. Diese Ordnung der Liebe stellt er als Richt­ schnur für unser Leben auf, die wir in seinem Namen und nach seinem Willen leben möchten, und zu dieser Haltung des Nichwergeltens mästen deshalb auch unsere jungen Zuhörer aufgerufen werden. „Früh übt sich, wer ein Meister werden will!" „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer*) Nach G. Bohne in „Deutsche Evangelische Erziehung", Zeitschrift für den «vang.

Religionsunterricht, Verlag M. Diesterweg, Frankfurt a. M., 47. Jahrgang, 1936, S. 174.

FeinbcSliebe

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mehr!" „Jung gewohnt, alt getan!" Wer in der Jugend, auch im Streit mit Kameraden und Freunden und Geschwistern, sich nicht zwingen kann nachzugeben, beizugeben, auch einmal Unrecht einzustecken, zuerst zu schwei­

gen, nicht alle Schimpfworte und Schläge zu erwidern, der lernt es auch im Alter nicht mehr. Leicht ist das freilich nicht, aber unendlich herrlich, wenn

eS gelang. Und der rechte Sieger ist doch schließlich der, der zuerst sich und damit dann auch den anderen bezwang, dem es gelang, Frieden zu schaffen,

wo vorher Streit war, und die Freundschaft oder Kameradschaft wieder zu

festigen und zusammenzubinden, wo sie in Gefahr war auseinanderzubrechen. Man wird dabei also nicht auf die harmlosen und vorübergehenden Bal­

gereien und Prügeleien der Buben und das mit der schlechten Laune ent­

schwindende Bösesein der Mädchen Hinweisen, sondern auf die Fälle, wo durch

zugefügtes Unrecht (Jesus: Backenstreich), durch Rechthaberei (Jesus: Pro­

zeßgegner) und mancherlei Zumutung (Jesus: Nötigung) auch im Kindes-

und Jugenbleben der Anreiz zur Vergeltung gegeben ist und damit die Ge­ fahr, daß sich durch Vergeltung Bitterkeit in die Seelen frißt und die vorher bestehende Gemeinschaft in Trümmer geht. Hier gilt es, schon als junger

Mensch wach zu sein und den Mut und die Kraft aufzubringen, „das Böse

durch Gutes zu überwinden". Wir wissen ja: Eis schmilzt nicht durch Frost, sondern nur unter den warmen Strahlen der Sonne. So soll das Licht

unserer Liebe wärmen, wo wir hinkommen, und die kalten winterlichen Geister der Rachgier und Vergeltung in die Flucht jagen.

5. Von der Feinbesliebe Matth. 5,43—48: Ihr habt gehört, daß gesagt ist: „'Du sollst deinen Nächsten lieben' und deinen Feind hassen." Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, (segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen), betet für eure Verfolger, damit ihr euch als Söhne eures Vaters im Himmel erweist. Denn er läßt seine Sonne auf­ gehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Un­ gerechte. Denn wenn ihr nur die liebet, die euch lieben, was habt ihr dann für Lohn? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.

Nicht Vergeltung, sondern Liebe! Unter diesem Gesichtspunkt ge­

hören diese Verse untrennbar mit den vorigen zusammen.

Jesus nimmt seinen Ausgang zur letzten Steigerung der angeschlagenen

Linie bei dem alttestamentlichen Wort von der „Nächstenliebe" III. Mose 19,18: „Du sollst deinen Volksgenossen gegenüber nicht rachgierig sein und

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FembeSlieb«

ihnen nichts nachtragen, sondern sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn Ich bin der Herr." Aus dem Verbot der Rachsucht gegenüber dem

Volksgenossen in der ersten Halste dieses Wortes ergab sich nach landläufiger Meinung die selbstverständliche Folgerung: „Deinen Feind darfst du hasten", die Jesus deshalb hier wie einen bereüs im Volksmund fest geprägten Be­

standteil deS vorangehenden Bibelwortes mit anfügt. Die Stelle III. Mose 19,18 zeigt zugleich, daß der „Nächste" für die Israeliten des Alten Testa­ mentes und für die Juden zur Zeit Jesu lediglich der „Volksgenostc" war;

der „Feind" war demnach ursprünglich der Nationalfeind, nach rabbinischer Auslegung aber auch der private Gegner, der einem Unrecht zugefügt hatte. Freilich finden wir neben dieser Beschränkung der „Liebe" auf den Volks­ genosten bereits im Alten Testament gelegentlich Ausweitungen der Liebesforderung, so zunächst in III. Mose 19,33 die Ausdehnung auf den im Lande wohnenden Fremdling: „Wenn ein Fremdling bei dir in eurem Lande wohnen wird, so sollt ihr ihn nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremdlinge im Land Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott." Ferner die Forderung, dem Feind in bestimmten Notlagen bei­ zuspringen in II. Mose 23,4f.: „Wenn du deines Feindes Ochsen oder Esel herumirrend antriffst, so sollst du ihm das Tier unweigerlich wieder zuführen. Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last zusammengebrochen siehest, so hüte dich, ihn bei dem Tier allein zu lasten; du sollst unweigerlich zusammen mit ihm die Hilfeleistung vollbringen." Schließlich auch das von Paulus in Röm. 12,20 zitierte Wort aus Sprüche 25,21 f.: „Hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brot; dürstet ihn, so tränke ihn mit Master; denn du wirst feurige Kohlen auf sein Haupt häufen, und der Herr wird dir'S vergelten." Doch sind diese Stellen aufs Ganze gesehen Ausnahmen. Sie

werden überschattet von den fürchterlichen Rachepsalmen (vgl. besonders Psalm 109, aber auch 28,4; 35; 54,7; 55,16; 58,11; 59; 94,23; 137,9) und kommen jedenfalls in keiner Weise an das von Jesuö geforderte grund­ sätzliche Gebot der Feindesliebe heran. Denn I e su s verlangt von uns baS Ungeheuerliche: „Liebet eure Feinde, —, betet für eure Verfolger!" (Die Zwischenglieder „Segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hasten" fehlen in den besten Handschriften des MatthäuStexteS und sind wohl aus Luk. 6,27 f. hier eingedrungen). Das neue Gebot der Liebe kennt keine Einschränkung. So wie der „Nächste" nach Luk. 10,29—37 (Gleichnis vom barmherzigen Samariter) jeder Mensch

ist, mit dem ich gerade zusammen bin oder zusammentreffe, und wie ich mich jedem gegenüber selbst als „Nächster" erweisen soll (V. 36), so soll ich gründ-

Fcindeöliebe

45

sätzlich auch jedem Menschen mit Liebe entgegenkommen, mag er sich mir

gegenüber freundlich oder feindlich verhalten. Nur so erweise ich mich als Sohn oder Tochter meines himmlischen Vaters/ der auch seine Sonne

scheinen läßt über Böse und Gute und regnen läßt über Gerechte und Un­ gerechte. Nicht nur die Menschen, die mir befreundet oder sympathisch sind, lieben, nicht nur den Menschen gegenüber, die zu mir freundlich sind, wieder

freundlich sein, nicht nur die guten Bekannten und Verwandten und Ver­ trauten grüßen (im Orient mit dem Friedensgruß: „Friede sei mit euch!"), —

nein, gerade auch unsere Widersacher, unsere persönlichen Gegner, diejenigen,

die uns beleidigen und verfolgen, trotzdem mit dem vergebenden und helfen­ den und freien Blick der Liebe grüßen, das heißt ein Christ und ein Jünger

Jesu sein. „Nicht mitzuhafsen — mitzulieben bin ich da": dies Wort, das Sophokles seiner Antigone in den Mund legte und das wie ein einsam leuchtender Stern aus der Antike zu uns herüber grüßt, sollte nach Jesu

Willen die Lebensregel und das Tatbekenntnis aller Christen sein. Damit

fordert Jesus freilich das Höchste und Letzte von uns, die höchste denkbare

„Vollkommenheit": So wie Gott in seiner Weise „vollkommen" ist, so sollen auch wir als seine Söhne und Töchter „vollkommen" sein, vollkommen

in der Liebe, vollkommen in der Güte (Luk. 6,36: „Darum seid barmherzig,

wie auch euer Vater barmherzig ist") x). Daß dies Höchste zugleich das Schwerste ist, wissen wir und wissen unsere

Kinder ganz genau. Und doch steht dies Schwerste als Gottes Wille und Christi x) Luther, WA. 32, S. 398 und 406: „Hier fasse nun abermals den Unterschied, erstlich, daß er allein redet, was die Christen als Christen tun sollen, sonderlich um des Evangelii und

ihres Christentums willen, als wo mich jemand hasset, neidet, lästert oder verfolgt um Christus und des Himmelreichs willen, soll ich nicht wieder hassen, verfolgen, lästern und fluchen,

sondern lieben, wohltun, segnen und für ihn bitten. Denn ein Christ ist ein solcher Mensch, der gar kein Haß noch Feindschaft wider jemand weiß, keinen Zorn noch Rache in seinem Herzen hat, sondern eitel Liebe, Sanftmut und Wohltat, gleichwie unser Herr Christus und sein himmlischer Vater selbst ist, welchen er auch hier zum Exempel setzet."

„So heiße ich ein rechter vollkommener Mensch, der die Lehre fein rund hat und hält. Ob aber das Leben nicht hernach so stark im Schwange gehet — wie eS denn nicht gehen kann, weil

Fleisch und Blut ohne Unterlaß hindert —, das schadet der Vollkommenheit nichts. Allein daß man danach strebe und darin gehe und täglich fortfahre, also baß der Geist über baS Fleisch

Meister sei und dasselbe im Zaum halte, unter sich zwinge und zurückziehe, daß eS nicht Raum kriege, wider diese Lehre zu tun. Also baß ich die Liebe in rechter Mittelftraße gegen jedermann gleich gehen lasse, baß sie keinen Menschen auSschlage. So habe ich die rechte christliche Voll­ kommenheit, die nicht in sonderlichen Ämtern ober Ständen stehet, sondern allen Christen ge­ mein ist und fein soll. Und stch artet und richtet nach dem Exempel des himmlischen VaterS,

der seine Liebe und Wohltat nicht stücket noch teilet, sondern alle Menschen auf Erden zugleich

derselben genießen läßt durch Sonne und Regen, keinen ausgeschlossen, er sei fromm ober

böse."

46

Feinbesliebe

Wort vor uns — und ist darum nicht nur Forderung, sondern immer zugleich

Verheißung und Geschenk. Gott schenkt sich ja täglich und will uns Helsen; Christus war die fleischgeworbene Liebe, gab unS sein Beispiel und ist mitten unter unS; beide schenken unS die Liebe, die sie von uns erwarten.

Wir wissen also, woher wir die Kraft nehmen müssen, die wir zu solchem Leben und Lieben brauchen, und dürfen deshalb getrost und mit Zuversicht

täglich neu dies Schwerste und doch auch Schönste wagen: zu lieben, auch wo andere uns nicht lieben; zu vergeben, wo andere uns bas Herz schwer

machen; zu beten für die, die trotz aller Feindschaft und Gegnerschaft gegen unS unsere Brüder und Schwestern sind. Wie Christus noch am Kreuze sprach: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Luk. 23,34).

Mit diesen sachlichen und persönlichen Erwägungen ist auch der unter­

richtliche Weg in der Hauptsache gekennzeichnet. Von vornherein muß klar

sein, daß Jesuö hier von dem Verhalten zu dem persönlichen Gegner und Widersacher spricht und nicht etwa von dem militärischen Verhalten gegen­

über den polittschen Feinden unseres Volkes. Polüik und Krieg laufen — leider! — nach anderen Gesetzen, als eS Christi Frohbotschaft für das Zu­

sammenleben von uns Menschen im Geiste der Gottesherrschaft will. Nir­

gends so kraß wie hier zeigt sich das Auseinanderklaffen zwischen Reich Christi und Reich der Welt (s. o. bas Einleitungskapüel S. I ff.). Und doch:

selbst über dem Grauen des Krieges ist in den Hilfe- und Liebesleistungen

des „Roten Kreuzes" Christi Kreuz versöhnend, ttöstenb und verheißungsvoll

ausgerichtet, ein Zeichen, dem hier nicht widersprochen wirb, eine unverlier­ bare Erinnerung an die Liebesbotschaft des Weltenheilanbes und ein brennen­

des Fanal für die Tatsache, baß wir — trotz Krieg und Not und Kampf dieser Weltzeit — doch alle vor Gott Brüder sind. Manch erschütternde Er­

zählung von solchem Christusdienft des Roten KreuzeS oder von der selbst­

verständlichen Kameradschaft zwischen zwei „feindlichen" Verwundeten, die wir in diesem Zusammenhang unseren jugendlichen Hörern vorlesen oder

erzählen, mag ihnen dafür die Augen öffnen. Für baS eigene Leben unserer Kinder ist durch die oben angedeutete Besprechung gleichfalls der Christusweg gewiesen: „Nicht mitzuhasien —

mitzulieben bin ich da!" Hier gilt dasselbe wie bei den vorangegangenen Worten Jesu gegen die Vergeltung. Schon im Kindes- und Jugendleben muß

der Weg der Liebe beschritten werben, — sonst finden wir ihn im reifen Alter nimmermehr. Der leichtere Weg ist der der Rachsucht und der Feindschaft;

der schwerere der der Vergebung und der Liebe. Mer wes daS Herz voll ist

von der Freudenbotschaft des himmlischen DaterS und wer den Ruf Christi

vernommen hat, der kann und will nichts anderes mehr, als diesen schwereren

Fembesliebe

47

Weg gehen, der der schönere und seligere — ja, der allein der Weg Gottes

und unseres Heilandes Jesu Christi ist.

Auch hier muß freilich der Anfang gemacht werben, möglichst noch heute! Jeder überlege und denke, wo für ihn der „Feind" ist, den zu lieben JesuS ihn aufruft. Und dann beginne er zu versuchen, gerade diesem Menschen mit Liebe zu begegnen. Und bann beginne er, gerade für diesen Menschen Gott zu bitten. Er wird dann daS Wunder erleben zu spüren, wie daS eigene Herz

entgiftet wird, und er wirb vielleicht eines Tageö auch daS noch größere Wun­

der erleben, daß auch beim anderen daS Gift der Feindschaft und beS HafseS

weicht und die Liebe einzieht. Mer selbst wenn daS bei dem anderen nicht der Fall sein sollte: für dich und mich gelte der ChristuSweg: „Liebe deine Feinde! Bete für deine Verfolger!"

ES mag gerade in unseren Tagen am Platze sein, unsere Schüler bei dieser

Stelle der Bergpredigt auf den Text des Heliand hinzuweisen und ihnen eindrücklich zu machen, wie der Sänger jenes deutschen Evangeliums gerade

die Forderung der Feindesliebe unverkürzt seinen sächsischen Volksgenossen vermittelte, ja wie er über den Text des Neuen Testamentes hinaus die Fein-

deSliebe sogar der Forderung der Dluttache entgegenstellte. Die betteffenden Verse auS dem Heliand lauten (V. 1446—1463 und 1492—1503) *): Auch hieß eS im Allen Bund

wie ihr alle wißt.

mll wahren Worten,

ein jeder solle

seinen Nächstgesippten

hold sein den Magen,

Minnen im Gemüte,

den Verwandten gut die Freunde lieben

und im Geben mild, und den Feinden haßvoll

im Streit widerstehn

und mit starkem Sinn

dem Widersacher wehren.

Ich aber sage euch wahrlich

Eure Feinde sollt ihr

voller vor diesem Dolk:

Minnen im Gemüte, in GotteS Namen;

wie eure Magen ihr minnt. tut ihnen Gutes viel.

zeigt ihnen lautteö Herz

und holde Treue,

erwidert Leid mü Liebe.

DaS ist langes Heil

der Männer männiglichem,

wider Feinde befleißigt.

daß ihr heißen dürft

beS HimmelSkönigS Söhne,

seine fröhlichen Kinder.

gewinnen in dieser Welt. *) Vgl. o. Anm. 1 zu S. 6.

der im Gemüt sich deS

DaS frommt euch dazu, Ihr könnt nicht besiern Rat

48

FeinbeSlieb«

Schwäche, daß männiglich

Auch mahnet der Menschen dem Freunde nicht folge,

der zum Frevel ihn lockt,

zur Schuld, der Gesippte.

Und sei er ihm

auch noch so sehr,

durch Sippe gesellet

die Magschaft noch so mächtig,

wenn er zum Mord ihn treiben,

zu böser Tat ihn bringen will,

besser ist ihm dann,

den Freund ferne

von sich zu stoßen,

den Magen zu meiden, damit er alleine

zum hohen Himmelreich, währendes Wehe,

nicht mehr ihn zu minnen,

aufsteigen dürfe als daß sie der Hölle Zwang,

beide gewinnen,

übelstes Unheil. Außerdem fügen wir noch zwei Kriegsberichte und C. F. Meyers Gedicht „Die Füße im Feuer" bei, durch die in verschiedener Weise deutlich werden

mag, was christliche „Feindesliebe" ist (I und II) und wie grausam schwer

der Weg dahin oft sein kann (III; vgl. zum Schluß beS Gedichtes Röm. 12,19 f.) !). I. Um einen Trunk Wasser») Ein Kavallerieoffizier, welcher mehrere Feldzüge im Kriege mit den Süd­ staaten Nordamerikas mitgemacht hatte, erzählt folgende Geschichte: Es war Morgen. Ich war Meldereiter und beauftragt, der Reserve der Ar­ mee eine wichtige Nachricht zu überbringen, als im Augenblicke des MrittS mein übermüdetes Pferd mir vollständig den Dienst versagte. Unverzüglich ließ ich ein anderes holen. Allein dieses erwies fich als störrig, bäumte sich, als ich es bestiegen hatte, schlug aus, drehte sich rundum und stand vor dem geringsten Hindernis still. Trotz alledem mußte ich vorwärts. Allerlei Kriegsmaterial und Mannschaften sperrten streckenweise die Straße und erschwerten meinen Ritt noch mehr, so daß ich um Mittag kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Schwer und dumpf brütete die Hitze deS TageS über der waldlosen Gegend. Meine Feldflasche hatte ich in der Eile zu füllen versäumt, und Staubwirbel ttockneten meinen Gaumen vollends auS. Ich war aufs äußerste erschöpft und einer Ohnmacht nahe, als ich an einer Krümmung des Weges eine reichlich fließende Quelle bemerkte, an der *) Drei weiter« Beispielgeschichten für FeinbeSlieb« bei Hans Dittmer, Lichter in der

Zeit, Verlag VandenhoeckL Ruprecht, Göttingen, S. 127 ff. („Die Rache beS Knaben"),

S. 167f. (Roald AmunbsenS „Ende im Eis") und S. 172ff. („Sterben im Niemandsland"). 2) Nach I. Durisch: „Liebet eure Feinde", aus „Lust und Lehr", Erzählungen, Anekdoten, Züge aus dem Volksleben usw. als Unterrichtsbeigab« (Begleitstoff) zur St. Galler Jugend­ bibel, gesammelt von M. Schüli, Verlag von E. Löpfe-Benz, Rohrschqch (Schweiz) 1927, S. 66 ff.

FeinbeSliebe

49

einige Soldaten sich erquickten, ausruhten und ihre Feldflaschen füllten. Auch ich schickte mich an abzusteigen, aber mein Pferd machte so wütende Sprünge, daß ich den Versuch aufgeben mußte und die Soldaten an der Quelle in Gelächter auSbrachen. Ergrimmt über dies Mißgeschick, nahm ich meine Feldflasche ab und hielt sie einem Soldaten hin, der, wie eS schien, nicht über mein Unglück mitgelacht hatte, und bat ihn, mir dieselbe zu füllen. „Fülle sie selbst" — erwiderte er höhnisch. Diese Antwort steigerte meinen Zorn inS Maßlose. „Unseliger!" schrie ich, „möchte ich dich einst vor Durst sterbend und um ein GlaS Wasser bettelnd finden, um eS dir dann auch abschlagen zu können!" Darauf gab ich meinem Roß die Sporen und ritt in rasender Eile davon, ohne mich um daS Rufen der anderen Soldaten zu kümmern, die mich auf­ forderten, zurückzukehren. Eine Stunde später labte ich mich an gutem, fri­ schem Wasser, das mir ein Neger verschaffte. Gegen jenen Soldaten aber war mein Herz mit tiefem Haß erfüllt, sein Gesicht hatte sich in brennenden Zügen in meine aufgeregte Phantasie eingegraben, und ich schwur, ihn aufzusuchen, um mich an ihm zu rächen. Zwei Monate lang, im Lager, auf den Schlacht­ feldern, unter den Sterbenden, verband ich mit der Erfüllung meiner mili­ tärischen Aufgaben mehr oder weniger auch diese gottlose Nachforschung — ließ ihr Ziel wenigstens nie völlig aus dem Auge — ohne Erfolg. Doch der ersehnte Tag sollte kommen. Infolge einer Wunde, die ich er­ halten, kam ich inS Lazarett nach Washington. Unter den Leidensszenen, die ich hier sah, regte sich in mir inniges Mitleid mit den armen Soldaten, und da meine Verwundung mir immerhin erlaubte hin- und herzugehen, benutzte ich die Zeit, Verwundete und Kranke, welche schlimmer daran waren als ich, zu besuchen. ES war mir ein Genuß, sie zu erheitern und zu trösten. Unter dieser neuen Beschäftigung vergaß ich ganz meinen Feind, der sich geweigert hatte, mir einen Trunk WasserS zu bieten. Nach einer schweren Schlacht wurde eine größere Anzahl von Verwundeten nach unserem Lazarett gebracht. Alle Säle füllten sich. Die Hitze war entsetz­ lich, und die Kranken litten furchtbar darunter. Don allen Betten rief eS: „Wasser! Wasser!" Ich ergriff ein GlaS und einen Krug mit EiSwasser und ging von Reihe zu Reihe. Als ich in der Mitte der Betten angelangt war, richtete sich ein am äußersten Ende des Saales liegender Kranker plötzlich auf und rief mit hohler Stimme: „Wasser, um Gottes willen einen Schluck Wasser!" Ich blieb wie versteinert stehen. Alles, was mich umgab, verschwand. Ich sah nur noch ihn. Er war eS, der mir jenes Mal meine Bitte um einen Trunk WasserS abgeschlagen hatte. Ich näherte mich ihm, aber er erkannte mich nicht und sank erschöpft inS Kissen zurück, das Gesicht nach der Wand gekehrt. Da raunte mir mein schlim­ meres Ich, meine aufS neue erwachte Rachsucht ins Ohr: „Laß ihn daS helle Geräusch deS EiswasserS hören—geh aber an ihm vorüber! Gib allen anderen, nur nicht ihm, räche dich!" Zu gleicher Zeit ertönte aber eine andere Stimme in mir, die meines besseren JchS: „Heute ist der günstige Tag, da du Böses mit Gutem vergelten kannst. Gib deinem Feinde zu trinken!" Ich wurde unwiderstehlich an sein Bett ge4

Wihmann, Bergpredigt

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Kindesliebe

trieben, schob meinen Arm unter seinen Kopf und brachte das GlaS an seine heißen Lippen. O, wie er trank! Ich werde nie den Ausdruck der Erleichterung und Er­ quickung vergessen, der sich in seinen Zügen malte, und den Blick voll Dank­ barkeit, den er auf mir ruhen ließ. Aber er sprach kein Wort. Von Stund ab wurde es mir zum Bedürfnis, diesem Verwundeten be­ sondere Pflege angedeihen zu lassen. Er hatte viel zu leiden. Sein Bein sollte abgenommen werden. Mer selbst von dieser Amputation konnte man nicht viel für sein Leben erhoffen. Bis dahin pflegte ich ihn Tag und Nacht. Lange beobachtete er gänzliches Stillschweigen mir gegenüber. Aber eines Tages — ich wollte mich eben von seinem Bett entfernen — faßte er mich beim Schoß meines RockeS und hielt mich fest: „Denkst du noch an den Tag, da du mich um Wasser batest?" „Ja, Kamerad", versetzte ich, „aber jene Zeit ist gottlob vorbei, ich will deine Handlungsweise vergesien." „Ich weiß nicht", erwiderte er, „was mich an jenem Tage überkam. Mein Leutnant hatte mich geschimpft, ich war im Zorn und hatte das Fieber. Wenige Augenblicke, nachdem du weggeritten warst, schämte ich mich, aber es war zu spät. Zwei Monate lang habe ich dich bei jeder Gelegenheit gesucht, um dich um Verzeihung zu bitten. Als ich dich hier wiedererkannte, erinnerte ich mich an deinen Schwur und fürchtete mich. Willst du mir vergeben?" Ich hatte ihn zwei Monate lang gesucht, um mich zu rächen; er hatte mich gesucht, um mich um Verzeihung zu bitten. Wer von uns beiden hatte edler und bester gehandelt? Tiefe Scham überkam mich.... Bei der Amputation des Beines war ich zugegen. Während seine Schwäche überhand nahm, fühlte ich, wie er mir lieb geworben war. Als der Kamerad den Tod nahen fühlte, diktierte er mir noch einen kurzen Brief an seine Schwester, ließ auch den Prediger kommen und sprach lange mit ihm. Nach der Unterredung fragt« der Sterbende zu mir gewandt, ob eS nicht in der Bibel einen Spruch gäbe, in welchem von einem Becher kalten Masters die Rede wäre. „Ich bitte dich", sagte ich leise, „sprich nicht mehr davon, du tust mir weh!" Jetzt fiel ihm der Spruch ein; mit bewegter Stimme sagte er: „Wer dieser Geringsten einen nur mit einem Becher kalten Masters ttänkt in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage euch, eS wird ihm nicht unbelohnt bleiben" (Matth. 10,42). Damit nahmen wir Mschieb voneinander. Dann faltete er still die Hände, betete das Gebet, das er als kleines Kind von seiner Mutter gelernt, legte sich auf sein Kisten, seine Augen schlössen sich, seine Lippen bewegten sich noch einen Augenblick und — er war für immer eingeschlummert, mein lieber Kamerad. II. Sanitätsunteroffizier Becker*)

Es war bei Verdun in der ersten Angriffsschlacht. Man schrieb den 27. Fe­ bruar 1916. In heißen, blutigen Kämpfen hatte die 25. Infanterie-Division den CaureS- und Wavrilwald durchstoßen. Beaumont war gestürmt, und die *) Aus Martin Rang, Biblischer Unterricht, S. 87f., mit gütiger Erlaubnis des Verfassers.

Feindesliebe

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Division lag in Sturmstellung auf halber Höhe vor dem Dorfe Louvemont. ... Wir Krankenträger vom 2. Bataillon des Infanterie-Regiments 117, vor dem Sturm bei der Truppe liegend, hatten durch die eintretenden Verluste viel Arbeit gehabt. An ein Vorgehen mit der Truppe war deshalb nicht zu denken. Erft gegen Abend konnten wir unsern Truppenverbandsplatz nach Louvemont vorverlegen. Das Hilfswerk war noch nicht zu Ende. Der nächste Tag sollte mir noch traurige Gelegenheit geben, ganz Armen Hilfe zu bringen. Am frühen Nachmittag des 28. Februar lagen unsere Verwundeten alle in der Schlucht. Gerade hatten wir mit gefundenen französischen Nahrungs­ mitteln zu Mittag gegessen. Da kam Sanitätsunteroffizier Becker von 6/117 und fragte mich: „Peter! Hast du nebenan schon die Scheune voll ver­ wundeter Schwarzer gesehen?" Ich verneinte. Er sagte: „Komm mit!" Ich kam mit. ... Dreißig bis vierzig mögen es gewesen sein. Sie lagen in einer Scheune, soweit man diese Ruine noch als Scheune bezeichnen konnte. Fünf Tage lang mußten sie mindestens schon liegen. Im Caureswald waren sie verwundet worden. Nur Nowerbände hatten sie. Lauter Schwerverwundete. Keiner von ihnen konnte gehen. Tote lagen zwischen ihnen. Lagen schon tagelang zwischen ihnen. Tote neben Sterbenden. Alle hatten sie ihre Notdurft da verrichtet, wo sie lagen. Ein Geruch ging von ihnen aus, der die meisten Menschen zu ewigem Erbrechen gereizt hätte. Becker fragte mich: „Willst du helfen, die verbinden? Ich stelle die Ziga­ retten, denn ohne Rauchen kann man hier nichts machen." Ich bejahte. Und wir haben sie verbunden. Weshalb sie noch nach Tagen in Louvemont unversorgt lagen? Wer weiß es. Die Verluste waren groß. In den ersten Tagen hat man wahrscheinlich erst für die weißen Franzosen gesorgt, und nachher hatte man keine Zeit mehr, für die schwarzen Franzosen zu sorgen. Heute noch bewundere ich Becker für seine Tat. Er packte zu. Ich half nur. Er kannte keine Scheu. Ähn hat kein Geruch, keine Furcht vor Infektion, nichts gehindert, sein Werk zu tun. Es zwang ihn kein Befehl zur Hilfe. Nur die Menschlichkeit gebot zu helfen. Es war ein schweres Werk. Feuer lag auf Louvemont. Schweres Feuer. Es ist mir heute noch unverständlich, daß kein Volltteffer die Scheune ttaf. Vorn, hinten, zu beiden Seiten gab eö Treffer in Hülle und Fülle. An Splittern fehlte es nicht, denn das Scheunendach bot so viel Schutz wie ein Regenschirm. Die Hilfe erforderte Stunden. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen, um einen ständigen Brechreiz zu bekämpfen. Becker rauchte auch. Aber er konnte gar nicht immer rauchen, denn er mußte verbinden. Bei diesem Werke kam Becker seine Vorbildung zugute. Er war in Friedens­ zeiten Krankenbruder gewesen. Im Kloster von Montabaur im Westerwald. Laienbruder nur, nicht etwa Geistlicher. Er hatte Kenntnisse wie ein Arzt. Ich habe schon einmal gesagt, daß ich Becker heute noch bewundere. Am 28. Februar 1916 habe ich ihn auch bewundert. Begriffen habe ich ihn an diesem Tage nicht. Habe ihn an diesem Tage nicht begreifen können, denn sein LiebeSwerk galt zum größten Teile unrett4*

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FeinbeSliebe

bar dem Tode verfallenen Leuten. Die meisten hatten schon Brand in ihren Wunden. Au der ständigen Lebensgefahr durch daS französische Artillerieseuer kam noch die Gefahr der Infektion. .... Begriffen habe ich ihn erst viel später. Nach vier, fünf Monaten. Ich glaube, wir standen kurz vor dem Einsatz an der Somme. Er war mittlerweile Sanitätsfeldwebel geworden. Wir hatten noch einmal Felbgottesdienst. Da diente Becker bei der Feldmesse. Bei dieser Gelegenheit trug sein Gesicht den­ selben fast fanatischen Ausdruck von Hingabe, den er damals hatte, als er die schwarzen französischen Soldaten verband. Jetzt lag auf seinem Gesicht der­ selbe Ausdruck wie in Louvemont, als er mit seinen Händen Kot, Dreck und Läuse von den Schwarzen entfernte, um Jod auf die Wunden zu pinseln und zu verbinden. Er sprach nur deutsch. Die schwarzen Soldaten sprachen nur wenig fran­ zösisch. Als wir den ersten von ihnen verbanden, jammerten alle Verwundeten in uns fremden Lauten. Verständigen konnten wir uns nicht mit ihnen. Aber jeder, der es noch konnte, sagte zu ihm: „Merci, Monsieur!" Er mußte vielen von ihnen beim Verbinden Schmerzen bereiten, und doch dankten alle, weil bas Mitgefühl in seinen Augen auch von ihnen verstanden wurde. Wenn die Granaten in unserer Nähe einschlugen und die Schrapnells über der Scheune platzten, dann sagte Becker zu mir: „UnS kann heute nichts passieren." Es passierte auch nichts. Ob er innerlich mit seinem Gotte rang, wie Jakob mit Gott gerungen, bis er ihn segnete? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß es gut war, was er tat.

III. C. F. Meyer: Die Füße im Feuer.

Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm. Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß, springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest. Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell, und knarrend öffnet jetzt daS Tor ein Edelmann ... — „Ich bin ein Knecht deS Königs, als Kurier geschickt nach NimeS. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock!" — „Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert's mich? Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier!" Der Reiter tritt in einen dunkeln Ahnensaal, von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt, und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib, «in stolzes Edelweib auS braunem Ahnenbild ... Der Reiter wirft sich in den Sesiel vor dem Herd und starrt in den lebend'gen Brand. Er brütet, gafft... Leis sträubt sich ihm daS Haar. Er kennt den Herd, den Saal... Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.

Fembesliebe

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Den Abendtisch bestellt die greise Schaffnerin mit Linnen blendend weiß. Das Edelmägdlein Hilst. Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick hangt schreckensstarr am Gast und hangt am Herd entsetzt... Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut. — „Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal! Drei Jahre sind's ... Auf einer Hugenottenjagd ... Ein fein, halsstarrig Weib ... 'Wo steckt der Junker? Sprich!’ Sie schweigt. 'Bekenn'!' Sie schweigt. 'Gib ihn heraus!' Sie schweigt. Ich werde wild. Der Stolz! Ich zerre das Geschöpf ... Die nackten Füße pack' ich ihr und strecke sie tief mitten in die Glut... 'Gib ihn heraus!' ... Sie schweigt. Sie windet sich ... Sahst du das Wappen nicht am Tor? Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr? Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich." Eintritt der Edelmann. „Du träumst I Zu Tische, Gast ..." Da sitzen sie. Die drei in ihrer schwarzen Tracht und er. Doch keins der Kinder spricht daS Tischgebet. Ihn starren sie mit aufgeriff'nen Augen an — Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk, springt auf: „Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt! Müd' bin ich wie ein Hund!" Ein Diener leuchtet ihm; doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr ... Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach.

Fest riegelt er die Tür. Er prüft Pistol und Schwert. Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt. Die Treppe kracht ... Dröhnt hier ein Tritt? ... Schleicht dort ein Schritt? Ihn täuscht das Ohr. Vorüber wandelt Mitternacht. Auf seinen Lidern lastet Blei, und schlummernd sinkt er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut. Er träumt. „Gesteh!" Sie schweigt. „Gib ihn heraus!" Sie schweigt. Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut. Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt ... — „Erwach'! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt!" Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt, vor seinem Lager steht des Schlaffes Herr — ergraut, dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.

Sie reffen durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut. Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad. Die frühsten Vöglein zwffschern, halb im Traum« noch.

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Feinbcöliebe

Friedsel'ge Wolken schwimmen durch die klare Luft, als kehrten Engel heim von einer nächt'gen Wacht. Die dunkeln Schollen atmen kräft'gen Erdgeruch. Die Ebne öffnet sich. Sm Felde geht ein Pflug. Der Reiter lauert aus den Augenwinkelnr „Herr, Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit und wißt, daß ich dem größten König eigen bin. Lebt wohl. Aus Nimmerwiedersehn!" Der andre spricht: „Du sagst's! Dem größten König eigen! Heute ward sein Dienst mir schwer ... Gemordet hast du teuflisch mir mein Weib! Und lebst! ... Mein ist die Rache, redet Gott."

II. Die bessere Gerechtigkeit, erläutert an den drei Hauptbeisplelen pharisäischer Frömmigkektöübung (Matth. 6, 1-18) Matth. 6,1: Hütet euch, eure „Gerechtigkeit" vor den Leuten zu üben, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Nachdem Matth. 5,21—+8 in einer Reihe von Beispielen die „bessere Gerechtigkeit" im Verhalten zu den Mitmenschen gezeigt hat (außer 5,33—37,

das z. T. auch vom Verhalten gegenüber Gott handelt), wendet sich Jesus in Kapitel 6 dem Stehen des Menschen vor Gott selbst zu. Gottesliebe und Nächstenliebe sind also auch hier — wie schon in den Seligpreisungen (s. o. S. 7) — die beiden Pole, zwischen denen des Heilandes Worte und

Mahnungen im Pendelschlag seiner einen seligen Botschaft von der herein­ brechenden Gottesherrschaft hin und her schwingen. Voran stellt er in Vers 1 das richtungweisende Wort für die nachfolgen­ den Abschnitte: die Warnung, ja nicht die eigene Frömmigkeit vor den Leuten „zur Schau zu stellen" („um gesehen zu werden" heißt auf griechisch theathenai; vgl. Theater!). Luther übersetzte einst statt „eure Gerechtigkeit" auf Grund anderer Handschriften „eure Almosen"; doch verdient „eure Gerechtigkeit" den Vorzug. Woran Jesus denkt, wird bereits aus einem Blick auf Matth. 23,5 erkennbar, wo er in seiner großen Streitrede wider die Schriftgelehrten und Pharisäer sagt: „Alle ihre Werke aber tun sie, um von den Leuten gesehen zu werden." Matth. 6,1 ist demnach eine Art Über­

schrift für die folgenden drei Beispiele vom Almosengeben, Beten und Fasten, und ruft dem Hörer damals und unS heute sofort vernehmlich zu: Was ihr an Frömmigkeitsübungen tut, das tut nicht vor Menschen, sondern vor Gott! Es soll ja Gottesdienst sein — nicht Menschendienst; Gottes­ dienst — nicht Augendienerei vor den Leuten.

i. Vom Almosengeben Matth. 6,2—4: Darum, wenn du Almosen gibst, so sollst du nicht vor dir her posaunen lassen, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gasten, um von den Leuten gerühmt zu werden. Wahr­ lich, ich sage euch: sie haben ihren Lohn dahin. Sondern, wenn du Almosen gibst, so soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen geschehe; und dein Vater, der in das Verborgene schaut, wird es dir vergelten (öffentlich)!.

56

Almosengeben

DaS erste Beispiel vom Almosengeben — und von jeder WohltätigkeitT) — ist freilich auch ein Beispiel für die Nächstenliebe, nicht nur für die Gottes­

liebe. Denn die Gaben, die gegeben werden, sollen ja notleidenden Brüdern

und Schwestern zugute kommen. Aber sie wurden damals — wie auch heute

bei uns im Gottesdienst — am Sabbat in der Synagoge gegeben und bildeten einen Bestandteil gottesdienstlichen Verhaltens. Und gerade dies will JesuS geregelt haben: daß das Geldopfer vor Gott ein Opfer vor Gott bleibe und

nicht benutzt werde, um sich sebst vor Menschen Ruhm zu verschaffen; daß man bei seiner Gabe an Gott und an den bedürftigen Bruder denke und nicht an sich und seinen Heiligenschein vor den Leuten. „Denn das Werk

wäre an ihm selbst wohl gut, aber baS verdammt's, daß sie ihren Unflat

dazu schmieren, weil sie nur ihren Ruhm und Ehre vor den Leuten damit suchen, nicht um Gottes noch des Nächsten willen" (Luther, WA. 32, S. 408).

Sachlich bieten die drei Verse 2—4 keine besonderen Schwierigkeiten. Man

muß nur wissen, daß bei den Juden außer der offiziellen Steuer für die Armenpflege noch freiwillige Spenden kamen, die öffentlich vorher in der

Synagoge oder bei'öffentlichen Fastengottesdiensten auf der Straße — wo­ möglich mit Trompetenschall — angekündigt und bann am Sabbat in der

Synagoge bezahlt wurden. Dabei kam es vor, daß die Spender besonders

großer Gaben den Ehrenplatz an der Seite der Rabbinen einnehmen dursten. Jesus wendet sich aufs schärfste gegen dieses ganze marktschreierische Ge­

haben und gegen die damit verbundene „Heuchelei", in der statt echter Liebe und redlichem Opferwillen der Selbstruhm und die Eitelkeü herrschten, ganz abgesehen davon, daß bei „Heuchlern" vielleicht auch an solche zu denken ist,

die zwar eine besonders große Gabe versprochen hatten, dann aber ver­ säumten, die in der gleichen Höhe zu bezahlen. All solche Menschen haben nach

Jesus ihren Lohn bei Gott dahin. VerS 3 bringt demgegenüber die positive Forderung: Deine linke Hand

soll nicht wissen, was die rechte tut. Das ist, wie so oft bei JesuS, paradox zugespitzt formuliert, zeigt aber um so deutlicher, worauf er den Nachdruck legen will. Natürlich „weiß" die linke Hand, was die rechte tut. Aber unser

Almosengeben soll so selbstverständlich als Ausdruck unserer Nächstenliebe

und unseres Helfenwollens auS dem Herzen strömen, daß jeder selbst­ zufriedene Gedanke, der sich wohlgefällig am Werk deS eigenen Wohltuns x) „Das Wörtlein »Almosen' ist von dem griechischen Wort Eleemosyna (£Ä6T)|joct0vt|)

gemacht, welches heißt Barmherzigkeit, wie wir's auch sonst nennen: Werke der Barmherzig­ keit ... Denn es ist nichts anderes, denn den Armen und Bedürftigen helfen, und begreift

nicht allein ein Stück Brots, einem Bettler vor der Tür gegeben, sondern allerlei Wohltat und allerlei gute Werke gegen den Nächsten" (Luther, WA. 32, S. 408).

Almosengeben

57

freut oder sich womöglich im Gefühle des Rechtverhaltens sonnt, völlig fernbleiben muß. (Gegenbeispiel: Der selbstgerechte Pharisäer im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner, Luk. 18, llf.). Nicht nur von anderen Menschen,

sondern auch von uns selbst sollen wir uns nicht rühmen lassen! Nicht an uns und unsere Tat, sondern an die Not und an die Brüder, denen wir helfen

wollen, und an Gott, der diese Hilfe und diese Liebe von uns erwartet, sollen wir denken. An sonst gar nichts, aber auch gar nichts. Der Nachdruck liegt also auch hier — wie in den Beispielen aus Kapitel 5 —

auf der Gesinnung, und zwar auf der Gesinnung der Liebe, deren unser Herz voll sein soll. „Selig sind die Barmherzigen", d. h. die, deren Herz voll ist von Erbarmen für den anderen, denn sie werden Gottes Barmherzigkeit er­

langen (5. Seligpreisung, s. o. S. 13); und „Wes bas Herz voll ist, des läuft die Hand über" — so könnten wir in Abwandlung des bekannten Wortes

Matth. 12,34 im Hinblick auf das Almosengeben sagen. So jedenfalls sollte

es sein, nicht anders. Denn „wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nur tönend Erz ober eine klin­ gende Schelle. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze" (I. Kor. 13,1 und 3). Allem prahlen­

den und sich selbst zur Schau stellenden Geldgeben hat Jesus die Witwe mit ihrem Scherflein zur Beschämung vor Augen gemalt (Mark. 12,41—44);

an ihr können wir lernen, was es heißt: Almosen geben und Opfer bringen. Angesichts solcher Rückführung jedes Almosengebens auf die brennende Liebe des Herzens zu Gott und zu dem Nächsten scheint nun fteilich der Schluß von Vers 4 mit seiner Erwähnung des Lohnes völlig abwegig zu

sein. Was will hier der Gedanke an Lohn, wo vorher doch alles Denken an

den lohnenden Beifall der Menschen schärfstens abgelehnt war? Schleicht

sich hier nicht doch der jüdische Verdienstgebanke wieder ein? Führt Jesus

hier nicht selbst jene Beweggründe wieder an, die er eben erst als Gott und der Botschaft von der reinen Liebe widersprechend verurteilt hatte?

Auf solche Fragen und Sorgen ernster Christen (und entsprechende Vor­ würfe und Anwürfe gegenchristlicher Stimmen) muß folgendes klargestellt

werben: 1. Gewiß spricht Jesus hier von Vergeltung und damit von Lohn (vgl.

auch Vers 1: „Sie haben ihren Lohn dahin"). Aber es ist der Lohn Gottes, des himmlischen Vaters, der — wie schon in den Seligpreisungen — denen,

die seinen Willen tun, die Herrlichkeit seines Reiches verheißt; der sich vor­

behält, beim Jüngsten Gericht, wenn die Menschen Rechenschaft ablegen müssen von ihrem Geliebthaben und Nichtgeliebthaben (Matth. 25,31—46!),

Lohn und Strafe zu verteilen nach seinem heiligen Willen. (3m Blick auf

58

Almosengeben

das Jüngste Gericht ist möglicherweise der in einigen späten Handschriften eingedrungene Zusatz „öffentlich" zu verstehen; anderenfalls wäre er eine stark veräußerlichende Verkennung deS Grundgedankens Jesu). Dieser Lohn

(und diese Strafe) sind das königliche Vorrecht deS ewigen und allmächtigen Gottes — wer wollte dawider hadern oder gar wagen, Gott deswegen Vor­

würfe zu machen? Gottes ewige Güte ist hoch erhaben über solch kleinlichen,

gehässigen ober eifersüchtigen menschlichen Nörgeleien, wie JesuS im Schluß­ teil des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Luk. 15,25—32) und in dem drastischen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matth. 20,1—15)

ein für allemal klargelegt hat. 2. Die beiden zuletzt genannten Gleichnisse machen deutlich, daß „Lohn"

und „Vergeltung" Gottes etwas völlig anderes, ja Entgegengesetztes ist als jeder irdische „Lohn" und jedes irdische „Entgelt". Gottes „Lohn" ist gerade nicht „Verdienst", sondern er ist „Belohnung", d. h. Geschenk und

reine Gnade. Kein Mensch kann solche „Belohnung" beanspruchen, kein

einziger. „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet:

Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur getan, was wir zu tun

schuldig waren" (Luk. 17,10). So hat Jesus gesprochen, und eS ist nur ein

Jammer und eine unverzeihliche Versäumnis, daß dieses Kernwort seiner Verkündigung so wenig bekannt und unseren Gemeinden so wenig geläufig

ist. Auch an daS Gleichnis von den anverttauten Pfunden muß in diesem Zusammenhang erinnert werden (Matth. 25,14—30; vgl. Luk. 19,12—27), denn gerade dort wird deutlich, baß nicht der Gedanke an irgendwelche Be­

lohnung — die nach dem freien Willen des Herrn erfolgt! —, sondern der Gedanke der unbedingten Verpflichtung vor Gott und für Gott die

Haupssache ist. Paulus hat dies alles in seiner Weise in Röm. 3,23f. zum Ausdruck gebracht, und Luther hat in seiner Rechtfertigungslehre diese

Glaubenswahrheit zum Herzstück protestantischer Frömmigkeit erhoben. Wo

aber sind die Protestanten, die darum wissen und deshalb auch Worte wie

Matth. 6,4 richtig verstehen? 3. Somit ist klar: Wenn Jesus von „Lohn" oder „Vergeltung" durch Gott spricht, so meint er bas Gegenteil dessen, was zu seiner Zeit die Juden dachten

und waS Heutigentages so viel jüdisch denkende Christen und Nichtchristen

ihm oder unS Christen unterschieben wollen. Nach Jesus ist GotteS „Lohn" das freie Geschenk des himmlischen Vaters, seine selige Verheißung für die, die seine Söhne und Töchter sind. Wer wollte es einem irdischen Vater oder einer irdischen Mutter verwehren, ihren Kindern gelegentlich auS dem Über­

schwang ihrer Liebe eine „Belohnung" zu schenken? Um wieviel mehr steht es aber Gott zu, aus dem Überfluß seiner ewigen Güte diejenigen zu beschen-

Almosengeben

59

ken, die er beschenken will, zumal er ohnehin seine Barmherzigkeit ausschüttet über jedermann Tag für Tag (Matth. 5,45; s. o. S. 43 ff.)! Nur rechnen darf man mit diesem Lohn nicht; und nimmermehr wegen solchen Lohnes

Gottes Willen tun! Vielmehr steht auch hier das unvergängliche Bekenntnis Luthers aus der Erklärung zum ersten Artikel: „ohne all mein Verdienst

und Würdigkeit", und daneben die bemütig-jubilierende Mahnung des I. Johannesbriefs 4,19: „Lasset uns Ihn lieben, denn Er hat uns zuerst

geliebt." Der Gedanke an den durch Christus verheißenen „Lohn" kann nur beschämen und in grenzenlose, weil unverdiente Freude versetzen; aber diese Freude kann uns Christen keiner nehmen, denn sie ist die Freude derer, die sich als Kinder ihres Vaters im Himmel wissen dürfen *).

Wir dienen, Herr, um keinen Lohn, es wär' uns selbst zu Schaden.

Doch stehen wir um Deinen Thron im Abglanz Deiner Gnaden.

(Rudolf Alexander Schröder) *) Luther hat der Frage der Verdienstlichkeit der in der Bergpredigt geforderten guten

Werke und beö von Christus mehrmals verheißenen Lohnes eine längere Sonderbetrachtung am Ende seiner Predigten über Matth. 5—7 gewidmet (WA. 32, S. 535—544). Aus seinen etwas anders pointierten Ausführungen fei hier folgende charakteristische Probe wiedergegeben: „Was sagst du aber, daß so viel Sprüche sind von dem Lohn und Verdienst? Dazu sagen wir jetzt also für die Einfältigen, baß eS eitel Tröstungen sind für die Christen...

Denn wo wir den Trost nicht hätten, so könnten wir nicht ertragen solch Jammer, Verfolgung und Elend, baß wir so viel Gutes tun sollten und unserLehren und Predigen mit eitel Undank und Schmach bezahlen lassen, und müßten aufs Letzte von solchen Werken und Leiden, so uns unter Augen stoßen, ablassen. Aber Gott will uns dagegen erwecken und feste machen durch solch schöne Verheißung, baß wir nicht Undank, Haß, Neid und Verachtung der Welt ansehen, sondern Ihn ansehen, der da spricht: Ich bin dein Gott. Will dir die Welt nicht banken und nimmt dir Ehr, Gut,

Leib und Leben drüber, so halte dich an mich uno tröste dich des, daß ich noch einen Himmel habe und so viel drinnen, daß ich dir'S wohl vergelten kann und zehn mal mehr, denn man

dir jetzt nehmen kann..., daß du das Himmelreich offenbarlich hast und Christum, den du jetzt im Glauben hast, stchtiglich anschauest, in ewiger Herrlichkeit und Freude, so viel mehr du jetzt leibest und arbeitest.

Siehe, wenn man die Sprüche dahin richtet, so sind sie recht geführt, daß sie nicht aufs Ver­ trauen (auf) unser Werk wider den Glauben, sondern auf den Trost der Christen und Gläubigen

gehen.... Damit lehret er mich nicht den Grund meiner Seligkeit bauen, sondern gibt mir eine Verheißung, waö ich für Trost haben soll in meinem Leiben und christlichen Leben. Da mußt du mir nicht ein Gemenge machen und die zwei untereinander bräuen noch mein Verdienst machen aus dem, das mir Gott gibt in Christo durch die Taufe und Evangelium... Denn eS ist ja not, daß ein jeglicher ein wenig einen Unterschied wisse unter der (— zwischen) Gnade

und Verdienst" (a.a.O. 540—543 und 536 i.A.).

60

Almoseng«b«n

Außerordentlich aufschlußreich ist es zu sehen, wie der Dichter deS Heliand dies Problem des „Lohnes" in seiner Übertragung unserer Stelle meistert. Er hebt als Beweggrund des Gebens die Liebe zu Gott und zu den Armen

hervor, weist darauf hin, daß aller Besitz von Gott nur „geliehen" sei, be­ kämpft jedes Rechnen auf WiedervergelMng durch die Menschen, stellt Gottes „Lohn" in dessen freie Gnade und beschließt den ganzen Abschnitt

mst dem Gedanken aus Matth. 6,33: „Trachtet allein nach dem Reiche

GotteS!" Die betreffenden Verse 1541—1556 lautenx): Ehret die Armen,

den Überfluß teilt und fragt nicht, ob ihr Sank

dem dürftigen Volk erlangt oder Lohn überlaßt es lediglich

in dieser geliehenen Welt, euerm lieben Herrn,

baß Gott euch lohne,

die Gaben zu vergelten,

was aus Minne geschieht zu ihm.

der mächtige Mundherr,

Gäbest du gerne nur

guten Männern,

köstliche Kleinode, wieder erwerben,

wo du Nutzen könntest würdest du da Verdienst vor Gott

oder Lohn erlangen,

der dir alles lieh?

So ist es mit allem,

was du andern tust

zuliebe, den Leuten,

für Worte und Werke.

wenn du Gleiches zu Lohn willst

Wie wüßt es der Waltende Dank,

wenn du das Deine nur hingibst, Den Leuten leiht das Gut,

und ringet allein

es wieder zu heischen?

die es nicht lohnen hienieben.

nach des Waltenden Reiche!

Auch im Unterricht muß man — zumal heutigentags — auf diesen

ganzen Fragekreis eingehen, muß die Umbiegung des „Lohn"-GebankenS

bei Jesus aufzeigen und im übrigen das sachliche Anliegen der Verse 2—4 klar Herausstellen. Die Anwendung auf unser eigenes Leben ist dann denk­ bar leicht: Jesus hat ja auch uns ins Herze geschaut und ins Herz getroffen. Wir wissen, was in uns und um unS her an solch „jüdischem" Almosen­

geben, wie es in Vers 2 an den Pranger gestellt wird, noch vorhanden ist, sei es beim Geben der Gaben in der Kirche, sei es beim Einzeichnen in irgend­

welche Listen, sei eS beim Spenden bei öffentlichen Sammlungen oder wo sonst. Wie viel wird auch hier gegeben, „um von den Leuten gesehen zu werden"! O ja, die Pharisäer sterben nicht aus, auch unter „Christen" nicht,

aber ebensowenig unter Nichtchristen und Widerchristen! Und in irgendeiner *) Dgl. o. Anm. 1 zu S. 6.

Beten

61

Ecke unseres eigenen Herzens entdecken wir selbst mit Beschämung immer wie­

der den Pharisäer, der, wenn die Einzeichnungsliste uns vorgelegt wird, zu­

erst hinschaut, was die anderen gezeichnet haben, und dann daran denkt, wieviel man geben müsse, damit die Leute nicht abfällig über einen sprechen usw., und vielleicht erst zuletzt oder gar nicht von dem Elend bewegt wird,

dem durch die Sammlung gesteuert werden soll. Am Opferstock der Kirchen­ tür mag das gewiß weniger der Fall sein, und im Angesicht wirklicher Not

öffnen sich von selbst vieler Hände. Aber Jesus warnt, weil er uns Menschen

kennt, trotzdem vor jedem Seitenblick auf andere und warnt ebenso vor jeder eitlen Selbstzufriedenheit. Er möchte, baß wir auch unsere Jugend auf­

rufen und ihr durch ganz praktische Anregungen und Beispiele helfen, ihre Almosen „im Verborgenen" zu geben (D. 4), weil nur so der Wille beö Vaters geschieht und weil nur so auch die köstlichste Freude des geheimen Helfen­

dürfens erfahren wird. Heil denen, die solch stille Helfer sind! Sie wissen

von dem Glück, namenlos glücklich machen zu dürfen! Und solch fröhliche Geber hat Gott lieb (II. Kor. 9,7). „Das ist nichts anders gesagt, denn wie Sankt Paulus pflegt zu reden Röm. 12,8 und sonst: ,Wer da gibt, der gebe einfältiglich! Übt jemand

Barmherzigkeit, so tue er's mit Lust!' Einfältiglich aber geben heißt, baß er

nicht seine Ehre, Gunst, Dank oder Lohn damit suche und sehe auf keinen Menschen, er sei undankbar oder nicht, sondern frei bahingegeben, was er

geben will, gleichwie Gott täglich gibt und seine Sonne lässet scheinen, un­ geachtet Dankbare ober Undankbare, gleich als sehe er niemand. Das heißet

ein einfältigs Herz und Meinung, die nichts anderes suchet noch begehret, sondern allein Gottes Willen und Ehre ansiehet" (Luther, WA. 32, S. 410f.).

2. Vom Beten Matth. 6, 5—8: Und wenn ihr betet, so seid nicht wie die Heuch­ ler; denn die lieben es, in den Synagogen und an den Straßenecken herumzustehen und zu beten, um ja von den Leuten gesehen zu werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. Du aber, wenn du betest, gehe in deine Kammer und schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Ver­ borgene sieht, wird dir's vergelten söffentlichj. Wenn ihr aber betet, so plappert nicht wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie nur recht viel Worte machen. Gleicht ihnen ja nicht! Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, schon ehe ihr ihn bittet. Als zweites Beispiel für die Erfüllung der besseren Gerechtigkeit I im

Verhalten vor Gott wählt Jesus das Herzstück jeder Frömmigkeit, daS

62

Beten

Gebet*). Und auch hier muß er, wie beim Almosengeben, auf eine schändliche

Unsitte seiner Zeit (und eine entsprechende Gefahr aller Zeiten) Hinweisen: auf die Schaustellung (man möchte beinahe sagen: die Prostituierung) des Beten­

den. Gab es doch unter den Juden Leute, die das Gebet in der Synagoge und das pflichtmäßige Morgen- und Nachmittagsgebet — das überall, wo man

gerade war, also auch auf der Straße, zur üblichen Gebetszeit gesprochen wer­

den durste — dazu benutzten, um sich in ihrer „Frömmigkeit" vor den Leuten zu zeigen (vgl. auch hier Matth. 23,5: „Alle ihre Werke aber tun sie, um von

den Leuten gesehen zu werben. Denn sie machen ihre Gebetsriemen*2) be­ sonders breit und ihre Quasten3) besonders groß"). Jesus reißt das Gebet aus solcher schamlosen Entweihung zurück in die

Stille des Kämmerleins, dorthin, wohin es allein gehört: vor Gott und nicht vor die Menschen. Denn Beten heißt: mit Gott reden, und wenn nur ein

Gedanke dabei nicht an Gott, sondern an irgend etwas anderes denkt, ist

es schon kein Gebet mehr, ist es eine Beleidigung Gottes, eine Versündigung wider den' Allmächtigen. An Gott denken und nur an Gott, mit Gott sprechen

und nur mit Gott — das

beten. Wer mit seinen Gedanken noch wo

anders ist, wer womöglich noch an die umstehenden Menschen und ihre Meinung denkt, betet noch gar nicht, sondern denkt eben

— an die

Menschen und nicht, wie er sollte, an den ewigen, allmächtigen, heiligen Gott. Das ist das erste, was Jesus uns hier wieder ins Gewissen schiebt, damit wir

wahre Beter werden und nicht „Juden" und „Heuchler" bleiben und Gott *) „Nach Almosengeben ober dem Nächsten Wohltun gehöret auch bieö Werk zu einem Christen, baß er bete. Denn gleichwie bie Notdurft dieses Lebens fordert, baß wir dem Nächsten

Gutes tun und uns seiner Not annehmen — denn darum leben wir auf Erben beieinander, daß einer dem andern biene und helfe —, also weil wir täglich in allerlei Fahr und Not in

diesem Leben stecken, die wir nicht umgehen noch wenden können, so müssen wir auch immerbar zu Gott rufen und Hilfe suchen beide, für uns und jedermann" (Luther, WA. 32, S. 413). 2) Nach V. Mose 6,8 und 11,8 pflegte jeder männliche Jude beim Morgengebet die

„Gebetsriemen" anzulegen. Das waren kleine, würfelförmige Kapseln, die auf Pergament­ röllchen den hebräischen Text von II. Mose 13,1—10.11—16 und V. Mose 6,4—9; 11,13—21

enthielten und mit Riemen um den linken Oberarm und aus der Mitte der Stirn befestigt

wurden (in buchstäblicher Befolgung von II. Mos. 13,16, V. Mose 6,8 und 11,18). Luther übersetzte „Denkzettel". 3) Die „Quasten" trug jeder Jude nach IV. Mose 15,38f. und V. Mose 22,12 an den vier

Ecken seines Obergewandes. Sie sollten nach IV. Mose 15,39 „dazu bienen, bei ihrem Anblick aller Gebote des Herrn zu gedenken, um nach ihnen zu handeln und nicht von ihm abzufallen nach den Gelüsten eures Herzens und eurer Augen, durch die ihr euch zur Untreue verführen

laßt", — und gerade sie wurden, wie Jesus in Matth. 23, 5 feststellt, dazu benutzt, um

nicht an Gott, sondern an die Leute zu denken und vor ihnen als besonders fromm zu

erscheinen.

Beten

63

lästern, weil „unsere Lippen ihn zwar nennen, unser Herz aber ferne von ihm" ist (Jesaja 29,13; vgl. Matth. 15,8). Mer auch keine „Heiden" sollen wir sein, indem wir meinen, möglichst lange Gebete möglichst oft herunterbeten zu müssen — als wenn die Zahl

der Worte und Gebete daS Ensscheidende wäre und nicht vielmehr das Schreien des Herzens zu Gott und die Richtung alles Denkens auf ihn.

Gott weiß, was wir brauchen, schon bevor wir ihn bitten! Und das „unaus­ gesprochene Seufzen" des Herzens (Röm. 8,26f.) ist vor ihm ein besseres Gebet als das gedankenlose Wiederholen langer Gebetsformeln, hinter denen nicht daS Leben und der Ernst des Beters steht.

Das alles ist auch unterrichtlich der uns anvertrauten Jugend gut und leicht klarzumachen, und die Besinnung auf die von Jesus gemeinte Sache muß unmerklich zu einem Stück Gebetöerziehung werden, wenn wir zu rechten Dolmetschern des Textes geworden sind. Heute mag die Gefahr des DerseS5 zwar vielfach umgekehrt liegen wie zu Jesu Zeiten: Damals beteten die Pharisäer öffentlich, um gesehen zu werden; heute meiden eS viele, zum Gebet des Gottesdienstes zu kommen, weil sie nicht gesehen werden möchten. Hier wie dort aber gehen die Gedanken und die Blicke in falscher Richtung zu den Menschen und nicht zu Gott. Und auch im Gottes­ dienst, beim Stillgebet zu Anfang und zum Schluß: Nicht an die Leute denken! Nicht nur so tun, als ob man bete, weil es nun mal so Sitte ist, beim Kommen und vor dem Gehen in Gebetshaltung zu bleiben, sondern wirklich beten! An Gott denken, nicht an die Menschen! Und ebenso beim Gemeindegebet: Wirklich mitbeten! Nicht auf den Pfarrer blicken und erst recht nicht auf die übrigen Gemeindeglieder, sondern am besten die Augen schließen und die Worte leise mitsprechen und mitdenken und das Herz und die Sinne zu Gott erheben! Nur so ist es ein echtes Gebet und kein „Heucheln" und so tun, als ob. Dasselbe gilt in gleicher Weise vom gemeinsamen Gebet in der Konfirmandenstunde, in der Schulreligionsstunde, beim Tischgebet

und wo immer es sei. Das alles kann freilich nur Hand in Hand gehen und muß feinen Wurzel­ grund finden in der Gebetsschule im stillen „Kämmerlein". Ob jedes von unseren Kindern das zu Hause hat? Ober ob nicht die auch am Werktag offene Kirche hier einladen und helfen müßte? Mer daS „Kämmerlein", wo wir mit Gott allein sind, kann ebensogut bas dunkle Schlafzimmer fein, in dem wir mit den Geschwistern und Eltern zusammen schlafen (vgl. Psalm 63,7: „Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an Dich; wenn ich erwache, so rede ich von Dir"), wie eine Stätte draußen in Gottes weiter Natur (vgl. Jesu Beten in der Einsamkeit: Mark. 1,35; 6,46; 14,32ff.;

64

Beten

Luk. 5/16; 6,12; 9,18.28; 11,1) oder irgendwo in der Welt, in der Eisen­

bahn, im Gasthaus, auf der Reise, im Dienst, bei Tage, bei Nacht, ganz einerlei wo*): Wenn wir nur lernen, unS vor Gott zu wissen, an Gott

zu denken und zu Gott zu sprechen, dann ist es ein rechtes Beten, ein Beten „im Verborgenen", und unser Vater, „der im Verborgenen ist" (so einige

Handschriften) und „ins Verborgene sieht, wird dir'S vergelten", d. h. wird dich hören und erhören auf seine Weise (vgl. die Besprechung von Matth. 7,

7—11 unten auf S. 83 ff.). Diese ganz persönliche Behandlung unserer Verse ist bas Wichtigste,

nicht aber ein Aufzählen jüdischer oder buddhistischer oder heidnischer GebetSsitten und -Unsitten (Gebetsmühlen, Gebetstrommeln u. dgl.) bis hin zur Erwähnung des katholischen Rosenkranzes, wo zwischen 5 (bzw. 15) Vater­

unsern 50 (bzw. 150) Ave Marias reihum gebetet werden, ob mit Gebetsgedanken, ob ohne — das weiß Gottvater allein. Wir aber wollen an uns

denken und uns bemühen, recht beten zu lernen, d. h. im Gebet vor Gott möglichst kein Wort gedankenlos oder mit falschen, abschweifenden Gedanken

zu sprechen, dieweil wir wissen und betend bekennen: „Herr, Du erforschest

mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt Du es; Du ver­ stehest alle meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist Du um

mich und siehest alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, daS Du, Herr, nicht alles wissest.... Erforsche mich, Gott, und er­ fahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich's meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege" (Psalm 139,1—4. 23—24) 2). x) „Denn ein Christ ist an keine Stätte gebunden und mag wohl überall beten, es sei auf der Straße, im Feld ober in der Kirch«.... Also ist auch nicht als nötig geboten, baß man allezeit müsse in «in Kämmerlein gehen und sich verschließen, wiewohl eö fein ist, wenn einer

beten will, daß er allein sei, da er kann frei und ungehindert sein Gebet zu Gott ausschütten und Wott und Gebärde führen, das er vor Leuten nicht tun kann. Denn obwohl bas Gebet

kann im Herzen ohn« alle Worte und Gebärden geschehen, doch hilft es dazu, baß der Geist desto mehr erwecket und entzündet wirb. Sonst soll es im Herzen fast ohn« Unterlaß gehen. Denn ein Christ hat allezeit den Geist des Gebets bei sich, daß sein Herz in solchem steten

Seufzen und Bitten stehet zu Gott, ob er gleich isset, trinket, arbeitet usw. Denn sein ganzes Leben ist dahin gerichtet, baß er Gottes Namen, Ehr« und Reich ausbreite; das, was er sonst tut, muß alles unter dem gehen" (Luther, WA. 32, S. 414f.).

2) „Summa: kurz soll man beten, aber oft und stark. Denn er fragt nicht danach, wie groß und lang man betet, sondern wie gut es ist und wie es von Herzen gehet" (Luther, WA. 32,