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German Pages [436] Year 1990
VôR
ECKHARD RAU
Reden in Vollmacht Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 149. Heft der ganzen Reihe
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rau, Eckhard: Reden in Vollmacht : Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu / Eckhard Rau. Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1990 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments ; H. 149) ISBN 3-525-53831-6 NE: GT
Gedruckt mit Unterstützung der VELKD © 1990 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
Für Helga
Aschaffenburg und
Ruth
C. C o h n
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Frühjahr 1987 abgeschlossen und seither nur an wenigen Stellen durch Literaturhinweise ergänzt worden. Sie stellt eine Überarbeitung und wesentliche Erweiterung der Erstfassung dar, die vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Habilitationsschrift angenommen wurde. Ich danke meinem Lehrer Prof. Dr. Ulrich Wilckens, heute Bischof der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Er hat mich mit großer Geduld den eigenen Weg gehen lassen und mir die Zeit gegeben, die ich brauchte. Mein Dank gilt auch Heide Gerland für die Anfertigung des Stellenregisters, Axel Horstmann für die Hilfe bei den Korrekturen und Hilmar Uhlig und Prof.Dr.Dr. Siegbert Uhlig für die Erstellung der Druckvorlage. Ich widme dieses Buch zwei jüdischen Frauen, die die Emigration nicht daran gehindert hat, der alten, für immer verlorenen Heimat ihre Schmerzen, ihre Liebe und Kraft zur Verfügung zu stellen. Liebe Helga, liebe Ruth, ich danke Euch für Eure Präsenz, und ich hoffe, daß diese Arbeit ein wenig zum Abbau des meist unbewußten Antijudaismus beiträgt, der mein Fach noch immer begleitet. Das Unbedingte bedarf, um zu leuchten, keiner dunklen Folie, zu der der jüdische Hintergrund des Neuen Testaments oft gemacht wird.
Inhalt Vorwort
7
Einleitung
11 Teil I Grundlegung Jesu Kunst der Rede vom Gott Israels
1. Bildhälfte und Sachhälfte
18
2. Erzählung und Besprechung
26
3. Hörerperspektive und Sprecherperspektive
35
4. Bene dicendi scientia
44
5. Lob der Metapher
53
6. Brevitas et luciditas
73
7. Credibilitas et movere adfectus
87
8. Die Reich-Gottes-Gleichnisse in Mk und Q
107
a) Die Fragestellung
107
b) Die Ereignis- und Handlungsfolge
111
c) Theologische Traditionen und situativer Kontext
135
d) Das Kontextmerkmal
154
e) Zum Verhältnis zu anderen Gleichnissen
163
9. Zwei Gleichnisse über Gottes Verhältnis zu Sündern
172
a) Von einem Mann, den sein Sohn um Brot und Fisch bittet. Matthäus 7, 9-11 par b) Von einem Mann, der zwei Söhne hatte. Lukas 15, 11-32
172 182
Inhalt
10
Teil II Es
gibt
Parallelen!
Lukas 15, 11-32 als Beispiel 1. Die These
216
2. Zwei Papyri, eine Fabel und ein Traumbericht
244
3. Deklamationsthemen von einem Mann, der zwei Söhne hatte
252
4. Das Paradigma von einem Vater mit zwei Söhnen bei Philo von Alexandrien
271
5. Rabbinische Gleichnisse von einem König, der zwei Söhne hatte
301
6. Rabbinische Gleichnisse von einem Vater und einem frevlerischen Sohn
328
7. Das Gleichnis von einem Vater und einem frevlerischen Sohn in der Sedrachapokalypse
375
Zusammenfassung und Ausblick
395
Verzeichnis der Parallelen zu Lukas 15, 11-32
408
Abkürzungen
409
Literaturverzeichnis
410
Stellenregister
424
Einleitung
Wer sich gegenwärtig zu Problemen der Gleichnisinterpretation äußert, begibt sich auf ein Terrain, das in Bewegung geraten ist. Lange Zeit konnte es so scheinen, als seien die Grundlagen der Forschung relativ geklärt. Autoren wie Adolf Jülicher, Rudolf Bültmann und Joachim Jeremias hatten, zumindest für den deutschen Sprachraum, den Rahmen abgesteckt, in dem sich die Exegese bewegte. Zwar wurden immer wieder Stimmen laut, die diesen Rahmen als zu eng empfanden. Die einen wollten der Allegorie mehr Recht einräumen, als Jülicher ihr zugesteht. Die anderen kritisierten, daß Jeremias die Rekonstruktion des ersten historischen Ortes zur Bedingung für die Erkenntnis des Sinns der Gleichnisse macht. Und es wurden Arbeiten wie die von Eberhard Jüngel veröffentlicht, die neue Akzente setzten. Das alles aber vermochte nicht den Eindruck eines im ganzen organischen Forschungsprozesses zu relativieren. Dieser Eindruck ist seit einiger Zeit nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es ist eine Fülle von Aufsätzen und Monographien erschienen, die die Tragfähigkeit bisheriger Positionen in Frage stellen. Und ein Ende der Diskussion ist ebensowenig abzusehen, wie sich eine Theorie abzeichnet, die der Forschung einen neuen Rahmen zu geben vermag, auch wenn es inzwischen eine ganze Reihe von Autoren gibt, die alle die These vertreten, das Gleichnis sei von der Metapher abzuleiten. Was seit Jülicher als Keimzelle des absoluten Gegensatzes zum Gleichnis galt, wird plötzlich zur Definition seines Wesens herangezogen! Nichts vermag die Aufbruchsstimmung, die gegenwärtig herrscht, besser zu illustrieren als diese erstaunliche Aufwertung der Metapher. So offen die Diskussion bis heute ist, so wenig kann bezweifelt werden, daß sie trotz aller Kontroversen der gemeinsamen Bereitschaft zur Aneignung sprach- und literaturwissenschaftlicher Theorien zu verdanken ist, für die insbesondere die Arbeiten von Erhardt Güttgemanns und Dan Otto Via das unbestreitbare Verdienst der Initialzündung haben. Der Blick des Exegeten über die Grenzen des eigenen Faches hinaus ist um so verständlicher, als die Gleichnisse der synoptischen Überlieferung eine relativ leicht isolierbare Gruppe von Texten sind, die eine größere Anzahl profilierter literarischer Merkmale besitzt, deren Deutung spätestens seit Jülicher eine schwierige, aber auch als besonders reizvoll empfundene methodologische Reflexion erforderlich macht. Jeder, der dazu bereit ist,
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Einleitung
findet hier ein ideales Experimentierfeld vor für die Erprobung neuer Konzepte, und aus heutiger Sicht kann nur erstaunen, wie lange die Forschung bei Rudolf Bultmanns Rezeption der von Axel Olrik beschriebenen "Gesetze der Volksdichtung" (1909!) stehengeblieben ist. Damit ist der Kontext bezeichnet, dem auch die eigene Arbeit verpflichtet ist. Sie versteht sich über weite Strecken als Auseinandersetzung mit Adolf Jülicher, dessen Position mehr Recht hat, als mancher seiner heutigen Kritiker wahrhaben will. Das betrifft zunächst seine Auffassung, daß die Gleichnisexegese einer sorgfältigen Grundlegung bedarf. Das betrifft sodann die Gesichtspunkte, die er dafür geltend macht. Und das betrifft nicht zuletzt eine große Fülle von Einzelheiten, die in seinem epochalen Werk nach wie vor verborgen sind. Es erweist sich für den, der sucht, immer wieder als eine Fundgrube, deren Schätze noch lange nicht gehoben sind. Auf Jülicher kann sich freilich nur berufen, wer sich zugleich auf die Fragestellungen einläßt, die nach Jülicher in den Vordergrund getreten sind. Sie werden heute in erster Linie von den Erkenntnissen der Sprachund Literaturwissenschaft diktiert, deren Relevanz für die Gleichnisforschung schwerlich prinzipiell geleugnet werden kann. Ebensowenig soll allerdings geleugnet werden, daß ich der Tendenz zur Formalisierung literarischer Gesetze genauso zurückhaltend gegenüberstehe wie dem Trend zu ihrer hermeneutischen und sprachphilosophischen Überfrachtung. Beidem versuche ich dadurch zu entgehen, daß ich die antike Rhetorik zum Rahmen wähle, in den einige Aspekte der Textpragmatik, der Rezeptionsästhetikund der Erzählforschung integriert werden. Eine solche Kombination scheint mir in der gegenwärtigen Situation jedenfalls am ehesten die Kategorien bereitstellen zu können, die für die Deutung der Merkmale, die das Gleichnis auszeichnen, erforderlich sind. Dazu sei an dieser Stelle nur zweierlei gesagt. Beginnen möchte ich mit einer ersten Annäherung an die Frage, was ein Gleichnis ist. Anschließend sollen die Bedenken zu Wort kommen, die einer Berücksichtigung der Rhetorik im Wege stehen. Ein Gleichnis zeichnet sich nach fast allgemeiner Überzeugung durch einen intensiven Kontakt zur Welt des Hörers aus. Seine Merkmale werden deshalb erst verständlich, wenn man beachtet, daß sie auf einen Kommunikationsprozeß sehr spezifischer Art bezogen sind: Ein Sprecher
Einleitung
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will einen Hörer dadurch für die eigene Sicht einer "Sache" gewinnen, daß er ihn in eine Realität entführt, deren Gesetzen sich auch sein Gegenüber nicht entziehen kann. Das Gleichnis hat dementsprechend immer eine pragmatische Dimension und einen klaren, wenn auch nur hypothetisch rekonstruierbaren Situationsbezug. Man wird der insbesondere von Joachim Jeremias repräsentierten Auslegungstradition heute zwar vorhalten müssen, daß sie das Maß an Autonomie, die das Gleichnis hat, erheblich unterschätzt. Doch scheint es mir außerordentlich problematisch zu sein, das Interesse an zeitlosen Strukturen, am Sprachgeschehen oder an der menschlichen Existenz mit der Relativierung oder gar Preisgabe des historischen Ortes erkaufen zu wollen. Zu entwickeln ist vielmehr eine Position, die die Suche nach der Wahrheit des Gleichnisses mit seiner konsequenten Historisierung verbindet. Diese Historisierung verlangt mit Jeremias zunächst nach einer Hypothese über die "Situation", in der ein Gleichnis gesprochen worden ist. Sie macht es, woran seit langem gearbeitet wird, darüber hinaus erforderlich, das Gleichnis auf dem Hintergrund der dem Sprecher und Hörer vertrauten zeitgenössischen Traditionen zu verstehen. Und sie läßt es schließlich als besonders dringlich erscheinen, daß endlich die bis vor kurzem fast völlig ausgeklammerte Frage gestellt wird, inwiefern es zur Form der Gleichnisrede Parallelen gibt. Erst wenn man es nicht mehr nötig hat, die ästhetische Schönheit, die sprachliche Originalität und die theologische Bedeutung des Gleichnisses gegen seine Verwurzelung in der jüdischen Welt Palästinas im 1. Jahrhundert auszuspielen, erst dann wird es auch gelingen, das Gleichnis als eine Logienform zu verstehen, deren sich Jesus mit Vorliebe bedient hat, um seinem Hörer zentrale Anliegen seiner Verkündigung, seines Verhaltens und seiner Person zu erschließen. Das jedenfalls ist das Ziel, das mir selber vor Augen schwebt. Wer dieses Ziel auch mit Mitteln der neueren Sprach- und Literaturwissenschaft zu erreichen versucht, dessen Aufmerksamkeit wird fast wie von selbst auf die antike Rhetorik gelenkt. Denn die Renaissance der "bene dicendi scientia" verdankt sich nicht zuletzt ihrer kommunikationstheoretischen und pragmatischen Orientierung. In letzter Zeit ist mehrfach auf die Bedeutung aufmerksam gemacht worden, die die Rhetorik für die neutestamentliche Exegese hat. Sie bietet
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Einleitung
gegenüber einem Instrumentarium, das den neuzeitlichen Wissenschaften entstammt, mehrere Vorteile. So ist zunächst zu beachten, daß ihre Lehrbücher außerordentlich stark mit Erfahrung gesättigt sind. Sie sind aus der Praxis für die Praxis geschrieben und wollen bei der Anfertigung guter Reden behilflich sein. Darüber hinaus verdient Interesse, daß die Rhetorik zum geographischen und historischen Umfeld des Gegenstandes gehört, der untersucht werden soll. Sie zeigt die Beobachtungen und Kategorien, die bereits in der Antike zur Erklärung sprachlicher und literarischer Phänomene herangezogen werden konnten. Und schließlich öffnet sie die Augen für die Gesichtspunkte, die ich einem mehr indirekt als direkt anwesenden Gesprächspartner verdanke: der Psychologie. Denn die rhetorische Konzentration auf den Hörer hat, wie mehrfach betont worden ist1, zu einer ungewöhnlichen psychologischen Sensibilisierung geführt. Von dort zur Praxis und Theorie gegenwärtiger Tiefenpsychologie zu kommen, ist zwar ein weiter Weg. Doch kann der Abstand nicht die Einsicht relativieren, daß schon in der Antike ein Wissen darüber möglich war, wie stark die Rede auf die Struktur und die Gesetze der Seele bezogen ist. Für das Gleichnis jedenfalls ist diese Bezogenheit von großer Bedeutung. Wer sich für die Erklärung der Gleichnisse auf die Rhetorik beruft, muß sich freilich dem apodiktischen Votum von Joachim Jeremias stellen: "Es heißt den Gleichnissen Jesu ein sachfremdes Gesetz aufzwingen, wenn man sie in die Kategorien der griechischen Rhetorik preßt."2 Dieses Votum faßt die seit Paul Fiebig übliche Kritik an Jülicher zusammen.3 Es scheint um so begründeter zu sein, als Eberhard Jüngel nachgewiesen hat, wie eng die Probleme von Jülichers Gleichnistheorie mit seiner Rezeption der Aristotelischen Rhetorik zusammenhängen. Denn "mit der Rhetorik des Aristoteles ist auch dessen Logik, mit seiner Logik aber eine ganze Ontologie zur Stelle..., die diese Logik durch und durch bestimmt".4 Und
1 Vgl. E. Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, 21900,347f u.ö.; E. Norden, Die antike Kunstprosa. Vom VI. Jahrhundert v.Chr. bis in die Zeit der Renaissance, I-II, 7 1974 (= 3 1915/1918), hier I, 243ff; H. Rahn, Morphologie der antiken Literatur. Eine Einführung, 1969, 95f. 2
Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 7 1965,16, unter Berufung auf J. Wellhausen.
3
Zu Fiebig s.u.S. 20.
4
Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, HUTh 2,1962, 95f.
Einleitung
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so kann Hans Weder bereits im Vorwort seines Gleichnisbuches dekretieren, Voraussetzung für die Lektüre der Gleichnisse sei, der Leser "lasse sich davon abbringen", sie "ausschließlich im Rahmen der antiken Rhetorik zu verstehen".1 Was heißt hier "ausschließlich"? Weder meint: Die Gleichnisse dürfen überhaupt nicht mit der Rhetorik in Zusammenhang gebracht werden. Dagegen ist zunächst einzuwenden, daß Jülicher erneut nicht abgenommen wird, was er zur heuristischen Funktion seiner Anlehnung an Aristoteles ausführt. Jülicher betont mit großem Nachdruck, er wolle seine Gleichnistheorie "mit möglichstem Verzicht auf den Gebrauch rhetorischer termini technici"2, aber auch "ohne Rücksichtnahme auf moderne Begriffsbestimmungen"3 zu begründen versuchen. Denn Klarheit werde "sich hier nur schaffen lassen, wenn man... aus dem vorliegenden Material die Begriffe sich erst beschafftund nur die Grundlagen des antiken Sprachgebrauchs dabei fest im Auge behält".4
Wer solche Sätze beachtet, wird seiner Kritik in dem Maße die Schärfe nehmen, wie er sich über die Herkunft der eigenen Kategorien Rechenschaft ablegt. Er wird dabei in dezidiertem Gegensatz zu Weder sogar zu einer neuen Würdigung der Rhetorik kommen können, wenn er ernst nimmt, was Gerhard Sellin gegen Fiebig eingewandt hat: Die Rhetorik und nicht nur, wie Sellin meint, die philosophische Rhetorik - war der Versuch, "menschliche Rede überhaupt begrifflich zu erfassen. Dem, der spricht (oder - im Sinne der literarischen Rhetorik - schreibt), brauchen die Gesetze, die er anwendet, nicht bewußt zu sein".5 Es ist deshalb gar nicht so erstaunlich, daß selbst Weders Buch dokumentiert, wie sehr derjenige, der sich auf die Gleichnisse konzentriert, mit Problemen konfrontiert wird, die die Rhetorik in aller Breite erörtert hat. Die Frage ist nur, ob der Exeget davon weiß und sich durch das Wissen die Augen für bisher vernachlässigte Zusammenhänge öffnen läßt. Dabei ist der Kritik von Fiebig über Jeremias und Jüngel zu Weder freilich insofern recht zu geben, 1
Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, FRLANT 120,1978, 5. Vgl. ebd. 14 Anm. 28. 2
Jülicher, die Gleichnisreden Jesu, I-II, Nachdr. (der Ausg. von 1910) 1969, hier I, 49.
3
Ebd. 1,50.
4
Ebd.
5
Sellin, Allegorie und "Gleichnis". Zur Formenlehre der synoptischen Gleichnisse, in: ZThK 75,1978, 281-335, hier 283.
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Einleitung
als die Orientierung an den definitorischen Bestimmungen nicht nur des Aristoteles, sondern der ganzen Rhetorik leicht in eine falsche Richtung führt. Die Alternative ist jedoch nicht die Abkehr von der Rhetorik, sondern die Hinwendung zum Gesamtspektrum ihrer Realität. Was Aristoteles betrifft, der bisher fast der einzige Gesprächspartner war, so ist zu beachten, daß er die Rhetorik philosophisch zu begründen und dadurch zu verändern versucht. Er ist der erste, der eine Brücke über den Graben schlägt, der Rhetorik und Philosophie von der ersten Sophistik bis in die spätrömische Zeit getrennt hat 1 Auch dort, wo, wie insbesondere später - etwa bei Cicero 2 - eine Versöhnung angestrebt wird, kann das Spezifikum der Rhetorik nicht von ihrer philosophischen Komponente aus verstanden werden. Und m.E. sind für die heutige Rezeption auch nicht die abgrenzenden Definitionen entscheidend, die der Rhetorik nicht erst durch die Philosophie aufgenötigt wurden. Ausschlaggebend dürfte vielmehr sein, ob es gelingt, die Abgrenzungen an ihr gemeinsames Ziel zurückzubinden: Die vielfältigen Phänomene rednerischer Erfahrung so zu ordnen und zueinander in Beziehung zu setzen, daß eine brauchbare Anleitung zur Ausarbeitung guter Reden entsteht.
Obwohl ich die rhetorische Theorie als ganze im Auge habe, berufe ich mich fast ausschließlich auf M.F. Quintilians "Institutio"? Eine solche Beschränkung ist möglich, weil Quintilians primäre Bedeutung darin besteht, daß er die Kenntnisse zusammenfaßt, die die Rhetorik von der ersten Sophistik bis zum Ende des ersten Jahrhunderts erworben hatte. Sein breit angelegtes und wahrscheinlich 95 n.Chr. erschienenes Handbuch4 spiegelt insofern wider, was für die römische Rhetorik im ganzen gilt: Sie ist bis in die Einzelheiten ein legitimer Erbe der griechischen und insbesondere der hellenistischen Rhetorik.5 Das kann hinsichtlich der Ausführungen, die ich heranziehe, durch die Benutzung der systematisch orientierten Darstellung, die JosefMartin gibt, ebenso kontrolliert werden
1 Vgl. H. I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, dtv WR 4275, 1977, bes. 105-181; speziell zu Aristoteles: W. Kroll, Art Rhetorik, in: RECA Suppl VII, 1940,1039-1138, hier 1057-1065. 2
Vgl. M. L. Clarke, Die Rhetorik bei den Römern. Ein historischer Abriß, 1968, 70-112. Ich benutze in Zitat und Übersetzung: MFabius Quintiiianus, Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Hrsg. und übersetzt von H. Rahn, I-II, Texte zur Forschung 2-3,1972/1975. 3
4
Vgl. Rahn, Nachwort, Ebd. II, 807 Anm. 5, wo sich eine knappe Zusammenfassung der erreichbaren Lebensdaten findet. 5
Vgl. Clarke, aaO. 9ff. 142ff; Marrou, aaO. 445ff. 521ff.
Einleitung
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wie durch einen Blick in den historischen Abriß, den wir Wilhelm Kroll verdanken.1 Die kurze Charakterisierung Quintilians ist für die methodologische Besinnung nur von untergeordneter Bedeutung. Denn hier benutze ich die Rhetorik weniger zur historischen als vielmehr zur systematischen Klärung dessen, was ein Gleichnis ist. Doch kehrt sich das Verhältnis in dem Moment um, wo einzelne Gleichnisse mit rhetorischen Texten verglichen werden. Denn dann stellt sich die Frage der historischen Vermittlung, und die Hypothese, daß die hellenistisch-römische Rhetorik über den Einfluß auf den jüdischen Schulbetrieb indirekt auch Einfluß auf den Ort gewonnen haben kann, an dem die Gleichnisse entstanden sind, läßt die Anlehnung an Quintilian in einem neuen Licht erscheinen: Da er der typische Vertreter der Schule ist, gehört selbst die von ihm repräsentierte rhetorische Theorie zum größeren historischen Kontext der synoptischen Gleichnisüberlieferung. Zum Schluß eine Bemerkung zur Form der Darstellung: Das Interesse an einer Grundlegung der Gleichnisexegese erklärt,warum im ersten Teil der Arbeit an Beispielen verschiedenen Umfangs und verschiedener Form aus allen Überlieferungsschichten jeweils nur ein Teilaspekt dessen erörtert wird, was ein Gleichnis ist. Gesamtinterpretationen finden sich deshalb nur in den letzten beiden Kapiteln. Dabei mag auffallen, daß die redaktionsgeschichtliche Fragestellung zwar von Fall zu Fall in die Überlegungen einbezogen wird, im ganzen jedoch keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Darin spiegelt sich die Überzeugung wider, daß sie bei der Erklärung der Logien Jesu, hier der Gleichnisse, heute oft einen Stellenwert einnimmt, der auf sein rechtes Maß zurückzuschneiden ist. Das freilich läßt sich nur durch den Gang der Arbeit im ganzen begründen.
1 Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode, HAW 113,1974; Kroll, Art. Rhetorik, aaO.
Teil I Grundlegung Jesu Kunst der Rede vom Gott Israels
1. Bildhälfte und Sachhälfte
Wer die Gleichnisforschung durch die Auseinandersetzung mit Adolf Jülicher fördern will, kann die Position im ganzen als bekannt voraussetzen. Sie ist in letzter Zeit mehrfach dargestellt und auf ihre Voraussetzungen hin durchsichtig gemacht worden.1 Es genügt, diejenigen Gesichtspunkte herauszugreifen, aus denen die eigene Fragestellung erwachsen ist. Einsetzen möchte ich bei der Beobachtung, daß Jülichers Definition des Gleichnisses zugleich ein Urteil über den Charakter der Überlieferung und über die Probleme der Exegese enthält. Jülicher definiert das Gleichnis "als diejenige Redefigur, in welcher die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch Nebenstellung eines ähnlichen, einem andern Gebiet angehörigen, seiner Wirkung gewissen Satzes".2 Es ist deswegen "notwendig zweigliedrig, besteht aus einem Satz, den der Schriftsteller noch einer besonderen Beleuchtung bedürftig findet und aus einem Satze, den er behufs solcher Erleuchtung bildet. Missbräuchlich hört man bisweilen blos den letzteren Satz, das Bild, das simile, 'Gleichnis' nennen; eine Gewohnheit, vor der als dem Quell zahlreicher Irrtümer gewarnt werden muss".3 Entstehen konnte diese Gewohnheit vor allem deswegen, weil oft "die Sachhälfte entweder ganz fortgelassen oder nur in einem Ansatz vorhanden ist". Häufig kennen wir sogar "weder die Veranlassung..., bei welcher, noch die Stimmung, in welcher, noch die Hörer, zu welchen er sie (sc. die Gleichnisse) sprach, geschweige die Oertlichkeit, in der er sich gerade befand, die letzten Erlebnisse, die in seinem und der Seinigen Herzen noch nachklangen, sowie was Jesus solch einem Ausspruch vorbereitend vorausgeschickt, was er... daran angeknüpft haben mag".4
1
Vgl. bes. Jüngel, aaO. 88ff; H. G. Klemm, Die Gleichnisauslegung Ad. Jülichers im Bannkreis der Fabeltheorie Lessings, in: ZNW 60,1969, 153-174; H.-J. Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten, NTA NF 13,1978, 4ff; Weder, aaO. llff. 2
Jülicher, aaO. I, 80, im Original gesperrt.
3
Ebd. 1,70.
4
Ebd. 1,91.
1. Bildhälfte und Sachhälfte
19
Die Zitate belegen, daß Jülicher das Gleichnis in Anlehnung an Aristoteles zu den icoivai iriaTeic der "argumentatio" zählt1, die nicht nur für Aristoteles, sondern für die ganze Rhetorik die Aufgabe haben, die in der "narratio" vorgestellte "res" durch zusätzliche Beweise zu stützen.2 Dabei besteht die "res" des Gleichnisses in einem Satzurteil, das der Sprecher in Form eines Gedankens besitzt und durch Umsetzung in ein Bild zum Besitz auch des Hörers machen will. Denn die Umsetzung des Gedankens in ein Bild bietet die spezifische Möglichkeit, an das Urteilsvermögen zu appellieren und den Hörer aufzufordern, das auf dem vertrauten Gebiet des Bildes gesicherte Urteil auf einen umstrittenen Sachverhalt zu übertragen. Weil aber ein Gedanke die Voraussetzung und ein Satzurteil das Ziel des Bildes ist, gibt es zwischen der Bildhälfte und der Sachhälfte nur ein einziges "tertium comparationis". Wenn die Gleichnisse Gedanken einleuchtend machen wollen, dürfen sie nicht als schwer- oder gar unverständlich bezeichnet werden. Die Probleme, mit denen sich die Auslegung konfrontiert sieht, sind nicht primär im Gleichnis selber, sondern im fragmentarischen Charakter der Überlieferung begründet. Denn die Überlieferung hat zwar das, was dem Gleichnis seine spezifische Wirksamkeit verleiht, festgehalten: die Bildhälfte. Das jedoch, was die Bildhälfte beleuchten will, ist weithin verlorengegangen: die Sachhälfte und der situative Kontext. Daraus ergibt sich der Zirkelcharakter der Exegese: Sie hat aus dem Bild die Sache zu erschließen, mit der Sache aber das Bild zu erhellen. Der Schlüssel für den Erfolg des Verfahrens liegt ausschließlich bei der richtigen Erfassung des "tertium comparationis". Jülicher hat mit dem Hinweis auf das Interesse an der Wirkung ein Moment namhaft gemacht, das es erlaubt, die Unersetzbarkeit dessen, was er als Bildhälfte bezeichnet, ins Auge zu fassen. Und er hat damit zugleich die Aufgabe gestellt, das Gleichnis auf das Verhältnis von Sprecher und Hörer bzw. auf die Situation, in der der eine auf den anderen einwirken will, zu beziehen. Doch findet sich ebenso die entgegengesetzte Tendenz, die Bedeutung der Bildhälfte und der kommunikativen Situation zu relativieren. Denn wenn das Gleichnis auf ein Satzurteil abzielt, wird die
1
Ebd. I, 71.
2
Vgl. Quintilian, Inst. V, bes. 11, 22ff, sowie Martin, aaO. 95ff.
20
Grundlegung
Bildhälfte in dem Moment zu einer belanglosen Größe, wo es gelungen ist, den Gedanken zu erfassen, den sie illustrieren soll. Aber auch die Situation, in der ein Gleichnis wirken soll, verliert ihre konstitutive Funktion. So schwebt Jülicher als Ziel der Exegese vor Augen, den Gedanken aus der Form zu befreien, mit der er sich vorübergehend verbunden hat. Und die intensive Bemühung um das "tertium comparationis" kann weithin als der Versuch verstanden werden, diese Befreiung des Gedankens durch ein kontrollierbares Verfahren in die Wege zu leiten. Zwar hat sich Jülichers Konzept inzwischen als außerordentlich angreifbar erwiesen. Doch darf nicht übersehen werden, daß es den Rahmen absteckt, in dem sich die Gleichnisexegese nach wie vor bewegt. Sie hat einerseits die Einheit dessen, was Jülicher als Bild- und Sachhälfte unterscheidet, zu betonen. Und sie hat andererseits auszuarbeiten, daß das, was das Gleichnis bewirken will, über das Gleichnis selber ebenso hinausweist wie das, was seine Bildung voraussetzt. In einer ersten Annäherung werde ich im folgenden zunächst einige Beobachtungen aufgreifen, die es nahelegen, das, was Jülicher als Bildhälfte bezeichnet, als das ganze Gleichnis ernstzunehmen. Anschließend soll eine Einteilung der Gleichnisse vorgeschlagen werden, die nicht wie bei Jülicher an der Art der Bildhälfte, sondern ebenso an den literarischen Merkmalen wie an der kommunikativen Funktion orientiert ist. Jülichers These von einem einzigen Vergleichspunkt ist schon früh von Paul Fiebig kritisiert worden.1 Fiebig beruft sich dabei vor allem auf die Beobachtung, daß die synoptischen Gleichnisse häufig Metaphern - wie z.B. "Vater" für "Gott" - gebrauchen. Das mache darauf aufmerksam, daß sich die Exegese nicht wie bei Jülicher an den Kategorien der Aristotelischen Rhetorik orientieren dürfe. Vielmehr müßten jüdische Gleichnisse zur Erklärung herangezogen werden. Denn dort sei der Gebrauch von Metaphern eine verbreitete Gewohnheit.
1
Fiebig, Altjüdische Gleichnisse und die Gleichnisse Jesu, 1904; ders., Die Gleichnisreden Jesu im Lichte der rabbinischen Gleichnisse des neutestamentlichen Zeitalters, 1912.
1. Bildhälfte und Sachhälfte
21
Die gleiche Argumentation findet sich etwa gleichzeitig auch bei Chr. A Bugge} Sie ist seither zur mehr oder weniger selbstverständlichen Voraussetzung der Gleichnisforschung geworden, obwohl die Berufung auf den jüdischen Hintergrund nicht immer die gleiche Bedeutung hat wie bei Fiebig und Bugge. Die Argumentationsbasis ist allerdings erheblich verbreitert worden. Als Beispiel dafür sei die mit dem "Hereinschlagen der Deutung" erklärte These von Joachim Jeremias erwähnt, daß die Gleichnisse "in großer Zahl ungewöhnliche Züge aufweisen,... auf denen meistens ein besonderer Nachdruck liegt".2 So wenig die von Jeremias ins Auge gefaßten Sachverhalte bestritten werden können, so sehr zeigt die Terminologie, wie schwer es ist, der Problematik von Jülichers Position zu entrinnen. Denn die Rede vom "Hereinschlagen der Deutung" setzt die Teilung des Gleichnisses in Bildhälfte und Sachhälfte voraus. Und es kommt ein neues, wenn auch bereits bei Jülicher selber angelegtes Problem hinzu: Von "ungewöhnlichen Zügen" kann nur sprechen, wer im Gleichnis als ganzem eine mehr oder weniger realistische Beschreibung der Wirklichkeit sieht. Diese Vorstellung, für die sich Jeremias auf Iver K Madsen beruft3, ist von Eta Linnemann und anderen4 mit Recht kritisiert worden. Für Madsen soll die Unterscheidung von ungewöhnlichen und gewöhnlichen Zügen kontrollierbar machen, was bei einem Gleichnis auszudeuten ist und was nicht. Was im Sinne des Gleichnisses als gewöhnlich anzusehen ist, muß durch den Vergleich mit jüdischen, insbesondere rabbinischen Texten geklärt werden. Was durch solchen Vergleich nicht erhellt werden kann, hat dementsprechend als ungewöhnlich zu gelten. Es geht auf eine durch die Sache des Gleichnisses erzwungene Verzerrung der Realität zurück. Und gerade diese Verzerrung ist der Ansatzpunkt für den Versuch, die verlorene Sachhälfte zu rekonstruieren.5 Gegen Madsens exegetisches Programm, dem die problematische Vorstellung zugrunde liegt, normalerweise sei Literatur - hier: die rabbinische Literatur - Nachahmung von
1
Bugge, Die Haupt-Parabeln Jesu, I-II, 1903.
2
Jeremias, aaO. 25f.
3
Ebd. 25Anm. 2.
4
Vgl. bes. T. Aurelio, Disclosures in den Gleichnissen Jesu. Eine Anwendung der disclosure-Theorie von I. T. Ramsey, der modernen Metaphorik und der Theorie der Sprechakte auf die Gleichnisse Jesu, Regensburger Studien zur Theologie 8, 1977, 98ff; Weder, aaO. 67. 85f u.ö. 5
Madsen, Die Parabeln der Evangelien und die heutige Psychologie, 1936, bes. 9ff.
22
Grundlegung
Wirklichkeit, ist mit Linnemann einzuwenden: "Auch die ungewöhnlichen Züge trägt die Parabelerzählung." Denn "unsere Frage darf nicht lauten: TCommt das, was erzählt wird, in der Wirklichkeit vor?'" Zu fragen ist vielmehr: ""Kommt das so, wie es erzählt wird, dem Hörer der Parabel unwirklich vor?'"1
Mit besonderem Nachdruck betont David Flusser, daß Gleichnisse nicht realistisch sind, sondern lediglich "den Eindruck erwecken" wollen, sie erzählten "Beispiele aus dem täglichen Leben".2 Denn um die für sie entscheidende '"Moral der Geschichte'", "die außerhalb des Sujets liegt", möglichst überzeugend zur Wirkung zu bringen, "müssen sie vorgeben, dass sie das alltägliche Leben nachahmen".3 Aber auch Georg Eichholz hebt hervor, daß nicht nur einzelne Züge, sondern das Gleichnis als ganzes konstruiert und bewußt gestaltet worden ist: "... der 'Griff in den Alltag' erfolgt nicht so, daß der Alltag die Gleichnisgeschichte schon liefert, sondern so, daß die Geschichte im Wissen um den Alltag geformt wird, und zwar von der Aussage her, die gemacht werden soll und hier federführend bleibt."4 Ganz entsprechend heißt es bei Eta Linnemann: "Wie ein guter Regisseur sorgt der Erzähler für diejenige Anordnung der Personen, Kulissen und Requisiten, die seinen Absichten am besten entspricht."5 Denn "das Gleichnis lebt", wie Eberhard Jüngel in einer besonders glücklichen Formulierung feststellt, "in allen Einzelzügen von seiner Pointe, aber die Pointe kommt ohne diese Einzelzüge nicht zum Zuge".6 Jüngel plädiert daraufhin für die Aufhebung der Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte. Sie sei "für die Gleichnisauslegung eher verwirrend als hilfreich".7 Das entspricht der Intention auch anderer Autoren8, von
1
Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 51969, 36f.
2
Flusser, Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, I: Das Wesen der Gleichnisse, Judaica et Christiana 4,1981, 32. 3
Ebd. 35. Vgl. ebd. 38.161.191 u.ö.
4
Eichholz, Das Gleichnis als Spiel (1961), in: Ders., Tradition und Interpretation. Studien zum Neuen Testament und zur Hermeneutik, ThB 29,1965, 57-77, hier 66. s
Linnemann, aaO. 19.
6
Jüngel, aaO. 137.
7
Ebd. 135.
8
Vgl. schon E. Lohmeyer, Vom Sinn der Gleichnisse Jesu (1938), in: Ders., Urchristliche Mystik. Neutestamentliche Studien, 21958,132-157, hier 152, und dazu Jüngel, aaO. 121ff.
1. Bildhälfte und Sachhälfte
23
denen ich insbesondere Dan Otto Via und John Dominic Crossan erwähnen möchte. Bei Jüngel hängt die Kritik an der Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte mit der These zusammen, daß die Gleichnisse Jesu Sprachereignisse sind, "in denen das, was in ihnen zur Sprache gekommen ist, ganz da ist, indem es als Gleichnis da ist". "Die Basileia kommt im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache" und ist, insofern sie im Gleichnis (und nicht in einem anderen Wort Jesu) zur Sprache kommt, nicht als ein extratextuales Phänomen jenseits des Gleichnisses zu haben.1 Auch Via wendet sich dagegen, daß das Gleichnis "als Illustration einer Idee oder Einkleidung einer 'Pointe'" aufgefaßt wird.2 Er tut das jedoch nicht, weil das Gleichnis ein Sprachereignis sui generis, sondern weil es ein autonomes ästhetisches Objekt ist, das "die ganze Welt des Betrachters" enthält, dessen Aufmerksamkeit "nicht auf etwas darüberhinaus bezogen" ist. Denn das literarische Kunstwerk "ist nicht so strukturiert, daß es einen Gedankengang hervorruft, der sich über es hinausbewegt... Wörter, Bedeutungen und Handlungen verweisen nicht auf die Welt außerhalb, sondern sie sind miteinander verknüpft.13 Für Crossan sind die Gleichnisse "extended poetic metaphors", die Jesu religiöse Erfahrung aufs engste mit seiner poetischen Erfahrung verbinden.4 Sie zielen darauf ab, "that the hearer or reader can be drawn into the world of the metaphor and thereby into some conscious awareness of the poetic (sc. and religious) experience itself".5 Jede Übersetzung würde diese Macht der Partizipation zerstören: "The meaning and content of Jesus' parables are the parables themselves, and no prose commentary can ever replace them."6
Die zitierten Autoren haben eine sehr verschiedene Vorstellung von dem, was ein Gleichnis ist. Sie betonen jedoch übereinstimmend das Eigengewicht der sprachlich-literarischen Gestalt, mit der die "Sache" eine unlösbare Verbindung eingegangen ist. Deswegen ist davon auszugehen, daß die sog. Bildhälfte das ganze Gleichnis ist. Sie kann durch keine Aussage über die von ihr gemeinte Sache ersetzt werden, und was als
1
Ebd. 135.
2
Via, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, BEvTh 57,1970, 72. 3
Ebd. 76f.
4
Crossan, Parable as Religious and Poetic Experience, in: JR 53,1973,330-358, hier 351.
5
Ebd. 340.
6
Ebd. 353.
24
Grundlegung
Gleichnis gesagt wird, kann nicht auch anders gesagt werden.1 Darauf beruht seine spezifische Wirksamkeit, wobei vorläufig offenbleiben mag, ob eine eschatologische, eine religiöse, eine ästhetische oder eine poetische Erfahrung "erwirkt" werden soll - oder aber alles zusammen. Trotz dieser Kritik kann allerdings nicht auf die Rede von der "Sache" des Gleichnisses verzichtet werden. Nach Eta Linnemann hängt das weniger mit dem Gleichnis selber als vielmehr mit der Aufgabe der Exegese zusammen. Denn während der ursprüngliche Hörer das Gleichnis unmittelbar aus der Situation heraus habe verstehen können, müsse sich der Ausleger dem Sinn des Gleichnisses über den Umweg der Interpretation nähern.2 In der Tat: Er muß sich Gedanken über die "Sache" machen, und er tut das mit jedem Satz seiner Exegese. Dabei ist die Wahl der Begrifflichkeit zwar von untergeordneter Bedeutung. Doch sollte auf die Rede von den beiden "Hälften" verzichtet werden, weil sie das Zusammengehörige zu stark auseinanderreißt und suggeriert, es habe einmal eine zweite, deckungsgleiche, aber verlorengegangene "Hälfte" gegeben. Anders als Linnemann meint, verrät nun freilich bereits die GleichnisÜberlieferung selber, daß von Anfang an zwischen dem Gleichnis und seiner Sache unterschieden worden ist. Ja, in gewisser Weise kann die Exegese sogar als der Versuch verstanden werden, das, wozu das Gleichnis mehr oder weniger direkt auffordert, zu explizieren. So fordert die Bezeichnung eines Gleichnisses als irapctBoXfi, wie es z.B. in Lk 18,18 oder 18, 9-14 der Fall ist, dazu auf, den parabolischen Charakter zu beachten, ohne zugleich zu sagen, worin dieser besteht. Deutlicher noch setzen eine solche Aufforderung diejenigen Gleichnisse voraus, bei denen der "historische" Adressat oder gar der situative Kontext im ganzen erwähnt wird, und gerade hier wird zugleich besonders gerne auf den parabolischen Charakter aufmerksam gemacht. Lk 18, 1 z.B. dokumentiert, daß das Gleichnis vom Richter und von der Witwe erhellen soll, warum der Hörer fortwährend beten soll. Und Lk 15, 1-2 geht davon aus, daß die Gleichnisse vom Verlorenen eine Antwort auf den Protest von Pharisäern und Schriftgelehrten gegen Jesu Umgang mit Zöllnern und Sündern sind. Dabei wird charakteristischerweise beidemal freilich nicht ausgeführt, worin die Beziehung zwischen dem Gleichnis und der "Sache" des Hörers bzw. der Situation besteht. Ganz Entsprechendes gilt für diejenigen Gleichnisse, bei denen durch einleitende Vergleichsformeln explizit angegeben wird, welche "Sache" sie thematisieren. Mk
1
Damit soll natürlich keineswegs bestritten werden, daß Gleichnisse von derselben "Sache" sprechen können wie andere Logien, z.B. vom Reich Gottes. 2
Linnemann, aaO. 32f.
1. Bildhälfte und Sachhälfte
25
4,30-32 z.B. fordert dazu auf, das, was vom Senfkorn gesagt wird, auf die ß a a i X e i a TOÜ 0 e o ü zu beziehen, auch wenn dem Hörer selber überlassen bleibt, die Art der Beziehung zu entschlüsseln. Anders ist es nur bei den Gleichnissen, die eine Anwendung besitzen. Sie skizzieren auch im einzelnen, allerdings nur hinsichtlich der Pointe, um welche "Sache" es geht. Mt 7, 9-llpar z.B. führt aus, daß das Gleichnis vom Mann, den sein Sohn um Brot und Fisch bittet, verdeutlicht, inwiefern Gott den Bittenden Gutes gibt.
Es läßt sich somit ein ganzes Spektrum von Signalen feststellen, die zeigen, daß die "Sache" des Gleichnisses nicht mit dem Gleichnis selber identisch ist. Gerhard Sellin will daraufhin den Kontext (oder die Situation) sogar als die Sachhälfte bezeichnen, ohne die die Bildhälfte unverständlich ist.1 Ernst Fuchs dagegen dekretiert: "Die Gleichnisse sind an sich rahmenlos und dürfen daher keine Anwendung haben. Sie sind selber Anwendung!"2 Zwar liegt diesem Diktum die unbestreitbare Einsicht zugrunde, daß die Merkmale, auf die ich mich berufen habe, besonders häufig sekundären Schichten zuzurechnen sind. Doch ist ebensowenig zu bestreiten, daß es Gleichnisse gibt, die bereits ursprünglich mit dem Hinweis auf das Reich Gottes oder mit einer Anwendung verbunden sind. Und gerade sie haben exemplarische Bedeutung, und zwar insofern, als sie direkt zu erkennen geben, was sonst nur indirekt erschlossen werden kann: Gleichnisse wollen in die "Sache" der Praxis des Lebens übersetzt werden. Erst wenn die pragmatische Dimension beachtet wird, kann das relative Recht der These von Fuchs gewürdigt werden. Denn es ist weder zufällig, daß die "Sache" ursprünglich nur selten oder gar nicht genannt wird, noch hat periphere Bedeutung, daß auch später lediglich in Mk 4,13-20parr und Mt 13,46-53 eine ins einzelne gehende Übersetzung gegeben wird.3 Beides dokumentiert vielmehr, daß alle Schichten der Überlieferung ein deutliches Bewußtsein davon bewahrt haben, wie wenig ein Gleichnis durch Aussagen über seine "Sache" ersetzt werden kann. Das gilt selbst für die beiden genannten Allegoresen, die das ihnen zugrunde liegende Gleichnis ja nicht ersetzen, sondern übersetzen wollen. Es wird freilich kaum einen Exegeten geben, der nicht der Überzeugung ist, daß eine "Übersetzung" dem Wesen des Gleichnisses widerspricht. Im Sinne Jülichers müßte man sagen: Unübersetzbar ist ein Gleichnis, weil
1
Sellin, aaO. 284ff. 313ff.
2
Fuchs, Jesus. Wort und Tat, 1971,105. Vgl. Weder, aaO. 32. 46. 63ff.
3
Zu den besonderen Problemen dieser beiden Texte vgl. bes. Klauck, aaO. 67ff. 200ff.
Grundlegung
26
seine Wirkung nicht übersetzt werden kann. Diese Wirkung ist letztlich darin begründet, daß das Gleichnis dem Hörer eine "Sache" einleuchtend machen will, die ihm ohne das Gleichnis nicht einleuchtet und insofern aufs engste mit ihm verbunden ist. Wer wie Hans Weder die Wirksamkeit von Gleichnissen prinzipiell bestreitet, verstrickt sich deswegen in unlösbare Schwierigkeiten. Einerseits betont Weder mit großem Nachdruck die grundsätzliche Unübersetzbarkeit der Gleichnisse und meint: "Damit ist jeder Theorie, die die Gleichnisrede Jesu von den Wirkungen dieser Rede her zu begründen versucht, der Boden entzogen."1 Andererseits aber insistiert er mit demselben Nachdruck darauf, daß "ein Gleichnis ohne den Hörer unvollständig" ist.2 Ja, er beruft sich sogar mehrfach auf die These Ricoeurs: "Auf die Unübersetzbarkeit in gewöhnliche Sprache antwortet nur die applicatio (Anwendung) durch die Praxis des Lebens."3 Deshalb seien nicht nur die Gleichnisse selber, sondern auch ihre Wirkung und Wirkungsgeschichte Gegenstand der Exegese, - wenn auch nur für den Zeitraum vom historischen Jesus bis zum Ende der synoptischen Tradition.4 Wie aber, so ist zu fragen, kann der Hörer, wie kann die lebenspraktische Intention, wie können Wirkung und Wirkungsgeschichte der Gleichnisse zum Thema gemacht werden, ohne die Wirksamkeit als ein konstitutives Element der Gleichnisrede ins Auge zu fassen?
Der Rekurs auf die Wirkung des Gleichnisses nötigt zu der Frage, wie Jülicher zu seiner Einteilung des Materials in Gleichnisse, Parabeln und Beispielerzählungen kommt. Dies soll im folgenden Kapitel erörtert werden.
2. Erzählung und Besprechung
Die Unterscheidung von Gleichnis, Parabel und Beispielerzählung leitet Jülicher aus der Art des Bildes ab, mit dem der Sprecher seinem Gedanken beim Hörer zur Wirkung verhelfen will.
1
Weder, aaO. 64.
2
Ebd. 88.
3
Ebd. 73. Vgl. 91.
4
Ebd. 73f.
2. Erzählung und Besprechung
27
Beim Gleichnis im engeren Sinne wird der Gedanke durch Berufung auf die "jedermann zugängliche(n) Wirklichkeit" bzw. "auf Dinge, die jeden Tag geschehen, auf Verhältnisse, deren Dasein der schlechteste Wille anerkennen muss", gesichert.1 Bei der Parabel dagegen soll "die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden... durch Nebenstellung einer auf anderem Gebiet ablaufenden, ihrer Wirkung gewissen erdichteten Geschichte, deren Gedankengerippe dem jenes Satzes ähnlich ist".2 Dabei stimmen Gleichnis und Parabel darin überein, daß die Sätze, deren Wirkung sie sichern wollen, "Verhältnisse des religiössittlichen Lebens im Auge" haben. 3 Sie unterscheiden sich erst durch die Art des Bildes, mit dem solchen Sätzen zur Wirkung verholfen werden soll. Die Beispielerzählung dagegen will "einen allgemeinen Satz religiös-sittlichen Charakters in dem Kleid eines besonders eindrucksvoll gestalteten Einzelfalles vorführen".4 Sie teilt mit den beiden anderen Gleichnisformen den Charakter des Satzes, mit der Parabel darüber hinaus, daß das Bild eine "erdichtete Geschichte" enthält. Sie unterscheidet sich von der Parabel erst dadurch, daß die Geschichte nicht "Verhältnisse auf niederen Gebieten" des menschlichen Lebens behandelt3, sondern ein Exempel aus dem religiös-sittlichen Gebiet des zur Debatte stehenden Satzes auswählt.
Jülichers Definitionen enthalten eine Reihe von Gesichtspunkten, die erst später im einzelnen entfaltet werden sollen. Dazu gehört trotz der Anfechtbarkeit der Terminologie zunächst die These, das Gleichnis wolle "Verhältnisse des religiös-sittlichen Lebens" durch den Blick auf "Verhältnisse auf niederen Gebieten" einleuchtend machen. Sie ist zur Theorie der Konterdetermination von religiös qualifiziertem Kontext und nichtreligiös qualifiziertem Gleichnis weiterzuentwickeln, bei der die Beispielerzählungen in der Tat als ein Sonderfall zu würdigen sind. Als zweiter Gesichtspunkt, der entfaltet werden muß, wird jetzt noch deutlicher als bisher erkennbar, daß auch für Jülicher die Gleichnisse eine pragmatische Dimension haben. Was er als Einwirkung des niederen Gebietes auf das religiös-sittliche Leben des Hörers beschreibt, führt ins Zentrum dessen, was ein Gleichnis ausmacht. Und schließlich: Mit dem Hinweis auf den "erdichteten" Charakter hat er geltend gemacht, was seither als das Verhältnis des Gleichnisses zur Realität diskutiert wird. Nur dieser dritte Gesichtspunkt soll vorläufig aufgegriffen werden. Er ist einerseits zu
1
Jülicher, aaO. I, 93.
2
Ebd. 1,98.
3
Ebd. 1,101.
4
Ebd. 1,114, im Original gesperrt.
5
Ebd. 1,101.
Grundlegung
28
problematisieren, erlaubt andererseits aber auch, den Rahmen abzustekken, in dem sich die weitere Argumentation bewegt: Gleichnisse sind entweder Erzählungen oder Besprechungen. Bereits die Überlegungen des letzten Kapitels haben zur Voraussetzung, daß alle Gleichnisse "erdichtet" sind. Denn wie könnte sonst von der bewußten Gestaltung oder von der alles bestimmenden Pointe gesprochen werden? Jülicher dagegen spricht von Erdichtung nur bei Parabel und Beispielerzählung. Demgegenüber muß betont werden: So sehr sich Stücke, die Jülicher als Gleichnisse im engeren Sinne bezeichnet, auf die jedermann zugängliche Wirklichkeit und damit Typisches1 berufen, so sehr wählen sie dieses Typische aus der Gesamtfülle der Realität aus und erdichten insofern einen Einzelfall. Und umgekehrt gilt für die Stücke, die er als Parabeln und Beispielerzählungen bezeichnet: So sehr sie einen Einzelfall schildern, so sehr kommt alles darauf an, daß dieser Einzelfall als typisch für die jedermann zugängliche Wirklichkeit empfunden wird. Das Gleichnis Lk 14,28-30 z.B., das Jülicher als Gleichnis im engeren Sinne behandelt2, beruft sich in der Tat auf das, was jeder tun würde, der einen Turm bauen will. Doch grenzt es die große Fülle von Problemen, die ein Turmbau mit sich bringen kann, fortschreitend auf einen ganz speziellen Fall ein: Spitzen sich die Überlegungen eines Turmbauers etwa immer auf die Frage zu, was die Leute sagen, wenn der Turm nicht vollendet werden kann? Und umgekehrt entwickelt z.B. die Parabel von Lk 15, 11-323 zwar die unverwechselbar einmalige Geschichte von einem Vater und seinen beiden Söhnen. Doch ist für ihr Verständnis von ausschlaggebender Bedeutung, daß sie als typisch für die jedermann zugängliche Wirklichkeit empfunden wird: Sollte sich nicht jeder Vater, der zwei Söhne hat, so über die Rückkehr seines frevelhaften Sohnes freuen wie der Vater des Gleichnisses? Und sollte nicht jeder Vater seinem anderen Sohn nicht genau so entgegentreten wie der Vater des Gleichnisses, wenn dieser Sohn sich nicht am Freudenfest beteiligen will? Ganz Entsprechendes gilt, wie Jülicher ja selber hervorhebt, für die Beispielerzählung: Soll nicht z.B. das, was Lk 18, lOff 4 als einen Einzelfall schildert, als typisch für das angesehen werden, was jedermann vor Augen steht, wenn er an Pharisäer und Zöllner denkt? Besonders erhellend ist ein Blick auf Mk 4,30-32parr. Jülicher behandelt das Stück unter Berufung auf die ursprünglichere Fassung des Lk als Parabel.s Doch bemerkt er zugleich,
1
Von "typisch" spricht in diesem Zusammenhang - ganz im Sinne Jülichers - wohl zuerst R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, 41958, 188. 2
Jülicher, aaO. II, 202ff.
3
Vgl. ebd. II, 333ff.
4
Vgl. ebd. II, 598ff.
5
Ebd. II, 569ff.
2. Erzählung und Besprechung
29
daß bei Mk der "Erzählungscharakter" zugunsten einer "Betrachtung" verschwunden sei.1 Und in der Tat besitzt die lk Fassung alle Merkmale einer Parabel, die mk dagegen alle Merkmale eines Gleichnisses im engeren Sinne: Das eine Mal wird skizziert, was aus einem Senfkorn emporwuchs, das einmal ein Mann in seinem Garten auswarf, das andere Mal, was aus -jedem Senfkorn emporwächst, das man auf die Erde wirft. Das aber hätte Jülicher zeigen können: Der Einzelfall wird zugleich als typisch für die jedermann zugängliche Wirklichkeit ins Auge gefaßt, und die jedermann zugängliche Wirklichkeit wird zugleich als Einzelfall stilisiert.
So wenig sich somit die Definitionen Jülichers bewähren, so sehr führt seine Beobachtung weiter, daß die Gleichnisse im engeren Sinne im Präsens und Futur, die Parabeln und - so ist zu ergänzen - die Beispielerzählungen dagegen im Präteritum formuliert sind.2 Bei der Einteilung des Materials hat Jülicher sich zwar nicht ganz konsequent an dieser Beobachtung orientiert.3 Das läßt sich jedoch nicht mit dem Hinweis auf fließende Grenzen zwischen beiden Gleichnisgruppen rechtfertigen4, sondern macht darauf aufmerksam, daß das jeweils vorherrschende Tempus andere Sachverhalte anzeigt, als Jülicher meint. Diese werden am ehesten verständlich, wenn man Harald Weinrichs Unterscheidung erzählender und besprechender Tempora in die Überlegungen einbezieht.5 Nach Weinrich sind die Tempora weder auf Zeitstufen noch auf Aktionsarten bezogen. Es handele sich bei ihnen vielmehr um Signale, mit denen der Sprecher dem Hörer zu erkennen gibt, wie die in einem Text sprachlich thematisierte Welt aufgefaßt werden soll. Dabei ist die erzählte und die besprochene Welt zu unterscheiden. Erstere wird durch die Gruppe der erzählenden Tempora signalisiert, zu der im Deutschen Präteritum, Plusquamperfekt, Konditional und Konditional II und im Griechischen Imperfekt, Aorist und Plusquamperfekt gehören. Die besprochene Welt wird dagegen von den besprechenden Tempora beherrscht, zu denen im Deutschen wie im Griechischen Präsens, Perfekt, Futur und Futur II zu zählen sind. Die Tempora beider Gruppen treten jeweils gehäuft auf ("Tempusnester"), so daß der Wechsel von der einen zur anderen Gruppe immer einen besonderen Einschnitt markiert. Dabei wollen die erzählenden Tempora als Tempora der Fiktionalität die Haltung der Entspanntheit erzeugen, bei der die Welt des Sprechers und des Hörers aus dem Spiel
1
Ebd. II, 572.
2
Ebd. I,92f.
3
Vgl. ebd. Bd. II, Vllf, wo im Inhaltsverzeichnis vier präsentisch bzw. futurisch formulierte Gleichnisse als Parabeln aufgeführt werden.
4
Ebd. 1,92.
5
Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 21971.
Grundlegung
30
gelassen wird. "Sie besagen, daß die Redesituation... nicht auch zugleich Schauplatz des Geschehens ist und daß Sprecher und Hörer für die Dauer der Erzähler (sie!) mehr Zuschauer als agierende Personen im theatrum mundi sind - auch wenn sie sich selber zuschauen."1 Die Tempora der besprochenen Welt setzen dagegen die Haltung der Gespanntheit voraus. Sie signalisieren, daß es für den Sprecher "um Dinge geht, die ihn unmittelbar betreffen und die daher auch der Hörer im Modus der Betroffenheit aufnehmen soll".2
Daraufhin empfiehlt es sich, Jülichers Einteilung zugunsten der Unterscheidung von erzählenden und besprechenden Gleichnissen aufzugeben.3 Denn diese Unterscheidung ist durch die Beobachtung des Tempusgebrauchs einigermaßen objektivierbar, womit nicht gemeint ist, daß die Tempora als solche bereits einen Aussagewert haben. Den erhalten sie vielmehr erst, wenn man sie auf den Kommunikationsprozeß von Sprecher und Hörer bezieht. Aber auch dann bleiben sie so lange ein relativ äußerliches Indiz, wie sie nicht mit anderen literarischen Merkmalen in Zusammenhang gebracht werden. Zu erwägen ist allerdings, ob nicht auch die besprechenden Gleichnisse als fiktional zu bezeichnen sind. Es hat zwar seinen guten Sinn, daß die Fiktionalität nicht nur von Weinrich ausschließlich der Erzählung vorbehalten wird. Doch ist im Blick auf die Gleichnisse zu beachten, daß die besprechenden nicht weniger "erfunden" sind als die erzählenden und daß sich beide in der Art, wie sie sich zur Realität ins Verhältnis setzen, nicht voneinander unterscheiden. Der Unterschied kommt erst darin zum Tragen, daß die fiktionale Welt der erzählenden Gleichnisse indirekt, die der besprechenden dagegen direkt auf den Hörer bezogen ist. Dabei signalisiert die Indirektheit Entspanntheit und die Direktheit Gespanntheit. Jene geht gewaltloser einher, ist aber auch undurchschaubarer und erschwert deswegen eine Distanzierung. Diese dagegen wirkt gewaltsamer, ist aber auch durchschaubarer und erlaubt deswegen leichter eine
1
Ebd. 46f.
2
Ebd. 36.
3
Ähnlich A. Stock, Textentfaltungen. Semiotische Experimente mit einer biblischen Geschichte, 1978,58. Vgl. Sellin, aaO. 325f, zu dem allerdings zu bemerken ist, daß sich die beiden Tempussysteme nicht mit den beiden Gleichnisformen zur Deckung bringen lassen, an deren Unterscheidung ihm eigentlich gelegen ist. Der Hinweis auf die fließende Grenze, mit dem Sellin, aaO. 325, den Schwierigkeiten ausweicht, hilft hier genausowenig weiter wie bei Jülicher.
2. Erzählung und Besprechung
31
Distanzierung. Deswegen kann der Exeget bei den besprechenden Gleichnissen in der Regel leichter erkennen, worum es ihnen geht. Oft ist es erst ihre Direktheit, die auch die Indirektheit der erzählenden Gleichnisse erschließt. Es darf nun freilich nicht außer acht gelassen werden, daß das erzählende Gleichnis durch die wörtliche Rede der Protagonisten auch besprechende Elemente hat. Deren Bedeutung wächst in dem Maße, wie die besprechende Komponente des Kontextes zu berücksichtigen ist. Das besprechende Gleichnis dagegen enthält nur insofern eine erzählende Komponente, als der Rahmen es wie jedes andere Gleichnis auch von Jesus "erzählt" sein läßt. Die Besprechung kann jedoch sehr verschiedener Art sein - zumal dann, wenn auch hier der Kontext beachtet wird. Als Ausgangspunkt für die Einteilung des Materials mag zunächst das Inhaltsverzeichnis genügen, das Jülicher dem zweiten Band seines Werkes gibt.1 Dort rubriziert er, wenn man die beiden Doppelgleichnisse von Nr. 24 und Nr. 25 berücksichtigt, insgesamt 30 Gleichnisse im engeren Sinne. Es handelt sich durchweg um besprechende Gleichnisse, deren Zahl sich freilich auf 35 erhöht, weil von den Parabeln die Nummern 30, 34 (Doppelgleichnis), 45 und 48 (nur Mk) hinzuzuzählen sind. Es bleiben danach 23 Parabeln und Beispielerzählungen übrig, die als erzählende Gleichnisse zu beanspruchen sind. Das Verhältnis ist also etwa 35:23, wobei allerdings zu beachten ist, daß den besprechenden Gleichnissen dann auch die sog. Bildworte zugerechnet sind. Ein gutes Beispiel für die besprechenden Gleichnisse ist Lk 17,7-10. Sein Haupttempus ist das Futur, dem Partizipien, in der wörtlichen Rede aber auch präsentische Formen und Imperative zugeordnet sind. Die durch das Tempussystem signalisierte Direktheit wird durch das Tic 6e ¿5 üywv erheblich gesteigert. Denn diese das ganze Gleichnis tragende Formel zwingt den Hörer, sich an die Seite der Hauptperson zu stellen, aus deren Perspektive das Handlungsgerüst entwickelt wird. Dem entspricht die anschließende Anwendung. Sie schreibt dem Hörer durch OÜTÜK; tcai ü y e i q und durch die besprechenden Tempora genau vor, wie er das Gleichnis in seine Welt zu übersetzen hat. Ein solches Gleichnis ist sehr viel gewaltsamer, aber auch leichter durchschaubar als ein erzählendes Gleichnis. Was sich bei Lk 17, 7-10 beobachten läßt, kann durch die Analyse der anderen, ähnlich konstruierten Fragegleichnisse erhärtet werden. Das schließt natürlich nicht aus, daß jeder Einzelfall ein individuelles Profil besitzt. Bei Lk 15, 4-7 z.B. zeichnet sich das Gleichnis selber durch die gleiche Direktheit aus wie bei Lk 17, 7-10. Die Anwendung dagegen ist sehr viel indirekter, weil sie den Hörer nur in der Adressierung, nicht aber in dem, was aus dem Gleichnis gelernt werden soll, erwähnt. Der größeren Indirektheit korrespondiert, daß das Gleichnis in 15, 1-3 einen erzählenden Rahmen besitzt. Der Rahmen bringt freilich
1
Jülicher, aaO. II, Vllf.
32
Grundlegung
zugleich eine größere Direktheit mit sich, und zwar insbesondere deshalb, weil er eine wörtliche Rede enthält: Pharisäer und Schriftgelehrte weifen dem Sprecher, den Zöllner und Sünder hören wollen, besprechend vor, er nehme sich der Sünder an und esse mit ihnen. Das Gleichnis fordert den (erzählten, nicht den "lesenden"!) Hörer also auf, seinen Vorwurf, aber auch das Verhalten des Sprechers in einem neuen Licht zu sehen. Konkret: Er soll sich so in die Rolle des Hirten versetzen, daß die Überzeugungskraft, die dessen Handeln gegenüber den Schafen besitzt, auf des Sprechers Umgang mit Zöllnern und Sündern überspringt. Dabei hofft der Sprecher, daß der Hörer seinen Vorwurf gegen ihn im selben Maße zurücknimmt, wie er der Identifikation mit dem Hirten nicht widerstehen kann. Der Hinweis auf die beiden Fragegleichnisse soll nicht suggerieren, daß Ahnliches für alle besprechenden Gleichnisse gilt. Er soll einerseits verdeutlichen, daß hier die Direktheit am größten ist, und andererseits darauf aufmerksam machen, daß die entwickelten Gesichtspunkte auch dort eine Hilfe für die Interpretation sind, wo die Direktheit weniger stark ausgeprägt ist. So ist z.B. die besprechende Fassung des Gleichnisses vom Senfkorn, die sich Mk 4, 30-32 findet, leichter durchschaubar als die erzählende, die in Lk 13,18f erhalten ist.1 Es wird jedenfalls kaum zufällig sein, daß bei der besprechenden Einleitungsfrage das mk ¿yoitbatopEV und Oüyev den Hörer sehr viel direkter einbezieht als das lk ö p o i a e o t i v und öpoxwaw: Das eine Mal wird er vom Sprecher zum Miterfinder des Gleichnisses gemacht, während er das andere Mal das nicht einmal explizit erwähnte Gegenüber des Sprechers bleibt. Könnte daraufhin nicht auch der wahrscheinlich sekundäre Zuwachs des Kontrastes von yiicpÖTEpov und y e i c o v als ein Zuwachs an Direktheit gegenüber der Indirektheit und "Unklarheit" der erzählenden Fassung des Lk angesehen werden? Beispiele für die Indirektheit der erzählenden Gleichnisse sind insbesondere die großen Parabeln wie Mt 20, 1-16 oder Lk 15, 11-32. Ihr Haupttempus ist das Präteritum mit zugeordneten Partizipien. Doch sind sie nicht denkbar ohne die zahlreichen Reden und Selbstgespräche, die in erster Linie von Präsens und Futur, aber auch von Partizipien und Imperativen beherrscht werden. Sie nehmen meist einen beträchtlichen Teil des Gleichnisses für sich in Anspruch - bei Lk 15, 11-32 z.B. ca. 50 % des Umfanges! Dabei erhärtet die Charakterisierung als Besprechung nur, was seit langem bekannt ist: Die wörtliche Rede dient nicht nur der Verlebendigung als solcher, sondern auch der Ausarbeitung der "Sache", um die es der Erzählung geht. Die beiden genannten Gleichnisse bringen das durch ihre Schlußreden besonders prägnant zum Ausdruck. Sie enthalten die Pointe und sollen vom Hörer in die eigene Lebenspraxis übersetzt werden. Soweit ich sehe, kann die besprechende Komponente von erzählenden Gleichnissen in vierfacher Weise verstärkt werden. Erstens wird eine erzählte Situation vorangestellt, die eine wörtliche Rede enthält. Zweitens wird ein erzählendes Gleichnis mit einem besprechenden verknüpft. Drittens wird besprechend ausdrücklich erwähnt, worauf sich die Erzählung bezieht. Und viertens wird dem Gleichnis eine Anwendung gegeben. Die ersten beiden Möglichkeiten sind bei Lk 15,11-32 und die letzten beiden bei Mt 20,1-16 realisiert.
1
Zu den Einzelheiten s.u.S. 112f.
2. Erzählung und Besprechung
33
Was Lk 15, 11-32 betrifft, so ist alles, was ich über die Beziehung von 15, 4-7 zum Rahmen 15, 1-3 ausgeführt habe, auch auf die große Erzählung auszuweiten: Was dem Hörer am Verhalten des Vaters einleuchtet, soll er auf den Konflikt übertragen, zu dessen Überwindung das Gleichnis erzählt wird. Dieses Anliegen aber wird durch das besprechende Gleichnis von V. 4-7 genau so vorstrukturiert wie durch das von V. 8-10. Beide arbeiten die mit dem Rahmen vorgegebene Perspektive aus, in der die Erzählung von einem Mann, der zwei Söhne hat, gehört werden soll. Bei Mt 20,1-16 macht der besprechende Hinweis von V. 1 den Hörer gleich am Anfang darauf aufmerksam, daß er die Erzählung auf die ß o a i X e i a TWV o ü p a v ü V beziehen soll. Die Direktheit, die darin zum Ausdruck kommt, findet sich dann erst wieder in der Anwendung V. 16, für die freilich charakteristisch ist, daß sie den Hörer ebensowenig nennt wie der Anfang. Wenn sie, wie heute fast allgemein angenommen wird, sekundär ist, so belegt das nur, wie stark empfunden wurde, daß auch erzählende Gleichnisse auf eine Übersetzung angelegt sind. Umgekehrt dürfte es aber auch kaum zufällig sein, daß erzählende Gleichnisse sehr viel seltener eine Anwendung besitzen als besprechende - ganz abgesehen davon, daß diese meistens, wenn nicht immer, sekundär ist.
So erlaubt es die Orientierung an den Tempora, ein Gleichnis entweder als erzählendes oder als besprechendes Gleichnis zu bezeichnen. Freilich dürften die herangezogenen Beispiele bereits zeigen, daß die erzählte oder besprochene Welt bei jedem Gleichnis anders strukturiert ist. Dabei ist besonders zu beachten, daß das erzählende Gleichnis meistens auch recht umfangreiche besprechende Passagen besitzt. Aber auch der jeweilige Kontext muß in die Überlegungen einbezogen werden. Dazu gehört der Rahmen, der einen Hörer nennt oder eine Situation skizziert. Dazu gehört die Bezeichnung dessen, worauf sich das Gleichnis bezieht. Und dazu gehört die Anwendung, die dem Hörer die Übersetzung vorschreibt. Schon der Tempusgebrauch signalisiert also, daß jedes Gleichnis eine unverwechselbar individuelle Einheit darstellt. Dabei setze ich natürlich nicht voraus, daß die Überlieferung den Kontext, aber auch den Wortlaut des Gleichnisses im historisch ursprünglichen Sinne festgehalten hat. Verdeutlicht werden sollte lediglich, was sich bereits im letzten Kapitel abgezeichnet hat: Kein Gleichnis kann ohne seine Bezogenheit auf den Kommunikationsprozeß zwischen Sprecher und Hörer beschrieben werden. Die kommunikative Funktion aller literarischen Merkmale soll in den beiden folgenden Kapiteln genauer durchdacht und im Anschluß an die Überlegungen zur Metapher auch im einzelnen beschrieben werden. Dabei ist es nicht unwichtig, sich vor Augen zu führen, daß die erzählenden
34
Grundlegung
Gleichnisse im allgemeinen als charakteristischer für die Überlieferung empfunden werden als die besprechenden.1 Das ist angesichts der Zahlenrelation alles andere als selbstverständlich. So behandelt E. Linnemann zehn erzählende und zwei besprechende Gleichnisse. Bei E.
Jüngel ist das Verhältnis 9:3, bei G. Eichholz 2 11:2, bei D. O. Via 8:0, bei T. Aurelio T2 und bei H. Weder 18:5. Nur bei Autoren wie H.-J. Klauck und J. Jeremias ergibt sich ein anderes Bild. Doch kann daraus schon insofern keine gegenläufige Tendenz abgelesen werden, als ersterer eine bestimmte Überlieferungsschicht und letzterer die Gesamtüberlieferung analysiert. Eine genauere Untersuchung würde in den meisten Fällen vermutlich vielmehr zu dem Ergebnis führen, daß die Gleichnistheorie primär die erzählenden Gleichnisse im Auge hat und die besprechenden, soweit sie überhaupt in die Überlegungen einbezogen werden, in deren Horizont einzeichnet.
Theoretisch gerechtfertigt wird die verbreitete Bevorzugung der erzählenden Gleichnisse neuerdings von David Flusser und Wolf gang Harnisch. Nach Flusser kann von einem eigentlichen Gleichnis nur dann gesprochen werden, wenn wir "eine wirkliche Erzählung" vor uns haben, "die erzählt wird, als hätte sich der Fall in der Vergangenheit zugetragen". Ein präsentisch oder futurisch formuliertes Gleichnis sei demgegenüber nur ein "rudimentäres Gleichnis, das nicht die vollkommene Form erreichte" und "aus irgendwelchen Gründen auf dem Wege" zu seiner "Vollendung steckengeblieben" ist. Solche Gründe meint Flusser für die Fragegleichnisse namhaft machen zu können: "Die Abweichung von der richtigen Form eines Gleichnisses, das einen vergangenen einzelnen Fall schildern sollte, ist durch die Einleitungsformel... verursacht", der es statt einer Erzählung um die "Ansprache der Zuhörer" geht.3 Die Zitate zeigen, daß Flusser zu seiner ästhetischen Wertung, die zugleich ein Urteil über das genetische Verhältnis beider Gleichnisformen enthält, nur kommen kann, weil er die Funktion der Tempora verkennt und die Hörerbezogenheit für ein - zumal negativ charakterisiertes Spezialissimum der besprechenden Gleichnisse hält. Eine ähnliche Position wie Flusser vertritt Harnisch. Er lastet Jülicher an, daß er die argumentativ-rhetorische Funktion des Bildwortes "zum maßgeblichen heuristischen Modell" für das Verständnis der Gleichnisse 1
Zum Folgenden vgl. jeweils Op.cit.
2
Eichholz, Gleichnisse der Evangelien. Form, Überlieferung, Auslegung, 1971.
3
Flusser, aaO. 54f.
3. Hörerperspektive und Sprecherperspektive
35
gemacht habe. Aufgrund dieser "Fehleinschätzung" sei der Forschung bis heute weitgehend verborgen geblieben, "daß sich die Gleichniserzählung (Parabel) Jesu als ein Formtyp eigener Prägung darstellt": Sie weise "im Unterschied zu anderen Formen seiner Gleichnisverkündigung Merkmale metaphorischer Rede" auf.1 Harnisch macht daraufhin den Versuch, die metaphorische Sprache der Gleichniserzählungen zu beschreiben, und dieser Versuch ist eine Stimme im gegenwärtigen Konzert zum Lob der Metapher2, die jede Brücke zwischen den beiden Formen der Gleichnisrede zerstört. Denn die These, die Metapher sei die "hermeneutische Konkurrentin des rhetorischen Paradigmas"3, übersieht erstens, daß das besprechende Gleichnis an allem teilhat, was Harnisch als metaphorisch bezeichnet. Sie übersieht zweitens, daß das erzählende Gleichnis eine argumentativ-rhetorische Komponente hat. Und sie hat schließlich keinerlei Blick für das, was den Unterschied ausmacht.
3. Hörerperspektive und Sprecherperspektive
Nach Adolf Jülicher soll das Gleichnis ein Urteil erwirken. Es kann deswegen nicht exegesiert werden, ohne Sprecher und Hörer ins Auge zu fassen. Der Sprecher erscheint dabei als die maßgebliche Autorität, an der man sich zu orientieren hat: Er ist derjenige, der über den Gedanken verfügt, den es aus dem Bild, mit dem er sich vorübergehend verbunden hat, zu befreien gilt. Der Hörer dagegen kommt primär als passives Objekt in den Blick, auf das der Sprecher einwirkt. Er kann in dem Maße vernachlässigt werden, wie die Exegese ihrem Ziele näherkommt. Jülichers Position ist nur selten als ganze festgehalten worden. Ihre Motive besitzen jedoch selbst dann eine große Anziehungskraft, wenn nicht auf Jülicher Bezug genommen wird. Das wird besonders deutlich an Tullio 1
Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, UTB 1343, 1985, bes. 118ff, hier 13. Vgl. ders., Die Sprachkraft der Analogie. Zur These vom 'argumentativen Charakter'der Gleichnisse Jesu, StTh 28,1974,1-20. 2
Dazu s.u.S. 53ff.
3
Harnisch, Gleichniserzählungen, 124.
36
Grundlegung
Aurelio, der das, was für Jülicher ein Gedanke ist, im Anschluß an LT. Ramseys Sprachtheorie als "disclosure" zu verstehen versucht. Häufiger allerdings hat die Relativierung von Jülichers Kategorien zugleich dazu geführt, daß die kommunikativen Aspekte der Gleichnisüberlieferung in den Hintergrund gerückt werden. Das läßt sich bereits bei Martin Dibelius und Rudolf Bultmann, in anderer Weise aber auch bei Dan Otto Via beobachten. Aurelio will "das Gleichnis als Versprachlichung einer Intention verstehen, von dem her die Intention selbst", Uber Jülicher hinaus aber auch "die Reaktion des Hörers/Lesers zu gewinnen sind".1 Denn Jesus habe den Hörer zwar nicht zu einem Urteil, aber "zu einer disclosure bringen" wollen, "d.h. zur selben Einsicht und zu demselben Engagement, die er selber hatte".2 Wie bei Jülicher wird der Sprecher also als derjenige aufgefaßt, der wirken will, der Hörer dagegen als derjenige, auf den eingewirkt wird. Der Hinweis auf die Reaktion des Hörers dagegen führt nur scheinbar über Jülicher hinaus. Denn diese Reaktion wird nur insofern beachtet, als der Hörer durch das Gleichnis, das für Aurelio die "verobjektivierte Versprachlichung der Urdisclosure Jesu" und somit ein "disclosure-Modell" ist, "zur ursprünglichen disclosure und zur Intention Jesu kommt".3 Dibelius beruft sich nur dort auf Jttlicher, wo er bei der Frage nach der Anwendung der Gleichnisse auch deren Verhältnis zum "Lehrgedanken" bzw. "Leitgedanken" erörtert.4 Er berücksichtigt jedoch weder hier noch bei der Untersuchung der Formen und Stoffe5 die für Jülicher so wichtige kommunikative Komponente. Ganz Ahnliches läßt sich bei Bultmann beobachten. Das Wesen der Gleichnisse besteht für ihn darin, "daß sie die Übertragung eines (an neutralem Stoff gewonnenen) Urteils ax£ ein anderes, zur Diskussion stehendes Gebiet fordern".6 Das kommt Jülicher sehr nahe, benennt aber charakteristischerweise weder den, der überträgt, noch den, der aufgefordert wird. Und so spricht Bultmann bei seiner "Übersicht und Analyse" des Materials ebenso wie bei der Darstellung der "Form und Geschichte des Stoffes" nur gelegentlich von Sprecher und Hörer.7 Die literarischen Merkmale, bei denen insbesondere auf die Erzählgesetze aufmerksam gemacht wird, werden als solche beschrieben. Vias Gleichnisbuch kann in dieser Hinsicht als Weiterführung Bultmanns angesehen werden. Denn auch er kann davon sprechen, daß Gleichnisse "von den Hörern ein Urteil erbaten", das zu einer "Entscheidung" herausforderte.8 Im
1
Aurelio, aaO. 21.
2
Ebd. 122.
3
Ebd. 107.
4
Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 31959, 253f.
5
Ebd. 249ff.
6
Bultmann, aaO. 214, vgl. 207f.
7
Ebd. 179ff. Via, aaO. 57f.
8
3. Hörerperspektive und Sprecherperspektive
37
übrigen aber geht es ihm um die Beschreibung der Strukturgesetze des autonomen ästhetischen Objekts, das alle Aufmerksamkeit auf sich versammelt.
Wer der Vernachlässigung der Sprecher-Hörer-Beziehung entgegentreten möchte, wird sich kaum auf das berufen dürfen, was sich an Jülichers Ansatz als problematisch erwiesen hat: die Konzentration auf den Gedanken und das Urteil. Aber auch die Rede von der Wirkung ist so lange problematisch, wie nur die Einwirkung des Sprechers auf den Hörer ins Auge gefaßt wird. Es muß der andere Aspekt hinzugenommen werden: Auch der Hörer wirkt auf den Sprecher ein. Jülicher hat dies zwar durchaus beachtet, wenn er ausführt, daß der Sprecher mit dem Gleichnis ein Gebiet betritt, auf dem ein dem Gedanken ähnlicher Satz seiner Wirkung gewiß ist. Doch hat er nur unzureichend ausgearbeitet, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Gleichnis den Hörer bei seiner Gewißheit antrifft. Anders formuliert: Wie kommt es dazu, daß ein Gleichnis, wie es fast durchgehend vorausgesetzt wird, ein besonderes Evidenzerlebnis auslösen kann? Das Gleichnis kann nur dann zu einem Evidenzerlebnis führen, es kann den Hörer nur dann bei seiner Gewißheit packen, wenn dieser indirekt auf seine Gestaltung Einfluß nimmt. Er ist nur insofern Objekt der Einwirkung, als der Sprecher bei der Bildung des Gleichnisses bewußt oder unbewußt antizipiert, wo sein Gegenüber steht. Er fügt das, was er sagen will, in das dem Hörer Vertraute und Selbstverständliche ein. Beides geht eine unlösbare Verbindung ein, damit das Gesagte einleuchtet. Das Gesagte selber erscheint so als das Vertraute und Selbstverständliche, dessen Konsequenzen sich der Hörer nicht entziehen kann. Aufgrund dieser Überlegung ist die Beobachtung Heinrich Greevens aufzugreifen, daß die mit xiq ¿5 üyüv eingeleiteten Fragegleichnisse eine Antwort erwarten, "die nicht der Redende sich selbst gibt..., sondern die der Hörer geben soll, sei es mit dem Munde, sei es mit dem Herzen".1 Greeven reflektiert freilich nicht die Bedingung dafür, daß der Sprecher vorgeben kann, den Hörer bereits an der Konstitution der Ereignis- und Handlungsfolge des Gleichnisses selber zu beteiligen. Ihm kommt es vielmehr erneut nur darauf an zu zeigen, daß das Gleichnis mit der Frage
1
Greeven, "Wer unter euch...?", in: WuD NS 5, 1952, 86-101, hier 92.
38
Grundlegung
"auf das Urteil des Hörers" zielt.1 Georg Eichholz lehnt sich zwar an Greeven an, betont aber sehr viel nachdrücklicher, daß das Gleichnis Anrede ist.2 Es faßt den Hörer nicht nur als Gegenüber ins Auge, sondern entwirft gelegentlich eine Figur, die ihn zur Begegnung mit sich selbst einlädt.3 Eichholz kann daraufhin sogar davon sprechen, daß der Hörer das Gleichnis mitformt4, ohne freilich danach zu fragen, wie es zu einer solchen Mitformung kommt. Überzeugend sind die von Eichholz beobachteten Phänomene erst von Eta Linnemann reflektiert worden. Sie belastet ihre Einsichten freilich mit Problemen, die ihr aus der Rezeption von Jülichers Gleichnistheorie erwachsen. Wie Jttlicher bezeichnet auch Linnemann das Gleichnis als ein Beweismittel5, mit dem der Sprecher "auf den anderen einwirken, seine Zustimmung erwerben, sein Urteil in eine bestimmte Richtung lenken, ihn zu einer Entscheidung nötigen, ihn überführen oder überwinden" möchte.6 Jedoch ist das Gleichnis für sie auch dann dialogisch strukturiert, "wenn nur der Erzähler zu Wort kommt".7 Das hat zur Konsequenz, daß es bei der Auslegung nicht nur darauf ankommt, "welche Gedanken der Erzähler mit dem Gleichnis verbunden hat, es muß auch beachtet werden, welche Gedanken, Vorstellungen und Wertungen in den Hörern des Gleichnisses wirksam waren".8 Diese können aus dem Gleichnis selber erschlossen werden, weil der Sprecher das Urteil der Hörer über die Situation aufnimmt und ihnen "etliches einräumt, damit sie den Bezug der Parabel zur Sache erkennen müssen".9 Dadurch kommt es zum Phänomen der Verschränkung: "In der Parabel verschränkt sich das Urteil des Erzählers über die fragliche Situation mit dem der Hörenden."10 Diese Verschränkung aber erlaubt Rückschlüsse auf die Situation, die freilich insofern unter starkem Vorbehalt stehen, als das Urteil des Hörers nur in der Gestalt erscheint, in der der Sprecher es aufgefaßt hat. 11
1
Ebd.
2
Eichholz, Gleichnisse, 31ff.
3
Ebd. 35.
4
Ebd.
5
Linnemann, aaO. 31.
6
Ebd. 27.
7
Ebd.
8
Ebd. 31.
9
Ebd. 35.
10
Ebd.
11
Ebd. 35f.
3. Hörerperspektive und Sprecherperspektive
39
Erst Linnemanns Kategorie der Verschränkung wird der Art und Weise gerecht, in der der Hörer über den Sprecher auf die Gestaltung des Gleichnisses Einfluß nimmt. Problematisch ist allerdings, daß er ausschließlich als jemand aufgefaßt wird, der ein Urteil bzw. "Gedanken, Vorstellungen und Wertungen" besitzt. Das trifft, wie bereits Jülicher "in glücklicher Inkonsequenz zu den eigenen Prämissen"1 erkannt hat, nur einen Teilaspekt seiner Realität: Gleichnisse wenden "sich nicht an den regelrecht Schlüsse ziehenden Verstand, sondern an den ganzen Menschen, zugleich an seine Sinne, seine Erfahrung, sein Gefühl und sein Gewissen".2 Und wie das Gleichnis als ganzes nicht auf ein Satzurteil reduziert werden kann, so der Hörer nicht darauf, daß er ein Satzurteil besitzt. Ich möchte deswegen vorschlagen, die Kategorie der Verschränkung durch die der Hörerperspektive zu ersetzen. Das Gegenüber zum Hörer ist dafür verantwortlich, daß das Gleichnis als Anrede formuliert ist. Es läßt auch verstehen, warum der Hörer als Gleichnisfigur porträtiert und auf seine Vorstellungen und Urteile Bezug genommen wird. Doch sind damit lediglich Teilmomente des sehr viel umfassenderen Sachverhalts angesprochen, daß das Gleichnis in allen Einzelheiten auf ihn hin entworfen ist. Seine Plausibilität ist die Plausibilität für den Hörer. Struktur, Aufbau, Ereignis- und Handlungsfolge sind ebenso wie die Charakterisierung der Protagonisten und deren wörtliche Rede so konzipiert, daß der Hörer das Gleichnis in der gelenkten Dialektik von Identifikation und Ablehnung rezipieren kann. Denn alles ist darauf angelegt, sich im Rhythmus von Spannung und Entspannung der Erfahrung des Hörers zu integrieren und seinen Erwartungshorizont ebenso zu bestätigen wie zu erweitern, aber auch zu erschüttern und neu aufzubauen. Zugespitzt läßt sich formulieren: Es gibt sich so sehr in seine Hand, daß der Anschein entstehen kann, er vertausche die Rolle dessen, der das Gleichnis rezipiert, mit der Rolle dessen, der es erfindet. Diese Verstrickung strebt das Gleichnis jedenfalls an. Ob sie gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie überzeugend sich der Sprecher auf die Realität des Hörers einläßt: "seine Sinne, seine Erfahrung, sein Gefühl und
1
Jüngel, aaO. 102.
2
Jülicher, aaO. 1,162.
40
Grundlegung
sein Gewissen". Erst so erhält das Gleichnis die Chance, seine spezifische Wirksamkeit zu entfalten. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie das Verhältnis zur Sprecherperspektive zu bestimmen ist. Dabei ist zunächst zweifellos zu beachten, daß der Hörer nur insoweit Einfluß auf die Gestaltung des Gleichnisses hat, wie er in der ihrerseits von "Sinnen, Erfahrung, Gefühl und Gewissen" geprägten Vorstellung des Sprechers lebt. Er ist eine auf den Hörer bezogene Gestalt des Sprechers, und um zum wirklichen Hörer vorzustoßen, bedarf es einer zusätzlichen Reflexion, deren Ergebnisse immer starken Vorbehalten unterworfen bleiben. Ebenso aber gilt: Der Sprecher kommt primär als derjenige in den Blick, der das Ziel hat, daß sein Gleichnis vom Hörer nachvollzogen wird. Was er sagen will, muß deshalb in ganz spezifischer Weise mit dessen Realität verflochten sein. Nur so ist die Rezeption, die er sich wünscht, erreichbar, und das Gleichnis ist eine literarische Form, die diese Verflechtung ermöglicht. Mit diesen Überlegungen habe ich auf Probleme der Gleichnisauslegung zuzuspitzen versucht, was Harald Weinrich bei seinem Plädoyer "für eine Literaturgeschichte des Lesers" oder Wolfgang Iser bei seinen Ausführungen über "die Appellstruktur der Texte" erörtert hat. Aber auch die "Provokation der Literaturwissenschaft" durch Hans Robert Jauß stand mir vor Augen. Alle drei Autoren sind Vertreter einer Richtung innerhalb der Literaturwissenschaft, die ihren Gegenstand vom Rezeptionsvorgang her zu verstehen versucht. Diese Richtung, die gegenwärtig intensiv diskutiert wird, akzentuiert zugunsten des Hörers, was sich immer mehr durchzusetzen scheint: Sprache und Literatur haben eine pragmatische Dimension, die zugänglich wird, wenn man einen Text auf den Kommunikationsprozeß von Sprecher und Hörer bezieht. Weinrich geht von der Beobachtung aus, daß die Literaturgeschichte ihren Gegenstand "mit Vorliebe nicht aus der Perspektive des Lesers", für den das literarische Werk geschaffen worden ist, "sondern aus der des Autors" betrachtet.1 Die Linguistik aber definiert einen Text "als Information, die in einem Kommunikationsvorgang von einem Sprecher ('Sender') zu einem Hörer ('Empfänger') geht. Die Information wird dabei vom
1
Weinrich, Für eine Literaturgeschichte des Lesers, in: V. Zmegac (Hrsg.), Methoden deutscher Literaturwissenschaft, FAT 2001, 21972, 259-273, hier 259.
3. Hörerperspektive und Sprecherperspektive
41
Sprecher in Sprachzeichen verschlüsselt, vom Hörer wieder entschlüsselt."1 Eine Kommunikation kommt also nur dann zustande, "wenn nicht nur die Verschlüsselung, sondern auch die Entschlüsselung gelungen ist".2 Deswegen empfiehlt es sich für die Literaturwissenschaft noch mehr als für die Linguistik, ihren Gegenstand "nicht vom Sprecher, sondern vom Hörer her zu betrachten".3 Denn ein literarisches Werk antizipiert nicht nur die Erwartungen einer Lesergruppe, sondern enthält auch das Bild eines Lesers. Insofern gilt: "Er ist der Mitschöpfer des literarischen Werkes."4 Weinrichs Ausführungen lassen sich durch einen Blick auf die schriftstellerische und rhetorische Praxis erhärten. s Sie zielen in die gleiche Richtung wie die von Iser in einem programmatischen Aufsatz begründete These, daß "Bedeutungen literarischer Texte... überhaupt erst im Lesevorgang generiert" werden; "sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt".6 Denn jeder literarische Text enthält verschiedene Unbestimmtheitsgrade bzw. Leerstellen, die der Leser als Mitautor des Werkes ausfüllen soll und faktisch auch ausfüllt. Die dadurch in Gang kommende Interaktion von Autor und Leser, die die Bedeutung eines Textes zwangsläufig "in einer je individuellen Gestalt" erscheinen läßt7, wird von Iser außerordentlich anschaulich beschrieben.8 Bei Jauß sind Beobachtungen wie die von Weinrich oder Iser zu einem differenzierten Programm einer Literaturgeschichtsschreibung ausgebaut, von dem ich nur einige Aspekte aufgreifen möchte. Danach ist die Uterarische Erfahrung des Lesers eines Werkes im Zusammenhang des "objektivierbaren Bezugssystem(s) der Erwartungen" zu beschreiben, "das sich für jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt".9 Dieser Erwartungshorizont
1
Ebd. Zu beachten ist, daß "Sprecher" und "Hörer" nicht auf den Bereich mündlicher und "Text" nicht auf den Bereich schriftlicher Kommunikation festgelegt sind. Dieser Sprachregelung schließe ich mich an. 2
Ebd.
3
Ebd.
4
Ebd. 263. Vgl. bes. 265f.
5
Vgl. z.B., was so verschiedene Autoren wie M. Frisch, Öffentlichkeit als Partner, edition suhrkamp 209, 41972, 56ff, und R. Bohren, Predigtlehre, 1971, 465ff, über die Bedeutung ausführen, die die "Erfindung" des Hörers für die Entstehung eines literarischen Werkes bzw. einer Predigt hat. 6
Iser, Die Appellstruktur der Texte, in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, UTB 303, 1975, 228-252, hier 229. 7
Ebd.
8
Vgl. bes. ebd. 234ff, aber auch den Aufsatz "Der Lesevorgang", ebd. 253-276.
9
Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Ders., Literaturgeschichte als Provokation, edition suhrkamp 418, 21970, 144-207, hier 173f, im Original gesperrt.
42
Grundlegung
kann primär bestätigt oder korrigiert werden. Aus der Dialektik von Bestätigung und Korrektur ergibt sich die Bedeutung eines Werkes. Sein Sinn und seine Form aber realisieren sich erst im Verlauf der Geschichte seiner Rezeption. Insofern ist es auf Aktualisierung angewiesen, die nicht erst als etwas Sekundäres zum eigentlichen Werk als dem Primären hinzukommt. Von daher ist auch die Rolle des Interpreten zu verstehen. Denn er "muß selbst immer erst wieder zum Leser werden, bevor er ein Werk verstehen und einordnen, anders gesagt: sein eigenes Urteil im Bewußtsein seines gegenwärtigen Standorts in der historischen Reihe der Leser begründen kann".1
Kommunikationstheoretische, textpragmatische und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte dürften für die methodologische und hermeneutische Neubesinnung der Exegese von großer Bedeutung sein. Darauf hat vor allem Klaus Berger aufmerksam gemacht.2 Bergers zahlreiche Hinweise auf Gleichnisse zeigen aber auch, daß es besonders naheliegt, solche Gesichtspunkte bei der Gleichnisauslegung zu beachten. Denn da Gleichnisse seit Jülicher als eine spezifische Form kommunikativer Rede angesehen werden, lassen sie sich dort organisch mit der bisherigen Forschung verbinden. Das belegen neben Berger mehrere Beiträge speziell zur Gleichnisauslegung. Erwähnenmöchte ich lediglich diejenigen von Alex Stock, Hans-Josef Klauck, Ingo Broer und Susan Wittig So anregend die Arbeiten im ganzen wie im einzelnen sind, so wenig zureichend scheint mir bisher das Verhältnis von Sprecher und Hörer reflektiert worden zu sein. Immer wieder wird lediglich von der Absicht der Einwirkung des einen auf den anderen gesprochen, ohne nach den Bedingungen dafür zu fragen, und oft wird der Hörerbezug nur zur Erklärung einzelner literarischer Merkmale, nicht aber des ganzen Gleichnisses herangezogen. So betont Berger im Hinblick auf den Empfänger (Rezipienten) lediglich, daß "der Text Wirkung und Erfolg haben" soll.3 Denn: "Der Autor verfügte über die Traditionen und Konventionen und hat die bedeutungserzeugenden Entscheidungen getroffen. Er hat die 'Direktiven der Rezeption' gegeben".4 Durch eine solche Bewertung der Absicht des Autors wird - zumindest, was Gleichnisse betrifft - zu stark relativiert, welche Bedeutung der Hörer bzw. die Antizipation seiner Realität durch den Sprecher für die Konstitution des Textes hat. Denn die Traditionen und Konventionen, über die der Sprecher verfügt, werden auf
1
Ebd. 171, im Original gesperrt.
2
K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, UTB 658,1977, bes. 12. 86ff. 242ff.
3
Berger, aaO. 12.
4
Ebd. 92.
3. Hörerperspektive und Sprecherperspektive
43
den Hörer hin selegiert und akzentuiert. Bergers zunächst so einleuchtender Vorschlag, "Kommunikation" durch "Mitteilung" zu ersetzen1, ist dementsprechend fragwürdig, auch wenn man sich vor Augen halten muß, daß die Kommunikation immer nur aus der Perspektive des Sprechers zugänglich ist. Bei seinen Überlegungen zu Lk 15 stehen auch für Stock die Strategien im Vordergrund des Interesses, die der Erzähler verfolgt.2 Doch sieht er in diesen Strategien - den Erzählperspektiven - den Ort antizipiert, an dem sich der Hörer befindet. Und die Stärke seiner Ausführungen hegt vor allem darin, daß er die verschiedenen Ebenen untersucht, auf denen der Standpunkt, "von dem aus die Darstellung erfolgt"3, zum Ausdruck kommt: die Ebenen der Raum-Charakteristik, der Zeit-Charakteristik, der Psychologie, der Phraseologie und der Ideologie/Ethik. Hervorheben möchte ich zunächst die Beobachtungen zur Ebene der Psychologie, weil Stock damit am Beispiel von Lk 15, llff eines der wichtigsten Mittel erkannt hat, mit denen der Sprecher die Reaktion des Adressaten steuert: "Wenn der Leser mit Gedanken und Gefühlen auf die Geschichte reagiert, so reagiert er also nicht bloß auf erzählte Fakten, sondern auch auf dazu erzählte Gefühle und Gedanken der handelnden Figuren, identifiziert sich damit oder distanziert sich davon."4 Stock zeigt aber auch, daß die Ebene der Phraseologie "der ausgezeichnete Ort der Bewertungen" ist, an dem "die erzählten Zustände und Ereignisse besprochen" werden.5 Die Ausführungen zur Ebene der Ideologie/Ethik dagegen scheinen mir problematisch. Dehn es ist zwar richtig, daß Lk 15,llff "keine monoperspektivische Geschichte (ist), die den Leser/Hörer in die Identifikation mit einem Helden hineinzieht"; doch wird der Leser/Hörer durchaus nicht "nacheinander durch die Perspektive des jüngeren Sohnes, des Vaters, des älteren Sohnes hindurchgeführt".6 Vielmehr soll er die beiden Söhne auch dort aus der bewertenden Perspektive des Vaters begleiten, wo dieser nicht anwesend ist. Stärker als Stock betont Klauck, daß neben der Intention des Autors auch "der Erwartungshorizont der Adressaten" zu berücksichtigen ist, weil dieser "darüber mitentscheidet, was man einem Autor noch zumuten kann und was nicht".7 Seine Einzelexegesen zeichnen sich dementsprechend dadurch aus, daß immer wieder der intensive Hörerbezug hervorgehoben wird.8 Broer dagegen macht weniger am exegetischen Detail als im Programmatischen auf den rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Aspekt der Gleichnisauslegung aufmerksam. Er konzentriert sich dabei freilich im Anschluß an Iser nur auf das Problem der Unbestimmt-
1
Ebd.
2
Stock, Textentfaltungen, bes. 30ff.
3
Ebd. 31.
4
Ebd. 34.
5
Ebd. 36.
6
Ebd. 44.
7
Klauck, aaO. 146.
8
Vgl. das zusammenfassende Urteil ebd. 357.
44
Grundlegung
heit und der Leerstellen, ohne ausreichend zu berücksichtigen, inwiefern das ganze Gleichnis vom Hörerbezug lebt. Fraglich ist zudem, ob der offene Schluß von Mt 20, lff als Leerstelle im Sinne Isers bezeichnet werden darf. Zwar soll dieser Schluß zweifellos "den Hörer/Leser... zur Auffüllung... motivieren".1 Doch ist vom Erzähler nicht offengelassen, sondern festgelegt, wie er sich die Auffüllung wünscht. Entsprechendes ist zur Charakterisierung des offenen Schlusses von Lk 15, llff durch Stock zu sagen.2 Am Schluß sei darauf hingewiesen, daß Isers Theorie der Leerstellen auch zur Deutung der Geschichte der Gleichnisexegese herangezogen werden kann. Wittig jedenfalls versucht zu zeigen, daß die Bedeutung des Gleichnisses sich nicht allein aus der Analyse des Kontextes und der Erzählstruktur ergibt. Es gelte vielmehr ebenso: "The significance... lies in the reader's own act ofstructuration, in his efforts to find coherence and significance, to widerstand both the parable and his own system of values and beliefs which is called to his immediate attention by the puzzle of the parable's indeterminacy".3 Im folgenden Kapitel sollen die Überlegungen zur Hörerperspektive durch einen Blick auf die Rhetorik weitergeführt werden. Dabei kommt es mir weder auf eine Darstellung des Aufbaus der R e d e an, noch soll die Lehre von der Xe£ic bzw. von der "elocutio", zu der die Tropen und Figuren gehören, erläutert werden. Im Vordergrund steht vielmehr das Interesse an den Grundsätzen, deren Kenntnis die Bedingung für das Verständnis der Einzelteile der Rhetorik ist.
4. Bene dicendi scientia
Wenn die Rhetorik, wie Quintilian
angibt, schon früh als ire\0oüc
6nmoupYÖc; bzw. "vis persuadendi" definiert worden ist, so kommt darin zum Ausdruck, daß die Konzentration auf den Hörer seit je zu ihren zentralen Aufgaben gehört: "Ducere homines dicendo in id quod auctor velit", ist nach einem Werk, das Aristoteles zugeschrieben wird, ihr Zweck
1
Broer, Die Gleichnisexegese und die neuere Literaturwissenschaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Exegese von Mt 20,1-16, in: Biblische Notizen 5,1978,13-27, hier 25. 2
Stock, aaO. 44.
3
Wittig, A Theory of Multiple Meanings, in: Semeia 9, 1977, 75-103, hier 96.
4. Bene dicendi scientia
45
(Inst. II15, ßf-lO).1 Der Redner muß sich deshalb, will er Erfolg haben, auf alle Faktoren einstellen, die die Situation des Hörers bestimmen:"... quid, apud quem, pro quo, contra quem, quo tempore, quo loco, quo rerum statu, qua vulgi fama dicendum sit: quid iudicem (d.i. der Hörer) sentire credibile sit, antequam incipimus: tum, quid aut desideremus aut deprecemur" (IV 1, 52). So ist, wie Cicero in unmißverständlicher Eindeutigkeit feststellt, die Anpassung an die Welt des Hörers das entscheidende Kriterium, an dem sich der Redner orientiert: "Stets ist das ausschlaggebende Moment für die Sprache der Redner die Einsichtskraft ihrer Zuhörer gewesen. Alle nämlich... beobachten die Wünsche ihrer Zuhörer, und danach, nach ihrem Wink und Willen, richten sie sich in jeder Weise ein und passen sich an (accommodant)."2 Die einzige Differenz, die er zwischen Redner und Hörer sieht, ist, daß dieser nur bemerkt, "quid efficiatur", jener dagegen weiß auch, "cur id efficiatur".3 Quintilian ist mit der Definition der Rhetorik als "vis persuadendi" nicht einverstanden. Er selber spricht in Anlehnung an andere lieber von der "bene dicendi scientia", wobei das "bene" die Kongruenz von Gedanken und sprachlichem Ausdruck, vor allem aber die Sittlichkeit des Redners als eines "vir bonus" meint (II 15, 33ff). Er versucht damit der platonischen Kritik der sophistischen Rhetorik als einer "adulatio" ("Schmeichelkunst") gerecht zu werden (II 15, 25.28), die nicht nur zum Guten, sondern auch zu jedem beliebigen Schlechten überreden könne (II 15, lff). In Buch XII führt er im einzelnen aus, inwiefern ausschließlich derjenige gut reden kann, der sittlich gut ist. Zugleich aber fragt er: Was nützt dem Philosophen die Erkenntnis der Wahrheit, wenn er den Hörer durch Anpassung an seine Welt nicht von ihr überzeugen kann (IV 14,27ff)? Ein "vir bonus" muß, um dem Guten zum Erfolg zu verhelfen, seinem Hörer sogar "einmal den wahren Sachverhalt entziehen" oder "auch mit Unwahrem die Verteidigung stützen" (XII 1, 36.40). Und so hat Quintilian mit allen rhetorischen Finessen, die gerade Buch XII auszeichnen, erreicht, was er
1
Vgl. Martin, aaO. Iii.
2
Cicero, Orator 8,24, übersetzt in Anlehnung an B. Kytzler (Hrsg.), M. T. Cicero, Orator. Lateinisch-deutsch, Tusculum-Bttcherei, 1975. 3
Cicero, Brutus 50,187.
46
Grundlegung
erreichen wollte: die Rechtfertigung des Gebrauchs der Mittel, die für die Rhetorik seit je charakteristisch gewesen sind. Ich möchte zunächst drei solcher Charakteristika kurz erläutern, und zwar die Regel von der aü^naiq icai xaireivuxnq (amplificatio et minutio), von der evöpYeia (evidentia) und von der Erregung der iröen icai n9n (adfectus). Ausführungen zum Gebrauch der aü£navxaaiai führt Quintilian die irpoowiroiroiia (prosopopoeia) an, die den auftretenden Personen "fictae... orationes" in den Mund legt (VI 1,26).1 Zwar zeigt sich hier erneut die Ambivalenz der Rhetorik. Denn die "fictae orationes" konkretisieren das Hauptziel der evöpYeia: Die "res" als "veri similia" erscheinen zu lassen, wozu es nötig ist, "etiam falso adfingere quidquid fieri solet" (VIII 3, 70). Doch ist ebenso zu beachten, daß das, was Quintilian zu den "fictae orationes" bemerkt, ausgezeichnet die Funktion erhellt, die Reden und Selbstgespräche in Gleichnissen haben: "... nudae tantum res movent: at cum ipsos loqui fingimus, ex personis quoque trahitur adfectus" (VI 1, 25). Und über diese Einzelheit hinaus: Wird nicht immer wieder gerühmt, wie anschaulich und lebensecht - Quintilian würde sagen: "veri similia" - die Gleichnisse sind? Und wird nicht ebenso immer wieder hervorgehoben, daß sie den Adressaten zu der Einsicht führen wollen, es gehe um seine eigene Sache? Die Rhetorik kann den Blick dafür schärfen, wie wenig solche Phänomene mit der These zu erklären sind, die Gleichnisse bildeten die Realität ab. Das Verhältnis zur Realität ist sehr viel komplizierter. So zeigen bereits die Regeln der "amplificatio et minutio" und der "evidentia", daß es nicht primär die Gedanken sind, die der Rede zur Wirkung verhelfen. Es kommt vielmehr, wie aus dem Zitat zur "prosopopoeia" hervorgeht, zugleich auf das "movere adfectus" an, das neben dem "docere" und "delectare" die dritte, entscheidende Aufgabe des Redners ist (III 5, 2).2 Zwar sind die "probationes" der "argumentatio", die die in der "narratio" vorgestellte "res" unterstützen sollen, außerordentlich wichtig, und wie jede Rhetorik bietet auch Quintilians "Institutio" in Buch V eine mit vielen Beispielen gespickte Klassifikation. Doch was nützen alle "probationes", wenn der Hörer das, was er rational eingesehen hat, nicht auch tun will? Ob er aber tut, wovon er überzeugt worden ist, hängt ausschließlich davon ab, daß es dem Redner gelungen ist, seine "adfectus"
1
Sie wird ausführlich behandelt in IX 2, 29-37. Vgl. Martin, aaO. 292f.
2
Vgl. Martin, aaO. l l f .
48
Grundlegung
zu erregen (VI 2, 3.5f). Und so gilt: "Atqui hoc est, quod dominatur in iudiciis: haec eloquentia regnat" (VI 2, 4). Daraufhin konzentriert sich die ganze Rede auf das "movere adfectus".1 Seinen besonderen Ort hat es im Prooemium, das den Hörer "benevolem, attentum, docilem" machen soll (IV 1), vor allem aber im Epilog (VI 1 f). Denn da der Hörer anschließend dem unmittelbaren Einfluß des Redners entzogen ist, entscheidet sich hier, ob die durch die Erregung ausgedrückte Identifikation mit der "res" zu praktischen Konsequenzen führt: Hat nicht, so fragt Quintilian (VI 2, 7), wer "in Schluchzen ausbricht", bevor er sich zur Urteilsfindung zurückzieht, "schon in aller Öffentlichkeit sein Urteil gesprochen"? Die Gefühle selber teilt Quintilian mit der Tradition in nen und irden ein. Erstere lassen das Dargestellte so wirken, "als ströme alles unmittelbar aus dem natürlichen Wesen der Dinge und Menschen" (VI 2, 13). Die eigentlichen "adfectus" dagegen, die den Menschen zu "Zorn, Haß, Furcht, Abscheu und Mitleid" mitreißen, sind die Treten (VI 2, 20). Und insbesondere sind es eXeoc icai 4>ößoq (miseratio et metus) - am besten zu übersetzen mit "Jammer und Schauder"2 -, die dazu führen, daß der Hörer das Dargestellte zur eigenen Sache macht. Er kann es freilich nur dann zur eigenen Sache machen, wenn der Redner das, was er seinen Personen beilegt, auch selber repräsentiert. Denn "das Geheimnis der Kunst, 'adfectus' zu erregen", liegt darin, daß "wir bei dem, was der Wahrheit gleichen soll, auch selber den 'adfectibus' deijenigen gleichen, die sie wirklich durchmachen, und unsere Rede sollte aus einer Gemütsstimmung hervorgehen, wie wir sie auch bei dem Richter zu erzeugen wünschen" (VI 2, 26f). Alles, worüber geredet wird, muß der Redner selbst in seine "adfectus" aufnehmen, so daß Quintilian in einer letzten Zuspitzung formulieren kann (X 7, 15): "Unser Inneres (pectus) ist es nämlich, was beredt macht, und die geistige Kraft (vis mentis) in uns." Die Identifikation als Voraussetzung für die Übertragung bezeichnet Quintilian als sein persönliches Berufsgeheimnis (VI 2, 35f), obwohl der gleiche Zusammenhang bereits von Aristoteles und Cicero ausführlich
1
Vgl. ebd. 158ff.
2
Vgl. M. Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, 1973, 11.90f.
4. Bene dicendi scientia
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entfaltet worden ist.1 Besonders aufschlußreich ist, was Aristoteles dazu in seiner Poetik bemerkt. So empfiehlt er zunächst ganz im Sinne der Rhetorik, der Dichter solle sich das Dargestellte "so viel als möglich anschaulich vor Augen halten", wobei "diejenigen am überzeugendsten wirken, die auf Grund derselben Natur die iróen darstellen. Der selbst Erregte stellt Erregte und der selbst Zürnende stellt Zürnende am wahrheitsgetreuesten dar".2 Über die Rhetorik hinaus aber führt die These, die Darstellung der iróen befreie vom Dargestellten: 61' éxéou kcü ößou irepaívouoct TTIV TWV TOIOÚTWV IRAÖNUÖTWV icáGapaiv.3 Der Hinweis auf Aristoteles und Cicero, deren rhetorische Schriften Quintilian zweifellos gekannt hat, soll ihn nicht der Lüge bezichtigen. Er soll lediglich den Schulzusammenhang andeuten, in dem Quintilian auch dort steht, wo er am persönlichsten wird. Denn letztlich kommt es in der Rhetorik weder auf die Zitation von Autoritäten noch auf das Lernen von Regeln, sondern auf die Übersetzung des Geleraten in die eigene Erfahrung an (II 5, 15): "Nam in ómnibus fere minus valent praecepta quam experimenta." Und diese Erfahrung wird durch die Aristotelische Katharsislehre in einer Weise verstehbar, wie es der Rhetorik selber wohl nicht bewußt gewesen ist: Durch die Anpassung an den Hörer erregt der Redner bestimmte Seiten von dessen Innenleben, und zwar so, daß er diese über die Anbindung an die "res" für die Erreichung des Redezwecks nutzbar machen kann. Dabei verbürgt der Redner die Echtheit des Dargestellten. Er ermöglicht aber auch, daß der Hörer zu einer Katharsis seines Innenlebens kommt. Und gerade das Phänomen einer solchen Katharsis wird einen Teil der Faszination erklären, die die Rhetorik für die ganze Antike gehabt hat: Auf dem Forum, in der Schule oder in der Deklamationsveranstaltung durften sich die Leidenschaften austoben, die im Alltag unter Kontrolle gehalten werden mußten. Was das "movere adfectus" bewirkt, liegt sicher weit entfernt von dem, was die Gleichnisse bewirken. Trotzdem scheint mir, daß die Rhetorik
1
Aristoteles, Ars rhetorica II, 1-11; Cicero, De oratore II, 188-204.
2
Aristoteles, Ars poetica 17,1455a 22ff, übersetzt in Anlehnung an O. Gigon, Aristoteles, Poetik. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von O. G., Reclam UB 2337,1961. 3
Ebd. 6,1449b 27f. Vgl. bes. ebd. 14, 1453b-54a. Vgl. Fuhrmann, aaO. 90ff.
50
Grundlegung
auch hier an einem Extrem thematisiert hat, was eine wichtige Komponente der Gleichnisse darstellt. Lk 15, llff z.B. appelliert mit dem Elend, in das der jüngere Sohn hineingerät, an das Mitleid des Hörers, das in Sympathie umschlägt, als er seine Sünden bekennt und zum Vater zurückkehrt. Und diese Sympathie wird auf den Vater gelenkt, als dieser seiner überschwenglichen Freude Ausdruck gibt. Umgekehrt aber soll sich Zorn gegen den älteren Sohn richten, als dieser sich der Beteiligung am Freudenfest entzieht. Und zu seinem Ziel kommt das Gleichnis dann, wenn der Hörer die Worte, die der Vater dem Älteren entgegenhält, in das eigene Leben übersetzt. Bei der Rede entscheidet letztlich der Epilog darüber, ob das "movere adfectus" die Urteilsfindung beeinflußt, während es beim Gleichnis von der am Schluß formulierten Pointe abhängt, ob der Hörer seine Lebenspraxis neu orientiert. Und wie der Epilog noch einmal die wichtigsten Gesichtspunkte der ganzen Rede rekapituliert, so ist die Pointe nicht zu verstehen ohne die Einzelzüge, die ihr vorausgehen. Das aber wirft ein Licht zurück auf die Eröffnung von Gleichnissen: Ein Mann hatte zwei Söhne (Lk 15, 11); ein König wollte mit seinen Sklaven abrechnen (Mt 18, 23); ein Säemann ging aus zu säen (Mk 4, 3). Sind das nicht ebenso karg wie präzis formulierte Angaben, die genauso die Aufmerksamkeit erregen wollen1 wie das Prooemium der Rede? In neuerer Zeit hat insbesondere Klaus Dockhorn betont, wie beherrschend nicht nur für die antike Rhetorik selber, sondern auch für ihre Rezeption bis ins 18. Jahrhundert das Interesse an der Wirkung auf den Hörer gewesen ist.2 Die Rhetorik will mehr als den Verstand, sie will den ganzen Menschen in ihren Bann ziehen. Und die Regeln zur "amplificatio et minutio" oder zur "evidentia" sind nur Beispiele für das intensive Bemühen, das in der Lehre vom "movere" der Affekte kulminiert. Die dabei entwickelten Kategorien haben es ermöglicht, wirkungsvolle Reden auszuarbeiten, aber auch, Reden und Texte verschiedenster Art zu interpretieren. Und davon kann die Exegese der Gleichnisse profitieren. Das betrifft nicht nur die einzelnen literarischen Merkmale, sondern auch
1 2
Vgl. Stock, aaO. 21ff.
Vgl. Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Respublica 2,1968.
4. Bene dicendi scientia
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das Profil als ganzes, die Fiktionalität,die diesen Merkmalen erst ihren Ort anweist. Und es betrifft vor allem die Einsicht, daß die Fiktionalität von der Hörerperspektive aus definiert werden muß. Gerade diese Einsicht gewinnt eine Anschaulichkeit, die bisher nicht gegeben werden konnte. Damit ist natürlich nicht gemeint, daß dem Sprecher und Hörer der Gleichnisse der Einfluß, den kommunikative Faktoren auf die Form der Rede haben, so bewußt gewesen ist wie dem Rhetoriklehrer. Im Hinblick auf den Hörer ist das von der Rhetorik selber reflektiert worden, wenn sie betont, wie wichtig es ist, daß ihre Technik unbemerkt bleibt. Dem dient zunächst die auch von Quintilian entfaltete Lehre vom irpeirov (decorum), die besagt, daß die Darstellung dem Dargestellten kongruent sein müsse (XI l). 1 Das gleiche soll aber auch durch die Regel erreicht werden, nach der der Redner seine Kunst verbergen müsse (occultare), weil anders ihre Wirkung aufgehoben werde (VIII 3, 2). So sagt Quintilian z.B. (IX 2, 69.72):"... wenn eine 'figura' offen sichtbar ist, verdirbt sie gerade das, was an ihr 'figura' ist." Denn der Hörer "schenkt dann den Figuren am meisten Vertrauen, wenn er meint, wir wollten überhaupt nicht reden". Oder:"... die Ausdrücke, die die Mühe verraten, die sie gemacht haben,... finden nicht nur keinen Anklang, sondern verlieren auch ihre Glaubwürdigkeit" (Vm, Prooemium 23). Deshalb gilt: Die Verbergung der Kunst ist die "allerhöchste Kunst" (IV 1, 57). Diese "allerhöchste Kunst" zeigt erneut die Zweideutigkeit, die die Rhetorik auszeichnet: Sie kann eine Kunst der Verstellung sein, und es ist nicht zufällig, wenn auch Quintilian immer wieder auf die Analogie zur Schauspielkunst hinweist, die, wie insbesondere aus der Lehre von der "pronuntiatio" hervorgeht, mehr als eine äußerliche Analogie ist (XI 3).2 Doch kann die Regel von der Verbergung der Kunst ebenso als eine scharfsinnige Reflexion der Bedingungen verstanden werden, die auch für die Gleichnisrede konstitutiv sind. Sie betrifft, was Adolf Jülichergesehen hat, wenn er in einer meisterhaften Formulierung feststellt, "dass man beim Hören und Lesen" der Gleichnisse "gar nicht an ihren poetischen, fiktiven Charakter erinnert wird, dass es einem ist, als gehörte das alles selbstver-
1
Vgl. Martin, aaO., Register s.v.
2
Vgl. z.B. Inst. VI 1, 26; 2, 35; XI 3, 4f, sowie Martin, aaO. 351ff.
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Grundlegung
ständlich so, wie es da ist, und von jeher zusammen".1 Das zeigt: In der Rhetorik wird bewußt geplant und durchdacht, was auch den Gleichnissen faktisch zugrundeliegt. Die Ausführungen zum Verbergen der Kunst sind ein Beispiel dafür, daß die Rhetorik ein Wissen über die menschliche Rede aufgehäuft hat, das nur schwer zu übertreffen ist. Sie verdankt dieses Wissen vor allem der Reflexion darüber, wie sie sich am besten auf die Realität des Hörers einstellt, und sie hat bemerkt, daß der Erfolg der Rede nicht zuletzt vom Kontakt zu den Kräften der Seele abhängt. "Denn woran liegt es denn sonst", fragt Quintilian (VI 2,26), daß "zuweilen auch Menschen ohne jede kunstgerechte Schulbildung Redegabe" besitzen, "als daran, daß aus ihnen die Kraft ihres eigenen Denkens und Fühlens und die Echtheit ihrer ganzen Wesensart spricht"? Gerade weil das so ist, versucht er immer wieder zu rechtfertigen, warum es trotzdem einer aufwendigen Ausbildung bedarf (bes. II llf). Die Frage Quintilians zeigt, daß die Rhetorik nicht den ihr selber so schwer verständlichen Ort übersehen konnte, der näher an die Gleichnisse Jesu heranführen dürfte als die ausgefeilte Kunst des "bene dicendi". Denn wir müssen vermuten, daß weder der Hörer noch der Sprecher die Gesetze ihrer Bildung und Rezeption theoretisch reflektiert haben. Der Sprecher dürfte diese Gesetze vielmehr durch den faktischen Gebrauch der Gleichnisrede so internalisiert haben, daß er sie, ohne sich ihrer bewußt zu sein, als etwas ganz Selbstverständliches beherrschte. Die nächsten drei Kapitel haben die Aufgabe, das Spannungsfeld von erzählenden und besprechenden Gleichnissen, von Hörer- und Sprecherperspektive genauer auszuleuchten. Dabei haben die Ausführungen zur Metapher primär eine propädeutische Funktion. Sie sollen einige Gesichtspunkte präzisieren, die für die anschließende Konkretion der bisherigen Überlegungen gebraucht werden.
1
Jülicher, aaO. 1,156.
5. Lob der Metapher
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5. Lob der Metapher
Für Adolf Jülicher besteht ein schroffer Gegensatz zwischen Gleichnis und Allegorie bzw. zwischen deren Keimzellen Vergleich und Metapher. Gleichnis und Vergleich ziehen alle positiven, Allegorie und Metapher dagegen alle negativen Eigenschaften auf sich. Dementsprechend kann Jesus nur in reinen Gleichnissen gesprochen haben, die erst später, wenn auch bereits von den Evangelisten, als Allegorien mißverstanden wurden. Jülichers Charakterisierung des Gegensatzes braucht nicht im einzelnen nachgezeichnet zu werden. Er hat, wie insbesondere die neueren Darstellungen erkennen lassen1, nicht zuletzt die heuristische Funktion, das Licht mit dem Hinweis auf den Schatten auch als Licht leuchten zu lassen. Denn, sagt Quintilian (XII 1, 35), "tatsächlich enthüllt ja die Gegenüberstellung des Bösen erst, was eigentlich den Vorzug des Guten ausmacht, wie auch ... die meisten Dinge durch den Beweis aus dem Gegenteil einleuchtend werden". Von Bedeutung ist aber, daß so heterogene Autoren wie Joachim Jeremias, Eta Linnemann, Eberhard Jüngel und Dan Otto Via seit langem die These von einem einzigen Vergleichspunkt kritisieren, ohne das Gleichnis - das wäre für Jülicher eine notwendige Konsequenz gewesen - als Allegorie bezeichnen zu wollen.2 Dagegen sprechen ebenso seit langem nicht nur Paul Fiebig und Chr. A Bugge von "Mischformen".3 In die gleiche Richtung argumentieren vielmehr auch z.B. Martin Dibelius, Wilhelm Michaelis und noch deutlicher Matthew Black, E. J. Tinsley und Rudolf Pesch. Dibelius spricht im Hinblick auf die Metaphern einiger Parabeln von "halballegorische(n) Formen" und von einer "zwischen Parabel und Allegorie schwebende(n) Erzählungsart".4 Er trifft sich darin mit Michaelis, der "der allegorischen Fragestellung... doch ein größeres
1
Vgl. Aurelio, aaO. 76ff; Klauck, aaO. 4ff; Weder, aaO. llff.
2
Jeremias, aaO. 9ff; Linnemann, aaO. 15ff; Jüngel, aaO. 87ff; Via, aaO. 15ff. Fiebig, Gleichnisreden, 231; ders., Altjüdische Gleichnisse, 162; Bugge, aaO. 35.
4
Dibelius, aaO. 256.
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Grundlegung
Recht einräumen möchte als meist geschieht".1 Denn oft komme es vor, "daß Gleichnisse nicht nur einen Grundgedanken veranschaulichen wollen, sondern daß sie noch weitere Züge enthalten, die nach einer Ausdeutung verlangen".2 /Waat versucht sogar zu begründen: "On purely a priori grounds there does not seem to be any reason why there should not be allegory in the teaching of Jesus."3 Noch einen Schritt weiter geht Tinsley, wenn er aus der Bezeichnung des Gleichnisses als Allegorie folgert:"... then the allegorization is not only permissible in hermeneutics but obligatory." Dabei spricht er von Allegorie, "when the parabolic saying or narrative... requires coercively an alternative reading alongside the primary one", obwohl "'primary" and 'secondary* are misleading terms here because for the allegorist and the receptive reader/listener the allegorical sense is the 'primary1 one".4 Daraufhin betont neuerdings auch Pesch: "Das Gleichnis hat grundsätzlich allegorischen Charakter."5
Charakteristischerweise setzen diejenigen, die die Gleichnisse als Allegorien bezeichnen, mit Pesch meistens voraus, daß sie sich "einer allegorischen Deutung Zug um Zug nach allegorischen Dechiffrierungsverfahren" widersetzen.6 Und diejenigen, die den allegorischen Charakter bestreiten, müssen sich von Tinsley vorhalten lassen: "My difficulty, is the confusion which produces an allegorical interpretation of a parable while at the same time denying that one is doing any such thing."7 Das zeigt zwar, daß sich beide Positionen näherstehen, als normalerweise zugegeben wird. Die Frage ist jedoch, ob sich Gesichtspunkte beibringen lassen, die es erlauben, den alten Streit auch theoretisch zu überwinden. Eine Überwindung der bisherigen Kontroverse scheint gegenwärtig am ehesten erwartbar zu sein im Anschluß an die Neubewertung der
1
Michaelis, Es ging ein Sämann aus, zu säen... Eine Einführung in die Gleichnisse Jesu über das Reich Gottes und die Kirche, 1938, 5. 2
Ebd. 15.
3
Black, The Parables as Allegory, in: BJRL 42,1959/1960, 273-287, hier 275.
4
Tinsley, Parable and Allegory. Some Literary Criteria for the Interpretation of the Parables of Christ, in: ChQ 3, 1970, 32-39, hier 38. Vgl. ders., Parable, Allegory and Mysticism, in: A. Hanson (Hrsg.), Vindications. Essays in the Historical Basis of Christianity, London 1966,153-192; ders., Parables and Self-Awareness of Jesus, in: ChQ 4,1971,18-26. 5
Pesch, Zur Exegese Gottes durch Jesus von Nazareth. Eine Auslegung des Gleichnisses vom Vater und den beiden Söhnen (Lk 15, 11-32), in: Jesus. Ort der Erfahrung Gottes, Festschrift für B. Welte, 1976, 140-189, hier 168. 6
Ebd.
7
Tinsley, Parables and Self-Awareness, 21f.
5. Lob der Metapher
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Metapher, die insbesondere in den USA vollzogen worden ist.1 Darauf jedenfalls deuten die Arbeiten von Paul Ricoeur, Eberhard Jüngel, Tullio Aurelio, Hans-Josef Klauck, Alex Stock, Hans Weder, Gerhard Sellin und Wolfgang Harnisch hin2, deren Konsens trotz der Unterschiede im einzelnen um so erstaunlicher ist, als sie weitgehend unabhängig voneinander entstanden sind. Der Konsens beruht zunächst auf der Einsicht, wie stark Jülichers Charakterisierung von Metapher und Allegorie als kalte und frostige, uneigentliche und dunkle, künstliche und esoterische Redeweise in der klassisch-idealistischen und romantischen Ästhetik verwurzelt ist.3 Dieser Punkt bedarf freilich noch weiterer Aufhellung. Denn wie H. Meier andeutet, breitet sich die negative Bewertung der Metapher bereits im 17. Jahrhundert aus.4 Vermutlich ist sie ein Begleitphänomen der werdenden Neuzeit, die die Plausibilität der überkommenen Bilderwelt ebenso bewußt auflöst, wie diese Bilderwelt ihr faktisch unverständlich wird. Denn, um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen: Wer von uns ist schon in der Lage, die Symbolik von Dürers Kupferstich "Melencolia I" von 1S145 ohne spezielle Vorbereitung zu entschlüsseln und in der Vielfalt seiner Bezüge unmittelbar auf sich wirken zu lassen? Wer sich dieser Frage stellt, wird Jülicher nicht so leicht "Kurzschlüsse"6 oder "Vorurteile"7 vorwerfen können, wie es gegenwärtig geschieht.
Die Historisierung der negativen Bewertung erlaubt es, sich der Metapher, aber auch der Allegorie unbefangener zuzuwenden als Jülicher.
1
Vgl. bes. die von W. Harnisch, Die Metapher als heuristisches Prinzip. Neuerscheinungen zur Hermeneutik der Gleichnisreden Jesu, in: VF 24,1,1979,53-89, bes. 56ff, vorgestellten Arbeiten von Arnos N. Wilder, Robert W. Funk und John Dominic Crossan. 2
Ricoeur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: Ders./E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh Sonderheft, 1974, 45-70; Jüngel, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher ab Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, ebd. 71-122; Aurelio, aaO. bes. 44ff; Klauck, aaO. bes. 21ff. 132ff; Stock, aaO. bes. 50ff; Weder, aaO. bes. 45ff; Sellin, aaO. bes. 313ff; Harnisch, Gleichniserzählungen, bes. 125ff. 3
Vgl. Klauck, aaO. 8ff; Tinsley, Parable and Allegory, 34ff; ders., Parable, Allegory and Mysticism, 154.162.
4
Meier, Die Metapher. Versuch einer zusammenfassenden Betrachtung ihrer linguistischen Merkmale, 1963,15f. 5
Vgl. W. Stubbe, Meisterwerke der Grafik, Bilderhefte der Hamburger Kunsthalle VI, 1969, Abb. 31.
6
Aurelio, aaO. 76.
7
Klauck, aaO. 8.
Grundlegung
56
Aufgrund dieser Unbefangenheit kann mit Klauck der Versuch gemacht werden, die Gleichnisüberlieferung auf dem vielschichtigen Hintergrund der "Allegorik im antiken Schrifttum" zu verstehen.1 Dazu gehhört auch eine Auseinandersetzung mit den Metapherntheorien der Rhetorik.2 Rhetorische Distinktionen spielen bisher freilich meistens nur insoweit eine Rolle, wie sie - bewußt oder unbewußt - in der linguistischen Diskussion über die Metapher anwesend sind.3 Denn erst der Rezeption dieser Diskussion ist die exegetische Neubewertung des Metaphorischen zu verdanken. Wer sich für das Verständnis der Gleichnisse auf die Metapher beruft, entscheidet sich damit, anders als Weder meint4, nur vordergründig gegen Jülicher. Denn es wird sich herausstellen: Fast alles, was heute von der Metapher erwartet wird, gehört für Jülicher zum Wesen der Vergleichung. Und zwischen beidem liegt weder die große Welt, die Jülicher sieht, noch die, die Weder mit seiner "Entscheidung gegen Jülicher" suggeriert.5 Die umfangreiche Literatur6 zeigt, daß die Metapher nur unzureichend gewürdigt werden kann, wenn man sie als uneigentlich bezeichnet oder auf ihre - zweifellos auch vorhandene - ornamentale Funktion reduziert. Die Metapher führt vielmehr ins Zentrum dessen, was Sprache ist. Einerseits erhellt sie, was auch nichtmetaphorische Sprache ausmacht. Und andererseits ist Sprache ohne Metaphorik gar nicht denkbar. Letzteres gilt ganz besonders für religiöse Sprache, die, wie Jüngel thematisiert hat, prinzipiell metaphorischen Charakter hat.7 Was aber ist eine Metapher? Diese Frage werde ich nach einem kurzen Hinweis auf Quintilian fast ausschließlich in Anlehnung an Harald
1
Ebd. 32-130.
2
Vgl. bes. Aristoteles, Ars rhetorica III 10-11,1410b-1413b; Cicero, De oratore III, 155168; Quintilian, Inst. VIII 6,4-18. Weitere Stellen finden sich bei Martin, aaO. 266ff.
3
Anders Klauck, aaO. 32-66, und Jüngel, Metaphorische Wahrheit.
4
Weder aaO. 58f.
5
Vgl. Aurelio, aaO. 79f.
6
Vgl. die Bibliographie bei W. Kallmeyer u.a., Lektürekolleg zur Textlinguistik, I: Einführung, FAT 2050, 21977, 277f, sowie die bei Aurelio, aaO. 44ff. 76ff, Klauck, aaO. 21ff, und Sellin, aaO. 289ff, verwertete Literatur. 7
Jüngel, Op.cit.
5. Lob der Metapher
57
Weinrich, der mehrere Aufsätze zum Thema publiziert hat1, erörtern. Eine solche Beschränkung ist möglich, weil sich an Weinrichs Position trotz ihrer Originalität die wichtigsten Aspekte der linguistischen Metapherndiskussion verdeutlichen lassen, und sie ist sinnvoll, weil das die Auseinandersetzung mit der exegetischen Rezeption dieser Diskussion erleichtert. Denn dort spielen Weinrichs Thesen schon bisher eine zentrale Rolle.2 Quintilian betont, daß eine Metapher nicht nur dort gebildet wird, wo ihr ästhetischer Reiz zur Wirkung kommen soll, sondern auch dort, wo sie bezeichnender als andere Ausdrücke, vor allem aber, wo sie notwendig ist. "Id facimus, aut quia necesse est aut quia significantius est aut... quia decentius" (Inst. VIII 6, 6). Nicht jede Metapher ist also durch nichtmetaphorische Sprache ersetzbar. Unersetzbar aber ist sie, weil sie eine "translatio" ist, bei der "transfertur... nomen aut verbum ex eo loco, in quo proprium est, in eum, in quo aut proprium deest aut translatum proprio melius est" (VIII 6, 5). Wo ein eigentliches Nomen oder Verb fehlt, ist die "translatio" notwendig, und wo das "translatum" besser ist als das eigentliche Nomen oder Verb, ist die "translatio" bezeichnender. So ist Quintilian ebensowenig wie die übrige Rhetorik generell der Überzeugung, die Weder ihr unterstellt, daß nämlich "auch in eigentlicher Rede gesagt werden könnte, was die Metapher 'bildlich' sagt, ja daß dieses, wenn es um die Beschreibung der Wirklichkeit geht, besser in eigentlicher Rede gesagt würde".3 Obwohl man heute mit guten Gründen auf die Unterscheidung von "eigentlicher" und "uneigentlicher" Sprache verzichten wollen wird4, haben Quintilian und seine Tradition vielmehr gesehen, was auch Weinrich in Übereinstimmung mit der übrigen Linguistik in den Vordergrund seiner Analyse rückt: Da es sich bei der Metapher um eine "translatio" und d.h. eine Bedeutungsübertragung handelt, stellt sie primär ein semantisches Phänomen dar.
1 Sie sind in leicht veränderter Fassung, aber um den wichtigen Beitrag "Streit um Metaphern" ergänzt, wieder abgedruckt bei Weinrich, Sprache in Texten, 1976, 276-341. Vgl. darüber hinaus: Weinrich u.a., Die Metapher (Bochumer Diskussion), in: Poetica 2, 1968,100-130. 2
Nur bei Ricoeur und Weder wird Weinrich nicht erwähnt.
3
Weder, aaO. 63, unter Berufung auf Ricoeur, aaO. 46.
4
Vgl. jedoch Weinrich, Sprache, 324, der die Möglichkeit andeutet, den alten Gegensatz neu zu verstehen.
Grundlegung
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Weinrich nennt das Element der Metapher, auf das eine Bedeutung übertragen wird, den "Bildempfänger", dasjenige dagegen, an dessen Bedeutungsmerkmalen der Bildempfänger partizipiert, den "Bildspender".1 Dabei fungieren die beiden Elemente der Einzelmetapher freilich jeweils als Repräsentanten eines ganzen Sinnbezirkes. Bei der Metapher "Wortmünze" z.B. bringt der Bildempfänger "Wort" den Sinnbezirk der Sprache, der Bildspender "Münze" dagegen den Sinnbezirk des Finanzwesens mit sich. Denn: "In der aktualen und scheinbar punktuellen Metapher vollzieht sich in Wirklichkeit die Koppelung zweier sprachlicher Sinnbezirke."2 Diese Koppelung führt zur Entstehung eines "Bildfeldes", dessen Sinnbezirke Weinrich als "bildspendendes und bildempfangendes Feld" bezeichnet.3 Zwar gibt es "seltener, als man denkt", auch die "beliebige, isolierte Metapher". Jedoch wird eine Metapher vor allem dann von einer Sprachgemeinschaft akzeptiert, wenn sie sich in ein bereits vertrautes Bildfeld einfügt.4 Und der für das sprachliche Weltbild eines Kulturkreises schöpferische Akt ist nicht die Erfindimg einer einzelnen Metapher, sondern die Stiftungeines neuen Blickfeldes, d.h. die Koppelung zweier Sinnbezirke, die bisher nicht aufeinander bezogen waren.5 Die für den Historiker wichtige Frage warum ein Bildfeld sich durchsetzt, verändert oder verschwindet, wird von Weinrich freilich nicht thematisiert. Er spricht nur davon, daß die in ein Bildfeld integrierte Metapher "vornehmlich (aber nicht ausschließlich) für den Bereich der inneren Erfahrung" in Anspruch genommen wird.6 In der Antike - und nicht nur in der Antike - ist die "translatio" von Bedeutungsmerkmalen des einen Sinnbezirks auf den anderen weithin als die Entdeckung von Analogien verstanden worden, die die Seinsordnung selber auszeichnen. Diese Vorstellung liegt etwa der verbreiteten Metapherntypologie zugrunde, die sich an den vier Kombinationsmöglichkeiten von Belebtem und Unbelebtem orientiert (Inst. VIII6,9f ).7 Weinrich dagegen betont mit Nachdruck, daß Metaphern Orientierungsmarken des Subjekts sind, das Analogien nur insofern wahrnimmt, als es sie projiziert. Sie bilden nicht, "wie die alte Metaphorik wahrhaben wollte, reale oder vorgedachte Gemeinsamkeiten" ab. Vielmehr gilt, "daß sie ihre Analogien erst stiften, ihre Korrespondenzen erst schaffen und somit demiurgische Werkzeuge sind".8 Weil sie in die Natur hineinlesen, was sie in ihr entdecken, sind sie "als unsere Entwürfe, als unsere Hypothesen" und als "ein Aspekt unserer Weltdeutung" zu
1
Ebd. bes. 284.
2
Ebd. 283.
3
Ebd. 284.
4
Ebd. 286, vgl. 324ff.
5
Ebd. 284.
6
Ebd. 286.
7
Vgl. Weinrich, aaO. 299ff; Jüngel, aaO. 88ff.
8
Weinrich, aaO. 309.
5. Lob der Metapher
59
verstehen.1 Sie verdanken sich der elementaren Fähigkeit des Menschen, etwas zu "sehen als" etwas anderes.2 Dieses "Sehen als" vollzieht sich in der Metapher so, daß - wie Stock ganz im Sinne Weinrichs bemerkt - "der unmittelbare semantische Gewinn beim Bildempfänger zu verbuchen" ist. Denn die Metapher wird gebildet, weil der Bildspender gegenüber dem Bildempfänger ein "Plus an Bedeutungsmerkmalen" besitzt, die diesem zugeschrieben werden sollen.3 Insofern enthält die Metapher ein Element der Bejahung. Die Metapher "Staatsschiff" z.B. bejaht, daß der Staat ein Schiff ist. Dieses Beispiel Weinrichs zeigt freilich zugleich, daß die Metapher auch ein Element der Verneinung enthält: Der Staat ist nicht ein Schiff.4 Denn - und das ist, soweit ich sehe, von Weinrich nicht berücksichtigt worden es besteht eine wechselseitige Determination: Der Bildspender kann dem Bildempfänger nur dann semantische Merkmale zuschreiben, wenn der Bildempfänger zugleich vorschreibt, welche Merkmale des Bildspenders nicht übertragbar sind. Es ist nicht nur so, daß der Bildspender auf den Bildempfänger, sondern auch umgekehrt so, daß der Bildempfänger auf den Bildspender Licht wirft: Er selegiert die Fülle der semantischen Merkmale des Bildspenders. Darauf hat Aurelio unter Berufung auf K Bühler m.R. aufmerksam gemacht. 5 Damit sind zwei Metapherndefinitionen Weinrichs vorbereitet. Die erste lautet: "Die Metapher ist eine widersprüchliche Prädikation."6 Sie ist unmittelbar verständlich. Die zweite Definition dagegen bezeichnet die Metapher "als ein Wort in einem konterdeterminierenden Kontext".7 Sie bedarf noch einer zusätzlichen Erläuterung. Auszugehen ist dabei von der für die Textlinguistik wichtigen These, daß die Vieldeutigkeit eines Einzelwortes erst durch seine Stellung in einem Text eingegrenzt wird. Seine Polysemie wird durch Kontext monosemiert, bzw. die Wörter geben sich "gegenseitig Kontext und determinieren einander, d.h. sie reduzieren gegenseitig ihren Bedeutungsumfang".8 Und daraus folgt: "Die Bedeutung eines Wortes... ist wesentlich eine bestimmte Determinationserwartung."9 Bei der Metapher dagegen, die "nie ein einfaches Wort, immer ein - wenn auch kleines - Stück Text" ist, entsteht dadurch ein "Übeiraschungseffekt", daß "die tatsächliche Determination
1
Ders., in: Die Metapher (Bochumer Diskussion), 119.
2
Vgl. Aurelio, aaO. 51f.
3
Stock, aaO. 51.
4
Weinrich, Sprache, 303f.
s
Aurelio, aaO. 56, der daraufhin auch m.R. feststellt, daß Weinrichs Terminologie "ziemlich unglücklich ist": Sie "berücksichtigt nicht, daß der Bildempfänger kein bloßer Bildempfänger ist, sondern zugleich auch Filter des sogenannten Bildspenders". Zur Sache vgl. auch Jüngel, aaO. lOlf. 6
Weinrich, Sprache, 308.
7
Ebd. 320.
8
Ebd. 318.
9
Ebd. 319.
60
Grundlegung
des Kontextes gegen die Determinationserwartung des Wortes gerichtet ist".1 Bei der Metapher "der Staat ist ein Schiff" z.B. wird erwartet, daß im Kontext von "Staat" vom Politischen gesprochen wird. Tatsächlich aber lenkt der Text die Aufmerksamkeit auf das Nautische. Weinrich gibt im Anschluß an seine Analyse eines umfangreicheren Textes - Walter Benjamins Erzählung "Möwen" - noch eine dritte Metapherndefinition. Er nennt sie die "weiteste": "Eine Metapher ist ein Text in einer konterdeterminierenden Situation."2 Das heißt zunächst, daß die Bedeutung eines metaphorischen Textes genauso wie die jedes anderen Textes nicht nur durch den literarischen Kontext, sondern auch durch den "historisch-situativen Zusammenhang" konstituiert wird. Denn "als Ort des Metaphernereignisses" ist der "Text-in-der-Situation anzusehen." In seiner Situation aber wird der Text dann "analysiert, wenn die ('pragmatischen') Bedingungen der Kommunikation, die das Textereignis möglich machen, mit analysiert werden".3 Und bei einem metaphorischen Text sind diese Bedingungen insofern nicht determinierend, sondern konterdeterminierend, als die Situation von etwas anderem handelt, als die Bedeutung der Wörter des Textes erwarten läßt. Darin verbirgt sich freilich ein schwieriges methodologisches Problem. Denn gerade bei literarischen Werken wird die Situation, in der sie entstanden sind, nur selten direkt angegeben. Sie muß indirekt und unter Berücksichtigung des Gesamtwerkes und der Zeit, in der ein Autor geschrieben hat - und d.h. hypothetisch -, erschlossen werden. Ob und inwiefern sie auf den Text bezogen werden darf, unterliegt deswegen sehr viel stärker dem Streit als andere Fragen der Interpretation. Und dieser Streit ist nur dann zugunsten eines metaphorischen Verständnisses zu entscheiden, wenn der Interpret sich auf im Text selber vorhandene metaphorische Signale berufen kann. Benjamins Erzählung z.B. handelt "von schwarz und weiß erscheinenden Möwen und einem Reisenden, der sie beobachtet".4 Das wird auch derjenige nicht bestreiten, der den Text metaphorisch versteht. Er wird jedoch hinzufügen: "Es sind... im Text selber" zugleich "auf Schritt und Tritt Bedeutungszusammenhänge, eigenartige Nachbarschaften, sinnfällige Verbindungen und textuelle Nuancen zu bemerken, die über den rein impressionistischen Rahmen einer Reisebeschreibung hinausführen - wenn man sich darüber hinausführen lassen will."5 Und erst wer sich darüber hinausführen lassen will, dem wird Weinrichs ausführlich begründeter Vorschlag einleuchten, das Stück "im historischen Kräftefeld einer politischen Freund-Feind-Ideologie und der Intellektuellen-Problematik" der Zwanziger Jahre zu sehen. 6
1
Ebd. 319f.
2
Ebd. 341.
3
Ebd. 336f. Das ist auch der Ausgangspunkt der Sprechakttheorie, auf die sich Aurelio, aaO. 60ff.ll6ff, beruft. 4
Weinrich, Sprache, 340.
5
Ebd. 341.
6
Ebd. 340. Vgl. 337-339.
5. Lob der Metapher
61
Zwar wird man dahingestellt sein lassen dürfen, ob die Metapher schon zureichend beschrieben ist, wenn Weinrich lediglich ihre projektive Funktion hervorhebt. Mir scheint, es muß auch die Frage nach den Bedingungen gestellt werden, die es dem Metaphern sprechenden Subjekt ermöglichen, Sinn produzierende Analogien zu stiften. Das Subjekt projiziert nicht nur, sondern es entdeckt auch, und die Metapher kann nur aufeinander beziehen, was seinen letzten Grund in der Einheit der Wirklichkeit hat. Doch ist unbestreitbar, daß die Metapher in ausgezeichneter Weise leistet, was die Sprache insgesamt leistet: Sie ermöglicht es dem Menschen, sich in dieser Wirklichkeit zu orientieren, ja, sie ist ein demiurgisches Werkzeug, das Sinn nicht nur erschließt, sondern auch stiftet. Denn die Sinn erschließende Funktion kann nicht ohne die Sinn stiftende, die Sinn stiftende nicht ohne die Sinn erschließende beschrieben werden. Daraufhin verwundert es nicht, daß selbst Weinrichs linguistische Analyse trotz ihrer nüchternen Sprache ein geheimes Lob der Metapher singt. Dieses Lob wird bei seinen theologischen Rezipienten ähnlich wie bereits in der antiken Rhetorik zu einem offenen Preislied. Nach Quintilian z.B. "mehrt" die Metapher nicht nur "die Ausdrucksfülle" und "leistet der Sprache den allerschwierigsten Dienst", sondern "sie wirkt... auch so erfrischend und strahlend", ja, "auch wenn sie in einem noch so glänzenden Rede-Zusammenhang erscheint, verbreitet sie doch noch ein eigenes Licht".1 Für Sellin dagegen ist die Metapher "der deutlichste Ausdruck des analogischen Charakters der Sprache überhaupt, der menschlichen Fähigkeit, Beziehungen zu sehen, zu verbinden, zu interpretieren, Sinn zu erfassen".2 Sie steht, wie Klauck ausführt, "im Dienst der sinnerschließenden und sinnstiftenden Bewältigung der Wirklichkeitswelt".3 Denn, so akzentuiert Aurelio, "wenn man sich an der Grenze der Sprache befindet, wo keine Worte mehr dazu helfen, das Erfahrene zu beschreiben, dann kann uns nur eine bildhafte Sprache helfen, das zu kommunizieren und zu verstehen".4 Aurelio versteht die Metapher als ein disclosure-
1
Quintilian, Inst. VIII 6, 4f.
2
Sellin, aaO. 300.
3
Klauck, aaO. 140.
4
Aurelio, aaO. 45.
62
Grundlegung
Modell, das, wie Ricoeur formuliert, "eine neue Vision der Wirklichkeit" bzw. "neue Bereiche von Welterfahrung" eröffnet.1 Besonders schön aber hat Stock den semantischen Effekt der Metapher beschrieben: Sie fordert das Subjekt auf, "Wirklichkeitsbereiche zusammenzusehen, die in der gewöhnlichen Wahrnehmung voneinander isoliert sind. Die Metapher appelliert imaginativ an die Einheit des wahrnehmenden Subjekts gegen die lebenspraktische Regionalisierung der Welterfahrung".2 Sie gilt, wie Harnisch hervorhebt, "der Ansage eines Neuen, das unsere Beziehung zur Wirklichkeit auf unerhörte Weise verschiebt".3 Dasselbe hat Weder im Auge, wenn er davon spricht, daß metaphorische Sprache "eine Sinnstiftung und Neubeschreibung der Welt" intendiert und "Zusammenhänge herstellt, die in Wirklichkeit nicht bestehen".4 Ja, für ihn gilt sogar: "Metaphorische Sprache verhilft dem Wirklichen zur Wahrheit."5 Dieser Satz ist eine Kurzfassung der These Jüngels, nach der Metaphern "das Seiende wirklich zur Sprache bringen, obwohl sie dabei über das jeweils Wirkliche mehr sagen, als es in Wirklichkeit ist".6 Sie "verdeutlichen die Ais-Struktur des Seienden"7, was den Gewinn mit sich bringt, den Seinshorizont zu erweitern8. Soweit das Lob der Metapher von Theologen angestimmt wird, ist vorausgesetzt, daß die Gleichnisse eine spezifische Form metaphorischer Rede sind, und so gilt alles, was von der Metapher gesagt wird, auch für das Gleichnis. Dann aber stellen sich zwei Fragen, die sich als zusammengehörig erweisen werden: Wie ist die These vom Gleichnis als einer spezifischen Form metaphorischer Rede auf die Position Jülichers zu beziehen, an der ich selber mich bisher orientiert habe? Und: Worin bestehen die Spezifika?
1
Ricoeur, aaO. 51.45, der ebd. 66 auch ausdrücklich auf Ramseys disclosure-Theorie verweist. 2
Stock, aaO. 52.
3
Harnisch, aaO. 139.
4
Weder, aaO. 64.76.
5
Ebd. 82.
6
Jüngel, aaO. 94.
7
Ebd. 113.
8
Ebd. 94.
5. Lob der Metapher
63
Zunächst muß mit Nachdruck hervorgehoben werden, daß in Jülichers Definition des Gleichnisses alle Momente enthalten sind, die heute seiner metaphorischen Dimension zugeschrieben werden. So besteht eine unübersehbare Korrespondenz zwischen der Unterscheidung von Bildspender und Bildempfänger auf der einen und Bildhälfte und Sachhälfte auf der anderen Seite, aber auch zwischen Weinrichs Ausführungen zur konterdeterminierenden Situation und Jülichers These, daß Gleichnisse "Verhältnisse des religiös-sittlichen Lebens" durch den Rekurs auf "Verhältnisse auf den niederen Gebieten" des menschlichen Lebens erhellen wollen.1 Und was heute als semantischer Effekt der Metapher beschrieben wird, ist für Jülicher die Sicherung eines seiner Wirkung nicht gewissen Gedankens durch die Heranziehung eines seiner Wirkung gewissen Sachverhalts. Angesichts solcher Korrespondenzen ist es nicht erstaunlich, daß sich bei Jülicher immer wieder Formulierungen finden, die dem zitierten Lob der Metapher außerordentlich nahestehen, wohl aber, daß sie bisher nicht zur Kenntnis genommen worden sind. So heißt es etwa: "... das Alltägliche hilft ihm (sc. dem Hörer) das Ungewöhnliche erkennen und seinem Erkenntnisschatz zufügen." Oder etwas später: "Das Gleichnis appelliert zu Gunsten eines Neuen an das allgemein Bekannte und Anerkannte..."2 Und noch deutlicher sind Äußerungen, mit denen Jttlicher die poetische Seite der Gleichnisse umschreibt: "Sie gönnt dem Geiste die Freude des Entdeckens ungeahnter Verwandtschaften, sie giebt ihm das Gefühl des Reichtums, indem sie in scheinbarer Oede immer neue Beziehungen aufzeigt..."3
Die Differenzen bestehen somit nicht eigentlich in der Bestimmung dessen, was das Wesen des Gleichnisses ausmacht. Sie sind vielmehr erst darin zu sehen, daß der gleiche Sachverhalt von Jülicher als antimetaphorisch, von den zitierten Autoren dagegen als metaphorisch bezeichnet wird. Doch braucht auch bei diesem Gegensatz nicht stehengeblieben zu werden. Denn Jülicher selbst legt die Basis für seine Überwindung. Das zeigt sich, sobald man das, was er über Vergleichung und Metapher ausführt, zu der sonstigen Diskussion dieses Themas in Beziehung setzt. Bei seiner Gegenüberstellung von Vergleichung und Metapher stellt Jülicher fest, Jesus habe "beide nicht selten angewandt". Ja, er weist im Hinblick auf Mt 10, 16 und Mk 5, 34 sogar darauf hin, daß sich "aus jeder Vergleichung... eine Metapher" und umgekehrt "aus jeder Metapher eine Vergleichung" machen lasse.4 Denn der einzige Unterschied besteht, wie Jülicher in Anlehnung an Aristoteles betont, zunächst nur darin, ob eine Vergleichspar-
1
S.O.S. 27.
2
Jülicher, aaO. I, 73, vgl. bes. 118.
3
Ebd. 1,157.
4
Ebd. 1,53.
64
Grundlegung
tikel vorhanden ist oder nicht:"... wenn man von Achill sage '(¡>C 6e Xewv eiröpouoe", so handele es sich um eine Vergleichung, "während ein blosses X e u v eiröpouae eine Metapher sei".1 Doch zeige sich bei genauerem Hinsehen, daß der kleine Unterschied einen Wesensunterschied ausmacht: Die Vergleichung "zwingt", "auch wirklich dem ü q oder üoirep Folge (zu) leisten", "während die Metapher von diesem Wunsche nichts merken lässt".2 Bei ersterer sei-darum alles eigentlich, bei letzterer dagegen alles uneigentlich zu verstehen.3 Und erst daraufhin kommt es zu der absoluten Entgegensetzung von Vergleichung und Gleichnis auf der einen und Metapher und Allegorie auf der anderen Seite. Für die Rhetorik gehören Metapher, Allegorie, Vergleich und Gleichnis eng zusammen.4 Nach Ouiatilian handelt es sich bei der "allegoria" um "continuatae translationes" (Inst. VIII 6, 44), während die "translatio" bzw. "metaphora brevior est similitudo" (VIII 6, 8). Dem entspricht, daß sie alle als Mittel des Wortschmucks (elocutio) behandelt werden: VIII6, 418 "translatio", VIII 6, 44-53 "allegoria", VIII 3, 72-81 "similitudo". Und Quintilian betont (VIII6,49): "Bei weitem am schönsten aber wirkt die Art zu reden, in der der Liebreiz von drei Ausdrucksmitteln sich verschmolzen hat, Gleichnis, Allegorie und Metapher." Doch hebt Quintilian unter Berufung auf dasselbe Beispiel wie Jülicher hervor, daß die größere Kürze der "translatio" gegenüber der "similitudo" durch das Fehlen der Vergleichspartikel zustandekommt (VIII6,9). 5 Und auch er empfindet offenbar, daß dieser Unterschied mehr als eine Marginalie signalisiert, wenn er die "similitudo" nicht nur als ein Mittel der "elocutio", sondern mit der Tradition auch als ein Beweismittel der "argumentatio" behandelt (V 11, 22-33). Sie gehört dort wie auch die Fabel zu den "exempla" (V 11, lff). 6 Die "allegoria" dagegen wird nicht zu den Beweismitteln gerechnet. Das hat offenbar folgenden Grund (VIII 6, 51f): Sie besitzt zwar - ich füge hinzu: gegenüber der "similitudo" - durch ihre Verwendung des "Neuartigen und Abgewandelten" (novitas et emutatio) einen besonderen Reiz: "et magis inopinata delectant", - womit das "Unvermutete, Überraschende" als Spezifikum erwähnt wird. Doch steht sie immer in der Gefahr, durch eine übermäßige Verwendung des Überraschenden "zu dunkel" (obscurior) und zu einem "Rätsel" (aenigma) zu werden. Für Weiorich ist Quintilians Definition der Metapher "eine schlechte Definition, die alle Prioritäten umkehrt".7 "Die Metapher ist nicht ein verkürztes Gleichnis, sondern das
1
Ebd. I, 52. Vgl. Klauck, aaO. 6.
2
Ebd. 1,54.
3
Ebd.
Zu den Einzelheiten vgl. M. H. McCall Jr., Ancient Rhetorical Theories of Simile and Comparison, Cambridge/Mass. 1969, bes. 24ff (Aristoteles). 87ff (Cicero). 178ff (Quintilian).
4
5
Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica III 10,1410b 15ff.
Vgl. Inst. VIII 3,72, wo Quintilian explizit auf die doppelte Behandlung der "similitudo" hinweist. 6
7
Weinrich, Sprache, 317.
65
5. Lob der Metapher
Gleichnis ist allenfalls eine erweiterte Metapher."1 Zu diesem apodiktischen Urteil sieht Weinrich sich genötigt, weil er meint, die Ableitung vom Gleichnis habe die Antike daran gehindert, die Metapher als Prädikation und damit als ein Phänomen der Semantik zu verstehen. Das ist jedoch, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht richtig. Richtig ist aber, daß die Rhetorik die Metapher nicht nur als ein semantisches Phänomen angesehen hat. Anders als Weinrich betont Aurelio, daß der syntaktische Unterschied von Vergleich und Metapher auf der semantischen Ebene belanglos sei.2 Und das hat die globale Konsequenz: "... Vergleich, Gleichnis, Parabel und Allegorie (sind) verschiedene Redetypen... innerhalb der metaphorischen Redeweise".3 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt Klauet, wenn er zusammenfassend feststellt: Die Allegorie "konstituiert selbst keine eigene Gattung, sondern geht mit den verschiedensten Gattungen, nicht zuletzt mit parabolischen Kleinformen wie Gleichnis und Fabel, eine mehr oder minder enge Verbindung ein".4 Stock argumentiert in der gleichen Richtung wie Aurelio und Klauck, vermeidet aber ähnlich pauschale Thesen. Zwar stellt auch er fest, daß Vergleich und Metapher sich nicht semantisch, sondern syntaktisch unterscheiden. Doch macht er darauf aufmerksam, daß die Vergleichspartikel zwei Besonderheiten mit sich bringt: Einerseits enthält sie die auch von Jülicher konstatierte "explizite pragmatische Aufforderung...: Vergleiche!" Und andererseits führt sie zu einer "Milderung und Herabminderung der Spannung", die für die Metapher so wichtig ist.5 Beide Besonderheiten aber bekommen erhöhte Bedeutung, wenn man sie zu dem weder von Aurelio noch von Klauck notierten Sachverhalt in Beziehung setzt, "daß in der synoptischen Jesusüberlieferung Metaphern im strengen Sinne relativ selten, das Vorkommen der Vergleichspartikel" - (¡jq, ¿oonep und Derivate von öpcnoq - "jedoch sehr häufig ist".6 Denn so wird deutlich, daß Jülichers Ableitung des Gleichnisses vom Vergleich mehr Recht hat, als seine Kritiker wahrhaben wollen. D i e skizzierte Diskussion dürfte verdeutlichen, daß die Frage, ob sich die Metapher vom Vergleich oder aber der Vergleich von der Metapher ableitet, sachlich belanglos ist. Beide werden gleichursprüngliche sprachliche Gesten sein, deren jeweilige Besonderheit nicht verdecken darf, daß es Gemeinsamkeiten gibt. Und dazu gehört zweifellos, was bestritten hat: Vergleich und Gleichnis haben
eine
Jülicher
metaphorische
Dimension. D e n n zunächst macht es keinen Unterschied aus, ob gesagt wird: "So ist das Reich Gottes wie ein Mensch, der..." (Mk 4, 26), oder
1
Ebd. 308.
2
Aurelio, aaO. 79.
3
Ebd. Iii.
4
Klauck, aaO. 354, vgl. bes. 135ff.
5
Stock, aaO. 53f.
6
Ebd. 54.
Grundlegung
66
wenn es stattdessen hieße: "So ist das Reich Gottes ein Mensch, der..." Beidemal wäre gemeint: Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie in der folgenden Geschichte von einem Menschen, der...1 Doch darf man bei der Beobachtung der Übereinstimmung nicht stehenbleiben. Denn das Beispiel zeigt, daß Vergleich und Gleichnis der Metapher nicht nur die Aufforderung zum Vergleichen voraushaben, sondern auch eine größere semantische Genauigkeit: Das "Wie" weist explizit auf die Widersprüchlichkeit der Beziehung hin, die zwischen Bildspender und Bildempfänger besteht: Das Reich Gottes ist, und das Reich Gottes ist nicht... Und so erreichen Vergleich und Gleichnis eine Verdeutlichung dessen, was auch in der Metapher vorliegt, dort jedoch nicht durch sprachliche Signale als solches markiert wird.2 Sie erkaufen diese Verdeutlichung mit einer Verminderung des überraschenden Effektes, den die Metapher durch das unerwartete und durch kein "wie" abgemilderte Aufeinanderprallen ihrer beiden Elemente anstrebt. Denn die Metapher will durchaus, wie Jülicher sagt, "das Auge stutzig machen", Aufmerksamkeit erregen, anregen und bereichern.3 Sie sucht jedoch nicht den "Reiz des Halbdunkels" oder der "Verhüllung"4, als den Jülicher den ästhetischen Reiz mißversteht, der die Metapher so anziehend macht. Sie will vielmehr die Strahlungskraft des Lichtes, das sie ebenso verbreitet wie Vergleich und Gleichnis, dadurch erhöhen, daß sie das Licht auf einen Leuchter stellt. Und gerade das ist der Punkt, an dem die Metapher einer spezifischen Gefährdung ausgesetzt ist. Denn das, was das Licht steigern soll, kann das Gegenteil der Verdunkelung bewirken. Davon überzeugt ein Blick in die Auslegungsgeschichte von Lk 11, 33par zur Genüge. Doch: Ist die Auslegung der Gleichnisse prinzipiell weniger kontrovers als die dieses Spruches? Damit wird die Position, die Jülicher einnimmt, einigermaßen durchsichtig: Er hat nicht zufällig gerade die Analyse der Vergleichspartikeln zum Ausgangspunkt seiner These von der Deutlichkeit des Gleichnisses 1
Vgl. Jeremias, aaO. 99ff.
2
Dabei darf zwar nicht übersehen werden, daß bei weitem nicht alle Gleichnisse eine Vergleichsformel haben. Doch wird hier eine vergleichbare Deutlichkeit durch eine Anwendung oder durch einen Hinweis auf den parabolischen Charakter, auf den Hörer oder auf die Situation erreicht. 3
Jülicher, aaO. I, 57.
4
Ebd. 1,57.59.
5. Lob der Metapher
67
gemacht. Er ist lediglich einen Schritt zu weit gegangen, wenn er das, was Rhetorik und Linguistik als den Überraschungseffekt des Metaphorischen beschreiben, als das Merkmal einer kontradiktorisch anderen, insbesondere undeutlichen Redeform verstand. Doch kann selbst eine solche Verzeichnung nicht leicht beiseite geschoben werden, wenn man beachtet, was Quintilian zur Gefahr der Allegorie bemerkt oder Weinrich zum "Streit um Metaphern" ausführt: Insbesondere dann, wenn der Hörer nicht eine Satzmetapher, sondern einen umfangreicheren metaphorischen Text vor sich hat, wird die "Entschlüsselung" zu einem erheblichen Problem. Das Problem ist freilich nicht in der Metapher als solcher begründet. Es leitet sich vielmehr erst aus der Tatsache ab, daß Bildempfänger und Situation des Metapherereignisses dem Interpreten oft nur indirekt zugänglich sind. Das hat Jülicher übersehen. Und er hat dementsprechend auch übersehen, daß die Schwierigkeiten, mit denen er sich herumschlägt, wenn er über den Verlust des ursprünglichen Kontextes klagt1, nicht prinzipiell anderer Art sind als die der Metaphernexegese. So dürfte Jülicher ebenso recht wie unrecht haben: Unrecht, weil er ausschließlich auf Metapher und Allegorie bzw. "die allegorische Auslegung" der Gleichnisse2 projizierte, was auch ein Problem der von ihm selber betriebenen Gleichnisexegese ist; recht, weil er gerade so die Deutlichkeit hervorheben konnte, auf die es den Gleichnissen ankommt. Jülicher wird noch mehr ins Recht gesetzt, wenn man Stocks These in die Überlegungen einbezieht, daß "dort, wo argumentativ und appellativ geredet wird", Metaphern im strengen Sinne sehr viel seltener vorkommen als "in den poetischen Teilen der religiösen Überlieferung".3 Denn diese These betrifft nicht nur das quantitative Verhältnis innerhalb der synoptischen Überlieferung. Sie erhellt vielmehr auch einige Beobachtungen über das Verhältnis von Bildspender und Bildempfänger, die mit dem Hinweis auf die Metapher nur sehr vorläufig erklärt werden können.
1
S.o.S. 18.
2
Jülicher, aaO. I, 50, im Original z.T. gesperrt. Vgl. dazu die wichtige Unterscheidung von Klauck, aaO. 354f, daß "die Allegorie... eine rhetorische und poetische Verfahrensweise" ist, die Allegorese dagegen "eine exegetische Methode, die auf Texte verschiedenster Art angewandt werden kann". Für eine Unterscheidung plädieren auch Aurelio, aaO. 76, und Weder, aaO. 72. 3
Stock, aaO. 54.
Grundlegung
68
Stock selber hat die Merkmale aufgezählt, die direkt oder indirekt dazu auffordern, ein Gleichnis als bildspendend zu verstehen. Es sind die Elemente der Überlieferung, die ich bereits mehrfach erwähnt habe: eine Vergleichsformel mit der Nennung des Bildempfängers (z.B. Mk 4, 26ff), eine Bezeichnung als irctpaBoXn (z.B. Lk 15, 3ff), eine Anwendung (z.B. Lk 17, 7ff) oder eine erzählte Situation (z.B. Lk 15, lf).1 Dabei ist charakteristisch, was bei der Berufung auf die Metapher so leicht relativiert wird: Die bildspendende "Wie-Komponente" ist fast immer sehr viel umfangreicher als die bildempfangende "So-Komponente". Sie besitzt wie jeder Bildspender einen "semantischen Überschuß" 2, bietet diesen Überschuß jedoch in einer ganz besonderen literarischen Gestalt dar. Das ist zwar von allen Exegeten, die das Gleichnis als eine spezifische Form metaphorischer Sprache verstehen, notiert, oft aber nur unzureichend reflektiert worden. Und das führt zu der Gefahr, daß die literarische Gestalt als ein Epiphänomen des Metaphorischen und nicht umgekehrt das Metaphorische als eine Dimension der literarischen Gestalt verstanden wird: als ein Aspekt innerhalb dessen, was bisher als Erzählung und Besprechung charakterisiert worden ist. Am deutlichsten ist der genannten Gefahr Aurelio erlegen, wenn er davon spricht, daß das bildempfangende Lexem - er denkt dabei vor allem an "Reich Gottes" - "als Vertreter seiner Geschichte anzusehen ist, einer Geschichte, die aus dem Lexem jederzeit entfaltet werden kann".3 Denn diese These, nach der das Gleichnis aus zwei aufeinander projizierten Geschichten besteht4, verleugnet die zentrale Einsicht der Metapherntheorie: Was als bildspendende "Geschichte" dargeboten wird, kann nicht als bildempfangende "Geschichte" dargeboten werden. Sie erneuert Jülichers These über das Verhältnis von Bildhälfte und Sachhälfte, ohne deren Probleme, die Aurelio sehr wohl sieht5, lösen zu können. Eine andere Terminologie alleine tut's noch nicht.
1
Ebd. 57ff.
2
Stock, aaO. 57.
3
Aurelio, aaO. 80.
4
Ebd. unter Hinweis auf Kallmeyer u.a., aaO. 165.174f.
5
Aurelio, aaO. 94.
5. Lob der Metapher
69
Was Aurelio übergeht, ist für Klauck gerade zu erklären: Wie nämlich "die Kombination von narrativer Struktur und metaphorischem Prozeß zustande kommt".1 Der Erklärung selber versucht Klauck durch eine bestimmte Rezeption von Weinrichs Theorie des Bildfeldes näherzukommen.2 Aufgrund dieser Rezeption stimmt er der These zu, "ein Gleichnis sei die narrative Erweiterung oder Dramatisierung einer Metapher".3 Und später heißt es sogar, daß "sich das Ausspinnen einer Metapher fast von selbst mit rudimentären narrativen Strukturen verbindet".4 Ähnlich wie Klauck kann auch Weder das Gleichnis als eine ausgeweitete Metapher bezeichnen. Doch spricht er von Ausweitung nur im Hinblick auf den Bildspender: Beim Gleichnis sei das Prädikat (= Bildspender) "nicht mehr nur ein einzelnes Wort, sondern eine Erzählung bzw. eine Beschreibung, je nachdem, ob es sich um eine Parabel oder ein Gleichnis im engeren Sinne handelt". Und Einzelzüge und Pointe, die das Erzählgerüst konstituieren, seien primär aufeinander und erst sekundär auch auf das Subjekt (= Bildempfänger) und damit indirekt auf die Lebenspraxis des Hörers bezogen.5 Weder gibi die Richtung an, in der das gestellte Problem zu bearbeiten ist.6 Er selber bleibt freilich bei einer Skizze stehen, deren Ausführung sein Programm, die Gleichnisse Jesu als Metaphern zu verstehen, hätte in Frage stellen können. Man kann sogar sagen: Er muß bei einer Skizze stehenbleiben, weil seine Ableitung des Gleichnisses von der Metapher die Wesensreflexion des Metaphorischen so stark in den Vordergrund rückt, daß alle anderen Probleme davon aufgesogen werden. Ähnliches läßt sich bei Sellin nicht beobachten, obwohl auch hier festzustellen ist, daß die Bezeichnung der Gleichnisse als Satzmetaphern und metaphorische Erzählungen die Argumentation mehr behindert als fördert. Ricoeur dagegen, dem Sellin in vielem verpflichtet ist, vermeidet - wohl mit Bedacht - solche definitorischen Festlegungen. Zwar hat seine Position
1
Klauck, aaO. 27.
2
Ebd. 141-143.
3
Ebd. 29.
4
Ebd. 142.
5
Weder, aaO. 70.72f.
6
Vgl. schon Jüngel, aaO. 113f.
70
Grundlegung
auch ihre Schattenseite, und gerade sie ist es, auf die Hämisch sich beruft. Doch scheint mir Ricoeur trotzdem am ehesten den Rahmen abzustecken, in dem die Metapherndiskussion der Gleichnisforschung integriert werden kann. In anderer Weise gilt das freilich auch für Stock. Auch nach Ricoeur zeichnet sich das Gleichnis durch "die Verbindung einer Erzählform mit einem metaphorischen Prozeß" aus1, wobei insbesondere die unterschiedliche Ausdehnung von Bildspender und Bildempfänger dazu zwingt, den Unterschied zur Metapher zu betonen.2 Denn - und das ist die alte These Jülichers - es sind nicht "einige Wörter wörtlich, einige metaphorisch zu verstehen... Im Gegenteil, die ganze Erzählung wird auf der Ebene der gewöhnlichen Lebensereignisse erzählt".3 Und so ist auch "das, was im Gleichnis metaphorisch wirkt, nichts anderes als die szenisch verstandene Erzählung".4 Sie steht zwar zur alltäglichen Wirklichkeit, die fiktional verzerrt ist, in Spannung. Doch soll die Verzerrung eine Neubeschreibung der Wirklichkeit ermöglichen. Das Gleichnis hat deswegen den Charakter eines Modells, das dazu dient, "eine Fährte zu einer neuen adäquateren Beschreibung aufzuspüren"5, der "nur die apph'catio (Anwendung) durch die Praxis des Lebens" gerecht wird.6 Problematisch ist allerdings, daß Ricoeur den Modellcharakter speziell mit der "Extravaganz innerhalb der Gleichnisse" in Verbindung bringt.7 Denn damit werden erneut die sog. ungewöhnlichen Züge in den Vordergrund des Interesses gerückt. Das relativiert auch den Wert, den Harnischs intensive Bemühung um die Verbindimg des Metaphorischen mit dem Erzählerischen hat. 8 Andes als Ricoeur bezieht Sellin Jülichers Einteilung des Materials in die Überlegungen mit ein. Das Gleichnis im engeren Sinne ist für ihn "eine 'auf ein Satzganzes' erweiterte Metapher".9 In seiner Bildhälfte - dem Bildspender - spart es "völlig aus, worauf es... in der Sachhälfte ankommt".10 Gerade dadurch aber wird es möglich, "den Sachverhalt des Kontextes auf einer anderen Ebene" - der Ebene des Modells - so zu strukturieren, daß der Hörer/Leser eine neue "Erkenntnis über den von ihm falsch eingeschätzten Sachverhalt des Kontextes" gewinnen kann.11 Das gleiche gilt für die Parabel, die für Sellin eine "metaphori-
1
Ricoeur, aaO. 65.
2
Ebd. 55ff.
3
Ebd. 64.
4
Ebd. 65.
5
Ebd.
6
Ebd. 70.
7
Ebd. 67ff.
8
Harnisch, aaO. bes. 141ff.
9
Sellin, aaO. 313.
10
Ebd. 319.
11
Ebd. 316.
5. Lob der Metapher
71
sehe Erzählung" ist.1 An die Stelle des Satzes ist hier eine Erzählung getreten, deren Fiktionalität den Vorteil mit sich bringt, den Hörer intensiver in das Modell der Bildhälfte verwickeln zu können, aus der er anschließend bereichert in seine eigene Welt (Kontext) . 2 • * » • • entlassen wird. Bei der Beispielerzählung schließlich hat "das Erzählerische das Metaphorische in den Hintergrund gedrängt".3 Denn die Bildhälfte hegt selber auf dem Gebiet der Sachhälfte, als deren exemplarisches Modell sie dient.4 So überzeugend Sellin die beiden Ebenen des Kontextes und des Gleichnisses aufeinander bezieht, so sehr ist seine Konzeption mit einer Reihe ungelöster Probleme belastet. Zunächst leuchtet die Unterscheidimg von Satzgleichnis und Gleichniserzählung nicht ein. Denn ebenso wie es erzählende Gleichnisse gibt, die aus einem Satz bestehen, gibt es Gleichnisse, die aus mehreren Sätzen bestehen und trotzdem keine Erzählungen sind. Merkwürdig ist zudem, daß Sellin zur Erklärung seiner Theorie von der Satzmetapher kein einziges Gleichnis heranzieht, das aus einem Satz besteht. Es werden vielmehr lediglich die beiden mehrsätzigen Gleichniserzählungen von Lk 7, 41f und 10, 29ff erörtert. 5 Und schließlich: Warum werden die gemeinten Texte überhaupt als Metaphern bezeichnet? Die Reflexion des Verhältnisses von Kontext und Gleichnis erzwingt den Rekurs auf die Metapher jedenfalls nicht. Das gilt erst recht für die Parabeln. Was Sellin als ihre Metaphorizität definiert, ist ein Aspekt des Erzählerischen, das Erzählerische nicht aber umgekehrt ein Aspekt des Metaphorischen. Das scheint Sellin selber empfunden zu haben, wenn er von einer gegenseitigen Überlagerung spricht: Bei der Parabel seien die Ebenen des Bildempfängers und des Bildspenders überlagert von den Ebenen des Kontextes und der erzählten Welt.6 Eine solche Überlagerung gibt es nicht. Denn was Sellin anspricht, ist nichts anderes, als daß sich das erzählende Gleichnis genauso wie jede fiktionale Erzählung auf einer anderen Ebene bewegt als der Kontext, den es erhellen will. Und so sind die Ausführungen zu Mt 20, lff und Lk 15, llff, durch die die verschiedene Art der Überlagerung verdeutlicht werden soll7, als ganze verfehlt: Mt 20, lff strebt, wenn man die Pointe von V. 13-15 richtig bestimmt, die gleiche Plausibilität an wie Lk 15, l l f f , und bei letzterem Text ruht die Plausibilität genausowenig in sich selber wie bei ersterem. Beide Texte weisen vielmehr über sich selbst hinaus auf den Kontext. Das gilt auch für die Beispielerzählungen, deren anderes Verhältnis zum Kontext nicht als Verzicht auf das Metaphorische interpretiert werden muß. Wenn Stock betont, daß sich das Gleichnis von der Metapher durch den Umfang seiner "Wie-Komponente" unterscheidet, so folgt daraus, daß dieser bei der Analyse die sachliche Priorität zukommt. Die Wie-Komponente ist der Bildspender, der entweder beschreibend
1
Ebd. 325.
2
Ebd. 328f.
3
Ebd. 331.
4
Ebd. 332.
5
Ebd. 316.
6
Ebd. 329.
7
Ebd. 329ff.
72
Grundlegung
oder erzählend ausgestaltet ist.1 Zwar wird der Beschreibung ( = Besprechung) nur eine kurze Bemerkung gewidmet. Doch ist durch die Charakterisierung der Wie-Komponente bereits entschieden, was der erste Teil der Arbeit im einzelnen bestätigt: Von insgesamt 14 Abschnitten über die "Erzählstrukturen" des Gleichnisses befaßt sich nur einer mit der Metapher, und auch dieser eine konzentriert sich schon insofern auf die Erzählung, als er mit der Metapher zugleich Vergleich, Gleichnis und Parabel zum Thema macht. Eine gewisse Schwäche der Darstellung ist nur darin zu sehen, daß die Ausführungen über den metaphorischen Aspekt nicht explizit auf die übrigen Erzählstrukturen bezogen werden.
So steht am Ende die Einsicht: Zwar haben Gleichnisse eine Dimension, die als metaphorisch bezeichnet werden kann und die ins Zentrum dessen führt, was ein Gleichnis ist. Doch darf die Faszination, die gegenwärtig die Metapher ausübt, nicht über zwei Sachverhalte hinwegtäuschen: Erstens, daß bereits Jülicher als Wesen des Gleichnisses definiert hat, was heute auf das Konto seiner Metaphorizität gebucht wird; und zweitens, daß die Art der Metaphorizität erst erfaßt werden kann, wenn man das Gleichnis als eine bestimmte Form der Erzählung bzw. der Besprechung versteht. Es ist deswegen problematisch, sein Wesen und seine Morphologie monokausal aus der Metapher abzuleiten und andere Komponenten nur ergänzend zu berücksichtigen. Denn das Gleichnis ist weder eine ausgeweitete Metapher (Weder) noch ein Redetyp innerhalb der metaphorischen Redeweise (Aurelio). Es ist auch nicht ein metaphorischer Satz bzw. eine metaphorische Erzählung (Sellin). Und es ist erst recht nicht eine der literarischen Gattungen, mit denen sich die Allegorie verbindet (Klauck). Es ist vielmehr eine erzählende bzw. besprechende Kleinform, die ein bestimmtes Merkmal mit der Metapher teilt. Und das heißt: Weder sind die von Jülicher formulierten Probleme der Gleichnisforschung obsolet, noch ist ein bisher verborgenes Fundament freigelegt worden, das es erlaubt, die alten Probleme auf eine neue Basis zu stellen. Erst wenn man sich das klarmacht, läßt sich aus der Metapherndiskussion ein Gewinn ziehen. Sie lehrt zu sehen, inwiefern Gleichnisse auf ein Grundphänomen menschlicher Sprache bezogen sind. Und die bereitgestellten Kategorien können behilflich sein, alte Fragen und alte Antworten neu zu präzisieren. Das Ergebnis dieses Kapitels hat für mich zur Konsequenz, daß im folgenden zunächst die erzählenden und besprechenden Merkmale der Gleichnisse auch im einzelnen zu beschreiben sind, wobei eine gewisse
1
Stock, aaO. 58.
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Schwierigkeit darstellt, daß die Literatur, auf die ich mich beziehe, in der Regel nur von der Erzählung spricht. Anschließend soll unter Berücksichtigung des Kontextes die religiöse und theologische Dimension dieser Merkmale thematisiert werden. Erst dabei kommen die Gesichtspunkte zur Geltung, auf die die Metaphernforschung aufmerksam gemacht hat.
6. Brevitas et luciditas
Nachdem Jülicher zwei seiner drei Gleichnisformen als Erzählung charakterisiert hatte, ist Rudolf Bultmann der erste gewesen, der unter durchgehender Berücksichtigung auch der Gleichnisse im engeren Sinne "die Technik der Gleichniserzählung, d.h. wesentlich der Parabeln", untersucht hat.1 Er erkannte dabei, daß diese Technik den von Axel Olrik formulierten "Gesetzen der Volksdichtung"2 folgt, und hebt hervor, daß sie insbesondere die Knappheit und Ökonomie der Darstellung zum Ziel hat. Im einzelnen beschreibt Bultmann folgende Kennzeichen: Konzentration auf zwei bis drei Hauptpersonen; Behandlung von Gruppen als Personen; gleichzeitiges Auftreten von nur zwei Personen (szenische Zweiheit); Geradlinigkeit und Einsträngigkeit der Darstellung; Charakterisierung der Personen durch ihr Verhalten und ihre Worte; Sparsamkeit in der Mitteilung von Affekten und Motiven, aber auch in der Zeichnung der Nebenpersonen; Fehlen einer Motivierung vor allem der Exposition; gelegentliches Fehlen eines Schlusses; auf das unbedingt Nötige konzentrierte Schilderung der Vorgänge und Handlungen; reiche Verwendung der direkten Rede und des Selbstgesprächs; Hervorhebung des Wichtigen durch Wiederholung; Verwendung der Dreizahl; Mitteilung des Wichtigsten am Schluß (Achtergewicht); Herausforderungeines Urteils (argumentativer Charakter); Gegenüberstellung von zwei Typen.
Die von Bultmann beschriebene Erzähltechnik ist inzwischen so etwas wie Gemeinbesitz der Forschung geworden.3 Dabei scheint mir vor allem 1
Bultmann, aaO. 203-208, Zitat (im Original z.T. gesperrt) 203.
2
Ebd. 203 Anm. 2: A. Olrik, Gesetze der Volksdichtung, in: ZDA 51, 1909, 1-12.
3
Vgl. z.B. Linnemann, aaO. 21ff; Eichholz, Gleichnis als Spiel, 57ff; ders., Gleichnisse der Evangelien, 26; E. GUttgemanns, Die linguistisch-didaktische Methodik der Gleichnisse Jesu, in: Ders., Studia linguistica neotestamentica, BEvTh 60, 1971, 99-183, hier 130ff.
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Grundlegung
Eberhard Jüngels These Beachtung zu verdienen, daß sich die Ökonomie der Darstellung, auf die Bultmann abhebt, insbesondere der Konzentration auf die Pointe verdankt:"... alle Anschauungselemente bzw. Erzählungszüge" sind "streng mit die (als Ausgangspunkt das ganze Gleichnis hervortreibende, aber vom Ende her erscheinende) Pointe bezogen..."1 Ähnliches hat Dan Otto Via mit seiner Kategorie "Erzählgerüst" im Auge.2 Damit meint er "die formende Kraft, auf die alles andere bezogen ist"3, bzw. "die Erzählstruktur, die aus kleineren Erzählstrukturen oder Episoden zusammengesetzt ist".4 Und diese Erzählstruktur besitzt eine "dramatische Qualität"5, die sich auf die Frage zuspitzt: "Wie wird es ausgehen?"6 Jüngels und Vias Formulierungen treffen sich mit dem, was Klaus Berger und Alex Stock zur Erzählung ausführen. Nach Berger sind "der Ausgangs- und der Endpunkt" der Erzählung "die narrativen Basisoppositionen, d.h. zwei gegensätzliche Zustände, deren Gegensätzlichkeit durch den zeitlichen Verlauf herbeigeführt wurde".7 Innerhalb der Erzählung selber wird mit Mitteln wie Wiederholung, Antithese, Steigerung, Parallelismus, Verknüpfung, wörtliche Rede, Rückschritt und Verschachtelung gearbeitet8, während "jeder Charakter durch den Gegensatz definiert (ist), in dem er zu einem anderen steht"9. "Verben der Veränderung und Angaben über Ort und Zeit sind typisch." Denn immer liegt eine Handlung, genauer: eine Personenhandlung, zugrunde.10 Nach Stock bauen erzählende Texte "eine Folge von Zuständen und Ereignissen" auf, "die aufeinander bezogen und miteinander verkettet sind...; entscheidend ist hier die Kategorie des Ereignisses, durch das ein Zustand oder regulärer Ablauf verändert oder überschritten oder in einen anderen verwandelt wird. Das vorherrschende Tempus ist hier das Präteritum."11
1
Jüngel, Paulus und Jesus, 137.
2
Via, aaO. 94ff.
3
Ebd. 100.
4
Ebd. 96.
5
Ebd. 97.
6
Ebd. 100.
7
Berger, Exegese, 79.
8
Ebd. 79ff.
9
Ebd. 79.
10
Ebd.
11
Stock, aaO. 58.
6. Brevitas et luciditas
75
Die Zitate sollen den Konsens andeuten, zu dem es gekommen ist, seit Via den Versuch gemacht hat, der Gleichnisexegese durch die Berücksichtigung der Erzählforschung neue Impulse zu geben. Dadurch ist es zu einer über Bultmann hinausführenden Verfeinerung des Beobachtungsinstrumentariums gekommen. Vias Verdienst besteht aber vor allem darin, daß er sich als erster mit dem wichtigsten Kennzeichen der Erzählung auseinandergesetzt hat: der Fiktionalität. Dabei meint Fiktionalitätdie mit der Erzähltechnik dargebotene Realität der erzählten Welt. Diese ist zwar - und das macht die Referenzproblematik der Erzählung aus1 - auf die reale Welt bezogen. Doch hat sie ihr Ziel gerade darin, den Hörer aus der realen Welt in die fiktionale Welt der Erzählung zu entführen, um ihn dort so zu verstricken, daß er seine reale Welt anschließend neu zu sehen und zu gestalten vermag. Ich habe das Problem der Fiktionalität so akzentuiert, daß deutlich wird, inwiefern damit Sachverhalte ins Auge gefaßt sind, die bereits Jülicher reflektiert hat. Es soll nicht über eine Diskussion der uferlosen Literatur zur Erzählung entfaltet werden. Vielmehr möchte ich zur Präzisierung des eigenen Standpunktes erneut auf die Rhetorik eingehen und nur gelegentlich auf einige Titel der Erzählforschung hinweisen. Zwar hat die Rhetorik selber die "narratio" nicht mit Gleichnis, Metapher oder Allegorie in Verbindung gebracht. Doch hat sie bei der "narratio" die allgemeinen Gesichtspunkte der "bene dicendi scientia" so konkretisiert, daß der Sinn der Fiktionalität in ausgezeichneter Weise erhellt wird. Und nicht nur das: Die Rhetorik hat bereits einen großen Teil der Erzählgesetze formuliert und reflektiert, die der Gleichnisforschung seit Bultmann vertraut sind. Die SinYnatc (narratio) hat das irpäfuot (res) der Rede so darzustellen, daß Redner und Hörer in seiner Beurteilung übereinstimmen.2 Sie ist, wie eine typische Definition lautet, die etcöeoiq tcai irapäSooiq tü äKpoatfi toü i r p o t Y i i c t T o q , ou tcoivoüpeea a ü x « . Deutlicher kann kaum betont werden, daß die Hörerperspektive das zentrale Konstruktionsprinzip der Erzählung ist. Denn was nützt es, so läßt sich im Anschluß an Quintilian fragen, wenn 3
1
Dazu vgl. Kallmeyer u.a., aaO. 97ff.
2
Quintilian, Inst. IV 2,1-132. Vgl. Martin, aaO. 85-92.
3 J. Graeven (Hrsg.), Cornuti artis rhetoricae epitome, 1891,12, zitiert nach Martin, aaO. 75.
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Grundlegung
der Hörer "nur weiß, was geschehen ist"? Er muß auch der Auffassung sein, "es sei so geschehen, wie es uns zustatten kommt" (Inst. IV 2, 20). Und dazu ist es notwendig, die "res" nicht nur abzubilden, sondern ihr die "res ut factae" zur Seite zu stellen: "Narratio est rei factae aut ut factae utilis ad persuadendum expositio" (IV 2, 31). Oder anders formuliert: Die Wahrheit, die der Redner vertritt, wird dadurch gestärkt, daß er sie am Lichte der für den Hörer oft attraktiveren Wahrscheinlichkeit teilhaben läßt. "Denn es gibt sehr viele Dinge, die zwar wahr (vera), aber allzu wenig glaublich (credibilia) sind, so wie auch Falsches (falsa) oft wahrscheinlich (veri similia) ist." Und so kommt alles darauf an, daß der Hörer nicht nur glaubt, "quae vere dicimus", sondern auch, "quae fingimus" (IV 2, 34). Für den heutigen Leser sind die Formulierungen Quintilians außerordentlich problematisch, weil sie den Redner nicht dazu anleiten sollen, wie eine erfundene Geschichte, sondern, wie ein tatsächliches Geschehen zu erzählen ist. Sie dokumentieren die Parteilichkeit des Standpunktes, der je nach dem Redeziel das Unwahre als wahr und das Wahre als unwahr erscheinen lassen kann. Die Skrupel, die einer solchen Position begegnen, seitdem die Rhetorik ihre Unschuld verloren hat, können freilich nicht die Frage suspendieren: Was ist wahr, was ist unwahr an einer Erzählung? Mir scheint: Gerade weil die "narratio" vom Tatsächlichen überzeugen will, läßt die rhetorische Reflexion überdeutlich erkennen, welcher Mittel sich eine gut erfundene Geschichte, die das Gleichnis ist, bedient, um als wahr empfunden zu werden. Sie versucht, dem Erfundenen durch die Antizipation des Ortes, an dem der Hörer steht, die Plausibilität des Wahrscheinlichen zu geben. Und die fiktionale Verzerrung der Realität, die das mit sich bringt, soll nicht verhindern, sondern stellt im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, daß das Dargestellte zum Modell der Wirklichkeit wird. Die Vorbehalte gegenüber Quintilian lassen sich relativieren, wenn man seinen Äußerungen einige Formulierungen zur Seite stellt, die sich bei Aristoteles über die dichterische "narratio" des Epos finden.1 Sie erinnern außerordentlich stark an das, was Via, Berger oder Stock als Ergebnis der gegenwärtigen Erzählforschung zusammengefaßt haben.
1
Zur Aristotelischen Epostheorie vgl. Fuhrmann, Einführung, 38-54. Vgl. ebd. 120ff, zur hellenistischen Rezeption dieser Theorie.
6. Brevitas et luciditas
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Aristoteles bemerkt in seiner "Ars poetica", daß die erzählende Dichtung (ri SiriYHUOixiicr\) dramatisch sein "und sich auf eine einzige, geschlossene und vollständige Handlung (irepi p i a v i r p ä ^ i v öXnv tcai x e X e i a v ) beziehen soll mit Anfang, Mitte und Abschluß, damit das geschlossene Ganze wie ein organisches Wesen die entsprechende Freude hervorbringt" (23, 1459a 17-21).1 Dabei habe der Dichter freilich nicht die Aufgabe, "zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit und Notwendigkeit" (9,1451a 36-38). "Man muß das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, dem Möglichen vorziehen, das unglaubhaft ist" (24,1460a 26f). 2 Das aber heißt: Zwar soll der Dichter das Unbegreifliche (xö CJXOYOV) und Erstaunliche (TO G c t u y a a x ö v ) der Handlung in den Vordergrund rücken (24, 1460a 11-14). Doch gelingt ihm das nur, wenn er die Täuschung (lpeuSfj) richtig handhabt (24, 1460a 18). Denn "die Erzählung selber darf nicht aus unbegreiflichen Teilen zusammengesetzt sein, sondern wenn möglich nichts Unbegreifliches haben" (24,1460a 27-29). Warum aber soll der Dichter sich auf die Plausibilität des Unbegreiflichen und Erstaunlichen konzentrieren? Die Antwort des Aristoteles lautet: Weil die dichterische Wahrheit dem Hörer nur dann nahegebracht werden kann, wenn seine ndöri erregt werden. Nur wenn die Dichtung "nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit" ihre Figuren zu Symbolen und ihre Handlungen zu Modellen macht, "vermag das Publikum" sie "auf sich zu beziehen; nur so tritt die affektive Wirkung ein".3 Und es ist ebensowenig zufällig, daß Aristoteles die Korrelation von wahr-wahrscheinlich der Rhetorik entnimmt4, wie erstaunen kann, daß die Erregung der Affekte der einzige Punkt ist, an dem er sich in seiner Poetik explizit auf die Rhetorik beruft (19,1456a 33ff). "Klar ist, daß man auch bei den Handlungen unter denselben Gesichtspunkten (sc. wie in der Rhetorik) vorgehen soll, wenn es gilt, Mitleid oder Furchterregendes, Großes oder Wahrscheinliches darzustellen" (19, 1456b 2-4). Und nicht nur die Redner, sondern auch "die Dichter halten sich an die Wünsche der Zuschauer" (13,1453a 34f): Das Interesse an der kathartischen Wirkung beim Hörer ist der Grund dafür, daß Aristoteles die Wahrscheinlichkeit des Unbegreiflichen und Erstaunlichen ins Zentrum seiner Epostheorie rückt.5
Mit den Stichworten von "res" und "res ut factae", von "Vera" und "veri similia" hat Quintilian die Grenzen abgesteckt, innerhalb deren sich der Redner bei seiner Gestaltung der "narratio" bewegen soll. U m sie nicht zu überschreiten, soll er seit Isokratesdit drei öpexai (virtutes) der Erzählung beachten: Die «iTrrnoiq hat oüvxouoq (brevis), sie hat actnq (lucida, aperta) und sie hat m8avn (probabilis, veri similis, credibilis) zu sein (Inst.
1
Vgl. bes. ebd. 7,1450b-1451a.
2
Vgl. Fuhrmann, aaO. 22ff.
3
Ebd. 22f.
4
Vgl. ebd. 25.
5
Vgl. ebd. 49.
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Grundlegung
IV 2,31). Und es dürfte bereits jetzt deutlich sein, daß die "credibilitas" für den Hörer die höchste Tugend ist. Mit der Tugend der "brevitas" ist ein großer Teil der Sachverhalte im Blick, die Bultmann mit dem Hinweis auf die Knappheit und Ökonomie der Gleichnisse erklärt. Betont dieser die Konzentration auf das Notwendige und den Verzicht auf Überflüssiges, so hebt Quintilian einleitend drei Sachverhalte hervor (IV 2,40): Erstens sei die "res" erst von dem Punkt an darzustellen, wo sie den Hörer angeht. Zweitens sei nur das zum Fall selber Gehörige anzusprechen. Und drittens sei alles zu streichen, was der "res" nicht von Nutzen (utilitas) ist. Die Erläuterungen nennen einige Beispiele, die aus den Gleichnissen beliebig vermehrt werden können. Zunächst zitiert Quintilian eine Passage, die mit der Ankunft im Hafen beginnt und alle Schritte aufzählt, die der Reisende unternehmen muß, bis er die Reise selber antreten kann. Da hätte es genügt zu sagen: "Ich fuhr aus dem Hilfen." Denn "so oft der Ausgang eines Vorgangs das Vorausgehende hinreichend bezeichnet", müsse auf das verzichtet werden, was sich von selbst versteht (IV 2, 41). Das aber erhellt nicht nur die kurze Notiz der Abreise in Mk 12, 1; Lk 15, 13; 19, 12par, sondern z.B. ebenso den Hinweis auf das Säen Mk 4, 3parr oder auf das Anwerben der Tagelöhner Mt 20, 1. Die Vorbereitung der Aussaat ist ebenso unwichtig wie die der Anwerbung, weil es im folgenden nur auf das Ergehen der Saat bzw. auf die Entlohnung der Angeworbenen ankommt. Entsprechend braucht bei der Abreise nur das erwähnt zu werden, was für das Verständnis des weiteren Gangs der Ereignisse absolut notwendig ist: die Übergabe des Weinbergs an die Pächter, die Umsetzung des Erbes in Geld, die Übergabe der Minen - die Probleme oder auch nur die Art der Reise selber werden dagegen nicht einmal angedeutet. Als zweites Beispiel führt Quintilian an: Wenn gesagt werden könne: "Ich habe einen Sohn im Jünglingsalter", sei es überflüssig zu erwähnen, was alles vorauszusetzen ist, bis ein Sohn dieses Alter erreicht habe (TV 2,42). Damit ist vorzüglich getroffen, was insbesondere die Eröffnung von Gleichnissen betrifft: Wie ist der Mann von Lk 12, 16 oder 16, 1 zu seinem Reichtum gekommen? Um was für einen König handelt es sich, der nach Mt 18, 23 Abrechnung halten will? Warum will der Mann von Mt 7, 24par ein Haus bauen? Wie ist derjenige, der nach Mk 4, 26 Saat auswirft, zum Bauern geworden? Wieso hat der Vater von Lk IS, 11 gerade zwei Söhne, der Hirte von Lk 15, 4par gerade 100 Schafe, die Frau von Lk 15, 8 gerade 10 Drachmen? Alle diese Fragen werden nicht beantwortet, weil eine Antwort das, was für den Fortgang des Geschehens zu wissen nötig ist, nur verdunkeln würde. Die Gefahr der Dunkelheit (obscuritas) entsteht nach Quintilian allerdings weniger durch ein Zuviel als durch ein Zuwenig: "Denn sagt man Überflüssiges, ist es lästig, streicht man Notwendiges, gefährlich" (IV 2, 44), weil dann die Glaubwürdigkeit (credibilitas) der Erzählung verlorengeht (IV 2, 47). Als ein solches "Zuviel" kann verstanden werden, daß die Gleichnisse dort relativ breit in der Darstellung werden, wo es anders als bei den bisher genannten Beispielen für die Motivierung des Handlungsablaufs sinnvoll, wenn nicht
6. Brevitas et luciditas
79
notwendig ist. Dazu gehören etwa die Passagen, die nach der Regel de tri einen Sachverhalt besonders hervorheben. In Mk 4, 3ff erhellt die dreimalige Vernichtung des Samens den Erfolg, zu dem die Aussaat auf gutem Boden führt. In Mt 20, lff wird der Widerspruch der Erstgedungenen gegen die Entlohnung der Letztgedungenen dadurch vorbereitet, daß vor den in der letzten Stunde Angeworbenen noch zwei weitere Gruppen von Tagelöhnern verpflichtet werden. Und in Lk 14,16ff (par) motiviert die dreimalige Entschuldigung der Eingeladenen den Zorn des Gastgebers, der zur Einladung von Ersatzgästen führt. Bei allen drei Beispielen hätte es an sich genügt, einen einmaligen Vorgang zu schildern. Der Kontrast, auf den es für die Pointe ankommt, wäre dadurch nicht verlorengegangen. Doch ist die Breite der Darstellung in keinem Fall überflüssig oder gar hinderlich. Sie bereitet den Hörer vielmehr intensiv auf die Aufnahme dessen vor, worauf es dem Erzähler ankommt. Eine relative Breite zeichnet die Gleichnisse nicht nur bei der Regel de tri aus. Vielmehr ist auch sonst charakteristisch, daß je nach Notwendigkeit zwischen Knappheit und Ausführlichkeit gewechselt wird. Lk 13, 18f(parr) z.B. erwähnt nur kurz Auswurf und Wachstum des Senfkorns, fügt aber dort, wo es zur Akzentuierung der Pointe notwendig ist, einen ganzen Satz hinzu, der das Baumsein der Senfstaude betrifft. Entsprechendes gilt für Mt 13, 44, wo die "Ausführlichkeit", mit der von der Reaktion auf die Auffindung des Schatzes erzählt wird, der Knappheit kontrastiert, mit der zuvor vom Finden und Verbergen des Schatzes die Rede ist. Etwas anders ist Mk 4, 26-29 gestaltet. Denn hier folgen auf die Notiz über den Auswurf des Samens drei Sätze, deren Ausarbeitung der Gesetzmäßigkeit und Zielstrebigkeit des temporalen Prozesses von Sprossen, Wachsen und Fruchttragen die Pointe fundiert, nach der es auf das "Sofort" der Ernte ankommt. Bei Lk 18, 2-5 wird der Richter bereits bei seiner Einführung "ausführlich" charakterisiert, und zwar deshalb, weil diese Charakterisierung für die als Selbstgespräch formulierte Pointe wichtig ist. Die Witwe dagegen wird nur als Bittende vorgestellt. Sie wird weder näher charakterisiert, noch erfahren wir, mit welchem Rechtsfall sie den Richter betrauen will. Nur die Vorstellung, die der Richter von ihr gewonnen hat, ist für das Selbstgespräch von Bedeutung. Als Beispiel für die umfangreicheren Gleichnisse sei auf Lk 15, 11-32 eingegangen. Außerordentlich knapp wird V. 12-13 der weite Weg geschildert, der von der Herausforderung des Erbes bis zu seiner Verschleuderung führt: Bitte um das Erbe, Erfüllung der Bitte, Umsetzung in Geld, Reise, Verschleuderung - das alles sind bloße Stichworte, durch die der Sohn mit Riesenschritten an den Punkt geführt wird, der für die Entfaltung des Folgenden die Voraussetzung darstellt. Erst mit V. 14-16 wird die Schilderung breiter, obwohl auch hier der Hinweis auf das Ausgehen des Geldes und die Hungersnot nur vorbereitet, worauf die eigentliche Aufmerksamkeit gelenkt werden soll: das Elend, das darin kulminiert, daß der Sohn nicht einmal Schweinefutter zu essen bekommt. Die Peripetie erreicht sein Weg in dem Selbstgespräch von V. 17-19. Der Ausführlichkeit, mit der hier die Rückkehr zum Vater motiviert wird, entspricht, daß V. 20f das Sündenbekenntnis vor dem Vater wiederholt, die Rückreise jedoch ganz übergeht und nur deren Abschluß - die Ankunft beim Vater - erwähnt. Dabei wird bereits durch den Reichtum der Gesten, mit denen der Vater den Sohn begrüßt, vorbereitet, was den ersten Teil des Gleichnisses durch V. 22-24 abschließt: die detaillierte Anweisung sowohl zur persönlichen Ausstattung des Sohnes als auch zur Ausrichtung des Festmahles, das Ausdruck der Freude ist. Dabei
80
Grundlegung
wird der Vollzug der Ausstattung des Sohnes allerdings ebensowenig geschildert wie der Verlauf des Festes. Beides versteht sich von selbst und würde, falls es geschildert wäre, die Pointe zudecken. Es genügt, V. 24c den Beginn der Freude zu konstatieren. Ahnliches läßt sich beim zweiten Teil des Gleichnisses beobachten. So haben V. 25-28a ausschließlich die Aufgabe, den älteren Sohn an das Geschehen heranzuführen, von dem er, um seine eigene Rolle hervorheben zu können, bisher ferngehalten worden ist. So wird vom Festmahl z.B. nur das erwähnt, was er von außen "hören" kann. Und auch die vom Knecht erbetene Auskunft über den Anlaß des Festes bleibt bei der äußerlichen Seite des Vorgangs stehen: An dieser Stelle genügt es, daß motiviert vom Zorn des älteren Sohnes berichtet werden kann. Wichtig und entsprechend "ausführlich" gestaltet ist dann erst wieder die in V. 28b-32 berichtete Konfrontation mit dem Vater. Charakteristisch ist auch hier, daß das Herauskommen des Vaters nur als solches konstatiert wird - ob und wie er informiert worden ist, kann übergangen werden. Es kommt einzig darauf an, daß der Ältere seinen Zorn begründen und der Vater daraufhin eine Entkräftigung des Vorwurfs vorbringen kann, der die Möglichkeit bietet, erneut die Pointe der Freude hervorzuheben. Die Reaktion des Sohnes auf die Antwort des Vaters dagegen wird wieder offengelassen. Es fehlt, wie Bultmann sagen würde, ein Schluß des Gleichnisses. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Erstens wird nur das breiter entfaltet, was der Vorbereitung der Pointe dient. Zweitens zeigt sich, daß eine deutliche Korrespondenz zwischen Ausführlichkeit und wörtlicher Rede besteht. Drittens heißt Breite der Darstellung nicht, daß mehr berichtet wird, als unbedingt notwendig ist. Und viertens sind die Passagen karg, knapp und unanschaulich gestaltet, auf die zwar, um die Schilderung einer Ereignisund Handlungsfolge zu erreichen, nicht verzichtet werden kann, die aber nur zur Verbindung der Szenen, die wichtig sind, gebraucht werden. Quintilian erwähnt als ein letztes Problem der "brevitas", daß manche Erzählungen deswegen relativ lang sind, weil es die besonderen Umstände der "res" erfordern (IV 2, 47). Dem müsse der Redner durch Reduktion des Umfangs oder durch Steuerung der Langeweile des Hörers entgegentreten. Als Mittel, mit dem dieses Ziel erreicht werden könne, schlägt er die direkte Anrede des Hörers vor. So könne der Redner den Hörer am Ende des Proömiums "vorbereitend (darauf) aufmerksam machen" (IV 2, 47) oder erwähnen, was er für später aufschieben wolle (IV 2, 48). Er könne aber auch eine Zwischenbemerkung (IV 2, 50) oder am Schluß einen erinnernden Hinweis (IV 2, 51) einschieben. Aufschlußreich sind diese Vorschläge deshalb, weil sie zeigen, daß die Zumutbarkeit für den Hörer darüber entscheidet, was als notwendige Breite oder Kürze anzusehen ist. Zwar finden sich den Umfang belastende Unterbrechungen bei Gleichnissen nicht. Doch hat Quintilian den Ort bezeichnet, an dem ihre besprechende Komponente gewürdigt werden kann: Beim erzählenden Gleichnis ist es insbesondere die direkte Rede, beim besprechenden die ganze Struktur, die sich mehr oder weniger direkt an den Hörer wendet. Besonders signifikant ist in dieser Hinsicht Mk 12, 7, wo der Sprecher mit einer selbst beantworteten Frage aus der Erzählung herausspringt, um den Hörer direkt in das Geschehen einzuschalten. Zu erwähnen sind aber auch die Frage-Antwort-Struktur von Mk 4,30-32parr, Lk 7, 41-43; 10,36f; Mt 21,28-31; 6,47-49par; 11,16-19par, Lk 13,20-21par; 12,42-46par sowie die mit Tic e£ üywv (u.ä.) konstruierten Fragegleichnisse. Und schließ-
6. Brevitas et luciditas lieh gehören hierher die Stellen, wo sich der Sprecher durch ein (etynv) Xeyu> der Pointe direkt an den Adressaten wendet.1
81 ü p i v bei
Die rhetorische Kategorie der "brevitas" ist vorzüglich dazu geeignet, zentrale Merkmale des Gleichnisses verständlich zu machen. Sie zeigt insbesondere, daß die Knappheit oder die Breite, in der ein szenisches Element geschildert wird, fast ausschließlich davon abhängt, ob dem Hörer dadurch die vom Sprecher gewünschte Akzentuierung des Erzählten nahegebracht werden kann oder nicht. So beginnt das Gleichnis erst dort, wo es für die Entfaltung seiner Ereignis- und Handlungsfolge unabdingbar ist. Es wird weder mitgeteilt, wie es zur Konstitution der im Eröffnungssatz vorgestellten Ausgangssituation gekommen ist, noch erfahren wir, warum gerade diese Situation aufgegriffen wird. Es fehlt jede Motivation des Einsatzpunktes. Anschließend ist ein ständiger Wechsel von außerordentlicher Kargheit und kontrastierender Ausführlichkeit festzustellen. Kargheit kennzeichnet die Einzelzüge, die zwar unverzichtbar sind, weil sie den Zusammenhang der Ereignisse und Handlungen garantieren. Sie überbrücken zeitliche und räumliche Abstände oder geben andere Voraussetzungen für die Fortsetzung an. Doch werden solche Züge nicht detailliert, weil sie sonst von dem, worauf es dem Erzähler ankommt, ablenken würden. Und nur bei den Szenen, die besonders wichtig sind, wird das Gleichnis ausführlicher. Denn hier wird das Geschehen so profiliert und akzentuiert, daß die am Schluß formulierte Pointe die Chance hat, die den Hörer überzeugende Bilanz des Ganzen zu ziehen. Erst die Pointe jedenfalls macht das Gleichnis zu einer in sich strukturierten, zielstrebigen Einheit. Sie ist als eine literarische Konkretisierung der "utilitas" verstehbar, die Quintilian in den Vordergrund seiner Analyse der "narratio" rückt: Ob knapp oder ausführlich erzählt wird, hängt davon ab, was jeweils das Geeignetste ist, um beim Hörer den Redezweck zu erreichen: die Übersetzung der Pointe in die Praxis des Lebens. Besonders erhellend ist es, zwei Beobachtungen aufeinander zu beziehen. Die erste besagt, daß das Gleichnis dort besonders ausführlich wird, wo es die Handlungsträger in direkter Rede zu Wort kommen läßt.
1
Vgl. Lk 12, 37par; 12, 44par; 12, 59par; 14, 24; 18,14; Mt 18,13. Vgl. Bultmann, aaO. 197.
82
Grundlegung
Die andere Beobachtung betrifft Quintilians Vorschlag, der Redner solle sich direkt an den Hörer wenden, wenn es die Umstände des Falles erforderlich machen, eine "narratio" zu erzählen, die länger als an sich zumutbar ist. Zwar will die wörtliche Rede nicht der Langeweile begegnen, die ein zu umfangreiches Gleichnis mit sich bringen könnte. Sie findet sich im kürzeren ebenso wie im längeren Gleichnis. Doch bezeichnet Quintilians Vorschlag genau den Punkt, an dem das Gleichnis sein spezifisches Interesse an der Besprechung des Dargestellten zum Ausdruck bringt. Und dieses Interesse an der mehr oder weniger direkten Applikation auf den Hörer ist für das besprechende Gleichnis so bestimmend, daß es Merkmale hat, die es als ganzes von der Erzählung unterscheiden. Quintilian hat eine solche Redeform, die sich von der Erzählung ebenso abhebt, wie sie mit ihr Gemeinsamkeiten teilt, nicht beschrieben. Die rhetorische Kategorie der "brevitas" hat weithin dasselbe im Auge, was die Erzählforschung mit ihrer Unterscheidung von erzählter (d.h. realer) Zeit und Erzählzeit zu erklären versucht: das Verhältnis von Raffung und Aussparung, von Ausdehnung und Deckung, von Ereignis und direkter Rede. Nach Eberhard Lämmert unterschreitet die raffende Erzählung die erzählte Zeit bis zur Aussparung von Minuten und Jahren, ohne daß die Ereignisfolge darunter zu leiden braucht.1 Das ausdehnende Erzählen dagegen "wird vor allem notwendig bei der zusammenhängenden Wiedergabe von Gedanken und Träumen sowie bei komplizierten Bewußtseinsvorgängen, die einen kurzen Handlungsschritt begleiten".2 Zwischen diesen beiden Extremen steht das - cum grano salis so genannte - zeitdeckende Erzählen, das von Lämmert deswegen besonders ausführlich behandelt wird, weil es weithin mit der direkten Rede identisch ist, die bei fast jeder Art von Erzählung einen großen Teil für sich in Anspruch nimmt.3 Denn die direkte Rede besitzt die "mediale Macht des gesprochenen Wortes..., disparate Vorgängedem Erzählfluß einzuverleiben, Fernabliegendes zu aktualisieren und gleichzeitig mit der Vorgangswiedergabe die Charakterzeichnung zu verbinden".4 Wenn sie dialogisch
1
Lämmert, Bauformen des Erzählens, 61975, bes. 22f. 82ff. 257f. (Anra. 12).
2
Ebd. 84.
3
Ebd. 195ff.
4
Ebd. 210.
6. Brevitas et luciditas
83
strukturiert ist, kann sie durch "Progression und Steigerung, Verengung und Ausbuchtung, Fixpunkte und Überschneidungslinien der Aussage" erreichen, daß die "Elemente der Handlungsverwertung und -Steuerung, der aktuellen Entscheidung und der prinzipienhaften Erörterung" besonders hervortreten.1 Damit ist der Stellenwert, den die wörtliche Rede bei Gleichnissen hat, treffend gekennzeichnet. Bereits die bisherige Darstellung zeigt, daß die Kürze der Erzählung nicht auf Kosten der zweiten Tugend, der "luciditas", erreicht werden darf. Denn für Quintilian ist es nicht nur notwendig, manches zu verschweigen, sondern ebenso, manches zu bestreiten, zu verändern oder hinzuzufügen (IV 2, 67). Letztlich kommt es allein darauf an, daß die "narratio" das, was ihr die Überzeugungskraft gibt, ebenso kurz wie klar, und das heißt zugleich: leicht faßlich, darbietet. Deshalb ist es unabdingbar, daß sie einerseits den sprachlichen Ausdruck ihrem Gegenstand anpaßt (decorum), und andererseits die "Sachen, Personen, Zeitumstände, Örtlichkeiten und Gründe klar erkennen läßt" (IV 2, 36). Klare Erkennbarkeit aber wird vor allem dann erreicht, wenn es dem Redner mit Hilfe der evapyeia (evidentia) gelingt, das Erzählte so deutlich vor Augen zu stellen (IV 2, 6365), daß "alle, nachdem sie es gehört haben, glauben, sie würden es auch gesagt haben", weil es ihnen als wahr erscheint (IV 2, 38). Quintilian gibt für die "luciditas" keine Beispiele. Er konzentriert sich statt dessen ausschließlich auf die Polemik gegen den Exhibitionismus von Rednern, die - wohl bei Deklamationsveranstaltungen - vor sensationshungrigem Publikum Beifall finden, ohne daß der Fall, den sie erzählen, verstanden wird (IV 2,37-39). Doch dürfte auch so erkennbar sein, daß die Kategorie der "luciditas" zur Erklärung der Gleichnisse eine große Hilfe sein kann. Bei Lk 12,16-20 etwa wird die Person im Eröffnungssatz als irXouaioc; bezeichnet, und das ganze Gleichnis bietet nichts anderes als die Entfaltung eines Problems, das sich aus ihrem Reichtum ergibt. Dazu gehört der einleitend genannte Zeitpunkt einer guten Ernte. Dazu gehören die Gründe, die durch den Wechsel von Frage und Antwort eines Selbstgesprächs entschieden werden. Dazu gehört das Herz des Reichen als der Ort, an dem die Entscheidung erfolgt. Und dazu gehört schließlich: Alle Faktoren werden so eindringlich zu einer Einheit miteinander verwoben, daß der Eindruck entstehen kann, der Hörer selber stehe an der Seite der vom Erzähler vorgestellten Person. Er bekommt so die
1
Ebd. 225.
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Grundlegung
Chance, das Problem, in das sich der Reiche verstrickt, als eine eigene Möglichkeit zu entdecken. Und in dem Maße, wie eine solche Selbstentdeckung gelingt, wird er sich auch der Stimme Gottes nicht entziehen können, die das Geschick des Reichen als die unausweichliche Pointe des Gleichnisses klar vor Augen stellt. Die Klarheit, die nicht nur Lk 12,16-20, sondern alle Gleichnisse auszeichnet, ist an zwei Punkten zu differenzieren. Einerseits ist zu beachten, daß sie sich zur Intensität des Erlebnisses rhetorischer "evidentia" nur dann steigern kann, wenn es sich um ein ausführliches Gleichnis handelt. Und andererseits finden sich nur bei den besprechenden Gleichnissen Merkmale, die die Beabsichtigung der "evidentia" als solche zu erkennen geben. Ersteres soll an einer Gegenüberstellung von Lk 13, 20f par und Lk 16, 19-31 demonstriert werden, letzteres an Mt 7, 9-llpar. Lk 13, 20f ist zwar klar gestaltet. Doch werden Person, Örtlichkeit, Zeitpunkt und Gründe entweder ganz übergangen oder doch nur knapp und indirekt erwähnt. Sie können als allgemein bekannte Rahmenbedingungen der skizzierten Ereignisfolge vorausgesetzt werden. Denn es kommt dem Gleichnis allein auf die erzählerische Akzentuierung des Gerüsts dieser Ereignisfolge an: die Erwähnung des Sauerteigs, der Vermengung in eine große Menge Mehl und schließlich der Durchsäuerung des Ganzen als dem eigentlichen Ziel des Vorgangs. Dabei verhindert schon die Kürze der Erzählzeit, daß sich der Hörer in eine der Stationen des Erzählten einleben kann. Und das ist bei einem Gleichnis wie Lk 16,19-31 anders. Hier bieten Umfang und Erzählzeit die Möglichkeit, den Hörer in die Szenen der Ereignis- und Handlungsfolge zu verwickeln. Die erste Szene V. 19-21 führt ihm außerordentlich drastisch den Kontrast vor Augen, der zwischen dem Leben des Reichen und dem Hunger des vor dem Tore seines Hauses liegenden Armen besteht. Während der Hörer hier zur Entdeckung seiner Empörung über den einen, vor allem aber zur Aktivierung seines Mitleids mit dem anderen geführt werden soll, konzentriert sich die zweite Szene V. 22-31 ganz auf den Reichen, den Armen dagegen nur insoweit, wie er zur Profilierung des Problems, mit dem der Reiche konfrontiert wird, herangezogen werden muß. Die Überleitung V. 22 strebt mit ihrem radikalen Wechsel von Ort, Zeit und Szenarium zugleich eine Entspannung der aufgebauten Perspektive an: Beide Hauptpersonen sind gestorben, aber Lazarus hat sein Elend mit dem Heil im Schöße Abrahams vertauscht. Und so kann der Hörer sein Mitgehen mit dessen Geschick zugunsten einer Vertiefung in die Situation des Reichen in den Hintergrund treten lassen. Das jedenfalls ist das Ziel des durch V. 23 geschickt vorbereiteten Dialogs, der sich V. 24-31 zwischen dem Reichen und Abraham entspinnt. Bei dem ersten Gesprächsgang V. 24-26 bittet der Reiche genauso wie bei dem als eine Einheit aufzufassenden doppelten Gesprächsgang von V. 27-31 um die Entsendung des Lazarus, das eine Mal zu sich selber, das andere Mal zu seiner Familie. Dabei erfleht er zunächst auf der Folie einer plastischen Ausmalung seiner schon V. 23 genannten Pein mit ¿Xeriaov für sich selber genau das, was der Hörer nach V. 19-21 für den Armen empfunden hat. Die Erfüllung einer solchen Bitte kann Abraham ganz im Sinne der bisher aufgebauten Erwartung des Hörers nur ablehnen. Die Ablehnung aber erhält dadurch, daß er das jetzige Geschick auf das in V. 19-21 geschilderte irdische Geschick zurückbezieht, eine die Erwartung fundierende explizite Begründung: Den Reichen wie den Armen hat das
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ihrem bisherigen Ergehen konträre, aber angemessene Geschick eingeholt. Daraufhin erbittet der Reiche im zweiten und dritten Gesprächsgang von V. 27-31 die Entsendung des Lazarus zu seinen fünf Brüdern. Lazarus soll die Brüder durch sein prophetisches Zeugnis vor dem Geschick des Toten bewahren (V. 28) bzw. als ein von Toten Auferstandener zur Umkehr rufen (V. 30). Daraufhin kann Abraham auch diese Entsendung nur verweigern. Denn die Brüder haben Moses und die Propheten, die sie hören sollen (V. 29), aber genausowenig hören, wie sie sich von einem Auferstandenen überzeugen lassen werden (V. 31). Und diese zweite Ablehnung stellt die Pointe dar, auf die der Erzähler den Hörer verpflichten will. Zusammenfassend läßt sich sagen: Anders als bei Lk 13, 20fpar bekommt der Hörer durch einen langen, im Blick auf Personen, Ort, Zeit und Gründe klar strukturierten Anmarschweg die Möglichkeit geboten, sich in das Beziehungsgeflecht eines in sich differenzierten Kontrastes einzuleben. Es ist der fortschreitend deutlicher ausgearbeitete Kontrast von arm und reich, von Elend und Wohlergehen, von Mitleid und Verurteilung, von jetzt und dann, von Heil und Unheil, von Annahme und Ablehnung prophetischer Bußpredigt. Und je stärker sich der Hörer den Polaritäten anheimgibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er ihre Auflösung am Schluß als seine eigene Auflösung übernehmen kann. Aufgrund der in die Erzählung eingegangenen Antizipation und Steuerung seines Standortes kann er dabei der von Quintilian beschriebenen Suggestion verfallen, daß er glaubt, das Gehörte selbst erzählt zu haben, weil er es als wahr empfindet. Daß etwas Ahnliches wie das Erlebnis rhetorischer "evidentia" tatsächlich ein Ziel sein dürfte, das die Gleichnisse durch ihre "luciditas" erreichen wollen, ist am deutlichsten bei den Fragegleichnissen erkennbar. Denn die vom Tic; ü p ü v (u.ä.) bestimmte Struktur will den Hörer zwingen, sich mit der Hauptfigur so stark zu identifizieren, daß der Eindruck entstehen kann, er vertausche die Rolle des Hörers mit der des Sprechers. Bei Mt 7, 9ll(par) z.B. soll er sich in die Lage eines Vaters versetzen, der dem darum bittenden Sohn selbstverständlich Brot und Fisch und nicht Stein und Schlange geben wird. Diese Selbstverständlichkeit der Gabe des Guten wird im ei-Satz ausdrücklich konstatiert, um aus der Verwicklung in den Gestaltungsprozeß des Gleichnisses einen Schluß a minore ad maius zu ziehen.
Die "luciditas" der Gleichnisse kann als eine Tiefendimension ihrer "brevitas" verstanden werden. Denn was ausgespart, kurz oder ausführlich dargestellt wird, bemißt sich an der Klarheit, mit der das Dargestellte dem Hörer vor Augen geführt werden soll. Das Dargestellte aber sind die zwischen einer Ausgangssituation (Eröffnungssatz) und einer Endsituation (Pointe) zur Sprache kommenden Gegenstände, Personen, Zeitumstände, Örtlichkeiten und Gründe. Oder anders formuliert: Das Gleichnis entfaltet eine klar motivierte Sequenz von Ereignissen und Handlungen, die einsträngig und zielstrebig auf die Pointe zusteuern. Dabei ist außerordentlich charakteristisch, daß Orte nicht geographisch lokalisiert, Zeiten nicht historisch fixiert und Personen nicht namentlich
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Grundlegung
vorgestellt werden. Orts- und Zeitangaben haben vielmehr ebenso topischen wie typischen Charakter, während Personen als Träger von Positionen, Rollen, Funktionen und Attributen auftreten.1 Der Effekt dieser dreifachen Enthaltsamkeit ist zweifellos, daß der Hörer sich leichter in die Ereignis- und Handlungsfolge einleben kann, als wenn diese geographisch, historisch und personal individualisiert wäre. Das wird durch die drei Beispielerzählungen, die vordergründig eine Ausnahme darstellen, nur erhärtet. Lk 10,30-37 wird durch V. 30 eine geographische Lokalisierung gegeben - auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho -, die den grundsätzlichen Charakter der Begegnung von Priester, Levit und Samariter mit dem unter die Räuber Gefallenen unterstreicht. Entsprechendes gilt für Lk 18,10-14, wo V. 10 den Tempel als den Ort des Gebetes von Pharisäer und Zöllner hervorhebt. Weil Jerusalem dabei vorausgesetzt, aber nicht genannt ist, besteht kaum ein Unterschied zu den Ortsangaben bei anderen Gleichnissen. In Lk 16, 19-31 wird der Name des Armen durch V. 20 eingeführt und durch V. 23.24.25 auch sonst mit Nachdruck hervorgehoben. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hängt das mit der Etymologie von Aäcctpoq zusammen: ITi'JK / "IT5?1? oder "dem Gott hilft" bzw. "dessen Hilfe Gott ist"2 bringt den Sinn der ganzen Geschichte, den der Hörer sich aneignen soll, auf den Begriff. Aber auch auf den Namen Abrahams (sechsmal) und Moses' (zweimal) könnte nicht verzichtet werden, ohne daß das Gleichnis zum Torso würde.
Der Entindividualisierung der Personen korrespondiert die große Bedeutung, die die wörtliche Rede hat. Sie macht das Innere der Personen zur Schaltstelle, über die das Geschehen zusammenläuft, zur Ruhe und wieder in Gang kommt. Sie ist der ausgezeichnete Ort, an dem die Motivation der Handlungsträger ebenso wie der geheime Zusammenhang der Ereignisse deutlich wird. Und gerade deshalb ist die wörtliche Rede zugleich der Ort, an dem sich der Hörer über seine Verwicklung in das Geschehen klarwerden kann. Sie will ihn dazu anleiten, sich in die Hintergründigkeit der Personen und Ereignisse so einzuleben, daß er die Pointe als den von ihm selbst verantworteten Ausgang des Gleichnisses übernehmen kann. So haben Kürze und Klarheit das Ziel, beim Hörer die Illusion zu erzeugen, daß er sich als an der Gestaltung des Gleichnisses beteiligt erlebt. Wie aber kann es zu einem solchen Erlebnis kommen? Mir scheint:
1
Vgl. Stock, aaO. 27ff; Flusser, aaO. 293f.
2
Bill. II, 223.
7. Credibilitas et movere adfectus
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Seine Möglichkeit ist die andere Seite der Tatsache, daß der Sprecher die Realität des Hörers in das Gleichnis selber aufnimmt. Je besser diese Realität getroffen ist, desto größer ist die Chance, sich selbst im Gleichnis zu entdecken und die passive Rolle des Rezipienten mit einer inneren Beteiligung am Gestaltungsprozeß zu verbinden. Das Ziel einer solchen Beteiligung ist den besprechenden Gleichnissen deutlicher abzulesen als den erzählenden. Erstere leiten explizit, letztere dagegen implizit zur Erfahrung der "evidentia" an. Deren Intensität aber wird, so ist zu vermuten, beim erzählenden Gleichnis größer sein als beim besprechenden, obwohl auch hier zu beachten ist: Die wörtliche Rede sorgt dafür, daß der Gegensatz lediglich die Extreme auf einer gleitenden Skala markiert.
7. Credibilitas et movere adfectus
Mit der "luciditas" ist bereits das meiste dessen angesprochen, was Quintilian als die dritte Tugend der "narratio" beschreibt: die "credibilitas". Sie strebt die Plausibilität des Erzählten an, bei der nichts der Natur zuwiderlaufen darf. Dazu ist es erforderlich, daß "wir den Taten (factis) ihre Gründe und Absichten (causas ac rationes) vorausschicken - nicht allen, sondern denen, die zur Untersuchung stehen" (Inst. IV 2, 52). Das schließt freilich nicht aus, daß im Einzelfall auch umgekehrt die Angabe der Gründe der Schilderung des Vorgangs folgen kann (IV 2, 84). Ebenso notwendig wie die Motivierung aber ist es, daß "wir die Personen im Einklang mit dem, was man als ihre Taten glauben soll, darstellen" (IV 2, 52). Deshalb ist es legitim, "zu den wirklichen Vorgängen noch ein glaubhaftes Bild" hinzuzufügen, "das den Zuhörer gleichsam gegenwärtig in den Vorgang zu versetzen scheint" (IV 2, 123). Um das zu erreichen, bedient sich der Redner der Technik der "colores", die dafür sorgt, "ut id, quod fingimus, fieri possit" (IV 2, 89).1 Dabei muß das Erfundene selbstverständlich zu Person, Ort und Zeit passen und nicht nur eine
1
Vgl. Inst, rv 2, 88-100, sowie bes. Clarke, aaO. 123ff.
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Grundlegung
glaubhafte Begründung besitzen, sondern "möglichst auch noch mit einem wahren Vorgang in Zusammenhang stehen" (IV 2, 89). Bei der "credibilitas" kann nur das eigene Gefühl des Redners (animus noster) darüber entscheiden, ob das Erzählte der Natur zuwiderläuft oder nicht (IV 2,52). Der "animus noster" aber muß sich, weil die "narratio" mit ihrer Wirkung steht und fällt, zu den Erwartungen des Hörers in Beziehung setzen und diese steuern. Es ist so zu erzählen, daß der Hörer, "wenn man nur gut erzählt, wie es angefangen hat, schon auf das wartet (expectet), was man danach erzählen will" (IV 2, 53). Die "narratio" soll dementsprechend "suavitatem, admirationes, expectationes" erregen, was sie vorzüglich erreicht, wenn sie "exitus inopinatos, conloquia personarum, omnes adfectus" besitzt (IV 2,107). Gerade hier kommt es freilich darauf an, daß die aufgewandte Kunst verborgen bleibt (IV 2,127): "Nichts darf erfunden, nichts unsicher klingen; alles muß so wirken, als käme es eher von der Sache als vom Redner" (IV 2, 126). Denn die "fides" der "narratio" wird zwar durch die Autorität des Erzählers als eines "vir bonus", der ein sittliches Leben führt, verbürgt. Entscheidend aber ist die Art der Darstellung selber: "Je würdiger und feierlicher sie ist, um so mehr muß sie zwangsläufig bei persönlichen Versicherungen Gewicht haben" (IV 2, 125). So haben die verschiedenen Mittel, mit denen der Redner seiner "narratio" die Glaubwürdigkeit gibt, das Ziel, den Hörer zur Identifikation mit dem Erzählten anzuleiten. Eines der stärksten Mittel, mit dem eine solche Identifikation erreicht werden kann, ist, daß sich der Redner bereits hier darum bemüht, das "docere" mit dem "movere adfectus" zu verbinden (IV 2, 111). Es wäre zu spät, wenn die Affekte erst im Epilog zur Hilfe gerufen würden (IV 2, 115). Denn je früher der Hörer von Zorn und Mitleid eingenommen ist, desto leichter läßt er sich auch in den übrigen Redeteilen lenken (IV 2, 112). Und das heißt:"... man muß Grausiges so vortragen, daß es Erbitterung, Trauriges so, daß es Mitgefühl erregt, nicht so, daß diese Empfindungen schon voll ausgespielt würden, sondern doch so, daß sich gleichsam die ersten Umrisse abzeichnen" (IV 2, 120). Dabei ist natürlich auch hier entscheidend, daß die Darstellung aus dem eigenen Inneren (a nostro animo) abgeleitet wird (IV 2,93). Denn ohne sich selber den dargestellten Affekten hinzugeben, kann der Redner nicht erwarten,
7. Credibilitas et movere adfectus
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daß der Hörer von ihnen ergriffen und so für die zur Debatte stehende "res" gewonnen wird. Zunächst möchte ich an Beispielen nachweisen, daß die Gleichnisse faktisch die technischen Regeln befolgen, die der Erzählung nach Quintilian ihre "credibilitas" geben. Dabei kommt es weithin zu einer Präzisierung der Ausführungen über die "brevitas" und die "luciditas". Anschließend ist die paradoxe These zu begründen: Je größer die Glaubwürdigkeit ist, desto ausgeprägter ist die Fiktionalität. Als Beispiel für den Einklang von Person und Tat gibt Quintilian an, man solle "einen wegen Diebstahl Angeklagten als habgierig, einen Ehebrecher als lüstern, einen Totschläger als unüberlegt" darstellen (IV 2,52). Bei Gleichnissen wird ein solcher Einklang durch zwei verschiedene, freilich nicht klar voneinander abzuhebende Verfahren erreicht. Zunächst gibt es die Möglichkeit, Personen bereits bei ihrer Einführung so zu kennzeichnen, wie es ihren im folgenden geschilderten Taten entspricht: Der Mann von Lk 12, 16-20 ist TTXOÜCTIOC, der Richter von Lk 18,2-5(ff) "fürchtet weder Gott noch scheut er sich vor den Menschen", der Sklave von Mt 24,45-51(par) ist 4>pöv\yoc bzw. KOUCOQ , der Mann von Lk 16, 19-31 ist uXoÜaioc; mit allen Attributen des Reichtums, Lazarus dagegen ist ITTU>XÖQ mit allen Attributen der Armut. Solche bereits in der Exposition vorgenommenen Kennzeichnungen sind, wie Bultmann erkannt hat, relativ selten.1 Häufiger ist es, daß Personen nicht im vorhinein, sondern durch ihr das ganze Gleichnis bestimmendes Verhalten, ihre Worte und ihre Taten charakterisiert werden2: In Lk 15, 11-32 wird vom Vater nur das erzählt, was seine Väterlichkeit ausmacht, in Mk 12,1-9 vom Weinbergbesitzer nur das, was ihm sein Besitz abfordert, in Mt 13,45f vom Perlenkäufer nur das, was der Kauf einer Perle erzwingt. Im gleichen Zusammenhang ist die für Gleichnisse so überaus charakteristische Schilderung von Kontrasten zu erwähnen. Die eine Person ist und tut genau das Gegenteil von dem, was die andere Person ist und tut. Und es ist hinzuzufügen: Dem entspricht ihr gegensätzliches Geschick. Der eine Sklave von Mt 24, 45-51(par) ist und handelt als ein «(»pöviuoc; und wird von seinem Herrn dafür belohnt, der andere ist und handelt als ein k ö k o c und wird dafür bestraft. Der eine Mann von Mt 7, 24-27(par) ist iXoq xeXwvwv icai äpctpxwXwv. Er wendet sich gegen die Verletzung der Reinheitstora, deren Ausweitung vom Kult auf den Alltag das zentrale Anliegen des Pharisäismus der letzten Jahrzehnte vor 70 p.C. war. Jacob Neusner, dem wir diese Einsicht verdanken2, kann die pharisäischen Haburot geradezu als "a tablefellowship-sect" bezeichnen.3 "They... held one must eat his secular food, that is, ordinary, everyday meals, in a State of purity as if one were a Tempie priest", weil der häusliche Tisch jedes Juden "was seen to be like the table of the Lord in the Jerusalem Tempie".4
1
S. o. S. 200ff.
2
Neusner, The Rabbinic Traditions About the Pharisees Before 70, I-III, Leiden 1971, zusammenfassend III, 301ff; ders., The Idea of Purity in Ancient Judaism, SJLA I, Leiden 1973, 64ff; ders., Die Verwendung des späten rabbinischen Materials für die Erforschung des Pharisäismus im 1. Jahrhundert n.Chr., in: ZThK 76, 1979, 292-309, hier 305ff (Lit.). Zur Beurteilung der pharisäischen Reinheitstora bei anderen Forschern vgl. z.B. Schürer, aaO. II, 466ff; B. Reicke, Neutestamentliche Zeitgeschichte, 1965,117; R. Meyer, Tradition und Neuschöpfung im antiken Judentum, in: SSAW, PH 110,2,1965, 7-88, hier 21ff. 3 4
Neusner, Rabbinic Traditions, III, 305ff.
Neusner, Purity, 65. Zwar wurde der Tempel selber nicht kritisiert oder gar abgelehnt. Doch ist die Entstehung der pharisäischen Position schwerlich denkbar ohne Kritik am faktischen Kult. Neusner, Rabbinic Traditions, III, 305ff, weist dafür zweifellos zu Recht auf
9. Zwei Gleichnisse über Gottes Verhältnis zu Sündern
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Ist das der Hintergrund der Kritik an der Mahlgemeinschaft mit Sündern1, dann macht Jesus durch den ersten Teil des Gleichnisses den Versuch, den Konflikt dadurch zu entschärfen, daß er die Pharisäer bei ihrer eigenen Überzeugung packt: Die Freude, die beim Mahl zum Ausdruck kommt, ist nichts anderes als die Konsequenz von Gottes Erbarmen mit dem Sünder, für das auch ihr selber eintretet. Anders formuliert: Die Mahlgemeinschaft soll an der Plausibilität partizipieren, die die Exhomologese besitzt, so daß jetzt verständlich wird, warum zwischen der Aufforderung zur Restitution der Sohnschaft und zur Schlachtung des Mastkalbes, also dem Beginn der Pointe, keinerlei Zäsur festzustellen ist.2 Im zweiten Teil des Gleichnisses betont Jesus, daß sein Verhalten gegenüber den Sündern den Unterschied von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht aufhebt. Und in der Tat: Er fällt mit seiner Mahlpraxis durchaus nicht aus dem Judentum heraus, betont Neusner doch mit Nachdruck, daß die pharisäische Entschränkung der Kulttora, die auch in Qumran keine Parallele hat3, von anderen Juden nicht geteilt wurde. Für sie galt vielmehr:"... everyone who went to the Temple had to be pure, but outside the Temple... it was not required that noncultic activities be conducted in a State of Levitical cleanness."4 Dieser gemeinjüdische Standpunkt dürfte vorausgesetzt sein, wenn Jesus dem pharisäischen Vorwurf entgegenhält, daß die Mahlgemeinschaft weder die Belohnung des Sünders dokumentiert noch den Lohn des Gerechten in Frage stellt. Im Gegenteil: Aufgrund seiner Taten lebt der Gerechte bereits in Gemeinschaft mit Gott und hat - so ist zu ergänzen - nur deshalb keinen Anspruch auf Freude, weil sein Weg anders als der des Sünders kein Ereignis kennt, das sie herausfordert. Das bedeutet zwar, daß das
die hasmonäische Usurpation des Hohenpriesteramtes hin, macht, ebd. 305, mit guten Gründen aber erst Hillel und seine Anhänger verantwortlich für "the change in the character of Pharisaism from a political party to a (sc. table-fellowship-)sect". Vgl. zum Ganzen auch ders., Josephus's Pharisees, in: Ex orbe religionum, Studia Geo Widengren, I, Leiden 1972, 224-244, bes. 238ff. 1
Neusner, Purity, 61f, hat die Konflikte um die Mahlgemeinschaft mit Sündern bei seiner Interpretation der Jesusüberlieferung auffallenderweise nicht erörtert. 2
S. o. S. 188f.
3
Vgl. Neusner, ebd. 50ff. 67ff.
4
Ebd. 65. Vgl. ebd. 113.
212
Grundlegung
Mahl nicht ihm selber gilt. Doch ist es notwendig, sich daran zu beteiligen, weil die überschwengliche Freude über den Weg des Sünders, die dort zum Ausdruck kommt, insbesondere den nicht unberührt lassen darf, der nur mit dem Sünder zusammen das Volk Gottes konstituiert. Das Gleichnis geht davon aus, daß Sünder und Gerechte trotz ihrer Gegensätzlichkeit vor Gott das gleiche Recht haben. Zu beachten ist freilich, daß Jesus von einem Standpunkt aus erzählt, der sich jenseits des Gegensatzes befindet, während sich sein pharisäischer Hörer als Gerechter, also innerhalb des Gegensatzes, definiert. Die Gleichheit des Sünders vor Gott muß ihn deshalb mit erheblichen Problemen konfrontieren. Trotzdem: Nach Lk 15,11-32 hält Jesus es für möglich, daß die Pharisäer ihren Anstoß an der Mahlgemeinschaft mit Sündern überwinden. Zwar läßt sich naturgemäß nicht klären, ob diese Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden ist. Doch ist deutlich, daß die Offenheit des Schlusses für das Gleichnis schlechthin konstitutiv ist. Denn wenn erzählt würde, daß der ältere Sohn sich aufgrund der Argumente des Vaters schließlich doch am Fest beteiligt hat, dann wäre der Pharisäer des situativen Kontextes mit einem Vorbild konfrontiert, das bereits entschieden hat, was für ihn selber gerade noch nicht entschieden ist. Das aber würde die narrativ-indirekte Überzeugungskraft des Gleichnisses erheblich vermindern, und der Prozeß des Überdenkens der eigenen Position, den der offene Schluß beim Hörer in Gang setzen will, wäre schon wieder gestoppt worden, noch bevor er wirklich begonnen hätte. Wenn das Gleichnis dagegen berichten würde, daß sich der ältere Sohn den Argumenten des Vaters nicht gebeugt hat, dann müßte ein zweiter Redebeitrag des Vaters folgen, der den ersten schwerlich wiederholen, sondern durch eine Verurteilung des Sohnes ersetzen, also ins Gegenteil verkehren würde. Im Blick auf den situativen Kontext würde das bedeuten, daß Jesus den Protest gegen die Mahlgemeinschaft mit Sündern für unüberwindbar gehalten und den Pharisäern statt der Gottesgemeinschaft das Gericht zugesprochen hätte. Die Überlegung zeigt, daß ein anderer Schluß nichts Peripheres beträfe, sondern das Gleichnis als ganzes zerstören würde. Sie beleuchtet aber auch die Möglichkeit, daß Jesus den Pharisäern nicht mit einer Werbung, sondern mit einer Verurteilung gegenübertritt. Zu einer solchen Verurteilung müßte es jedenfalls kommen, wenn sich herausstellte, daß der Protest gegen den Umgang mit Sündern nicht zu entkräften war. Dann würde dem
9. Zwei Gleichnisse über Gottes Verhältnis zu Sündern
213
Gerechten schwerlich seine Gottesgemeinschaft in Erinnerung gerufen, sondern der Vorwurf gemacht werden, daß er zur Vergewisserung der eigenen Gerechtigkeit auf die Verachtung des Sünders angewiesen ist. In gewisser Weise würde damit allerdings nur offen zutage treten, was bereits in Lk 15, 11-32 selber angelegt ist. Denn wenn Jesus sich ausschließlich den Sündern zuwendet und die Gerechten erst in den Blick kommen, als sie dagegen protestieren, dann verrät das eine Nähe Gottes zu den Sündern, die einen sehr viel grundsätzlicheren Charakter hat, als das Gleichnis selber eingesteht: Gott ist ein Gott, zu dem sich letztlich nur der ins Verhältnis setzen kann, der elementar auf seine Barmherzigkeit angewiesen ist. Schaut man daraufhin die diesbezüglichen Gleichnisse an1, so lassen sie sich in der Tat in zwei Gruppen einteilen. Die eine vertritt die Position von Mt 7, 9-llpar und Lk 15, 11-32. Auf der Basis der Überzeugung von der Gleichheit vor Gott wird hier der Versuch gemacht, den Anstoß zu überwinden, den Pharisäer an Jesu Umgang mit Sündern nehmen. Dazu gehören Mk 2, 17; Mt 18, 12-13par; Lk 15, 8-9; Mt 20, 1-15. Die andere Gruppe geht dagegen davon aus, daß der Anstoß nicht überwunden werden kann. Sie spricht den Pharisäern deswegen das Gericht zu. Dazu gehören Lk 18, 10-14a und Mt 21, 28-312, indirekt aber auch Lk 14, 16-24(par) und Mk 12, l-5a.9. Dazwischen stehen Lk 7, 41-43 und Lk 17, 7-10. Das erste Gleichnis begründet, inwiefern der Sünder Gott näher steht als der Gerechte, ohne diesen zu verurteilen, während das zweite ihm trotz seiner Gerechtigkeit eine Haltung abfordert, die an sich für den Sünder charakteristisch ist: Vor Gott kann nur bestehen, wer seine eigene Nichtigkeit einzugestehen in der Lage ist. Mit der Aufteilung des Materials, das durch Logien ohne die Form der Gleichnisrede erweitert werden kann, möchte ich auf ein Problem aufmerksam machen, das bisher nicht bemerkt worden zu sein scheint und auch hier nicht gelöst werden soll. Denn für den jetzigen Zusammenhang genügt die Erkenntnis, daß es eine größere Anzahl von Gleichnissen gibt, die auf den Konflikt über Jesu Umgang mit Sündern bezogen und trotz wichtiger Unterschiede auch sachlich eng verwandt sind. Diese Verwandt-
1
S. o. S. 170 Anm. 1.
2
Vgl. bes. Lk 11, 42par; Mt 23,13par.
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Grundlegung
schaft jedenfalls ist es, die die Frage nach dem Verhältnis zu den ReichGottes-Gleichnissen herausfordert. Dazu ist als erstes zu sagen, daß es zweifellos einen gemeinsamen Fluchtpunkt gibt: Gott ist der Gott des Heils für Israel. Dem ist als zweites jedoch sofort hinzuzufügen, daß die Verschiedenartigkeit im einzelnen außerordentlich groß ist: Das eine Mal geht es um die Ausrichtung der Botschaft von der Nähe der ßacnXeia TOÜ 6eoü für das Volk als ganzes, ohne daß dabei von einer Spaltung in Sünder und Gerechte die Rede ist. Das andere Mal wird auf dem Hintergrund gerade dieser Spaltung der Einsatz für die Sünder thematisiert, ohne daß dabei etwas von der Nähe des Kommens der Gottesherrschaft zu spüren ist. Und das eine Mal sind es Anhänger, das andere Mal Gegner, an die die Gleichnisse gerichtet sind. Es gibt kein einziges Reich-Gottes-Gleichnis, das von Sündern und Gerechten spricht, mit Mt 21, 28-31 jedoch immerhin ein Gleichnis zur Thematik der Spaltung Israels, das - wenn auch nur in der Anwendung von V. 31 - explizit die ßaoiXeia TOÜ 6eoü erwähnt. Hier wird das Heil der Sünder als Anteilhabe an der Gottesherrschaft bezeichnet, und genau das dürfte den Punkt markieren, von dem aus der sachliche Zusammenhang erkennbar wird: Die seit langem ersehnte, jetzt unmittelbar vor der Tür stehende Wende von der Herrschaft des Satans zur Herrschaft Gottes bringt, da sie Israel als ganzes betrifft, insbesondere auch den bisher davon ausgeschlossenen Sündern das Heil. Und Jesus ist es, der durch Ausrüstung und Aussendung der Boten einerseits dafür sorgt, daß das ganze Volk mit der Proklamation der epochalen Wende konfrontiert wird, und der durch die Einübung der Exhomologese und die Feier der Mahlgemeinschaft andererseits speziell den Sündern die Partizipation daran ermöglicht, ja diese Partizipation mit größter Entschiedenheit gegen Angriffe von pharisäischer Seite verteidigt. Wie unlösbar der Zusammenhang zwischen beidem ist, wird erst sichtbar, wenn man sich klarmacht, daß für Jesus mit Gottes Heilsplan und -willen, als dessen Mandatar er sich versteht, zugleich Gottes Wesen auf dem Spiel steht: seine Barmherzigkeit gegenüber denen, die vor ihm nichts als ihre Sünde und Unwürdigkeit vorzuweisen haben. Damit sind die Überlegungen der letzten beiden Kapitel abgeschlossen. Sie verstehen sich als Ausarbeitung der Konsequenz, die sich aus der Beschreibung der literarischen Merkmale des Gleichnisses ergibt. Eine
9. Zwei Gleichnisse über Gottes Verhältnis zu Sündern
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rhetorische Analyse jedenfalls, die das Gleichnis aufgrund der Hörerperspektive als Bestandteil eines Kommunikationsprozesses ins Auge faßt, der eine pragmatische Dimension besitzt, kann nicht an der Einsicht vorübergehen: Gleichnisse sind eine spezifische Form religiös-theologischer Rede, deren Profil sich erst abzeichnet, wenn man sie nicht nur als Dokumente der spätisraelitischen Religionsgeschichte im allgemeinen interpretiert, sondern zugleich auf historisch-einmalige Situationen bezieht, in denen sich Jesus und seine zeitgenössischen Hörer gegenüberstanden. Noch nicht erörtert worden ist freilich, inwieweit es Analogien zur literarischen Form der Gleichnisrede Jesu gibt. Das soll im zweiten Teil der Arbeit geschehen. Sein erstes Kapitel führt die Weite des Horizontes vor Augen, in dem sich Vergleichsmaterial findet, bemüht sich vor allem aber um die Begründung des sachlichen und historischen Rechts der Berücksichtigung dieses Materials. Damit ist die Basis gelegt, um anschließend am Beispiel von Lk 15, 11-32 in mehreren Kapiteln einen Eindruck davon zu vermitteln, wie zahlreich und verschiedenartig die Parallelen sein können, die für ein einziges Gleichnis zu Verfügung stehen.
TEIL n Es g i b t P a r a l l e l e n ! Lukas IS, 11-32 als Beispiel
1. Die These
Gibt es im historischen Umfeld der Jesusüberlieferung Material, das den synoptischen Gleichnissen formgeschichtlich vergleichbar ist? Die Frage wird von zwei so kenntnis- und einflußreichen Autoren wie Adolf Jülicher und Joachim Jeremias energisch verneint.1 Zwar ist in letzter Zeit mehrfach darauf aufmerksam gemacht worden, wie stark ihr Urteil mitbestimmt ist vom apologetischen Interesse an der absoluten Unvergleichlichkeit Jesu.2 Doch sind mit dieser Erkenntnis in keiner Weise die Probleme gelöst, vor die sich gestellt sieht, wer die Frage der Parallelen zur Gleichnisrede Jesu behandeln will. Im Gegenteil: Die Position von Jülicher und Jeremias ist nach wie vor geeignet, ihre große Schwierigkeit vor Augen zu führen. Zunächst ist mit Nachdruck zu betonen, daß schon insofern mit Recht von der Unvergleichlichkeit gesprochen wird, als Jesus seine Gleichnisse nicht einfach von anderen übernommen oder gar gelernt haben kann. Das ist aufgrund ihrer intensiven Hörer- und Situationsbezogenheit vielmehr von vornherein auszuschließen. Auch kann schwerlich bestritten werden, daß der Sprecher der Gleichnisse über eine scharfe Beobachtungsgabe, was das Sujet der Alltagswelt, über eine große Sicherheit des Standpunktes, was die theologische Aussage, und über eine souveräne Technik, was die Darstellung des Ganzen betrifft, verfügt. Doch wird er Beobachtungsgabe, Standpunkt und Technik nicht von Anfang an besessen, sondern erst durch die wiederholte Bildung von Gleichnissen gewonnen haben. Auch wenn 1 2
Jülicher, aaO. I, 164ff; Jeremias, aaO. 8.
Vgl. J. J. Petuchowski, The Theological Significance of the Parable in the Rabbinic Literature and the New Testament, in: CNI 23, 10, 1972, 76-86, hier 77f; Giittgemanns, Methodik, aaO. 118; K. Berger, Materialien zur Form und Überlieferungsgeschichte neutestamentlicher Gleichnisse, in: NT XV, 1973,1-37, hier lf; Flusser, aaO. 12ff.
1. Die These
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sich aufgrund der Subjektivität des ästhetischen Urteils, aber auch aufgrund des Charakters der Quellen kaum ein Einblick in den Prozeß der Vervollkommnung gewinnen lassen wird1, wird man deswegen den Faktor der Selbstschulung prinzipiell in Rechnung stellen müssen. Man wird seine Bedeutung insbesondere dann nicht unterschätzen dürfen, wenn, wie ich am Beispiel von Logien über das Reich Gottes nachzuweisen versucht habe2, Gleichnisse Gegenstand der Jüngerunterweisung gewesen sind. Ebenso sicher scheint mir freilich zu sein, daß die Fähigkeit zu situativer Gleichnisbildung nicht durch bloße Selbstschulung angeeignet worden sein kann. Denn die Beobachtungsgabe setzt Vertrautheit mit bestimmten Sujets voraus, der theologische Standpunkt lebt von der Verwurzelung in bestimmten Traditionen, und die Technik der Darstellung ist nicht ohne die Beherrschung der Gesetze einer bestimmten Art des auf den Hörer konzentrierten Erzählens und Besprechens denkbar. Zwar zeigen die bisherigen Vergleiche, daß alle drei Faktoren nicht notwendig aufeinander bezogen sein müssen. Beim Gleichnis selber aber hängen sie insofern aufs engste miteinander zusammen, als die Technik der Darstellung an das Sujet gebunden, das Sujet Medium der Vermittlung von Traditionen ist, und die Traditionen nicht jenseits der Technik der Darstellung vorliegen. Erst die unlösbare Verbindung der künstlich unterschiedenen Ebenen macht ein Gleichnis zum Gleichnis mit seiner unverwechselbaren kommunikativen Funktion. Seine Form als ganze läßt sich deswegen nur dann einigermaßen zureichend verstehen, wenn über Jesus und die synoptische Überlieferung hinaus nach Vergleichsmaterial für die spezifische Interdependenz von Sujet, Aussage und Darstellung, aber auch nach der historischen Möglichkeit seiner Vermittlung gefragt wird. Um vom weiteren zum engeren Umkreis voranzuschreiten, wird man seine Aufmerksamkeit dabei zunächst auf den Bereich der hellenistischrömischen Kultur lenken müssen, die in Palästina zur Zeit Jesu bereits seit langem Fuß gefaßt hatte.3 Das kann für die Erklärung des Sujets von
1
Anders Flusser, aaO. 189.
2
S. o. bes. S. 147ff.l54ff.
3
Vgl. bes. E. Schürer, Op.cit., I-III; V. Tcherikover, Hellenistic Civilization and the Jews, Philadelphia 1966,39ff;M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., WUNT 10, 1969; ders., Juden, Griechen und Barbaren. Aspekte der Hellenisierung des Judentums in
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Es gibt Parallelen
Bedeutung sein, insofern sich dieses auf die Lebensverhältnissein Palästina bezieht, die insbesondere hinsichtlich der für die Gleichnisse so wichtigen ökonomischen Gegebenheiten von den Eroberern beeinflußt waren.1 Vor edlem aber läßt sich ein Ertrag für die Erzähl- und Besprechungstechnik erwarten. Unter diesem Gesichtspunkt jedenfalls ist Adolf Jülichers Beobachtung aufzugreifen, daß die Parabel der Fabel sehr ähnlich ist2, deren Verwandtschaft mit dem Gleichnis ja schon von Autoren wie Aristoteles und Quintilian reflektiert worden ist.3 Angesichts der allgemeinen Verbreitung der Fabel im Orient ist es zwar nicht notwendig, das historische Recht ihrer Berücksichtigung eigens zu begründen. Doch kann Jülichers Hinweis auf die Fabel mit Luise Schottroffs Versuch verbunden werden, zur Gleichnisinterpretation Deklamationsthemen der hellenistisch-römischen Rhetorik heranzuziehen.4 Denn Fabeln sind zusammen mit Gleichnissen, Exempeln und Chrien seit alters Gegenstand der Schulrhetorik5, deren Übungsmaterial auf die jüdische Gleichnistradition dadurch Einfluß gewonnen haben dürfte, daß sich der jüdische Schulbetrieb in engem Kontakt mit dem hellenistischen entwickelte.6
vorchristlicher Zeit, SBS 76,1976,152ff; S. Safrai/M. Stern (Hrsg.), The Jewish People in the First Century. Historical Geography, Political History, Social, Cultural und Religious Life and Institutions, CRINT 1,1-2, Assen 1974/1976; E. M. Meyers, The Cultural Setting of Galilee: The Case of Regionalism and Early Judaism, in: ANRWII19,1,1979,686-702. 1 Vgl. bes. M. Hengel, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern Mc 12,1-12 im Lichte der Zenonpapyri und der rabbinischen Gleichnisse, in: ZNW 59,1968,1-39; L. Schottroff, Die Güte Gottes und die Solidarität von Menschen. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, in: W. Schottroff/W. Stegemann (Hrsg.), Der Gott der kleinen Leute, Bd. 2, 1979,71-93; A. Deissmann, Licht vom Osten, 41920, 232; H. G. Kippenberg, Religion und Klassenbildung im antiken Judäa. Eine religionssoziologische Studie zum Verhältnis von Tradition und gesellschaftlicher Entwicklung, WUNT 14,1978,152-154. 2
Jülicher, aaO. I, 94ff.
3
Aristoteles, Ars rhetorica II 20,1393a-1394a; Quintilian, Inst. V 11. Vgl. Jülicher aaO. I, 94ff; Martin, aaO. 119ff. 4
Schottroff, Gleichnis vom verlorenen Sohn, 44ff. Vgl. K. Berger, Gleichnisse als Texte. Zum lukanischen Gleichnis vom "verlorenen Sohn" (Lk 15, 11-32), in: Imago Linguae, Festschrift für F. Paepcke, 1977,61-74, hier 65ff;ders., Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW II 25,2,1984,1031-1432, hier 1120ff. 5
Vgl. Marroü, aaO. 328ff.
6
Vgl. Hengel, Judentum und Hellenimus, 143ff.
1. Die These
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Damit ist bereits gesagt, daß bei hellenistisch-römischen Parallelen in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob ihre Rezeption durch das späte Israel vorstellbar ist. Denn anders als Eduard Wechssler meint, führt auch bei den Gleichnissen keine direkte "Linie der Überlieferung und Höherbildung von dem Athener Sokrates über Antisthenes und die volkstümlichen Prediger der kynisch-stoischen Schule zu dem Galiläer".1 Eine solche These rechnet nicht nur damit, daß Jesus sich bewußt von der jüdischen Gleichnisüberlieferung ferngehalten hat2, sondern muß darüber hinaus unterstellen, er habe aufgrund seines lebendigen Geistes von der Disputation mit "den Weisheitslehrern, Vortragskünstlern und Wanderpredigern" auf den Marktplätzen der hellenistischen Städte im Umkreis Galiläas gelernt.3 Das aber stellt eine fatale, von Wechssler selber betonte Historisierung der Position Jülichers dar4, die durch den Hinweis auf Vergleiche und Gleichnisse bei Seneca d. J.5 schwerlich begründet werden kann. Das bedeutet freilich nicht, daß die für die Vorgeschichte von Mk 4, 3-8 reklamierten Parallelen ohne Wert sind. Im Gegenteil: Diese Parallelen sind außerordentlich aufschlußreich, allerdings nur dann, wenn man sie im Rahmen von Henry A. Fischeis Nachweis des Einflusses hellenistischrömischer Gattungen auf rabbinische Überlieferungen diskutiert.6 Denn ein historisch orientierter Vergleich wird sich in erster Linie innerhalb des Judentums bewegen müssen. Das ist bei Gleichnissen für die Erklärung des Sujets und der Darstellungstechnik nötig, für die Erhellung der religiöstheologischen Dimension jedoch unabdingbar, obwohl David Flusser auch hierfür auf zwei Texte bei Epiktet aufmerksam gemacht hat.7 Sie finden
1
Wechssler, Hellas im Evangelium, 21947, 262.
2
Ebd.
3
Ebd., bes. 13ff. 130ff, Zitat 26.
4
Ebd. 262.
5
Ebd. 263ff. Zu Senecas Gleichnistheorie vgl. McCall, aaO. 163ff.
6
S. u. S. 233ff. Vgl. die vielen Hinweise auf Seneca, die sich finden bei Fischel, Rabbinic Literature and Greco-Roman Philosophy. A Study of Epicurea and Rhetorica in Early Midrashic Writings, StPB 21,1973, bes. 66ff. 7
Flusser, aaO. 149f, wo auch, wie bereits bei Berger, Materialien, 32f, auf nichtreligiöse Gleichnisse Epiktets hingewiesen wird. Zur religiösen Komponente der kynisch-stoischen Diatribe vgl. P. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zum Judentum und Christentum, HNT I, 2, 1912, 87ff.
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sich Enchiridion 7 und Diatribae III, 22 und sollen ihrer Bedeutung wegen kurz behandelt werden. Enchiridion 7 besteht aus einem einzigen Satz, dessen erste Hälfte den als "du" angesprochenen Hörer in eine mit KOtöäirep ev itXm eingeleitete Handlungsfolge verwickelt, aus der die zweite Hälfte durch oütu Kai ev t£> ßiü) die Anwendung zieht. Dabei faßt das eigentliche Gleichnis als Ausgangspunkt den Fall ins Auge, daß der Hörer ein vor Anker gegangenes Schiff zum Wasserholen verläßt, um ihn bis an den Punkt zu führen, an dem als Pointe einleuchtet: Er wird ein auf dem Wege gefundenes Muschelchen oder Tintenfischlein hinter sich lassen, wenn ihn der KUßepvriTriq ruft. Die Anwendung zieht daraus den Schluß, daß er Weibchen oder Kindlein ohne Blick zurück hinter sich lassen wird, wenn ihn der tcuߣp\>T)Tr|c; (sc. des Kosmos) ruft. Diatribae III, 22 antwortet Epiktet auf die Frage eines Anhängers nach den Anforderungen an einen Kyniker, daß einer, der sich 6ixot 6eoÜ an ein solches Unternehmen heranwage, ein Gottverworfener sei und sich nur blamieren wolle (V. lf). Anschließend erläutert er die Antwort durch ein Gleichnis (V. 3), das auch hier eine mit oütuq eingeleitete Anwendung besitzt (V. 4-12). Das Gleichnis konstruiert den Fall, daß keiner in ein gut verwaltetes Hauswesen eintreten und zu sich selber sagen wird, er müsse der oiicovöyoq sein; andernfalls - und das ist die Pointe - werde ihn der icupioq, wenn er ihn hochfahrend Anweisungen geben sieht, verprügeln lassen (V. 3). Die Anwendung konstatiert daraufhin zunächst, daß es auch in dieser großen tfÖXk; (sc. dem Kosmos) einen oiicoöeairoTTit; gibt, der jedem einzelnen Anweisungen gibt (V. 4). Das wird anschließend durch Beispiele aus Natur und Geschichte erläutert (V. 5-8), um schließlich auf die These zuzuführen, daß zum Kynismus nur geeignet sei, wer sich der Schwierigkeit des Unternehmens bewußt sei (V. 9-12).
Die beiden Gleichnisse sind, wie das eine Mal indirekt und das andere Mal direkt erkennbar ist, situativ und im Gegenüber zu einem ganz bestimmten Hörer gebildet worden. Sie greifen ein Sujet der Alltagswelt auf, dessen besprechende Darstellung den Hörer so verwickeln soll, daß er die am Schluß formulierte Pointe als unausweichlich empfindet und in die Praxis seines Lebens übersetzt. Dabei wird mit KuBepvnxnc bzw. icüpioq eine auf den stoischen Weltenlenker und -Verwalter verweisende Metapher aufgegriffen, die das Gleichnis zu einem religiösen Gleichnis macht, bei dem das "Du" bzw. der Tic des Handlungsgerüsts auf den Hörer bezogen ist. Dieser wird ursprünglich auch ohne Anwendung verstanden haben, welches Pragma der Sprecher ihm durch die Pointe nahebringen möchte: Das eine Mal, daß er so Belangloses wie Muschelchen oder Tintenfischlein hinter sich zu lassen hat, wenn ihn der Weltenlenker zum Sterben ruft, das andere Mal, daß der Herr des Kosmos den herrschsüchtigen Kyniker zur Rechenschaft zieht. Denn beim ersten Gleichnis fällt auf, daß die
1. Die These
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Anwendung in enger Anlehnung an die Pointe formuliert ist. Beim zweiten dagegen ist die Korrespondenz sehr viel lockerer. Wahrscheinlich ist es hier der Redesituation zuzuschreiben, daß der Akzent von der Warnung vor falschen Erwartungen auf die Betonung der großen Verantwortung verschoben ist, die der Kyniker auf sich zu nehmen hat. Mir scheint, daß die beiden Gleichnisse Epiktets den synoptischen Gleichnissen in der Art der Verbindung von Sujet, Aussage und Darstellungstechnik sehr nahestehen. Sie sind insbesondere den Fragegleichnissen zur Seite zu stellen, mit denen sie nicht nur den besprechenden Charakter, sondern wie bei Mt 7, 9-llpar oder Lk 17, 7-10 auch die Anwendung teilen. Dabei ist zwar zuzugeben, daß das "Du" des ersten Gleichnisses den Hörer sehr viel direkter und gewaltsamer zum Handlungsträger des Sujets macht als das tiq ¿5 öyüv, ja, daß beide Gleichnisse Epiktets im ganzen sehr viel konstruierter wirken als die Gleichnisse Jesu. Doch wird man darin genausowenig ein Indiz für einen Wesensunterschied sehen dürfen wie in der kynisch-stoischen Religiosität. Die Differenzen unterstreichen vielmehr, daß die Verwandtschaft ihre Basis nicht in Einzelheiten hat, sondern in der Form als ganzer. Ihr Gebrauch setzt eine bestimmte Fähigkeit hörer- und situationsbezogenen Redens voraus, die selbstverständlich mehr oder weniger groß sein kann. Da es zumindest bei Epiktet zwei Beispiele dafür gibt, ist zu vermuten, daß das Judentum selbst für die theologische Indienstnahme von Gleichnissen bei der hellenistisch-römischen Kultur in die Schule gegangen ist. Freilich ist es erst hier über Einzelbeispiele hinaus zur Entwicklung einer festen Redeform gekommen, die nicht zuletzt wegen ihrer religiösen Fundierung als historische Analogie für die Gleichnisrede Jesu in Frage kommt.1 Dabei ist sowohl an das rabbinische als auch an das nichtrabbinische Judentum zu denken. Für ersteres kann an die Arbeiten von Paul Fiebig 2 und David Flusser3 angeknüpft werden, während auf die Fülle
1
Zur alttestamentlichen Vorgeschichte vgl. C. Westermann, Vergleiche und Gleichnisse im Alten und Neuen Testament, CThM A 14,1984. Fiebig, Altjüdische Gleichnisse; ders., Gleichnisreden Jesu; ders., Jesu Gleichnisse im Lichte der rabbinischen Gleichnisse, in: ZNW 13,1912,192-221; ders., Der Erzählungsstil der Evangelien, 1925; ders., Rabbinische Gleichnisse, 1925. 3
Flusser, Op.cit.
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nichtrabbinischen Materials erst Klaus Berger aufmerksam gemacht hat.1 Berger hat dabei zeigen können, daß auch in diesem Stoffbereich die Grenzen zwischen weisheitlichem, apokalyptischem und hellenistischem Judentum fließend sind, ja, daß sogar frühchristliches Material außerhalb des Neuen Testaments nicht von vornherein aus den Überlegungen ausgeklammert werden darf. Wenn er darüber hinaus hellenistische Parallelen berücksichtigt2, so hat er wohl als erster den umfassenden Horizont des religionsgeschichtlichen Aspektes der Gleichnisforschung angedeutet. Ergänzend sind freilich selbst buddhistische Gleichnisse zu erwähnen. Wie der Blick auf die Fabel zeigt3, kann dabei eine historische Beziehung zum Mittelmeerraum zwar nicht a limine ausgeschlossen werden. Doch ist es außerordentlich unwahrscheinlich, auch nur indirekt mit einem Einfluß auf die Gleichnisrede Jesu zu rechnen. Ein Vergleich ist freilich trotzdem nicht ohne Reiz.4
Ein besonders schwieriges Problem ist die Bestimmung des Verhältnisses zu den rabbinischen Gleichnissen. Zwar sind diese außerordentlich zahlreich.5 Doch gibt es selbst bei Fiebig und - vorläufig - auch bei Flusser6 keinen einzigen detaillierten Vergleich mit einzelnen Gleichnissen der synoptischen Überlieferung. Es kann deswegen auch hier nur darum gehen, einige Aspekte zu nennen, die einen solchen Vergleich als sinnvoll erscheinen lassen. Sie sind primär aus der Beschäftigung mit den Parallelen zu Lk 15, 11-32 erwachsen, die ich im fünften und sechsten Kapitel dieses Teils der Arbeit vorstellen werde, stehen also unter dem Vorbehalt einer relativ schmalen Textbasis.
1 Berger, Materialien; ders., Gleichnisse als Texte; ders., Zur Frage des traditionsgeschichtlichen Wertes apokrypher Gleichnisse, in: NT XVII, 1975, 58-76. 2 3 3
Vgl. jetzt bes. Berger, Hellenistische Gattungen, 1110-24. Vgl. G. L. Chandiramani, Pantschatantra. Das Fabelbuch des Pandit Wischnu Scharraa, 1975, 249ff; R. Dithmar, Die Fabel. Geschichte. Struktur. Didaktik, UTB 73, 21974, 22f.
4
Vgl. bes. H. Röhr, Buddha und Jesus in ihren Gleichnissen, in: NZSTh 15, 1973, 65-86; G. Rosenkranz, Das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Lotos-Sutra und im Lukasevangelium, in: Theologie und Glaubenswagnis, Festschrift für K. Heim, 1954,176-193. Zur älteren Diskussion vgl. Jülicher, aaO. 1,173ff; Bultmann, Geschichte, 221f. 5
Davon vermag einen Eindruck zu geben I. Ziegler, Die Königsgleichnisse des Midrasch, beleuchtet durch die römische Kaiserzeit, 1903. 6
Vgl. jedoch die Ankündigung bei Flusser, aaO. 11.
1. Die These
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Rabbinische Gleichnisüberlieferungen bestehen in der Regel aus drei Teilen.1 Sie zitieren zunächst eine Schriftstelle, die erklärt werden soll.2 Dazu werden in einem ersten Schritt oft eine oder mehrere zusätzliche Schriftstellen herangezogen, deren Applikation auf die Ausgangsstelle den Hörer überraschen, wenn nicht verblüffen soll, weil ihnen genauso wie dieser selbst die Überzeugungskraft fehlt.3 Deswegen folgt im zweiten Teil ein "7^0, der die eigentliche Erklärung bietet. Er wird durch stereotype Formeln eingeleitet4 und enthält eine Erzählung oder - seltener - eine Besprechung, die mit der gleichen Technik dargeboten wird wie die synoptischen Gleichnisse. Hervorheben möchte ich davon nur dreierlei. Erstens herrscht eine strenge Übereinstimmung zwischen den Handlungsträgern und ihren Taten, Worten und Geschicken. Zweitens nimmt die wörtliche Rede, durch die das Geschehen gedeutet wird, einen wichtigen Platz ein. Und drittens hat die Technik eine ganz bestimmte Aufgabe: Sie soll den Hörer auf der Basis einer präzise ausgearbeiteten Exposition so intensiv in eine zielstrebige Ereignis- und Handlungsfolge verwickeln, daß er sich der regelmäßig am Schluß - häufig als wörtliche Rede - formulierten Pointe nicht entziehen kann. An die Pointe schließt sich als dritter Teil der Einheit eine mit 13 eingeleitete Anwendung an, die sich entweder auf den Verlauf des ganzen Gleichnisses oder - was häufiger der Fall ist - nur auf die Pointe bezieht. Sie bietet in enger Anlehnung an den Wortlaut des Gleichnisses eine Übersetzung und führt dazu begründende Schriftstellen an. Dabei kommt der Schluß regelmäßig auf die Ausgangsstelle der Einheit zurück und gibt so zu erkennen, daß die der Exegese gestellte Aufgabe erfüllt ist.
1
Bereits die Parallelen zu Lk 15,11-32 zeigen, wie groß die Verschiedenheit im einzelnen sein kann. 2
Soweit die Gleichnisse im Midrasch überliefert werden, verdanken wir die Anführung der Stelle meistens nicht dem Autor des Gleichnisses, sondern dem Verfasser des Midrasch. Dieser ordnet das Gleichnis freilich oft einer Stelle zu, mit der es ursprünglich nichts zu tun hat. Das gilt bei den von mir behandelten Stücken für Text XII, XVI, XVIII, XIX. 3
Vgl. bes. Text XIV und XVIII.
4
Vgl. Jeremias, aaO. 99f; Bill. II, Ii.
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Es gibt Parallelen
Die Skizze verdeutlicht, daß die rabbinischen Gleichnisse in ihrer überwiegenden Mehrzahl der Schriftexegese dienen.1 Sie wollen eine als unklar empfundene Stelle durch die Plausibilität erhellen, die ein fiktional dargebotenes Geschehen unter Menschen hat. Dabei kann zwar nicht übersehen werden, daß der Wortlaut aufs stärkste von Wendungen geprägt ist, die sich auch in der Übersetzung finden und deren Schlüsselwörter zweifellos den begründenden Schriftstellen entnommen sind. Doch läßt sich zumindest an den Parallelen zu Lk 15, 11-32 zeigen, daß das Gleichnis auch unabhängig von der Anwendung lesbar ist und keinesfalls aus den zu exegesierenden Schriftstellen abgeleitet werden kann. Es verdankt seine Überzeugungskraft vielmehr einer eigentümlichen Verbindung des Sujets mit lebendigen theologischen Traditionen. Diese Traditionen stellen sozusagen die Brille dar, mit der die Schrift gelesen worden ist, wobei selbstverständlich eine Rolle spielt, daß sie ihrerseits aus der Schrift stammen und also auch in den zitierten Stellen eine Basis haben. Die Besonderheiten gegenüber den Gleichnissen der synoptischen Tradition dürften deswegen in erster Linie mit einem unterschiedlichen "Sitz im Leben" zusammenhängen: Während diese auf einen Kommunikationsprozeß verweisen, der zwar eine theologische, aber keinerlei exegetische Aufgabe hat, sind die rabbinischen Gleichnisse der exegetischen Schuldiskussion zuzuordnen. Soweit ich sehe, zeichnen sich die rabbinischen Gleichnisse vor allem durch zwei Besonderheiten aus. Erstens verfügen sie über eine relativ schematische Topik. Und zweitens haben sie die Tendenz, die Ereignisund Handlungsfolge so schwach auszuarbeiten, daß wir nach der Exposition oft kaum mehr als eine Abfolge gerahmter Reden vor uns haben. Beides erklärt sich zwanglos, wenn man sich klarmacht, daß der Rabbi vor Schülern und Kollegen, mit denen er im Einverständniseines Generationen übergreifenden Schulzusammenhangs lebt, die Schrift "bespricht", deren Sinn immer aufs neue erwogen worden ist. Jesus dagegen will Anhängern
1
Vgl. Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 104f; ders., Gleichnisreden Jesu, 239; Flusser, aaO. 21. Vgl. bes. A. Goldberg, Das schriftauslegende Gleichnis im Midrasch, in: Frankfurter judaistische Beiträge 9, 1981, 1-90, der allerdings die Hörerperspektive, die auch die rabbinischen Gleichnisse haben, verkennt, wenn er, ebd. 11, feststellt: "Das schriftauslegende Gleichnis der Rabbinen bezieht nun in der Regel den Hörer nicht ein; nur allgemein gültige Gleichnisse können ihn betreffen."
1. Die These
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und Gegnern die Besonderheit seiner Botschaft, seines Verhaltens und seiner Person erschließen, und sein Erfolg hängt nicht zuletzt davon ab, ob es ihm gelingt, den Hörer so in die fiktionale Welt zu entführen, daß er den situativen Kontext zunächst vergißt und anschließend in einem neuen Licht sieht. Daß eine Anwendung in der synoptischen Überlieferung häufigfehlt oder doch erst sekundär zugewachsen ist, sollte schon angesichts von Gegenbeispielen wie Mt 7, 9-llpar nicht als Anzeichen eines unüberbrückbaren Gegensatzes angesehen werden. Denn da nur die Anwendung die Möglichkeit bietet, die zu exegesierende Schriftstelle mit dem Gleichnis zu verbinden1, kann auf sie verzichtet werden, wenn das Gleichnis nicht der Exegese dient: Demjenigen, der in den theologischen Traditionen des Gleichnisses lebt, ist seine Pointe aufgrund des situativen Kontextes auch ohne Anwendung unmittelbar verständlich. Demjenigen aber, der wie der heutige Exeget nicht in diesen Traditionen lebt, kann die Korrespondenz, die zwischen dem Wortlaut der Übersetzung und dem Wortlaut des Gleichnisses besteht, eine Hilfe für die Interpretation auch solcher Gleichnisse sein, die keine Anwendung enthalten. Es ist mit Recht immer wieder darauf hingewiesen worden, daß die meisten rabbinischen Gleichnisse sehr viel, z.T. Jahrhunderte später als die synoptischen formuliert worden sind. Sie tauchen erst im Munde von Gelehrten wie Johanan ben Zakkai und seinem Schüler 'El'azar ben 'Arakh auf, also Angehörigen der ersten tannaitischen Generation2 - ganz davon abgesehen, daß die Zuschreibung an eine bestimmte Autorität ja noch keineswegs ein sicheres Indiz für die Zeit der Abfassung ist.3 In den 655 rabbinischen Perikopen mit insgesamt 371 verschiedenen Überlieferungen über Pharisäer vor 70 n.Chr., die Jacob Neusner untersucht hat, findet
Klauck, Allegorie und Allegorese, 112, macht m.R. darauf aufmerksam, daß es anscheinend kein rabbinisches Gleichnis gibt, in dem der Schrifttext "in Zitatform in das Gleichnis selbst eingebaut" ist. "Es geht voraus oder folgt, deutlich abgesetzt." Vgl. Jülicher, aaO. 1,164ff; Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 107ff; ders., Gleichnisreden Jesu, 6ff; Jeremias, aaO. 8; Klauck, aaO. 109. 3
Vgl. bes. J. Neusner, Development of a Legend. Studies in the Tradition Concerning Yohanan ben Zakkai, StPB XVI, Leiden 1970, Iff; ders., Verwendung, 293ff; ders., The Formation of Rabbinic Judaism: Yavneh (Jamnia) from A.D. 70 to 100, in: ANRWII 19,2, 1979, 3-41, hier 4ff, u.ö.
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Es gibt Parallelen
sich kein einziges Gleichnis im eigentlichen Sinne des Wortes1, sondern neben mehreren Vergleichen nur ein treffender, Hillel zugeschriebener Qalwachomer (VajR 34, 3, zu 25, 35)2, der als eine spezifische Form des besprechenden Gleichnisses verstanden werden kann. Dieser im ganzen negative Befund ist um so ernster zu nehmen, als Neusner nachgewiesen hat, daß das sonstige Formenrepertoire sich so stark mit den synoptischen Evangelien berührt wie mit keiner anderen jüdischen Literatur.3 Trotzdem ist Haas-Josef Klauck zuzustimmen, wenn er schreibt: Von Anfang an weisen die rabbinischen Gleichnisse "in struktureller und funktionaler Hinsicht" eine so "große Konstanz" auf, daß "die Bedeutung der Datierungsfrage, auf die natürlich nicht verzichtet werden kann, doch etwas relativiert" wird.4 In die gleiche Richtung argumentiert David Flusser, wenn er darauf aufmerksam macht, daß bereits bei den ältesten Belegen "die besondere literarische Gattung... voll ausgeprägt" ist, und daraus folgert, "dass damals die Gattung längst bestand".5 Ich selber möchte deshalb als Hypothese zur Diskussion stellen: Zumindest vorläufigwird die auffallende Nähe zu synoptischen Gleichnissen am ehesten verständlich, wenn man annimmt, daß sich in späten Überlieferungen erhalten hat, was schon zur Zeit Jesu im pharisäisch-frührabbinischen Judentum verwurzelt war. Die dabei vorausgesetzte Kontinuität ist um so leichter vorstellbar, als es sich bei den Beziehungen ja nicht um Beziehungen zwischen einzelnen Gleichnissen oder gar Texten handelt.6 Jedes einzelne Gleichnis ist vielmehr eine hörer- und situationsbezogene Einheit sui generis, und die Gemeinsamkeiten betreffen bestimmte Sujets der Alltagswelt, bestimmte 1
Vgl. Neusner, Rabbinic Traditions III, 85f; ders., Types and Forms in Ancient Judaism, in: Ders., Early Rabbinic Judaism. Historical Studies, SJLA XIII, 1975,101-137, hier 122. 2
Vgl. Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, HOff; ders., Gleichnisreden Jesu, 7ff; Neusner, Rabbinic Traditions I, 275. 280. Bei den beiden von Fiebig, Gleichnisreden Jesu, 10ff, für das Haus Hilleis und das Haus Schammais in Anspruch genommenen Gleichnissen läßt sich bereits an der von Fiebig benutzten Überlieferung aus BerR Ifin zu 1,1 erkennen, daß es sich um sekundäre anonyme Kommentare handelt. Das bestätigt die von Neusner, Rabbinic Traditions, III, 189f, bevorzugte Variante aus bHag 12a, die die Gleichnisse nicht enthält. 3
Neusner, Rabbinic Traditions, III, 78ff, bes. 98; ders., Types and Forms, 115ff, bes. 126.
4
Klauck, aaO. 109.
5
Flusser, aaO. 19. Ähnliche Überlegungen finden sich schon bei Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 110; ders., Gleichnisreden Jesu, 3f. 14. 6
Vgl. Fiebig, Gleichnisreden Jesu, 268; Flusser, aaO. 20.
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theologische Traditionen des späten Israel sowie schließlich eine bestimmte Fähigkeit, beides erzählend oder besprechend miteinander zu verbinden: Drei Faktoren, denen einige Stabilität auch über einen größeren Zeitraum zuzutrauen ist. Wer einen historischen Zusammenhang für möglich hält, wird es als vordringliche Aufgabe ansehen, mit den von Neusner entwickelten Fragestellungen diejenigen rabbinischen Gleichnisüberlieferungen zu untersuchen, die Autoritäten des Zeitraums von ca. 70 bis ca. 150 p.C.1 zugeschrieben werden. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, ob ein Gleichnis der Schriftexegese dient und/oder der Schuldiskussion entstammt. Ist beides nicht der Fall2, so muß durch die Analyse des Rahmens, vor allem aber des Gleichnisses selber, geprüft werden, ob wir eine Einheit vor uns haben, die ihre Entstehung einer Situation außerhalb des Lehrhauses verdankt.3 Ein positives Ergebnis dieser Prüfung hätte zur Folge, daß die Verwandtschaft mit den Gleichnissen Jesu noch größer ist, als bisher dargestellt wurde. Ja, es gäbe Anlaß für die Vermutung, daß auch die Mitglieder der pharisäischen Haburot aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts in der Lage waren, in der Öffentlichkeit situationsbezogene Gleichnisse zu bilden. Jesus wäre dann weder der einzige noch der erste gewesen, der sie von der Schule unter den freien Himmel Palästinas verpflanzt hat. Ich belasse es bei einer theoretischen Überlegung, weil sich für ihre Überprüfung unter den Parallelen zu Lk 15, 11-32 keine geeigneten Beispiele finden, aber auch, weil die eigentliche These, um die es mir geht, davon nicht berührt wird: Die rabbinischen Gleichnisse erhellen mit den strukturellen zugleich die historischen Voraussetzungen der Gleichnisrede Jesu. Ich wende mich damit nicht nur gegen Adolf Jülicher und Joachim Jeremias, sondern auch gegen Paul Fiebig, dessen Ausführungen trotz der berechtigten Kritik an Jülicher an einem nicht unwichtigen Punkt der Korrektur bedürfen. Alle drei Autoren sind nach wie vor repräsentativ für die Forschung, was ein kurzer Hinweis auf J. B. Bauer, Eberhard Jüngel
1
Zur Begründung der Abgrenzung vgl. Neusner, Development, 2f; ders., Formation, 21ff.
2
Vgl. die Beispiele bei Fiebig, Gleichnisreden Jesu, 48. 82. 92. 96f; ders., Erzählungsstil, 33f. 36f. 48. 3
Damit rechnet auch Fiebig, Gleichnisreden Jesu, 240.
228
Es gibt Parallelen
und John Domiaic Crossan verdeutlichen mag. Sie gehören deswegen zweifellos zu denjenigen, denen David Flusser vorwirft, sie wehrten sich "unter verschiedenen Vorwänden gegen die simple Wahrheit, daß die Gleichnisse Jesu ohne jeden Zweifel zu den jüdisch rabbinischen Gleichnissen gehören".1 Dieser "Wahrheit" entspricht es, daß ich mich für die eigenen Überlegungen immer wieder auf Flusser berufen konnte. Doch läßt sich nachweisen, daß selbst dieser jüdische Forscher sich nicht vom Bann seiner christlichen Antipoden hat lösen können. Jeremias folgert aus der Tatsache, daß uns "aus der Zeit vor Jesus... in der gesamten rabbinischen Literatur kein einziges Gleichnis überliefert" ist, Jesu Gleichnisse seien "etwas völlig Neues"; ja, er fragt sogar, "ob Jesu Vorbild nicht... maßgeblich an der Entstehung der Literaturgattung der rabbinischen Gleichnisse beteiligt gewesen ist".2 Die gleiche Überlegung findet sich schon bei Jülicher? Bei Jeremias ist sie mit der Beobachtung verbunden, daß Jesu Gleichnisse "eine ausgesprochen persönliche Eigenart, eine einzigartige Klarheit und Schlichtheit, eine unerhörte Meisterschaft der Gestaltung erkennen" lassen.4 Jülicher spricht statt dessen von der "Originalität" und "Meisterschaft" Jesu.5 Gegenüber seinen Gleichnissen hätten die rabbinischen "fast durchweg... etwas Gemachtes", seien "nicht wahr, nicht zwingend" und würden den "Ton der Schule, den Zwang und die Pedanterie nicht los" oder seien "blosse Reihen von Vergleichungen, die die Phantasie beschäftigen und das Gedächtnis unterstützen".6 Deutlich ist, daß sich bei dieser Abqualifizierung Jülichers Gleichnistheorie und seine Auffassung vom toten und unlebendigen Schulwissen die Hand reichen: "Gott hat ihn (sc. Jesus) vor der Schule bewahrt".7 Nur auf den ersten Blick steht damit im Widerspruch die These, daß "die Hagada... samt ihren Blüten, den Parabeln" "im hebräischen Haus mit seinem innigen, fröhlichen, lauteren Familienleben" gewesen sei, o
während "der Rabbi und seine Halacha... ein Gewächs der Schule" darstelle. Denn stets drückte "die dumpfe Luft der Schule auf ihre (sc. der Hagadisten) Lunge": "In der Hagada redet halb der Israelit, halb der Rabbi, in Jesu Parabeln redet allein der Israelit, der Jude in seiner liebenswürdigsten Gestalt, der unverdorbene, der ungeknechtete, der wahre ewige Jude."9
1
Flusser, aaO. 13.
2
Jeremias, aaO. 8.
3
Jülicher, aaO. 1,168f.
4
Jeremias, aaO. 8.
5
Jülicher, aaO. I, 172.
6
Ebd. 1,170f.
7
Ebd. 1,173.
8
Ebd. 1,173.
9
Ebd. 1,173.
1. Die These
229
Fiebig hat demgegenüber nicht nur die Verwandtschaft herausgearbeitet und das chronologische Problem eines Vergleichs reflektiert, sondern auch gesehen, daß der Bezug zur Schriftexegese die wichtigste Differenz darstellt.1 Wenn er die Analogie jedoch nur in der Form, die sich bei Jesu Gleichnissen "durch ihre entzückende Frische und Anschaulichkeit" auszeichne, nicht aber im Inhalt sieht2, so zeigt sich, daß auch er Jülichers Position verpflichtet ist. "Den Gleichnissen Jesu fehlt der gelehrte Beigeschmack, der in den jüdischen Gleichnissen sehr stark hervortritt", so daß Jesus "an dem geistigen Inhalt, den ihm seine Zeit darbot, eine Reinigung, Konzentration, Zentralisation vorgenommen hat."3 Ganz ähnlich stellt Bauer zusammenfassend fest, "daß die Gleichnisse Jesu formal durchaus den rabbinischen Gleichnissen entsprechen..., sich aber ein tiefgreifender Niveauunterschied" zeige. Denn "während Jesu Gleichnisse den Anbruch der Gottesherrschaft und ihrer Verpflichtung verkünden und erläutern, dienen viele Gleichnisse der Rabbinen bloß einer spitzfindig-scholastischen Schriftgelehrsamkeit."4 Von einem solchen Diktum unterscheiden sich die Ausführungen Jüngels und Crossans zwar im Ton, nicht aber in der Sache. Nach ersterem können rabbinische Gleichnisse wegen ihres "lehrhaften, der Schriftauslegung dienenden Charakter(s)... nicht mit den Gleichnissen Jesu als einem Sprachereignis sui generis konkurrieren".5 Nach letzterem läuft der gleiche Unterschied darauf hinaus, daß die rabbinischen Gleichnisse "didactic metaphors", die Gleichnisse Jesu dagegen "poetic metaphors" seien. Crossan betont zwar: "This is not simply an attempt to exalt Jesus above the rabbis as an exercise in Christian chauvinism."6 Doch wird das Versprechen dieses Satzes nicht eingelöst und durch die Ausführungen über die poetische Erfahrung mehr als relativiert. Angesichts der zitierten Autoren ist es verständlich, daß Flusser die These aufstellt, Jesu Gleichnisse gehörten zur Gattung der rabbinischen Gleichnisse.7 In der vorgetragenen Form läßt sich die These jedoch schwerlich aufrechterhalten. Denn ihre Exklusivität führt dazu, daß mit dem nichtrabbinischen Judentum (17) gerade diejenigen Parallelen aus den Überlegungen ausgeschlossen werden, die dort weiterzuhelfen vermögen, wo sich die meisten rabbinischen Gleichnisse durch ihren Schriftbezug von den Gleichnissen Jesu unterscheiden. Noch verhängnisvoller wirkt sich freilich aus, daß Flusser von einer "Geschichte des Verfalls der Gattung (sc. der rabbinischen) Gleichnisse" spricht (18), bei der einem "älteren, klassischen Typus" (14) ein "spätere(r), irgendwie degenerierte(r) Typus" gegenübersteht (22). Der klassische Typus, der relativ selten belegt sei und auch von Jesu Gleichnissen repräsentiert werde, bemühe sich um "die religiöse Deutung des menschlichen
1
Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 74ff; ders., Gleichnisreden Jesu, 119ff. 239ff.
2
Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 162f. Vgl. ders., Gleichnisreden Jesu, 269f.
3
Fiebig, Gleichnisreden Jesu, 271f.
4
Bauer, Gleichnisse Jesu und Gleichnisse der Rabbinen, in: ThPQ 119,1971,297-307, hier 307. 5
Jüngel, Paulus und Jesus, 166.
6
Crossan, Parable, 530f.
7
Flusser, Op.cit. Die Seiten dieses Werkes werden im folgenden in Klammern angegeben.
230
Es gibt Parallelen
Lebens, des Handelns des Menschen vor Gott" (21) und wolle "das einfache Volk von einer moralischen Wahrheit... überzeugen" (14). Er möchte durch seine Sujets zwar "den Eindruck erwecken, daß... Beispiele aus dem täglichen Leben" erzählt werden (32), deren "sprachliche und inhaltliche Autonomie... einer (sie!) ihrer hervorragendsten Kennzeichen" sei (22). Doch haben die Gleichnisse "einen Endzweck, der ausserhalb des Sujets liegt" (59). Der spätere Typus dagegen, dem die meisten rabbinischen Gleichnisse angehören, diene dazu, "biblische Verse zu illustrieren, Personen aus den alttestamentlichen Büchern zu charakterisieren und biblische Geschichten zu schmUcken" (21). Das habe zur Folge, daß "das Sujet... jetzt viel weniger natürlich und autonom und viel mehr konstruiert" ist (22). Zwar fänden sich auch in den späteren Gleichnissen die Bestandteile, aus denen die früheren gebaut sind (22). Ja, Flusser ist der Meinung, daß diese wegen ihrer Übernahme alter Motive und Themen trotz aller Gegensätze zur Erklärung der Gleichnisse Jesu herangezogen werden dürfen (40). Doch kann dadurch nicht die Tatsache relativiert werden, daß seine Unterscheidung zweier Typen die verbreitete Pejorisierung der rabbinischen Gleichnisse auf einer anderen Ebene erneuert. Es ist deswegen weniger verwunderlich, als es zunächst erscheint, daß Flusser ohne jede Einschränkung dazu bereit ist, Jülichers vernichtendes Urteil über alle rabbinischen Gleichnisse für den "degenerierten Typus" und damit für die überwiegende Mehrzahl zu akzeptieren (22f). Er verkennt dabei, daß der Schriftbezug die Gleichnisse selber nicht verändert, sondern lediglich einer anderen Aufgabe dienstbar macht. Und er übersieht: Wer die Mehrheit der rabbinischen Gleichnisse aus der Frage nach den Voraussetzungen der Gleichnisrede Jesu ausklammert, muß auch auf den Rest verzichten, und umgekehrt: Wer sich auf den Rest beruft, darf zur Mehrheit keinen unüberbrückbaren Graben aufreißen.
Es ist einigermaßen erstaunlich, beim Blick in die Literatur feststellen zu müssen, mit welcher Regelmäßigkeit sich Apologetik und mangelnde Aufgeschlossenheit für den unterschiedlichen "Sitz im Leben" die Hand reichen. Die Koinzidenz so verschiedener, fast beliebig vermehrbarer Autoren dürfte letztlich darin begründet sein, daß die Besonderheit Jesu zu früh ihrer spätisraelitisch-jüdischen Basis beraubt wird. Das gelingt nur deswegen, weil der Hintergrund des Schriftbezuges der meisten rabbinischen Gleichnisse nicht gewürdigt wird, vor allem aber, weil übersehen wird, in welchem Ausmaß auch die synoptischen Gleichnisse konstruiert sind. Man mag zwar überlegen, ob ihre Konstruktion nicht in der Regel sehr viel gelungener ist als die der rabbinischen Parallelen. Doch wird ein solches Urteil immer subjektiv bleiben und schon insofern nur wenig zum sachlichen Verständnis beitragen. Es läuft letztlich auf nichts anderes hinaus, als daß Jesus die Technik der Fiktionalisierung - rhetorisch gesprochen: "die allerhöchste Kunst der Verbergung der Kunst"1 - mit
1
Vgl. o. S. 5if.
1. Die These
231
großer Souveränität beherrscht hat. Seine Gleichnisse sind eben, um noch einmal den schönen Satz Jülichers zu zitieren, "so gelungen, dass man beim Hören und Lesen gar nicht an ihren poetischen, fiktiven Charakter erinnert wird, dass es einem ist, als gehörte das alles selbstverständlich so, wie es da ist, und von jeher zusammen".1 Auch kann ihnen mit Jeremias schlechterdings nicht abgesprochen werden, daß sie "eine ausgesprochen persönliche Eigenart, eine einzigartige Klarheit und Schlichtheit, eine unerhörte Meisterschaft der Gestaltung" erkennen lassen.2 Doch darf all das nicht dazu führen, den Boden zu verleugnen, in dem jede Eigenart und jede Meisterschaft, zumal in der Antike, verwurzelt ist. Mit einer Vorstufe des rabbinischen Judentums ist zugleich die Größe namhaft gemacht, über die - also nicht direkt, sondern indirekt - die hellenistisch-römische Kultur und speziell die Rhetorik auf die synoptischen Gleichnisse Einfluß gewonnen haben kann. Zwar muß eine solche These schon deshalb mit Widerspruch rechnen, weil für das palästinische Judentum mit seinem religiösen Gegensatz zur Umwelt in erhöhtem Maße gilt, was sich allgemein beobachten läßt: Je größer die faktische Abhängigkeit, desto weniger ist darüber eine Nachricht in den Quellen zu erwarten. Doch kann zur Begründung eine Reihe von Indizien angeführt werden, bei deren Beurteilung zu berücksichtigen ist, daß die Rhetorik ja nicht ein partikularer Faktor, sondern die alles bestimmende Bildungsmacht der Antike gewesen ist, ohne die insbesondere der niedere und höhere Schulbetrieb nicht denkbar ist.3 Sie ist, wie einzelne Nachrichten direkt verraten4, selbstverständlich auch in den hellenistischen Städten Palästinas beheimatet gewesen, so daß es nicht verwundert, wenn wir erfahren, daß
1
Jülicher, aaO. 1,156.
2
Jeremias, aaO. 8.
3
Vgl. Marrou, aaO. 273ff.490ff.
4
Vgl. bes. den berühmten, bei Strabo, XVI 2,29, erwähnten Rhetor Theodoros aus Gadara, den Lehrer des Kaisers Tiberius, der für Th. Guthe, Die griechisch-römischen Städte des Ostjordanlandes, 1918, 21, "ein stark in die Augen springenden Beweis dafür (ist), daß der Hellenismus" in der Dekapolis "als ein völlig gleichberechtigtes Glied der damaligen Weltbildung angesehen wurde". Vgl. Schürer, aaO. II, 43ff.94ff,bes. 161 Anm. 262, wo eine Grabinschrift zitiert wird, die Gadara durch /PTloTopouaia als eine Stadt bezeichnet, in welcher Poesie und Rhetorik, im Unterschied von Wissenschaft und Philosophie", gepflegt wird. Vgl. H. Gärtner, Art. Theodoros 11,7, in: K. Ziegler/W. Sontheimer (Hrsg.), Der kleine Pauly, V, dtv 5963,1979, 694.
232
Es gibt Parallelen
Fachvertreter der Rhetorik nicht nur von Herodianera1, sondern auch vom Hohenpriester2 in Dienst genommen wurden. Ja, es gibt Anlaß für die Vermutung, "daß einzelne begabte Söhne der jerusalemischen Aristokratie, ähnlich wie junge Syrer aus den hellenisierten palästinischen Städten, in Alexandrien oder anderen geistigen Metropolen der hellenistischen Welt gewisse Zeit rhetorischen Studien nachgingen".3 Auf diesem Hintergrund signalisieren bereits die zahlreichen, von Samuel Krauss zusammengestellten Lehnwörter aus dem Griechischen und - seltener - aus dem Lateinischen, wie stark das rabbinische Judentum auf allen Lebensgebieten vom Hellenismus beeinflußt worden ist.4 Es ist, wie Rudolf Meyer am Beispiel der Anthropologie nachgewiesen hat, "auch im Bereich des religiös-weltanschaulichen Lebens bei den Griechen in die Schule gegangen".5 Zu den "general beliefs, conceptions and patterns of behavior", die es mit der mediterranen Zivilisation teilt, gehören nach Saul Lieberman sowohl die exegetischen Verfahrensweisen im allgemeinen als auch die der Hagada im besonderen.6 Wenn Lieberman dabei auf die Beziehungen speziell zur hellenistisch-römischen Rhetorik aufmerksam macht7, so argumentiert er in der gleichen Richtung wie David Daube. Denn Daube hat etwa gleichzeitig nachgewiesen, daß selbst die Grundsätze und Einzelregeln der rabbinischen Hermeneutik - insbesondere diejenigen, die Hillel zugeschrieben werden - aus der Rhetorik rezipiert worden sind.8
1 Vgl. Josephus, Bellum II, 21; Antiquitates XVII, 226, und dazu A. Schlatter, Die Theologie des Judentums nach dem Bericht des Josefus, BFchTh II, 26,1932,183. 2
Vgl. den nach V. Stolle, Der Angeklagte als Zeuge. Untersuchungen zum Paulusbild des Lukas, BWANT 102, 1973, bes. 260ff, zum vorlukanischen Prozeßbericht gehörenden Abschnitt Apg 24,1-9, bei dem die Rede des Rhetors Tertullus mit St. Lösch, zitiert nach E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK III, 131961, 585, als "Meisterstück... von ausgesuchter rhetorischer Kleinkunst" bezeichnet werden muß. 3
Hengel, Judentum und Hellenismus, 130. Vgl. ebd. 176.182.183 (Anm. 323). 194.
4
Krauss, Griechische und lateinische Lehnwörter in Talmud, Midrasch und Targum, I-II, 1898/99. Vgl. Schürer, aaO. II,.58ff.
5
Meyer, Hellenistisches in der rabbinischen Anthropologie, BWANT 74,1937, Zitat IX.
6
Lieberman, Hellenism in Jewish Palestine, New York 1950, 47-82, Zitat 19.
7
Ebd. 62ff.
8
Daube, Rabbinic Methods of Interpretation and Hellenistic Rhetoric, in: HUCA XXII, 1949, 239-264. Vgl. G. Mayer, Art. Exegese II (Judentum), I, in: RAC VI, 1966, 1195ff (Lit.); R. Meyer, Tradition und Neuschöpfung, 80f.
1. Die These
233
Einen Schritt über Lieberman und Daube hinaus führt die These von Henry A Fischel, daß "popular Greco-Roman rhetoric (rhetoric in its widest sense)" die Quelle für zahlreiche pharisäisch-rabbinische Parallelen zu Material aus dem Bereich griechischer Philosophenschulen ist.1 Denn Fischel ist der erste, der nicht bei dem Nachweis einzelner Parallelen stehenbleibt, sondern konsequent die Frage nach ihrer literarischen Form und den sozialen Bedingungen für die Möglichkeit ihrer Rezeption stellt. Er konzentriert sich dabei auf die Erzählungen über Hillel, hat aber auch andere Lehrautoritäten im Blick.2 Was die literarische Form betrifft, so lautet Fischeis These: "All 20-25 stories told on Hillel the Elder originating in the tannaitic period proved to be chriae and use chriic material in practically every detail."3 Der Befund spiegelt wider, daß "a Hellenistic form of honoring a great sage figure has been adopted in the tannaitic Jewish culture" "to celebrate and elevate the Founder-Sage..., i.e. Hillel is described as an ideal Cynic chriic sage".4 Denn die nächste Parallele ist nicht die von der Rhetorik seit je gepflegte Chrie im allgemeinen, sondern speziell die kynisierende Chrie, die zum "ideal vehicle for the teaching of the nonconformist ideas of the Cynics" wurde.5 Sie "was used to celebrate and 'idolize' FounderSages important to the later Cynic school regardless of historical facts or the appropriateness of the new portrait": Sokrates, Antisthenes, Diogenes, Krates, Zenon, Kleanthes, Aristippos, die Sieben Weisen, Anacharsis, Aesop, ja, sogar Aristoteles.6 Nach Fischel haben drei Faktoren die Bereitschaft zur Rezeption kynisierender Chrien gefördert. Erstens brauchten die Hagadisten nicht zu konsultieren "difficult works on the 'art of rhetoric' but could gain their insight into Hellenism from the popularized form of rhetoric... They may have encountered this medium in its oral crystallization, since oral communication was ubiquitious in Palestine (occupational forces, Roman administration, wandering preachers, Greek colonists, Hellenistic-Jewish pilgrims, Herod's Court, Jewish evacuees from Greek cities in the Hasmonean period, etc.)."7 Zweitens wurde die 1 Fischel, Story and History: Observations on Greco-Roman Rhetoric and Pharisaism, in: American Oriental Society Middle West Branch, Semi-Centennial Volume, ed. D. Sinor, Asian Studies Research Institute, Oriental Series, No. 3, Bloomington/Indiana, 1969, 5988, Zitat 65. 2
Vgl. ebd. 68. 76.
3
Fischel, Studies in Cynism and the Ancient Near East: The Transformation of a Chria, in: J. Neusner (Ed.), Religions and Antiquity. Essays in Memory of E. R. Goodenough, Suppl Numen, SHR XIV, 1968,372-411, hier 375. Zu den Einzelheiten vgl. ders., Story, 67. 4 Ders., Studies, 375. 5 Ebd. 373. 6 7
Ebd. 374. Vgl. ders., Story, 62. Fischel, Story, 65 Anm. 31.
234
Es gibt Parallelen
Übernahme von "short rhetorical items" dadurch erleichtert, daß die rhetorische Welt "religiously neutral or inoffensive" war und, "in its stress on practical ethics and the ideal of the Sage, resembled... hokhmah in biblical and midrashic texts".1 Drittens weist Fischel mit besonderem Nachdruck auf die soziale Funktion der rhetorischen Chrie hin. Sie war zur interkulturellen Verbreitung nicht nur durch ihre volkstümlich-praktische und quasirationale Ethik prädestiniert, sondern auch durch ihre "legitimization and gloryfication of its own spokesmen, of the scholar-teacher-jurist-administrator class".2 Denn "the Tannaim and their Pharisaic predecessors, using rhetorical techniques and the ideology of the Sage in a similar fashion, represent in Judean culture the identical class, similarly entrusted with the practical tasks of law, administration and cult, similarly under the threat of a still more powerful ruler, similarly concerned with the preservation of the ancient heritage by new techniques, and similarly clashing with the hoi polloi, i.e., the 'Am ha-'arets".3 Alle drei Faktoren, die die Rezeption ermöglichten, haben nach Fischel nun freilich nicht dazu geführt, daß die Chrie unverändert übernommen wurde. Sie wurde im pharisäischtannaitischen Judentum vielmehr (1) "'naturalized'", d.h. von jüdischen Weisen erzählt, (2) "transcendentalized", d.h. zur Propagierung der geoffenbarten Tora gebraucht, (3) sehr häufig "'legitimized' or 'testimonialized'" durch biblische Zitate, (4) "humanized" durch das Mitgefühl der Weisen mit dem Volk, (5) "halachized", d.h. als Exempel für die Ableitung einer Tora formuliert. (6) wurde das rhetorische Material "selectively" und (7) die Erzähltechnik seiner Darbietung "creatively" für die Kombination chriischer und anderer Motive zu einer neuen Einheit herangezogen.4
Leider sind die beiden größeren Arbeiten, in denen Fischel seine These vom rhetorischen Hintergrund der pharisäisch-rabbinischenHillel-Chrie im einzelnen begründet hats, offenbar noch nicht erschienen. Wir müssen uns deswegen vorläufig mit zwei Aufsätzen zufriedengeben, die den Mangel insofern relativieren, als die materialreiche und methodologisch stringente Argumentation durch die umfangreiche Analyse eines Einzelbeispiels erhärtet wird.6 Hinzu kommt, daß Fischel inzwischen eine Monographie vorgelegt hat, in der er mit der gleichen Sorgfalt "examples of other literary genres of Greco-Roman rhetoric" untersucht, die in der tannaitischen Überlieferung zu finden sind. Dazu gehören neben der Chrie "the parody, and a number of shorter forms and coinages, all vehicles of
1
Ebd. 84f.
2
Ebd. 80.
3
Ebd. 81f. Vgl. Neusner, Formation, 37ff.
4
Fischel, Story, 85f. Vgl. ders., Studies, 407ff.
5
Vgl. Fischel, Studies, 372 Anm. If; ders., Story, 59.
6
Fischel, Studies, 377-411.
1. Die These
235
philosophical polemic or satire".1 Ja, Fischel hat hier zum ersten Mal gezeigt, daß "the entire midrashic output of a specific Tanna (sc. Ben Zoma) is... of Greco-Roman rhetoric provenance"2, dabei jedoch zugleich darauf aufmerksam gemacht, daß sich Ben Zoma nur dem Grad nach von anderen Gelehrten seiner Zeit unterscheidet.3 Fischeis Vermutung, "that the Pharisees may have been the most Hellenized group in Judea"4, hat daraufhin mehr für sich, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man wird sie auch auf den Schulbetrieb als solchen beziehen dürfen, da die Analogien im Pädagogischen und Technisch-Organisatorischen zumindest für die spätere Zeit mit Händen zu greifen sind.5 Aber selbst wenn Fischeis Vermutung zu weit gegriffen ist, stellen seine Arbeiten der Forschung unausweichlich die von Jacob Neusner formulierte Aufgabe:"... it will be necessary to crossreference each pericope" der von Neusner selber untersuchten Traditionen über Pharisäer vor 70 p.C. "according to his (sc. Fischeis) various categories and exempla. Only then will the cultural context of our material be fully illuminated".6 Wenn sich die oben begründete Hypothese einer vor-tannaitischen Gleichnisüberlieferung7 bewährt, muß sich der interkulturelle Vergleich auch auf die rabbinischen O'^tPö erstrecken. Fischel selber hat Gleichnisse bisher zwar noch nicht in seine Überlegungen einbezogen, eine solche Einbeziehung jedoch insofern vorbereitet, als er darauf aufmerksam macht, wie leicht Chrie und Exempel in eine Fabel transformiert werden können.8 Er hat damit neu entdeckt, was bereits der antiken Rhetorik bewußt war, die sich über Fischel hinaus allerdings auch sehr ausführlich über die funktionale und strukturelle Verwandtschaft der Chrie mit dem Gleichnis
1
Fischel, Rabbinic Literature, Zitat XI.
2
Ebd. 51-89, Zitat XI.
3
Ebd. 88.
4
Fischel, Story, 82. Vgl. Berger, Hellenistische Gattungen, 1040.
5
Vgl. die Skizze von W. Bacher, Das altjüdische Schulwesen, in: JJGL VI, 1903,48-90, mit Marrou, Op.cit. 6
Neusner, Rabbinic Traditions, III, 332, zum Ganzen 330-332.
7
S. o. S. 224ff.
8
Fischel, Story, 65f.
236
Es gibt Parallelen
geäußert hat.1 Es spricht deswegen nichts gegen die Möglichkeit, daß der Kontakt mit der "rhetorischen Welt" (Fischel) bei der Entstehung und Ausbildung der Form rabbinischer Gleichnisse eine wichtige Rolle gespielt hat. Ja, die von der bisherigen Forschung namhaft gemachten hellenistischen Parallelen zu den Gleichnissen Jesu können sogar als Indiz dafür gewertet werden, daß die Rhetorik speziell über den von Fischel nachgewiesenen Weg Einfluß gewonnen hat. Denn erstens wird kaum zufällig sein, daß sich die von Berger und Flusser angeführten Gleichnisse in den durch und durch rhetorisch geprägter? Diatriben Epiktets finden.3 Zweitens verdient Beachtung, daß Wechssler für die Gleichnisse die gleiche Zeugenreihe in Anspruch nimmt wie Fischel für die Hillel-Chrien.4 Und drittens sei auf einen Sachverhalt aufmerksam gemacht, der bisher nicht diskutiert worden ist: Unter den zahlreichen Kontroversen zwischen einem Rabbi und einem Heiden5 gibt es mehrere Überlieferungen, in denen sich die Repräsentanten des Judentums und des Heidentums mit Gleichnissen über Grundsätze des jüdischen Glaubens streiten.6 Zwar handelt es sich hierbei durchweg um fiktive, "ideale" Szenen, bei denen der Rabbi das letzte Wort behält. Doch zeigen die Texte, daß die Rabbinen keineswegs der Meinung gewesen sind, nur sie selber besäßen die Fähigkeit zur Bildung situativer Gleichnisse. Sie gehen vielmehr wie selbstverständlich davon aus, daß auch die hellenistisch-römische Umwelt über diese Fähigkeit verfügt. Nimmt man hinzu, daß der heidnische Gleichnisredner dabei auch als "Philosoph" apostrophiert werden kann7, so mag sogar 1 Vgl. z.B. Aristoteles, Ars rhetorica II 20,1-9,1393a-1394a; Quintilian, Inst, V 11,1-44. Vgl. McCall jr., Op.cit., durchgehend; Berger, Hellenistische Gattungen, 1116ff. 2
Vgl. Wendland, aaO. 77ff; W. Capelle/H.-I. Marrou, Art. Diatribe, in: RAC III, 1957, 990-1009, bes. 992. 998f. 3
S. o. S. 219ff. Vgl. bereits Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 113f.
4
S. o. S. 219.233.
5
Einen Eindruck von der Fülle des Materials gibt M. D. Herr, The Historical Significance of the Dialogues Between Jewish Sages and Roman Dignities, in: ScrHier XXII, 1971,123150. Vgl. W. Bacher, Die Agada der Tannaiten, 1,21903, bes. 36ff.76ff. 170ff; II, 1890, bes. 165ff. 6
Vgl. M^khiltha, Jithro VI/'AZ 54b-55a; BB 10a (s. u. S. 368 Anm. 1); M*giUath Esther (s. u. S. 359ff). 7
Vgl. M'khiltha, Jithro VI/'AZ 54b-55a. Der "Philosoph" ist auch sonst beliebter Kontrahent der Rabbinen. Vgl. Herr, aaO. 140f.
1. Die These
237
erwogen werden, ob hier nicht ein indirekter Hinweis auf das eigene Selbstverständnis vorliegt, der den von Fischel vermuteten Zusammenhang bestätigen würde. Aufgrund der von Jacob TVeusnerherausgearbeiteten Verwandtschaft der literarischen Formen 1 ist zu erwarten, daß der Vergleich der Traditionen über Pharisäer vor 70 p.C. mit Fischeis Kategorien wichtige Perspektiven für die Beurteilung der synoptischen Überlieferung eröffnet. So ist es schon jetzt erlaubt, die von Neusner festgestellte Nähe der Jesus-Apophthegmen zu den Erzählungen über die vor-tannaitischen Gelehrten 2 mit der pharisäischen Rezeption der rhetorisch geprägten Philosophen/WeisenChrie in Verbindung zu bringen.3 Ganz entsprechend ist für die Gleichnisse zu vermuten, daß es eine Vorform des rabbinischen gewesen ist, über die die hellenistisch-römische Tradition rhetorisch fundierter Gleichnisrede auf die Gleichnisrede Jesu Einfluß gewonnen hat. Erhärtet werden kann eine solche These allerdings nur, wenn es gelingt, die Beobachtungen von Fischel auf Gleichnisse auszuweiten und dabei die Linie vom hellenistisch-römischen über das rabbinische bis zum synoptischen Material auszuziehen. Das soll in den nächsten Kapiteln am Beispiel von Lk 15, 11-32 versucht werden. Zuvor ist allerdings die Frage zu erörtern, wo und auf welche Weise Jesus die Fähigkeit zur Gleichnisrede erworben haben könnte. Dabei ist zwar von vornherein zuzugestehen, daß die erhaltenen Quellen jede direkte Antwort darauf verweigern, und es ist müßig, die Lücke durch die Annahme auszufüllen, Jesus sei ein ausgebildeter Rabbi gewesen. Doch kann das nicht von der Aufgabe entbinden, zumindest eine Hypothese zu versuchen. Denn eine solche Hypothese betrifft nicht nur das Problem der Anschaulichkeit. Sie ist vielmehr auch für die Bestimmung des Ortes, den Jesus im zeitgenössischen Judentum einnimmt, von elementarer Bedeutung. Vorauszuschicken ist die Bemerkung, daß die bisherigen Überlegungen die gestellte Frage noch nicht beantworten. Sie haben lediglich Argumente
1
Neusner, Rabbinic Traditions, III, 78ff; ders., Types and Forms, 115ff.
2
Ebd. Vgl. schon Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 42ff. 60ff.
3
Vgl. Bultmann, aaO. 8, bes. Anm. 2; Berger, Hellenistische Gattungen, 1092ff; ders., Formgeschichte, 80ff.
238
Es gibt Parallelen
dafür namhaft machen können, daß das rabbinische Material den gleichen Anspruch auf Berücksichtigung erheben kann wie das nichtrabbinische. Ja, wenn ich eine Vorform des rabbinischen Gleichnisses postuliert habe, das nicht der Schriftexegese diente, dann läßt sich ein solches Postulat vorläufig nur mit dem Hinweis auf die nichtrabbinische Gleichnisüberlieferung begründen. Sie steht in den Gleichnissen Jesu insofern näher als die rabbinische. Trotzdem lassen sich einige Beobachtungen anführen, die es in den Bereich des Möglichen rücken, daß der Pharisäismus Jesus beim Erwerb seiner Kompetenz zur Gleichnisrede zumindest mitbeeinflußt hat. Zunächst ist an das Ergebnis der Analyse von Mt 7, 9-llpar und Lk 15, 11-32 zu erinnern, nach dem es eine ganze Reihe von Gleichnissen gibt, die ursprünglich an Pharisäer adressiert gewesen sind.1 Sie werden am ehesten verständlich, wenn Jesus mit ihnen eine Form der Auseinandersetzung wählte, die auch seinen Kritikern und Gegnern vertraut war. Ja, es spricht alles dafür, daß seine Kontrahenten sich der gleichen Waffe bedienten, gibt es doch bereits in der tannaitischen Überlieferung genügend Beispiele dafür, daß die Rabbinen bei ihrer Disputation Gleichnis gegen Gleichnis hielten.2 Dagegen kann schwerlich eingewandt werden, daß sich in der synoptischen Überlieferung kein Gleichnis im Mund von Pharisäern findet. Denn das erklärt sich zwanglos aus dem generellen Desinteresse an der Tradierung von Worten der Gegner, die gegen Jesus zweifellos sehr viel mehr vorgebracht haben, als die wenigen "zitierten" Vorwürfe von der Art von Mk 2, 16 oder Lk 7, 34par erkennen lassen. Allerdings ist zuzugestehen: Selbst wenn die Pharisäer Jesus ihrerseits mit Gleichnissen entgegengetreten sind, kann daraus kein Argument für die Abhängigkeit Jesu gewonnen werden. Umgekehrt ist freilich genauso geltend zu machen, daß die Gegnerschaft als solche noch kein Argument gegen die Abhängigkeit ist. Die Analyse des Konflikts um die Reinheitstora hat vielmehr gezeigt, daß Jesus trotz des Gegensatzes der Überzeugung gewesen ist, die Pharisäer brauchten an seiner Mahlgemeinschaft mit
1 2
S. o. S. 213f.
Vgl. BerR Ifin zu 1,1 (s. Fiebig, Gleichnisreden Jesu, lOff); BerR XXXfin zu 6, 9; PesR 98b und 164a/KohR zu 11, 9.
1. Die These
239
Sündern keinen Anstoß zu nehmen.1 Dem entspricht, daß der Vorwurf gegen ihn auch von seiten der Pharisäer - um es vorsichtig auszudrücken eine gewisse Nähe zu Jesus voraussetzt, wird derjenige, der sich als Unreiner mit Unreinen abgibt, doch kaum ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Es gibt also Anlaß für die Vermutung, daß Jesus und die Pharisäer mehr miteinander verbunden hat, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Das läßt sich vor allem durch einen Hinweis auf Jacob Neusner erhärten, dessen Ausführungen über das Traditionsprinzip ein neues Licht auf das Verhältnis werfen.2 Um die Zeitenwende wurde im Judentum Überlieferung seltener - so insbesondere in Qumran - anonym, häufiger dagegen pseudonym tradiert. Dabei hat die Zurückführung auf Größen der Vergangenheit zweifellos die primäre Funktion, die verpflichtende Überlieferung durch Namen wie Adam, Henoch, die Patriarchen, Moses, Baruch oder Esra zu autorisieren. Lehrer und Schüler identifizieren sich so stark mit dem paradigmatischen Gegenüber ihres Traditionsgaranten und seines Sohnes bzw. Nachfolgers, daß sie nicht nur den eigenen Anteil an der Weiterbildung der Überlieferung verleugneten, sondern auch die Individualität ihrer Person.3 Wenn man das beachtet, ist es außerordentlich bemerkenswert, daß die synoptische Überlieferung auf eine namentlich genannte und historisch verifizierbare, zeitgenössische Persönlichkeit zurückgeführt wird. Freilich verbietet es sich, darin einfach einen Niederschlag der Unmittelbarkeit des Selbst- bzw. Gottesbewußtseins zu sehen, mit dem Jesus sich von den Pseudonymen Autoritäten seiner Zeit befreit hat. Denn es darf nicht übergangen werden, daß es zum Prinzip der Herleitung der Jesusüberlieferung eine nahe Parallele gibt, stellt Neusner doch fest: "The first, and unique, characteristic of rabbinic traditions about the pre-70 Pharisees is attribution to named , historical authorities or to the Houses of Shammai and Hillel."4
1
S. o. S. 210ff.
2
Neusner, Rabbinic Traditions, III, 89ff; ders., Types and Forms, 126ff.
3
Vgl. Rau, Kosmologie, bes. 131ff. 419-502.
4
Neusner, Types and Forms, 126. Vgl. ders., Rabbinic Traditions, III, 90.
240
Es gibt Parallelen
Sucht man nach einer Deutung des Befundes, so legt sich die Vermutung nahe, daß die Verbindung der pharisäischen Überlieferung mit "masters whose names, deeds, and teachings were preserved openly, explicitly, and articulately"1, der stärkste Ausdruck der von Fischel herausgearbeiteten Hellenisierung ist. Denn die Differenz zur Pseudonymen Überlieferung wird am ehesten verständlich, wenn man annimmt, daß das Bekenntnis zu eigenen, zeitgenössischen Lehrautoritäten mit der Rezeption der durch die populäre Rhetorik vermittelten Traditionen zusammenhängt, kreisen diese entsprechend ihrer Ideologie vom Philosophen-Weisen doch immer um einen "individuellen", "historischen" Helden. Zwar darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Traditionen über Pharisäer vor 70 p.C. trotz ihrer Konzentration auf Hillel mehrere, potentiell sogar beliebig viele Lehrautoritäten gelten lassen, während die Träger der Evangelienüberlieferung nur eine einzige anerkennen.2 Damit hängt aufs engste zusammen, daß die Tradenten das eine Mal namentlich genannt werden, das andere Mal dagegen anonym bleiben, was faktisch zur Ausbildung einer neuen Pseudonymitätführt. Doch können die Differenzen nicht die fundamentale Übereinstimmung im Traditionsprinzip selber verdecken. Obwohl es sich dabei zunächst nur um eine Übereinstimmung zwischen den tannaitischen und evangelischen Tradenten handelt, deutet doch alles daraufhin, daß bereits Jesus und seine pharisäischen Zeitgenossen selber in eigener Autorität gesprochen und gehandelt haben.3 Weil die Inanspruchnahme der eigenen Autorität für alle Logien Jesu gilt, ist sie ein stärkeres Argument für die Nähe zum Pharisäismus als jeder Einzelvergleich. Sie stellt für denjenigen, der bereits bei den Erwägungen zu den Konfliktgleichnissen auf den Pharisäismus gestoßen ist, den Ausgangspunkt dar für alle weiteren Überlegungen zur Frage nach dem Ort des Erwerbs der Fähigkeit zur Gleichnisrede. Das heißt freilich nicht, daß dieser Ort bei den Pharisäern selber zu suchen ist. Möglicherweise ist hierfür vielmehr Johannes der Täufer in Anspruch zu nehmen.
1
Neusner, Types and Forms, 130.
2
Neusner, Rabbinic Traditions, III, 90; ders., Types and Forms, 126. Vgl. Mt 23, 8-10!
3
Vgl. Neusner, Rabbinic Traditions, III, 91ff, bes. 94; ders., Types and Forms, 127ff, bes. 130.
1. Die These
241
Einzusetzen ist bei Jörgen Beckers Nachweis, daß Jesus wahrscheinlich eine gewisse Zeitlang zum engeren Jüngerkreis des Täufers gehört hat, ja, selber taufte, bevor er nach einer Übergangsphase ("Moratorium") in klarer Absetzung vom Lehrer seine selbständige Wirksamkeit aufnahm.1 Diese These ist an sich nicht neu.2 Neu aber ist, daß Becker sie nicht wie üblich nur mit Hilfe von Logien begründet, in denen sich Jesus über den Täufer äußert. Er bleibt auch nicht dabei stehen, daß er den Unterschied zwischen beiden herausarbeitet - so wichtig ihm dieser ist. Vielmehr berücksichtigt er auch solche Jesusworte, die sich inhaltlich mit der Verkündigung des Täufers berühren.3 Erst dadurch zieht er die Konsequenz aus der Einsicht in die Schülerschaft Jesu und weist nach, daß die täuferische Botschaft zu den wichtigsten sachlichen Voraussetzungen der Verkündigung Jesu gehört. Entscheidend für die eigenen Überlegungen ist freilich erst, daß Becker ausführt, auch einige Gleichnisse ständen der täuferischen Verkündigung nahe.4 Er selber deutet den Befund zwar so, daß Jesus "das Sachanliegen des Täufers" in einer nur ihm, nicht aber dem Täufer eigenen Form "zur Sprache bringt".5 Doch plädiert er dadurch für eine Trennung von Form und Inhalt, die gerade bei Gleichnissen problematisch ist und wohl nur die undiskutierte These ihrer Singularität widerspiegelt. Denn angesichts des geringen Bestandes täuferischer Überlieferung erstaunt weniger der negative Befund, daß sich darunter keine eigentlichen Gleichnisse finden, als es positiv überrascht, daß sich die beiden zentralen Täufersprüche von Lk 3, 7b-9par und Lk 3, 16fin-17pa/ durch eine starke und geprägte
1
Becker, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, 1972, 12ff. Zum Hintergrund der Absetzung von Johannes vgl. bes. U. B. Müller, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, in: ZThK 74,1977, 417448, bes. 426f. 2
Vgl. z.B. E. Stauffer, Jesus - Gestalt und Geschichte, Dalp-TB 332, 1957, 57; Ph. Vielhauer, Art. Johannes, der Täufer, in: RGG III, 31959, 804-808, hier 807; Jeremias, Verkündigung Jesu, 52f. 3
Becker, aaO. 66ff. Vgl. Jeremias, Verkündigung Jesu, 55f.
4
Becker, aaO. 88ff. 97f, diskutiert Lk 12, 16b-20; 13, 6-9; 16,1-7.
5
Ebd. 89f.
6
Zum sachlichen Verständnis vgl. ebd. 18ff.
242
Es gibt Parallelen
Bildersprache auszeichnen.1 Ja, die beiden Gerichtsworte berühren sich nicht nur inhaltlich, sondern auch im Sujet so eng mit den Gleichnissen in Lk 12,16b-20; 13, 6-9 und Mt 13, 24-30, daß es nicht verwundert, wenn sie ohne Schwierigkeiten in ein Gleichnis transformiert werden können.2 So ist für das Sujet von Lk 12,16b-20 die Situation der Ernte genauso konstitutiv wie für Lk 3,17par. Insbesondere erinnert Kai ouvot^u etcei (d.h. in die airoOntcaq) irävTa tov a i x o v icai toi ayaQä. pou (12,18) an icai auva^OY^iv (Mt: koi auvä£w)TOV o i x o v eiq ttiv diroöfjicriv aÜTOÜ (3,17). Ähnliches läßt sich bei einem Vergleich von Lk 13,6-9 und Lk 3,9par beobachten. Das eine Mal ist von einer oukh, das andere Mal von einem 6ev6pov die Rede, die abgehauen werden (¿KKÖitreiv), wenn sie keine (gute) Frucht bringen (iroieiv (capTrov).3 Für Mt 13, 24-30 ist wieder die Erntesituation von Bedeutung. Hier berührt sich mit Lk 3,17par nicht nur der Hinweis auf das Einsammeln des guten Getreides in die Scheunen, sondern auch die antithetische Aussage, daß die CiCotvict bzw. das ä x u p o v verbrannt werden (KOtTOucaieiv). Freilich ist die Authentizität des Gleichnisses stark umstritten.4
Selbstverständlich kann es nicht mehr als eine Hypothese sein, daß Jesus die Fähigkeit zur Gleichnisrede bei Johannes dem Täufer erworben hat. Sie wirft einerseits mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Denn was wissen wir schon über den "Schulbetrieb" des Täufers? Und welches sind die Voraussetzungen seiner eigenen, ja ohnehin nur zu vermutenden Gleichnisrede? Doch kann andererseits nicht geleugnet werden, daß eine Abhängigkeit vom Täufer die Gesichtspunkte, die für eine besondere Nähe zum Pharisäismus sprechen, nicht außer Kraft setzt. Denn auch für den Täufer ist charakteristisch, daß er in eigener Autorität spricht und handelt.5 Und die Überlegungen zu den Konfliktgleichnissen können so gedeutet werden, daß Jesus seine Gleichnisrede im Gegenüber zu derjenigen von Pharisäern vervollkommnet hat. So bleibt das Kapitel im ganzen ohne ein eindeutiges Ergebnis. Das wird keinen, der die Diskussion kennt, erstaunen, ist doch schon viel erreicht, wenn es gelungen sein sollte, erstens die verbreitete Überzeugung von der 1
Vgl. ebd. 18. 27ff.
2
Bei Lk 3, 7b-9par wäre vor V. 9par und bei 3,16fin-17par vor V. 17par etwa hinzuzufügen: "Es ist zu vergleichen einem Mann, der einen Garten hat, in dem...", bzw.: "Es ist zu vergleichen einem Mann..." 3
Vgl. noch Lk 6, 43-45par; Mt 12, 33f.
4
Vgl. o. S. 164f.
5
Vgl. bes. Mk 1, 7-8parr; Becker, aaO., bes. 59ff.
1. Die These
243
Unvergleichlichkeit der Gleichnisse Jesu in Frage zu stellen, zweitens die Notwendigkeit der Berücksichtigung jüdischen und hellenistisch-römischen Materials zu begründen, drittens die besondere Aufmerksamkeit auf die Rhetorik lenken, und viertens den Prozeß der historischen Vermittlung zum Thema zu machen. Alles andere mag getrost der weiteren Forschung anheimgestellt werden. Die These von der Verwurzelung der literarischen Form der Gleichnisrede Jesu in der spätisraelitischen Religion, indirekt aber auch in der hellenistisch-römischen Kultur, entbehrt nun freilich solange der Überzeugungskraft, wie sie nicht am Einzelfall überprüft werden kann. Für eine solche Überprüfung eignet sich kaum ein Gleichnis besser als Lk 15, 1132, und zwar deshalb, weil die Parallelen nicht nur ebenso zahlreich wie breit gestreut sind, sondern auch eine große Spannweite von Übereinstimmung und Differenz umfassen. Sie sind in der Forschung zum größten Teil seit langem bekannt, werden in der Regel jedoch nur kurz erwähnt - meist in einer Anmerkung. Ein Vergleich, der sich auf Einzelheiten einläßt, fehlt fast ganz. Ein solcher Vergleich soll in den folgenden Kapiteln in Angriff genommen werden. Er konzentriert sich darauf, insbesondere die Zusammenhänge zwischen dem vielfältigen Material zu erörtern, das für ein einzelnes Gleichnis zur Verfügung steht, so daß sich Wiederholungen nicht immer vermeiden lassen. Doch möchte ich nicht suggerieren, daß alle Gleichnisse Jesu einen ähnlich breit gestreuten Hintergrund haben. Denn es ist zu beachten, daß die lukanische Erzählung von einem Vater mit seinen beiden Söhnen insofern einen Sonderfall darstellt, als sie die Konnotationen eines patriarchalen Vaterbildes aktiviert, das für die Antike als ganze, und nicht nur für die Antike, große Überzeugungskraft besaß. Die Vitalität, Plastizität und Anpassungsfähigkeit einer fundamentalen sozialen Gegebenheit sind jedenfalls eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, daß die Metapher von Gott als Vater und den Israeliten als seinen Söhnen in der israelitischen Religionsgeschichte eine wichtige Rolle spielt.1
1 Vgl. G. Schrenk/G. QueU, Art. irctTnp ¿Xeu xw eiq otuxov. Doch wird dieser Gedanke nicht gegen den Verdacht einer Bevorzugung vor Jakob abgesichert. Philo führt statt dessen vielmehr aus, daß Rebekka für Jakob als den ayaOoc erstrebt, wessen dieser würdig ist. Vor allem aber hebt er hervor, daß Rebekkas Wünsche für Jakob und Isaaks Wünsche für Esau so, wie man es von Eltern erwartet, harmonisch und ohne Kampf auf das gleiche xeXoc; ausgerichtet sind und sich nur in der gedanklichen Motivation unterscheiden. An einer weiteren Stelle macht Philo sich erneut die Überzeugungskraft zunutze, die der Fall von einem Vater mit zwei gegensätzlichen Söhnen
278
Es gibt Parallelen
besitzt.1 Sie findet sich in der Schrift, in der der stoische Gemeinplatz erörtert wird, ÖTI iröc 6 acrxeioc eXeüOepoq (prob 1), und hat die Aufgabe, Gen 27, 40b verständlich zu machen. Es geht dementsprechend nicht darum, daß Isaak Esau segnet, sondern ihn zum Sklavendienst für seinen Bruder verurteilt. Der engere Kontext beginnt mit der These, der klarste Beweis für die cXeuOepia des onouSoxoq sei die ioriYopia (prob 48-50). Der a4>pwv dagegen sei ein SoüXoq (51f), habe doch schon Zenon nachgewiesen irepi xoü vTi e i v a i xoiq 4>ai>Xoiq i a n y o p i a v irpoq ä a x e i o u q (53). 2 D a r a n schließt
sich eine Digression an (54-56), nach der Philo in prob 57 seinen Hinweis auf Zenon erläutert.
TextX: "Zenon scheint aber den Gedanken (xov Xoyov) wie aus einer Quelle geschöpft zu haben aus der jüdischen Gesetzgebung, in der, da zwei Brüder sind, ein besonnener und ein zuchtloser (Suoiv ö v x o i v ä6eXoiv, xoü yev auxfcpovoc;, xoü 6' äicoXäCTTOU), der gemeinsame Vater von beiden, als er Mitleid empfand (Xoßwv oiicxov ö icoivoq öppoiv iraxnp) mit dem, der nicht zur Tugend (eir'äpexnv) gelangt ist, bittet (eüxexai), daß er dem Bruder als Sklave diene ( I V A SOUXEÜCTTI xü ä6eX$iXav6pu>uia zur Seite, würdig, xöv eciov... oiicov zu durchwandern: Gott will, daß nicht nur die Seele des Vernünftigen, sondern auch die Seele des Schuldigen zu einem Haus wird, in dem er mit der Fülle seines Wesens, der Güte, Wohnung nimmt. Fragt man nach dem Verhältnis zur Wie-Aussage, so spricht die Unterscheidung von zwei gegensätzlichen Menschenarten dafür, daß die So-Aussage speziell unter dem Einfluß von deren zweiten Satz formuliert worden ist. Der Akzent dieses Satzes ist jedoch deutlich verschoben. Denn daß die Eltern den liederlichen Söhnen "mehr" Gunst erweisen als den besonnenen, läßt eigentlich den Gedanken erwarten, Gott sorge "mehr" für die schuldig Lebenden als für die Vernünftigen. Statt dessen ist ohne jede Quantifizierung von der Fürsorge für beide die Rede, auch wenn die Zuwendung zu den Schuldigen im Vordergrund des Interesses steht. Das heißt aber: Alle Spezifika des Paradigmas vom Vater mit zwei gegensätzlichen Söhnen sind übergangen. Es ist deswegen weder notwendig, den Verdacht einer Bevorzugung der schuldig Lebenden zurückzuweisen, noch braucht Gott etwas zugeschrieben zu werden, was als Analogie zum Wissen der Eltern verstanden werden kann. Es müssen vielmehr Argumente angeführt werden, die die Fürsorge für die Schuldigen ganz unabhängig vom Blick auf die Vernünftigen begründen. Angesichts der Entfernung der So-Aussage von der Wie-Aussage ist es verständlich, daß sich nur eine einzige Parallele zu quaest Gen IV, 198 (Text IX) findet: Daß die Unvernünftigen als ü n a i x i u q cwvxec bezeichnet werden, erinnert an die Charakterisierung des unmoralischen Sohnes als üiTotixioc Entsprechend gering sind die Berührungen mit Lk 15, 11-32.
1
Vgl. Siegfried, aaO. 265; Berger, aaO. 67, bes. Anm. 25.
298
Es gibt Parallelen
Zwar kann formal miteinander verglichen werden, daß Gottes Fürsorge den Vernünftigen und den Schuldigen gilt und daß der Vater zum gehorsamen und zum frevlerischen Sohn ein positives Verhältnis hat. Im einzelnen aber geht jeder der beiden Texte seinen eigenen Weg. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, wie verschieden das gemeinsame Motiv der Umkehr zur Sprache gebracht wird: Für die schuldig Lebenden kommt es als von Gott geschenkte Zeit zur Besserung und für den jüngeren Sohn als von ihm selber vollzogene Tat in den Blick. Die jeweilige Besonderheit darf nun freilich nicht vergessen machen, daß es, wenn man die Wie-Aussage in die Überlegungen einbezieht, eine fundamentale Gemeinsamkeit gibt: Beide Texte sprechen von Gottes Vatersein gegenüber Sündern/Schuldigen und Gerechten/Vernünftigen, ja, sie tun das unter Zuhilfenahme des gleichen hellenistisch-römischen Paradigmas von einem Vater mit einem unmoralischen und einem moralischen Sohn. Innerhalb dieser Gemeinsamkeit gibt es zwei nicht weniger fundamentale Differenzen: Erstens wird bei Philo in die beiden Teile eines besprechenden Vergleichs auseinandergelegt, was bei Jesus als die Einheit eines erzählenden Gleichnisses erscheint. Und zweitens läßt Philo die "Vorlage" fast ganz außer acht, als er seine theologische Aussage formuliert, während Jesus diese als narrative Entfaltung von jener vorträgt. Fassen wir prov II, 15 im ganzen ins Auge, so zeigt sich, daß das, was die Vorkämpfer der Wahrheit erkannt haben, eine Zusammenfassung von Philos eigener, insbesondere stoisch beeinflußter Gotteslehre ist. Sie wird aufgrund des Kontextes als Lehre von der irpövoia vorgetragen, die dadurch einen besonderen Akzent erhält, daß der Text auf einen Vergleich zuläuft, der das Paradigma vom Vater mit zwei Söhnen zur Basis hat. Dieses Paradigma wird zwar der Aussageabsicht angepaßt, bleibt aber als solches erkennbar, so daß ein weiteres Mal belegt ist, wie souverän Philo damit umzugehen versteht. Er ist so sehr mit der Plausibilitätsstruktur des Exempels vertraut, daß er es dreimal in je verschiedener Weise der eigenen Argumentation nutzbar machen kann: Bei der Exegese von Gen 27, 3f in quaest Gen IV, 198 (Text IX) gelingt es ihm, den Gedanken, der der Konstruktion der analogen Deklamationsthemen zugrundeliegt, im ganzen zur Sprache zu bringen. Bei der Exegese von Gen 27, 40 in prob 57 (Text X) dagegen ist es zwar möglich, das zentrale Motiv von der Zuwendung des Vaters zu seinem unmoralischen Sohn zu rezipieren. Doch
4. Philo von Alexandrien
299
verbietet es hier die Besonderheit der biblischen Aussage, die Zuwendung vor dem Verdacht einer Bevorzugung vor dem moralischen Sohn in Schutz zu nehmen. Sie muß vielmehr für den Betroffenen selbst als Manifestation väterlichen Mitleids erwiesen werden. Das ist bei dem Vergleich von prov n, 15 (Text XI) nicht erforderlich. Wenn trotzdem auch hier der Verdacht auf Bevorzugung der unmoralischen Söhne nicht abgewehrt zu werden braucht, dann deswegen, weil sich die Eltern ihnen nicht ausschließlich, sondern lediglich "mehr" zuwenden als den moralischen Söhnen. Alle drei Texte zeichnen sich dadurch aus, daß Philo als Reflexion darbietet, was Jesus in Lk 15,11-32 als Erzählung vorträgt. Beide "Autoren" verschmelzen also zur Einheit einer je verschiedenen, aber in sich suffizienten Redeform, was in der Rhetorik als Deklamationsthema und als Deklamation voneinander unterschieden wird, wenn es auch unverzichtbar aufeinander bezogen bleibt. Deswegen verwundert es nicht, daß sich jeder der drei Texte Philos in vielfältiger Weise mit dem neutestamentlichen Gleichnis berührt. Das erklärt sich aus der gemeinsamen "Vorlage". Diese macht insbesondere verständlich, daß sich jedesmal eine Entsprechung zu der mit der Barmherzigkeit des Vaters motivierten Restitution der Sohnschaft des jüngeren Sohnes findet (Lk 15,20b-c.22). Verständlich wird aber auch, warum keine Parallele zur eigentlichen Pointe in Lk 15, 23f.32 nachgewiesen werden kann. Denn die Pointe hat zwar das zentrale Strukturmerkmal der Zuwendung des Vaters zum unmoralischen Sohn zur Basis, führt durch das Motiv der Freude jedoch darüber hinaus. Trotzdem darf sie der Sache nach nicht vorschnell als analogielos bezeichnet werden. Denn Klaus Berger hat darauf aufmerksam gemacht, daß Philo in virt 179 in ganz ähnlicher Weise zur Mitfreude mit Heiden, die umgekehrt sind, auffordert wie der Vater in Lk 15, 23f.32 zur Beteiligung an der Freude über die Rückkehr seines frevlerischen Sohnes1: Statt eü4>pav6wnev bzw. ev)(j>pavönvoi Se Kai xapnvai e6ei heißt es: oic (sc. den Bekehrten) xpn Kai auvnSeoöai; und statt öxi ouxoq o uiöq you veicpöc nv Kai ctvecnaev, fiv änoXwXwq Kai. eüpeön wird zur Begründung angeführt: Kaöäirep äv ei Kai xu^Xoi npöxepov ovxec; dveBXeipav ¿K ßaöuxäxou O K O X O U Q auvoexSeaxaxov iSövxeq.
1
Berger, aaO. 73.
300
Es gibt Parallelen
Das hellenistisch-römische Paradigma selber vermag nicht zu erklären, warum Philo dessen Personenrepertoire in prov II, 15 (Text XI) einmal auf Gott, auf die vernünftigen und auf die schuldigen Menschen bezieht. Das stellt zwar eine erstaunliche Parallelität zu Lk 15,11-32 dar. Doch wäre es verfehlt, wollte man daraufhin von einem direkten Zusammenhang zwischen beiden Texten sprechen. Das verbietet sich bereits aufgrund der formgeschichtlichen Differenz von Vergleich und Gleichnis. Die Berührungen sind zureichend erklärt, wenn man annimmt, daß das gleiche Paradigma unabhängig voneinander zur Explikation der traditionellen Metaphorik von Gott als Vater und den Menschen als seinen Söhnen herangezogen worden ist. Das jetzige Kapitel hat nachzuweisen versucht, daß Deklamationsthemen von einem Mann mit zwei moralisch gegensätzlichen Söhnen von Philo von Alexandrien als einem Vertreter des hellenistischen Judentums rezipiert worden sind. Im folgenden Kapitel möchte ich daraufhin der Frage nachgehen, ob sich mit einer solchen Rezeption auch für das palästinische Judentum als der Heimat Jesu rechnen läßt. Es gilt denjenigen rabbinischen Gleichnissen, die als Parallelen für Lk 15, 11-32 im ganzen in Anspruch genommen werden können. Sie erhellen insbesondere das Handeln des Vaters, vermögen mit einer Ausnahme dagegen nur wenig Licht auf das spezifische Profil der beiden Söhne zu werfen. Anschließend wende ich mich deswegen einer Gruppe rabbinischer Gleichnisse zu, die unübersehbare Analogien zur Gestalt des jüngeren, wenn auch nicht des älteren Sohnes bieten. Sie können als Parallelen zum ersten Teil von Lk 15, 11-32 verstanden werden.
301
5. Rabbinische Gleichnisse von einem König, der zwei Söhne hatte1
Es gibt im rabbinischen Judentum mindestens vier Gleichnisse, die von einem König handeln, der zwei Söhne hatte. Sie heben übereinstimmend die Gegensätzlichkeit der Söhne hervor, die dreimal im Alter und nur einmal in der Moralität gesehen wird. Einsetzen möchte ich bei einer Einheit, deren Maschal schon mehrfach, wenn auch nur anmerkungsweise, mit Lk 15,11-32 in Verbindung gebracht worden ist.2 Sie findet sich in ihrer primären Fassung in MidrTill zu 9,1(1)3, wo lediglich die Zuordnung zu Ps 9, 1 sekundär sein dürfte.4 Text XII: "'Dem Sangmeister p 1 ? MO "75* (Ps 9,1). Das ist, was die Schrift sagt: 'Alles hat er schön gemacht für seine Zeit, auch die Ewigkeit hat er in ihr Herz gelegt (M'ja Ö'JWn flK)' (Pred 3,11). R. Berekhja (pal. Amoräer der 5. Generation) sagte im Namen R. Jonathans (pal. Amoräer der 1. Generation): Lies nicht 'die Ewigkeit (0^1971)', sondern 'die Liebe zu den Kindern (D ,l ? , ?iy HanX) hat er in das Herz ihrer Väter (OHTllDK 03"?3) gelegt'. Ein Gleichnis. (Sc. Wem gleicht die Sache?) Einem König, der zwei Söhne hatte. Einer war groß/älter und einer war klein/jünger ("WtCl 5 "TU IflK D ' t t ">VB l1? VntP Y?»1? ]üp). Der große/ältere war geehrt und der kleine/jüngere war beschmutzt. Und5 trotzdem liebte er (3H1K) den kleinen/jüngeren mehr als den großen/älteren."
Der Abschnitt des Midraschs wird durch eine anonyme Exegese des Anfangs von Ps 9, 1 eröffnet. Ihr liegt die Entdeckung zugrunde, daß
1
In den beiden folgenden Kapiteln sind als Hilfsmittel durchgehend herangezogen worden a) für das Verständnis der exegetischen Technik und ihrer Terminologie: W. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur, I-II, 1899/1901, Nachdr. 1965; b) für die Identifikation der Gelehrten, denen eine Tradition zugeschrieben wird: W. Bacher, Die Agada der Tannaiten, I, 21903; II, 1890, ders., Die Agada der babylonischen Amoräer, 1878; ders., Die Agada der palästinischen Amoräer, I-III, 1892-1899, Nachdr. 1965; H. L. Strack, Einleitung in Talmud und Midrasch, s1920, Nachdr. 1961,116ff. 2
Vgl. z.B. J. D. M. Derrett, Law in the New Testament: The Parable of the Prodigal Son, in: NTS 14, 1967f, 56-74, hier 68 Anm. 3; Schottroff, Gleichnis vom verlorenen Sohn, 44 Anm. 79; Berger, Gleichnisse als Texte, 61 Anm. 1. 3
Text nach: S. Buber (Hrsg.), D ^ n j l EH "TO, Wilna 1892, 79.
4
Die Variante in KohR zu 3, 11(3) kennt die Verbindung mit Ps 9 , 1 nicht, ist mit den vielen Besonderheiten, die den Rahmen auszeichnet, im übrigen aber durchweg sekundär. 5
"Und" fehlt in KohR zu 3,11(3).
302
Es gibt Parallelen
ia"7 m a im Sinne von DD'?a...D,?iyn aus Pred 3, 11 zu verstehen ist, und um dieser Entdeckung die Form einer Exegese zu geben, genügt es, Pred 3, 11 mit Hilfe einer einleitenden Formel zu zitieren. Es folgt ein unter Berufung auf R. Jonathan formulierter Spruch R. B'rekhjas, dessen erste Hälfte einer Exegese von Pred 3, 11 enthält, die zwar ebenfalls an den Konsonantenbestand anknüpft, diesen jedoch nicht durch eine weitere Schriftstelle, sondern in freier Hagada deutet. Man solle, so heißt es unter Benutzung einer verbreiteten Formel, in Pred 3,11 nicht D^isn lesen, sondern D,'?'?157. Der "Lesevorschlag" wird allerdings mit zwei Verdeutlichungen verbunden: Erstens beziehe sich das Suffix von QS'ja auf OiPmaN, und zweitens sei den Väternmit den speziell die D^Tiy n a n s in die Herzen gelegt. Pred 3,11 ist also zu lesen: "Die Liebe zu den Kindern hat er in das Herz ihrer Väter gelegt." In der zweiten Hälfte des Spruches stellt R. B'rekhja die Wahrheit seiner Exegese durch einen Maschal unter Beweis. Nach einer der üblichen Einleitungsformeln1 konfrontiert der erste Satz den Hörer mit dem Fall eines Königs in der Rolle des Vaters, der zwei Söhne hat. Er weckt die Erwartung, daß die Söhne gegensätzlicher Art sind. Die beiden folgenden Sätze bestätigen diese Erwartung. Zunächst heißt es, daß der eine Sohn groß, d.h. älter und mündig, und der andere klein, d.h. jünger und unmündig ist. Anschließend erfahren wir, worin sich die Altersdifferenz manifestiert: Während der ältere Sohn bereits von anderen geehrt wird, läuft der jüngere noch als beschmutztes Kind herum. Der Hörer weiß, daß es den Normen der Erwachsenenwelt entspricht, die Ehre zu schätzen und den Schmutz zu verachten. Er weiß aber auch, daß ein Vater noch anderen Normen verpflichtet ist als denen der Erwachsenenwelt. Deswegen wird er kaum seine Zustimmung versagen können, als er durch die Pointe erfährt, daß der König den jüngeren Sohn trotz seines Schmutzes mehr liebt als den älteren. Denn es ist zwar zu beachten, daß die Pointe keine explizite Begründung enthält. Doch soll die königliche Liebe dadurch keineswegs als irrational oder gar willkürlich charakterisiert werden. Vorausgesetzt ist vielmehr, daß gerade derjenige die Zuwendung des Vaters verdient, der aufgrund seiner Unselbständigkeit elementar darauf angewiesen ist. Er
1
Am verbreitetsten sind: a) *? HOIT I S T H HÖ1? b) *? c) *?. Vgl. Bacher, Terminologie, I, 121f; II, 121; Bill. II, 7f; Jeremias, Gleichnisse Jesu, 99f.
5. Rabbinische Gleichnisse (1)
303
verdient sie jedenfalls mehr als derjenige, der es aufgrund seiner Selbständigkeit schon zu Ansehen gebracht hat. Die Pointe signalisiert dem Hörer, daß das Gleichnis seine Aufgabe erfüllt hat: Ja, es stimmt, soll er sagen, die Geschichte von einem königlichen Vater, der seinen jüngeren Sohn mehr "liebt" (amS) als den älteren, erhärtet die Wahrheit der Aussage von Pred 3, 11, daß Gott den Vätern "die Liebe zu den Kindern" ( D ^ W rQHR) in ihr Herz gelegt hat. Es besteht also eine deutliche Korrespondenz zwischen dem Gleichnis und seinem Rahmen. Daraus folgt, daß der Maschal nicht als ganzer übernommen worden sein kann, sondern erst ad hoc erfunden worden ist. Zugleich aber stellt sich die Frage: Warum konstruiert der Hagadist eine Geschichte, für die die Einführung einer Kontrastfigur zum jüngeren Sohn von ausschlaggebender Bedeutung ist? Im "Lesevorschlag" zu Pred 3, 11 jedenfalls hat die Figur des älteren Sohnes keinerlei Basis. Als Antwort drängt sich die Vermutung auf, daß R. B'rekhja sich für den Beweis der Richtigkeit seiner exegetischen Erkenntnis zu Pred 3, 11 die Überzeugungskraft zunutze gemacht hat, die das hellenistisch-römische Paradigma vom Vater mit zwei Söhnen besitzt. Es kann ja kaum auf bloßem Zufall beruhen, daß der Maschal mit dem gleichen, die Einheit als ganze strukturierenden Satz beginnt wie die Deklamationsthemen des "aeger redemptus" (Text V) und des "nepos ex meretricio susceptus" in der sekundären Fassung (Text Vlla) 1 : Statt eines "quidam" hat ein König zwei Söhne.2 Ein solcher Satz verlangt nach einer Fortsetzung, in der die Gegensätzlichkeit der Söhne hervorgehoben wird. Sie bezieht sich das eine Mal auf die Moralität, in der sich der "frugi" und der "luxuriosus", und das andere Mal auf das Alter, in dem sich der "große" und der "kleine" Sohn voneinander unterscheiden. Die Betonung der Gegensätzlichkeit aber ist die Voraussetzung dafür, daß der "Erzähler" den unmoralischen und nicht den moralischen Sohn anschließend in eine extreme Notsituation geraten läßt, während er den jüngeren Sohn als beschmutzt, den älteren dagegen als geehrt bezeichnet. Denn die Not soll Mitleid mit dem Hilflosen, die Beschmutzung das Gefühl der Verantwortung für den Unselbständigen
1 2
Vgl. auch Text VI.
Zur Beliebtheit des Königs als zentraler Gleichnisfigur vgl. I. Ziegler, Die Königsgleichnisse des Midrasch, beleuchtet durch die römische Kaiserzeit, 1903.
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Es gibt Parallelen
erregen. Abgehoben wird dabei speziell auf die Identifikation mit dem Vater, wird im Rezeptionshorizont der Texte doch erwartet, daß ein Vater den ihm an sich ferner stehenden Sohn gerade dann seine Nähe spüren läßt, wenn dieser ihrer bedarf. Es verwundert deswegen nicht, daß der "quidam" dem unmoralischen Sohn mit seiner Hilfe und der König dem jüngeren Sohn mit seiner Liebe entgegenkommt. Auf der Basis der beschriebenen Entsprechungen gibt es nun freilich mehrere Differenzen. Die erste betrifft den Schluß: Beim Deklamationsthema protestiert der moralische Sohn gegen die Hilfe für den unmoralischen, damit der Deklamator den Vater gegen den Vorwurf der Ungerechtigkeit in Schutz nehmen kann. Im Maschal dagegen heißt es zwar, der König liebe den jüngeren Sohn "mehr" als den älteren, so daß vorausgesetzt ist, dieser empfange "weniger" Liebe als jener. Ja, da die Liebe nur gegenüber dem jüngeren Sohn motiviert wird, dürfte der Komparativ faktisch exklusiv gemeint sein. Doch ist trotzdem weder von einem Protest des älteren Sohnes die Rede, noch wird ein solcher Protest entkräftet. Das eine wie das andere ist von der Sache her ausgeschlossen, weil die Liebe hier als eine Tugend erscheint, die ein Vater speziell dem Unmündigen entgegenbringt. Beim Mündigen tritt an ihre Stelle die Ehrung durch andere. Die zweite Differenz betrifft die Form: Während die Deklamationsthemen der Ergänzung durch die Deklamation bedürfen, stellt der Maschal eine in sich suffiziente "narratio" dar. Zwar fällt auf, daß soviel wie ganz die literarischen Merkmale fehlen, die üblicherweise eine Erzählung auszeichnen. Doch wählt der Hagadist seine Worte so treffsicher, daß der Hörer das Geschehen auch ohne zusätzliche Signale zu bewerten weiß. Die dritte Differenz hängt aufs engste mit der zweiten zusammen: Obwohl die Deklamationsthemen keine ausgeführten Erzählungen sind, stellen sie durch die Komplexität ihrer Ereignis- und Handlungsfolge ein Maximum des Rohmaterials zur Verfügung, das ein geschulter Erzähler braucht, um den Hörer in die erzählte Welt verwickeln zu können. Die "narratio" des Maschal dagegen erzählt weder von Ereignissen noch von Handlungen. Bei den Söhnen hebt sie neben dem Alter lediglich ein ebenso unanschauliches wie generelles, altersspezifisches Merkmal hervor, dessen individueller Hintergrund im Dunkeln bleibt, und beim Vater erwähnt sie nicht mehr als eine genauso unanschauliche und generelle, als
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besonders väterlich anerkannte Tugend, ohne daß wir erfahren, in welchen Taten diese sich manifestiert. Der Unterschied signalisiert nicht etwa, daß der Maschal konstruierter ist als die Deklamationsthemen, wohl aber, daß er sehr viel unmittelbarer eine gedankliche Aufgabe zu erfüllen hat: Er stellt, insofern er Maschal ist, zwar eine "narratio" dar, verliert jedoch im selben Maße die Technik einer narrativen Darbietung des Geschehens aus dem Auge, wie er möglichst direkt die Wahrheit der von R. B'rekhja vorgeschlagenen Lesung von Pred 3,11 zu erhärten hat. Das Interesse an der genauen Korrespondenz der Gleichnispointe mit dem Lesevorschlag läßt alles andere in den Hintergrund treten. Die Nähe zum "Gedanken" verbindet MidrTill zu 9,1(1) mit quaest Gen IV, 198 {Text IX). Dort stellt Philo die Frage nach der Bedeutung von Gen 27, 3f, und hier schlägt R. B'rekhja eine Lesung von Pred 3, 11 vor. Ersterer möchte dementsprechend erklären, warum die Tora davon spricht, daß Isaak Esau segnen will, und letzterer möchte beweisen, daß Gott den Vätern die Liebe zu den Kindern ins Herz gelegt hat. Dabei wird die Erklärung von Gen 27, 3f in Form einer besprechenden Argumentation vorgetragen, die einem Gedanken gleichkommt, der Beweis fiir die Richtigkeit der Lesung von Pred 3,11 dagegen in Form eines erzählenden Maschal, dessen gedankliche Substruktur unübersehbar ist. Noch erstaunlicher ist, daß beide Autoren für die Lösung ihrer exegetischen Aufgabe trotz des formgeschichtlichen Unterschiedes auf das gleiche Paradigma vom Vater mit zwei Söhnen zurückgreifen, spricht die Aufgabe selber doch nur von einem Vater im Gegenüber zu einem Sohn bzw. von Vätern mit einer als Einheit vorgestellten Gruppe von Kindern. Philo setzt den Fall, daß Isaak einen guten und einen schuldigen, und R. B'rekhja, daß ein König einen älteren und einen jüngeren Sohn hat. Der eine sieht den Gegensatz der Söhne also in der Moralität und der andere im Alter. Ersteres ermöglicht, die Absicht zur Segnung Esaus als Hilfe für einen unmoralischen Sohn verständlich zu machen, und letzteres schafft die Voraussetzung dafür, daß die Liebe von Vätern zu ihren Kindern am Beispiel der Liebe zu einem unselbständigen Sohn vor Augen geführt werden kann. Die Durchführung im einzelnen zeigt freilich große Unterschiede: Während Philo den Vater gegen den Verdacht einer Bevorzugung des Gesegneten absichert, kann R. B'rekhja auf eine analoge Absicherung verzichten. Denn er macht deutlich, daß die Liebe des Vaters
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gegenüber dem jüngeren Sohn durch dessen Beschmutzung motiviert ist, der ältere Sohn dagegen der Liebe nicht mehr bedarf, weil sie bei ihm durch die Ehrung von anderen kompensiert wird. Der Vergleich belegt, daß das palästinische Judentum des Rabbinats ganz ähnliche Formen exegetischer Arbeit entwickelt hat wie das hellenistische Judentum, das uns in Philo von Alexandrien begegnet. Das Besondere an unserem Beispiel besteht darin, daß R. B'rekhja und Philo unabhängig voneinander auf die Idee gekommen sind, den Sinn einer Schriftstelle mit Hilfe eines Paradigmas zu erhellen, das der rhetorischen Welt entstammt. Sie haben es zwar in eine jeweils verschiedene literarische Form transformiert, trotz aller Besonderheiten dabei jedoch die Plausibilitätsstrukturder "Vorlage" festgehalten. Beide haben in unterschiedlicher Weise aber auch das Maximum an Irrealität, das für die analogen Deklamationsthemen so charakteristisch ist, auf ein absolutes Minimum reduziert. Das fällt auf vor allem beim Maschal, stellt dieser doch eine "narratio" dar, die an sich die idealen Voraussetzungen für die Tradierung und Motivierung einer irrealen Ereignis- und Handlungsfolge bietet. R. B e rekhja hat davon jedoch genausowenig Gebrauch gemacht wie Philo, der keine "narratio", sondern eine Argumentation vorträgt. Warum? Weil auch er die rhetorische "Vorlage" für die Exegese instrumentalisiert und so die Tendenz zur hemmungslosen Fiktionalisierung der Realität blockiert, die bei der Ausrichtung auf eine Deklamation nur schwer zu vermeiden ist. Angesichts der Gemeinsamkeiten ist eigens zu notieren, daß R. B'rekhjas Maschal sich von quaest Gen IV, 198 an zwei Punkten unterscheidet, die bereits als Besonderheiten gegenüber dem "aeger redemptus" (Text V) und der sekundären Fassung des "nepos ex meretricio susceptus" (Text Vlla) aufgefallen sind: Erstens wird die väterliche Liebe nicht gegen den Verdacht einer Bevorzugung des Geliebten verteidigt, und zweitens bezieht sich die Gegensätzlichkeit der Söhne nicht auf die Moralität, sondern auf das Alter. Die erste Besonderheit verliert an Gewicht, wenn man sich klarmacht, daß sie sich auch bei den beiden innerphilonischen Varianten feststellen läßt.1 Denn auch hier kann sie aus dem jeweiligen Kontext erklärt werden, der trotzdem nicht dazu führt, daß die patriarchale Logik des Paradigmas
1
S.o.S. 280.293ff.
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verletzt wird. Die zweite Besonderheit dagegen findet sich bisher nur in MidrTill zu 9, 1(1). Sie dürfte allerdings mehr als einen individuellen Einfall R. B'rekhjas widerspiegeln. Dafür spricht bereits die Beobachtung, daß die Fabel vom liederlichen Jüngling und der Schwalbe (Text III) den Verschleuderer des väterlichen Erbes als veoc vorstellt. Dafür spricht weiter der Traumbericht Artemidors von Daldis (Text IV), stehen sich hier doch die Sympathiefigur des v e w x e p o c ; U I Ö Q und die Antipathiefigur der beiden anderen - sc. älteren - Söhne gegenüber. Und dafür spricht vor allem, daß es in der rabbinischen Überlieferung noch andere Gleichnisse gibt, die von einem König handeln, der einen älteren und einen jüngeren Sohn hat. Der zweite Maschal dieser Art findet sich in BerR XXX, 10.1 Text XIII: "'Noah wandelte mit Gott' (Gen 6, 9). R. Jehuda (Tannait der 3. Generation) sagte: (Sc. Ein Gleichnis. Wem gleicht die Sache?) Einem König, der zwei Söhne hatte. Einer war groß/älter und einer war klein/jUnger. Er sagte zu dem kleinen/jüngeren: Gehe mit mir ( ' Q ' S II 1 ?!!). Und zu dem großen/älteren: Gehe vor mir ("JS 1 ? 1T?H). So ( 1 3 ) : Abraham, dessen Kraft gut (HB'') war: 'Wandle vor mir' ('3D1? "pHIin, Gen 17,1). Noah, dessen Kraft böse (JH) war: "Noah wandelte mit Gott' (DTlTiKH I1K m T ? n n n , Gen 6,9)."
Der Abschnitt des Midrasch vollzieht einen Dreischritt, besitzt also den Aufbau, der für die meisten rabbinischen Gleichnisüberlieferungen charakteristisch ist. Zu Beginn wird die zu erklärende Schriftstelle zitiert, hier der Schluß von Gen 6, 9. Daran schließt sich ein zweiteiliger Spruch an, hier R. J'hudas. Der erste Teil enthält nach einer der üblichen Einleitungsformeln - hier bloßes - den eigentlichen Maschal. Der zweite Teil, der durch 13 deutlich abgesetzt wird, bietet dazu die Anwendung. Er zitiert am Schluß die gleiche Schriftstelle wie am Anfang, hier also den Schluß von Gen 6, 9, um so zu signalisieren, daß die Exegese ihr Ziel erreicht hat. Es erstaunt, daß R. J'huda zur Erklärung von Gen 6, 9 einen Maschal erzählt, der bis in jedes einzelne Wort hinein den gleichen Anfang besitzt wie der, den R. B'rekhja für die Lösung einer ganz andersartigen
1
Text nach: J. Theodor/Ch. Albeck (Hrsg.), Midrash Bereshit Rabba, I-III, Jerusalem 1965, hier I, 276; von Flusser, aaO. 39 (vgl. 48 Anm. 19), zitiert als Parallele zu Mt 21, 2831. 2
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exegetischen Aufgabe bildet. Das ist zunächst ein Beispiel für den Schematismus, zu dem rabbinische Gleichnisse neigen, jedoch keineswegs ein Indiz für direkte Abhängigkeit. Denn es dürfte kaum zufällig sein, daß die Übereinstimmung nur genausoweit reicht wie beim "aeger redemptus" (Text V) und bei der sekundären Fassung des "nepos ex meretricio susceptus" (Text Vlla) 1 : Sie beschränkt sich auf den Einleitungssatz vom König, der zwei Söhne hat, und die anschließende Hervorhebung von deren Altersgegensatz. Darin kommt ähnlich wie bei den Deklamationsthemen zum Ausdruck, daß die Eröffnung einen Erwartungshorizont aufbaut, der einerseits zwar nicht verletzt werden darf, andererseits aber sehr verschieden realisiert werden kann. Dementsprechend fährt R. J'huda ganz anders fort als R. B'rekhja und kommt trotzdem zu einem Maschal, der die gleiche Kohärenz aufweist wie der seines amoräischen Kollegen. Die Eröffnung legt fest, daß der König seine besondere Zuwendung nicht dem älteren, sondern dem jüngeren Sohn zukommen läßt. R. J e huda braucht im Unterschied zu R. Bcrekhja jedoch keinen Satz zu erfinden, der die Zuwendung motiviert. Er kann vielmehr unmittelbar zur Pointe übergehen, weil diese so formuliert ist, daß die Eröffnung selber eine Motivation enthält: Aufgrund der Schutzbedürftigkeit, die die Kleinheit signalisiert, fordert der königliche Vater den jüngeren Sohn auf, er solle "mit" ihm gehen, während er den älteren aufgrund der Größe als einem Indiz für seine Selbständigkeit anweist, er solle "vor" ihm gehen.2 Liest man den Maschal als Erklärung von Gen 6, 9, so ist auch hier leicht zu erkennen, daß die bekannte "Vorlage" aufgegriffen wird. Denn erstens fällt auf, daß das in der Schriftstelle enthaltene Gegenüber von Gott und Noah nicht durch den Fall eines Königs, der einen, sondern der zwei Söhne hat, erhellt werden soll.3 Zweitens versteht es sich ja durchaus nicht von selbst, daß dieses Gegenüber an einem Vater mit Söhnen verdeutlicht wird. Erst der erste Teil der Pointe enthüllt, daß der König auf Gott und der jüngere Sohn auf Noah zu beziehen ist. Noahs Wandel mit
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Vgl. Text VI.
2
Das Motiv des Gehens "vor" jemandem wird sehr schön erläutert durch die beiden Gleichnisse in M'khütha, BeSallah IV, zu 14, 19 (R. J'huda!), und Jithro II, zu 19, 4 (anonym); zitiert bei Fiebig, Altjttdische Gleichnisse, 29f.47. 3
Falls, wie u.S. 311 Anm. 1 erwogen wird, der Maschal ursprünglich das Verhältnis von Gen 6,9 zu 17,1 beleuchtet, entfällt dieses Argument.
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Gott meint dementsprechend, daß Gott dem Patriarchen seinen besonderen Schutz angedeihen läßt. Er läßt ihm den, so fügt der zweite Teil der Pointe hinzu, jedenfalls mehr angedeihen als demjenigen, der so wie der ältere Sohn in der Lage ist, "vor" ihm zu gehen. Da der erste Teil der Pointe in Korrespondenz zu Gen 6, 9 formuliert ist, spricht auch hier alles dafür, daß der Maschal ad hoc erfanden worden ist. Dabei fällt jedoch auf: Erstens ist die Korrespondenz im Hebräischen nicht ohne weiteres zu erkennen. Zweitens ist in Gen 6, 9 nicht von Vater und Sohn, sondern von Gott und Noah die Rede. Und drittens enthält die Pointe einen zweiten Teil, der ohne Anhalt an Gen 6, 9 ist. Alle drei Besonderheiten machen darauf aufmerksam, daß sich die Übertragung der Pointe anders als bei MidrTill zu 9, 1(1) nicht von selbst versteht. Der Hagadist gibt ihr deswegen eine Anwendung, die chiastisch aufgebaut ist und zunächst erläutert, daß sich die königliche Anweisung an den älteren Sohn auf das in Gen 17,1 festgehaltene Wort Gottes bezieht, Abraham solle "vor" ihm wandeln: 1
'IS? T?nnn in
11
2ö'? "|T?n
im Gleichnis entspricht
der Schrift. Anschließend wird explizit gemacht, daß die
Aufforderung an den jüngeren Sohn in der Tat die Aufgabe hat, die Aussage von Gen 6, 9 über Noahs Wandel "mit" Gott zu erklären: 1T?H 'Ö'y im Gleichnis entspricht m
T?ann Dim'?xn
DK in der Schrift. Es
überrascht freilich, daß die Patriarchen dabei jeweils durch ein Stichwort charakterisiert werden, das weder dem Gleichnis noch den in der Anwendung zitierten Schriftstellen entnommen werden kann: Abrahams Kraft sei HD1* und Noahs Kraft sei 3H gewesen. Es läßt sich nachweisen, daß das erstaunliche Urteil über Noah in seiner Zugehörigkeit zur Generation der Sintflut begründet ist.1 Hier allerdings wird es nur deswegen aufgegriffen, weil der moralische Gegensatz zu Abraham betont werden soll. Wahrscheinlich spiegelt dieser Gegensatz die Rezeption eines wichtigen Strukturmoments des rhetorischen Paradigmas wider, das als ganzes ja bereits dem Maschal selber zugrundeliegt. Offenbar lag es aber auch nahe, den jüngeren Sohn auf eine böse und den
Vgl. BerR XXX, 9, wo R. Jehuda ausführt, Noah werde in Gen 6, 9 nur im Hinblick auf seine Zeitgenossen als gerecht bezeichnet. "Hätte er aber in der Zeit Moses oder Samuels gelebt, so wäre er es nicht gewesen." Denn, so wird durch ein Sprichwort erläutert, das an Schärfe nichts zu wünschen übrig läßt: "Auf der Straße, wo Blinde sind, wird ein Einäugiger ein Hellsehender genannt." 1
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älteren auf eine gute Gestalt zu beziehen. Die Selbstverständlichkeit jedenfalls, mit der die Anwendung die Neuakzentuierung vornimmt, ist anders schwer zu erklären. Wie dem aber auch sei, das Ergebnis ist: So wie der König den jüngeren Sohn "mit" sich, den älteren dagegen "vor" sich gehen läßt, so schenkt Gott seine besondere Nähe dem wegen seiner Schutzbedürftigkeit darauf angewiesenen bösen Noah, während er dem guten Abraham wegen seiner Selbständigkeit den Schutz vorenthält. Gott verhält sich also ähnlich wie der Vater der analogen Deklamationsthemen (Text V. Vlla) gegenüber dem verschwenderischen im Unterschied zum sparsamen oder wie Isaak nach quaest Gen IV, 198 (Text IX) gegenüber dem schuldigen im Unterschied zum guten Sohn.1 Zu erinnern aber ist besonders an die Eltern, die nach prov II, 15 (Text XI) den liederlichen Söhnen oftmals mehr Gunst erweisen als den besonnenen, werden diese doch ausdrücklich mit dem göttlichen Vater verglichen, der sich auch um die schuldig lebenden Menschen kümmert. Die Analyse führt zu dem Ergebnis, daß R. J e huda das hellenistischrömische Paradigma vom Vater mit zwei Söhnen genauso selbständig verarbeitet wie R. B'rekhja. Er unterscheidet sich von diesem vor allem an zwei Punkten: Der Altersgegensatz der Söhne wird mit dem der Moralität verbunden, und das Personenrepertoire wird auf Gottes Verhältnis zu Menschen bezogen. Ersteres stellt eine Angleichung an die "Vorlage" dar, die ihrerseits topisch bedingt sein dürfte, und letzteres ist uns einmal bereits bei Philo von Alexandrien begegnet. Beides tangiert jedoch nicht die literarische Eigenart des Maschal. Diese tritt hier vielmehr noch deutlicher zutage als in MidrTill zu 9, 1(1). Denn gerade wenn man sieht, wie genau sich der Anfang entspricht, springt ins Auge, wie kurz die Fortsetzung ist. Sie gibt dem Hörer keinerlei Chance, sich der Eigengesetzlichkeit der erzählten Welt anzuvertrauen. Kaum ist der Ausgangspunkt genannt, und schon folgt der Schluß. Es fehlt jedes Element, das als Relikt eines Hauptteils verstanden werden kann, und sei dieser wie bei R. B'rekhja zusammengeschrumpft auf einen einzigen kurzen Satz. Es fehlt, weil R. J e huda in der Lage ist, die Pointe bereits durch die Eröffnung selber zu motivieren. Denn allein auf die Pointe kommt es ihm an. Sie muß in enger Anlehnung an die beiden Schriftstellen von Gen 6, 9 und
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Vgl. prob 57 (Text X).
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17, 1 formuliert werden, deren Exegese das Gleichnis dient.1 Das führt notwendigerweise zu Aussagen, die sich nur gewaltsam in eine kurze Erzählung integrieren lassen. Gerade so aber beleuchten sie exemplarisch, welche Konsequenzen die Instrumentalisierung einer "narratio" für die Exegese haben kann - nicht muß! Trotzdem erübrigt es sich nicht, eine Anwendung folgen zu lassen. Diese unterstreicht noch einmal die geringe Autonomie des Maschal und bildet schon insofern mit ihm eine untrennbare, organische Einheit. Wenden wir uns nun dem Vergleich mit Lk 15, 11-32 zu, so fällt als erstes auf, daß das Gleichnis Jesu mit dem gleichen Satz eröffnet wird wie die beiden rabbinischen Gleichnisse: Ein Mann bzw. ein König hatte zwei Söhne. Er belegt, daß alle drei Autoren eine "narratio" erfanden haben, der das rhetorische Paradigma von einem Vater mit zwei Söhnen zugrundeliegt. Das wird durch die Beobachtung bestätigt, daß sie übereinstimmend die Gegensätzlichkeit der Söhne hervorheben. Sie beziehen diese zwar zunächst nicht auf die Moralität, sondern auf das Alter. Doch ist es gerade dann um so erstaunlicher, daß Jesus den älteren Sohn als gerecht, also moralisch, und den jüngeren als frevlerisch, also unmoralisch, charakterisiert und darin von R. J e huda in der Anwendung unterstützt wird. Ja, wie die Rabbinen konstruiert auch Jesus ein Erzählgerüst, nach dem sich der Vater mit dem jüngeren Sohn gerade demjenigen Sohn in besonderer Weise zuwendet, der ihm an sich ferner steht als der ältere Sohn: Bei Jesus erbarmt er sich seiner, bei R. B'rekhja liebt er ihn und bei R. J e huda läßt er ihn "mit" sich gehen. Er handelt also wie der Vater, der nach den analogen Deklamationsthemen seine Hilfe dem verschwenderischen Sohn zukommen läßt. Auf der Basis dieser Gemeinsamkeiten weist Lk 15,11-32 gegenüber den beiden rabbinischen Gleichnissen eine Besonderheit auf, die als Überschreitung, und eine, die als Entfaltung einer Strukturvorgabe des "aeger redemptus" (Text V) und der sekundären Fassung des "nepos ex meretricio susceptus" (Text Vlla) verstanden werden kann. Die Überschreitung besteht darin, daß die Zuwendung zum jüngeren Sohn nicht die Pointe selber darstellt, sondern nur das Fundament legt, auf dem diese zur
1
Möglicherweise wollte R.^huda ursprünglich nicht Gen 6,9, sondern das Verhältnis dieser Stelle zu Gen 17,1 erklären.
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Beteiligung an der Freude des Vaters auffordert. Als Entfaltung dagegen ist zu beurteilen, daß der ältere Sohn gegen die Freude protestiert und der Vater den Protest entkräftet. Eine dritte Besonderheit besteht darin, daß Jesus die Technik der "narratio" in einer Richtung handhabt, die zu derjenigen, die R. B'rekhja und R. J'huda einschlagen, im diametralen Gegensatz steht: Die Erzähler der rabbinischen Gleichnisse fassen sich kurz, und der Erzähler des neutestamentlichen Gleichnisses holt weit aus. Erstere erwähnenrollenspezifische Tatsachen und Haltungen, scheuen aber auch vor ausgesprochen künstlich wirkenden Worten der Protagonisten nicht zurück, und letzterer erfindet anschauliche Ereignis- und Handlungsfolgen, macht aber auch reichlichen Gebrauch von lebendigen Selbstgesprächen und Dialogen. Jene steuern möglichst direkt auf die Pointe zu, und dieser bringt die Pointe nicht zur Sprache, ohne sie gegen mögliche Bedenken abzusichern. Der Hörer wird das eine Mal durch die Geradlinigkeit und Durchschaubarkeit des Erzählten gewonnen, und das andere Mal mit allen Mitteln der Kunst in eine fiktionale Welt entführt, die höchst indirekt, aber um so nachhaltiger die reale zu erhellen vermag. Es ist klar, wie es zu diesem konträren Umgang mit den Möglichkeiten der "narratio" kommt: R. B'rekhja und R. J e huda wollen bestimmte Schriftstellen erklären. Sie stehen dabei in einem Schulzusammenhang, dessen Konsens im Prinzipiellen so groß ist, daß er den Abstand von Generationen überbrückt. Ihre Hörer brauchen deswegen nicht durch den suggestiven Zwang einer Geschichte überzeugt zu werden, sondern beugen sich der exegetischen Stringenz einer Pointe. Jesus dagegen will Kritiker und Gegner seines Wirkens für sich gewinnen. Er steht also allein, kann Einverständnis nicht voraussetzen, sondern muß es allererst schaffen. Das versucht er, indem er seine Hörer so in eine spannende Geschichte verwickelt, daß ihre Überzeugungskraft auf die Lösung des Konflikts überspringen kann. Es darf nun freilich nicht unerwähnt bleiben, daß die "narratio" des Falles vom Vater mit zwei Söhnen nicht nur bei Jesus, sondern auch bei den beiden Rabbinen eine theologische Aufgabe erfüllt. Selbst bei R. B'rekhja dient das familiare Sujet ja zu mehr als der Erklärung eines Sachverhalts unter Menschen, heißt es doch, daß "er", d.h. Gott es ist, der die Liebe zu den Kindern in das Herz ihrer Väter gelegt hat. Bei R. J e huda
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ist die Konterdetermination vollends unübersehbar: Die ausschließlich unter Menschen spielende Geschichte des Maschal soll Gottes Verhältnis zum "bösen" Noah und zum "guten" Abraham beleuchten. Das stellt zweifellos eine wichtige Analogie zum Gleichnis Jesu dar, und zwar auch dann, wenn man einschränkend hinzufügen muß: Der Rabbi will lediglich deuten, wie Gott einem einzelnen Sünder und einem einzelnen Gerechten begegnet, nicht aber, wie er zu Sündern und Gerechten überhaupt steht. Er thematisiert deswegen nicht, was den Sünder und den Gerechten im einzelnen auszeichnet, und auch nicht, wie sich Gott dazu stellt. Dem entspricht, daß er nichts bietet, was dem Weg des jüngeren Sohnes, nichts, was dem Protest des älteren, und nichts, was der Reaktion des Vaters darauf unmittelbar vergleichbar ist. An alledem aber, was bei R. Jehuda fehlt, muß Jesus leidenschaftlich interessiert sein. Denn nur so konnte er hoffen, den Widerstand Gerechter gegen seinen Einsatz für Sünder zu überwinden. Zwei weitere rabbinische Gleichnisse von einem König, der zwei Söhne hat, erlauben es, die zuletzt erwähnte Differenz noch genauer zu lokalisieren. Das erste lohnt die Auseinandersetzung, weil hier ein Dialog vorkommt, der als Analogie zur Auseinandersetzung zwischen dem älteren Sohn und dem Vater bei Jesus verstanden werden kann. Das zweite dagegen ermöglicht es, das Profil der drei Protagonisten des neutestamentlichen Gleichnisses so zu konturieren, daß die Besonderheit des theologischen Hintergrundes deutlicher erkennbar wird. Die Überlieferung, deren Gleichnis den Dialog enthält, findet sich \fkhiltha, Beiallah VI, zu 14, 22.1 Text XIV: "'Und die Kinder Israels kamen' (Ex 14, 22). R. Mei'r sagte in einer Auslegung und R. Jehuda sagte in einer anderen Auslegung: R. Mei'r (Tannait der 3. Generation) sagte: Als die Stämme am Meer standen, sagte der eine: Ich will zuerst hinabsteigen ins Meer, und sagte der andere: Ich will zuerst hinabsteigen ins Meer. Während sie standen und zankten, sprang der Stamm Benjamin und stieg zuerst hinab ins Meer (D'1? 7"VI). Weil gesagt ist: 'Dort beherrscht sie (0711) Benjamin, der jüngste ( T i X ) ' (Ps 68, 28). Lies nicht 'beherrscht sie (0111)', sondern 'stieg hinab ins Meer (D' Tl)'. Es begannen die Fürsten Judas, sie mit Steinen zu bewerfen ( r a n a ) . Weil gesagt ist: 'Die Fürsten Judas, ihr Steinhaufen ( D r a n ) ' (Ps 68, 28).
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Text nach: J. Z. Lauterbach (Hrsg.), Mekilta de-Rabbi Ishmael, I-III, Philadelphia 21949, hier 1,232-234; zitiert bei Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 26-28, bisher jedoch offenbar noch nicht mit Lk 15,11-32 in Verbindung gebracht.
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Ein Gleichnis. Wem gleicht die Sache? Einem König, der zwei Söhne hatte. Einer war groß/älter und einer war klein/jünger. Er sagte zu dem kleinen/jüngeren: Laß mich aufstehen beim Aufleuchten der Sonne. Und er sagte zu dem großen/älteren: Laß mich aufstehen in der dritten Stunde. Da kam der kleine/jüngere, um ihn aufstehen zu lassen beim Aufleuchten der Sonne. Und der große/ältere ließ ihn nicht. Er sagte zu ihm: Er hat mir gesagt, in der dritten Stunde. Und der kleine/jüngere sagte: Er hat mir gesagt, beim Aufleuchten der Sonne. Während sie standen und zankten, erwachte ihr Vater. Er sagte zu ihnen: Meine Söhne, nach allem, beide von euch sind nur auf meine Ehre ausgerichtet. Auch ich will nicht unterdrücken euren Lohn. So: Was für einen Lohn erhielt der Stamm Benjamin, weil er zuerst hinabstieg ins Meer? Die Schekhina lagerte sich in seinem Teil. Weil gesagt ist: 'Benjamin ist ein räuberischer Wolf' usw. (Gen 49, 27). Und sie (sc. die Schrift) sagt: 'Über Benjamin sagte er: Der Geliebte des Herrn, er wohnt sicher bei ihm' usw. (Dtn 33, 12). Und was für einen Lohn erhielt der Stamm Juda? Er erlangte das Königtum. Weil gesagt ist: 'Die Fürsten Judas, ihr Steinhaufen ( D n n j l ) ' (Ps 68,28). Und das Wort 'Steinhaufen (HD3n)' bedeutet nichts anderes als 'Königtum'. Weil gesagt ist: 'Da befahl Belsazar, und sie kleideten Daniel mit Purpur ( N m i X ) ' usw. (Dan 5, 29). 'Die Fürsten Sebulons, die Fürsten Naphtalis' (Ps 68, 28). Das lehrt: Genauso wie Wunder getan wurden für Israel am Meer durch den Stamm Juda und Benjamin, so wurden Wunder getan für Israel durch den Stamm Sebulon und Naphtali in den Tagen Deboras und Baraks. Weil gesagt ist: 'Und sie schickte und rief den Barak, den Sohn Abinoams, aus Kadesch Naphtali' usw. (Ri 4, 6). Und sie (sc. die Schrift) sagt: 'Sebulon ist ein Volk, das seine Seele dem Tod preisgibt, und Naphtali auf den Höhen des Feldes' (Ri 5,18). R. J c huda (Tannait der 3. Generation) sagte: Als Israel am Meer stand, sagte der eine: Ich will nicht zuerst hinabsteigen ins Meer, und sagte der andere: Ich will nicht zuerst hinabsteigen ins Meer. Weil gesagt ist..."1
Der Rahmen kündigt eine Kontroverse zwischen R. Mei'r und R. J'huda an, die, wie die Lektüre zeigt, die Ausgangssituation Israels beim Zug durchs Meer betrifft, dabei allerdings nicht auf Ex 14,22 Bezug nimmt. Sie ist also erst vom Verfasser des Midrasch mit dieser Stelle in Verbindung gebracht worden. Der uns allein interessierende Spruch des wegen seiner Gleichnisrede berühmten R. Mei'r gliedert sich erneut in drei Teile. Zuerst wird eine Exegese der ersten Hälfte von Ps 68, 28 vorgetragen. Diese wird anschließend durch einen Maschal erhärtet, dessen Pointe über die Exegese selber hinausführt. Es folgt deswegen eine Anwendung, die die Pointe erläutert und dabei in Verbindung mit anderen Schriftstellen noch einmal auf den
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Zur Begründung werden im folgenden Stellen aus Hos 12,1; Ps 69, lf. 16 und Ex 15,18 angeführt. Sie haben die Proklamation Judas zum König über Israel zum Ziel, thematisieren dabei aber nicht das Verhältnis zu Benjamin oder einem anderen Stamm.
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Anfang des Eingangszitats aus Ps 68, 28 zurückgreift. Der Schluß der Anwendung - von mir durch einen eigenen Absatz kenntlich gemacht dürfte allerdings sekundär sein. Er zitiert und interpretiert die Fortsetzung der Psalmstelle, die weder im Maschal noch in der ihm vorangehenden Exegese eine Basis hat. R. Me'ir eröffnet seinen Spruch mit einer Szene, in der die Benjameniten als Sieger aus dem Zank darüber hervorgehen, wer beim Exodus zuerst ins Meer hinabsteigt. Er begründet das durch den Vorschlag, am Anfang von Ps 68, 28 nicht DTH, sondern D* IT zu lesen. Anschließend, so fährt er fort, sei dort davon die Rede, daß die Fürsten Judas die Benjameniten mit Steinen beworfen hätten. Denn das rätselhafte n n n n gehe auf das Verb D n zurück. Wie, so wird sich der Hörer empört fragen, ist es möglich, daß die Nachkommen Judas in so rabiater Weise, wie R. Mei'rs Exegese es unterstellt, gegen die Nachkommen Benjamins vorgehen? Er ahnt, daß dabei die Verletzung des Vorrechts eine Rolle spielen könnte, das Juda als älterem Sohn zukommt, heißt es an der zitierten Psalmstelle doch ausdrücklich, Benjamin sei der T37X. Er weiß aber nicht, welches Ziel der Rabbi mit seiner Inszenierung des handgreiflichen Streits verfolgt. Die Antwort darauf erfährt er erst durch den anschließenden Maschal. Die Eröffnung konfrontiert mit dem bereits bekannten Fall eines Königs, der zwei Söhne hat, und da die Fortsetzung deren Gegensatz erneut im Alter sieht, wird auch hier die Erwartung evoziert, daß der König seine Väterlichkeit besonders den jüngeren Sohn spüren läßt. Im Unterschied zu den anderen beiden Gleichnissen mit dem gleichen Anfang ist freilich zugleich damit zu rechnen, daß sich der ältere Sohn gegen den jüngeren zur Wehr setzt. Denn nur wenn das der Fall ist, entsteht die Möglichkeit, den Angriff der Fürsten Judas auf die Benjameniten zu thematisieren. Auf die Eröffnung folgt eine Exposition, die den ersten Teil der Erwartung bestätigt: Der König beauftragt den jüngeren Sohn, ihn bereits beim Aufleuchten der Sonne, den älteren dagegen, ihn erst in der dritten Stunde zu wecken. Auf die Absurdität dieses Doppelauftrages wird keinerlei Aufmerksamkeit gelenkt. Der Anfang des anschließenden Hauptteils greift vielmehr den zweiten Teil der Erwartung auf: Der ältere Sohn hindert den jüngeren, den König zur angegebenen Zeit zu wecken, und beide werfen sich gegenseitig an den Kopf, was der König ihnen
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"gesagt hat". Der Hörer weiß, daß der Zank der Söhne die Konsequenz ihres Auftrages ist, und aufgrund der hierarchischen Überlegenheit des Auftraggebers weiß er auch, daß der König ihn in einer für beide Seiten befriedigenden Weise schlichten wird. Wie diese Schlichtung aussieht, weiß er allerdings nicht. Um die Neugier darauf zu befriedigen, läßt der Erzähler den König aufwachen und hebt dabei durch die Bezeichnung als "Vater" hervor, in welcher Rolle der Herrscher jetzt in Aktion tritt: Als Vater - und das ist die Pointe - sagt der König zu den Zankenden als seinen "Söhnen", sie hätten bei ihrem Zank nichts anderes als seine Ehre im Auge gehabt und könnten darum auch beide mit Lohn rechnen. Aus der Perspektive des Erzählers soll der Hörer sagen: Ja, der königliche Vater hat Recht in der Beurteilung des Zanks seiner Söhne. Im Blick auf den Kontext aber heißt das: Wenn die Benjameniten beim Exodus zuerst ins Meer hinabsteigen, dann ist verständlich, warum die Fürsten Judas sie mit Steinen bewerfen: In Befolgung eines Auftrags durch Jahwe haben die Nachkommen des jüngsten Jakobsohnes den Nachkommen des älteren Jakobsohnes sozusagen das "Ersthinabstiegsrecht" geraubt. Doch führt das durchaus nicht zur Benachteiligung der Beraubten. Denn da der Zank über das Vorrecht, als erster ins Meer hinabzusteigen, ausschließlich der Ehre Jahwes gilt, erhält jede der zankenden Parteien eine Belohnung. Und das heißt: Die zunächst so provokative Exegese des ersten Teils von Ps 68, 28 ist durch die Plausibilität des Vaterbildes, das dem Maschal zugrundeliegt, erhärtet worden. Da der Maschal das exegetische Problem des Zankes am Meer gelöst hat, beantwortet die Anwendung in Entsprechung zur Pointe in zwei parallelen Abschnitten lediglich die Frage, worin der Lohn des Stammes Benjamin und worin der Lohn des Stammes Juda besteht. Für ersteren weist R. Mei'r auf die Lagerung der Schekhina im Stammesgebiet, für letzteren auf den Empfang des Königtums hin. Zur Begründung werden jeweils zwei Schriftstellen angeführt. Bei Benjamin handelt es sich um bisher noch nicht gebrachte Zitate aus Gen 49,27 und Dtn 33,12, während bei Juda erneut auf Ps 68, 28 zurückgegriffen wird, jetzt allerdings in Verbindung mit Dan 5, 29. Bei den Benjameniten leuchtet die zweite Stelle - Dtn 33,12 - als Argument für die Art der Belohnung unmittelbar ein. Die argumentative Stringenz der ersten Stelle - Gen 49,27 ist dagegen nur schwer nachzuvollziehen. Man mag erwägen, ob die Bezeichnung des Stammvaters als "räuberischer Wolf" in Anlehnung an einen in BerR XCIX, zu 49, 27,
5. Rabbinische Gleichnisse (1)
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überlieferten Spruch von R. Pinhas (pal. Amoräer der 5. Generation) auf den Opferkult zu beziehen ist.1 Naheliegender scheint mir jedoch zu sein, das Bild als Begründung für den Raub des "Ersthinabstiegsrechts" zu verstehen. Denn es dürfte kaum zufällig sein, daß bei der Frage nach dem Lohn der Benjameniten ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wird, er gelte dem "Ersthinabstieg". Daß der Stamm Juda das Königtum zum Lohn erhält, wird mit dem Hinweis auf Ps 68, 28 belegt. Hierbei spielt war erneut die Beschäftigung mit D i l O n die Schlüsselrolle. Doch wird zur Erklärung jetzt nicht auf Dl*l zurückgegriffen, sondern es heißt unter Heranziehung einer verbreiteten Formel, H O n bedeute nichts anderes als "Königtum". Denn, so legt die anschließende Zitation von Dan 5, 29 nahe, HÖIT erinnere an XX11"1N als Insignium des Herrschers.
Da R. Meir seinen Spruch mit einer Exegese beginnt, die vom Stamm Benjamin und von den Fürsten Judas als zwei sich gegenüberstehenden Gruppen spricht, wirkt die Gleichniseröffnung ausgesprochen organisch. Doch gibt es auch hier Indizien dafür, daß dabei auf das bekannte rhetorische Paradigma zurückgegriffen wird. Denn erstens ist in Ps 68, 28 nicht vorgegeben, daß die auf die beiden Stammväter bezogenen Söhne als gegensätzlich charakterisiert werden. Zweitens hat dort keine direkte Basis, daß die auf Gott bezogene Hauptfigur des königlichen Vaters eingeführt wird. Das gilt drittens erst recht für den Auftrag, den der König dem jüngeren Sohn als Ausdruck seiner Zuwendung erteilt. Und viertens könnte es sein, daß die "Vorlage" vor allem da zur Geltung kommt, wo das spezifische Profil des Maschal liegt: Das Vorgehen des älteren Sohnes gegen den jüngeren, der nichts anderes tut, als den Auftrag des Königs zu erfüllen, erinnert an den Protest, mit dem der moralische Sohn dem Vater wegen seiner Hilfe für den unmoralischen Sohn entgegentritt. Und so wie der Deklamator dort zu begründen hat, daß der Vater den Protestierenden nicht benachteiligt, schlägt der königliche Vater hier selber den Vorwurf einer Benachteiligung aus dem Feld. Als wichtigste Differenzen fallen auf: So wie R. B'rekhja und R. J'huda bietet auch R. Mei'r den Fall vom König mit zwei gegensätzlichen Söhnen als ausgearbeitete "narratio" dar, und so wie sie sieht auch er den Gegensatz nicht in der Moralität, sondern im Alter. Das führt dazu, daß der Maschal mit der gleichen Eröffnung beginnt wie bei den beiden anderen Gelehrten. Trotzdem deutet auch hier nichts auf eine direkte Abhängigkeit hin. Denn obwohl sich die Fortsetzung genauso wie dort ganz
1
Vgl. Lauterbach, aaO. I, 233 Anm. 2
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Es gibt Parallelen
innerhalb der Konnotationen der Eröffnung bewegt, geht sie vollständig eigene Wege. Die Eigenständigkeit ergibt sich aus der unlösbaren Verklammerung mit dem exegetischen Kontext: Nur weil der Rabbi bereits bei der Auslegung von Ps 68, 28 den Lohn für die Benjameniten und die Fürsten Judas im Auge hat, erfindet er eine Erzählung, die einen König in die Lage versetzt, seinen um seine Ehre streitenden Söhnen den Lohn zuzusprechen. Umgekehrt gilt aber auch: Nur weil der Rabbi die Fähigkeit besitzt, über einen vorgegebenen Fall eine Erzählung zu erfinden, die den Angriff des älteren Sohnes auf den jüngeren mit der Belohnung beider in kohärenter Weise verbindet, schlägt er eine Exegese von Ps 68, 28 vor, nach der die Fürsten Judas die Benjameniten mit Steinen bewerfen. Obwohl der Maschal R. Mei'rs nicht weniger für die Exegese instrumentalisiert ist als die Gleichnisse R. B'rekhjas und R. J'hudas, hat er ungleich größere erzählerische Qualität. Er besitzt eine Eröffnung, die den Fall und seine Personen vorstellt. Er besitzt eine Exposition, in der die autoritative Gestalt des Königs der Zwillingsfigur der beiden Söhne eine widersprüchliche Anweisung erteilt. Und er besitzt einen Hauptteil, der zunächst den durch die Anweisung heraufbeschworenen Zank der Söhne vorführt und anschließend durch die Pointe deutlich macht, wie der König darauf reagiert. Das Ganze ist zu einer gut motivierten narrativen Einheit miteinander verbunden, und unter den technischen Mitteln, die der Autor dabei einsetzt, verdient besonders hervorgehoben zu werden, wie reichlich er Gebrauch macht von der wörtlichen Rede der Protagonisten. Zwar wird man sagen müssen, daß die Anweisung des Königs genauso künstlich wirkt wie der Dialog der Söhne. Doch bereitet beides vorzüglich vor, was der König in der Pointe als Vater entgegnet. Vor allem aber ist zu beachten, daß es insbesondere den Wortbeiträgen zu verdanken ist, wenn die "narratio" gegenüber dem Kontext eine relativ starke Autonomie besitzt: Erstens findet die Anweisung des Königs weder in der Exegese von Ps 68, 28 noch in der Anwendung eine Entsprechung. Zweitens ist der motivierte Dialog der Söhne ganz anderer Art, als man nach dem unmotivierten Angriff der Fürsten Judas auf die Benjameniten erwarten würde. Und drittens hat die Entgegnung des Vaters in der Exegese von Ps 68, 28 keinerlei Basis, während sie mit der Anwendung nur das Stichwort des "Lohnes" teilt, als ganze jedoch auch hier kein Echo findet. Die Abfolge von Eröffnung, Exposition und Hauptteil mit dem
5. Rabbinische Gleichnisse (1)
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Höhepunkt und Schluß in der Pointe signalisiert genauso wie der Einsatz der wörtlichen Rede, daß der Maschal R. Mei'rs dem in Lk 15, 11-32 vorliegenden Gleichnis Jesu formgeschichtlich ungleich näher steht als die Gleichnisse R. B'rekhjas und R. J'hudas. Dabei ist allerdings zubeachten: Bei Jesus sind die Worte der Protagonisten eingebettet in lebendig erzählte Ereignis- und Handlungsfolgen, und auch die Worte selber sind an Taten und Geschehnissen orientiert. Bei R. Mei'r dagegen erschöpfen sich die Handlungen und Ereignisse neben einem fünffachen "Sagen" im unanschaulichen "Kommen" des jüngeren Sohnes, im "Nichtlassen" des älteren, im "Stehen" und "Zanken" beider und im "Erwachen" des Vaters: Nach der Eröffnung haben wir nichts anderes vor uns als eine mit Einleitungen versehene Reihe von Wortbeiträgen. Trotzdem: Die Vorliebe für die wörtliche Rede stellt die Bedingung der Möglichkeit dar, daß R. Mei'r und Jesus auf je verschiedene Weise in die "narratio" integriert haben könnten, was bei den analogen Deklamationsthemen prinzipiell voneinander getrennt ist: der Vorwurf an den Vater am Schluß des Themas selber und die Entkräftigung des Vorwurfs innerhalb der Deklamation. Jedenfalls dürfte nur schwer bestreitbar sein, daß es bei beiden einen Dialog gibt, der an den Protest des "frugi" gegen die Hilfe für den "luxuriosus" und die dadurch zur Aufgabe gemachte Verteidigung des Vaters erinnert: Bei R. Mei'r hindert der ältere Sohn den jüngeren an der Erfüllung seines Auftrages, weil er nur die Erfüllung des eigenen Auftrages für legitim hält, und bei Jesus wirft er dem Vater die Aufforderung zur Freude über ihn vor, weil er die Freude nur für sich selber als berechtigt ansieht. Zwar wendet sich der Ältere das eine Mal an den Bruder und das andere Mal an den Vater selber. Doch ist es hier wie dort der Vater, der in der Pointe das letzte, entscheidende Wort behält: Bei R. Mei'r hebt er hervor, das lautere Motiv der Söhne habe für beide einen Lohn zur Folge, und bei Jesus führt er aus, die Freude über den einen stelle den Lohn für den anderen nicht in Frage. Die Reaktion darauf erfahren wir beidemal allerdings nicht. Der Schluß bleibt offen. Trotz der besonderen Nähe behauptet Lk 15,11-32 auch gegenüber dem Maschal R. Mei'rs sein eigenes, unverwechselbares Profil. Erstens wird der Altersgegensatz der Söhne zugleich als moralisch charakterisiert. Zweitens fordert noch nicht die Zuwendung zum jüngeren, frevlerischen Sohn als solche - das Erbarmen - den Widerspruch heraus, sondern erst die
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Aufforderung zur Beteiligung an der Freude. Und drittens wird dieser Widerspruch aus dem Munde des älteren, gerechten Sohnes in einem eigenen, zweiten Teil zum Thema gemacht. Alle drei Besonderheiten hängen insofern aufs engste miteinander zusammen, als Jesus mit seinem Gleichnis den Anstoß überwinden will, den Gerechte an seinem Umgang mit Sündern nehmen. R. Meir dagegen setzt seinen Maschal zur Lösung einer exegetischen Aufgabe ein, die mit der Spaltung Israels in Gerechte und Sünder nichts zu tun hat. In der rabbinischen Überlieferung gibt es noch einen vierten Maschal, genauer: die unausgeführte Exposition eines Maschal von einem König, der zwei Söhne hat. Diese Exposition verdient trotz ihres fragmentarischen Charakters eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie unter Berücksichtigung des Kontextes eine grundsätzliche Aussage über Gottes Verhältnis zu Sündern und Gerechten zu machen scheint, also gerade dort eine Hilfe verspricht, wo die bisherigen Texte versagen. Es ist deshalb verständlich, daß der Herausgeber Louis Ginzberg hier "the short, original form of the New Testament parable of the prodigal son" sieht1, während Israel Abrahams von "a remeniscence of Luke's Parable" spricht.2 Verständlich ist aber auch, daß Jakob J. Petuchowski die Frage der Priorität für weniger wichtig hält als "the simple fact that the parable of The Prodigal Son fitted in so easily and naturally with the Rabbinic scheme of things that it could be used by the Rabbis themselves to illustrate a Rabbinic statement on the subject of repentant sinners".3 Die Gleichnisexposition findet sich in einem Fragment der gaonäischen ¡Felthoth4, kann aber nicht ohne einen Vergleich mit der Parallelüberlieferung in Sanh 99a interpretiert werden.5 Text XV (Sanh 99a): "(1) Und es sagte R. Hijja (II.) bar Abba (pal. Amoräer der 3. Generation) im Namen R. Johanans (pal. Amoräer der 2. Generation): Alle Propheten zusammen sprachen prophetisch nur über die Bußfertigen (TlSl&n '^iS 1 ?), aber die vollständig Gerechten (D'Tlöa D , p , 7X): "Kein Auge hat geschaut, Gott, außer dir' (Jcs 64, 3).
1
L. Ginzberg, Geonica, II: Genizah Studies, Nachr. (der Ausg. 1909), New York o.J., 351.
2
I. Abrahams, Studies in Pharisaism and the Gospels, I, Cambridge 1917, 92.
3
J. J. Petuchowski, Theological Significance, 83.
4
Text nach: Ginzberg, aaO. II, 376f = Seelthoth, Fragment XLIII, Blatt 2v/27 - 3r/6.
5
Die Untergliederung in (1) (2) (3) soll den Vergleich erleichtern.
5. Rabbinische Gleichnisse (1)
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(2) Und er streitet mit R. Abbahu (pal. Amoräer der 3. Generation). Denn R. Abbahu sagte im Namen Rabs (bab. Amoräer der 1. Generation): An der Schriftstelle, an der (V OlpO) die Bußfertigen dort stehen, stehen die vollständig Gerechten dort nicht. Weil gesagt ist: 'Friede, Friede dem Fernen und dem Nahen' (Jes 57,19), zuerst 'ferne' und dann 'nahe'. Was ist ferne'? Wer anfänglich ferne war. Und was ist 'nahe'? Wer jetzt nahe ist. (3) Und R. Johanan (pal. Amoräer der 2. Generation) sagte: 'dem Fernen', der ferne der Sünde ist. "Nahe', der nahe der Sünde war und sich von ihr entfernt hat." Text XVa (S'elthoth): "(1) Es sagte R. Hijja bar Abba im Namen R. Johanans: Alle Propheten zusammen sprachen prophetisch nur über die Bußfertigen; aber die vollständig Gerechten: Kein Auge hat geschaut, Gott, außer dir, (sc. was) er tun wird den auf ihn Harrenden' (Jes 64, 3). (2) Und er streitet mit R. Abbahu. Denn R. Abbahu sagte: An der Schriftstelle, an der die Bußfertigen stehen, stehen die vollständig... Gerechten nicht. (Sc. Ein Gleichnis.) Wie nur, wie nur gleichen die Bußfertigen? Einem König, der zwei Söhne hatte. Einer wandelte im Guten zum ... und einer zog aus in böser Art. Weil gesagt ist: 'Friede, Friede dem Fernen und dem Nahen' (Jes 57, 19). Was ist 'ferne'? Sie (sc. die Schrift) sagt: Die anfängliche Sünde."
Im ersten Spruch stimmen die beiden Versionen weitgehend überein. Unter Berufung auf R. Johanan vertritt R. Hijja bar Abba hier zunächst die These, daß alle Propheten zusammen ausschließlich über die naitPn sprachen. Er teilt also die deuteronomistische Sicht der Propheten als Umkehrprediger, pointiert diese Sicht jedoch, wenn er unter geschickter Heranziehung von Jes 64, 3 anschließend behauptet, die D'lliai Q'p'TS keiner außer Gott selber habe - sc. sie - geschaut. Nach Sanh ist der Spruch hier zu Ende, so daß das Jesajazitat keine andere Aufgabe hat, als die Prophetenthese zu unterstreichen. Die Weiterführung des Zitats in den S'elthoth dagegen macht daraus eine selbständige Aussage über den unaussprechlichen Lohn der auf Gott Harrenden, d.h. der vollständig Gerechten. Sie ist deswegen wahrscheinlich sekundär. In der Überleitung zum zweiten Spruch wird festgestellt, R. Hijja bar Abba vertrete (mit seiner Auslegung von Jes 64, 3) "eine abweichende, widerstreitende Überlieferung"1 zu R. Abbahu. Der Spruch selber bietet keine Kontroverse, sondern dürfte lediglich aufgrund der Stichwortverbindung angefügt worden sein. Denn übereinstimmend heißt es bei beiden Versionen zunächst, R. Abbahu habe gesagt, daß eine Schriftstelle, die von den Bußfertigen handelt, nicht zugleich von den vollständig Gerechten
1
Bacher, Terminologie, II, 156, s.v. 20D.
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handelt.1 Danach aber kommt es zu erheblichen Abweichungen. Ich folge deswegen zunächst nur Sanh 99a. Zur Begründung seines Diktums macht R. Abbahu nach der Zitation von Jes 57, 19 darauf aufmerksam, der Friede werde hier "zuerst" dem Fernen und "dann" dem Nahen zugerufen. Mit dem Fernen sei dabei derjenige gemeint, der - sc. Gott - "anfänglich" ferne war, also umgekehrt ist, und mit dem Nahen derjenige, der - sc. Gott - "jetzt" nahe sei, also ebenfalls der Umgekehrte. Das stellt in der Tat eine ausgezeichnete Begründung der Ausgangsthese dar: Jes 57, 19 belegt exemplarisch, daß eine Schriftstelle, die von den Bußfertigen spricht, nicht zugleich von den vollständig Gerechten spricht. Als dritter Spruch schließt sich eine Exegese von Jes 57, 19 durch R. Johanan an. Sie hebt bei "nahe" und "ferne" nicht auf die Reihenfolge im biblischen Text ab und bezieht die Wörter auch nicht auf das Verhältnis zu Gott, sondern zur Sünde: Dem Fernen gelte der Friede, weil er der Sünde "ferne" sei, er also ein Gerechter ist, dem Nahen dagegen, weil er der Sünde "nahe" war und "sich von ihr entfernt hat", er also umgekehrt ist: Anders als R. Abbahu meint, spricht Jes 57, 19 nicht nur von Bußfertigen, sondern auch von Gerechten.
Die Analyse ergibt, daß der Abschnitt aus Sanh 99a eine sinnvolle Komposition darstellt: Auf einen Spruch über die Funktion der Propheten folgt aufgrund von Stichwortaussoziation eine Kontroverse über Jes 57,19. Die Variante in den S'elthoth mit ihrem zusätzlichen "Maschal" erweist sich demgegenüber durchweg als sekundär, so daß es sich verbietet, hier die ursprüngliche Fassung des Talmudtraktats zu erkennen.2 Sekundär dürfte erstens sein, daß der These R. Abbahus keine exegetische Begründung folgt, sondern ein Maschal, der an der Gestalt zweiter Söhne offenbar verdeutlichen will, was einen vollständig Gerechten und was einen Bußfertigen auszeichnet; zweitens, daß die Einleitungsformel des Maschal, soweit ich sehe, ungewöhnlich, wenn nicht gar singulär ist; drittens, daß eine stilgemäße, hier besonders notwendige Anwendung fehlt; viertens, daß statt dessen erst jetzt Jes 57, 19 zitiert wird, also der Zusammenhang zwischen der Schriftstelle und der These auseinandergerissen wird; fünftens, daß die anschließende Auslegung von Jes 57,19 keine Begründung der These liefert. Sie erklärt lediglich das Wort "ferne". Formell gesehen stammt dabei die Frage "was ist ferne" aus dem Spruch R. Abbahus nach Sanh (2), während die Antwort "die anfängliche Sünde" als Zusammenhang dessen verstanden werden kann, was R. Johanan dort zu "nahe" ausführt (3). Sachlich
1
L. Goldschmidt, Der Babyionische Talmud, VII, 1933, 432, gibt der Stelle durch seine Übersetzung von D l p ö mit "Stufe" einen ganz anderen Sinn: "... dass auf der Stufe, auf welcher die Bußfertigen stehen, die vollständig Frommen nicht stehen." Das ist erstens eine Banalität und zerstört zweitens den Zusammenhang mit der Fortsetzung. Ich entscheide mich deswegen für die technische Übersetzung mit "Schriftstelle". 2
So Abrahams, aaO. I, 92; vorsichtiger Ginzberg, aaO. II, 351.
5. Rabbinische Gleichnisse (1)
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gesehen aber führt die Verkürzung dazu, daß der Zuruf des Friedens nur für den Bußfertigen in Anspruch genommen wird.
Die Einleitungsformel verspricht dem Hörer einen Maschal, der ihm etwas über die nailPn '"iSa klarmachen will. Er beginnt mit dem bekannten Eröffnungssatz vom König, der zwei Söhne hat. Der Satz legt fest, daß anschließend die Gegensätzlichkeit der Söhne hervorgehoben wird, und das vorausgehende Diktum R. Abbahus verbietet es, daß diese sich ausschließlich auf das Alter bezieht. Sie hat vielmehr zugleich die Moralität zu betreffen: Der eine Sohn muß gerecht und der andere frevlerisch sein. Vor allem aber ist aufgrund der Konnotationen der Eröffnung mit einem Erzählgerüst zu rechnen, das die Zuwendung des Königs zum unmoralischen Sohn herausarbeitet. Ja, der Kontext erlaubt sogar zu postulieren, daß die Zuwendung die Umkehr voraussetzt, ist doch nur dann ein Beitrag zum Verständnis der Bußfertigen zu erwarten. Und in der Tat: Auf den Eröffnungssatz folgt eine Exposition, die die Gegensätzlichkeit der Söhne in der Moralität sieht. Der eine, so heißt es, "wandelte im Guten". Er ist auf "die vollständig Gerechten" zu beziehen. Der andere, so fährt der Text fort, "zog aus in böser Art" - sc. weg vom königlichen Vater. Er ist auf "die Bußfertigen" zu beziehen. Danach aber bricht der Maschal ab. Er schildert weder die Umkehr des bösen Sohnes noch dessen Aufnahme durch den Vater, und er schildert auch nicht, wie sich der gute Sohn dazu stellt. Erst der anschließenden Exegese von Jes 57, 19 kann entnommen werden, daß der Erzähler voraussetzt, der böse Sohn habe sich von seiner bösen Art abgewandt und sei daraufhin vom Vater wieder in sein Haus aufgenommen worden. Denn sonst könnte es schwerlich heißen, der Friede gelte denen, bei denen die anfängliche Sünde ferne sei, also den "Bußfertigen". Über die Gestalt des guten Sohnes kann dem Schluß des Spruches dagegen nichts entnommen werden. Wie ist dieser merkwürdige Befund zu erklären? Offenbar hat sich der Redaktor durch das Gegenüber der beiden Gruppen, das für R. Abbahus Spruch charakteristisch ist, dazu verleiten lassen, einen Maschal anzukündigen, dem das rhetorische Paradigma von einem Vater, der zwei Söhne hat, zugrundeliegt. Er wird der Herausforderung, der er sich damit stellt, noch in der Exposition in ausgezeichneter Weise gerecht, stellt diese dem König in Entsprechung zum "frugi" und "luxuriosus" doch nicht einen älteren und jüngeren, sondern, wie es der
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Kontext verlangt, einen guten und einen bösen Sohn zur Seite. Nach der Exposition freilich hätte der Erzähler den Maschal nur dann weiterführen können, wenn er eine der Struktur des Paradigma analoge Vorstellung darüber gehabt hätte, wie Gott sich zur Spaltung Israels in Gerechte und Sünder verhält. Das aber ist offensichtlich nicht der Fall, und darum bricht er das Gleichnis ab. Was der Erzähler statt dessen hat, das ist eine Vorstellung über Gottes Verhältnis zu bußfertigen Sündern, bei der die Beziehung zu den vollständig Gerechten keine Rolle spielt. Daß da sein Interesse liegt, zeigt bereits die Einleitungsformel, fragt diese doch lediglich nach einer Verstehenshilfe für die Bußfertigen. Und das zeigt vor allem die den Maschal auswertende Exegese von Jes 57, 19. Denn hier ist in deutlicher Korrespondenz zur Einleitung vom Frieden nur im Blick auf den die Rede, der die Sünde hinter sich gelassen hat: Weder sind die vollständig Gerechten ins Auge gefaßt, noch findet die Figur des guten Sohnes ein Echo. Der Autor hätte dementsprechend zweifellos einen Maschal erzählen können, nach dem ein König einen Sohn hat, der in böser Art auszieht, dann aber umkehrt und daraufhin vom Vater wieder aufgenommen wird. Er macht von seinem Können jedoch keinen Gebrauch, weil er aus theologischen Gründen nicht in der Lage ist, erzählerisch zugleich zu entfalten, daß der König nebem dem bösen auch einen guten Sohn hat. Die Analyse führt zu einem paradoxen Ergebnis: Die durch den Spruch R. Abbahus veranlaßte Eröffnung blockiert die Darbietung eines Maschal, den der Redaktor bilden könnte, und der Maschal, den er bilden könnte, blockiert die Weiterführung der Eröffnung. Die These des dem Erzähler möglichen, von ihm aber nicht realisierten Maschal kann durch eine Reihe von Gleichnissen erhärtet werden, deren Einzelexegese dem folgenden Kapitel vorbehalten bleibt. Sie thematisieren alle die Beziehung zwischen einem Vater und einem einzigen Sohn, der böse ist, der den Vater verläßt oder von diesem selber verjagt wird, der aber schließlich, sei es aufgrund seiner Not oder Umkehr, sei es aufgrund der Bitte Dritter oder aufgrund einer Kombination dieser Motive, vom Vater wieder bei sich aufgenommen wird. Der rekonstruierten Fassung des S'elthothfragments steht ein von R. § e muel Pargerita tradierter Maschal R. Mei'rs (Text XVI) am nächsten. Er handelt vom Sohn eines Königs, "der auszog in böser Art", der daraufhin vom Pädagogen im Auftrag des Königs
5. Rabbinische Gleichnisse (1)
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zur Rückkehr aufgefordert wird, der jedoch aus Scham nicht zurückzukehren wagt und schließlich unter Hinweis auf die Besonderheit der VaterSohn-Beziehung dazu ermutigt wird. Natürlich ist nicht davon auszugehen, daß der Redaktor gerade diesen Maschal gekannt hat. Vorauszusetzen ist vielmehr, daß ihm das Modell vertraut war, nach dem die im einzelnen sehr verschiedenen Gleichnisse gebildet sind, er also in der Lage gewesen wäre, ein weiteres, ähnliches Gleichnis zu bilden. Ja, aus der Interpretation von Jes 57,19 ist sogar zu erschließen, daß dem Hörer das Modell vertraut war. Sonst jedenfalls könnte der Erzähler kaum damit rechnen, daß die Notiz vom Auszug in böser Art genügt, um die Applikation des Friedens auf den umkehrenden Sünder nachvollziehen zu können. Das ist ein exemplarischer Beleg für das Maß an Einverständnis, das der Schulzusammenhang zu stiften vermag! Fragt man nach dem Modell selber, so stößt man als zentrales Merkmal auf eine bestimmte Art der Kombination zweier sehr verschiedener Theologumena: Eine je individuelle Explikation der Vater-Sohn-Metaphorik mit ihren zahlreichen Konnotationen gibt den Rahmen vor, in dem die deuteronomistische Sicht der Beziehung zwischen Gott und Israel zur Sprache gebracht wird. Die Beherrschung der Technik dieser Kombination leitet dementsprechend nicht dazu an, in einer "narratio" die Spaltung Israels in Gerechte und Sünder zu thematisieren, also einen Maschal zu bilden, der sich den Konsequenzen der Eröffnung stellt, die der Redaktor des S'elthothfragments aufgrund des Kontextes erfindet. Da er beim bösen Sohn nur an das Gottesvolk im ganzen denken konnte, nicht aber an die Bußfertigen im Gegenüber zu den vollständig Gerechten, mußte er scheitern und sein Maschal ein Torso bleiben. Der Torso teilt mit den anderen drei Gleichnissen vom König, der zwei Söhne hat, nur den ersten Satz der Eröffnung. Er unterscheidet sich von ihnen darin, daß er der hellenistisch-römischen "Vorlage", die auch hier rezipiert ist, einerseits näher, andererseits ferner steht: näher insofern, als er den Gegensatz der Söhne in der Moralität sieht, und ferner insofern, als er die Zuwendung des Königs zum unmoralischen Sohn zwar voraussetzt, nicht aber erzählt, geschweige denn im Gegenüber zum moralischen Sohn. Ersteres erklärt sich daraus, daß der Autor den Versuch macht, die "narratio" nicht nur wie R. Jehuda (Text XIII) auf Gottes Verhältnis zu einem einzelnen Gerechten und zu einem einzelnen Sünder zu beziehen,
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sondern zu Gerechten und Sündern überhaupt. Letzteres dagegen spiegelt wider, daß dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist, weil das theologische Interesse auf Gottes Verhältnis zu Israel im ganzen konzentriert ist. Beim Vergleich mit Lk 15,11-32 fällt erneut auf, daß der Eröffnungssatz übereinstimmt. Hier macht der gemeinsame Rekurs auf das rhetorische Paradigma jedoch zugleich verständlich, warum sich die Notiz über den Wandel des einen Sohnes "im Guten" wie eine unanschauliche Kurzfassung dessen liest, was der ältere Sohn nach Lk 15, 29a über sich selber sagt. Ganz entsprechend erinnert der Auszug des anderen Sohnes "in böser Art" an den in Lk 15, 12f geschilderten Weg des jüngeren Sohnes. Ja, nimmt man den Kontext hinzu, so ist sogar davon auszugehen, daß der Erzähler ähnlich wie Lk 15, 20-22 auch die Rückkehr und Aufnahme des bösen Sohnes beim Vater ins Auge gefaßt hat. Damit allerdings sind die Berührungen erschöpft, und sie sind, beschränkt man sich auf das Gleichnis selber, faktisch ja noch geringer. Es fehlt insbesondere eine Analogie zur Aufforderung, sich an der Freude des Vaters zu beteiligen, und es fehlt erst recht eine Analogie zur Entkräftigung der Einwände gegen die Beteiligung. Beides zusammen signalisiert: Trotz des Anscheins, den die Eröffnung erweckt, ist der Autor nicht in der Lage, ein Gleichnis zu erfinden, das auf dem Hintergrund des Heilsanspruchs von Gerechten speziell für Sünder in Anspruch nimmt, was ihm für Israel im ganzen so sehr am Herzen liegt. Ganz und gar aber überschreitet es seinen Horizont, die Bedenken der Gerechten gegen die Beteiligung an der Freude Gottes über die Sünder zu zerstreuen. Der Vergleich zeigt, daß der Maschal des S'elthothfragments weder die Vorlage (Ginzberg) noch eine Verkürzung (Abrahams) des neutestamentlichen Gleichnisses darstellt, und vollends kann nicht davon die Rede sein, daß er dessen Vorstellung über bußfertige Sünder teilt (Petuchowski). Trotzdem führt keiner der bisher behandelten Texte so nahe an die Erzählung Jesu heran wie dieser. Doch gerade die Nähe ist es, die einen unüberbrückbaren Graben aufreißt. Ich fasse zusammen: Soweit es Beziehungen zwischen Lk 15,11-32 und den vier rabbinischen Gleichnissen von einem König mit zwei Söhnen gibt, erklären sie sich zwanglos aus der gemeinsamen Fähigkeit der Autoren, zur Lösung eines theologischen, spezifisch jüdischen Problems ein narratives Gleichnis zu
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bilden, dem ein gängiges Paradigma der rhetorischen Welt zugrundeliegt. Als Vertreter des palästinischen Judentums haben sie dieses Paradigma also anders als Philo von Alexandrien übereinstimmend in eine motivierte "narratio" transformiert, die bei den rabbinischen Gelehrten zwar durchweg "gedachter", unanschaulicher und formelhafter ist als bei Jesus, deren Technik jedoch prinzipiell die gleiche ist wie bei diesem. Denn der Unterschied ist zureichend erklärt, wenn man sich klarmacht, daß das Gleichnis das eine Mal der Exegese von Schriftstellen dient, die im Bewußtsein eines über Generationen reichenden Lehr- und Lernzusammenhangs immer aufs neue diskutiert wurden, das andere Mal dagegen der Lösung eines Konflikts mit Gegnern, die durch die Überzeugungskraft einer lebendig erzählten Geschichte gewonnen werden sollen. Da es sich bei den Gegnern um Gerechte handelt, die Anstoß an seinem Umgang mit Sündern nehmen, gibt Jesus seinem Gleichnis einen zweiten Teil, der sich als Entfaltung eines zentralen Strukturmerkmals der analogen Deklamationsthemen verstehen läßt: Der Vater entkräftet die Argumente des gerechten Sohnes gegen die Freude über den frevlerischen Bruder. R. Berekhja (Text XII) und R. J c huda (Text XIII) dagegen stehen vor einer Aufgabe, die es erlaubt, die Zuwendung zum fernerstehenden Sohn ohne den Protest des näherstehenden zur Sprache zu bringen. Nur R. Me'ir (Text XIV) bietet sich die Möglichkeit, einen Dialog zu gestalten, der in gewisser Weise an den Wortwechsel im zweiten Teil von Lk 15,1132 erinnert. Erst der Redaktor des S'elthothfragments allerdings (Text XVa) beginnt aufgrund seines Kontextes eine "narratio", deren Vollendung dem Gleichnis Jesu im ganzen hätte nahekommen können. Doch beläßt der Autor es bei der Exposition, weil er die Spaltung Israels in Gerechte und Sünder nicht im Blick hat. Daraus ergeben sich am Ende des Kapitels zwei Fragen sehr verschiedener Art: Erstens: Ist das Jesus bewegende Problem des Zerfalls der Einheit des Gottesvolkes im rabbinischen Judentum nicht gesehen worden? Hat es dieses Problem in der Form, in der es uns in der synoptischen Überlieferung begegnet, dort vielleicht gar nicht gegeben? Eine Antwort darauf würde die behandelten Texte zweifellos überfordern, könnte also nur auf sehr viel breiterer Basis erörtert werden. Einigermaßen sicher scheint mir deswegen nur zu sein, daß offenbar kein Rabbine auf die Idee gekommen
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ist, die Tatsache der Existenz von Gerechten und Sündern innerhalb von Israel in einem Maschal zum Thema zu machen, dessen Sujet das patriarchale Beziehungsgeflecht zwischen einem Vater und zwei moralisch gegensätzlichen Söhnen zur Grundlage hat. Und das S'elthohfragment zeigt mehr als deutlich die Schwierigkeiten, die dem entgegenstanden. Zweitens: Welches Licht auf Lk 15,11-32 werfen diejenigen rabbinischen Gleichnisse, die das Verhältnis zwischen Gott und Israel im Rahmen des Gegenübers von einem Vater und einem frevlerischen Sohn beleuchten? Anders formuliert: Inwiefern handelt es sich hier um Parallelen zum ersten Teil des neutestamentlichen Gleichnisses? Darauf eine Antwort zu geben, ist Aufgabe des folgenden Kapitels.
6. Rabbinische Gleichnisse von einem Vater und einem frevlerischen Sohn
Es gibt im rabbinischen Judentum mindestens fünf Gleichnisse, die die Beziehung zwischen einem Vater und einem frevlerischen Sohn thematisieren. Der erste Maschal dieser Art, dem ich mich zuwende, ist bereits zur Erklärung des S'elthothfragments herangezogen worden.1 Er findet sich zusammen mit seiner Anwendung DebR II, 24, zu 4, 30? TextXVI3: "Eine andere Erklärung: 'Und du wirst umkehren zu Jahwe (Dtt^H) deinem Gott* (Dtn 4, 30). R. 5emuel Pargerita (nur hier erwähnt) sagte im Namen von R. Mei'r: (Sc. Ein Gleichnis.) Wem gleicht die Sache? (1) Dem Sohn eines Königs, der auszog in böser Art.
1
S.o.S. 324f.
2
Text nach: ¡131 P 1 1 5 (Zu den fünf Büchern Mose und den fünf M*gilloth, mit versch. Kommentaren), I-III, Jerusalem 1954, hier II, 143; als Parallele zu Lk 15,11-32 zitiert bei Bill. II, 216. Vgl. z.B. Abrahams, aaO. I, 142; N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich? 1972, 98.104. 3
Die Untergliederung in (1) etc. soll den Vergleich von Gleichnis und Anwendung erleichtern.
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(2) Und der König sandte seinen Pädagogen hinter ihm her und sagte zu ihm: Kehre um1, mein Sohn. (3) Und der Sohn sandte ihn und sagte zu seinem Vater: Mit diesem Gesicht soll ich umkehren? Und ich schäme mich vor dir. (4) Und sein Vater sandte ihn und sagte zu ihm: Mein Sohn, gibt es einen Sohn, der sich schämt, umzukehren zu seinem Vater? Und wenn du umkehrst, kehrst du nicht um zu deinem Vater? So: (2) Der Heilige, gesegnet sei er, sandte Jeremia zu Israel, als sie sündigten (1), und sagte zu ihm: Gehe und sage zu meinen Söhnen: Kehret um. Woher? Weil gesagt ist: 'Gehe und rufe diese Worte* usw. (Jer 3,12). (3) Und die Israeliten sagten zu Jeremia: Mit diesem Gesicht sollen wir umkehren zum Heiligen, gesegnet sei er? Woher? Weil gesagt ist: 'Wir wollen uns hinlegen in unserem Schamgefühl, und unsere Schmach soll uns bedecken' usw. (Jer 3,25). (4) Und der Heilige, gesegnet sei er, sandte und sagte zu ihnen: Meine Söhne, wenn ihr umkehrt, kehrt ihr nicht um zu eurem Vater? Woher? 'Denn ich wurde für Israel zum Vater' usw. (Jer 31, 9)."
Der auf R. Mei'r zurückgeführte Maschal ist wahrscheinlich zur Erklärung von Jer 31, 9 erfunden worden. Diese Stelle ist es jedenfalls, die als letzte von insgesamt drei Jeremiastellen am Schluß der Anwendung, also bei der Applikation der Pointe, zitiert wird, die durch ihre Rede von Jahwe als Vater aber auch die Wahl des Sujets beeinflußt hat. Mit Dtn 4, 30 dagegen dürfte der Maschal erst vom Verfasser des Midrasch in Verbindung gebracht worden sein: Er entdeckte die Überschneidung im Motiv der Umkehr. Die Exposition stellt dem Hörer den Sohn eines Königs vor, der in böser Art auszieht (1). Das ist, wie bereits der Blick auf den Gleichnistorso der S'elthoth (Text XV a) zeigt, ein topischer Zug, bei dem weder interessiert, worin die böse Art besteht, noch, warum der Auszug erfolgt. Die Aufmerksamkeit wird allein darauf gelenkt, daß es ein Sohn ist, der die verwerfliche Initiative zur Trennung vom König ergreift. Das wird durch den Beginn des Hauptteils bestätigt, ist es jetzt doch der König, der durch die Sendung eines Boten2 den mutwillig geschaffenen Abstand überbrückt und den Adressaten seiner Botschaft ausdrücklich als "mein Sohn" anreden läßt, der umkehren soll (2). Was ist das für ein Vater, der König! Ohne Rücksicht auf seine verletzte Würde will er das Geschehene ungeschehen machen! Und: Kein Sohn, der aus nichts als Bosheit sein Vaterhaus verläßt, darf wagen, von sich aus
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"Umkehren" und "umkehren lassen" liegt hier und in den folgenden Gleichnisüberlieferungen außer bei den Schriftzitaten nicht die Wurzel 2117, sondern IT!! zugrunde. 2
Zur Beliebtheit des Pädagogen als Gleichnisfigur vgl. Ziegler, Königsgleichnisse, 419ff.
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Es gibt Parallelen
umzukehren! Er muß vor Scham über seine Tat im Boden versinken! Das jedenfalls sind die beiden Teile der Hörerreaktion, die der Erzählerin der Fortsetzung aufgreift. Zunächst inszeniert er, daß der Sohn den Boten zurücksendet und dem König als "seinem Vater" ausrichten läßt (3): Er könne, so hebt eine rhetorische Frage hervor, nicht umkehren (3a), und zwar, so heißt es weiter, aus Scham vor dem, den er verlassen hat (3b). Dadurch aber wird der, der in böser Art auszieht, von einer Antipathiezu einer Sympathiefigur, die es "seinem Vater" ermöglicht, den Boten anschließend noch einmal auf den Weg zu schicken. Er gibt ihm diesmal und das ist die Pointe - zwei rhetorische Fragen mit auf den Weg (4), die die Aufforderung zur Umkehr (2) begründen. Die erste entfaltet den Sinn der Anrede des Frevlers als "mein Sohn": Kein Sohn braucht sich vor "seinem Vater" der Umkehr zu schämen (4a). Die zweite unterstreicht diese Aussage durch die Hervorhebung der Rolle dessen, der redet: Es ist "dein Vater", zu dem der Sohn umkehren soll (4b). Der Maschal erzählt also eine Geschichte unter Menschen, deren offener Schluß dafür eintritt, daß ein Sohn, der sich vom Vater losgesagt hat, zu diesem umkehren darf. Scham allerdings, so erfahren wir, ist die Voraussetzung der Umkehr, und wir erfahren auch, daß der Vater die Aufforderung dazu ergehen läßt. Gleichzeitig jedoch findet sich eine Fülle von Wörtern, die wie "König", "Vater", "Sohn", "senden" und "umkehren" jeden rabbinisch geschulten Hörer unausweichlich darauf stoßen, daß die Geschichte noch auf einer zweiten Ebene zu lesen ist. Auch unabhängig von der Anwendung weiß er, daß der Maschal Israels Stellung vor Jahwe beleuchtet: Das Volk Gottes hat sich von Jahwe als seinem König losgesagt, wird von diesem durch die Sendung eines Propheten jedoch zur Umkehr aufgefordert. Israel schämt sich, der Aufforderung Folge zu leisten, braucht sich dadurch aber nicht von der Umkehr abhalten zu lassen, weil seine Beziehung zu Jahwe so intim ist wie die eines Sohnes zu einem Vater. Nun ist es freilich noch nicht die Doppeldeutigkeit einzelner Wörter, die den Maschal übertragbar macht. Entscheidend ist vielmehr erst, daß diese Wörter Reizwörter innerhalb eines im ganzen vertrauten Vorstellungszusammenhangs sind, haben wir hier doch den ersten Beleg der bereits
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genannten Kombination1 vor uns: Die überkommene Vater-Sohn-Metaphorik steht im Dienste einer Deutung der nachexilischen Situation, deren deuteronomistische Kategorien inklusiv der Auffassung der Propheten als von Gott gesandten Umkehrpredigern nicht weniger überkommen sind.2 Genauer: Dem deuteronomistischen Verständnisder Gegenwart wird durch die Plausibilitätsstruktur eines patriarchalen Vaterbildes neues Leben eingehaucht. Ist der Maschal auch ohne Anwendung auf seine theologische Aussage hin lesbar, so heißt das nicht, daß er je als solcher existiert hat. Denn auch er will die Exegese der Schrift fördern, und Schriftstellen kann ein Maschal nur mit Hilfe einer Anwendung auslegen. Der Hinweis auf seine Lesbarkeit macht aber darauf aufmerksam, daß er nicht aus mehr oder weniger willkürlich zusammengesuchten Einzelstellen konstruiert worden ist, sondern diese einem vorgängigen Gesamtentwurf zuordnet: Aus der Verwurzelung in lebendigen theologischen Traditionen liest der Rabbi die Schrift und teilt dem Hörer, der in den gleichen Traditionen zu Hause ist, seine Entdeckung des Sinns einer einzelnen Stelle und ihres Zusammenhangs mit einer oder mehreren anderen Stellen durch die Erfindung eines Maschais mit. Das schließt natürlich nicht aus, daß die Vertrautheit mit den Traditionen ihrerseits aus dem Studium der Schrift erwachsen ist. Für die Vater-Sohn-Metaphorik jedenfalls ist das genauso mit Händen zu greifen wie für das deuteronomistische Geschichtsbild. Mit Ausnahme der Exposition, die in den Beginn des Hauptteils integriert ist, erstreckt sich die Anwendung auf den gesamten Maschal. In drei parallel aufgebauten Abschnitten bietet sie zunächst jeweils eine Übersetzung der ersten Sendung des Boten durch den König (2), der Sendung durch den Sohn (3) und der zweiten Sendung durch den König (4). An die Übersetzung schließen sich jeweils zwei kurze Formeln an. Die erste fragt nach der begründenden Schriftstelle und die zweite, die beim dritten Abschnitt allerdings fehlt, führt die Schriftstelle ein. Den Schluß bildet deshalb jeweils ein Zitat. Bei der Übersetzung der ersten Sendung des Boten (2) erfahren wir, daß der König auf den "Heiligen, gesegnet sei er", der Pädagoge auf Jeremia und der Sohn auf Israel bezogen
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S.O.S. 325.
2
Vgl. Steck, Geschick der Propheten, 86ff.
332
Es gibt Parallelen
sind. Dabei wird durch den Nebensatz, nach dem Israel "sündigte", zugleich eine Applikation der Aussage gegeben, daß der Sohn in böser Art auszieht (1). Wichtiger ist, daß die Aufforderung zur Umkehr, mit der Jeremia vom Heiligen ausgesandt wird, mit dem Auftrag des ausgesandten Pädagogen übereinstimmt Ihm ist durch "gehe und sage..." ein Rekurs auf die Situation der Beauftragung vorangestellt, der sich als Vorwegnahme der entsprechenden Formulierung aus Jer 3,12 erklärt. Erstaunlicherweise bricht das Zitat der Stelle danach allerdings mit "usw." ab, so daß der Umkehrruf Jeremias, der die Schriftbasis für den Umkehrruf des Pädagogen darstellt, ausgespart ist. Das zeigt exemplarisch, wie groß das Maß an Schriftkenntnis ist, das der Sprecher beim Hörer voraussetzen kann. Bei der Übersetzung der Sendung des Pädagogen durch den Sohn (3) stellt Israel in genauer Korrespondenz zum Wortlaut des Maschais in einer rhetorischen Frage fest, daß es nicht zum "Heiligen, gesegnet sei er", umzukehren wagt (3a). Es fehlt jedoch eine Entsprechung zur Feststellung der Scham des Sohnes (3b). Diese ist erst dem Zitat aus Jer 3, 25 zu entnehmen, wo infolgedessen eine Schriftbegründung für die Übersetzung fehlt. Zusammenfassend heißt das: Die Übersetzung deckt den ersten und das Jeremiazitat den zweiten Teil der Rede des Sohnes ab. Ein ähnliches Phänomen läßt sich bei der Übersetzung der zweiten Sendung des Pädagogen durch den König (4) beobachten. Denn hier bleibt die erste der beiden rhetorischen Fragen (4a) ohne Echo. Übersetzt wird nur die zweite Frage, die betont, daß es ja der Vater ist, zu dem der Sohn umkehrt (4b). Nur sie wird dementsprechend auch durch das Zitat aus Jer 31,9 begründet, weist Jahwe hier doch auf sein Vatersein für Israel hin. Da Jer 31, 9 ausschließlich die Metapher als solche erwähnt, wird sehr schön erkennbar, daß der Maschal sie mit Momenten eines Vaterbildes erweitert, das der Metapher selber neue Züge abgewinnt. Ja, soll der Hörer am Ende der Anwendung sagen: Als wir sündigten, hat Jahwe Jeremia zu unserem Volk gesandt mit dem Ruf: Kehrt um! Das zeigt Jer 3, 12. Wir aber haben aus Scham vor unserer Tat nicht den Mut zur Umkehr aufgebracht. Das zeigt Jer 3, 25. Jahwe hat uns durch den Propheten daraufhin eindringlich vor Augen geführt, daß Scham uns nicht von der Umkehr abhalten darf. Das zeigt Jer 31, 9. D e n n hier ist ja nicht nur bezeugt, daß er unser Vater ist. D i e Stelle enthält vielmehr zugleich den Schlüssel für die Erkenntnis des geheimen Zusammenhangs mit den anderen beiden Jeremiasteilen. Das hat der Rabbi entdeckt und uns durch seinen Maschal enthüllt. Wenden wir uns dem" Vergleich mit Lk 15, 11-32 zu, so ist das formgeschichtliche Verhältnis ähnlich zu bestimmen wie bei R. Mei'rs Maschal vom König mit zwei Söhnen (Text XIV). 1 Als erstes fällt die Übereinstimmung im reichlichen Gebrauch der wörtlichen R e d e auf. Sie ist hier
1
S.o.S. 319f.
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besonders signifikant, weil die rhetorischen Fragen, die der König dem Sohn in (4) stellt, die gleiche Funktion haben wie die Worte, mit denen der Vater nach Lk 15, 31f auf die Vorwürfe des älteren Sohnes reagiert: Sie dienen der argumentativen Überführung. Deswegen ist es auch keineswegs zufällig, daß das Gleichnis beidemal mit einem offenen Schluß endet: Der Hörer selber hat zu prüfen, ob ihn die vorgetragenen Argumente überzeugen. Das erzählte Geschehen beschränkt sich beim Rabbi nach der Exposition auf die dreimalige "Sendung" des Pädagogen und das ebenfalls dreimalige "Sagen" der Protagonisten, und die Besprechung kennt nur ein einziges Thema: die Umkehr des Sohnes. Bei Jesus dagegen finden sich mehrere rein narrative Passagen mit einer großen Fülle verschiedenartiger Handlungen und Ereignisse, und entsprechend vielfältig sind die Themen der Besprechung. Es ist leicht zu erkennen, was auch hier der Grund für die konträre Ausschöpfung der Möglichkeiten ist, die eine "narratio" bietet: Der Maschal des Rabbi kann geschehensarm sein, weil die exegetische Schuldiskussion die rein "gedankliche" Beweisführung durch Reden fördert. Das Gleichnis Jesu muß sich dagegen um einen lebendigen Wechsel von anschaulichen Geschehnissen und deutenden Reden bemühen, weil es den Hörer nur durch eine intensive Verstrickung in die erzählte Welt für eine provokative Lebenspraxis gewinnen kann. Achten wir auf den Inhalt, so fällt auf, daß der Erzähler zu Beginn des Geschehens beidemal von einem Sohn spricht, der in böser Art auszieht auch wenn Lk 15, 12f nicht nur ungleich anschaulicher, sondern geschickter formuliert ist, erfährt der Hörer hier doch erst am Ende eines langen Weges, daß ein heilloses Leben das Ziel des Auszugs ist. Nach dem vergleichbaren Anfang trennen sich beide Geschichten: Während beim Maschal der Vater die Initiative ergreift, ist es nach Lk 15,14-16 der Sohn, der infolge seiner Tat in eine ebenso ausweglose wie Mitleid erregende Not gerät. Erstaunlich ist allerdings, daß beides den gleichen Effekt hat: Der Sohn wird mit der Frage der Umkehr zum Vater konfrontiert. Beim Rabbi schämt er sich, die Umkehr zu vollziehen, und bei Jesus bekennt er nach Lk 15, 17-19.21 seine Tat als Sünde, die den Verlust der Sohnschaft zur Folge hat, und er wagt die Umkehr nur deswegen, weil er um Anstellung als Tagelöhner bitten will. Beidemal zieht er den Hörer dadurch auf seine Seite, und beidemal wird indirekt zu erkennen gegeben:
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Es gibt Parallelen
Nur so ist Umkehr möglich! Dem gibt die Fortsetzung freilich einen jeweils anderen Akzent: Beim Maschal bietet der Vater Argumente für die Umkehr auf, und natürlich ist dabei vorausgesetzt, daß der Umkehrende zu Hause wieder aufgenommen wird. Beim Gleichnis Jesu dagegen ist vorausgesetzt, daß die Art, wie die Umkehr beschrieben wird, überzeugt, so daß Lk 15, 20.22 auch die Aufnahme selber geschildert werden kann. Ganz ohne Analogie ist erst, daß der Vater nach Lk 15, 23f ein Festmahl stiftet, an dem die Freude über den Umkehrenden zum Ausdruck kommen soll. Berücksichtigt man den jeweiligen Kontext, so kann das Resümee des Vergleichs nur lauten: Das Modell der Beziehung zu Gott, das der Maschal des Rabbi für Israel, insofern es Sünder ist, in Anspruch nimmt, appliziert der erste Teil des Gleichnisses Jesu auf Sünder innerhalb von Israel. Dabei wird zwar das eine Mal die Umkehr und das andere Mal die Freude über die Umkehr in den Vordergrund gerückt. Doch ist es beidemal das gleiche, je nach Redezweck verschieden akzentuierbare Vaterbild, das dem gemeinsamen Modell die Überzeugungskraft gibt. Anders als der Maschal des Rabbi besitzt das Gleichnis Jesu in Lk 15, 25-32 einen bereits durch die Überschrift V. 11 vorbereiteten zweiten Teil. Er spiegelt wider, daß sich der Erzähler der Kritik Gerechter an seinem Umgang mit Sündern zu erwehren hat, und der offene Schluß signalisiert, daß der Ausgang des Konflikts noch unentschieden ist. Zwar zeichnet sich auch der Maschal durch einen offenen Schluß aus. Doch ist das keineswegs ein Indiz dafür, daß der Erzähler mit einer Kritik seines Eintretens für den Sünder Israel rechnet, und erst recht deutet nichts auf eine Kritik speziell von Seiten Gerechter hin. Der Rabbi rechnet allenfalls mit einer Kontroverse zu seiner Exegese von Jer 31, 9. Die rhetorischen Fragen am Schluß haben jedenfalls die Aufgabe, einer solchen Kontroverse vorzubeugen. Vor allem aber sollen sie dem Hörer einprägen, daß Israel nur durch beständige Umkehr vor Jahwe als seinem Vater bestehen kann. Der zweite Maschal von einem Vater und einem frevlerischen Sohn thematisiert ebenfalls das Problem der Umkehr. Hier wird es jedoch nicht vom Vater an den Sohn, sondern von einem Anwalt des Sohnes an den Vater herangetragen. Das ermöglicht es, einen anderen Aspekt ihrer Beziehung in den Vordergrund zu rücken. In seiner ursprünglichsten
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Fassung ist der Maschal zusammen mit der zugehörigen Anwendung erhalten in hfkhiltha, BfSallah IV, zu 14, 15} Text XVII: "'Und Jahwe (DttPH) sagte zu Moses: Was schreist du zu mir?' usw. (Ex 14,15)...2 R. Abäalom der Alte (ansonsten unbekannter Tannait) sagte: Ein Gleichnis. Wem gleicht die Sache? Einem Menschen, der zornig war auf seinen Sohn und ihn aus seinem Haus vertrieb. Sein Freund ging hinein, um Treue zu erbitten und ihn umkehren zu lassen in sein Haus. Er sagte zu ihm: Erbittest du irgendetwas von mir außer wegen meines Sohnes? Längst bin ich wohlgesonnen meinem Sohn. So 'sagte der Heilige zu Moses: Was schreist du?' (Ex 14, 15a). Nicht wegen meines Sohnes? Längst bin ich wohlgesonnen meinem Sohn. 'Sage zu den Söhnen Israels, sie sollen aufbrechen' (Ex 14,15b)."
Stilgemäß beginnt R. Abäalom der Alte 3 seinen Maschal mit einer unmotivierten Exposition: Aus Zorn, dessen Berechtigung vorausgesetzt ist, vertreibt ein Mann seinen Sohn aus dem Haus. Das eröffnet dem Erzähler die Möglichkeit, zu Beginn des Hauptteils einen Freund des Mannes aufzubieten, der seiner Bitte, den Vertriebenen nach Hause umkehren zu lassen, durch den Appell an die Treue den nötigen Nachdruck verleiht. Dabei wird als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn auch nicht als solches erwähnt, daß die Bereitschaft zur Umkehr besteht. Nahegelegt werden soll dem Hörer aber nur dies: Einer Bitte, die sich auf das um keinen Preis zu zerstörende Fundament einer Freundschaft berufen kann, darf die Erfüllung nicht verweigert werden. Das jedenfalls ist es, was die Pointe bestätigt. Durch eine rhetorische Frage vergewissert sich der Mann hier zunächst der Tatsache, daß die Bitte keinem anderen gilt als "meinem Sohn", also demjenigen, der dem Herzen eines Vaters am nächsten steht. Denn nur weil das der Fall ist, kann er anschließend feststellen, sein Zorn sei schon längst wieder in die Primärtugend eines Vaters gegenüber "meinem Sohn" umgeschlagen: die Wohlgesonnenheit. Wir haben auch hier eine Geschichte unter Menschen vor uns. Sie lehrt, daß ein Mann seinem Sohn, den er aus Zorn aus dem Haus vertrieben hat,
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Text nach: Lauterbach, aaO. 1,218f; zitiert bei Fiebig, Altjüdische Gleichnisse, 34f, bisher aber offenbar noch nicht mit Lk 15,11-32 in Verbindung gebracht. Die Varianten in Siphre zu Num, zu 11,2, und SchemR XXX, 10, zu 14,16 (sie!), sind deutlich sekundär. 2 3
Es folgen mehrere Erklärungen der Stelle.
Schon die Handschriften der M'khiltha bieten drei weitere Varianten des Namens, deren eine auch in SchemR zu finden ist, während Siphre zu Num noch eine vierte hinzufügt.
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sehr schnell wieder wohlgesonnen ist. Sie lehrt darüber hinaus, daß der Umschlag des Affektes dem Appell eines Freundes zu verdanken ist, der den Mann durch die Beschwörung der Grundlage ihrer Beziehung bedrängt, dem Vertriebenen die Umkehr nach Hause zu erlauben. Gleichzeitig gibt es aber auch hier genügend Signale, die den Hörer noch vor jeder Anwendung darauf aufmerksam machen, daß der Maschal Israels Stellung vor Jahwe beleuchtet: Jahwe hat sein Volk aus Zorn - über seine Sünde - aus dem Land der Väter vertrieben. Moses aber, der als Gottes Freund der bestgeeignete Anwalt Israels ist, tritt ebenso geschickt wie beharrlich dafür ein, daß dem Vertriebenen die Umkehr ins Land nicht verweigert wird. Jahwe verschließt sich seiner Bitte nicht, muß er doch eingestehen, daß sie ausschließlich zugunsten des eigenen Sohnes erfolgt, dem er schon längst wieder wohlgesonnen ist. Die Anwendung, die sich nur auf die Pointe bezieht, besteht diesmal nicht aus zwei deutlich voneinander abgehobenen Teilen. Statt auf eine Übersetzung ein als solches kenntlich gemachtes Schriftzitat folgen zu lassen, verschmilzt der Rabbi beides zu einer Einheit ganz eigener Art. Durch Zitation von Ex 14, 15a wird zunächst darauf aufmerksam gemacht, daß die rhetorische Frage, die der Mann seinem Freund stellt, Jahwes Frage an Moses im Auge hat: "Was schreist du?" entspricht "erbittest du...?" Anschließend wird in enger Anlehnung an den Wortlaut des Maschal expliziert, daß Jahwe wissen will, ob Moses "wegen meines Sohnes" schreit, dem er seinerseits, so heißt es weiter, "längst wohlgesonnen" ist. Es versteht sich also von selbst, daß mit "meinem Sohn" Israel gemeint ist. Das Selbstverständliche wird durch Zitation von Ex 14,15b allerdings als solches bewußt gemacht: Die Wohlgesonnenheit veranlaßt Jahwe, Moses den Auftrag zu geben, er solle die "Söhne Israels" zum Aufbruch auffordern.
Die Anwendung zeigt, daß der Maschal erfunden worden ist, um die als schwierig empfundene Abfolge von Ex 14,15a und Ex 14,15b zu erklären. In einem ersten Schritt interpretiert der Rabbi Jahwes Frage nach dem Schrei des Moses: Es handelt sich um die Frage nach der Fürbitte eines Freundes für den Sohn. In einem zweiten Schritt erläutert er, daß der Auftrag, der sich an.die Frage anschließt, den Erfolg der Fürbitte voraussetzt: Jahwe ist seinem Sohn wohlgesonnen, als er, wie die Schrift sagt, die "Söhne Israels" zum Aufbruch auffordern läßt. Wir stehen vor einem erstaunlichen Ergebnis: So wie R. § e muel Pargerita (Text XVI) entnimmt auch R. Abäalom der Alte der Schriftstelle, die er erklären will, das Sujet des Maschais, den er für die Erklärung
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erfindet. Jener greift aus Jer 31,9 die Bezeichnung Jahwes als "Vater" auf, dieser aus Ex 14, 15 den Ausdruck "Söhne Israels", und bei beiden ist es erst die Pointe, die den Sinn der Schriftstelle durch ein Wort aus dem Munde des Vaters erschließt. Doch hat die Verschiedenartigkeit der exegetischen Aufgabe zur Folge, daß auch die Pointe verschieden ist, und um der Pointe eine möglichst große Durchschlagskraft geben zu können, muß schließlich auch dem Maschal im ganzen ein jeweils anderes Profil gegeben werden. So setzt R. § e muel Pargerita bei der Initiative des Sohnes ein und R. Abäalom der Alte bei der Initiative des Vaters: Der Sohn des Königs zieht aus in böser Art, und der Mensch vertreibt seinen Sohn voll Zorn aus dem Haus. Der Auszug läßt den Vater, die Vertreibung dagegen den Freund des Vaters aktiv werden: Der Mensch fordert den Ausgezogenen durch einen Boten zur Umkehr auf, und der Freund bittet den König, den Vertriebenen in das Haus umkehren zu lassen. Die Aufforderung zur Umkehr verlangt ihrerseits nach einer Reaktion des Sohnes: Über den Boten läßt er sagen, daß er aus Scham nicht umzukehren wage. Das ermöglicht es dem Vater, ihm vor Augen führen zu lassen, daß kein Sohn die Umkehr zum Vater zu scheuen braucht. Die Bitte des Freundes gestattet es dagegen, unmittelbar zum Wort des Vaters überzugehen: Da die Bitte dem Sohn gilt, ist sein Zorn längst in Wohlgesonnenheit umgeschlagen. Der Durchgang zeigt, daß der Erzähler beidemal an das Wissen appelliert, das der Hörer von einer patriarchalen Vater-Sohn-Beziehung hat, daß er die Aufmerksamkeit dabei jedoch primär nur auf eine der beiden Personen lenkt, die die Beziehung konstituieren: R. $ e muel Pargerita arbeitet heraus, daß es der Vater ist, der den Sohn zur Umkehr zu bewegen sucht, R. Abäalom der Alte dagegen, daß es der Sohn ist, dem der Vater wohlgesonnen ist.1 Ersteres soll Israel reizen, dem prophetischen Ruf zur Umkehr Folge zu leisten, während letzteres die Gewißheit vermitteln möchte, daß Jahwe seinem Volk aufgrund der Fürbitte von Moses wohlgesonnen ist.
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Weder in der Pointe noch im übrigen Gleichnis wird auch nur ein einziges Mal hervorgehoben, daß der Mensch, der den Sohn vertreibt, in der Rolle des Vaters agiert!
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Wenden wir uns dem Vergleich mit Lk 15, 11-32 zu, so ist erneut zu konstatieren, daß die Form der "narratio" sehr verschieden akzentuiert wird: Dem ausgewogenen Verhältnis von erzählenden und besprechenden Partien bei Jesus steht bei R. Abäalom dem Alten gegenüber, daß sich die Handlungen und Ereignisse nach der Exposition auf ein unanschauliches "Hineingehen" und ein "Sagen" beschränken, die Besprechung also, der eine indirekte und eine direkte Rede dient, ein deutliches Übergewicht besitzt. Darin spiegelt sich auch hier wider, daß der eine gegenüber Kritikern und Gegnern verteidigt, was der andere vor Kollegen und Schülern darlegt. Dementsprechend findet sich beim Maschal weder zur Überschrift noch zum zweiten Teil des neutestamentlichen Gleichnisses eine Parallele. Ja, da auch eine Analogie zu Lk 15,12f fehlt, sind selbst die Berührungen mit dem ersten Teil gering. Sie lassen sich zudem nur dann erkennen, wenn man den Vordergrund des einen Textes mit dem Hintergrund des anderen ins Gespräch bringt. So hebt der Rabbi hervor, daß der Mensch seinem Sohn am Anfang mit Zorn und am Schluß mit Wohlgesonnenheit begegnet. Zorn aber packt zweifellos auch den Vater, dessen Sohn nach Lk 15, 12f das Erbe einfordert, um es in der Ferne zu verschleudern, und das Verhalten, von dem wir in Lk 15, 20b-c.22-24 erfahren, setzt voraus, daß der Zorn in Wohlgesonnenheit umgeschlagen ist. Doch wird weder der eine noch der andere Affekt als solcher erwähnt. Umgekehrt führt Lk 15,17-19.20a.21 in aller Breite vor Augen, wie der Sohn die Umkehr vollzieht, und Lk 15, 20b-c.22-24 schildert nicht weniger breit, welchen Empfang der Vater ihm bereitet. Der Maschal dagegen geht zwar davon aus, daß der Sohn umgekehrt ist, als der Freund des Vaters für ihn bittet, und die Wohlgesonnenheit signalisiert, daß er mit der Aufnahme ins Haus des Vaters rechnen kann. Doch wird weder das eine noch das andere ausdrücklich gesagt. Zusammenfassend heißt das: Der je verschiedene Ausgangspunkt hat zur Folge, daß die beiden Gleichnisse trotz des gleichen Sujets auf der Erzählebene soviel wie keine einzige Entsprechung aufweisen. Gemeinsam ist lediglich das Motiv der Umkehr: Jesus entfaltet es im einzelnen, und R. AbSalom der Alte bringt es durch die Bitte des Freundes zur Geltung.
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Es gibt im rabbinischen Judentum mindestens drei Gleichnisse von einem Vater und einem frevlerischen Sohn1, deren Exposition die Initiative des Sohnes (Text XVI) und die des Vaters (Text XVII) miteinander kombiniert. Zwei davon lassen den Sohn anschließend in eine Not geraten und appellieren beim Hörer am Schluß an einen bisher noch nicht belegten Aspekt dessen, was einen Vater bzw. einen Sohn auszeichnet. Das dritte schickt den Sohn nicht in eine Not, sondern konfrontiert ihn statt dessen mit einer Forderung des Vaters und wirft durch seine Pointe ein neues Licht auf das Problem der Umkehr. Das erste dieser Gleichnisse findet sich in einer Einheit, die SchemR XLVI, 4, zu 34, 1, erhalten ist.2 Text XVIII: "Eine andere Erklärung: 'Haue dir' (Ex 34, 1). Dies ist es, was geschrieben steht: 'Und jetzt, Jahwe (OtPH), bist du unser Vater. Wir sind der Ton und du bist unser Bildner' (Jes 64, 7). Der Heilige, gelobt sei er, sagte zu Israel: Jetzt bin ich euer Vater. Wenn ihr euch in Not seht, ruft ihr mich 'unser Vater'. Sie sagten: Ja. Weil gesagt ist: 'Am Tage meiner Not suchte ich Jahwe (DB7H)' (Ps 77, 3). Ein Gleichnis. (Sc. Wem gleicht die Sache?) Dem Sohn eines Amtsarztes, der auf einen Quacksalber traf und anfing, ihn zu begrüßen. Er sagte zu ihm: Herr, mein Herr, mein Vater. Sein Vater hörte (sc. das) und wurde zornig auf ihn. Er sagte: Nicht mehr soll er mein Angesicht sehen, da er ja den Quacksalber ruft 'mein Vater'. Nach Tagen erkrankte der Sohn. Er sagte: Mit einer Bitte ruft meinen Vater, daß er mich sieht. Sie kamen und sagten (sc. es) seinem Vater. Sofort wurde rege sein Erbarmen über ihn, und er stieg hinauf zu ihm. Und er sagte zu ihm: Jetzt bitte ich dich, mein Vater, betrachte mich. Er sagte zu ihm: Jetzt bin ich dein Vater. Gestern hast du noch zu dem Quacksalber gerufen 'mein Vater'. Jetzt, weil du in Not geraten bist, rufst du mich 'mein Vater'. So: Der Heilige, gesegnet sei er, sagte zu Israel: Jetzt ruft ihr mich 'mein Vater'. Gestern habt ihr noch dem Dienst der Sterne gedient und ihn gerufen 'mein Vater'. Weil gesagt ist: 'Die da sagen zum Holz: Mein Vater bist du' usw. 'Und in der Zeit ihrer Not sagen sie' usw. (Jer 2, 27). Darum ist gesagt: 'Und jetzt, Jahwe (DtT!-!), bist du unser Vater' (Jes 64,7)."
Die Einheit, deren Zuordnung zu Ex 34,1 sekundär sein dürfte3, gliedert
1
Beim zweiten sind an die Stelle des Sohnes "Söhne" getreten.
2
Text nach: M. A. Mirkin (Hrsg.), H3T l i m a , I-VII, Tel-Aviv 1956-1961, hier VI, 177f; als Parallele zu Lk 15,11-32 zitiert bei Fiebig, Gleichnisreden Jesu, 197-199. Vgl. Jülicher, aaO. II, 362; Bill. II, 216. 3
Da Ex 34,1 weder zitiert noch erklärt wird, vermute ich, daß der Verfasser des Midrasch die Einheit aufgrund des Motivs vom Erbarmen des Vateii als Kommentar zu der für die rabbinische Gotteslehre so wichtigen Stelle von Ex 34, 6f verstanden hat. Die Zuordnung zu 34, 1 ergibt sich dann daraus, daß der Midrasch nach 34, 1 erst wieder bei 34, 27f
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Es gibt Parallelen
sich wie Text XIV in drei Teile: Sie beginnt mit einer Exegese von Jes 64, 7, erhärtet diese anschließend durch einen Maschal und endet mit einer Anwendung, die am Schluß stilgemäß noch einmal auf Jes 64, 7 zurückkommt. Nachdem er Jes 64,7 zitiert hat1, erfindet der anonyme Autor eine Rede Jahwes, in der dieser zunächst hervorhebt, Israel erkenne ihn nach dieser Stelle "jetzt" als seinen Vater an. Das Jetzt aber, so führt Jahwe fort, beziehe sich darauf, daß sein Volk ihn nur in der Not als "unser Vater" anruft. Israel bestätigt, daß Jahwe Jes 64, 7 zutreffend kommentiert, und der Autor fügt hinzu, das gehe aus Ps 77, 3 hervor. Den Hörer aber stürzt er damit in eine Fülle schwieriger Fragen2: Wieso ruft Israel seinen Gott nur in der Not als "unser Vater" an? Hat es Jahwe vor dem Jetzt der Not etwa nicht als Vater anerkannt? Hat es da gar einen anderen Gott als "unser Vater" angerufen? Um diese Fragen zu beantworten, erfindet der Rabbi einen Maschal.3 Die Exposition stellt den Sohn eines Amtsarztes vor, der auf einen Quacksalber trifft, und die Begrüßung, mit der er sich diesem nähert, demonstriert ebenso knapp wie pointiert, wie groß der Frevel ist, der hier begangen wird: Der Sohn redet den Quacksalber als "Herr" an, dem er Ehrerbietung erweist, als "mein Herr", dem er sich unterwirft, ja, als "mein Vater", den er sich zum Lehrer erwählt. Was ist das für ein Sohn, der seinen natürlichen Vater und Lehrer verwirft und der sich statt einem allgemein anerkannten Amtsarzt der "patria potestas" eines verachteten Kurpfuschers unterstellt! Der Hörer jedenfalls, der ist empört. Er begrüßt deswegen mit Nachdruck, was der Amtsarzt in seiner Rolle als Vater voll Zorn beschließt: Der, der den Quacksalber "mein Vater" ruft, darf sein Angesicht "nicht mehr sehen". Zu einer Wende kommt es erst, als der Erzähler den Frevler zu Beginn des Hauptteils krank werden läßt. Denn die Erkrankung führt zur Besinnung: Der Sohn richtet dem, den er "nicht mehr sehen" soll, durch Dritte die Bitte aus, er möge ihn "sehen", und die Bezeichnung des
fortfährt. 1
Die Einführungsformel dient der Verknüpfung mit Ex 34, 1, ist also sekundär.
2
Vgl. R. Mei'rs Exegese von Ps 68, 28 (Text XIV)!
3
Vgl. Text XIV!
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Empfängers der Botschaft als "meinem Vater" zeigt, daß damit die Abkehr vom Quacksalber vollzogen ist. Das weckt ähnlich wie das Aufgebot der Krankheit des "luxuriosus" im "aeger redemptus" (Text V) 1 beim Hörer die Erwartung, daß sich der Amtsarzt dem Hilferuf nicht verschließen wird. Und in der Tat: "Sofort" packt ihn diejenige Tugend eines Vaters, auf die ein Sohn in der Not rechnen kann: das Erbarmen. Was ist das für ein Vater! Er ist bereit, sich über die tiefste Verletzung seiner Würde hinwegzusetzen, die ihm angetan werden kann, und steigt zum Kranken hinauf. Das ermöglicht es dem Sohn, dem Vater nun selber seine Bitte vorzutragen: Er möge ihn, der sein Angesicht "nicht mehr sehen" soll, der ihn jetzt aber mit "mein Vater" anredet, "betrachten". Der Amtsarzt antwortet darauf mit drei genau aufeinander abgestimmten Sätzen, die die Pointe ausmachen. Zunächst konstatiert er, was der Sohn durch die Anrede gerade zum Ausdruck gebracht hat: "Jetzt" erkennst du mich als "deinen Vater" an. Anschließend fügt er kontrastierend hinzu: Noch "gestern" hast du den Quacksalber gerufen "mein Vater". Zum Schluß nimmt er die erste Aussage wieder auf, kommentiert sie aber durch den Hinweis auf die Lage, in der sich der Sohn befindet: Nur weil du "in Not" geraten bist, rufst du mich "jetzt" "mein Vater". Der Maschal arbeitet also heraus, daß der Sohn eines Amtsarztes, der einen Quacksalber zu seinem Vater macht, sich erst in der Not darauf besinnt, wer sein eigentlicher Vater ist und deswegen als "mein Vater" angerufen zu werden verdient. Aufgrund einer Fülle konterdeterminierter Wörter und Wendungen kann allerdings auch hier kein rabbinisch geschulter Hörer übersehen, daß der Maschal zugleich Israels Verhältnis zu Jahwe thematisiert: Als Israel Götzen als "mein Vater" anruft, verbannt Jahwe es aus seinem Angesicht, so daß die Not, bei der ans Exil gedacht sein mag, nicht lange auf sich warten läßt. Sie zwingt das Volk Gottes, sich zu vergegenwärtigen, wer sein wirklicher Vater ist. Es bittet Jahwe deshalb durch die - hier nur unbetont ins Spiel gebrachten - Propheten, er möge ihm sein Angesicht wieder zukehren. Jahwe verschließt sich dieser Bitte nicht, weil ihn das Erbarmen eines Vaters über seinen Sohn übermannt. Er erspart Israel aber auch nicht die schonungslose Konfrontation mit dem
1
Vgl. auch Text VII-Vila.
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Es gibt Parallelen
Motiv seiner Umkehr: Nur weil es in Not geraten ist, ruft es jetzt den, den es gestern noch zugunsten der Götzen verleugnet hat, als "mein Vater" an. Die Konfrontation hat freilich zugleich die Aufgabe, Israel des einzigartigen Vorrechts zu vergewissern, das es selbst bei dem schwersten aller Vergehen genießt: Die Anrufung Jahwes als "mein Vater". Deutlich ist, daß auch dieser Maschal die Vater-Sohn-Metaphorik aufgreift und mit den Momenten einer patriarchalen Vaterbildes anreichert. Er bringt insbesondere die verpflichtenden Implikationen der Vateranrede zur Sprache. Deutlich ist aber auch, daß der Maschal sein Versprechen einlöst, die Fragen zu beantworten, die durch die Exegese von Jes 64, 7 aufgeworfen werden: Jahwe hat recht mit seiner Feststellung, das Jetzt von Jes 64, 7 beziehe sich nach Ps 77, 3 auf die Not, ohne die Israel nicht bereit ist, ihn als Vater anzuerkennen und dementsprechend als "unser Vater" anzurufen. Denn die Pointe zeigt, daß dem Jetzt der Not noch gestern die Anrufung der Götzen vorausging. Die Anwendung, die sich nur auf die Pointe erstreckt, hat die Aufgabe, die Begründung, die der Maschal für die Exegese von Jes 64, 7 gibt, unter Berufung auf die Schrift zu explizieren. Bei der Übersetzung des ersten Satzes der Rede des Amtsarztes sagt Jahwe in Entsprechung zum ersten Satz seiner Rede in der Exegese, daß Israel ihn "jetzt" als "mein Vater" anruft. Statt der Anerkenntnis, von der die Exegese spricht, registriert er also die sich aus der Anerkenntnis ergebende Anrede. Es folgt die Übersetzung des zweiten Satzes der Rede des Amtsarztes, der in der Exegese selber keine Basis hat: So wie der Sohn den Quacksalber, hat Israel den Dienst der Sterne "noch gestern" als "mein Vater" angerufen. Das wird anschließend durch den ersten Teil eines Zitats aus Jer 2, 27 als schriftgemäß erwiesen. Der zweite Teil, der unmittelbar folgt, belegt das Motiv der Not als schriftgemäß. Er hat also für die Anwendung die gleiche Funktion wie Ps 77,3 für die Exegese, stellt vor allem aber einen Beitrag zur Übersetzung des dritten Satzes aus dem Munde des Amtsarztes dar. Jer 2, 27 läßt allerdings offen, was die Israeliten in der Not "sagen". Die Stelle bleibt deshalb nicht nur eine Übersetzung des "Jetzt" schuldig, von dem der Amtsarzt spricht, sondern bietet auch keine Applikation der Anrufung als "mein Vater". Beides wird durch die Zitation von Jes 64, 7 nachgeholt, auch wenn die Anrede hier durch die Anerkenntnis Jahwes als "unser Vater" ersetzt ist.
In Anlehnung an den ersten Satz der Exegese von Jes 64, 7 beginnt der Rabbi mit einer Übersetzung des ersten Satzes der Antwort, die der Amtsarzt seinem Sohn am Schluß des Maschal gibt: Jahwe stellt fest, Israel rufe ihn "jetzt" als "mein Vater" an. Da die Aussage Jes 64, 7 zum Hintergrund hat, diese Stelle jedoch erst bei der Übersetzung des dritten
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Satzes der Antwort zitiert werden soll, kann hier auf einen Schriftbeweis verzichtet werden. Es folgt deshalb unmittelbar die Übersetzung des zweiten Satzes aus dem Munde des Amtsarztes. Sie nennt das Argument, das der Maschal für die Richtigkeit der Exegese aufbietet, das in der Exegese selber also keine Parallele besitzt: Das Jetzt hat zum Hintergrund, daß Israel "noch gestern" Gestirngötter als "mein Vater" angerufen hat. Das könne, so heißt es weiter, dem Anfang von Jer 2, 27 entnommen werden. Die Fortsetzung der Stelle belege zudem die Schriftgemäßheit des Motivs der Not. Sie hat also die gleiche Funktion wie Ps 77, 3 in der Exegese. Zusammen mit Jes 64,7 liefert Jer 2,27 allerdings zugleich die Schriftbasis für die Übersetzung des dritten Satzes, mit dem der Amtsarzt seinem Sohn antwortet: "Jetzt" - in der Not - erkennt Israel Jahwe als "unser Vater" an. Nach einer betonten Einführungsformel wird Jes 64,7 deshalb noch einmal zitiert und so dem Hörer signalisiert: Die Einheifhat ihr exegetisches Ziel erreicht. Die Analyse führt zu einem Ergebnis, das uns bereits vertraut ist: So wir R. S'muel Pargerita (Text XVI) und R. Abäalom der Alte (Text XVII) entnimmt auch der anonyme Rabbi der Schriftstelle, die er erklären will, das Sujet des Maschais, den er für die Erklärung erfindet, und auch bei ihm ist es erst die Pointe, die den Sinn der Schriftstelle durch ein Wort aus dem Munde des Vaters erschließt. Die Übereinstimmung in der exegetischen Technik beschränkt sich freilich nicht auf den Schluß, sondern erstreckt sich auf die literarische Form im ganzen. Denn auch der Maschal vom Amtsarzt und seinem Sohn wird nach der Exposition von den Reden der Protagonisten beherrscht, und auch er bringt Vater und Sohn über Dritte miteinander ins Gespräch. Am Schluß freilich kommt es zwischen beiden zu einer bisher nicht belegten direkten Konfrontation. Wichtiger noch ist, daß es drei Sätze gibt, die nicht der Einführung von Reden dienen, spiegelt sich darin doch wider, daß den Handlungen und Ereignissen ein größeres Maß an Aufmerksamkeit geschenkt wird als bei den Parallelen. Das zeigt sich erst recht, wenn man die Exposition in den Vergleich mit einbezieht: Statt eines einzelnen narrativen Satzes finden sich deren zwei. Sie verwickeln den Hörer ungleich anschaulicher in die erzählte Welt, zumal jeder der beiden Sätze vom Träger der in ihm geschilderten Handlung zusätzlich besprochen wird.
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Ähnlich wie S'muel Pargerita (Text XVI) setzt der Erzähler bei der Initiative des Sohnes ein: Der Sohn des Königs zieht aus, und der Sohn des Amtsarztes nähert sich einem Quacksalber. Während beim Auszug nur pauschal auf die böse Art hingewiesen wird, in der er erfolgt, erfahren wir bei der Annäherung an den Quacksalber ebenso knapp wie prägnant und konkret, daß der Frevel des Sohnes in der Begrüßung des Fremden als "mein Vater" kulminiert. Die unexplizierte Erwähnung der bösen Art ermöglicht es, anschließend direkt zum Hauptteil überzugehen: Der König fordert den Sohn durch den Pädagogen zur Umkehr auf. Der durch die Art der Begrüßung charakterisierte Frevel dagegen verlangt nach einer Fortsetzung, die noch zur Exposition selber gehört: Wie der Mensch in der Exposition des Maschais von R. Abäalom dem Alten (Text XVII) wird der Amtsarzt zornig, und wie der Zorn dort die Vertreibung des Sohnes zur Folge hat, so hier seine Verbannung aus dem Angesicht. Der Vertreibung geht allerdings kein Hinweis auf den Frevel voraus. Der Erzähler kann anschließend deswegen zum Hauptteil übergehen: Der Freund des Menschen appelliert an dessen Bereitschaft, den Vertriebenen nach Hause umkehren zu lassen. Da die Verbannung dagegen eine Reaktion auf den Frevel ist, wird der Zusammenhang ausdrücklich erwähnt: Die Verbannung erfolgt, weil der Sohn den Quacksalber als "mein Vater" anruft. Da das Geschehen dadurch zu einem vorläufigen Abschluß kommt, muß der Erzähler anders als R. AbSalom der Alte für die Überleitung zum Hauptteil ein Ereignis erfinden, das den Stillstand überwindet: Der Verbannte erkrankt. Der Vergleich zeigt erstens, daß der Rabbi die Topoi vom Auszug und von der Vertreibung außerordentlich selbständig und individuell realisiert: Statt in böser Art auszuziehen, schließt sich der Sohn des Amtsarztes einem Quacksalber an, und statt den Sohn aus dem Haus zu vertreiben, verbannt der Amtsarzt ihn aus dem Angesicht. Der Vergleich zeigt zweitens, daß die bei R. S'muel Pargerita und R. Abäalom dem Alten je für sich vorkommenden Topoi miteinander kombiniert sind: Der Sohn schließt sich einem Quacksalber an, und deshalb verbannt der Amtsarzt ihn. Die Kombination hat ihrerseits zwei Konsequenzen: Da die Verbannung nicht die Eröffnung, sondern den Abschluß einer Geschehensfolge markiert, muß der Erzähler für die Fortsetzung eine neue Eröffnung schaffen: Der Verbannte gerät in eine Not. Und da die Verbannung eine
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Reaktion auf den Anschluß an den Quacksalber ist, muß er den Anschluß deutlich als frevlerisch charakterisieren. Wie der Frevel charakterisiert wird, hängt zweifellos mit dem Wortlaut der zu erklärenden Schriftstelle zusammen: Die Anrede des Quacksalbers als "mein Vater" ist aus der Anerkenntnis Jahwes als "unser Vater" abgeleitet. Das heißt aber: Die besondere Form der Exposition verdankt sich nicht zuletzt der exegetischen Auseinandersetzung mit Jes 64, 7. Trotz der strukturellen Entsprechungen schlägt der Maschal also schon zu Anfang einen unverwechselbar eigenen Weg ein. Es verwundert deswegen nicht, daß er nach der Exposition kein einziges Motiv mit dem Maschal R. § e muel Pargeritas oder R. AbSalom des Alten teilt. Blicken wir dagegen auf den ersten Teil von Lk 15, 11-32, so fällt auf, wie zahlreich hier die Berührungen auch mit dem Hauptteil sind. So arbeiten beide Autoren als erstes heraus, worin der Frevel besteht, dessen sich der Sohn schuldig macht: Während sich der Sohn des Amtsarztes einem Quacksalber anschließt, verschleudert der jüngere Sohn nach Lk 15, 12f sein Erbe, und beidemal ist es der Vater, gegen den sich der Sohn vergeht. Da bei Jesus das Vergehen mit der Abreise in ein fernes Land verbunden ist, gibt es hier zwar keine Parallele zu der Verbannung aus dem Angesicht, mit der der Amtsarzt auf die Tat des Sohnes reagiert. Doch ist das Ergebnis das gleiche: Der Sohn ist in der Ferne. Die Ferne aber ist der geeignete Ort, um den Frevler mit einer Not zu bestrafen: Der Sohn des Amtsarztes erkrankt, und der jüngere Sohn droht nach Lk 15,1416 zu verhungern. Die Not wiederum weckt beim Hörer die Bereitschaft, dem Sohn sein Ohr zu leihen, als dieser zur Besinnung kommt: Der Erkrankte läßt den Amtsarzt bitten, ihm sein Angesicht wieder zuzukehren, und der Verhungernde faßt nach Lk 15, 17-19 den Plan, sich mit dem Eingeständnis der Sünde und der Unwürdigkeit zur Sohnschaft zum Vater auf den Weg zu machen. Wie der Hörer erhofft, erregt die Selbstbesinnung beim Vater den Affekt des Erbarmens, und das Erbarmen hat zur Folge, daß es zur Aufhebung der Entfernung zwischen den Protagonisten kommt: Während der Amtsarzt zum Kranken hinaufsteigt, läuft der Vater des jüngeren Sohnes nach Lk 15, 20 dem Verhungernden entgegen, und die Herzlichkeit der Begrüßung hier entspricht dem "sofortigen" Eintreten des Affektes dort.
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Die Aufhebung der Entfernung ermöglicht es dem Sohn, die Selbstbesinnung jetzt auch vor dem Vater selber zur Sprache zu bringen: Der Sohn des Amtsarztes erbittet die Zuwendung des Angesichts, und der jüngere Sohn gesteht nach Lk 15,21 seine Sünde und Unwürdigkeit zur Sohnschaft ein. Der Vater erhält dadurch die Chance, dem Sohn ein Zeichen seines Erbarmens zu gewähren: Der Amtsarzt konfrontiert ihn mit dem Frevel, vergewissert ihn dabei aber zugleich des Vorrechts der Sohnschaft, und der Vater des jüngeren Sohnes ordnet nach Lk 15, 22 die Restitution der Sohnschaft an, ohne dadurch den Frevel zu negieren. Nicht mehr unmittelbarer Ausfluß des Erbarmens ist erst, daß Lk 15,23f anschließend der Befehl zur Ausrichtung eines Festmahls ergeht, an dem die gemeinsame Freude zum Ausdruck kommen soll. Der Vergleich zeigt, daß beide Gleichnisse nicht nur eine ungewöhnliche Fülle analoger Motive aufweisen, sondern diese auch in der gleichen Reihenfolge miteinander verknüpfen. Verantwortlich dafür dürfte letztlich sein, daß der Anfang den Frevel des Sohnes thematisiert. Denn dadurch wird eine Bewegung ausgelöst, deren Dynamik der Logik unterworfen ist, die den Normen und Idealen der patriarchalen Weltsicht offenbar inhärent ist: Wenn man sich schon einmal auf den Fall einläßt, daß ein Sohn sich gegen den Vater vergeht, dann ist ebenso zu wünschen wie zu fordern, daß... Zu wünschen und zu fordern ist zunächst, daß in Entsprechung zum inneren Abstand, den der Frevel herbeiführt, zwischen Vater und Sohn ein äußerer Abstand entsteht - sei es, daß der Vater den Sohn aus seiner Nähe verbannt, sei es, daß sich der Sohn vom Vater entfernt. Der Abstand aber stellt eine hervorragende Folie dar für eine Not, die das Verlangen nach der Bestrafung des Frevlers befriedigt - sei es, daß der Sohn erkrankt, sei es, daß er zu verhungern droht. Von der Not wiederum wird erwartet, daß sie den Frevler zur Besinnung kommen läßt - sei es, daß er dem Vater die Bitte um Zuwendung ausrichten läßt, sei es, daß er sich vornimmt, seine Sünde und Unwürdigkeit zur Sohnschaft einzugestehen. Das eine wie das andere stellt eine Umkehr dar, die vom Vater verlangt, daß er sein Erbarmen mobilisiert. Das Zusammenspiel von Umkehr und Erbarmen aber führt fast wie von selbst dazu, daß der Abstand zwischen Vater und Sohn überwunden wird - sei es, daß sich der Vater zum Sohn, sei es, daß sich der Sohn zum Vater auf den Weg macht. Damit ist die Voraussetzung
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geschaffen, um den Wunsch nach einer direkten Begegnung zu erfüllen. Sie gibt dem Sohn die Gelegenheit, vor dem Vater seine Umkehr unter Beweis zu stellen - sei es, daß er die Bitte um Zuwendung, sei es, daß er das Eingeständnis der Sünde und der Unwürdigkeit zur Sohnschaft vorbringt. Und sie ermöglicht es dem Vater, dem Sohn sein Erbarmen zu demonstrieren - sei es, daß er ihm, insofern er Sohn ist, den Frevel vorhält, sei es, daß er ihn erneut in die Stellung des Sohnes einsetzt. Nur bei Jesus führt die Pointe nach darüber hinaus. Die patriarchale Logik, die beiden Gleichnissen zugrundeliegt, ist nur deshalb rekonstruierbar, weil der Rabbi und Jesus die Kompetenz besitzen, sie in einer hörerorientierten "narratio" über das Verhältnis Gottes zum Sünder zu entfalten, auch wenn der eine beim Sünder an Israel im ganzen und der andere an Sünder im Unterschied zu Gerechten denkt. Dabei wird man zwar nicht leugnen können, daß die unterschiedliche Funktion auch hier die schon mehrfach erwähnte Differenz der Form zur Folge hat. Doch verringert sich der Abstand, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Rabbi relativ ereignis- und handlungsreich erzählt, aber auch ungewöhnlich anschaulich und treffend Exposition und Pointe zu formulieren vermag. An den Maschal vom Amtsarzt schließt der Verfasser des Midrasch, von dem er überliefert wird, vor dem Übergang zu Ex 34, 27 mehrere Abschnitte an, die sich ebenfalls der Erklärung von Jes 64, 7 widmen. Der übernächste dieser Abschnitte enthält den zweiten Maschal von einem Vater und einem frevlerischen Sohn, der den Topos vom Auszug mit dem von der Vertreibung kombiniert und der den Sohn nach der Vertreibung in eine Not geraten läßt. Er findet sich also zusammen mit seiner Anwendung ebenfalls SchemR XLVI, 4, zu 34, 1} Text XIX: "Eine andere Erklärung: 'Und jetzt, Jahwe (DtPH), bist du unser Vater' (Jes 64, 7). Dies ist es, was geschrieben steht: 'Jahwe (DtTH), in der Not suchten sie dich' (Jes 26,16). Nur sobald sie in Not geraten, bitten sie dich. Weil gesagt ist: "Jahwe (DU7H), in der Not suchten sie dich' (Jes 26,16). Ein Gleichnis. (Sc. Wem gleicht die Sache?) (1) Einem Ratsherrn, der Söhne hatte. (2) Sie schlössen sich bösen Menschen an und zogen aus in böser Art. (3) Er entkleidete sie und jagte sie fort. (4) Sobald als sie sich in Not sahen, baten sie ältere Menschen, daß sie für sie erbäten Erbarmen. (S) Ihr Vater sagte zu ihnen: Für wen bittet ihr? Sie sagten zu
1 Text nach: Mirkin, aaO. VI, 179f; bisher wohl noch nicht mit Lk 15,11-32 in Verbindung gebracht.
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ihm: Für deine Söhne, daß du ihnen wohlgesonnen bist. Er sagte: Nicht sind sie meine Söhne, und nicht kenne ich sie. Ihre Mutter hat gehurt und sie geboren. (6) Sie sagten zu ihm: Nicht kannst du sie verleugnen. Warum? Weil alle wissen, daß sie deine Söhne sind. Denn sie gleichen dir. So: (1) Der Ratsherr ist der Heilige, gesegnet sei er, seine Söhne sind Israel. Weil gesagt ist: 'Ihr seid Söhne Jahwes (OCH), eures Gottes' (Dtn 14,1). (2) Sie vermischten sich mit den Dienern der Sterne und zogen aus in böser Art. Weil gesagt ist: 'Sie vermischten sich mit den Völkern und lernten ihre Werke' (Ps 106, 35). (3) Was tat er ihnen? Er entkleidete sie und jagte sie fort. Weil gesagt ist: 'Sie entkleideten dich deiner Gewänder' (Ez 23, 26). Und geschrieben ist: 'Jage fort aus meinem Angesicht, und sie sollen ausziehen' (Jer 15,1). (4) Sobald als sie sich in Not sahen, fingen sie an, die Propheten zu bitten, daß sie für sie erbäten Erbarmen von dem Heiligen, gesegnet sei er. Sie fingen an, für sie zu erbitten Erbarmen. Weil gesagt ist: 'Schone, Jahwe (DtPH), dein Volk' (Joel 2,17). (5) Es sagte der Heilige, gesegnet sei er: Für wen bittet ihr? Sie sagten zu ihm: Für deine Söhne. Er sagte zu ihnen: Nicht sind sie meine Söhne. Wenn sie meinen Willen tun, sind sie meine Söhne, und wenn nicht, sind sie nicht meine Söhne. Weil gesagt ist: 'Ihre Mutter hat gehurt, schändlich gehandelt hat ihre Gebärerin' (Hos 2,7a). (5') Warum? 'Weil sie sagte: Ich will meinen Liebhabern hinterherlaufen' (Hos 2, 7b). Dies ist der Dienst der Sterne. Deshalb sagte der Heilige, gesegnet sei er: 'Und jetzt will ich aufdecken ihre Scham vor den Augen ihrer Liebhaber' (Hos 2,12). Dies ist der Dienst der Sterne, über den sie (sc. die Schrift) sagt: 'Die mir geben mein Brot und mein Wasser' (Hos 2,7c). Und sie hat Augen und sieht nicht, Ohren und hört nicht, und nicht hurt er mit ihr wie mit einer anderen. Und der Heilige, gesegnet sei er, entkleidet sie. Weil gesagt ist: 'Sonst entkleide ich sie nackend' (Hos 2, 5). (6) Die Propheten sagten zum Heiligen, gesegnet sei er: Siehe, du sagst, daß sie nicht sind deine Söhne, und an ihren Gesichtern werden sie erkannt. Weil gesagt ist: 'Alle, die sie sehen, erkennen, daß sie der Same sind, den Jahwe gesegnet hat' (Jes 61, 9). (6') So wie es die Art eines Vaters ist, daß er sich über seine Söhne erbarmt, obwohl sie sündigten, so bist du genötigt, dich über sie zu erbarmen (vgl. Ps 103, 13). Sei CHI) (sc. sagend): 'Und jetzt, Jahwe (DtPH), bist du unser Vater' (Jes 64, 7). (6") Ebenso findest du: Als sie das Kalb machten, wurde zornig über sie der Heilige, gesegnet sei er. Moses kam, um ihn wohlgesonnen zu machen. Und er rief sie Nicht-sindsie-mein-Volk. Weil gesagt ist: 'Denn dein Volk hat schlecht gehandelt' (Ex 32,7). Und es entkleidete sie der Heilige, gesegnet sei er. Weil gesagt ist: 'Und die Söhne Israels entledigten sich ihres Schmuckes vom Berge Horeb an' (Ex 33, 6). Moses sagte: Sie sind dein Volk, und nicht kannst du sie verleugnen. Weil gesagt ist: 'Warum, Jahwe (DtPTI), entbrennt dein Zorn gegen dein Volk?' (Ex 32,11). Sei ihnen wohlgesonnen, weil sie deine Söhne sind. Sofort war er ihnen wohlgesonnen. Weil gesagt ist: 'Und Jahwe (DtPil) bereute' (Ex 32, 14). Und er zeigte, daß er ihnen wohlgesonnen war, indem er für sie die Zehn Worte wiederherstellte. Weil gesagt ist: 'Haue dir' (Ex 34,1).
Auch diese Einheit beginnt mit einer Exegese von Jes 64, 7. Es folgt ein Maschal, der die Exegese erhärten soll. Den Schluß bildet die Anwendung, die bei der Applikation der Pointe erneut auf Jes 64, 7 zurückkommt.
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Doch läßt sich wahrscheinlich machen, daß es an mehreren Stellen sekundäre Zusätze gibt. Sekundär dürfte zunächst die Exegese von Jes 64,7 mit Hilfe von Jes 26,16 sein. Denn erstens wird nicht deutlich, inwiefern Jes 26,16 belegt, daß die Anerkenntnis Jahwes als "unser Vater" nur in der Not erfolgt. Zweitens heißt es, daß die Israeliten Jahwe in der Not bitten, nicht aber, wie es dem Maschal (4a) entsprechen würde, daß sie die Propheten mit der Bitte beauftragen. Drittens ist von der Not im Maschal nur bei der Überleitung zum Hauptteil die Rede (4a), nicht aber bei der Pointe (6), die deshalb auch einen ganz anderen Gedanken herausarbeitet, als er für die Erhärtung der Exegese von Jes 64, 7 notwendig wäre. Die zweite und dritte Beobachtung lassen sich - viertens - durch die Anwendung bestätigen: Wo auf die Not hingewiesen wird (4a), geht es darum, daß die Israeliten die Propheten beauftragen, für sie zu bitten, und wo die Applikation der Pointe auf Jes 64, 7 Bezug nimmt (6'), fehlt der Rekurs auf die Not. Da die Anwendung jeweils eine Passage des Maschal übersetzt und die Übersetzung anschließend durch ein Schriftzitat stützt, ist relativ leicht erkennbar, wo das Schema durchbrochen wird. Das ist das erste Mal bei (S) der Fall. Hier wird Jahwes Verleugnung seiner Söhne zureichend mit der Aussage von Hos 2, 7a über die Hurerei der Mutter begründet. Es fällt deswegen auf, daß Hos 2, 7a anschließend durch Hos 2, 7b erläutert wird. Denn das dient der Einleitung einer Art von Exkurs (5'), der mit Hilfe von drei weiteren Hoseazitaten das im Maschal selber nicht ausgearbeitete Problem thematisiert, worin die Hurerei im einzelnen besteht. Daß es sich hierbei um einen Zuwachs handelt, läßt sich insbesondere aus der Zitation von Hos 2, 5 erkennen, greift die Stelle mit der Entkleidung doch ein Motiv auf, das im Maschal und in der Anwendung bereits bei (3) seinen Haftpunkt hat. Da vor dem Maschal Jes 64,7 zitiert wird, ist es stilgemäß, daß die Anwendung die Stelle bei (6') mit 'IH/'sei (sc. sagend)" einleitet. Denn dieses "zum selbständigen Terminus gewordene Wörtchen steht" regelmäßig "am Schlüsse einer exegetischen Erörterung und weist daraufhin, daß der Text, der dieser zu Grunde liegt, hiermit sein richtiges Verständnis gewonnen hat".1 Es erstaunt deshalb, daß die anschließende Formel "du findest" für (6") "eine Erweiterung des biblischen Erzählungsstoffes"2 ankündigt, die durch "ebenso" als ein zweites Beispiel für das in der Anwendung Ausgeführte charakterisiert wird. Der Ankündigung entspricht zwar, daß eine dem Duktus des Maschal angenäherte Kommentierung der Geschichte vom goldenen Kalb folgt, die durch fünf Exodusstellen als schriftgemäß erwiesen wird. Doch sprechen drei Beobachtungen dagegen, daß wir hier einen ursprünglichen Bestandteil der Anwendung vor uns haben. Erstens orientiert sich der Wortlaut der Formulierungen nur punktuell an dem des Maschal. Zweitens kommt das Motiv von der Entkleidung nicht bei (3), sondern erst nach (5) zur Sprache. Drittens wird im Anschluß an die Applikation der Pointe, also nach (6), das Motiv von der Wohlgesonnenheit aufgegriffen, das im Maschal nur an der untergeordneten Stelle von (5) verankert ist. Dadurch steht am
1
Bacher, Terminologie, II, 47.
2
Ebd. II, 117.
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Schluß die im Maschal selber nicht vorbereitete These, Jahwe sei Israel aufgrund der Intervention des Moses wieder wohlgesonnen. Da hierfür auf Ex 34,1 und die dort bezeugte Erneuerung des Dekalogs verwiesen wird, will die Einheit in ihrer jetzigen Gestalt ein Beitrag zum Verständnis dieser Stelle sein. Sekundär dürfte allerdings nicht nur (6") sein, sondern auch (6'). Denn schon in (6) wird die Pointe des Maschal sachgemäß übersetzt und der Übersetzung durch Jes 61, 9 eine vorzügliche Begründung gegeben. Der anschließende Vergleich dagegen führt Uber die Applikation der Pointe hinaus: Geht es dort darum, daß Jahwe seine Söhne nicht verleugnen kann, so wird hier in Anlehnung an ein Stichwort aus der Bitte der Propheten (4) und dessen Vorbereitung im Maschal (4) hervorgehoben, welche Tugend er ihnen in seiner Rolle als Vater zuwenden muß: das Erbarmen. Das wird aus der in Jes 64, 7 bezeugten Anerkenntnis Jahwes als "unser Vater" abgeleitet, so daß sich als Schlußfolgerung aufdrängt: Der Maschal und seine Anwendung haben mit dieser Stelle ursprünglich nichts zu tun.
Sekundär dürfte zunächst die dem Maschal vorausgehende Exegese von Jes 64, 7 sein. Sie stellt wahrscheinlich eine Analogiebildung dar, die die Exegese derselben Stelle zu Beginn der zuletzt behandelten Gleichnisüberlieferung voraussetzt1 und deshalb wohl erst dem Verfasser des Midrasch zu verdanken ist. Es legt sich nahe, dem gleichen Verfasser auch den Schluß der Anwendung (6") zuzuschreiben. Denn hier wird eine dem Maschal selber nicht konforme Applikation der Pointe vorgetragen, die mit Ex 34, 1 auf diejenige Stelle der Schrift zuläuft, der die Einheit im Midrasch zugeordnet ist. Der Exkurs dagegen, der in der Anwendung die Sünde Israels expliziert (5'), verrät keine besonderen Beziehungen zum engeren oder weiteren Kontext. Er wird deswegen schon auf einer Vorstufe der jetzigen Überlieferung vorhanden gewesen sein. Dasselbe ist für die Applikation der Pointe auf Jes 64, 7 zu vermuten, dürfte diese doch der Anlaß gewesen sein, die Einheit nach der Hinzufügung der Exegese von Jes 64, 7 mit einer Reihe von Traditionen zu derselben Stelle zusammenzustellen und um den Bezug auf Ex 34,1 zu erweitern. Von der Sache her wird hier ein Gedanke ausgearbeitet, der der Pointe nicht entspricht. Deren Übersetzung wird vielmehr überzeugend durch Jes 61, 9 gestützt, so daß der Maschal ursprünglich zur Erklärung dieser Stelle erfunden worden sein dürfte.
1 Im unmittelbaren Kontext wird Jes 64, 7 noch zwei weitere Male mit dem Hinweis auf die Not, in der Israel sich befindet, erklärt.
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Die Exposition legt in drei kurzen Sätzen den Fall fest, um dessen Lösung es geht. Der erste stellt die Protagonisten vor: Ein Ratsherr hat Söhne (1), die als eine einzige Person behandelt werden. Der zweite führt mit Riesenschritten in das eigentliche Geschehen hinein: Die Söhne schließen sich bösen Menschen an und ziehen aus in böser Art (2). Eine so schändliche Tat verlangt von einem angesehenen Ratsherrn, was der dritte Satz vollstreckt: Er entkleidet die Täter, setzt also die rechtliche Aufkündigung der Sohnschaft in Szene und jagt diejenigen, die bereits selber ausgezogen sind, fort (3). Und das heißt: Beide Seiten erstreben den Abstand, zu dem es kommen muß, wenn die Vater-Sohn-Beziehung zerstört ist. So sehr der Hörer die Reaktion des Ratsherrn begrüßen wird, so begierig ist er, sein Wissen bestätigt zu sehen, daß kein Frevler dem seiner Tat entsprechenden Geschick entfliehen kann. Der Erzähler läßt die Söhne deswegen zu Beginn des Hauptteils in eine Not geraten (4a), die sie motiviert, sich jetzt nicht an böse, sondern an ältere Menschen zu wenden. Sie haben also Anwälte, die ihr Alter legitimiert, den Ratsherrn um Erbarmen zu bitten (4b), ihn also auf seine Verantwortung als Vater anzusprechen. Es überrascht deswegen nicht, daß der Ratsherr anschließend zum ersten und einzigen Mal als Vater bezeichnet wird. Überraschend ist erst, daß er als solcher die Frage stellt, für wen gebeten werde (5a). Weiß er wirklich nicht, um wen es geht? Der Hörer registriert zufrieden, daß die Antwort lautet: "Für deine Söhne", denen der Ratsherr in Entsprechung zum Erbarmen (4b) wohlgesonnen sein soll (5b). Entsetzt muß er allerdings zur Kenntnis nehmen, daß die Antwort den Vater dazu herausfordert, aus seiner Frage eine Aussage zu machen: Es handele sich, so sagt er, weder um seine Söhne, noch kenne er die, für die gebeten wird, entstammten sie doch der Hurerei ihrer Mutter mit einem Fremden (5c). Ist nicht eben noch betont worden, daß die, denen die Fürbitte gilt, die Söhne sind, und daß der, der sie nicht kennen will, ihr Vater ist? Folgt daraus nicht, daß der Vater im Unrecht ist? Nur: Gerade als Vater muß er im Recht sein! Dann aber stellt sich die Frage: Verleugnet er das Vatersein, weil die Söhne durch ihre Tat seine Identität mit der eigenen Rolle bedroht haben? Und verleugnet er die Söhne, weil die Aufkündigung ihrer Sohnschaft (3) nicht ohne weiteres rückgängiggemacht werden kann? Hat das eine wie das andere gar zum Ziel, die Beharrlichkeit derjenigen
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auf die Probe zu stellen, die für die Frevler eintreten? Der Hörer jedenfalls ist erleichtert, als er durch die Pointe erfährt, was der Vater sich von den älteren Menschen sagen lassen muß: Er könne seine Söhne nicht verleugnen, weil sich "alle" für ihr Wissen von deren Sohnschaft auf die Ähnlichkeit mit dem Vater berufen können (6). "Alle" sind Zeugen dessen, was dem Hörer am Herzen liegt! Der Maschal erzählt also eine Geschichte unter Menschen, deren Resümee lautet: Die Söhne eines Ratsherrn, die sich bösen Menschen anschließen, die sich dann aber älteren Menschen anvertrauen, gewinnen in diesen Anwälte, die den Vater überzeugend dabei behaften, daß er seine Söhne trotz ihres Frevels nicht verleugnen kann. Doch ist auch hier von Anfang an klar, daß die Geschichte unter Menschen Licht auf Israels Stellung vor Jahwe werfen soll: Als die Israeliten zu fremden Göttern abfallen, entkleidet sie Jahwe ihrer Sohnschaft und schickt sie ins Exil. Dort geraten sie zur Strafe für ihre Tat in eine Not, die dazu führt, daß sie die Propheten bitten, für sie um Erbarmen zu bitten. Als die Propheten sich des Auftrags annehmen und Jahwe auf seine Wohlgesonnenheit ansprechen, leugnet dieser zwar, daß die, die sich von ihm losgesagt haben, seine Söhne sind. Doch halten die Propheten ein schlagkräftiges Argument dagegen: Selbst die Völker bezeugen, daß die Verleugneten seine Söhne sind. Die Anwendung folgt diesmal wieder dem Maschal im ganzen.1 Sie besteht aus sechs gleichgebauten Abschnitten: An die Übersetzung einer Passage schließt sich nach der üblichen Zitationsformel jeweils ein Schriftzitat an. Bei der Applikation von (1) wird unter Berufung auf die Sohnesmetapher von Dtn 14,1 hervorgehoben, daß der Ratsherr auf den Heiligen und die Söhne auf Israel zu beziehen sind. Danach erfahren wir zunächst (2a), daß der Anschluß an die bösen Menschen die Vermischung mit den Dienern der Sterne im Auge hat, und können dem Zitat aus Ps 106, 35 anschließend entnehmen (2b), daß es sich bei den Dienern der Sterne um die Völker handelt, deren Werke - den Gestirndienst - die Israeliten lernen. Darauf reagiert der Heilige in Entsprechung zum Ratsherrn mit der Entkleidung und Verjagung der Abtrünnigen (3a). Zur Begründung dieser Aussage wird nicht auf eine, sondern auf zwei Schriftstellen rekurriert (3b). Ez 23,26 belegt dabei allerdings nicht, daß der Heilige Israel entkleidet, sondern daß "sie" - die Völker - dies tun. Erwähnung verdient aber auch, daß
1
Vgl. Text XVI.
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Jer IS, 1 mit der Fortjagung zugleich den Auszug der Israeliten als schriftgemäß erweist, wird damit doch ein Motiv aufgegriffen, das zu (1) gehört. Die Übersetzung von (4) lehnt sich eng an den Wortlaut des Maschal an. Es wird hier jedoch hinzugefügt, was dort übergangen wird, weil es sich von selbst versteht: Nachdem die Propheten von den Israeliten den Auftrag dazu erhalten hatten, "fingen sie an, für sie zu erbitten Erbarmen". Der Satz verdient um so mehr Beachtung, als nur er, nicht aber, was ihm vorausgeht, durch das anschließende Zitat aus Joel 2, 17 als schriftgemäß erwiesen wird. Ein ähnliches Verfahren wie bei (4) läßt sich bei der Applikation von (5) beobachten. Bis zu der Aussage des Heiligen, daß die Israeliten nicht seine Söhne sind, folgt die Übersetzung dem Maschal. Anschließend erwartet man die Behauptung, daß er die Israeliten nicht kenne. Statt dessen erfahren wir jedoch, was das Kriterium der Sohnschaft ist: "Wenn sie meinen Willen tun, sind sie meine Söhne, und wenn nicht, sind sie nicht meine Söhne." Erst nach diesem Einschub wird mit dem Joel 2,17 entnommenen Hinweis auf die Hurerei der Mutter begründet, warum die Israeliten nicht Jahwes Söhne sind. Die Stelle vermag also nicht die ganze Passage von (5) aus der Schrift abzuleiten, sondern nur deren letzten Satz, und der wiederum wird nicht eigens übersetzt. Am eigenwilligsten ist die Applikation der Pointe (6). Ohne Anhalt am Maschal ist, daß die Propheten den Heiligen zu Beginn daran erinnern, was er in (5) gesagt hat: "Siehe, du sagst, daß sie nicht sind deine Söhne." Unter Umgehung der Aussage "nicht kannst du sie verleugnen" schließt sich daran unmittelbar das Argument für die Sohnschaft an, das sich beim Maschal erst ganz am Schluß findet: "Und an ihren Gesichtern werden sie erkannt" nimmt auf "denn sie gleichen dir". Da dabei im Vorgriff auf Jes 61, 9 vom Erkanntwerden die Rede ist, expliziert die anschließende Zitation dieser Stelle, daß die Erkennenden "alle", d.h. die Völker, sind. Der Inhalt ihrer Erkenntnis ist freilich nicht einfach die Sohnschaft. Es heißt vielmehr sehr viel weitgehender, daß die Erkannten von Jahwe gesegneter Same sind.
Ja, soll der Hörer am Ende der Anwendung sagen: Wir, Israel, sind Jahwes Söhne, und Jahwe ist unser Gott. Das zeigt Dtn 14, 1. Wir aber haben uns mit den Völkern vermischt und deren Gestirndienst übernommen. Das zeigt Ps 106, 35. Jahwe hat uns deswegen der Sohnschaft entkleidet und ins Exil geschickt. Das zeigen Ez 23, 26 und Jer 15, 1. Als wir daraufhin in Not gerieten, haben wir die Propheten gebeten, für uns um Erbarmen zu bitten, und die Propheten haben unsere Bitte erfüllt. Das zeigt Joel 2, 17. Weil wir nicht seinen Willen tun, hat Jahwe ihnen gegenüber zwar geleugnet, daß wir seine Söhne sind. Das zeigt Hos 2, 7. Doch haben die Propheten dagegengehalten, daß selbst die Völker, mit denen wir uns vermischt haben, unsere Sohnschaft bezeugen. Das zeigt Jes 61, 9. Und der Rabbi ist es, der den geheimen Zusammenhang zwischen den sieben Stellen der Schrift entdeckt und uns durch den Maschal erschlossen hat!
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Es gibt Parallelen
Die Anwendung macht darauf aufmerksam, daß das Sujet des Maschal diesmal einer Schriftstelle entnommen ist, die nicht der Pointe, sondern dem ersten Satz der Exposition zugrundeliegt. Es handelt sich um Dtn 14, 1, und da hier von den "Söhnen Jahwes" die Rede ist, erfindet der Erzähler eine Geschichte, die beim Hörer einen Aspekt seines Wissens vom Sohn aktiviert. Äußeres Indiz dafür ist, daß er den Amtsarzt nur einmal als Vater bezeichnet, aber dreimal den Ausdruck "meine/deine Söhne" gebraucht. Entscheidend ist allerdings erst, daß auch die Pointe von "deinen Söhnen" spricht. Denn darin spiegelt sich wider, daß der Rabbi die Metapher vom Samen, die sich in Jes 61, 9 findet, aufgrund von Dtn 14, 1 als Hinweis auf die Sohnschaft Israels verstanden hat: Ausgerechnet die, deren Götzendienst das Gottesvolk verfallen ist, werden von den Propheten als die unverdächtigsten und darum glaubwürdigsten Zeugen seiner Abkunft von Jahwe aufgerufen! Richten wir den Blick auf die zuvor analysierten Gleichnisse, so fällt als erstes auf, daß auf die Vorstellung der beiden Hauptpersonen ein Satz folgt, der der Eröffnung des Maschais von R. S'muel Pargerita (Text XVI) entspricht: So wie dort der Sohn des Königs in böser Art auszieht, ziehen hier die Söhne des Ratsherrn in böser Art aus. Während sich R. $ e muel Pargerita für die Exposition mit dem Topos vom Auszug zufriedengibt, schickt der anonyme Rabbi freilich die Notiz voraus, daß sich die Söhne bösen Menschen anschließen. Ersteres erlaubt es, anschließend direkt zum Hauptteil überzugehen: Der König beauftragt einen Boten, den Ausgezogenen zur Umkehr aufzufordern. Der Anschluß an böse Menschen dagegen verlangt nach einer Fortsetzung, die noch zur Exposition selber gehört: Der Ratsherr bestraft die ausgezogenen Frevler mit der Entkleidung und Veijagung. Er handelt also ähnlich wie im Maschal R. Abäaloms des Alten (Text XVII) der Mensch, der seinen Sohn voll Zorn aus dem Haus vertreibt. Da die Vertreibung jedoch nicht als Reaktion auf ein Vergehen gekennzeichnet ist, kann danach ohne jede Zäsur zum Hauptteil übergeleitet werden: Ein Freund appelliert an den Menschen, den Vertriebenen nach Hause umkehren zu lassen. Beim anonymen Rabbi dagegen ist das Geschehen mit der Entkleidung und Veijagung zu einem vorläufigen Abschluß gekommen. Für den Übergang zum Hauptteil muß deswegen ein neues Ereignis aufgeboten werden: Eine Not zwingt die Söhne, mit Hilfe älterer Menschen beim Ratsherrn an sein Erbarmen zu appellieren.
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Die Besonderheit der Exposition hat zur Folge, daß sich der Maschal vom Ratsherrn und seinen Söhnen im Hauptteil nur in jeweils einem einzigen Motiv mit den beiden anderen Gleichnissen überschneidet. So ist die bei R. S'muel Pargerita hervorgehobene Scham vor dem Vater der Sache nach vorausgesetzt, wenn die Söhne des Ratsherrn nicht selber an den Vater herantreten, sondern ältere Menschen mit ihrem Anliegen betrauen. Und bei R. AbSalom dem Alten sichert der Mensch seinem Freund für den Sohn zu, was die älteren Menschen vom Ratsherrn für die Söhne erbitten: Daß er wohlgesonnen ist. Die Pointe dagegen hat ein ganz und gar eigenes Profil: Nicht der Vater, der seine Offenheit für den Sohn signalisiert, hat das letzte Wort, sondern die Anwälte der Söhne, die den Vater für ihre Mandanten zu gewinnen versuchen. Angesichts der Differenzen verdient Beachtung, daß alle drei Gleichnisse Vater und Sohn über Dritte miteinander in Kontakt treten lassen: den Pädagogen, den Freund, die älteren Menschen. Darin spiegelt sich wider, wie groß die Bedeutung ist, die autoritative Vermittler für das Verhältnis Israels zu Jahwe haben: Jeremia, Moses, die Propheten. Nicht weniger charakteristisch ist, daß alle drei Gleichnisse das gleiche Sujet haben. Sie thematisieren zwar jeweils einen anderen Aspekt der Vater-SohnBeziehung. Doch verstehen sie diesen übereinstimmend als Entfaltung der Metapher einer Schriftstelle, die es zu erklären gilt. Schon vor dem Einzelvergleich ist erkennbar, daß der Maschal vom Ratsherrn und seinen Söhnen eine erstaunliche Anzahl struktureller Übereinstimmungen mit dem zuletzt analysierten Maschal vom Amtsarzt und seinem Sohn (Text XVIII) aufweist. Erstens stimmt überein, daß die Exposition die Topoi vom Auszug und von der Vertreibung des Sohnes miteinander kombiniert. Zweitens stimmt überein, daß der Auszug mit dem Hinweis auf den Frevel des Sohnes motiviert wird. Drittens stimmt überein, daß der Sohn nach der Vertreibung in eine Not gerät, die ihn gegenüber dem Vater initiativ werden läßt. Und viertens stimmt überein, daß die Initiative eine Handlungsfolge auslöst, deren Besprechung die Vorbehalte in den Vordergrund rückt, die der Vater gegenüber dem Sohn hat. Doch wie sieht der Befund im einzelnen aus? Nach der Vorstellung der Protagonisten, die sich nur in einem der beiden Gleichnisse findet, heben beide Erzähler hervor, daß sich der Sohn
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Es gibt Parallelen
an negativ charakterisierte Personen anlehnt und dadurch vom Vater entfernt: Die Söhne des Ratsherrn schließen sich an böse Menschen an und ziehen in böser Art aus, und der Sohn des Amtsarztes trifft auf einen Quacksalber, dem er sich unterwirft. Danach erfahren wir, daß der Vater auf den Frevel mit der Vertreibung des Frevlers reagiert: Der Ratsherr entkleidet die Söhne und jagt sie fort, und der Amtsarzt verbannt den Sohn aus seinem Angesicht. Den Vertriebenen aber ereilt die Strafe, die er sich durch seine Tat verdient hat: Die Söhne des Ratsherrn geraten in eine nicht näher spezifizierte Not, und der Sohn des Amtsarztes erkrankt. Die Strafe freilich wird nur erwähnt, weil sie den Sohn motiviert, an den Vater über Dritte mit einer Bitte heranzutreten: Die Söhne des Ratsherrn bitten ältere Menschen, für sie um Erbarmen zu bitten, und der Sohn des Amtsarztes beauftragt Ungenannte, die erneute Zuwendung des Angesichts zu erbitten. Die Bitte des Erkrankten erregt beim Amtsarzt sofort den Affekt, den die älteren Menschen für die in Not Geratenen erbitten sollen: das Erbarmen. Er steigt dementsprechend zum Sohn hinauf. Der Ratsherr dagegen reagiert auf den Appell an sein Erbarmen mit der Verleugnung der Söhne. Der Gegensatz relativiert sich freilich, wenn man sich klarmacht, daß die Verleugnung die Größe des Frevels unterstreichen soll. Denn dann wird erkennbar, daß hier nichts anderes vorliegt als eine extreme Zuspitzung dessen, was der Amtsarzt seinem Sohn vorwirft, als es zur direkten Begegnung kommt: Erst jetzt in der Not erkenne er den Vater als Vater an, habe er doch noch gestern den Quacksalber als Vater angerufen. Ja, noch mehr: Da der Vorwurf zugleich des Privilegs versichert, das der Sohn trotz seines Frevels genießt, spricht der Amtsarzt direkt aus, was dem Ratsherrn durch die älteren Menschen erst vor Augen geführt werden muß: Er kann die Frevler nicht verleugnen, weil alle ihre Sohnschaft bezeugen. Die Pointe rückt also jeweils einen von zwei aufs engste zusammengehörenden Aspekten in den Vordergrund: Insofern er der Vater ist, wird der Ratsherr darauf festgelegt, daß die, die gefrevelt haben, seine Söhne sind, und insofern auch er der Vater ist, betont der Amtsarzt, daß der, der sein Sohn ist, gefrevelt hat. Dabei ist es auf der Seite des Sohnes eine Bitte, die den Weg zurück zum Vater öffnet, und auf der Seite des Vaters ist es das Erbarmen, das dem Sohn entgegenkommt. Charakteristisch ist aber auch,
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daß der Frevel zugleich als Anschluß an Fremde und als Entfernung vom Vater geschildert wird. Darin spiegelt sich wider, daß der Götzendienst Abfall von Jahwe ist. Doch zeigt die Pointe in konträrer Akzentuierung, daß selbst der Götzendienst nicht die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Jahwe und Israel zu zerstören vermag. So nahe sich beide Gleichnisse der Sache nach stehen, so unterschiedlich ist ihre erzählerische Qualität. Wie farblos erscheint die Notiz über den Anschluß der Söhne des Ratsherrn an böse Menschen, wenn man sie mit der Begrüßung des Quacksalbers durch den Sohn des Amtsarztes vergleicht! Und wie blaß wirkt die Reaktion des Ratsherrn gegenüber der des Amtsarztes! Es beruht deswegen auch nicht auf bloßem Zufall, daß bei den Söhnen des Ratsherrn nicht von einer Erkrankung die Rede ist, sondern nur von einer nicht spezifizierten Not, in der sie sich sehen. Darin kündigt sich vielmehr an, daß die Fortsetzung das erzählte Geschehen auf ein "Sehen", ein "Bitten" und ein viermaliges "Sagen" reduziert, daß die Aufmerksamkeit des Hörers also ganz auf die Besprechung durch eine indirekte und vier direkte Reden gelenkt wird. Weiten wir den Blick auf Lk 15, 11-32 aus, so zeigen die letzten Beobachtungen: Was die literarische Form betrifft, steht der Maschal vom Ratsherrn dem ersten Teil des neutestamentlichen Gleichnisses zweifellos ferner als der Maschal vom Amtsarzt. Wie aber stellt sich das Verhältnis dar, wenn man den Inhalt in die Überlegungen mit einbezieht? Übereinstimmend beginnen beide Erzähler mit einem Satz, der die Personen des Falles vorstellt und der bei Jesus deswegen auch den zweiten Teil des Gleichnisses im Auge haben muß: Das eine Mal - nach Lk 15,11hat ein Mann zwei Söhne, und das andere Mal hat ein Ratsherr Söhne. Übereinstimmung besteht aber auch darin, daß anschließend der Frevel erwähnt wird, der den Sohn motiviert, den Abstand vom Vater zu suchen: Der jüngere Sohn läßt sich nach Lk 15, 12f sein Erbe auszahlen, um es in einem fernen Land zu verschleudern, und die Söhne des Ratsherrn schließen sich bösen Menschen an, um in böser Art auszuziehen. Zu einer Differenz kommt es erst dadurch, daß Jesus die Verurteilung des Frevlers dem Hörer anheimstellt, während der Rabbi sie zum Gegenstand der Erzählung macht: Der Ratsherr entkleidet seine Söhne und jagt sie fort. Doch zeigt die Fortsetzung: Nach Lk 15, 19.21b setzt auch Jesus voraus, daß der Frevel den Verlust der Sohnschaft zur Folge hat, ja, aufgrund von
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Lk 15, 22 ist sogar zu vermuten, daß dieser Verlust mit der Entkleidung einhergeht! Beidemal zieht der Sohn in der Ferne das seiner Tat entsprechende Geschick auf sich: Der jüngere Sohn droht nach Lk 15, 14-16 zu verhungern, und die Söhne des Ratsherrn sehen sich in Not. Und beidemal faßt der Sohn daraufhin den Plan, sich mit einer Bitte an den Vater zu wenden: Der jüngere Sohn beabsichtigt nach Lk 15, 19b, um Anstellung als Tagelöhner zu bitten, und die Söhne des Ratsherrn beauftragen ältere Menschen, für sie um Erbarmen zu bitten. Nur der jüngere Sohn allerdings motiviert seine Bitte nach Lk 15,17 mit dem Hinweis auf seine Lage, und vor allem: Nur er will ihr nach Lk 15,18-19a das Eingeständnis der Sünde und der Unwürdigkeit zur Sohnschaft vorausschicken. Zwar ist auch bei den Söhnen des Ratsherrn vorausgesetzt, daß sie umkehren, und beim jüngeren Sohn, daß er an das Erbarmen des Vaters appelliert. Doch ist es keineswegs belanglos, was erzählerisch jeweils realisiert wird und was nicht. Die Fortsetzung zeigt vielmehr, daß dadurch die Weichen für den Schluß gestellt werden. So erstaunt es nicht, daß der, der nach Lk 15, 21 vor dem Vater seine Sünde und Unwürdigkeit zur Sohnschaft eingesteht, von diesem mit den Zeichen des Erbarmens überschüttet wird: Nach Lk 15, 20 wird er überschwenglich begrüßt und nach Lk 15, 22 erneut in die Stellung des Sohnes eingesetzt, und erst die Stiftung des Festmahls nach Lk 15, 23f führt über das hinaus, was das Erbarmen diktiert. Die dagegen, die explizit um Erbarmen bitten, werden von ihrem Vater verleugnet. Freilich: Von der Verleugnung ist nur deshalb die Rede, weil der Erzähler den älteren Menschen die Gelegenheit geben will, die Sohnschaft der Verleugneten zur Geltung zu bringen. Denn, so ist vorausgesetzt, wenn auch nicht mehr ausgesprochen1: Gerade als Frevler haben Söhne Anspruch auf das, was einen Vater als Vater auszeichnet - jedenfalls dann, wenn sie darum bitten. Letztlich bleibt also nur die Stiftung des Festmahls ohne jede Analogie. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Jesus auf der Basis einer Reihe von Gemeinsamkeiten deutlich andere Akzente setzt als der Rabbi. Er entfaltet zwar zunächst wie dieser, daß sich der Sohn mit dem Frevel zugleich vom Vater entfernt und darum in eine Not gerät. Doch macht nur
1
Vgl. jedoch die sekundäre Passage (6') in der Anwendung!
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er die Not zu einem Ort, an dem der Hörer in die Selbstbesinnung des Sohnes verwickelt wird. Denn die Umkehr, die hier zur Sprache kommt, bereitet vorzüglich darauf vor, daß der Vater dem Frevler weit über sein Erbarmen hinaus entgegenkommt. Der Rabbi dagegen läßt den Sohn in der Not lediglich um Erbarmen bitten, ohne ihm zugleich die Gelegenheit zur Dokumentation seiner Umkehr zu geben. Er schafft dadurch die Voraussetzung für die Zurückweisung des Bittenden und steht deswegen nicht vor der Aufgabe, das Erbarmen des Vaters herauszustreichen, sondern ein Argument gegen die Zurückweisung aufzubieten. Der Vergleich führt zu dem Ergebnis, daß der Maschal vom Ratsherrn dem ersten Teil des Gleichnisses Jesu nicht nur formgeschichtlich, sondern auch sachlich ferner steht als der Maschal vom Amtsarzt. Verantwortlich dafür ist letztlich, daß er noch konsequenter als seine Parallele die Konfrontation mit dem Frevel des Sohnes zum Thema macht. Unberührt davon bleibt allerdings, daß der Rabbi auch hier auf das gleiche Vaterbild rekurriert wie Jesus. Und unberührt bleibt auch, daß er wie dieser dadurch einen Aspekt der Beziehung zwischen Jahwe und dem Sünder verdeutlichen will. Der Rabbi denkt dabei an Israel und Jesus an Sünder, denen Gerechte gegenüberstehen. Der dritte Maschal von einem Vater und einem frevlerischen Sohn, der die Topoi vom Auszug und von der Vertreibung miteinander kombiniert, läßt den Vertriebenen nicht in eine Not geraten, sondern hebt hervor, unter welchen Bedingungen der Vater ihn in sein Haus umkehren lassen werde. Er ist in ein Streitgespräch eingebettet, das sich im Midrasch hfgillath
Esther findet. 1
Text XX: "Dies ist die Frage, die ein Hegemon R. Mei'r stellte. Er sagte zu ihm: Seid ihr so verachtet, wie Haman über euch sagte (vgl. Est 3, 6)? R. Mei'r (Tannait der 3. Generation) sagte zu ihm: Weshalb? Er sagte zu ihm: Ich habe einen Sklaven. Und ich fUge ihm eine große Schande zu und lasse ihn ausziehen aus meinem Haus und sage zu ihm: Ich bin dir nicht wohlgesonnen. Jener Sklave ging fort. Er erwarb für sich selbst einen anderen Herrn. Steht er etwa in meiner Gewalt? Er sagte zu ihm: Er erwarb für sich selbst einen Herrn. Das ist eine andere Sache.
1
Der Text ist abgedruckt bei A. Jellinek, Bet ha-Midrasch, I, Jerusalem 31967,19-24, hier 21f. Eine Übersetzung findet sich bei A. Wünsche, Aus Israels Lehrhallen, II, 1908, 139148, hier 143-145. Zur Erläuterung von Mt 4,17 zitiert bei Bill. 1,165, und als Parallele zu Lk 15,11-32 erwähnt ebd. II, 216.
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Er sagte zu ihm: Euer Erwerber hat euch vertrieben und euch in die Verbannung geführt unter uns durch unsere Werke. Bemüht ihr euch, (sc. daraus) zu lernen oder nicht? R. Mei'r sagte zu ihm: Du hast einen Sohn und du liebst ihn besonders. Und infolge von Essen und Trinken verließ er dich und wandelte auf häßlichen Wegen. Und du vertriebst ihn und ließest ihn ausziehen aus deinem Haus und setztest ihm eine Zeit fest und sagtest zu ihm: Wenn du umkehrst mit Buße, lasse ich dich umkehren in mein Haus. Und alle jene Jahre, die du ihm festgesetzt hast, saß er mit Weinen und Klagen, bis du dich über ihn erbarmst. Sie sagten zu dir: Dein Sohn wandelt auf den früheren Wegen. Du sagtest zu ihnen: Er kehrt noch immer mit Buße um. Sie sagten zu ihm: Er ist umgekehrt. So: Wir sind Söhne Jahwes (DtPH). Weil Hochmut in uns war und wir widerspenstig vor ihm waren, vertrieb er uns unter euch und schwor uns bis zur Endzeit. Jetzt tun wir Buße. Und er wird sich über uns erbarmen und uns umkehren lassen in unser Land. Und wenn wir wandeln auf häßlichen Wegen, wird er uns nicht umkehren lassen. Der Hegemon sagte zu ihm: Gibt es für euch eine Umkehr? R. Mei'r sagte zu ihm: Es steht hier geschrieben: 'Und es wird kommen ein Erlöser für Zion und für die, die umkehren vom Frevel in Jakob' (Jes 59,20). Und längst hat der Heilige bei seinem Namen geschworen, daß er uns umkehren lassen wird. Der Hegemon sagte zu ihm: Vielleicht für Zion und nicht für euch. Er sagte zu ihm: Längst steht geschrieben: 'Die Befreiten Jahwes (ÜE7i7) werden umkehren und zum Zion kommen mit Jubel' (Jes 51,11). Er sagte zu ihm: Vielleicht wird er das Geschlecht der Wüste umkehren lassen und weiter nicht. R. Mei'r sagte zu ihm: Längst steht geschrieben: 'Alle sind versammelt und kommen zu dir' (Jes 60, 4). Der Hegemon sagte zu ihm: Vielleicht geht das auf die Lebenden, und auf die Toten geht es nicht. R. Mei'r sagte zu ihm: Längst steht geschrieben: 'Mein Aas wird aufstehen' (Jes 26,19) - die dem Aas gleichen. Der Hegemon sagte zu ihm: In der Tat, du hast mich besiegt. Ihr seid Wahrheit und eure Tora ist Wahrheit. Darum ist gesagt: 'Sie treten mir entgegen am Tage meines Unglücks' (Ps 18,19)." Der erste Satz der Einheit dient der Verknüpfung mit der vorausgehenden Tradition, die Ps 18, 191 mit Hilfe von Ex 17, 14 als Hinweis auf die Auslöschung des Gedächtnisses von Amalek und Haman interpretiert. Er dürfte erst vom Verfasser des Midrasch gebildet worden sein, greift er unter Verwendung einer typischen Überleitungsformel doch auf, daß die anschließende Exposition des Streitgespräches ebenfalls von
Haman
spricht. D i e Exposition selber hat ursprünglich zweifellos gelautet: "Ein H e g e m o n sagte zu R. Mei'r: Seid ihr so verachtet, wie Haman über euch sagte? R. Mei'r sagte zu ihm: Weshalb?" V o n der Auslöschung Hamans ist hier allerdings ebensowenig die R e d e wie in der Fortsetzung, und erst
1
Der Vers wird anders als am Schluß des Streitgesprächs vollständig zitiert!
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recht läßt sich keine Generalisierung des Motivs nachweisen. Sekundär dürfte deswegen auch der Schluß sein. Er verlangt, das Streitgespräch als Beitrag zur Erklärung von Ps 18, 19 zu lesen, fügt sich aber weder formal noch inhaltlich in die vorausgehende Zitatenkette ein. Nur der Zusammenhang mit dem ersten Satz verleiht ihm einen Sinn. Das Streitgespräch beginnt mit einer stilgemäßen Exposition: Ein Hegemon spricht R. Me'ir in Form einer Frage auf die Verachtung Israels an, und der Rabbi reagiert darauf mit der Frage nach dem Grund der Verachtung. Das eröffnet dem Heiden die Möglichkeit, seine Position im ersten Abschnitt des Hauptteils durch einen Maschal zu erläutern, dem er trotz des Einspruchs gegen die Sachgemäßheit der Pointe eine Übersetzung folgen läßt. Dem hält der Rabbi zu Beginn des zweiten Abschnitts einen eigenen Maschal mit einer Übersetzung entgegen. Daran schließen sich vier parallel aufgebaute Gesprächsgänge an, in denen der Hegemon in immer neuen Anläufen bezweifelt, daß der Rabbi die Pointe des Maschal richtig übersetzt, und R. Mei'r die Zweifel mit immer neuen Schriftzitaten erfolgreich aus dem Felde schlägt. Dem Unterlegenen bleibt deswegen schließlich nichts anderes übrig, als dem Sieger des Streits seine Reverenz zu erweisen. Der Hegemon als Repräsentant der römischen Besatzungsmacht1 fordert R. Mei'r mit der Behauptung heraus, Israel sei - von Gott 2 - verachtet, und er verbirgt die eigene Überzeugung scheinheilig hinter der Frage nach der Wahrheit des Urteils, das Haman, der Erzfeind aller Juden, abgegeben hat. Der Hörer weiß, daß der Rabbi als Repräsentant des Gottesvolkes der Herausforderung gewachsen sein wird. Aber er muß sich mit Geduld wappnen, ist dem Erzähler doch zunächst daran gelegen, den Hegemon aus seinem Versteck hinter Haman hervorzulocken. Das erreicht er dadurch, daß er dem Rabbi die Frage nach den Gründen für das Urteil Hamans in den Mund legt. Der Hegemon antwortet mit einem Maschal, dessen literarische Form seinem Standpunkt die größtmögliche Überzeugungskraft geben soll. Denn wer wagt schon zu widersprechen, wenn es das Ich des Sprechers selber ist, 1
Der Hegemon wird sonst stereotyp als Kontrahent von Johanan ben Zakkai erwähnt. Vgl. Herr, Historical Significance, 127-132. 2
Daß die Verachtung nicht von den Völkern, sondern von Gott ausgeht, ergibt sich aus dem Maschal des Hegemon.
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das die Authentizität der Handlungsfolge verbürgt, in die die Exposition verwickelt? Und wer vermag sich von einem Geschehen zu distanzieren, das einem besprechend auf den Leib rückt, auch wenn der Schluß charakteristischerweise in Erzählung übergeht? Der Rabbi soll sich in den Fall versetzen, daß der Hegemon einen Sklaven hat. Als Herr, so weiß jeder, kann der Sprecher mit seinem Sklaven tun, was er will. Im vorliegenden Fall fügt er ihm eine große Schande zu, läßt ihn aus dem Hause ausziehen und gibt als einziges Motiv für sein Handeln an, er sei ihm nicht wohlgesonnen. Dem Verjagten bleibt daraufhin nichts anderes übrig, als fortzugehen und sich einen anderen Herrn zu erwerben, und es versteht sich von selbst, daß er nicht mehr unter der Gewalt seines alten Herrn steht. Das jedenfalls ist die Pointe des Maschais, die sich der Hegemon durch eine rhetorische Frage bestätigen lassen möchte. Der Hörer aber durchschaut, in welche Falle tappen würde, wer die Bestätigung bereitwillig gäbe: Er würde sich anschließend darauf festlegen lassen müssen, daß Israel von Jahwe verstoßen worden ist und also die Freiheit besitzt, sich einem anderen Gott zu unterstellen. Es ist deswegen nicht erstaunlich, daß auch der Rabbi das Glatteis durchschaut, auf das er gelockt werden soll. Souverän erwidert er: Daß sich der Sklave einen neuen Herrn erwirbt, vermag Israels Situation nicht zu erhellen. Obwohl der Rabbi die Übersetzung des Maschal noch vor ihrer Darbietung zurückgewiesen hat, läßt der Hegemon sich nicht davon abhalten, sie seinem Kontrahenten aufzuschwatzen: So wie er selber den Sklaven aus seinem Haus habe ausziehen lassen, habe Israels Gott sein Volk - aus dem Lande - vertrieben. Er übersetzt also nicht, daß er dem Sklaven eine große Schande zugefügt hat, und er übergeht auch, daß er ihm nicht wohlgesonnen gewesen ist. Dadurch fehlt der Vertreibung Israels die Motivation, die das Ausziehenlassen des Sklaven besitzt. Statt dessen wird hervorgehoben, was im Maschal selber keine direkte Basis hat: Die Vertreibung hat die Verbannung unter die Römer zum Ziel, und Jahwe nahm dabei die "Werke" derer, zu denen der Hegemon gehört, als Mittel für sein Handeln in Dienst. Heißt das, daß er ihren militärischen Taten zum Erfolg verhalf? Oder ist gemeint, daß er die römischen Götter triumphieren ließ? Ich selber halte letzteres für wahrscheinlich. Denn erstens ergibt sich dann eine enge Beziehung zur Pointe des Maschal: So wie sich der Sklave nach der Verjagung einen anderen Herrn erwirbt, soll
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die Verbannung Israel veranlassen, die von Jahwe selber in ihrer Macht beglaubigten Götter der neuen Obrigkeit als Herren anzuerkennen. Und zweitens gewinnt ein scharfes Profil, was der Hegemon dem Rabbi als Konsequenz aus der Übersetzung des Maschal nahelegt: Seine Frage nach der Bereitschaft zum Lernen aus den Werken der Römer hat nicht die Unterwerfung unter ihre Herrschaft, sondern unter ihre Götter im Auge.1 Da der Rabbi die Übersetzung schon vor ihrer Explikation als unsachgemäß bezeichnet hat, hält er es erst recht nicht für nötig, sich mit ihrer "Lehre" auseinanderzusetzen. Statt sich auf das Feld des anderen zu begeben, trägt er einen eigenen Maschal vor, und der stellt eine sehr überlegte Kontrastbildung zu dem seines Kontrahenten dar. Was die Form betrifft, so macht auch der Rabbi den Hegemon zu einer der beiden Hauptpersonen. Da der Hegemon jetzt jedoch das Du des Angesprochenen ist, wird der Hörer sehr viel stärker in das Geschehen verwickelt, als es beim Ich des Sprechers der Fall sein kann. Der größeren Direktheit wirkt allerdings entgegen, daß nicht erst am Schluß, sondern bereits unmittelbar nach dem Eröffnungssatz von der Besprechung zur Erzählung übergegangen wird. Der Rabbi konfrontiert den Hegemon mit dem Fall, daß er nicht einen Sklaven, sondern einen Sohn hat, den er entsprechend seiner Rolle als Vater - nicht als Herr! - besonders liebt.2 Dem Sohn aber, den man liebt, fügt keiner so, wie es bei einem Sklaven möglich ist, ohne Grund eine große Schande zu. Um ihn aus dem Haus verjagen zu können, bedarf es vielmehr eines Vergehens, dessen er sich schuldig gemacht hat. Deswegen beginnt das eigentliche Geschehen mit der Aussage, infolge von unmäßigem Essen und Trinken 3 verlasse der Sohn den Hegemon und wandele auf häßlichen Wegen. Daraufhin, so weiß der Hörer in Übereinstimmung mit dem Erzähler, bleibt dem Vater nichts anderes übrig, als den Frevler zu vertreiben und aus dem Haus ausziehen zu lassen. Dem Hegemon wird also unterstellt, daß er gegenüber seinem Sohn genauso handelt wie gegenüber seinem Sklaven. Während er beim Sklaven 1
Vgl. Text XIX, bei dem die Anwendung (2) ausführt, daß mit dem Lernen der Werke die Übernahme des Gestirndienstes der Völker gemeint ist. 2 3
Vgl. Text XII!
Dtn 21, 20 läßt vermuten, daß hier ein Motiv der vieldiskutierten Tradition vom widerspenstigen Sohn vorliegt. Vgl. z.B. Sanh 68b-72a.
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dadurch jedoch lediglich die große Schande, die er ihm zufügt, konkretisiert, reagiert er beim Sohn auf die Tat dessen, der seiner Liebe ins Gesicht schlägt. Statt ihm die Wohlgesonnenheit aufzukündigen, gibt er ihm, insofern er Sohn ist, deswegen eine konditionale Verheißung mit auf den Weg: Falls er während einer festgesetzten Zeit in Buße umkehre, werde der Hegemon ihn seinerseits ins Haus umkehren lassen. Trotz des gleichen Geschicks befindet sich der Sohn am Ende der Exposition in einer ganz anderen Situation als der Sklave: Steht dieser vor der Notwendigkeit, sich einen neuen Herrn zu suchen, so erhält jener die Chance, sich der Umkehr ins Haus, aus dem er vertrieben worden ist, als würdig zu erweisen. Töricht wäre, wer diese Chance nicht wahrnähme! Der Hörer registriert deswegen zufrieden, was der Erzähler ihm zu Beginn des Hauptteils mitteilt: Der Sohn des Hegemon verbringt die festgesetzte Zeit mit Weinen und Klagen, kehrt also mit Buße um, bis sein Vater sich über ihn erbarmt, ihn also ins Haus umkehren lassen wird. Empört muß er anschließend allerdings zur Kenntnis nehmen, daß Dritte - gedacht ist wohl an Bewohner des Ortes, an dem sich der Vertriebene aufhält - dem Hegemon hinterbringen, sein Sohn wandele auf den früheren Wegen. Erleichtert ist er erst, als er erfährt, daß der Hegemon der Verleumdung entgegentritt: Sein Sohn, so sagt er, kehre noch immer mit Buße um, habe also keineswegs zu weinen und zu klagen aufgehört. Dem Zeugnis des Vaters können sich selbst die Verleumder nicht verschließen. Sie müssen nun vielmehr selber bezeugen - und das ist die Pointe: Der Sohn ist umgekehrt. Die Analyse zeigt, daß der Rabbi einen Maschal vorträgt, dessen Sujet ganz andere Konnotationen zu realisieren erlaubt als das vom Herrn und Sklaven: Nur im Blick auf das Gegenüber von Vater und Sohn ist es möglich, eine Handlungsfolge plausibel zu machen, nach der die hierarchisch überlegene Gestalt der unterlegenen trotz ihres Frevels die Umkehr in das Haus, aus dem sie vertrieben worden ist, in Aussicht stellt, und nur im Blick auf dieses Gegenüber kann glaubhaft gemacht werden, daß die Aussicht auf die Umkehr ins Haus durch die Umkehr mit Buße nicht verspielt wird. Keines der bisher behandelten Gleichnisse weist freilich so viele theologisch aufgeladene Wörter und Wendungen auf wie dieses, und keines gibt so deutlich zu erkennen, daß es die zugrundeliegende Vater-
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Sohn-Metaphorik benutzt, um die deuteronomistische Deutung des Exils zu erneuern: Weil Israel Jahwe verlassen hat und auf den häßlichen Wegen der Fremdgötterei wandelt, vertreibt Jahwe seinen geliebten Sohn aus dem Lande der Väter, gewährt ihm aber eine Frist, bis zu deren Erfüllung er durch Umkehr mit Buße die Möglichkeit zur Umkehr ins Land offenhalten kann. Israel nutzt die Zeit des Exils, um in Klagefeiern1 seine Bußgesinnung unter Beweis zu stellen. Denn es gibt die Hoffnung nicht auf, daß Jahwe ihm dereinst sein Erbarmen zuwenden wird. Zwar treten Heiden mit der verleumderischen Behauptung auf, es wandele erneut auf den häßlichen Wegen der Fremdgötterei. Doch gelingt es ihnen nicht, das Volk Gottes in seiner Bußpraxis zu verunsichern. Denn Jahwe selbst nötigt ihnen die Erkenntnis ab, daß Israel umgekehrt ist. Kehrt man zum Kontext zurück, so zeigt sich, daß der Schluß des Maschal außerordentlich raffiniert formuliert ist: Leitet der Hegemon aus der Exilierung die Aufforderung zur Unterwerfung unter die römischen Götter ab, so überbietet der Rabbi ihn durch das Zugeständnis, es gebe sogar Zeugen dafür, daß Israel dieser Aufforderung bereits nachgekommen ist. Er weist anschließend freilich darauf hin, daß Jahwe die Zeugen eines besseren belehrt, und ihr anfängliches Falschzeugnis macht nur um so glaubwürdiger, was sie jetzt zu bezeugen haben: Statt zu den Götzen abzufallen, ist Israel umgekehrt, hält also an Jahwe als seinem Gott fest, und der wird die Exilierten aufgrund seines Erbarmens aus dem Machtbereich der Römer in das Land der Väter umkehren lassen. Der Erzähler erlaubt es dem Hegemon nicht, direkt auf diese Provokation zu reagieren. Denn bevor er ihm das Wort erteilt, räumt er dem Rabbi das Recht ein, dem Maschal eine relativ freie Übersetzung zu geben, die seinen Sinn gegen jeden denkbaren Einwand sicherstellt. R. Mei'r beginnt mit der Feststellung, daß die Israeliten Söhne Gottes sind, hält es aber nicht für notwendig, eigens hervorzuheben, daß sie von Gott besonders geliebt werden. Anschließend faßt er in einem einzigen Satz zusammen, was die Exposition des Maschal in drei Sätzen ausführlich entfaltet. Dabei entsprechen der Hochmut und die Widerspenstigkeit Israels dem Essen und Trinken, dem Auszug und dem Wandel des Sohnes auf häßlichen Wegen, und so wie der Hegemon den Sohn, vertreibt Jahwe Israel wegen seines Frevels. Nicht übersetzt wird dagegen, daß der Hegemon den Sohn aus dem Haus ausziehen läßt,
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Vgl. Steck, Geschick der Propheten, 87f. 134ff.
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und statt des Ortes (dem Haus), von dem der Auszug ausgeht, wird bei den Israeliten in Übereinstimmung mit der Übersetzung des gegnerischen Maschal hervorgehoben, wohin die Vertreibung führt: unter die Römer. Astigmatisch verkürzt ist, was der Hegemon seinem Sohn mit auf den Weg gibt: Die festgesetzte Zeit wird für Israel auf die Zeitspanne "bis zur Endzeit" bezogen, und die konditionale Verheißung reduziert sich auf den Hinweis, daß Jahwe schwört. Eine ähnliche Verkürzung kennzeichnet die Fortsetzung: Statt der Aussage, daß der Sohn die festgesetzten Jahre mit Weinen und Klagen verbringt, findet sich die unanschauliche Notiz über die Buße, die Israel jetzt tut. Anschließend dagegen kommt es zu einer Erweiterung: Das Motiv von der Zuwendung des Erbarmens wird dahingehend expliziert, daß Jahwe die Israeliten in ihr Land umkehren lassen wird. Eine wirkliche Neuformulierung dessen, was der Maschal sagt, bietet allerdings erst der Schluß. Denn der Dialog, in dem die Falschzeugen dem Sohn schließlich bescheinigen, daß er umkehrt, wird bei der Applikation zü einer Drohung, die paränetische Funktion hat: Wenn Israel nicht, wie vorher festgestellt worden ist, Buße tut, sondern auf häßlichen Wegen wandelt, wird Jahwe es nicht in das Land umkehren lassen.
Betont die Pointe des Maschal, daß Israel zu Jahwe umgekehrt ist, so ihre Übersetzung, daß Jahwe sein Volk in das Land der Väter umkehren lassen wird. Es ist leicht erkennbar, womit diese Akzentverschiebung zusammenhängt: Während ersteres der Aufforderung zur Unterwerfung unter die römischen Götter die Basis entzieht, stellt letzteres eine kaum zu überbietende Herausforderung dessen dar, der ein Vertreter der Macht ist, deren sich Jahwe bei der Vertreibung aus dem Land als Werkzeug bedient hat. Es versteht sich deswegen von selbst, daß sich der Hegemon mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, dagegen wehrt. Viermal meldet er seinen Zweifel an, ob die Pointe richtig übersetzt ist, und viermal treibt ihn der Rabbi mit Schriftzitaten so in die Enge, daß ihm schließlich nur noch das Eingeständnis seiner Unterlegenheit übrigbleibt. Als erstes fragt der Hegemon, ob es für die Exilierten eine Umkehr ins Land gibt. Er möchte also wissen, ob das, was die Übersetzung der Pointe des Maschal behauptet, auch tatsächlich zutrifft. Der Rabbi antwortet in zwei Schritten. Zunächst führt er aus, aus Jes 59, 20 gehe hervor, daß ein Erlöser für Zion und für die von ihrem Frevel Umkehrenden kommen wird. Mit letzteren sind dabei zweifellos die Exilierten gemeint, so daß anschließend in Anlehnung an den Maschal und seine Übersetzung hinzugefügt werden kann, Jahwe werde sie ganz gewiß umkehren lassen. Zusammenfassend heißt das: Für Zion und die Exilierten wird mit der Ankunft des Erlösers zugleich die Umkehr ins Land zur Realität werden. Der Hegemon gesteht ein, Jes 59,20 habe ihm klargemacht, daß es für Zion "vielleicht" eine Umkehr geben werde. Die Applikation der Stelle auf die Exilierten überzeuge ihn aber nicht. Der Rabbi behaftet ihn daraufhin geschickt bei seinem Zugeständnis im Blick auf Zion, wenn er mit Hilfe von Jes 51,11 belegt, daß die Befreiten Jahwes umkehren und zum
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Zion kommen werden: Wer für Zion die Umkehr akzeptiert, muß das auch für die tun, die Jahwe als Befreite zum Zion umkehren läßt. Weil er sich Jes 51, 11 nicht verschließen kann, gibt der Hegemon zu, "vielleicht" gebe es eine Umkehr der Wüstengeneration. Der Erzähler läßt ihn dabei wohl an die weit zurückliegende Einnahme des Heiligen Landes denken. Daß unter den Befreiten Jahwes die Exilierten zu verstehen sind, überzeugt den Hegemon dagegen nicht. Deswegen fügt er hinzu: Für die späteren Generationen werde es keine Umkehr geben. Der Rabbi setzt dagegen: Jes 60, 4 beweist, daß "alle" sich versammeln und zu Jahwe kommen werden. Auch Jes 60, 4 muß der Hegemon als Beweismittel anerkennen. Er bemerkt lediglich, daß sich das "alle" der Stelle "vielleicht" auf die Lebenden beziehe, nicht aber auf die Toten. Mit den Lebenden sind dabei wahrscheinlich diejenigen gemeint, die in der fernen Zeit des Eschatons leben, so daß alle davor Gestorbenen, also auch die jetzige Generation, von der Umkehr ausgeschlossen sind. Der Rabbi hält mit Hilfe von Jes 26, 19 dagegen, daß die Toten auferstehen werden: "Alle", die Jahwe ins Land umkehren lassen wird, umfaßt demnach alle, die bis zur letzten Generation gelebt haben werden - ganz Israel! Daraufhin gibt sich der Hegemon geschlagen und erkennt dem Rabbi den Sieg zu: Da Jahwe sein Volk ohne jede Ausnahme ins Land der Väter umkehren lassen wird, hat dieses Volk mit seinem Gott die Wahrheit auf seiner Seite, und da der Rabbi die Umkehr aus der Tora bewiesen hat, hat es mit ihr auch das Dokument der Wahrheit in seiner Mitte. Erstaunlicherweise kritisiert der H e g e m o n weder den Maschal noch dessen Übersetzung, sondern verlangt lediglich einen Beweis für die These, die die Übersetzung der Pointe vertritt: Jahwe wird Israel in sein Land umkehren lassen. D a ein solcher Beweis im Sinne des Textes nur aus der Schrift geführt werden kann, vertraut sich der Römer also von Anfang an der zeugenden Kraft an, die der Struktur der Anwendung eines rabbinischen Maschal inhärent ist: Auf die Übersetzung folgen Schriftzitate, die die Übersetzung als wahr erweisen. Es verwundert deswegen nicht, daß es dem Rabbi in vier Schritten gelingt, seinen Kontrahenten matt zu setzen. Durch Jes 59, 20 nötigt er ihm das Zugeständnis ab, "vielleicht" gebe es für Zion eine Umkehr. Durch Jes 51, 11 zwingt er ihn, dasselbe für die Wüstengeneration in Erwägung zu ziehen. Durch Jes 60, 4 erreicht er gar, daß die Umkehr selbst für die, die in der Endzeit leben, nicht ausgeschlossen werden kann. U n d Jes 26, 19 läßt dem H e g e m o n keinen anderen Ausweg mehr offen, als das einschränkende "vielleicht"1 ganz fallen zu lassen: Mit der Umkehr aller Generationen Israels hat der Rabbi
1 Das "vielleicht" findet sich in gleicher Funktion z.B. auch in einem Sanh 90a überlieferten Streitgespräch zwischen R. Gamliel und Sadduzäern.
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bewiesen, daß sein Volk durch Jahwe und die Tora mit der Wahrheit im Bunde steht. Insbesondere der Schluß zeigt, daß das Streitgespräch eine ideale Szene ist.1 Eindringlich vergegenwärtigt sie dem Hörer durch den Hegemon, wie verführerisch die Versuchung auftritt, der er in der Zerstreuung unter den Heiden ausgesetzt ist, und nicht weniger eindringlich vergewissert sie ihn durch den Rabbi der Überlegenheit dessen, der nicht nur die Wahrheit, sondern auch den souveränen Anwalt der Wahrheit auf seiner Seite weiß: Der Vertreter der römischen Weltmacht muß sich erstens bequemen, hinter der Maske Hamans sein eigenes Gesicht zu zeigen. Er muß sich zweitens vorwerfen lassen, daß sein Maschal an der Sache des Exils vorbeigeht. Er muß drittens schweigend tolerieren, daß seine Übersetzung des Maschais keiner Widerlegung gewürdigt wird. Er muß sich viertens durch einen Gegenmaschal von den eigenen Leuten darüber belehren lassen, daß Israel das Privileg seiner Sohnschaft, die Umkehr zu Jahwe, tatsächlich genutzt hat. Und er muß sich fünftens sogar zu der Erkenntnis durchringen, daß Jahwe alle Generationen seines Volkes eines Tages aus dem Machtbereich der Römer in das eigene Land umkehren lassen wird! Die Kohärenz, die das Streitgespräch besitzt, spricht dagegen, daß der Maschal vom Hegemon und seinem Sohn je isoliert gegenüber dem jetzigen Kontext existiert hat. Da die Kohärenz das Verdienst eines anonymen Autors ist, muß zudem soviel wie ausgeschlossen werden, daß der Maschal auf R. Me'ir zurückgeht. Er dürfte dem großen Gelehrten der Generation nach Bar Kokhba, der nicht wie z.B. R. Johanan ben Zakkai, R. 'Aqiba oder R. J e huda zu den typischen Apologeten des Judentums gegenüber heidnischen Kontrahenten gehört2, vielmehr lediglich wegen der Berühmtheit seiner Gleichnisrede in den Mund gelegt worden sein.3
1 Es besitzt in dem BB 10a überlieferten Streitgespräch zwischen dem Tyrannen Rufus und R. 'Aqiba eine der Form und der Sache nach sehr nahe Parallele. Denn hier wird mit Hilfe zweier Gleichnisse ebenfalls darum gestritten, ob Israels Lage derjenigen eines Sklaven oder eines Sohnes entspricht. 2
Vgl. Herr, aaO. 125. Es scheint kein weiteres Streitgespräch zwischen einem Heiden und R. Meir zu geben. Vgl. jedoch KohR I, 9, und dazu Herr, aaO. 145. 3
Erstaunlich ist allerdings, daß der Maschal dem Inhalt nach mit dem übereinstimmt, was auch sonst als R. Mei'rs Urteil über Israels Befreiung vom römischen Joch tradiert wird. Vgl. G. Stemberger, Die römische Herrschaft im Urteil der Juden, EdF 195,1983,113f.
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Läßt man sich auf die Voraussetzungen des rabbinischen Schulbetriebs ein, so wird man nicht umhinkönnen, dem Streitgespräch eine große Gewitztheit und einen ebensogroßen ästhetischen Reiz zu bescheinigen. Der Exegese von Ps 68, 28 (Text XIV) oder von Jes 64, 7 (Text XVIII) steht es in dieser Hinsicht um nichts nach. Wie aber fügt es sich in das bisher gewonnene Bild im einzelnen ein? Was den Maschal des Hegemons betrifft, so ist uns die auf die Exilierung bezogene Terminologie schon mehrfach begegnet: So wie der Hegemon seinen Sklaven aus dem Haus ausziehen läßt, vertreibt auch der Mensch seinen Sohn aus dem Haus (Text XVII), während der Sohn des Königs (Text XVI)1 und die Söhne des Ratsherrn (Text XIX) selber ausziehen. Die Verschiedenartigkeit des Sujets hat jedoch zur Folge, daß es darüber hinaus nur bei einem einzigen Motiv zu einer Überschneidung kommt, und gerade hier zeigt sich der unüberbrückbare Gegensatz: Muß sich der verjagte Sklave einen neuen Herrn suchen, weil der Hegemon ihm nicht wohlgesonnen ist, so läßt der Mensch des Maschais von R. Abäalom dem Alten (Text XVII) seinem vertriebenen Sohn versichern, daß er ihm längst wohlgesonnen ist.2 Wenden wir uns dem Maschal R. Mei'rs zu, so ist aufgrund der Gemeinsamkeit des Sujets von vornherein damit zu rechnen, daß er sich mit den anderen Gleichnissen, die in diesem Kapitel untersucht worden sind, in vielfacher Weise berührt. Die Art der Berührung läßt sich dabei zum großen Teil bereits an der Struktur der Exposition ablesen. So wie R. Me'ir, beginnt auch R. §emuel Pargerita seinen Maschal (Text XVI) mit der Initiative des Sohnes: Der Sohn des Hegemon verläßt seinen Vater infolge von Prasserei und wandelt auf häßlichen Wegen, und der Sohn des Königs zieht in böser Art aus. Da der Frevel bei letzterem nicht konkretisiert wird, ist zwar nur bei ersterem davon die Rede, daß der Vater den, der ihn verlassen hat, seinerseits vertreibt und aus dem Haus ziehen läßt. Doch fällt auf, daß der König den Ausgezogenen bei demselben Problem behaftet wie der Hegemon den Vertriebenen: Verspricht dieser dem Sohn die Umkehr ins Haus, wenn er selber mit Buße umkehrt, so fordert jener den Sohn zur Umkehr auf. Es überrascht deswegen nicht,
1
Vgl. Text XVa.
2
Das Motiv findet sich auch noch in Text XIX, (5).
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daß auch die Pointe sich überschneidet: Während der Hegemon dafür sorgt, daß die Umkehr beglaubigt wird, bemüht sich der König darum, zu ihr zu verlocken. R. Abäalom der Alte beginnt seinen Maschal (Text XVII) erst mit der Initiative des Vaters: So wie der Hegemon seinen Sohn vertreibt und aus dem Haus ausziehen läßt, vertreibt auch der Mensch seinen Sohn aus dem Haus. Da dabei nicht explizit vom Frevel gesprochen wird, gibt der Erzähler dem Vertriebenen zwar keine Aufgabe mit auf den Weg, sondern bietet einen Freund auf, der beim Vater zu seinen Gunsten interveniert. Doch deckt sich die Intervention vom Inhalt her mit der Zusage, die dem gemacht wird, der die Aufgabe erfüllt: Für den Fall der Umkehr mit Buße verspricht der Hegemon dasselbe wie das, worum der Freund den Menschen bittet: Daß er den Sohn in sein Haus umkehren lasse. Anschließend arbeitet R. Mei'r heraus, daß der Sohn, R. Abäalom der Alte dagegen, daß der Vater die auf seiner Seite liegende Voraussetzung dafür schafft, daß die Umkehr ins Haus realisiert werden kann, und es versteht sich von selbst, wird erzählerisch aber nicht expliziert, daß die Voraussetzung auf seiten des einen der auf Seiten des anderen korreliert: Dritte bezeugen, daß der Sohn des Hegemon umgekehrt ist, und der Mensch antwortet seinem Freund, daß er dem Sohn längst wohlgesonnen ist. So wie beim Maschal R. Mei'rs, läßt sich auch beim Maschal vom Amtsarzt und seinem Sohn (Text XVIII) beobachten, daß die Initiative des Sohnes mit der des Vaters kombiniert wird: Während der Sohn des Hegemon seinen Vater wegen Prasserei verläßt, um auf häßlichen Wegen zu wandeln, trifft der Sohn des Amtsarztes auf einen Quacksalber, um diesen als Vater zu begrüßen. Und während der Hegemon den Frevler daraufhin vertreibt und aus seinem Haus ausziehen läßt, verbannt der Amtsarzt ihn aus seinem Angesicht. Der anonyme Autor geht anschließend zum Hauptteil über: Eine Erkrankung veranlaßt den Sohn, den Amtsarzt zu sich zu bitten. Bei R. Mei'r dagegen gehört es noch zur Exposition, daß der Hegemon dem Sohn die Umkehr ins Haus in Aussicht stellt, wenn er während einer festgesetzten Zeit in Buße umkehrt. Der Hauptteil beginnt erst mit der Feststellung, daß der Sohn die geforderte Umkehr vollzieht, bis der Vater sich über ihn erbarmt. Er tut also, was auch der Sohn des Amtsarztes tut, als er den Vater zu sich bittet, macht doch erst die vorausgesetzte Umkehr verständ-
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lieh, warum die Bitte beim Amtsarzt sofort erregt, womit der Sohn des Hegemon erst für die Zukunft rechnen kann: das Erbarmen. Es wundert deswegen nicht, daß sich die Worte des Amtsarztes an den Erkrankten zu denen des Hegemon an den Vertriebenen in Beziehung setzen lassen: Statt den Sohn zur Wahrnehmung des Privilegs der Umkehr vom Frevel aufzufordern, wirft er ihm den Frevel selber vor, und statt ihm für die Zukunft die Umkehr ins Haus in Aussicht zu stellen, versichert er ihn schon jetzt des Privilegs der Anrede des Vaters als "mein Vater". Zu beachten ist freilich: Während die Worte des Amtsarztes bereits die Pointe markieren, gehören die des Hegemons noch zur Exposition. Sie bereiten nicht eine Konfrontation mit dem Frevel vor, sondern legen die Basis dafür, daß der Schluß das Gegenteil herausstreichen kann: Der Sohn ist umgekehrt. Auch der Maschal vom Ratsherrn und seinen Söhnen (Text XIX) bietet eine strukturelle Entsprechung dazu, daß der Sohn den Hegemon wegen seines frevlerischen Wandels verläßt und der Hegemon ihn deswegen vertreibt. Und statt den Vertriebenen mit der Umkehr in Buße als Voraussetzung für die Umkehr ins Haus zu konfrontieren, läßtauch er ihn in eine - allerdings nicht konkretisierte - Not geraten. Der Hauptteil thematisiert deswegen nicht die Umkehr des Vertriebenen, sondern entwickelt sich aus der Bitte um Erbarmen, die der in Not Geratene älteren Menschen anvertraut. Da die Bitte die Umkehr voraussetzt, liegt zwar auch hier ein indirekter Beleg für die Korrelation von Umkehr und Erbarmen vor. Da die Bitte vom Ratsherrn jedoch zurückgewiesen wird, kommt es zu keiner weiteren Berührung inhaltlicher Art. Unter formalen Gesichtspunkten lohnt es sich allerdings trotzdem, den Dialog zu vergleichen, der bei beiden Gleichnissen den Hauptteil beherrscht: Die Söhne des Ratsherrn haben Anwälte, die bei ihrem Vater für sie intervenieren, und der Sohn des Hegemon hat Ankläger, die ihn bei derselben Instanz verleumden. Erstere müssen sich gefallen lassen, daß ihre Mandanten verleugnet werden, halten aber ein schlagkräftiges Argument dagegen. Und letztere werden darüber belehrt, daß ihre Verleumdung haltlos ist und legen deshalb ein glaubwürdiges Zeugnis für die Verleumdeten ab. Beidemal liegt das letzte Wort also nicht beim Vater, sondern bei Dritten! Es richtet sich das eine Mal gegen den Vater
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und wird das andere Mal von ihm erzwungen, und es stellt beidemal ein Votum zugunsten des Sohnes dar. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß R. Mei'rs Maschal kaum ein Motiv enthält, das uns nicht bereits begegnet ist. Sein individuelles Profil wird dadurch freilich nicht in Frage gestellt. Es verdankt sich vor allem der Tatsache, daß die Exposition noch nicht mit dem Hinweis auf die Vertreibung endet, sondern erst mit der Explikation der Aufgabe, die der Hegemon dem Sohn für die Dauer der Vertreibung stellt. Es handelt sich hier um eine strukturelle Besonderheit, deren Hintergrund leicht zu entschlüssen ist: Gezielter als bei den Parallelen greift der Erzähler die üblichen Konnotationen der Vater-Sohn-Beziehung auf, um dem Hörer eine bestimmte Sicht des Exils unter den Römern einzuprägen. Wenden wir uns dem ersten Teil von Lk 15, 11-32 zu, so setzt das eigentliche Geschehen auch hier mit der Initiative des Sohnes ein: Der Sohn des Hegemon verläßt seinen Vater wegen Prasserei, um auf häßlichen Wegen zu wandeln, und der jüngere Sohn begibt sich nach Lk 15, 12f in ein fernes Land, um dort das Erbe durchzubringen. Danach gehen beide Texte zunächst auseinander: Während der Sohn des Hegemon wegen seines Frevels vertrieben wird, gerät der jüngere Sohn nach Lk 15, 14-16 in eine ausweglose Not. Die Not freilich konfrontiert den Sohn mit demselben Thema wie die Vertreibung: Der Sohn des Hegemon bekommt von seinem Vater die Zusage der Umkehr ins Haus, wenn er während einer festgesetzten Zeit selber mit Buße umkehrt, und der jüngere Sohn faßt nach Lk 15, 17-19 von sich aus den Plan, zum Vater umzukehren und vor ihm seine Umkehr vom Frevel zur Sprache zu bringen. Die Umkehr des Sohnes wird also das eine Mal als länger andauernde Handlung und das andere Mal als punktueller Akt verstanden. Die Fortsetzung trägt diesem Unterschied Rechnung. Denn während es vom Sohn des Hegemon heißt, daß er solange umkehrt, bis sein Vater sich über ihn erbarmt, wird vom jüngeren Sohn in Lk 15, 20f erzählt, daß er seinen Plan in die Tat umsetzt. Ersterer kann demnach erst für die Zukunft erwarten, was letzterem schon jetzt widerfährt: Übermannt vom Erbarmen, gewährt der Vater dem jüngeren Sohn nach Lk 15, 20b-c eine überschwengliche Begrüßung und restituiert nach Lk 15, 22 seine Sohnschaft. Immerhin: Trotz aller Unterschiede wird beidemal herausgearbeitet, wie die Umkehr des Sohnes und das Erbarmen des Vaters ineinandergreifen.
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Einen ganz und gar eigenen Akzent setzt deswegen erst die Pointe: Während beim Sohn des Hegemon die Umkehr glaubhaft gemacht wird, fordert Lk 15, 23f im Blick auf den jüngeren Sohn zur Mitfreude auf. Es zeigt sich: So wenig sich der Maschal R. Mei'rs mit dem ersten Teil des Gleichnisses Jesu verrechnen läßt, so sehr weist er auch eine ganze Reihe von Berührungen mit ihm auf. Sie erklären sich auch hier aus der gemeinsamen Inanspruchnahme der Vater-Sohn-Beziehung für die Deutung des Verhältnisses zwischen Gott und dem Sünder. Dabei ist diesmal besonders gut erkennbar, daß der Maschal beim Sünder an Israel im ganzen denkt. Denn die Zeit, die dem Sohn des Hegemon für die Umkehr festgesetzt wird, kann ebensoschlecht auf den einzelnen Sünder übertragen werden wie die Zukünftigkeit des Erbarmens. Zum Problem des Exils, auf das beides bezogen ist, findet sich dementsprechend bei Jesus keine Analogie. Ich fasse zusammen: Es gibt im rabbinischen Judentum mindestens fünf Gleichnisse, die die Beziehung zwischen einem Vater und seinem frevlerischen Sohn thematisieren. Sie tun das mit der gleichen Technik wie der erste Teil von Lk 15, 11-32, und da es dabei zu zahlreichen Berührungen kommt, vermag die hörerorientierte Darbietung des Sujets zu erhellen: Daß der Frevel des jüngeren Sohnes mit der Entfernung vom Vater einhergeht, daß den Sohn in der Ferne die seiner Tat entsprechende Not ereilt, daß die Not zur Selbstbesinnung und Umkehr führt, und daß der Vater den Umkehrenden aufgrund seiner Barmherzigkeit wieder bei sich aufnimmt. Nur die Aufforderung zur Mitfreude bleibt ganz ohne Analogie. Freilich: Der Nachweis der mannigfaltigen Querverbindungen zwischen allen Texten hat nicht zur Folge, daß dem Gleichnis Jesu, aber auch nicht, daß einem der rabbinischen Gleichnisse daraufhin die Originalität zu bestreiten wäre. Denn erstens werden die Motive, Topoi und Sequenzen, die mehrfach vorkommen, jedesmal anders realisiert. Und zweitens ist jede Exposition trotz der strukturellen Parallelen genauso singulär wie die Pointe, auf die sie so ökonomisch und zielstrebig wie nur möglich zuläuft. Die Beziehungen, die es gibt, treten oft erst dann zutage, wenn es gelingt, den ausformulierten Vordergrund mit dem nichtverbalisierten, aber mitschwingenden Hintergrund ins Gespräch zu bringen. Denn allen Texten liegt zwar das gleiche patriarchale Vaterbild zugrunde, und dieses enthält,
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fokussiert durch das Gegenüber zum frevlerischen Sohn, offenbar nur eine sehr begrenzte Anzahl von Konnotationen. Ohne das Ausgeblendete leugnen zu wollen, aktiviert der Sprecher davon jedoch jeweils nur das, was er für seinen Redezweck gebrauchen kann. Fragt man nach dem Unterschied, so läßt sich jetzt die Feststellung des letzten Kapitels spezifizieren, daß die rabbinischen Gleichnisse durchweg "gedachter", unanschaulicher und formelhafter sind als das Gleichnis Jesu.1 Zwar ist auch für sie charakteristisch, daß der Hörer einerseits in Handlungen und Ereignisse und andererseits in deren Besprechung verwickelt wird. Doch werden die Handlungen und Ereignisse trotz gewisser Unterschiede im einzelnen ungleich knapper und schematischer dargeboten und nach der Exposition fast vollständig von den Reden der Protagonisten aufgesogen. Darin schlägt sich nieder, daß der Rabbi vor Schülern und Kollegen, Jesus dagegen vor Kritikern und Gegnern spricht. Denn ersteres fördert die "gedankliche" Beweisführung, während letzteres nach einer möglichst intensiven Entführung in die fiktionale Welt verlangt. Bei den Rabbinen dient das Gleichnis der Erklärung der Schrift. Es muß deswegen mit einer Anwendung verbunden werden, ist aber auch unabhängig davon lesbar. Das der Schrift entnommene Sujet verdankt sich dabei genauso wie bei Jesus der traditionellen Vater-Sohn-Metaphorik, und so wie hier dient es auch dort speziell der Explikation des Verhältnisses zwischen Jahwe und dem Sünder. Der Rabbi allerdings trägt Zunftgenossen eine theologische Deutung der Lage des Gottesvolkes im ganzen vor. Jesus dagegen entfaltet die theologische Basis seines provokativen Umgangs mit Sündern, und zwar vor denen, die ihn als Gerechte deswegen angegriffen haben. Ihre Kritik gehört schon zum Hintergrund des ersten Teils, wird als solche jedoch erst im zweiten Teil des Gleichnisses zur Sprache gebracht, und dazu findet sich bei den Rabbinen keinerlei Parallele. Wir stehen deswegen vor folgendem Ergebnis: Einerseits gibt es im rabbinischen Judentum Gleichnisse von einem königlichen Vater und zwei gegensätzlichen Söhnen. Sie sind aufgrund ihrer Struktur, der wahrscheinlich ein Paradigma der hellenistisch-römischen Rhetorik zugrundeliegt, hervorragend geeignet, um Jahwes Verhältnis zu Sündern und Gerechten zu beleuchten, tun es erstaunlicherweise jedoch
1
S.o.S. 327.
7. Sedrachapokalypse
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nicht. Andererseits gibt es Gleichnisse von einem Vater und einem frevlerischen Sohn, die Jahwes Verhältnis zum Sünder nach dem gleichen Modell behandeln wie das Gleichnis Jesu. Sie haben jedoch keinen Kontakt zu dem Problem, daß den Sündern Gerechte gegenüberstehen. Gibt es im Judentum außer bei Jesus also kein Vater-Sohn-Gleichnis, das sich auf Israels Spaltung in Sünder und Gerechte bezieht? An diesem entscheidenden Punkt ist die Suche bisher jedenfalls vergeblich gewesen. Erst die Sedrachapokalypse führt in gewisser Weise darüber hinaus.
7. Das Gleichnis von einem Vater und einem frevlerischen Sohn in der Sedrachapokalypse1
Der erste, christlich nicht überarbeitete Teil der Sedrachapokalypse, der die Kapitel 2-8 umfaßt, enthält 6, 5-7 ein von Gott selber vorgetragenes Gleichnis von einem Vater und seinem frevlerischen Sohn, das mit Nachdruck für die Bestrafung des Sünders eintritt. Es bietet sich in jeder Hinsicht dazu an, als Kontrast zu Lk 15, 11-32 zitiert zu werden. Berücksichtigt man jedoch den Kontext, dann zeigt sich, daß es kein anderes jüdisches Gleichnis gibt, das so nahe an das Gleichnis Jesu heranführt wie dieses. Nach der Entrückung (2, 1-4) nimmt Sedrach, als ayain-iTe pou ZeSpdx von Gott ausdrücklich dazu ermuntert (3, 1), für sich das Recht des uioq gegenüber dem iraxnp in Anspruch, Gott zur äitcn herauszufordern (3,2a): Warum, so fragt er, habe Gott die Erde (3, 2b) und das Meer (3, 4a) geschaffen, warum habe er aber auch das Gute auf der Erde ausgesät (3, 4b)? Die Antwort lautet: "Wegen des Menschen" (3,3.5). Sie ermöglicht es Sedrach, seine Frage zuzuspitzen: Warum habe Gott den Menschen dann zum Untergang bestimmt (3, 6)?
1 Ich benutze die Ausgabe von O. Wahl (Hrsg.), Apocalypsis Esdrae. Apocalypsis Sedrach. Visio Beati Esdrae, PVTG IV, Leiden 1977, 37ff.
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An die Frage schließen sich sechs parallel aufgebaute Gesprächsgänge an. Sie beginnen jeweils mit einer Reaktion Gottes auf die vorausgehende Stellungnahme Sedrachs und enden mit einer darauf bezogenen neuen Stellungnahme Sedrachs.1 Das Gleichnis findet sich im dritten Gesprächs gang. Auf die Frage nach dem Grund für die Bestimmung des Menschen zum Untergang antwortet Gott, er züchtige den, der das Werk seiner Hände sei, wie er ihn finde, also entsprechend seinen Taten (3, 7). Das gibt Sedrach die Möglichkeit, die Züchtigung als tcöXaaiQ icai irüp zu bezeichnen (4,1), deretwegen der Mensch lieber gar nicht als zu schnell geschaffen worden wäre (4, 2). Warum habe Gott seine unbefleckten Hände überhaupt bemüht, wenn er sich seines Geschöpfes nicht erbarmen wolle (eirei ouk nöeXec eXefiaou 4, 3)? Gott führt daraufhin, seinen letzten Beitrag (3, 7) konkretisierend, aus, daß er den Protoplasten Adam ins Paradies gesetzt habe, daß dieser aber trotz der Androhung der Todesstrafe das Gebot, nicht vom Baum des Lebens zu essen, übertreten habe - getäuscht freilich vom Teufel (4,4-6). Der Hinweis auf den Teufel veranlaßt Sedrach, in einem ersten Schritt zu beklagen, wie ohnmächtig der ¿Xeewöq äv6p