Culpa in Contrahendo: Transformationen des Zivilrechts. Entdeckungen oder zur Geschichte der Vertrauenshaftung. Habilitationsschrift 9783161517440, 9783161520952, 316151744X

Die culpa in contrahendo gilt als die nachhaltigste aller juristischen Entdeckungen, und in dieser Konnotation steht sie

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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Kapitel: Rechtsgefühl und Dogmatik: Auf der Suche nach Wissenschaft
§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“
I. Ausgangspunkt: Die Dogmatik des sog. „Willensdogmas“
II. Rechtstheoretische Krise I: Ratio scripta oder Rechtsgefühl?
1. Das Jahr 1861: Scherz und Ernst und Billigkeit
a) Die Grenzen des rechtspositivistischen Denkens
b) Savigny und Jhering: systematisierende Vernunft vs. pathetisches Gefühl
c) Damaskus-Erlebnisse: oder was wirklich geschah …
2. Rechtsgefühl und Prinzipienkultus
a) Theorie und Praxis: Das Rechtsgefühl als Korrektiv juristischer Konstruktion
b) Krieg und Frieden: Der Kampf ums Recht
c) Ursprung und Ziel: Der Zweck im Recht
d) Prinzipien und Gefühl: Die Abstraktion als Lehrmeisterin des Rechts
3. Noch ein „Damaskus“: Abschied von Rechtsgefühl und Prinzipienkultus
III. Dogmatische Konstruktion
1. Die „Entdeckung“ eines Rechtsprinzips?
2. Prokrustes: Die culpa auf dem Streckbett
a) Abstraktion: Die Konstruktion der Klage
b) Scherz und Ernst: Die ersten Fallgruppen der c. i. c
3. Zwei nachhaltige Konstruktionsfehler
a) Grenzen der culpa
b) Nichtigkeit und Rechtsfolge
§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation
I. Das Schuldmoment im römischen Recht
1. Zwei Einsichten
a) Culpa als Haftungsbegrenzung
b) Culpa und objektives Unrecht
2. Ein Nekrolog
II. Rechtstheoretische Besinnung: „Objektivität des Rechts“
1. Jherings Beschreibung der Rechtsevolution
a) Injurien und Causalnexus
b) Die Arglist als juristische Kategorie
2. Delikt und Vertrag I: dolus, bona fides und pacta sunt servanda
a) Der ursprüngliche Kern des dolus malus: Versprechens-, Vertrauens-, Vertragsbruch
b) Problem und Grund für die Subsidiarität der actio doli
c) Vom dolus zum Vertrag
3. Delikt und Vertrag II: dolus, culpa und Pflichtverletzung
a) Beweisrechtlicher Aspekt: Die culpa als dolus preasumtus
b) Materiell-rechtlicher Aspekt: Die culpa als Pflichtverletzung
III. Rechtsdogmatische Besinnung: Culpa als Haftungsbegrenzung
1. Tatbestand: „Ohne Schuld kein Schadensersatz“
2. Rechtsfolge: „Gleichgewicht zwischen Schuld und Schadensersatz“
§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?
I. Culpa und Rechtsverletzung
II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae
1. Postklassisch: Ausdehnung der actio legis Aquiliae
a) Die Larva legis Aquiliae
b) Der Einfluss des deutschen Rechts
c) Der Einfluss des Vernunftrechts
2. Aufklärung und Unklarheit: Die Generalklausel in den Kodifikationen
a) 1756: Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis
b) 1794: Das preußische Allgemeine Landrecht
c) Exkurs: Die culpa in contrahendo im ALR
d) 1804: Der Code Civil
e) 1811: Das österreichische ABGB
3. Neoklassisch: Iniuria und subjektives Recht
a) Vom Beruf jener Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft
b) Der Weg zum BGB: Schaden und Rechtswidrigkeit
c) Die Lösung des BGB: „Wohlgeordnete Rechtswidrigkeit“
III. Widerrechtlichkeit fahrlässiger Erklärungen?
1. Vorsatzdogma I: Actio doli und Erklärungshaftung
a) Undenkbar: Fahrlässige Illoyalität – Was ist das?
b) Verkehrsschutz: Erklärungsfahrlässigkeit – Wohin führt das?
2. Vorsatzdogma II: Verschuldens-Patt
a) Freiheit und Kausalität: Volenti non fit iniuria
b) Reziprozität: Culpacompensation
3. Der Zentralparagraph der Erklärungshaftung: § 676 BGB a. F
2. Kapitel: 100 Jahre BGB: Auf der Suche nach Entdeckungen
§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB
I. Dogmengeschichte und Motive-Exegese
II. „Objectivere“ (Auf-)Lösungen: Die Lehre vom Rechtsgeschäft
1. Unzuverlässigkeit der Erklärung I: Erklärungsmängel
a) Einfältig: Ein altes Problem und drei einfache Lösungen
b) Dreifältig: Das rechtsgeschäftliche Haftungsdreieck
c) Vielfältig: Die dogmatische Einordnung des § 122 BGB
2. Unzuverlässigkeit der Erklärung II: Stellvertretung
3. Unzuverlässigkeit im Willen
III. Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse?
1. Die Rechtsfolge als Anspruchsbegründung?
2. Export – Import: „reliance interest“ und „efficient breach“
3. Eher negativ: Das „negative Interesse“
a) Der theoretische Wert der Differenzierung
b) Der praktische Wert der Differenzierung
c) Eine praktisch und theoretisch vergessene Lehre
§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c
I. Rechtstheoretische Krise II: Ratio scripta oder Freirecht?
1. Jherings Erben: Methodologische Radikalisierung
2. Wider die ratio scripta: Voluntarismus, Finalismus und Rechtsgefühl
3. Wissenschaftliche Identitätskrise: Das Lückendogma
II. Dogmatischer Aufbruch: culpa in solvendo oder in contrahendo?
1. Die erste „große Lücke“: positive Vertragsverletzungen
a) Die ‚Wiederentdeckung‘ der kontraktlichen culpa
b) Begrifflicher Wandel: Von der culpa zur Pflichtverletzung
c) Wirklich neu: Verschmelzung von culpa und bona fides
2. Die Wiederbelebung der c. i. c. aus dem Geist der p. V
a) Etwas ganz Neues: „Verschulden beim Vertragsschlusse“
b) Die ‚Entdeckung‘ vorvertraglicher Pflichtverletzungen
c) Der Grund ist gelegt: Lückenfüllung durch Aufklärungspflichten
3. Der kleine Unterschied: Haftung mit oder ohne Vertrag?
a) Telegraphobie: Theodor Fontane und die Weinsteinsäure-Entscheidung
b) Billigkeit und Logik: Das Ende der Bescheidenheit
III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis
1. Die Neukonstruktion einer c. i. c. aus dem Schein der Analogie
a) Methodologischer Freiflug: Die These von einer Gesamtanalogie
b) Methodologische Skepsis: Analogie ohne Basis
2. Von vorvertraglichen Pflichten zum vorvertraglichen Schuldverhältnis
a) Unbilliges Deliktsrecht: Linoleumrollen- und andere (Un-)Fälle
b) Andreas v. Thur: Vom Versprechensdogma zum Rechtsverhältnis
c) Heinrich Stoll: Abstraktion und das Schuldverhältnis als „Organismus“
3. Probleme: Ein Schuldverhältnis aus Logik?
a) Begriffe und Anschauung: Das Wesen der Rechtsverhältnisse
b) Abstraktion: Oder der „Cultus des Logischen“
c) Logische Consequenzen: dogmatische Probleme
d) Flucht: Die culpa in contrahendo als Gewohnheitsrecht
§ 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c
I. Noch zwei ‚Entdeckungen‘: Schutzpflichten und Schutzpflichtverhältnis
1. Expansion: Die c. i. c. verschlingt die p. V
2. Anvertrauen: Delikt oder Schutzpflichtverletzung?
3. Totale c. i. c.: Treu und Glauben und die herrschende Moral
a) Der Konsens der „Anständigen“ oder: Das Geheimnis freier Rechtsfindung
b) Flexibilität und Willkür: Licht und Schatten der Generalklausel
c) Sozialethik und Recht: Der totale Staat
II. Noch eine ‚Entdeckung‘: Vertrauenshaftung
1. Zarte Anfänge: Das Vertrauensverhältnis
a) RGZ 27, 118 – ein Initialjudiz: Gründerkrise, dolus praesumtus und bona fides
b) Vom vertraglichen zum vorvertraglichen Vertrauensverhältnis
2. Von der culpa in contrahendo zur fides in tangendo
a) Neue Sozialethik und neue Begriffe: Treue und Vertrauenshaftung
b) Ideologie und Consequenz: Gemeinschaft, Treue und gegenseitige Rücksichtnahme
c) Dogmatik und Consequenz: Vertrauen und Haftung bei „sozialem Kontakt“
3. Konsequenter Systembruch: Die c. i. c. als „dritte Haftungsspur“
§ 7 Restauration (1945–2000): Konsolidierung in Kontinuität
I. Der Weg zur „modernen“ Vertrauenshaftung
1. Die bleibende Faszination in das „Vertrauen“ als Haftungsgrund
a) Ubiquität: Die empirisch-phänomenologische Seite des Vertrauens
b) Materialisierungsthese: Die Normativität des Vertrauens
c) Sozial(istisch)e Kontinuität: Vom Gemeinschaftserlebnis zur „Materialisierung“
2. Wissenschaftliche Askese: Epoche des dogmatischen Positivismus
a) Rehabilitierung des „Vertrauens“ als dogmatische Kategorie
b) Vertrauen und Enttäuschung: Fruchtbare Rechtsfortbildung
c) Hysteron Proteron: Die Logik der Konstruktion
3. Dogmatischer Höhepunkt: Vertrauenshaftung mit System
a) Rechtsscheinhaftung: culpa in contrahendo + positives Interesse
b) Schrumpfungsmethodologie: Positive Vertrauenshaftung vs. Rechtsgeschäft
c) Vertrauensmethodologie: Eine „Wiesel-Theorie“
II. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel
1. Renaissance des Deliktsrechts
a) Risikogesellschaft und Verkehrspflichten
b) Die „deliktsrechtliche Theorie“ formiert sich
2. High noon: Schutzpflichten oder Verkehrspflichten?
a) Die culpa in contrahendo in der Krise: Wider den „vagabundierenden Irrwisch“!
b) Der Gegenschlag: Wider die deliktische Generalklausel
c) Bumerang-Effekt: Wer im Glashaus sitzt …
3. Unreflektierte Dogmen: Sonderverbindung als Haftungsbeschränkung?
a) Pseudo-naturrechtliche Hypothesen: Die Rückkehr des neminem laedere
b) Pseudo-psychologische Sonderverbindung: Der „hypothetische Kontakt“
III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur
1. Ohne Begründung: Misstrauen in das „Vertrauen“
a) Endlich: Eine Grundschrift zur negativen Vertrauenshaftung?
b) Antithetik: Selbstbindung ohne Vertrag?
c) Anti-ethik: Gemeinschaft oder Freiheit?
2. Dogmatischer Liberalismus: Rückkehr der „Freiheit“?
a) Freiheit: oder die Unmöglichkeit fehlerfreier Selbstbestimmung
b) Freiheit: Metamorphosen eines Begriffs
c) Freiheit, Gleichheit, Paternalismus: Die letzten Prinzipien der Rechtsdogmatik
3. Der Weisheit letzter Schluss: Rückkehr der culpa!
a) Rechtsethik: „Redlichkeit“ und „Verkehrsschutz“
b) Mikroökonomische Makrojurisprudenz: Reduzierung von Transaktionskosten?
c) Zurück zur Dogmatik: Das „Vorsatzdogma“!
3. Kapitel: Abschied vom BGB: Ende oder Kontinuität der Geschichte?
§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo
I. Endlich: Ein gesetzlich geregeltes „gesetzliches Schuldverhältnis“
1. Dogmatisches Finale: Die Vertrauenshaftung im BGB
2. Schutzpflichten: Ein „weites Feld“!
a) „Rücksichtnahme“ als Schutzpflicht?
b) Der Schutz von Rechten, Rechtsgütern und Interessen!?
3. Im Gesetz nichts Neues: Nur ein „Merkzettel“?
a) Neue Gewaltenteilung: Die Selbstbindung des Gesetzgebers an die Judikatur
b) „Wolken in einen Sack fangen“: Abbildung nur der „geltenden Rechtslage“ – Welche?
II. Zerstörte Illusionen: Einer Reform Ende
1. Ach ja: Rechtsklarheit durch Reform?
2. Augen zu: … denn sie wissen nicht, was sie tun!
a) Abschied vom BGB I: Bruch des „inneren Systems“
b) Abschied vom BGB II: Die Rechtsprechung als Maß aller Dinge
c) Abschied vom BGB III: Vom Beruf unserer Zeit …
3. Augen auf: Die dogmatischen „Verwerfungen“
a) „Systemwechsel“ und die Arbeit an Symptomen
b) Im BGB nichts Neues? – Die Perpetuierung der Konkurrenzprobleme
c) Hybride Neuschöpfungen: Das Beispiel der „anfänglichen Unmöglichkeit“
III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände?
1. „Wovon man nicht reden kann …“ – oder will?
2. „Vielfalt des Lebens“? – Drei Beispiele neuerer Rechtsprechung
a) Fall 1: Nudum pactum ex quo non oritur actio?
b) Fall 2: Kalkulationsirrtum oder Vertragsbruch?
c) Fall 3: In dubio pro c. i. c. – Schmiergeld und Vertretungsrecht
3. Vorvertragliche Aufklärungspflichten – Doch etwas Neues?
a) Dogmatische und metadogmatische Mythen
b) Informationsprobleme – Alter Wein in neuen Schläuchen
c) Aufklärungsprobleme – Die Dogmatik des Erwartungsschutzes
§ 9 Reform ohne Inhalt: Einzelfallgerechtigkeit
I. Zwischen den Zeiten: Erben des Freirechts
1. Evolution des Rechts: Vom BGB zum Ordal
2. Wissenschaftliche Hochschätzung: Das Gerücht von der Lücke
a) Nur einmal angenommen … – Ein Gedankenexperiment
b) Scherz und Ernst mit der Kodifikation
c) Die Flexibilität juristischer Unübersichtlichkeit
3. Wissenschaftliche Geringschätzung: Publizität und Transparenz?
a) Noch einmal: Der dolus im Rechtsverkehr
b) Der Zusammenhang von Inhalt und Form
c) Ein tieferer Zusammenhang: Intransparenz und Einzelfallgerechtigkeit
II. Vertrauen ohne Haftung: Die Orakel des Rechts
1. Rechtsfrieden: Prozessrecht und materielles Recht
2. Zurück zur Fallsammlung: Vom Civil zum Case Law
3. Richter-Qualifikation: Ausbildung zur „Einzelfallgerechtigkeit“?
Literaturverzeichnis
Sachwortverzeichnis
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 9783161517440, 9783161520952, 316151744X

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JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 226

Jörg Benedict

Culpa in Contrahendo Transformationen des Zivilrechts Band 1 Historisch-kritischer Teil: Entdeckungen – oder zur Geschichte der Vertrauenshaftung

Mohr Siebeck

Jörg Benedict ist Inhaber des Lehrstuhls für ‚Deutsches und Europäisches Privatrecht, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie‘ an der Universität Rostock.

ISBN 978-3-16-151744-0 / eISBN 978-3-16-152095-2 DOI 10.1628/978-3-16-152095-2 ISSN 0940-9610 / eISSN 2568-8472 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Garamond gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Dem Andenken

Rudolf von Jherings 1818–2018

„Verzeiht, es ist ein groß’ Ergetzen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen. Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht, und wie wir es dann zuletzt so herrlich weit gebracht …“ Goethe, Faust I, 1808

„Wenn ein wissenschaftliches Gebiet, so wie das unsrige, durch die ununterbrochene Anstrengung vieler Zeitalter angebaut worden ist, so wird uns, die wir der Gegenwart angehören, der Genuß einer reichen Erbschaft dargeboten. Es ist nicht blos die Masse der gewonnenen Wahrheit, die uns zufällt; auch jede versuchte Richtung der geistigen Kräfte, alle Bestrebungen der Vorzeit, mögen sie fruchtbar oder verfehlt seyn, kommen uns zu gut als Muster oder Warnung, und so steht es in gewissem Sinn bey uns, mit der vereinigten Kraft vergangener Jahrhunderte zu arbeiten. Wollten wir nun diesen natürlichen Vortheil unsrer Lage aus Trägheit oder Eigendünkel versäumen, wollten wir es auch nur, in oberflächlichem Verfahren, dem Zufall überlassen, wie Viel aus jener reichen Erbschaft bildend auf uns einwirken soll, dann würden wir die unschätzbarsten Güter entbehren, die von dem Wesen wahrer Wissenschaft unzertrennlich sind: die Gemeinschaftlichkeit wissenschaftlicher Überzeugungen, und daneben den steten, lebendigen Fortschritt.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1840

„Auch in den am besten bewährten unter unseren Theorien können Fehler verborgen sein; und es ist die spezifische Aufgabe des Wissenschaftlers, nach solchen Fehlern zu suchen. Die Feststellung, daß eine gut bewährte Theorie oder ein viel verwendetes praktisches Verfahren fehlerhaft ist, kann eine wichtige Entdeckung sein.“ Karl R. Popper, 1981

Vorwort „Und doch, es hilft nichts, wenn es besser werden soll, müssen wir der Schreiberei zu Leibe. Ganz ausrotten wird sich das Übel freilich nicht lassen, aber es muß wenigstens dafür gesorgt werden, daß es in vernünftige Grenzen eingeschlossen werde. (…) Verbietet die Polizei, unreifes Obst, saures Bier zu verkaufen, warum nicht auch unreife Bücher?“ Rudolf v. Jhering, 18661

Wenn es stimmt, dass es für alles das rechte Maß gibt, dann ist es zweifellos wahr, dass dieses Maß im Bereich der literarischen Produktion wissenschaftlicher Bücher seit langem nicht mehr das rechte ist. Der für alle Exzellenz maßgebende Leitsatz „Quantität vor Qualität“ provoziert eine Kultur des „publish or perish“ und Krankheitsbilder wie die „Hypergraphie“ oder die „Graphorröe“. Erstaunlicherweise hat bereits Rudolf v. Jhering diesen Zustand für die juristische Publikationspraxis schon im 19. Jahrhundert klar analysiert und als Übelstand deutlich benannt. Seither ist es sachlich nicht besser geworden, obwohl Jhering eine sehr originelle Idee zur Behebung des Problems in Vorschlag gebracht hatte: das jus librorum. Der Grundgedanke dieses wenig beachteten ‚Publikationsrechtes‘ ist sehr einfach. Da die Hauptmotivation, dicke Bücher zu schreiben, in der „traditionellen Einrichtung unserer deutschen Universitäten“, nämlich darin bestehe, dass dieselbe ihre Pforten nur demjenigen öffnet, „der eine ‚literarische Leistung‘ aufzuweisen hat, d. h. von ihm Geschriebenes hat setzen und drucken lassen“, wollte Jhering das Übel bei der Wurzel, nämlich beim Schreibzwang schon der Privatdozenten packen. Die Erteilung des jus librorum sollte nur erfolgen gegen die Verpflichtung, ein Buch nicht vor Ablauf einer 9-jährigen Verwahrungszeit herauszugeben: „Nach Ablauf der 9 Jahre und nach glücklich erlangter Professur würde der Verfasser schwerlich noch auf der Herausgabe bestehen, mutmaßlich sogar Gott danken, daß eine weise väterliche Regierung ihn vor einer literarischen Übereilung bewahrt habe.“ Und Jhering ergänzt: „Welche Gestalt würde unsere Literatur erhalten, wenn diese Einrichtung der neunjährigen Deposition der Manuskripte zur ganz allgemeinen erhoben würde?“

1  6. Brief eines Unbekannten, in: Deutsche Gerichtszeitung Bd. 1 (n. F.), 1866, 309/312 ff., auch in: Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (13. Aufl. 1924), S. 97/105 ff.

X

Vorwort

Jherings Idee von einem jus librorum wurde natürlich nie realisiert. Und sie wird auch heute unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsfreiheit kaum Eingang in einen freiwilligen Corporate Science Codex finden. Das vorliegende Buch ist so vermutlich das Erste und Einzige, das den vorgeschlagenen 9-jährigen Reifungsprozess seit seiner ursprünglichen Fertigstellung als Habilitationsschrift durchgemacht hat. Ob dies ein Gewinn oder ein Verlust für die Rezeption der hierin vorgetragenen Gedanken beinhaltet, muss sich noch zeigen. Sicher ist, dass Jherings Vorschlag wenigstens eine positive Wirkung hätte: Es würde in Büchern nur über Gegenstände und in einer Art verhandelt, die Anspruch erheben, auch nach 9 Jahren noch relevant zu sein. Das vorliegende Buch zur culpa in contrahendo, das nunmehr als erster von zwei Bänden erscheint, hat eine etwas längere Entstehungsgeschichte. Der ursprüngliche Vorsatz, im Zuge der „Schuldrechtsmodernisierung“ 2001/2002 lediglich in einem kurzen Aufsatz die Unausgereiftheit und die systemsprengende Weite dieses Haftungsinstituts vor Augen zu führen, hat sich schnell als undurchführbar erwiesen. Die Fülle des Fallmaterials und der Literatur machten deutlich, dass eine seriöse Behandlung des Stoffes nicht leicht auf 20 Seiten möglich ist. Der von einer schlicht dogmatischen Fallgruppen-Betrachtung ausgehende Stoff wuchs mir so unter der Hand zu einer umfassenden historischen und rechtstheoretischen Untersuchung der Wissenschaftlichkeit dessen, was ganz allgemein seit dem 20. Jahrhundert unter dem Begriff „Zivilrechtsdogmatik“ als Zivilrechtswissenschaft aufgetreten ist. Das Thema wurde notwendig zu einem umfassenderen Buch-Projekt. Als ich am 15. September 2005 auf der Tagung der Gesellschaft junger Zivilrechtswissenschaftler in Bremen einen kleinen Ausschnitt, namentlich meine Überlegungen zum Phänomen von „Aufklärungspflichten“, vorgetragen hatte und mich Jan Thiessen in der anschließenden Diskussion fragte, was, wenn ich denn mit ihr fertig sei, von der c. i. c. übrig bleibe, gab es auf die kurze Antwort: „Nichts!“ spontanen Applaus. Ich bin heute weniger naiv, anzunehmen, ein Buch (sei es auch ein zweibändiges) könnte eine ganze Wissenschaftskultur an ihrer Wurzel reformieren. Aber in der Tat: wenn ich für die Rechtswirklichkeit entscheiden könnte, welche der beiden juristischen Ideen Jherings Realisierung finden sollte, die culpa in contrahendo oder das jus librorum, ich würde keinen Moment zögern, dem letzteren unbedingt den Vorzug zu geben. Die 200ste Wiederkehr seines Geburtstages gibt passende Gelegenheit den wohl kreativsten, widersprüchlichsten und doch zweifellos fantastischsten deutschen Rechtsgelehrten durch eine umfangreiche Kritik einer sowohl von ihm inspirierten, als auch bekämpften Rechts‑ und Wissenschaftsentwicklung zu ehren. Vielen, die den Entstehungs‑ und/oder Reifungsprozess dieses Buches begleitet haben, ist an dieser Stelle zu danken: Zuallererst meinem akademischen Lehrer Reinhard Singer, der mir die geistige Freiheit ließ, die eine vollständige Sozialisation in die Rationalität moderner juristischer Standards verhindert hat.

Vorwort

XI

Christoph Paulus danke ich sehr für seine warnende Kritik meiner Kritik, die ganz maßgeblich die Entscheidung für eine 9-jährige Deposition und Überarbeitung mitbewirkt hat. Mattias Kumm danke ich für die kontinuierliche gemeinsame Pflege der Warnemüntik, die wesentlich dazu beitrug, dass mir die Zeit auch ohne c. i. c. nie lang wurde. Andere haben in dieser Zeit das Manuskript oder wenigstens Teile desselben gelesen und wertvolle Hinweise für den Prozess der Reifung gegeben; unter ihnen gilt mein Dank insbesondere meinen Berliner und Rostocker Kollegen Alexander Schreiber, Jan Thiessen, Klaus Richter, Benjamin Lahusen, Bertram Lomfeld und Christian Kalbitz. Für wichtige Hilfe bei der Endredaktion danke ich Sven dos Santos Lopes, Christoph Fritze, Malte Pretzel und vor allem Diana Regehr und Hiltrud Bahlo. Herzlich zu danken habe ich dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Herrn Gillig und Frau Hohloch, für die Geduld, das jus librorum bei diesem seit langem angekündigten Buch mitzutragen und so gleichsam eine Jubiläumsausgabe pünktlich zu Jherings 200. Geburtstag in diesem Jahr zu ermöglichen, aber speziell auch Frau Ilse König für die aufgrund der ungewöhnlichen Anzahl von Eingangszitaten nicht eben leichte Gestaltung des Textes. Die Österreichische Nationalbibliothek hat die Verwendung einer Photographie Jherings vom 17. Juli 1872 genehmigt und so dem Geist dieses Buches ein freundliches Gesicht gegeben. Ein besonderer Dank gilt schließlich Nicole, Johannes, Julius und Magnus, ohne deren Geduld, Liebe und mahnende Wertschätzung dieses Buch ein anderes wäre. Warnemünde, im Mai 2018Jörg Benedict

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Kapitel

Rechtsgefühl und Dogmatik: Auf der Suche nach Wissenschaft § 1  Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 § 2  Anno 1867: Jherings Revocation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 § 3  Zeitlos: Die culpa als causa obligationis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Kapitel

100 Jahre BGB: Auf der Suche nach Entdeckungen § 4  Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB . . . . . . . . 225 § 5  Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c. . . . . . . . . . . . . . . 283 § 6  Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 § 7  Restauration (1945–2000): Konsolidierung in Kontinuität . . . . . . . . . . . 454 3. Kapitel

Abschied vom BGB: Ende oder Kontinuität der Geschichte? § 8  Reform ohne Form: Culpa in tangendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 § 9  Reform ohne Inhalt: Einzelfallgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1. Kapitel

Rechtsgefühl und Dogmatik: Auf der Suche nach Wissenschaft § 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Ausgangspunkt: Die Dogmatik des sog. „Willensdogmas“ . . . . . . . . . . . . . 17 II. Rechtstheoretische Krise I: Ratio scripta oder Rechtsgefühl? . . . . . . . . . . . . 21 1. Das Jahr 1861: Scherz und Ernst und Billigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 a) Die Grenzen des rechtspositivistischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 b) Savigny und Jhering: systematisierende Vernunft vs. pathetisches Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 c) Damaskus-Erlebnisse: oder was wirklich geschah … . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Rechtsgefühl und Prinzipienkultus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 a) Theorie und Praxis: Das Rechtsgefühl als Korrektiv juristischer Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 b) Krieg und Frieden: Der Kampf ums Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 c) Ursprung und Ziel: Der Zweck im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 d) Prinzipien und Gefühl: Die Abstraktion als Lehrmeisterin des Rechts 43 3. Noch ein „Damaskus“: Abschied von Rechtsgefühl und Prinzipienkultus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 III. Dogmatische Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Die „Entdeckung“ eines Rechtsprinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Prokrustes: Die culpa auf dem Streckbett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Abstraktion: Die Konstruktion der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) Scherz und Ernst: Die ersten Fallgruppen der c. i. c. . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Zwei nachhaltige Konstruktionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Grenzen der culpa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Nichtigkeit und Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

XVI

Inhaltsverzeichnis

§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I. Das Schuldmoment im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Zwei Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Culpa als Haftungsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Culpa und objektives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Ein Nekrolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II. Rechtstheoretische Besinnung: „Objektivität des Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Jherings Beschreibung der Rechtsevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Injurien und Causalnexus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Die Arglist als juristische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Delikt und Vertrag I: dolus, bona fides und pacta sunt servanda . . . . . . . 96 a) Der ursprüngliche Kern des dolus malus: Versprechens-, Vertrauens-, Vertragsbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Problem und Grund für die Subsidiarität der actio doli . . . . . . . . . . . . 103 c) Vom dolus zum Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Delikt und Vertrag II: dolus, culpa und Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . 109 a) Beweisrechtlicher Aspekt: Die culpa als dolus preasumtus . . . . . . . . . . 109 b) Materiell-rechtlicher Aspekt: Die culpa als Pflichtverletzung . . . . . . . 114 III. Rechtsdogmatische Besinnung: Culpa als Haftungsbegrenzung . . . . . . . . . 121 1. Tatbestand: „Ohne Schuld kein Schadensersatz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Rechtsfolge: „Gleichgewicht zwischen Schuld und Schadensersatz“ . . . . 124 § 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 I. Culpa und Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Postklassisch: Ausdehnung der actio legis Aquiliae . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Die Larva legis Aquiliae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Der Einfluss des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 c) Der Einfluss des Vernunftrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Aufklärung und Unklarheit: Die Generalklausel in den Kodifikationen . 161 a) 1756: Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 b) 1794: Das preußische Allgemeine Landrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 c) Exkurs: Die culpa in contrahendo im ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 d) 1804: Der Code Civil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 e) 1811: Das österreichische ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Neoklassisch: Iniuria und subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Vom Beruf jener Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft . . . . . . . . . 188 b) Der Weg zum BGB: Schaden und Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 194 c) Die Lösung des BGB: „Wohlgeordnete Rechtswidrigkeit“ . . . . . . . . . 199 III. Widerrechtlichkeit fahrlässiger Erklärungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Vorsatzdogma I: Actio doli und Erklärungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Undenkbar: Fahrlässige Illoyalität – Was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 b) Verkehrsschutz: Erklärungsfahrlässigkeit – Wohin führt das? . . . . . . . 208

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XVII

2. Vorsatzdogma II: Verschuldens-Patt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Freiheit und Kausalität: Volenti non fit iniuria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 b) Reziprozität: Culpacompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Der Zentralparagraph der Erklärungshaftung: § 676 BGB a. F. . . . . . . . . 219

2. Kapitel

100 Jahre BGB: Auf der Suche nach Entdeckungen § 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB . . . . . . . . . . . 225 I. Dogmengeschichte und Motive-Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. „Objectivere“ (Auf‑)Lösungen: Die Lehre vom Rechtsgeschäft . . . . . . . . . 231 1. Unzuverlässigkeit der Erklärung I: Erklärungsmängel . . . . . . . . . . . . . . . 235 a) Einfältig: Ein altes Problem und drei einfache Lösungen . . . . . . . . . . . 235 b) Dreifältig: Das rechtsgeschäftliche Haftungsdreieck . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Vielfältig: Die dogmatische Einordnung des § 122 BGB . . . . . . . . . . . 242 2. Unzuverlässigkeit der Erklärung II: Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Unzuverlässigkeit im Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 III. Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 1. Die Rechtsfolge als Anspruchsbegründung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Export – Import: „reliance interest“ und „efficient breach“ . . . . . . . . . . . 262 3. Eher negativ: Das „negative Interesse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 a) Der theoretische Wert der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 b) Der praktische Wert der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Eine praktisch und theoretisch vergessene Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 § 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c. . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 I. Rechtstheoretische Krise II: Ratio scripta oder Freirecht? . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Jherings Erben: Methodologische Radikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Wider die ratio scripta: Voluntarismus, Finalismus und Rechtsgefühl . . . 290 3. Wissenschaftliche Identitätskrise: Das Lückendogma . . . . . . . . . . . . . . . . 298 II. Dogmatischer Aufbruch: culpa in solvendo oder in contrahendo? . . . . . . . . 303 1. Die erste „große Lücke“: positive Vertragsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Die ‚Wiederentdeckung‘ der kontraktlichen culpa . . . . . . . . . . . . . . . . 305 b) Begrifflicher Wandel: Von der culpa zur Pflichtverletzung . . . . . . . . . . 307 c) Wirklich neu: Verschmelzung von culpa und bona fides . . . . . . . . . . . . 309 2. Die Wiederbelebung der c. i. c. aus dem Geist der p. V. . . . . . . . . . . . . . . . 311 a) Etwas ganz Neues: „Verschulden beim Vertragsschlusse“ . . . . . . . . . . 314 b) Die ‚Entdeckung‘ vorvertraglicher Pflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . 316 c) Der Grund ist gelegt: Lückenfüllung durch Aufklärungspflichten . . . 318

XVIII

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3. Der kleine Unterschied: Haftung mit oder ohne Vertrag? . . . . . . . . . . . . 326 a) Telegraphobie: Theodor Fontane und die Weinsteinsäure-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 b) Billigkeit und Logik: Das Ende der Bescheidenheit . . . . . . . . . . . . . . . 331 III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis . . . . . . . 338 1. Die Neukonstruktion einer c. i. c. aus dem Schein der Analogie . . . . . . . . 341 a) Methodologischer Freiflug: Die These von einer Gesamtanalogie . . . 341 b) Methodologische Skepsis: Analogie ohne Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Von vorvertraglichen Pflichten zum vorvertraglichen Schuldverhältnis . 348 a) Unbilliges Deliktsrecht: Linoleumrollen‑ und andere (Un‑)Fälle . . . . 349 b) Andreas v. Thur: Vom Versprechensdogma zum Rechtsverhältnis . . . 354 c) Heinrich Stoll: Abstraktion und das Schuldverhältnis als „Organismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 3. Probleme: Ein Schuldverhältnis aus Logik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 a) Begriffe und Anschauung: Das Wesen der Rechtsverhältnisse . . . . . . . 364 b) Abstraktion: Oder der „Cultus des Logischen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 c) Logische Consequenzen: dogmatische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 d) Flucht: Die culpa in contrahendo als Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . 384 § 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 I. Noch zwei ‚Entdeckungen‘: Schutzpflichten und Schutzpflichtverhältnis . 394 1. Expansion: Die c. i. c. verschlingt die p. V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 2. Anvertrauen: Delikt oder Schutzpflichtverletzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 3. Totale c. i. c.: Treu und Glauben und die herrschende Moral . . . . . . . . . . . 404 a) Der Konsens der „Anständigen“ oder: Das Geheimnis freier Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 b) Flexibilität und Willkür: Licht und Schatten der Generalklausel . . . . . 411 c) Sozialethik und Recht: Der totale Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 II. Noch eine ‚Entdeckung‘: Vertrauenshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Zarte Anfänge: Das Vertrauensverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 a) RGZ 27, 118 – ein Initialjudiz: Gründerkrise, dolus praesumtus und bona fides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 b) Vom vertraglichen zum vorvertraglichen Vertrauensverhältnis . . . . . . 431 2. Von der culpa in contrahendo zur fides in tangendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 a) Neue Sozialethik und neue Begriffe: Treue und Vertrauenshaftung . . 436 b) Ideologie und Consequenz: Gemeinschaft, Treue und gegenseitige Rücksichtnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 c) Dogmatik und Consequenz: Vertrauen und Haftung bei „sozialem Kontakt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 3. Konsequenter Systembruch: Die c. i. c. als „dritte Haftungsspur“ . . . . . . 450

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§ 7 Restauration (1945–2000): Konsolidierung in Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . 454 I. Der Weg zur „modernen“ Vertrauenshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 1. Die bleibende Faszination in das „Vertrauen“ als Haftungsgrund . . . . . . 457 a) Ubiquität: Die empirisch-phänomenologische Seite des Vertrauens . . 457 b) Materialisierungsthese: Die Normativität des Vertrauens . . . . . . . . . . . 460 c) Sozial(istisch)e Kontinuität: Vom Gemeinschaftserlebnis zur „Materialisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 2. Wissenschaftliche Askese: Epoche des dogmatischen Positivismus . . . . . 474 a) Rehabilitierung des „Vertrauens“ als dogmatische Kategorie . . . . . . . . 480 b) Vertrauen und Enttäuschung: Fruchtbare Rechtsfortbildung . . . . . . . 485 c) Hysteron Proteron: Die Logik der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 3. Dogmatischer Höhepunkt: Vertrauenshaftung mit System . . . . . . . . . . . 493 a) Rechtsscheinhaftung: culpa in contrahendo + positives Interesse . . . . 495 b) Schrumpfungsmethodologie: Positive Vertrauenshaftung vs. Rechtsgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 c) Vertrauensmethodologie: Eine „Wiesel-Theorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 II. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 1. Renaissance des Deliktsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 a) Risikogesellschaft und Verkehrspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 b) Die „deliktsrechtliche Theorie“ formiert sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 2. High noon: Schutzpflichten oder Verkehrspflichten? . . . . . . . . . . . . . . . . 515 a) Die culpa in contrahendo in der Krise: Wider den „vagabundierenden Irrwisch“! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 b) Der Gegenschlag: Wider die deliktische Generalklausel . . . . . . . . . . . . 523 c) Bumerang-Effekt: Wer im Glashaus sitzt … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 3. Unreflektierte Dogmen: Sonderverbindung als Haftungsbeschränkung? 532 a) Pseudo-naturrechtliche Hypothesen: Die Rückkehr des neminem laedere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 b) Pseudo-psychologische Sonderverbindung: Der „hypothetische Kontakt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 1. Ohne Begründung: Misstrauen in das „Vertrauen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 a) Endlich: Eine Grundschrift zur negativen Vertrauenshaftung? . . . . . . 547 b) Antithetik: Selbstbindung ohne Vertrag? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 c) Anti-ethik: Gemeinschaft oder Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 2. Dogmatischer Liberalismus: Rückkehr der „Freiheit“? . . . . . . . . . . . . . . 556 a) Freiheit: oder die Unmöglichkeit fehlerfreier Selbstbestimmung . . . . . 558 b) Freiheit: Metamorphosen eines Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 c) Freiheit, Gleichheit, Paternalismus: Die letzten Prinzipien der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

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3. Der Weisheit letzter Schluss: Rückkehr der culpa! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 a) Rechtsethik: „Redlichkeit“ und „Verkehrsschutz“ . . . . . . . . . . . . . . . . 573 b) Mikroökonomische Makrojurisprudenz: Reduzierung von Transaktionskosten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 c) Zurück zur Dogmatik: Das „Vorsatzdogma“! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

3. Kapitel

Abschied vom BGB: Ende oder Kontinuität der Geschichte? § 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 I. Endlich: Ein gesetzlich geregeltes „gesetzliches Schuldverhältnis“ . . . . . . . 600 1. Dogmatisches Finale: Die Vertrauenshaftung im BGB . . . . . . . . . . . . . . . 601 2. Schutzpflichten: Ein „weites Feld“! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 a) „Rücksichtnahme“ als Schutzpflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 b) Der Schutz von Rechten, Rechtsgütern und Interessen!? . . . . . . . . . . . 610 3. Im Gesetz nichts Neues: Nur ein „Merkzettel“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 a) Neue Gewaltenteilung: Die Selbstbindung des Gesetzgebers an die Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 b) „Wolken in einen Sack fangen“: Abbildung nur der „geltenden Rechtslage“ – Welche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 II. Zerstörte Illusionen: Einer Reform Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 1. Ach ja: Rechtsklarheit durch Reform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 2. Augen zu: … denn sie wissen nicht, was sie tun! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 a) Abschied vom BGB I: Bruch des „inneren Systems“ . . . . . . . . . . . . . . 629 b) Abschied vom BGB II: Die Rechtsprechung als Maß aller Dinge . . . . 632 c) Abschied vom BGB III: Vom Beruf unserer Zeit … . . . . . . . . . . . . . . . 635 3. Augen auf: Die dogmatischen „Verwerfungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 a) „Systemwechsel“ und die Arbeit an Symptomen . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 b) Im BGB nichts Neues? – Die Perpetuierung der Konkurrenzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 c) Hybride Neuschöpfungen: Das Beispiel der „anfänglichen Unmöglichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände? . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 1. „Wovon man nicht reden kann …“ – oder will? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 2. „Vielfalt des Lebens“? – Drei Beispiele neuerer Rechtsprechung . . . . . . . 660 a) Fall 1: Nudum pactum ex quo non oritur actio? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 b) Fall 2: Kalkulationsirrtum oder Vertragsbruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 c) Fall 3: In dubio pro c. i. c. – Schmiergeld und Vertretungsrecht . . . . . . 668 3. Vorvertragliche Aufklärungspflichten – Doch etwas Neues? . . . . . . . . . . 672 a) Dogmatische und metadogmatische Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 b) Informationsprobleme – Alter Wein in neuen Schläuchen . . . . . . . . . . 684 c) Aufklärungsprobleme – Die Dogmatik des Erwartungsschutzes . . . . 690

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XXI

§ 9 Reform ohne Inhalt: Einzelfallgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 I. Zwischen den Zeiten: Erben des Freirechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 1. Evolution des Rechts: Vom BGB zum Ordal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 2. Wissenschaftliche Hochschätzung: Das Gerücht von der Lücke . . . . . . . 701 a) Nur einmal angenommen … – Ein Gedankenexperiment . . . . . . . . . . 703 b) Scherz und Ernst mit der Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 c) Die Flexibilität juristischer Unübersichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 3. Wissenschaftliche Geringschätzung: Publizität und Transparenz? . . . . . . 711 a) Noch einmal: Der dolus im Rechtsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 b) Der Zusammenhang von Inhalt und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 c) Ein tieferer Zusammenhang: Intransparenz und Einzelfallgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 II. Vertrauen ohne Haftung: Die Orakel des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 1. Rechtsfrieden: Prozessrecht und materielles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725 2. Zurück zur Fallsammlung: Vom Civil zum Case Law . . . . . . . . . . . . . . . 734 3. Richter-Qualifikation: Ausbildung zur „Einzelfallgerechtigkeit“? . . . . . 738

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807

Einleitung „Ich schließe diese Abhandlung mit der Hoffnung, daß mir trotz der Sorgfalt, die ich auf die Sammlung der hierher gehörigen Fälle verwandt habe, noch manche entgangen sein mögen, und richte an jeden, der in der Lage ist, mir einen Beitrag zu liefern, die Bitte, mir denselben zukommen zu lassen, damit ich ihn für eine etwaige spätere Revision dieser Lehre benutzen kann.“ Rudolf v. Jhering, 18611

Als Rudolf v. Jhering im Jahr 1861 seinen berühmten Aufsatz zur culpa in contrahendo in den von ihm gemeinsam mit Gerber herausgegebenen Jahrbüchern dem wissenschaftlichen Publikum übergab, war er sich der Neuigkeit, die er hierin mitzuteilen gedachte, war er sich der Neuheit der von ihm vorgestellten Lehre durchaus bewusst. Der Begriff „culpa in contrahendo“ kam im ganzen Corpus Iuris Civilis nicht vor. Erst Jhering prägte mit diesen drei Worten ein Haftungsinstitut, das in die Rechtsgeschichte eingegangen ist, ohne dass es deshalb auch bereits als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung ausschließlich der Geschichte übergeben wäre. Im Gegenteil: Jhering hatte am Ende seiner Abhandlung der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass ihm bei der „Sammlung“ der zu seiner Lehre gehörigen Fälle „noch manche entgangen sein mögen“. Heute gilt es als gesicherte Lehre, dass dem in der Tat so sei. Das Institut der culpa in contrahendo hat in den vergangenen 100 Jahren einen praktischen sowohl als auch literarischen Zuspruch erlangt,2 von dem Jhering beim Ausdruck seiner Hoffnung kaum den Hauch einer Ahnung gehabt haben konnte. So war er schon nicht ganz frei von Skrupeln, ob er nicht bei der von ihm gebildeten, aus heutiger Sicht geradezu bescheiden anmutenden Kasuistik „hie und da zu weit gegangen“ war.3 Auch hat er für sich in Anspruch genommen, „alle denkbaren Fälle … aufzuführen und zu entscheiden und lieber nach dieser Richtung hin zu viel, als zu

 Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/106. unüberschaubar sind Monografien und Aufsätze, unzählig die Judikate zur culpa in contrahendo. Medicus hat von einer „übermäßig wuchernden“ (JuS 1965, 209/214) bzw. „stürmischen Entwicklung“ (Entdeckungsgeschichte, 1986, S. 169) gesprochen; Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/419 von einem „epidemischen Vordringen“; Fleischer, Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 243/251 nennt die c. i. c. „eine höchst praktische Rechtsfigur“. 3  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/52. 1

2 Nahezu

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wenig zu thun“.4 Dass er gleichwohl nur den Keim für eine wichtige und richtige Entwicklung gelegt habe, gilt heute allgemein als gesicherte Erkenntnis. Die Proliferation der Fälle, in denen die culpa in contrahendo im weiteren Verlauf der Rechtsentwicklung allein in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, zunächst des Reichsgerichts und dann vor allem aber des Bundesgerichtshofs, als Haftungsbegründung herangezogen worden ist, übersteigt nahezu das Maß verständiger Rationalisierung. Nimmt man die Fälle hinzu, bei denen eine Haftung der abstrakten Lehre nach in Betracht gekommen wäre, die culpa in contrahendo gleichwohl abgelehnt oder gar nicht explizit erwähnt wurde oder zuweilen und zunehmend auch andere, gelegentlich noch abstraktere Begriffe zur Beschreibung desselben oder umfassenderen Haftungsphänomens verwendet werden (etwa: Haftung auf das negative Interesse; Haftung aus Verschulden bei Vertragsschluss, vorvertraglichem Verschulden, vorvertraglicher Pflicht-, insbesondere Treu-, Schutzpflicht-, Aufklärungs‑ oder Informationspflichtverletzung, Erklärungs-, Vertrauens-, Auskunfts‑ oder Informationshaftung, Sonderverbindung, sozialem oder geschäftsähnlichem Kontakt u. a. m.), dann erscheint das Fallmaterial gleichsam unbeherrschbar. Die Initialen c. i. c. stehen mittlerweile für einen eigenen modernen c.orpus i.uris c.ivilis; eine eigene umfangreiche Sammlung an Kasuistik und theoretisierenden Fragmenten, die zu überblicken und systematisch zu durchdringen Wissenschaft und Praxis im Grunde seit langem aufgegeben haben. Man hat versucht, der Mannigfaltigkeit der Haftungsmöglichkeiten und der damit verbundenen zunehmenden Ausdehnung des Haftungsinstituts mittels Fallgruppenbildung Herr zu werden. Die Expansion der Haftung erscheint beherrschbar, wenn sich der unmittelbare Anwendungsbereich  – je nach Zuschnitt  – in drei oder fünf Fallgruppen benennen lässt. Freilich hatte bereits Jhering vier Fallgruppen für seine culpa in contrahendo ausgemacht. Und so täuscht die Bildung von Fallgruppen leicht über das tatsächliche Ausmaß des aktuellen Haftungsspektrums hinweg: Gehaftet wird nämlich bei nicht wirksam zustande gekommenen Verträgen, aber auch bei wirksam zustande gekommenen Verträgen, und gehaftet wird schließlich auch dann, wenn gar kein Vertrag beabsichtigt war. Man mag sich mit diesen drei Fallgruppen begnügen oder weiter differenzieren, jedenfalls erstreckt sich die Haftung, auch wenn sie scheinbar eingegrenzt zuweilen als vorvertragliche bezeichnet wird, auf den gesamten bekannten Bereich des klassischen Vertrags‑ und Schuldrechts. Im Grunde kann man heute nahezu jeden Fall aus diesem Bereich mittels culpa in contrahendo in der einen oder anderen Richtung entscheiden: Gehaftet wird, weil ein erwünschter Vertrag nicht oder ein unerwünschter Vertrag zustande gekommen ist; gehaftet wird, weil etwas erklärt oder weil etwas nicht erklärt wurde. Mit dem Haftungsinstitut lässt sich mittlerweile jede beliebige Rechtsfolge konstruieren, 4 Jhering,

Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/56.

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ob es um die Beseitigung eines Vertrages, die Konstruktion von Vertragsfolgen, Schadensersatzansprüche bei benannten Rechtsgutsverletzungen oder bei reinen Vermögensschäden geht. Die Potenz und Flexibilität der culpa in contrahendo, neben oder an Stelle alter und bekannter Rechtsinstitute Pflichten und Ansprüche zu begründen, erscheint unerschöpflich. Wenn es nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine rechtstheoretische bzw. rechtspraktische Analyse des Privatrechts gäbe, so hätte die culpa in contrahendo sicher gute Chancen, das ‚Ranking‘ der wirkmächtigsten „juristischen Entdeckungen“ zu gewinnen. Es gibt derzeit vielleicht kein anderes Rechtsinstitut, das so viele Referenzen aufzuweisen hat wie die culpa in contrahendo. Der Anwendungsbereich dieses Haftungsinstituts ist schon lange aus dem Kernbereich des deutschen Vertrags‑ und Schuldrechts herausgetreten: Er lässt sich auf nahezu alle speziellen Materien des Zivilrechts ausdehnen (etwa: das Familien-5 und Erbrecht6, das Arbeits-,7 Gesellschafts-,8 Versicherungs-,9 Wettbewerbs-,10 Bau-11 und Transportrecht12 etc.), und die c. i. c. hat einen gesicherten Platz seit langem auch im öffentlichen Recht13. Insbesondere die ganze Materie des Verbraucherschutzrechts (mit den zentralen Instrumenten: Widerrufsrechte  5  Grandpair, Haftung für culpa in contrahendo auf dem Gebiete der vormundschaftlichen Vertretung (1950); Ballerstedt, Haftung des Ehegatten als Stellvertreter für culpa in contrahendo?, FamRZ 1955, 200 ff.; Canaris, Das Verlöbnis als „gesetzliches“ Rechtsverhältnis, AcP 165 (1965), 1 ff.  6 Miserre, Die „culpa in testando“. Möglichkeiten und Grenzen einer Vertrauenshaftung im Erbrecht (2002).  7  Kaufmanns, Die Haftung für culpa in contrahendo im Arbeitsrecht (1966); Haiduk, Die culpa in contrahendo im Arbeitsverhältnis (1971); Kuenster, Die culpa in contrahendo in vortariflichen Rechtsbeziehungen (1994).  8  Hartig, Allgemeine und gesellschaftsrechtliche Verhandlungshaftung (1935); Mabillard, Gesellschaftsrechtliche Aspekte der Vertragsverhandlungen (2004); Elsing, Post-M&A-Streitigkeiten und culpa in contrahendo (2015).  9  Jaax, Culpa in contrahendo im Versicherungsrecht (1935); L. Schmidt, Entwicklungstendenzen im Privatversicherungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der culpa in contrahendo (1951); Sieg, Zur Haftung des Versicherers aus culpa in contrahendo, BB 1987, 352; Schlossareck, Ansprüche des Versicherungsnehmers aus culpa in contrahendo (1995). 10 Selke, Erstattung von Rechtsanwaltskosten bei unberechtigter Abmahnung aus culpa in contrahendo, WRP 1999, 286. 11  Hahn, Haftung aus „culpa in contrahendo“ bei der Vergabe im Baurecht, BauR 1978, 426; Drittler, Schadensersatz aus culpa in contrahendo bei nachgewiesenem Verstoß gegen §§ 25 und 26 VOB A, BauR 1994, 451. 12  Konow, Das Verhältnis der Haftung wegen culpa in contrahendo zur eisenbahnfrachtrechtlichen Haftung dargestellt auf der Grundlage des Privatrechts der Bundesrepublik Deutschland (1983); Schmid / ​Kehl, Die Haftung des CMR-Frachtführers nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo, TranspR 1996, 89. 13  Battis, Culpa in contrahendo im Beamtenrecht, ZBR 1971, 300; Littbarski, Die Haftung aus culpa in contrahendo im öffentlichen Recht, JuS 1979, 537; Jäckle, Die Haftung der öffentlichen Verwaltung aus culpa in contrahendo im Licht der oberinstanzlichen Rechtsprechung, NJW 1990, 2520; Kellner, Die so genannte culpa in contrahendo im Beamtenrecht, DVBl 2004, 207–213; Adam, Öffentliche Vertragsvergabe und culpa in contrahendo (2005).

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des Verbrauchers und Informationspflichten des Unternehmers) ist im Grunde nichts anderes als eine mittlerweile weitgehend verselbständigte Fußnote zur culpa in contrahendo. Alles, was in Sachen Verbraucherschutz an Sekundärrecht aus Brüssel verbindlich zur Umsetzung ansteht – sei es etwa der Schutz vor Überrumpelung, die Neustrukturierung der Versicherungsvermittlung, des Fernabsatzes oder der Kreditgewährung – alles betrifft den Bereich der Vertragsanbahnung und mithin Grundfragen, die mit dem Stichwort culpa in contrahendo in näherem Bezug stehen.14 Damit auf das engste verbunden ist mittlerweile die „Supranationalität“ der vorvertraglichen Haftungskonzeption. Die internationale Beachtung dieses Rechtsinstitutes sucht ihresgleichen,15 und überhaupt scheint es so, als würde insbesondere auf transnationaler Ebene der vorvertragliche Bereich als Gegenstand des Vertragsrechts gerade erst als ‚Forschungsgegenstand‘ entdeckt:16 „Die eigentlichen Rechtsprobleme des Vertragsrechts betreffen heute“, so heißt es, „nicht mehr so sehr den Vertragsschluß, sondern die Periode vor dem eigentlichen Vertragsschluß und die Implementierungsphase.“17 14 Vgl. bereits die Einbeziehung des Verbraucherrechts bei Medicus, Gutachten (1981), S. 522 ff.; im Übrigen nur MünchKomm / ​Emmerich (2007) § 311 Rn. 58. 15  Bereits Dölle, Juristische Entdeckungen (1958), S. 1/9 hat unter Hinweis auf Nirk, Rechtsvergleichendes zur c. i. c., RabelsZ 18 (1953), 310 ff. darauf hingewiesen, „daß rechtsvergleichende Untersuchungen den vielfachen Einfluß der Iheringschen Gedanken auf die Gestaltung des ausländischen Rechts nachgewiesen haben“. Dieser Einfluss ist seither nicht geringer geworden. Eine willkürliche und nur exemplarische Auswahl: Kessler / ​Fine, Culpa in Contrahendo, 77 Harv. L.Rev. 401 (1964); Francesco Benatti, La responsabilità precontrattuale (1963); Karassis, Culpa in Contrahendo im Griechischen Recht (1978); Pilpel, Das Wesen der culpa in contrahendo. Eine vergleichende Untersuchung zum Deutschen, Englischen und Israelischen Recht (1976); Welser, Die culpa in contrahendo im österreichischen Recht, LJZ 1984, 101; Gonzenbach, Culpa in contrahendo im schweizerischen Vertragsrecht (1987); Gonzáles, La culpa in contrahendo (1989); Chaussade-Klein, Vorvertragliche „obligation de reseignements“ im französischen Recht (1992); De Villepin, Schadensersatzansprüche wegen gescheiterter Vertragsverhandlungen nach spanischem Recht (1999); Ying Chi, Verschulden bei Vertragsverhandlungen im chinesischen Recht (2005); Wojtas, Die Haftung für culpa in contrahendo in Polen und in Deutschland (2017); vgl. auch Frick, Culpa in Contrahendo: Eine rechtsvergleichende und kollisionsrechtliche Studie (1992) und Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 416 ff. jeweils m. w. N. 16 Hierzu etwa nur: Farnsworth, Negotiation of contracts and precontractual liability (1990); die Beiträge in: Hondius (Hrsg.), Precontractual Liability, Reports to the XIIIth Congress, International Academy of Comparative Law (1991); Kötz, Europäisches Vertragsrecht Bd. I (1996), S.  50 ff., 308 ff.; Schütz, UN-Kaufrecht und Culpa in contrahendo, 1995; Hager, Die culpa in contrahendo in den UNIDROIT-Prinzipien und den Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2000), S. 67 ff.; die Beiträge in: Schulze / ​Ebers / ​Grigoleit (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis communautaire (2003); Giliker, Precontractual liability in English and French law (2002); dies.: Regulating Contracting Behaviour, ERPL 5 (2005), 621; Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis communautaire (2003); Erp, The Pre-Contractual Stage (2004); Wilhelmsson / ​Twigg-Flesner, Pre-contractual information duties in the acquis communautaire, ERCL 2 (2006), 441; Cartwright, Precontractual liability in European Private Law (2008); Torsello, Precontractual liability and preliminary agreements (2014); Schulze, Europäisches Vertragsrecht (2015), insb. S. 147 ff. („Vorvertragliche Pflichten“). 17 Kirchner, Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 103/122.

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Kurz: Es herrscht die Ansicht, Jhering habe „mit der Prägung des Begriffs culpa in contrahendo der weiteren Rechtsentwicklung national und international den Weg gewiesen“.18 So groß nun aber die praktische Bedeutung der vorvertraglichen Haftung sich einerseits erweist, die rechtstheoretische Begründung derselben ist bis heute alles andere als geklärt. Es gehört freilich zu der üblichen Rhetorik am Beginn einer wissenschaftlichen Untersuchung, dem Gegenstand derselben eine große Dunkelheit zu bescheinigen, um jedenfalls den guten Vorsatz, endlich Licht ins Dunkle zu bringen, deutlich herauszustreichen. Für das hier vorliegende Thema ist es nun allerdings nicht notwendig, das Merkwürdige der Sache selbst vorzutragen. Es genügt ein Hinweis auf Äußerungen derer, die sich bereits zuvor dem Thema eingehend gewidmet haben, um anschließend zu konstatieren, dass es gleichwohl bis heute nicht wirklich heller um die Sache geworden ist. Die Quantität der rechtswissenschaftlichen Abhandlungen kann dabei mit der Quantität des Fallmaterials durchaus Schritt halten. Trotz einer „nicht mehr überschaubaren Zahl von Traktaten“ finde man ein „unerforschtes Terrain“ vor,19 das sich insbesondere durch seine „Undurchdachtheit“20 auszeichne. Die culpa in contrahendo sei „ein geradezu unerschöpflicher Gegenstand rechtsdogmatischen Bemühens“21 und gleichwohl immer noch eine „inhaltsleere Hülse“,22 ein „Vehikel“23 und „wandelnder Irrwisch“24 für „hypertrophierendes lückenfüllendes Richterrecht“25; ein „bequemes Allzweckinstrument“, das „in jedem Einzelfall ohne Bindung an die Wertungen des Gesetzes eine (beliebige) Billigkeitsentscheidung“ ermögliche.26 Der Kontrast zwischen Praxis und Theorie der vorvertraglichen Haftung könnte nicht größer sein: Man ist von ihrer praktischen Unentbehrlichkeit überzeugt, bezüglich der Begründung herrscht jedoch bis heute eine „wahre babylonische Verwirrung“27, die aufzulösen bereits früh mit dem Argument aufgegeben worden ist, die culpa in contrahendo sei doch eigentlich „gewohn18 Fleischer, Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 243/244; ebenso bereits Dölle, Juristische Entdeckungen (1958), 1/9: „Man sieht also: Ihering hat mit seiner Entdeckung der sog. culpa in contrahendo eine überaus weittragende Entwicklung eingeleitet und uns den Weg zu einer gerechten und vernünftigen Beurteilung zahlreicher sozialer Gegebenheiten gebahnt.“ 19  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/386. 20  Evans-v. Krbek, Überlegungen, AcP 179 (1979), 85/87. 21 Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001). 22  Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 197. 23  v. Bar, Gutachten II (1981), S. 1716 f. 24 Lieb, Grundfragen der Schuldrechtsreform, AcP 183 (1983), 327/333. 25  Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 234. 26   MünchKomm / ​Emmerich (1979), vor § 275 Rn. 86; ders., Recht der Leistungsstörungen (1978), § 2 IV., S. 13 und § 5 A III 2, S. 35; in diesem Sinne auch Gottwald, Haftung für culpa in contrahendo, JuS 1982, 876. 27  Negendanck, Zur Lehre von der Haftung für Verschulden beim Vertragsschluss (1928), S. 1.

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heitsrechtlich legitimiert“.28 So muss es denn auch nicht verwundern, wenn im Zuge der „Schuldrechtsmodernisierung“ und der Frage, ob und inwieweit die Haftungsvoraussetzungen der c. i. c. im BGB kodifiziert werden könnten, sogar der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein als Zeuge bemüht wurde, um festzustellen, dass man bis heute über dieses Institut eigentlich auch gar nicht sinnvoll reden könne: und wovon man nicht reden könne, davon müsse man schweigen.29 Diese rechtswissenschaftliche Sprachverweigerung ist vor allem deshalb sehr originell, weil sowohl die Literatur als vor allem auch die Rechtsprechung geradezu überströmen von Sprech‑ und Spruchakten zur vorvertraglichen Haftung und so gesehen offenbar von Dingen reden, die manchem die Sprache verschlägt. Und in der Tat, trotz einer schier unübersehbaren Literatur: der vorvertraglichen Haftung „fehlt der Tatbestand“.30 Daran hat auch die Normierung eines komplexen „Merkzettels“ (vgl. §§ 280, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, 3 BGB) nichts geändert: „Eine hübsche Spielerei – mit einer letztlich inhaltsleeren Generalklausel.“31 Die Auswirkungen mangelnder Theoriebildung zu vorvertraglichen Schutzpflichtverletzungen gehen über das deutsche Recht hinaus. Sie bereiten Kopfzerbrechen im Internationalen Privat‑ und Prozessrecht,32 pflanzen sich auf rechtsvergleichender und europäischer Ebene fort und lassen sich in dem jüngsten Versuch eines Kodifikations-Projekts, dem Entwurf eines „Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts“ (DCESL) sinnfällig betrachten: Der „Mangel an Tatbestand“ wird hier sichtbar in sprachlichen Unglücksfällen, Redundanzen und ungelösten Konkurrenzen. Bereits Art. 2 DCESL postuliert eine umfassende 28 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/386; resignierend MünchKomm / ​Emmerich (2007), § 311 Rn. 64: „Der Versuch, die disparaten Fälle der c. i. c. auf einen einzigen rechtlichen Grundgedanken, dh. auf einen einheitlichen Haftungsgrund zurückzuführen, muss … wohl aufgegeben werden.“ 29  Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörung (2001), S. 31/37: „Man fragt sich, ob der Gesetzgeber sich in diesem Punkt nicht besser die Maxime des Philosophen zu eigen machen sollte: ‚Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.‘“; in diesem Sinne hat auch Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 231/233 die Ansicht vertreten, dass sich die theoretischen Bemühungen um die Fassung der c. i. c. „jeglichen Normierungsversuchen entziehen“. 30 Bohrer, Dispositionsgarant (1980), Vorwort, S. XV. 31  Rieble, Die Kodifikation der culpa in contrahendo (2003), S. 137/138; ebenso Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007): „Der Kodifikation der §§ 311 Abs. 2 und Abs. 3 BGB fehlt … ein fassbarer Tatbestand.“ 32  Zu diesem Dauerproblem etwa nur: Bernstein, RabelsZ 41 (1977), 281; Degner, RIW 1983, 825; Busche, DRiZ 1989, 370; Küpper, DRiZ 1990, 445; G. Fischer, JZ 1991, 168; Nickl, Die Qualifikation der culpa in contrahendo im internationalen Privatrecht (1992); Schwartz, IPR der Haftung für Vermögensschäden infolge fahrlässig falsch erteilter Auskünfte (1998); SchmidtKessel, Zur culpa in contrahendo im Gemeinschaftsprivatrecht, ZEuP 12 (2004), 1019 ff.; Junker, Culpa in contrahendo im internationalen Privat‑ und Prozessrecht (2013), S. 1043 ff.; G. Fischer, Culpa in contrahendo im europäischen Internationalen Privatrecht (2009), S. 689 ff.; Benedict, Die culpa in contrahendo im IPR und IZPR (2013); Henk, Die Haftung für culpa in contrahendo im IPR und IZVR (2017).

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Haftung nach „Treu und Glauben“ und dem „redlichen Geschäftsverkehr“33; daneben ist den vorvertraglichen Informationspflichten ein eigenes umfangreiches 2. Kapitel mit nicht weniger als 16 Artikeln gewidmet. Die Regelungen des historisch gewachsenen klassischen Vertragsrechts, insbesondere zu Vertragsschluss und Einigungsmängeln, stehen völlig unabgestimmt neben den ‚modernen‘ vorvertraglichen Haftungsinstrumenten (Widerrufsrechte und Informationshaftung). Haftungstatbestände für das, was wir gemeinhin als c. i. c. ausmachen könnten, finden sich in mindestens vier Haftungsnormen (Art. 2; 2934; 5535; 106, Abs. 1 lit. e36), deren Konkurrenz zueinander offenbar weder gesehen wurde, noch dass sich endlich Hinweise auf einen seriösen Umgang mit diesem seit langem bekannten Problem finden ließen.37 Die Standpunkte, Sprechakte und Theorie-Ansätze, die vertreten werden, um diesen Bereich dogmatisch zu erfassen, sind so vielfältig wie die Namen, die dieser Haftung immer wieder neu gegeben worden sind. Manche haben sich bereits vor der Erwähnung der culpa in contrahendo im BGB mit der Erkenntnis zufriedengegeben, dass es sich bei der Haftung um eine vom Recht gewollte38 oder – auch ohne gesetzliche Erwähnung – um eine gesetzliche Haftung handele. Andere glauben die dogmatische Begründung in einer systematischen Neuord33 Abs. 1 formuliert die Pflicht: „Jede Partei hat die Pflicht, im Einklang mit dem Gebot von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs zu handeln.“ Und Abs. 2 formuliert die Rechtsfolgen bei einem Verstoß: „Verletzt eine Partei diese Pflicht, so kann sie das von der Ausübung oder Geltendmachung von Rechten, Abhilfen oder Einwänden, die ihr sonst zugestanden hätten, ausschließen, oder es kann sie für jeden Verlust, der der anderen Partei dadurch entsteht, haftbar machen.“ 34 „Abhilfen bei Verletzung von Informationspflichten: Eine Partei, die eine sich aus diesem Kapitel ergebende Pflicht nicht erfüllt, haftet für jeden Verlust, der der anderen Partei durch diese Pflichtverletzung entsteht.“ 35 „Eine Partei, die nach diesem Kapitel das Recht hat, einen Vertrag anzufechten, (…), hat unabhängig davon, ob der Vertrag angefochten wird, gegenüber der anderen Partei einen Anspruch auf Schadensersatz für Verluste infolge Irrtums, arglistiger Täuschung, Drohung oder unfairer Ausnutzung, sofern die andere Partei die maßgebenden Umstände kannte oder kennen musste.“ 36  Schadensersatz bei Pflichtverletzung des Verkäufers. 37 Deutlich kritisch Eidenmüller / ​Faust / ​Grigoleit / ​Jansen / ​Wagner / ​Zimmermann, Der Vorschlag, JZ 2012, 269/282: „Aber auch beim Schadensersatzanspruch nach Art. 29 (1) DCESL ist ganz unklar, wie dieser sich zu dem Anspruch aus culpa in contrahendo (Art. 2 (2) DCESL) und zum gewährleistungsrechtlichen Schadensersatz (Art. 106 (1) (e) DCESL) verhält. Denn während der gewährleistungsrechtliche Schadensersatz nach Art. 106 (4), 88 DCESL durch ein Verschuldenselement beschränkt ist (gleiches gilt wohl auch für den Anspruch nach Art. 2 (2) DCESL mit dem Erfordernis eines Verstoßes gegen good faith), fehlt eine solche Beschränkung in Art. 29. Das ist konzeptionell widersprüchlich, weil jeder Sachmangel einen Verstoß gegen die Informationspflicht über diesen Mangel (Art. 13 (1) (a) DCESL) bedeutet. Zudem müssten gewährleistungsrechtliche Ansprüche durch eine angemessene Verjährungsfrist begrenzt werden …, die ebenso durch einen allgemeinen Schadensersatzanspruch wegen Informationspflichtverletzung ausgehebelt würde.“; vgl. auch v. Bar, Außervertragliche Haftung, Europ. Rev. Priv. L. 18 (2010), 205. 38 Windscheid, Pandekten II, § 307, Fn. 5: „Das Recht ist es, welches will …“.

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nung des Schuldrechts, nämlich der Eröffnung einer „dritten Haftungsspur“ zwischen Vertrag und Delikt allein finden zu können, während wieder andere an eine Emanation des naturrechtlichen Grundsatzes neminem laedere oder eine „Selbstbindung ohne Vertrag“ glauben. Insbesondere die ernsthaften Fragen nach dem tieferen Gehalt der Haftung jenseits dogmatischer oder systematischer Lozierung bringen ein faszinierendes Spektrum wundersam abstrakter Eigenschaften der culpa in contrahendo hervor, die jeder tiefere Blick leicht als Leerformeln und / ​oder Antagonismen erkennen kann. Demnach diene die vorvertragliche Haftung dem Schutz von Treu und Glauben, der Förderung des Gemeinnutzes, der Sicherung der Gleichheit oder der Bewahrung der Freiheit; es gehe um den Schutz der (wahren / ​echten / ​wirklichen) Selbstbestimmung, ein Korrelat der Privatautonomie, den Schutz des Vertrauens, die Realisierung der Redlichkeit, der Sicherheit und / ​oder Leichtigkeit im Geschäftsverkehr; die Haftung diene der Effizienz, der Senkung von Transaktionskosten oder einer gerechten Entscheidung im Einzelfall, der Flexibilität, der ökonomischen Wohlfahrt und manch anderem Guten mehr. Insbesondere aber gehe es vor allem um eine Haftung für culpa, d. h. das „unleugbare Bedürfnis nach einem rechtlichen Schutz des fahrlässig irregeführten Vertragspartners“.39 Die Haftungsbegründung hält sich also bei allen abweichenden und neueren Formulierungen noch immer in dem von Jhering vor über 150 Jahren gezogenen Rahmen: „Der Schaden, der durch Verschulden bei geschäftlichen Verhandlungen entsteht, ist von dem Schuldigen zu tragen und nicht von dem Unschuldigen. Einzelheiten sind noch zweifelhaft und umstritten.“40 Diese suggestive und zugleich leere Aussage kennzeichnet im Grunde den wissenschaftlichen Kenntnisstand bis heute, auch wenn mittlerweile der Begriff der Pflichtverletzung den antiquierten Begriff der culpa verdrängt hat. Damit ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung beschrieben: Es geht darum, die Diskrepanz zwischen praktischer Bedeutung und rechtswissenschaftlicher Fundierung der culpa in contrahendo näher zu betrachten: Wie kann es sein, dass trotz umfassender literarischer Bemühungen nur eine unzureichende rechtstheoretische Klärung der Haftungsvoraussetzungen erreicht wurde, während die praktische Bedeutung der Haftung offenbar bis heute permanent zugenommen hat? Diese Frage bringt es mit sich, dass die vorliegende Untersuchung sich nicht lediglich einzelnen Aspekten der Haftung zuwendet oder sich auch nur allein auf eine vermeintlich dogmatische Betrachtung der culpa in contrahendo beschränken kann. Die Dogmatik eines Rechtsinstituts steht in Abhängigkeit des jeweiligen Rechts‑ und Gerechtigkeitsverständnisses der Zeit, und die Klarheit 39  Fleischer, Konkurrenzprobleme, AcP 200 (2000), 91/100; wortgleich ders., Informationsasymmetrie (2001), S. 434. 40 Heck, Grundriß des Schuldrechts (1929), § 41 (S. 124).

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oder Verworrenheit einer juristischen Konstruktion hängt ab von der jeweiligen Klarheit oder Verworrenheit der jeweils herrschenden Methodologie der Rechtsgewinnung. Gerade der methodologisch orientierten Rechtstheorie gilt nun freilich die hier interessierende Haftungskonstruktion seit langem schon als „Juristische Entdeckung“41; manchen gar schon als eine Folge juristischer Entdeckungen.42 Die culpa in contrahendo ist so mittlerweile bereits mit einer dogmengeschichtlichen Aura fest umwoben, gegen die jede nüchterne Analyse nicht mehr leicht ankommt. Dabei gilt doch im Gegenteil gerade für die plausibelste aller Wissenschaftstheorien die Falsifikation, d. h. die Feststellung, dass eine gut bewährt erscheinende Theorie fehlerhaft ist, als „wichtige Entdeckung“.43 Insoweit kann dem kritischen Blick des Rechtsdogmatikers schwerlich entgehen, dass es sich bei der culpa in contrahendo im Kern um eine zu spät gekommene Haftungskonstruktion handelt, die vor allem mit bereits vorhandenen Rechtsinstituten wetteifert und dieselben Sachprobleme auf andere Weise und / ​ oder anderem Ergebnis zu lösen sucht. Aber gegen den Mythos rechtswissenschaftlicher „Entdeckungen“ kommt das Argument des dogmatischen Details nicht leicht an. Dogmatische und methodologische Betrachtungen müssen daher bei einer kritischen Analyse des Haftungsinstituts Hand in Hand gehen. Was nämlich letztlich genau und von wem ‚entdeckt‘ wurde, bleibt bei dem methodologischen Lobpreis auf die culpa in contrahendo regelmäßig genauso zweifelhaft und unbegründet wie die vermeintliche Lücke, die es aus rechtsethischer Notwendigkeit44 zu schließen galt. Die erzählten Rezeptions-, Entdeckungs‑ oder Dogmengeschichten fördern hier ganz unterschiedliche Thesen zu Tage, und dass vielleicht mit einem überhöhten Glauben an eine bahnbrechende „Entdeckung“ auch wichtige Einsichten „verdeckt“ werden, ist bisher offenbar nicht einmal im Ansatz angedacht worden. Die doppelte Konnotation des Wortes „aufdecken“ begleitet das Wesen von Geschichtserzählungen im Allgemeinen und passt für die Deutung und Wertschätzung der culpa in contrahendo im Besonderen: Es wird nicht nur etwas aufgehellt, sondern auch etwas aufgetragen (zuweilen etwas zu dick). Von einem unvoreingenommen neugierigen Standpunkt aus ist die 41 Prägend

Dölle, Juristische Entdeckungen (1958). Methodenlehre (1995), S. 243: „Auch die Verbindung des Gedankens einer Haftung für culpa in contrahendo mit dem Vertrauensschutzprinzip und mit der Lehre von den Schutzpflichten war eine ‚juristische Entdeckung‘, mit der weit über die im Gesetz enthaltenen Ansatzpunkte hinaus die Möglichkeit zu einer Fortbildung des Rechts gewonnen wurde. Die Rechtsprechung ist hierin der Lehre gefolgt, womit zugleich die hohe Bedeutung der Dogmatik … für die Rechtsfortbildung deutlich wird.“ 43 Vgl. Popper, Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit (1983): das 4. der 12 Prinzipien einer „neuen Berufsethik“ für die Wissenschaft: „Auch in den am besten bewährten unter unseren Theorien können Fehler verborgen sein; und es ist die spezifische Aufgabe des Wissenschaftlers, nach solchen Fehlern zu suchen. Die Feststellung, daß eine gut bewährte Theorie oder ein viel verwendetes praktisches Verfahren fehlerhaft ist, kann eine wichtige Entdeckung sein.“ 44  Larenz, Methodenlehre (1991), S. 421 ff.: „Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip“; inhaltsgleich Larenz / ​Canaris, Methodenlehre (1995), S. 240 ff. 42 Larenz / ​Canaris,

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Vorstellung von einer „Entdeckung“ der culpa in contrahendo zunächst einmal nichts weniger als ein (bisher wenig plausibel begründeter) Glaubenssatz. Und es gilt die Vermutung, dass der Mangel an tieferer Begründung dieses Dogmas auch eine wenig begründete Dogmatik geradezu zwangsläufig nach sich zieht. Ohne Klärung der vermeintlich lückenfüllenden Prämissen kann dem Haftungsinstitut auch ein tatsächlich lückenfüllender Haftungstatbestand schwerlich vindiziert werden. Jeder näheren dogmatischen Bemühung muss daher zunächst eine Analyse des Haftungsdogmas, d. h. die tiefere Begründung für das vorausgesetzte Haftungsbedürfnis vorausgehen. Der Rahmen der nachfolgenden Untersuchung wird mithin gebildet durch die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Rechtsdogmatik und Rechtsmethodologie zu veranschaulichen. Der passende Weg hierzu ist die Dogmengeschichte, die damit zugleich auch eine Geschichte der Zivilrechtswissenschaft in ihrem Selbstverständnis und der von ihr verfolgten Aufgabe ist. Nur in dieser Form ist es möglich, den engen Zusammenhang von rechtstheoretischem Geist und rechtsdogmatischer Konstruktion genauer nachzuzeichnen. Die Methodologie nämlich kennzeichnet den wissenschaftlichen Charakter einer forschenden Tätigkeit, die Dogmatik hingegen ihr Ergebnis. Der Zusammenhang leuchtet im vorliegenden Kontext leicht ein, wenn man sich nur den Umgang mit der culpa in contrahendo im 19. Jahrhundert auf der einen Seite und im 20. Jahrhundert auf der anderen Seite vor Augen führt: Am Ende des 19. Jahrhunderts findet sich im Anschluss an Jherings (angekündigte) „Revision“ eine Auflösung seines abstrakt konstruierten „civilistischen Homunculus“ in differenzierte und subsumtionsfähige Tatbestände im BGB.45 Am Ende des 20. Jahrhunderts steht eine Einladung zu „tatbestandsfreiem Judizieren“.46 Dort die Suche nach juristischer Präzision bei der Erfassung der Lebenssachverhalte, hier, mit der vollständigen Delegation der Rechtsfindung an die Rechtsprechung im Einzelfall, der „Abschied vom BGB“47 und die „Selbstaufgabe der Wissenschaft“48: Die culpa in contrahendo sei, so heißt es in Abschlussbericht und Regierungsbegründung zur Schuldrechtsmodernisierung, „in ihrer über Jahrzehnte fortentwickelten Ausgestaltung gekennzeichnet durch eine große Flexibilität, die es verhindert, daß das Institut als solches erkennbare und reformbedürftige Mängel hat (…)“.49 Die Frage, wie die hier klar formulierte „Flucht in die Generalklausel“, wie die „Flexibilität“ der Tatbestandslosigkeit  Hierzu ausf. §§ 1–4.  Der Weg der weiteren Entwicklung wird nachvollzogen in den §§ 5–7. 47 Von Schlegelbergers Vortrag vom 25. Januar 1937 über die unbeachtete Mahnung von Ernst Wolf: Kein Abschied vom BGB, ZRP 1982, 1 ff. bis zur überstürzten Schuldrechtsmodernisierung 2001/2002 verläuft eine gerade Linie zum Abschied von der Kodifikation BGB; hierzu § 8. 48 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/386. 49  Schuldrechtskommission, Abschlußbericht (1992), S. 143; Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT Drucks. 14/6040, S. 161. 45 46

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gleichsam zu einem mangelfreien Ideal und geradezu erstrebenswerten Dogma zivilrechtswissenschaftlicher Tätigkeit und Wertschätzung werden konnte, motiviert eine Verwunderung, die die wissenschaftstheoretische Perspektive der vorliegenden Arbeit in durchaus kritischer Neugierde hartnäckig durchzieht.50 Es geht in der folgenden Untersuchung um nichts Geringeres als eine grundlegende „Revision“ der Lehre von der culpa in contrahendo. Jhering hatte eine Revision für das gemeine Recht angekündigt, und das Ergebnis derselben findet sich am Ende des 19. Jahrhunderts in der originären Fassung des BGB. Man hätte wohl erwarten können, dass eine entsprechend gründliche Revision auch hinsichtlich der weiteren Entwicklungen im 20. Jahrhundert zuletzt wenigstens im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung erfolgt wäre. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive überrascht es dann allerdings zu erfahren, dass sich die Zivilrechtslehre genötigt sah, „geradezu aus dem Stand heraus“ (sic!) eine Aussage zur Existenzberechtigung der c. i. c. zu treffen.51 Die letzten grundlegenden Untersuchungen zur culpa in contrahendo stammen in der Tat aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.52 In den 1920er und 1930er Jahren übertraf die literarische Produktion zu diesem Thema die Anzahl der einschlägigen Judikatur noch um ein Vielfaches. Wer allein die Quantität der publizierten Stellungnahmen kannte,53 der mochte wohl leicht den gefundenen  Nüchternes Fazit §§ 8–9.  So Picker in seiner Stellungnahme vor der Zivilrechtslehrervereinigung: AcP 183 (1983), 369/371. 52  Insb. Steinberg, Die Haftung für Culpa in Contrahendo (1930): These vom Gewohnheitsrecht; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931): These von der Vertrauenshaftung; Heinrich Stoll, Abschied von der positiven Vertragsverletzung, AcP 136 (1932), 257: These von einem umfassenden Schutzpflichtverhältnis. 53  Neben den zuvor Genannten ohne Anspruch auf Vollständigkeit allein von 1930–1945: Kober, Die Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen – culpa in contrahendo (1930); Quirll, Haftung für Verschulden während der Vertragsverhandlungen (1930); Scholz, Verschulden beim Vertragsschluß: culpa in contrahendo (1930); Lorberg, Die Haftung für culpa in contrahendo des Stellvertreters unter besonderer Berücksichtigung des englischen Rechts (1931); Drenhaus, Die Haftung für Verschulden bei Vertragsschluß, insb. bei Nichtzustandekommen eines Grundstücksübereignungsvertrages (1932); Steffen, Culpa in contrahendo und Stellvertretung (1933); Titze, Bespr. von Steinberg, Die Haftung für culpa in contrahendo, JW 1931, 512 f.; Niemann, Verschulden bei Vertragsschluß (1932); Bickenbach, Haftung für culpa in contrahendo des Vertreters nach BGB (1933); Cabjolsky, Entwicklung und heutiger Stand der Lehre von der Haftung für Verschulden beim Vertragsschluß (1933); Dömpke, Die Grundlagen und der Umfang der Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen (1933); Ehrlich, Die Entwicklung der Lehre von der Haftung bei Verschulden beim Vertragsschluß im spätgemeinen und im bürgerlichen Recht (1933); Mühlich, Begrenzung und Rechtsnatur des Rechtsverhältnisses der Vertragsverhandlungen (1933); Heinrich Stoll, Besprechung v. Hildebrandts Erklärungshaftung, JW 1933, 34; Tammena, Die Haftung aus nicht zum Abschluß gekommenen Vertragsverhandlungen (1933); Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273; Höxter, Rechtspflichten des bürgerlichen Rechts, die keine Schuldverhältnisse sind (1934); Berger, Die Grenzen der Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1935); Hartig, Allgemeine und gesellschaftsrechtliche Verhandlungshaftung (1935); Ottensmeyer, Die rechtsgeschäftliche Haftung für culpa in contrahendo (1935); Wagner, Wird die allgemeine Haftung für culpa in 50 51

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Diskussionsstand dahin deuten, dass alle wesentlichen Fragen „einigermaßen ausdiskutiert“54 seien. Als es dann aber um die Frage der Normierung dieses Haftungsinstituts ging, war man sich dieser Sache plötzlich keineswegs mehr so gewiss. Die Meinungen durchmaßen das gesamte Spektrum von Sein und Nicht-Sein, von Ablehnung, Befürwortung und Differenzierung. Selbst Dieter Medicus, der zweifellos renommierteste Dogmatiker des alten BGB, wandelte sich im Zuge der Diskussion von einem Gegner zu einem Befürworter einer subsumtionsfreien Generalklausel und markiert damit paradigmatisch nicht nur die Antinomien in der Haltung gegenüber richterlicher Flexibilität, sondern auch eine grundlegende Transformation des Wissenschaftsverständnisses in der Zivilrechtsdogmatik des vergangenen 20. Jahrhunderts: Noch 1981 warnte er vor „einer vagen Billigkeitsrechtsprechung“,55 um 20 Jahre später eben hierin „eine Triebfeder der Rechtsentwicklung“56 zu erblicken. Mit der ‚weisen‘ Zurückhaltung des Gesetzgebers, ein so praktisches Haftungsinstitut gleichsam ohne abgeschlossene intellektuelle Konsolidierung kodifizieren zu wollen, sondern stattdessen bestenfalls einen Hinweis auf die „Ergebnisse der Rechtsprechung“57 im Gesetz aufzunehmen, erhält die hier beabsichtigte grundlegende Revision ihre Bedeutung nicht nur für die weitere europäische Entwicklung der vorvertraglichen Haftung, sondern auch für die Revision und Weiterentwicklung des geltenden deutschen Rechts. Das Wesen der vorliegenden Arbeit würde missdeutet, wenn in ihr lediglich rechts‑ und wissenschaftstheoretisch ausgerichtete Dogmengeschichte ohne Bezug zum positiven Recht gesehen würde. Das Ziel aller theoretischen Bemühungen dieser Untersuchung ist auch und gerade der Nutzen derselben für die praktische Jurisprudenz. Es geht insoweit um eine Freilegung des praktischen und theoretischen Kerns der Haftung für culpa in contrahendo, wobei sich der Verfasser durchaus zu dem Bemühen bekennt, wieder etwas von dem abzutragen, was diesem Haftungsinstitut an Wertschätzung in Entdeckungs‑ und Begründungsmythen, contrahendo durch die speziellen Vorschriften der §§ 463, 480 BGB ausgeschlossen? (1935); Junge, Die Erklärungshaftung (1936); Kruse, Das Problem der Culpa in contrahendo: Ein Schadensersatzanspruch wegen gesetzlicher Verhandlungspflichten (1936); Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen und Positive Vertragsverletzung (1936); Krauße, Die Haftung für Culpa in Contrahendo (1937); Hans-Detlev Fischer, Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938); Geiß, Die Grundlagen der Haftung für das Verschulden bei Vertragsschluß und die Haftung für fremdes Verschulden bei Vertragsschluß (1938); Schultz, Entwicklung der Lehre von der Haftung für Verschulden beim Vertragsschluß (1939); Nell, Vertrag und vertragsähnliche Beziehung (1940); Haupt, Über faktische Vertragsverhältnisse (1941); Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS 103 (1943), 67; Wieacker, Leistungsbeziehungen ohne Vereinbarung, ZAkDR 1943, 33 ff. 54  Larenz, Bemerkungen zur Haftung für c. i. c. (1975), S. 398. 55 Medicus, Gutachten (1981), S. 486. 56  Medicus, Schlussbetrachtung, in: Ernst / ​Zimmermann (Hrsg.), Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsmodernisierung (2001), S. 609. 57 BT-Drucks. 14/6040, S. 161.

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aufgrund wissenschaftlichen Ehrgeizes und praktischer Billigkeitsjurisprudenz (zu viel) angetragen worden ist. Neben manchem Vergessenen mag so vielleicht auch Verdecktes zum Vorschein kommen, das der zukünftigen Entwicklung in Dogmatik und Theorie des Zivilrechts wieder fruchtbarere Impulse zu geben eher im Stande sein wird, als es die bisherigen Erklärungstheorien vermocht haben. Die provokative Antithese zur jüngsten Entwicklung im Schuldrecht und die Grundthese der in diesem Sinne zunächst kritischen Bestandsaufnahme ist dabei schon längst formuliert: Die Konstruktion einer allgemeinen (vorvertraglichen) Haftung kraft Sonderverbindung ist „kein Ruhmesblatt der deutschen Zivilrechtsdogmatik“.58 Um ein möglichst umfassendes Bild der culpa in contrahendo, ihren eigentümlichen Kern und ihre eigentümliche (Un)Beschränktheit zeichnen zu können, werden in der vorliegenden Untersuchung drei Perspektiven notwendig miteinander verbunden, die einstmals verbunden waren, in der derzeitigen Rechtswissenschaft aber nicht nur Anspruch erheben, eigenständige Forschungsdisziplinen zu sein, sondern auch als solche angesehen werden: Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik. Da mancher, der eine dieser Spezialdisziplinen betreibt, leicht geneigt ist, hierin schon die ganze Wissenschaft zu erblicken, liegt in dieser Zusammenschau freilich eine Gefahr für die Rezeption der Arbeit, weil sie nach einem bekannten hermeneutischen Gesetz zunächst vom jeweiligen Horizont des Lesers interpretiert wird. Dem Dogmatiker wird es daher leicht erscheinen, er finde zu wenig Dogmatik, dem Historiker, er finde zu wenig Historie und dem Rechtsphilosophen, er finde zu wenig Philosophie. Dieser Gefahr muss eine Arbeit sich stellen, die mit dem Anspruch auftritt, die Defizite einer autopoietischen dogmatischen Rechtswissenschaft zu vermeiden. Die Arbeit ist dem Andenken Rudolf v. Jherings verpflichtet, sie sucht die Materie aus seiner Perspektive historisch nachzuzeichnen und kritisch zu interpretieren, und sie ist insoweit auch seinem Wissenschaftsverständnis, d. h. einer „Vereinigung der historischen, praktisch-juristischen und rechtsphilosophischen Thätigkeit“ in besonderem Maße verpflichtet.59 Die Jurisprudenz kann demnach nur dann Wissenschaft sein, „wenn sie das positiv geltende Recht von seinen historischen und philosophischen Voraussetzungen her erfasst und geistig belebt“.60 Jede einzelne Perspektive hat ihren eigenen Wert und kann bis zu einem gewissen Grade eigenständig verfolgt werden. In ihrer Übersteigerung und Vereinzelung aber führt jede die Gefahr einer Pathologie mit sich: isolierte Dogmatik den „Kultus des Logischen“; isolierte Historie den „Kultus der Quellen“ und isolierte Philosophie den „Kultus der Spekulation“.  Hans Stoll, Haftungsverlagerung, AcP 176 (1976), 145/151, Fn. 21. Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft (1868), S. 77. 60  So zusammenfassend Behrends, in: Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft (1868), S. 15; zu diesem, für die historische Rechtsschule prägenden wissenschaftlichen Ansatz bereits Benedict, Savigny ist tot!, JZ 2011, 1073 ff. 58

59 Jhering,

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„Auch in der Wissenschaft gilt das Gesetz der Theilung der Arbeit. Nur dann, wenn der Theil sich als Ganzes geriren will, wenn der Arbeiter, der für eine gewisse Arbeit eingestellt ist, keinen anderen neben sich dulden will oder mit Geringschätzung auf den anderen herabblickt, gleich als hätte das allein Werth, was er betreibt, nur dann ist es Zeit den Gegensatz, den er selber in der Wissenschaft heraufbeschwört, gegen ihn zu kehren und ihn zu erinnern, dass seine Arbeit nur Stückwerk ist (…).“61

Bei allem Anspruch an eine möglichst umfassende Darstellung einer Ideen‑ und Dogmengeschichte der culpa in contrahendo bleibt es mit Jhering und dem Autor des Korinther-Briefes gleichwohl doch dabei, dass alles menschliche Unterfangen, und so auch dieses, immer nur ein Versuch bleiben wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk …62

 Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft (1868), S. 78. Korinther 13, 9.

61

62 1.

1. Kapitel

Rechtsgefühl und Dogmatik: Auf der Suche nach Wissenschaft „Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Principien angerichtet haben und unter unseren Augen noch täglich anrichten, wird begreifen, daß eine Zeit, die ihrer entbehrte, und sich bloß auf die gesunde, d. i. lediglich den praktischen Zwecken sich zukehrenden Vernunft angewiesen sah, dasjenige, was ihr not that, besser zu beschaffen im stande war, als eine hochentwickelte es vermag, deren geistiges Auge durch Principien umflort ist.“ Rudolf v. Jhering, 18941

1 Jhering,

Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (1894), S. 18 f.

§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“ „Wer eine falsche Richtung bekämpfen will, soll sich denjenigen ausersehen, der sie zuerst aufgebracht, und an der Stelle, wo er es zuerst gethan hat.“ Rudolf v. Jhering, 18891

Es ist mittlerweile über 150 Jahre her, dass Rudolf v. Jhering sich mit einigen von ihm so benannten „Trostlosigkeiten“ des römischen Rechts beschäftigte und, um diesen abzuhelfen, eine dogmatische Begründung entwarf, deren immense Folgewirkung bis heute andauert und die längst den Rahmen der rechtsdogmatischen Beherrschbarkeit verlassen hat. Um Lösungen vorzulegen, bedarf es einer Ursachenforschung, und diese kann sinnvoll nur dort ansetzen, wo die Probleme ihren Anfang genommen haben: bei Rudolf v. Jhering und der vermeintlichen „Entdeckung“ eines neuen Rechtsinstituts, genannt culpa in contrahendo.

I. Ausgangspunkt: Die Dogmatik des sog. „Willensdogmas“ „In venditionibus et emptionibus consensum debere intercedere palam est: ceterum sive in ipsa emptione dissentient sive in pretio in quo alio, emptio imperfecta est.“ Ulpian, D. ​18, ​1, ​92 „Die Art also, etwas außer mir als das Meine zu haben, ist die bloß rechtliche Verbindung des Willens des Subjects mit jenem Gegenstande.“ Immanuel Kant, 17973

Der dogmatische Ausgangspunkt für die Geschichte der c. i. c. ist prinzipiell leicht ausgemacht: Er liegt in der Überhöhung eines rechtsethischen Prinzips zur Lösung eines rechtlichen Konflikts, konkret in der Abstraktion des Rechts von der sinnlich wahrnehmbaren Form und der Erhebung des Unsichtbaren zum rechtsverbindlichen Dogma, und zwar zum Willensdogma. 1 Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode (1889), Vorrede XII. 2  „Bei Verkauf und Kauf ist bekanntlich ein Konsens erforderlich: daraus folgt, dass, wenn die Parteien sich über den Kaufgegenstand, den Preis oder etwas anderes nicht einig sind, ein Kauf nicht zustande kommt.“ 3  Die Metaphysik der Sitten I: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), § 7.

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§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“

Der Dualismus von Inhalt und Form, der sich für die rechtsgeschäftliche Kommunikation im Allgemeinen und die „Lehre vom Rechtsgeschäft“ im Besonderen in dem Dualismus von Wille und Erklärung manifestiert, führt zu einem Konflikt immer dann, wenn beide Elemente divergieren. Einer solchen Divergenz gegenüber kann das Recht sich in zweifacher Weise prinzipiell und mithin extrem verhalten. Es kann entweder allein an die Form (die Erklärung) oder allein an den Inhalt (den Willen) Rechtsfolgen zu knüpfen trachten. Das historisch geltende Recht hat ebenso wie die Meinungen der Rechtsgelehrten auf diesem Gebiet beides versucht: Die Affinität aller frühen Rechtskulturen für das sinnlich-förmliche Element teilte insbesondere auch das alte römische Recht. Es kannte daher zunächst nur Rechtsgeschäfte, die zu ihrer Geltung des rechten Vollzugs in Handlungen und Formeln bedurften: sog. Formalgeschäfte.4 Der nackte Wille allein vermochte sich Rechtsgeltung nicht zu verschaffen: „Nuda pactio obligationem non parit“.5 Eine Diskrepanz zwischen dem Gewollten und dem förmlich korrekt Erklärten konnte daher auch nicht eintreten; denn der Wille an sich war unbeachtlich und nur die Form rechtlich verbindlich. Die allmähliche Auflösung dieses für eine entwickelte Gesellschaft unhaltbaren strengen Formalismus und die Anerkennung des Konsensualvertrages für bestimmte wichtige Verkehrsgeschäfte bereits im klassischen römischen Recht6 gipfelte schließlich im „Willensdogma“ des gemeinen Rechts, wonach vom Grundsatz her „der Wille an sich als das einzig Wichtige und Wirksame gedacht“7 werden sollte. Damit war das Pendel im Bereich der denkbaren Möglichkeiten von dem einen Extrem (Verabsolutierung der Form: Erklärungshandlung) zum anderen Extrem (Verabsolutierung des Inhalts: Wille) ausgeschlagen. Freiheit (libertas) und Wille (voluntas) waren bereits charakteristische Prämissen des römischen Rechts,8 und die Freiheit des

4 Ausf. Jhering, Geist des römischen Rechts II/2 (1883), S. 504 ff./505: „Der Formalismus … bezeichnet eine nothwendige Phase in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes.“ Die Klagbarkeit konnte später auch dadurch begründet sein, dass das sinnliche Element in Gestalt einer Vermögenshingabe (res) hinzutrat (sog. Realgeschäft; z. B. Darlehen, Leihe, Verwahrung). Grund der Klage war auch hier jedoch noch nicht die Einigung, sondern die res, die Vermögensbereicherung ohne Grund; hierzu nur Kaser, Römisches Privatrecht I (1971), S. 525, 530 ff.; Jhering, aaO., S. 520 f. 5 Ulpian, D. ​2, ​14, ​7, ​4; „… aut enim re contrahitur obligatio aut verbis aut litteris aut consensu.“ (Gai. III, 89); zu Satz und Entwicklung nur Zimmermann, Law of Obligations (1990), S.  508 ff. 6 Vgl. nur Kaser, Römisches Privatrecht I (1971), S. 227 ff., 234 ff. 7  Savigny, System III (1840), S. 258. 8  Die römische Rechtsgeschichte setzt dort, wo die klare Überlieferung beginnt, „sofort mit dem freien Privateigentum auch am Grund und Boden ein, um den Grundsatz der Freiheit des Eigentums zum Leitstern der ganzen römischen Privatrechtsentwicklung zu machen“, Sohm  / ​ Mitteis / ​Wenger, Institutionen (17. Aufl. 1931), § 10 (S. 42 f.). Bedeutung und Überhöhung des Willens für das römische Recht bei Jhering, Geist des römischen Rechts I, §§ 9 ff. („Das Princip

I. Ausgangspunkt: Die Dogmatik des sog. „Willensdogmas“

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„Ich will“ stand dann vor allem im Zentrum der einflussreichen Moral‑ und Rechtsphilosophie Immanuel Kants.9 In der Synthese von römischem Recht und Kantischer Freiheitsethik entfaltete sich die Pandektistik, und diese prägte der Privatrechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts ihren eigenen Stempel auf.10 Die juristischen Folgen einer derart prinzipiell am individuellen Willen orientierten Betrachtung blieben nicht aus. Insbesondere in zwei praktisch besonders relevanten Situationen führte die Akzeptanz des Willensdogmas zu ernsten Unannehmlichkeiten: 1.) beim Widerruf einer Vertragsofferte vor ihrer Annahme und 2.) bei der Berufung auf einen Irrtum des Erklärenden. 1.) So war infolge der Abstraktion von jeder rechtsgeschäftlichen Form das Kontrahieren unter Abwesenden mit einer eigentümlichen Unsicherheit belas-

des subjectiven Willens der Urquell des römischen Rechts“), zusammenfassend § 20 (S. 332): „Das Recht ist nicht Ueberzeugung, Ansicht, Wissen u. s. w. kurz keine intellectuelle Potenz, sondern eine moralische, es ist Wille.“; vgl. etwa auch Meder, Rechtsgeschichte, 3. Aufl. (2008), S. 13: Freiheit war „seit der Vertreibung der Könige zu einem Zentralbegriff der Gemeinschaftsordnung geworden“; und schon S. 2: „Man muss … wissen, dass Methode und Begriffstechnik einer bestimmten Verfassungsordnung entsprungen sind, deren Kern die Idee von Freiheit (libertas) bildet (…).“  9  Rosenkranz, Geschichte der Kant’schen Philosophie (1840), S. 164: „Ich will! Das ist das Zentrum der Kant’schen Schlachtordnung, was immer standhält, wenn auch die Flügel aufgegeben werden.“; vgl. insb. die Begründung des „subjektiven Rechts“ als „intelligiblen“ bzw. „rechtlichen Besitz“ in § 7 von Kants Rechtslehre: „Die Art also, etwas außer mir als das Meine zu haben, ist die bloß rechtliche Verbindung des Willens des Subjects mit jenem Gegenstande“; und zu den möglichen Gegenständen, auf die sich der Wille beziehen kann; § 4: „a) … einen Gegenstand im Raume (eine körperliche Sache) … b) … die Leistung von etwas durch die Willkür des Anderen … c) … ein Weib, ein Kind, ein Gesinde und überhaupt eine andere Person …“. Hiermit ist die Grundstruktur der möglichen Rechtsverhältnisse: Sachenrecht, Obligationenrecht und Familienrecht, ebenso gekennzeichnet, wie sie sich dann auch bei Savigny im „System des heutigen römischen Rechts“ und bis heute im BGB wiederfindet. 10  Zur Anlehnung an den Kantischen Gedanken vom „intelligiblen Besitz“ im „Besitzwillen“ (animus domini) vgl. bereits die Frühschrift von Savigny, Recht des Besitzes (1803), §§ 20 ff.; ansonsten die bekannten Stellen im System I (1840), §§ 52 ff.; III § 134. Auf das durchaus umstrittene Verhältnis und den Einfluss Kants insb. auf Savigny kann und muss hier nicht eingegangen werden; vgl. zum Meinungs‑ und Diskussionsstand einstweilen nur: Tegethoff, Kant und Savigny (1952); Wieacker, Friedrich Carl von Savigny, SZRom 72 (1955), 1 ff.; auch in: ders., Gründer und Bewahrer (1959), S. 107 ff.; Kiefner, Der Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Zivilrechts im 19. Jahrhundert (1969), S. 3 ff.; Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984); ders., Kant (2002), S. 89 ff.; K. W.  Nörr, Eher Hegel als Kant (1991); D. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994); Benedict, Savigny ist tot!, JZ 2011, 1073. Wichtiger als die Frage nach dem generellen geistigen Einfluss der Philosophie auf Savigny oder andere wäre die Frage nach den Auswirkungen in der konkreten Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls für Savigny kann insoweit nicht allgemein behauptet werden, er sei in allen seinen dogmatischen Überlegungen von einem „Willensdogma“ geprägt worden. Er hat die Bedeutung der Erklärungsform für die Sicherheit des Verkehrs nie verkannt. Selbst seine „Irrtumslehre“ sucht eher einzuschränken und zu differenzieren (vgl. nur Luig, Von Savignys Irrtumslehre zu Jherings culpa in contrahendo, ZNR 1990, 68 ff.; ausf. hierzu noch unten § 4 II.1.).

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§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“

tet, weil der Zeitpunkt der rechtlichen Perfektion des Vertrages ungewiss blieb. Für diese Fallkonstellation drehte sich die gemeinrechtliche Diskussion vor allem um die Frage, in welchem Moment genau ein Konsens, d. h. eine Willensübereinstimmung, anzunehmen sei. Wenn man hier schlicht vom Willensdogma ausging, lag der frühestmögliche Zeitpunkt der Willenseinigung im Zeitpunkt der Manifestation des Annahmewillens. Dieser willenstheoretische Standpunkt entsprach der später auch sog. „Äußerungstheorie“, die in der gemeinrechtlichen Rechtswissenschaft vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark vertreten wurde.11 Die mit dieser Ansicht für den Antragenden verbundene Unsicherheit (ob und wann der Vertrag durch Annahme wirksam geworden ist) setzte sich fort in der Gefahr nun wiederum für den Erklärungsempfänger, dass die Offerte (das Erklärte), die er bereits in Händen hielt, gar nicht mehr dem Willen des Offerenten entsprach, weil dieser an seinem ursprünglich bekundeten Willen nicht festhielt (weil er inzwischen einen Widerruf abgesendet hatte) oder nicht mehr festhalten konnte, weil er mittlerweile gestorben war. In beiden Fällen war bei einer rein „intelligiblen“ Betrachtung ein Konsens und mithin ein klagbarer Vertrag nicht erzielt. Hatte der Erklärungsempfänger, der von einem „intelligiblen“ Vertragsschluss nichts wusste, in sicherer Meinung, einen Vertrag geschlossen zu haben, Vermögensdispositionen getätigt, so blieb er bei konsequenter Durchführung des Willensdogmas auf einem daraus sich ergebenden Schaden sitzen. 2.) In noch deutlicherer Form stellte sich das gleiche Problem für den Fall, dass sich eine der Parteien nachträglich auf einen Irrtum beim Vertragsschluss berief. Das Rechtsgeschäft war dann aus willenstheoretischer Sicht – weil vom Willen

11 Doch selbst hier kam man zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem ob der Wille des Annehmenden oder des Antragenden als für den Konsens maßgebend angesehen wurde; vgl. etwa Wening-Ingenheim, Über den Zeitpunkt der Gültigkeit eines unter Abwesenden geschlossenen Vertrages, AcP 2 (1819), 267/271: mit dem Zeitpunkt der Acceptation wird eine Revocation des Promittenten ausgeschlossen; dagegen: Puchta, Pandekten, § 251: eine „Acceptation nach erklärtem, wenn gleich ihm noch nicht bekanntem Widerruf ist ohne Bedeutung“. Die Einordnung von Savigny zur Äußerungstheorie ist hingegen zweifelhaft; manche Stellen im System scheinen eher dafür zu sprechen, dass Savigny der Vernehmungstheorie zuneigte; (etwa System I, S. 206: „Das Wesen der Verträge besteht in einem übereinstimmenden Wollen, dessen Uebereinstimmung gegenseitig zum Bewußtsein gekommen ist.“; ebenso System III, S. 308: „Sie müssen sich dieser Uebereinstimmung bewußt geworden sein, das heißt der Wille muß gegenseitig erklärt worden sein …“; anders dann aber System VIII, S. 235 f.: „ Der Vertrag ist da geschlossen, wo der erste Brief empfangen und von dem Empfänger die zustimmende Antwort abgesendet wird (…).“ Ausf. zum gemeinrechtlichen Meinungsstreit: Scheurl, Vertragsschluss unter Abwesenden, JhJb 2 (1857), 259 ff.; Koeppen, Der obligatorische Vertrag unter Abwesenden, JhJb 11 (1872), 139 ff.; Benedict, Zugangsproblematik (2000), S. 12 ff. m. w. N.

II. Rechtstheoretische Krise I: Ratio scripta oder Rechtsgefühl?

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nicht gedeckt – unwirksam,12 und auch hier wurde der Disponierende ggf. Opfer seines guten Glaubens in einen bestehenden Vertrag. Die mit dieser Dogmatik verbundenen Konsequenzen kommentierte Rudolf v. Jhering im Jahre 186113 in seinem dogmatisch und letztlich auch methodologisch wirkungsreichsten Aufsatz „Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen“14 mit den berühmten Worten: „Die Unbilligkeit und praktische Trostlosigkeit eines solchen Resultats liegt auf der Hand; der culpose Theil geht frei aus, der unschuldige wird das Opfer der fremden Culpa!“15

II. Rechtstheoretische Krise I: Ratio scripta oder Rechtsgefühl? „Die imperativische Form der Gebote und Verbote, der Ausdruck ‚so oder so soll es sein‘ erregt fast nothwendig die Frage nach dem ‚warum‘ (…).“ Rudolf v. Jhering, 185216 „Was ist Recht? Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologien verfallen, oder statt einer allgemeinen Auflösung auf das, was in irgend einem Lande die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen, verweisen will, eben so in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: ‚Was ist Wahrheit?‘ den Logiker.“ Immanuel Kant, 179717

12 Die Lehre vom (insoweit) „wesentlichen Irrtum“ umfasste in jedem Fall die Diskrepanz zwischen Wille und Erklärung (heute: Inhalts‑ bzw. Erklärungsirrtum), sie wurde aber auch schon auf den „Irrtum im Beweggrund“ erstreckt; denn hier ist der Wille „allerdings nicht der eigentliche, der wahre Wille des Erklärenden, d. h. er würde ohne jenen Irrthum nicht gefaßt worden sein“ (Windscheid, Pandekten I, § 78), wobei dann allerdings zwischen „entschuldbarem“ und „unentschuldbarem“ Irrtum unterschieden wurde (Windscheid, aaO., § 79 a.). Ausf.: Oebike, Wille und Erklärung beim Irrtum in der Dogmengeschichte der beiden letzten Jahrhunderte (1935); Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (2000); HKK / ​ Schermaier (2003), §§ 119–122; zum Problem auch unten § 4 II. 13 Jedenfalls der 4. Band der Jahrbücher ist, entsprechend seinem Aufdruck, dem Jahr 1861 zugeordnet. Das den hier interessierenden Aufsatz enthaltende Heft 1 ist – wie die mitgeheftete Umschlagseite nahelegt – möglicherweise bereits 1860 gedruckt, vielleicht auch schon publiziert worden (so jedenfalls vermuten Schanze, Culpa in contrahendo bei Jhering, 1978, S. 333 f. und Medicus, Entdeckungsgeschichte, 1986, S. 169). Es ist freilich auch nicht ausgeschlossen, dass beim Druck der Frontseite des ersten Heftes ein Druckfehler unterlaufen ist. Jedenfalls wäre die Herausgabe des ersten Heftes eines neuen Jahrganges noch im alten Jahr wohl eher ungewöhnlich. Und ohnehin lässt sich das Geburtsdatum einer Aussage oder Theorie niemals schlicht nach dem Publikationsdatum beziffern. Insoweit soll es jetzt und im Folgenden bei der Jahreszahl bleiben, die auf dem Einband des einschlägigen Jahrbuches steht: 1861. 14 Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1. 15  Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 2. 16  Geist des römischen Rechts I (1878), S. 48. 17 Metaphysik der Sitten I: Rechtslehre (1797), § B.

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§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“

1. Das Jahr 1861: Scherz und Ernst und Billigkeit „… beinahe überall im Recht hat das Gefühl sich schon für eine Antwort entschieden, ehe noch die wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat.“ Julius v. Kirchmann, 184818 „Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf?“ Rudolf v. Jhering, 186119

Jherings Aufsatz war in seinen Folgen deutlich mehr als „nur“ ein dogmatischer Aufsatz. Er legte den Grundstein für ein modernes Verständnis von Rechtsfindung überhaupt. Das Jahr 1861 kann man insoweit auch als das Geburtsjahr der Gefühlsjurisprudenz bezeichnen. Denn dass das Ergebnis die Begründungssuche leitet und ganz unverhüllt in Gestalt der Billigkeit an den Anfang einer juristischen Untersuchung gestellt und von ihm aus die Begründung konstruiert wurde, war ein zwar heute allgemein gefeiertes, aber deshalb nicht weniger bedenkliches Novum im Bereich ernsthafter juristischer Methodologie. Dieser Schritt setzt den Bruch mit externen Autoritäten voraus. Nicht der überkommene Rechtssatz, sondern eine innere Stimme sagt, was Recht sei: das Rechtsgefühl. Der Weg über das Rechtsgefühl deutet sich bereits in dem Aufsatz über die „Gefahr beim Kaufcontract“ an, der dem Aufsatz über die culpa in contrahendo unmittelbar vorangeht.20 Jhering spricht hier von jenem Problem, dass zuweilen das Verkennen des wahren Sinns eines Rechtssatzes zu „Resultaten führt, gegen die das natürliche Rechtsgefühl Protest erhebt“.21 Doch lässt er nach dieser Gefühlsprüfung eine differenzierte, an den Interessen der Parteien orientierte Begründung folgen, bei der er die maßgeblichen Punkte offenlegt, die sein Unwohlsein verursacht haben und führt damit eben das vor, was er später im „Zweck“ generell so beschreibt: „Das natürliche Gefühl gibt Jedem … die Entscheidung an die Hand, es kommt aber darauf an, sie wissenschaftlich zu rechtfertigen.“22 Es wird zu zeigen sein, dass eben diese Rechtfertigung bei seiner c. i. c. nicht erfolgt, sondern er nur vom Ergebnis her eine (Schein)Begründung deduziert. Aber die Begründung allein nach dem Ergebnis hin zu konstruieren, das heiße ich mit Kantorowicz methodologischen „Finalismus“23 oder eben, wenn das Gefühl das juristische Ergebnis präjudiziert: Gefühlsjurisprudenz.

18 Die

Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848), S. 19.  Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/5. 20  Jhering, Gefahr beim Kaufcontract I, JhJb 3 (1859), 449. 21 Jhering, Gefahr beim Kaufcontract I, JhJb 3 (1859), 449 f. 22  Jhering, Zweck im Recht I (1877), S. 416 f. 23  Begriffsprägend Kantorowicz, Epochen der Rechtswissenschaft, Die Tat 6 (1914/15), 345/346; ausf. hierzu unten § 5 I.2. 19

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a) Die Grenzen des rechtspositivistischen Denkens „Aber die Zeiten von Ulpian und Paulus sind für immer vorüber und werden trotz aller Bemühungen nicht wiederkehren.“ Rudolf v. Jhering, 185224

Der Rekurs auf die Instanz des Rechtsgefühls hatte freilich Ursachen: Es galt, das zu eng gewordene Korsett des überkommenen römischen Rechts aufzubrechen. Doch wie war dies zu begründen? Die damit einhergehende Frage war evident und ist bis heute in ihrem Grundsatz aktuell: Was kann als wahre Rechtsquelle gelten? Die klassische juristische Methodenlehre setzt im Grunde einen geltenden Rechtssatz voraus und lehrt die Deduktion aus der lex scripta: „… eine Reproduction des Dogmas d. h. die Wiedergabe der Gesetze, Rechtssätze und Begriffe, welche die geschichtliche Tradition ihr überliefert hat. Ihr beständiger Refrain für das römische Recht ist Quellenstudium, und der kühnste Gedanke, dessen sie fähig ist, besteht in der Wiedererweckung der reinen römischen Theorie. Wäre es möglich, so würfe sie wohl alles, was nicht direct im römischen Recht ausgesprochen ist, über Bord und schraubte unsere wissenschaftliche Bildung auf den Standpunkt von Ulpian und Paulus zurück (…).“25

Aber wie lässt sich neues Recht kreieren und aus welchen Rechtsquellen ist es legitim zu schöpfen? Oder anders gefragt: Wie ist Rechtsfindung jenseits einer Quellenexegese denkbar? Wie nachhaltig der Wahlspruch der historischen Rechtsschule „Zurück zu den Quellen!“ vom größten Teil der Pandektistik des 19. Jahrhunderts als methodologisches Dogma behandelt wurde, lässt sich kaum noch ermessen. Er war nicht nur der feste wissenschaftliche Boden, auf dem zu stehen notwendig war, wenn eine Ansicht Aussicht haben wollte, überhaupt ernst genommen zu werden. Er kennzeichnete seit der Auseinandersetzung mit der philosophischen Rechtsschule und spätestens seit v. Kirchmanns Frontalangriff auf die Jurisprudenz als Wissenschaft auch die herrschende Methodenlehre: den Rechtspositivismus der Zeit. Noch im Jahre 1880 vertrat etwa Bernhard Windscheid den Standpunkt, dass das „Bedürfnis des Verkehrs“ nun einmal „keine Rechtsquelle“ sei.26 Was aber dann? Was, wenn die anerkannten Rechtsquellen aus einem längst vergangenen historischen Kontext stammten, wenn sie von gänzlich unpassenden Prämissen ausgingen oder überhaupt schwiegen? Sollten die Quellen des römischen Rechts etwa für immer unantastbar sein, wenn doch die Welt sich änderte? Auch das römische Recht war sich niemals gleich. Das hatte Jhering mit seinem „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner  Geist des römischen Rechts I (1852), S. 39.  Jhering, Geist des römischen Rechts I (1852), S. 38. 26 Wille und Willenserklärung AcP 63 (1880), 72/81; paradigmatisch für diese quellendogmatische Haltung etwa auch v. Dabelow, Handbuch des Pandecten-Rechts, Bd. 2 (1817), S. 342, zur Lehre de servo corrupto auf die filios filiasve familias: „Die Anwendung muß auch noch als passend betrachtet werden, da Justinian sie passend gefunden hat (…).“ 24 25

24

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Entwicklung“ in unvergleichlicher Anschaulichkeit deutlich gemacht. Wenn es eine „Quelle des römischen Rechts“ gab, dann war es der römische „Geist“, der den Institutionen des römischen Rechts sein Leben einhauchte. Und dieser „Geist“ war der praktisch-philosophische Geist der römischen Jurisprudenz, der sich in den Rechtsquellen des Corpus Iuris Civilis nur in einzelnen Bruchstücken findet und den es – nicht nur nach Jhering – aus diesen Bruchstücken erneut zu beleben galt.27 Vom Buchstabenkultus bei der Exegese alter Quellen hatte sich Jhering also bereits frühzeitig losgesagt. Doch freilich, auch mit der Beschwörung des Geistes römischer Jurisprudenz blieb er mit dieser seiner „Aufgabe“ und dieser seiner „naturhistorischen Methode“ an die römischen Quellen als Autorität gebunden.28 Aus ihnen war das Recht zu rekonstruieren, aus ihnen die ewig geltenden Prinzipien des Rechts zu schauen. Doch musste diese Methode schlechterdings versagen, soweit Rechtsfragen zur Lösung standen und Rechtsprinzipien gesucht wurden, die das römische Recht so vielleicht nicht kannte. Genau dies aber war in besonderem Maße der Fall für den Umgang mit dem zum allgemeinen Prinzip erhobenen formlosen Vertragsschluss bzw. der formlosen abstrakten Willenserklärung, kurz: für den Umgang mit einem Willen, der „an sich als das einzig Wichtige und Wirksame“ gedacht werden sollte. Man glaubte das „Willensdogma“ aus den römischen Quellen herauszulesen, doch war es der Geist der Zeit, der in die Quellen hineingelesen wurde. Jhering selbst hat das Gegenteil in seinem zweiten Band zum „Geist des römischen Rechts“ auf das trefflichste analysiert und beschrieben: Das kennzeichnende Prinzip des römischen Rechtsgeschäfts war gerade nicht der Wille, sondern der Formalismus.29 Wenn aber in diesem Sinne die Form als das „einzig Wichtige und Wirksame“ gedacht werden muss, dann bleibt nicht viel Platz für den darüber sich erhebenden unsichtbaren und wandelhaften Willen. Willensdogma und Formalismus sind juristische Antagonismen, weil hier die Form und dort der Wille zum maßgeblichen Geltungsgrund erhoben wird. Die römischen Quellen jedenfalls konnten die Entwicklungsgeschichte des Vertragsrechts nicht vollumfänglich vorwegnehmen.30 In ihnen waren daher auch keine Antworten auf Probleme zu finden, die sich in dieser Art den römischen Juristen nicht gestellt, sondern erst unter der Kanonistik und dem Grundsatz der Formfreiheit entwickelt hatten. Erst mit diesem Paradigmenwechsel stellte 27  Vgl. insb. die Thesen in dem Leitaufsatz zu den von ihm und Gerber herausgegebenen Jahrbüchern: Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1 ff. 28 Wie sehr dies bis zu seinem Spätwerk immer der Fall geblieben ist, vermittelt seine Spätschrift zum Besitzwillen (1889), in welcher die Quellenexegese wieder einen breiten Raum einnimmt und die er zugleich als „eine Kritik der herrschenden juristischen Methode“ verstanden wissen wollte. 29  Hierzu eindringlich: Jhering, Geist des Römischen Rechts II/2 (1880/83), insb. S. 504 ff. 30  Vgl. die Darstellungen bei Seuffert, Zur Geschichte der Obligatorischen Verträge (1881); und Zimmermann, Law of Obligations (1990).

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sich in aller Schärfe die Frage, woran denn ein vollendeter Vertragsschluss, woran ein vollendeter (Rechtsbindungs‑)Wille zu erkennen sei. Kurz: Die römischen Quellen konnten keinen Aufschluss geben über Probleme, die von ihnen nicht oder grundsätzlich anders behandelt wurden. Es entbehrt insoweit nicht einer gewissen Ironie, wenn Immanuel Kant als zentrales Produkt seiner Rechtslehre nicht nur das Willensdogma der damaligen Rechtswissenschaft als Aufgabe überlassen, sondern den Rechtsgelehrten zugleich auch den Beruf, diese Aufgabe überhaupt lösen zu können, abgesprochen hat.31 Das Gedankengut der Aufklärung führte zum Vernunftrechtsdenken, das ganz in Anknüpfung an die Naturrechtslehren das Recht nicht einfach als tradierte Autorität ansehen wollte, sondern nach guten, vernünftigen Gründen für seine Geltung fragte. Dies ging aber für Romanisten und ihre Methode nicht leicht an. Die Autorität der Quellen war nicht zu bezweifeln und den Erfordernissen der „praktischen Vernunft“ oder des „praktischen Verkehrs“ konnte ‚das Recht‘  – wie zu Zeiten der XII Tafeln  – allenfalls im Wege einer vorsichtigen interpretatio entgegenkommen. Das Römische Recht war eine feste Burg; vernünftig allein denjenigen, welche die ratio scripta der klassischen Philosophie in ihm verkörpert sahen und aus ihm zu lesen verstanden;32 unvernünftig hingegen dem Geist der „Aufklärung“, der, wenn er nicht ohnehin schlicht alles Tradierte bekämpfte, immerhin den für die Praxis schwer durchschaubaren Quellenkultus als „Subtilitätenkram“ in die Kritik nehmen musste.33

31 Metaphysik

der Sitten: Rechtslehre (1797), § B.  Dass für die römischen Juristen die Jurisprudenz das Streben nach Philosophie schlechthin gewesen sein soll („veram nisi fallor philosophiam“, Ulpian, D. ​1, ​1, ​1. ​), ist in der späteren römischen Rechtswissenschaft eine bis heute bestrittene Vorstellung; vgl. insb. Fritz Schulz, Prinzipien (1934), S. 58: „Von irgendwelchem selbständigen ernsthaften Nachdenken über diese Dinge ist bei den Klassikern keine Rede.“; ders, Geschichte (1961), S. 159: „Die Römische Rechtswissenschaft ist eine Fachwissenschaft, die Grenzüberschreitungen vermeidet und die Philosophie den Philosophen überlässt.“ Auf diese Debatte muss hier nicht eingegangen werden. Maßgeblich ist vorliegend der Standpunkt Jherings, den er in seinem Leitaufsatz „Unsere Aufgabe“ ausspricht, JhJb 1 (1857), 1 ff.: „… Eben weil unser philosophisches Bedürfniß in der Dogmatik des römischen Rechts … eine so vollkommene Befriedigung findet, hat die Rechtsphilosophie einen so üblen Stand. Unter dem Eindruck dieses philosophischen Geistes … bezeichnete das Mittelalter dasselbe als die ratio scripta, die geoffenbarte Vernunft in Dingen des Rechts.“ (S. 20); eingehend hierzu auch Behrends, Jherings Evolutionstheorie (1996), S. 140 ff. 33  Vgl. hierzu die bezeichnende Aussage von Friedrich II. zur Schaffung des ALR: „Wenn ich … Meinen Endzweck … erlange, so werden freylich viele Rechtsgelehrten bey der Simplifikation dieser Sache ihr geheimnißvolles Ansehen verlieren, um ihren ganzen Subtilitäten-Kram gebracht, und das ganze Corps der bisherigen Advokaten unnütz werden …“ (Cabinetsordre von 1780 S. XII. XIII.; zitiert bei Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit, 1814, S. 88, Fn. 1). 32

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b) Savigny und Jhering: systematisierende Vernunft vs. pathetisches Gefühl „Keiner hat bisher mit jener romanistischen Orthodoxie mehr gebrochen, als er.“ Rudolf v. Jhering, 185734

Während nun die Aufklärung sich politisch ihre Bahn brach, indem sie die „Subtilitäten“ der am römischen Recht orientierten Rechtsgelehrten mehr oder weniger ignorierte und die Summe des Naturrechts in Kodifikationen zog, zerbrach die Orthodoxie der römischen Rechtswissenschaft nicht allein an den Anfechtungen vernunftrechtlicher Ignoranz. Die methodologische Neuerung in der Rechtsfindung erfolgte von Seiten der kulturhistorischen Reaktion auf die Aufklärung selbst: Die Romantik – die Rettung und zugleich Hypostasierung des Gefühls vor der „alleszermalmenden“ Vernunft. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass es gerade die beiden wirkmächtigsten Vertreter der deutschen Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert versuchten, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie zur rechtsdogmatischen Synthese zu bringen. Der eine in souveränem, scheinbar selbstverständlichem Vollzug als Meister des Stoffs und Beherrscher der Form, der andere in permanenter Gärung, in stets pathetischer Überhöhung von Stoff und Form auf unsteter Suche und steter Wandlung. Jener: Carl Friedrich v. Savigny, der es selber für sich in Anspruch nahm, der „Kant der Rechtsgelehrsamkeit“ zu werden35 und demgemäß in seinem „System“ das „a priori“ kantischer Metaphysik mit dem Stoff römischer Jurisprudenz zu verbinden verstand;36 und dieser: Rudolf v. Jhering, der sich, inspiriert vom Geist römischer ratio, vom Meister dogmatischer Konstruktion geradezu zum Prototypen eines philosophierenden Rechtssoziologen entwickelte, für den die positivrechtlichen Quellen nur ein vergängliches Schattenbild des Rechts darstellen und die Suche nach der „wahren Quelle“ des Rechts zur Lebensaufgabe wird. Wenn beide auch die historische Schule verband, ihre Rechtsphilosophie entsprach dem Dualismus der Zeit. Für die Rechtswissenschaft war er in ihnen personifiziert: Unter dem gemeinsamen Dach der  Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1/39. Anspruch ist primär bezeugt in einem Briefwechsel seiner Studienfreunde: Leonhardi an L. Creuzer v. 19. März 1799: „Sein Plan, ein Reformator der Jurisprudenz, ein Kant in der Rechtsgelehrsamkeit zu werden ist groß – ist des Schweißes der Edlen wert – erfordert aber nicht nur einige Jahre, sondern eine ganze Lebenszeit, – und diesem Plan will und soll er hauptsächlich leben!“ (wiedergegeben bei A. Stoll, Friedrich Karl v. Savigny, Bd. 1, 1927, S. 54.); hierzu etwa: Hattenhauer, Thibaut und Savigny (1973), S. 23; Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984), S. 249; D. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), S. 296 f.: „Kant der Rechtswissenschaft“; Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte (1999/2004), Rn. 1649/1723: „Er wollte ein ‚Kant der Rechtswissenschaft‘ werden und ist es auch geworden.“; zu alledem auch Benedict, Savigny ist tot! JZ 2011, 1073/1078 f. 36 Anerkennend noch Jhering, Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1/39: „Keiner hat bisher mit jener romanistischen Orthodoxie mehr gebrochen, als er.“; anders dann aber schon vier Jahre später in seinem ‚freundlichen‘ Nachruf auf Savigny, JhJb 5 (1861), S. 354 ff., der wie die ‚Lobrede‘ des Antonius auf den „ehrenwerten“ Brutus in Shakespeares „Julius Cäsar“ anmutet. 34

35 Dieser

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historischen Schule inthronisierte der eine die systematisierende Vernunft, der andere hingegen das pathetische Rechtsgefühl.37 Welche Wandlungen Jhering auch immer durchgemacht haben mag  – es ist schon eine geradezu symbolische Ironie, wenn ausgerechnet das Todesjahr von Savigny einhergeht mit der Geburtsstunde der culpa in contrahendo und der Gefühlsjurisprudenz.38 Die Koinzidenz der Ereignisse ist umso interessanter, als auch in demselben Jahr die ersten beiden jener berüchtigten Briefe erschienen,39 die später unter dem bezeichnenden Titel „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ (1884) vom Verfasser selbst veröffentlicht wurden. Man muss diese zeitliche Übereinstimmung sicherlich nicht gleich als Menetekel für die spätere Entwicklung des Zivilrechts als Gefühls‑ und Einzelfalljurisprudenz zu deuten suchen. Jhering ist interpretationsfähig, und eine jede Zeit schafft sich die Geschichtsbilder, die zu ihr passen. Für die Beurteilung der hier interessierenden culpa in contrahendo ist der zeitliche Zusammenhang jedenfalls aufschlussreich: c) Damaskus-Erlebnisse: oder was wirklich geschah … „Bekanntlich ist das juristische Lebenswerk Jherings durch eine tiefe Zäsur gekennzeichnet (…).“ Karl Larenz, 199140

Dem Jahr 1861 voraus ging das Jahr 1860, in welchem der Aufsatz zur c. i. c. vermutlich auch verfasst wurde. Und voraus ging dem Jahr 1860 das Jahr 1859, das eine erste Zäsur in Jherings wissenschaftlichem Denken markiert, weil hier das Vertrauen in die überlieferten Quellen als Autorität für die Rechtsfindung, vor allem aber der methodologische Umgang mit denselben (vorrangig sein eigener) grundlegend erschüttert wurde. Gleichwohl lag hierin kein eigentliches „Da37 Jhering, Der Kampf ums Recht (1874), S. 12, nennt die historische Schule die „romantische“. Doch freilich nicht in dem hier in Bezug genommenen kulturhistorischen Gegensatz, sondern mit Blick auf die eigene Evolutionstheorie des Rechts. Für Jhering, der den „Kampf ums Recht“ lehrte, musste die Vorstellung von Recht, das sich wie die Sprache langsam und stet aus dem Volksgeist entwickele, eine unzureichend langweilige „romantische“ Rechtslehre sein. Das ist Jhering’sche Polemik. Gemessen an der juristischen Methodologie des Gefühls war der Romantiker nicht Savigny, sondern Jhering: „… die Kraft des Rechts ruht im Gefühl, ganz so wie die der Liebe; der Verstand kann das mangelnde Gefühl nicht ersetzen“ (aaO., S. 42). Diesen Gegensatz hat auch Radbruch, Über das Rechtsgefühl, Die Tat 6 (1914/15), 337 ff. deutlich herausgestellt: „Wie das Stammwort ‚Gefühl‘ – ein junges Wort, Losung und Feldgeschrei des Sturms und Drangs und der Romantik und dadurch der Sprache erst in seinem heutigen Sinne recht erschlossen –, so ist auch die Zusammensetzung ‚Rechtsgefühl‘ ein Programmwort; ein Wort geprägt von der Sehnsucht, nicht von der Erfahrung (…).“ 38 Man störe sich hier nicht an einem ‚philologischen‘ Jahr (zum Entstehungszeitpunkt bereits oben). Immerhin an den Jahrbüchern gemessen war es ein recht langes Jahr, das Jahr 1861: Band 4 mit dem Aufsatz zur c. i. c. und Band 5 mit dem Nachruf auf Savigny drängen sich in dieses Jahr. 39  „Briefe eines Unbekannten“, Preußische Gerichtszeitung: Briefe 1 und 2 im Jahr 1861; Brief 3 im Jahr 1862; Briefe 4 und 5 im Jahr 1863; und der letzte 6. Brief schließlich 1866. 40 Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 24.

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maskus-Erlebnis“41, das ihn vom Saulus formaler Quellenexegese und rein begrifflicher Konstruktion zum Paulus einer am „Leben“ orientierten praktischen Gerechtigkeit hätte werden lassen.42 Seine „Wandlung“ war vielleicht eine Abkehr vom Quellendogma einer Wissenschaft, die den „Cultus des Logischen“43 zum Götzendienst erhebt. Doch eine Abkehr impliziert noch keinen Wandel. Die These von einem solchen hat Jhering noch selbst in der ihm eigenen Art übertrieben deutlich durch seine Selbstbeschreibung in „Scherz und Ernst“ für die staunende Nachwelt inszeniert, und Generationen haben sein Lied schlicht nachgesungen: „Es gab eine Zeit, wo Puchta mir als Meister und Vorbild der richtigen Methode galt, wo ich so tief in derselben befangen war, daß ich das Vorbild hätte überbieten können. Ich habe noch eine Reihe von angefangenen, zum Theil weit ausgeführten Arbeiten, die im Geist dieser Methode entworfen waren (…). Daß bei der legislativen Gestaltung … andere Gesichtspunkte in Betracht kamen, als das Interesse einer apriorischen logischen Konstruktion, davon hatte ich damals gar keine Ahnung, und ich erinnere mich noch, wie gering ich von befreundeten Praktikern dachte, welche die zwingende Kraft meiner Ideen und Deduktionen nicht zu begreifen vermochten. Kurz, es kann kaum jemand ein solcher Fanatiker der logischen Methode gewesen sein, als ich zu seiner Zeit (…). Aber dann kam bei mir der Umschwung.“44

Bibliotheken an Sekundärliteratur sind diesem Bild in der Beschreibung des wunderbar in der Gestalt Jherings sich offenbarenden Fortschritts der Rechtswissenschaft mit Beifall gefolgt. Doch eine Ab-kehr macht weder eine Bekehrung noch einen Fort-schritt. Der Abschied von der einen gibt noch keine 41  Auf Kantorowicz’ „Jherings Bekehrung“ (DRiZ 1914, 84 ff.) folgte Wieackers „Damaskus“ (Privatrechtsgeschichte, 1967, S. 451: „Dieses Damaskus beherrscht alle späteren Werke.“), allerdings selbst wieder relativiert in ZSRom 86 (1969), 1/23 ff. 42  Prägend Larenz, Methodenlehre (1991), S. 44: „Jherings Wendung zu einer pragmatischen Jurisprudenz“; hierzu auch Fikentscher, Methoden des Rechts III (1976), S. 250 f., 273 ff. m. N.; Behrends, Rechtsgefühl (1986), S. 70 ff.; ders., Rudolf von Jhering (1987), S. 229 ff.; zusammenfassend ders., Vorwort, in: Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868), S. 7: es handele sich um eine „in mehreren Veröffentlichungen bekundete Abkehr von der unkritischen Gläubigkeit eines Begriffsjuristen und dem Durchbruch zur vollen praktischen Verantwortung vor den jeweiligen Gerechtigkeitszwecken der Rechtsbegriffe.“ Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1967), S. 451 ist da eher nebulös: „… endgültige Verabschiedung der idealistischen Rechtsmetaphysik Kants …“, „… die Wendung vom Traum zur Tat …“, „… von der logischen Phantasie zur sozialen Wirklichkeit …“ u. ä., schließlich wird Jhering zum Vorzeige-Naturalisten: „Juristischer Formalismus und Naturalismus sind notwendig aufeinanderfolgende Phasen einer Rechtsanschauung, die sich einer überpositiven Rechtsidee entschlagen hat und nun an Surrogaten orientieren muß. Jherings wissenschaftlicher Weg ist das persönliche Symbol dieses Vorgangs.“ (S. 452 f.). 43 Jhering, Geist des römischen Rechts III (1865), § 59, S. 302 f.: „Brechen wir den Bann, mit dem der Irrwahn uns gefangen hält. Jener ganze Cultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Mathematik des Rechts hinaufzuschrauben gedenkt, ist eine Verirrung und beruht auf der Verkennung des Wesens des Rechts. Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern die Begriffe sind des Lebens wegen da. Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postulirt, hat zu geschehen (…)“. 44 Jhering, Scherz und Ernst (1884, 11. Auf. 1912), S. 338.

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neue Form, in der nun die Rechtswissenschaft sich gestalten konnte. Es gab bei Jhering – im Gegensatz zum Paulus der Religionsgeschichte – gerade keine leuchtende Erscheinung einer neuen Wahrheit, hier also keine neue Methode der Rechtsfindung, zu der er sich hätte „bekehren“ können. Insbesondere war es nicht die immer wieder viel beschworene „Wendung“ von einer am Buchstaben hängenden „Begriffsjurisprudenz“ zu einer am „Leben“ orientierten pragmatischen Rechtswissenschaft, der sich Jhering nunmehr zugewandt hätte;45 denn die Anschauungen des „Lebens“ und der Gedanke einer für die Praxis tauglichen Theorie spielten bei Jhering schon immer eine ganz zentrale Rolle. Seine rechtssoziologischen Ausführungen bereits in der ersten Auflage des 1. Bandes zum „Geist des römischen Rechts“ (1852) sprechen hier eine deutliche Sprache:46 „Eine weitere Ausführung dieses Gedankens, daß jedes Recht nur vom Standpunkt des wirklichen Lebens aus begriffen werden kann, ist selbst für Laien unnöthig …“.47 Kurz: Die These von einem plötzlichen Wandel bei Jhering ist eine hübsche pointierte Fiktion der rechtswissenschaftlichen Nachwelt, die den Kern seiner wirklichen methodologischen Krise gar nicht erfasst. Die Orientierung am „Leben“ und die Notwendigkeit der realen Anschauung der konkreten Rechtsverhältnisse können als Grundlehren der historischen Rechtsschule48 gelten, die bei Jhering von Anfang an präsent und deshalb auch gleichsam selbstverständlich gewesen sind.49 Jhering und die seinen kritischen Selbstbeschreibungen folgenden späteren Deutungen vollziehen im Grunde mit großem Lärm eine Einsicht, die Savigny bereits 1814 ganz nüchtern und selbstverständlich formuliert hatte: „Das Recht nämlich hat kein Daseyn für sich, sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst (…). Wenn sich nun die Wissenschaft des Rechts von diesem ihrem Objecte ablöst, so wird die wissenschaftliche Thätigkeit ihren einseitigen Weg fortgehen können, ohne von einer entsprechenden Anschauung der Rechtsverhältnisse selbst begleitet zu seyn; die Wissenschaft wird alsdann einen hohen Grad formeller Ausbildung erlangen können, und doch alle eigentliche Realität entbehren.“50

Jhering hatte sich bei seinen dogmatischen Konstruktionen im „Cultus“ des Logischen, des Begrifflichen und Prinzipiellen verrannt. Es gab diese Einsicht, 45  Vgl. nur Erik Wolf, Große Rechtsdenker (1963), S. 642 ff.; Larenz, Methodenlehre (1991), S.  45 f. 46 Jhering, Geist des römischen Rechts I (1852), S. 41: „Die Function des Rechts im allgemeinen besteht nun darin, sich zu verwirklichen. Was sich nicht realisirt, ist kein Recht (…). Die Wirklichkeit beglaubigt erst den Text … als wahrhaftes Recht. (…) Warum die Rechtssätze da sind, was sie sollen, wie sie durch das Leben in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt oder unterstützt werden u. s. w. – auf alle diese Fragen ertheilt nur das Leben selbst eine Antwort.“ 47  Jhering, Geist des römischen Rechts I (1852), § 4, S. 41. 48 Hierzu nur Rückert, Historische Rechtsschule, JZ 2011, 1 ff. 49  Zum methodologischen Gegensatz von historischer Rechtsschule und moderner Rechtsdogmatik unten § 5 III.3. 50 Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 30.

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aber keine wirkliche Perspektive. Die einzige in der Methode Savignys verkörperte Alternative, im synthetischen Gebrauch der praktischen und theoretischen Vernunft die Anschauung der realen Rechtsverhältnisse mit dem empirischen Stoff des römischen Rechts (Anschauung und Begriffe als Grundelemente aller Erkenntnis) in schöpferischer Synthese diszipliniert in einem System zu vereinen,51 war ihm offenbar bereits aus einer persönlichen Antipathie suspekt. Kants Philosophie war ihm bis dato genauso unbekannt,52 wie seinem freien, sprunghaften Geist systematisches Denken unangenehm war.53 Anders als die namhaften Kollegen seiner Zeit, die alle ihre Pandekten publizierten, hat Jhering nie ein eigenes für die praktische Rechtsanwendung konzipiertes System des Rechts vorgelegt. Seine dogmatischen Arbeiten blieben punktuell und im Prinzipiellen immer pointiert extrem. Vielleicht war es eben das, was er kritisch an sich selbst bemerkte: Prinzipien und Logik verführten ihn zu voreiligen Schlüssen und zweifelhaften Deduktionen. Die Logik lag ihm nicht. Nun, nach seiner ausgesprochenen Selbsterkenntnis und der Abkehr vom „Cultus des Logischen“ galt dies erst recht. Vor allem aber hat er wohl zeitlebens den systematischen Ansatz Savignys missverstanden und in Gestalt der Vorstellung von aus dem „Volksgeist“ langsam emporwachsenden Rechtsinstituten bis zuletzt auf das Entschiedenste bekämpft. Hier sah Jhering von nun an seinen eigentlichen methodologischen Gegner, für dessen Wahrheiten er bis zu seinem Spätwerk tatsächlich zum blinden Saulus wurde.54 51  Ausf. zum umfassenden methodologischen Ansatz bei Savigny: Benedict, Savigny ist tot! (2011). 52 Vgl. die treffende Anmerkung von Wieacker: „In Jherings Bewußtsein wird man immer damit rechnen müssen, daß er einer der wenigen großen Begriffsjuristen des 19. Jhdts. ist, der kein redliches und genaues Kantstudium getrieben hat. Er hat nicht aus einem besseren methodischen Wissen in einer bestimmten methodischen Lage seiner Wissenschaft einen Hinweis gegeben, sondern umgekehrt, aus dem Zentrum der juristischen Not hat er mit diesen Mitteln versucht, diese empfundene Not in einer Methode auszudrücken, zu beschreiben. Das ist immer das Auffallende und Erschütternde bei Jhering.“ (Diskussionsbeitrag in: Blühdorn / ​Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, S. 180). 53  Vorsichtig und gleichwohl punktgenau schon Merkel, Jhering, JhJb 32 (1893), 6/23: „Und davon abgesehen ergiebt sich eine gewisse Inkongruenz zwischen manchen seiner Ausführungen aus der Lebhaftigkeit, mit der er die jeweils betrachtete Seite der Dinge ergreift (…) Ein affektloses Sinnen und Brüten über der gesammten Fülle der Arbeits‑ und Lebensergebnisse, woraus eine widerspruchslose, alles gleichmäßig umfassende Totalanschauung der Dinge hervorgehen mag, war nicht Jherings Stärke.“ 54  Vgl. nur die Vorrede zu seiner Spätschrift „Der Besitzwille“ (1889), bei der es ihm erklärtermaßen um eine „Kritik der herrschenden juristischen Methode“ ging. Jhering hat offenbar nie die Bezähmung seiner Sprunghaftigkeit durch die Disziplinierung einer systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes erfahren. Entsprechend spät erst konstatiert er in einem Schreiben an Windscheid, der ja geradezu paradigmatisch für den systematisch getragenen Ansatz der Pandektistik steht: „Du weißt, daß wir auseinandergehen … Aber es stände schlimm um unsere Wissenschaft, wenn neben mir nicht ein Mann wie Du stände (…).“ (Brief v. 18. März 1886). Doch selbst die immer wieder so vehement vorgetragene Kritik an der „Volksgeist-Lehre“ bleibt hier theoretische Rhetorik, die er nicht durchhält: „… die Wahrnehmung des wahren

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Was aber blieb als eine vermeintliche Gewissheit darüber, wie seiner Ansicht nach Rechtsfindung jedenfalls nicht aussehen konnte? Eine positive Definition fehlte, und so wurde Jhering zum Faust der Pandektistik: auf unsteter Suche nach dem, was das Recht zusammenhält, einer Suche nach der letzten „wahren Rechtsquelle“, d. h. einer neuen Methodenlehre der Rechtsfindung. Doch bevor er sich von seinem noch primär rechtshistorischen Werk über den „Geist des römischen Rechts“55 seinen sodann von der Ausschließlichkeit der ratio scripta des römischen Rechts gelösten rechtsphilosophischen Betrachtungen über den „Kampf ums“ und dem „Zweck im Recht“ zuwenden konnte, musste der Weg hin zur Anerkennung der praktischen Vernunft als Autorität für die Rechtsfindung erst zurückgelegt werden. Auch hier ist es sicherlich kein Zufall, dass der letzte Band zum „Geist“ in diese Zeit fällt und das historische Großprojekt damit unvollendet bleibt. Spätestens in seiner Wiener Antrittsvorlesung 1868, in der er die Notwendigkeit einer Harmonie von Geschichte und Philosophie für eine wissenschaftliche Rechtsdogmatik beschwor,56 war der Schritt zu einer neuen rechtswissenschaftlichen Grundlage jedenfalls programmatisch vollzogen. Sein mit der Kreation der c. i. c. dogmatisch folgenreichster Aufsatz fällt hingegen noch in das methodologische Tief seines grundsätzlichen Umbruchs. Die Ungenügsamkeit der Konsequenzen des Willensdogmas trug er „schon seit Jahren“ mit sich herum,57 aber es fehlte das methodologische Handwerkszeug, bessere Ergebnisse auch juristisch deduzieren zu können. Da musste denn sein kurz zuvor als „Damaskus“ interpretiertes Schlüsselerlebnis wie ein Katalysator wirken: Das Rechtsgefühl, nicht die Quellenexegese zeigt den rechten Weg. Die Abkehr vom lang gehegten Glauben an die ratio scripta des römischen Rechts führte in dieser Phase zur öffentlichen Proklamation seiner Gefühlsjurisprudenz: Sachverhältnisses war hier nicht Sache des juristischen Denkens, sondern der naiven Volksauffassung (…), und ich betrachte es als keinen kleinen Gewinn der von mir hier entwickelten Ansicht, daß ich damit … eine volksthümliche Basis gewonnen habe.“ (Besitzwille, S. 103 f.). 55 Man darf insoweit die Klarstellung in der 2. Auflage des 1. Teils: „Man würde den ganzen Zweck meines Werkes verkennen, wenn man es als ein wesentlich rechtshistorisches auffassen wollte“ für die hier von mir vorgenommene Differenzierung nicht überbewerten. Das so gefasste Vorwort stammt aus dem Jahr 1866, und da ging es Jhering zum einen darum, sein neues Programm (Rechtsfindung jenseits des römischen Rechts) zu unterstreichen, und zum anderen darum, sich von der Einordnung in die „historische Rechtsschule“ und einer Deutung des Begriffs „rechtshistorisch“ zu distanzieren, mit „dem unsere heutige Wissenschaft die Aufgabe der Rechtsgeschichte erfaßt und zu lösen sucht“ (Vorwort, aaO.); im Jahre 1884 hat Jhering die Sache auch klar zu Papier gebracht: „ Es ist mir nicht leicht geworden, von einem Werk zu scheiden, in dem ich die Aufgabe meines Lebens erblickt hatte, und zu dessen Fortsetzung und Beendigung alle Vorarbeiten vor mir lagen, aber … Das reale Interesse der Gegenwart steht mir höher als das der historischen Erforschung der Vergangenheit …“ (Scherz und Ernst in der Jurisprudenz: „Wieder auf Erden, wie soll es besser werden?“, S. 340). 56 Hierzu der von Behrends 1998 erstmals aus dem Nachlass herausgegebene Vortrag vom 16. Oktober 1868 „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?“. 57  Vgl. die Mitteilungen zur Entstehungsgeschichte von Jhering selbst: Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1 f., 52.

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§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“

„Leihen Sie der Stimme Ihres Rechtsgefühls Gehör. Dann erst lassen Sie die theoretische Begründung folgen (…). Führt diese zu einem abweichenden Ergebnis, so ist sie nichts wert.“58

Hier wird sie erstmals offen ausgesprochen, die Lehre, die unter dem Einfluss der Freirechtsschule heute ein nur noch milde belächeltes offenes Geheimnis darstellt: Die dogmatische Begründung ist letztlich nur noch „das Ergebnis  – ihres Ergebnisses“.59 Und in eben diesem Geist gehen dogmatisches Handwerk und die vermeintlich gefühlten „Forderungen des Lebens“ beim vermeintlich ‚bekehrten‘ Jhering eine folgenreiche Symbiose bei der Konstruktion der culpa in contrahendo ein. Der aufgestaute Druck zum Wandel im Rechtsdenken fand in den praktischen Folgen des Willensdogmas einen geeigneten Stoff und in dem Ausruf „Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf?“60 eine neue suggestive Methodenlehre: Erst wird das Ergebnis gefühlt, dann wird eine juristische Begründung konstruiert! 2. Rechtsgefühl und Prinzipienkultus „… indem diejenigen, die nicht denken können … sich durchs Fühlen auszuhelfen glauben (…).“ Immanuel Kant, 178561 „Wir werden nicht Unrecht tun, wenn wir ungebildeten rohen Völkern zurufen: Das Wenigste von der Rechtswelt, die Euch umgibt, habt Ihr begriffen, das meiste entzieht sich Eurem Auge und lebt bloß in Eurem Gefühl (…).“ Rudolf v. Jhering, 185262

Für die Beurteilung der Jhering’schen Konstruktion, der späteren Wiederbelebung der c. i. c. und der heutigen uneingeschränkten Wertschätzung dieses Instituts ist hier zunächst eine kritische Analyse der neuen emotionalen ‚Methode‘ unausweichlich und daher an den Anfang der weiteren Betrachtung zu stellen. Das gilt nicht nur deshalb, weil der Appell an „Billigkeit“ und „Rechtsgefühl“ bis auf den heutigen Tag eng mit der culpa in contrahendo und dem Glauben an ihre Notwendigkeit verbunden ist, sondern auch und vor allem deshalb, weil der Rekurs auf das Rechtsgefühl zum einen zumindest denjenigen, die eine rationale Argumentation zur Begründung von Urteilen vorziehen, wenig plausibel erscheint,63 und zum anderen neuerlich eine erstaunliche und zuweilen historisch 58  So die Methodenlehre, die er in jener Zeit seinen Schülern verkündete (zitiert bei Erik Wolf, Große Rechtsdenker, 1963, S. 644, Fn. 66). Klar formuliert dann auch in seinem letzten Band zum Geist: „Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postulirt, hat zu geschehen (…).“ (1865, § 59, S. 302 f.). 59  Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (1952), S. 161; ausf. unten § 5 I. 60 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/5. 61  Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1782), S. 442. 62  Geist des römischen Rechts I (1878), S. 30. 63 Statt aller nur F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1991), S. 152;

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wenig reflektierte Konjunktur erlebt.64 Manche meinen gar, wir lebten in „postfaktischen“ Zeiten, in denen die Emotionalität über der rational begründeten Entscheidungsfindung steht. Für die Rechtswissenschaft ist das freilich keine neue Erkenntnis.65 Es geht, so könnte man zugespitzt formulieren, um die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz ganz generell: Die methodologische Grundauffassung prägt die dogmatische Konstruktion. Welche Rolle spielt das Gefühl oder  – um den moderneren Ausdruck zu gebrauchen  – die (juristische) Intuition bei der Rechtsfindung? Diese Frage wird bis heute auch im philosophischen Diskurs kontrovers beantwortet. Jhering hat nun offenbar den philosophischen Intuitionismus, wonach allein das Gefühl in der Lage sei, Werte und Werturteile wahrzunehmen, zuerst für die juristische Methode fruchtbar zu machen gesucht.66 Der Methodologie des Rechtsgefühls hing er seit seiner Abwendung vom „Cultus des Logischen“ zeitlebens wie kein anderer an: Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (7. Aufl. 2012) sogleich in seinem Vorwort mit Hinweis auf BVerfGE 34, 269/287: „… daß die Entscheidung des Richters ‚auf rationaler Argumentation beruhen‘ muß.“ 64 Hierzu nur etwa: Audi, The Good and the Right. A Theory of Intuition and Intrinsic Value (2004); Gigerenzer, Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition (2007); Hänni, Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung. Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwendung (2011); Nussbaum, Political Emotions. Why Love Matters for Justice (2013); und die Beiträge in: Jonas Bens / ​Olaf Zenker (Hrsg.), Gerechtigkeitsgefühle. Zur affektiven und emotionalen Legitimität von Normen (2017). 65  Ausf. zum Problem der modernen Gefühlsjurisprudenz unten § 5 I. (Rechtstheoretische Krise II). 66  Die philosophische Grundlegung findet sich in der (insb. schottischen) Moralphilosophie, wonach das (angeborene) moralische Gefühl (moral sense; common sense) den Ausgangspunkt von Ethik und Recht bildet: Shaftsbury, Characteristics of men, manners, opinions, times (1711); Hutcheson, Essay on the nature of the passions and affections (1728); System of moral philosophy (1755); Hume, A Treatise of Human Nature (1739/40); Inquiry concerning human understanding (1748); Inquiry concerning the principles of morals (1751); Adam Smith, Theory of moral sentiments (1759). Dieser Ansatz des ethischen Sensualismus hat im 18. und 19. Jahrhundert weite intellektuelle Aufnahme in Frankreich (etwa: Étienne Bonnot de Condillac, Traité des sensations, 1754) und Deutschland gefunden. In Deutschland vom säkularisierten Pietismus über die Phase der „Empfindsamkeit“ (von Klopstock, Gellert bis zum jungen Goethe) zur Gefühlsphilosophie der Romantik und die Faszination für das „Ich“, den „Willen“, das „Bewusstsein“ und das „Gewissen“ im deutschen Idealismus, vermittelt vor allem durch Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), der zuerst dem Gefühl objektiven Erkenntnischarakter zuspricht („Und so gestehen wir denn ohne Scheu, daß unsere Philosophie von dem Gefühl, dem objecktiven nämlich und reinen, ausgeht; daß sie seine Autorität für eine allerhöchste erkennt, und sich als Lehre von dem Übersinnlichen auf diese Autorität allein gründet.“) und zuerst mit dem Begriff „Intuitionsphilosophie“ in Verbindung gebracht wurde (Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, Bd. 5, 1829, S. 140). Ein über die allgemeine Gefühlskultur der Zeit hinausgehender philosophisch reflektierter Bezug lässt sich für diese frühe Phase der Gefühlsjurisprudenz bei Jhering nicht leicht feststellen. Sicher ist, dass er jedenfalls Adam Smith gelesen hat. Eine tiefere Beschäftigung mit philosophischen Ansätzen beginnt spätestens mit der Arbeit zum „Zweck im Recht“. Unmittelbare Vorläufer für eine juristische Ausdeutung des Gefühls (als Rechtsgefühl) hat Jhering aber sicher in der romantischen Literatur bei H. v. Kleist (Michael Kohlhaas, 1810) und Friedrich Schlegel (Reise nach Frankreich, 1803) gefunden: „gefühlte Rechtlichkeit, die mehr ist als die Gerechtig-

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§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“

„Die erste und ursprüngliche Quelle des Rechts liegt in jedes Menschen Brust (…).“67

Woher diese Quelle aber kommt und wie es angeht, dass aus dieser Quelle Verbindlichkeit entspringt, d. h. ein für jeden Menschen (mit ganz eigenen Rechtsgefühlen) verbindliches Recht wird, das war Jhering zunächst noch unklar. Die Etappen seiner gedanklichen Entwicklung zum Thema „Rechtsgefühl“ sind dabei gewissermaßen in seinen drei Wiener Vorträgen (vom 16. Oktober 186868, 11. März 187269 und 12. März 188470)71 manifestiert. Seine erste Intuition zum Thema Rechtsgefühl folgte dem Nächstliegenden: seiner eigenen Erfahrung beim Umgang mit vorschnellen theoretischen Abstraktionen und juristischen Schlussfolgerungen. Und hier war ihm das Rechtsgefühl zuallererst als ein Korrektiv zu einer im „Cultus des Logischen“ befangenen (eigenen) Jurisprudenz erschienen: a) Theorie und Praxis: Das Rechtsgefühl als Korrektiv juristischer Konstruktion „Es ist in der That ein anderes Ding, unbekümmert um die Folgen und das Unheil, das ein Rechtssatz, den man in den Quellen zu lesen oder aus der Consequenz zu entnehmen glaubt, im Leben anstiftet, sich rein theoretisch mit ihm abzufinden oder aber ihn zur Anwendung zu bringen. Eine ungesunde Ansicht, wenn sonst nur das Subject selbst noch gesund ist, hält eine solche Probe nicht aus.“ Rudolf v. Jhering, 185972

Sicher war Jhering sich nach seinen dogmatischen Erfahrungen zunächst nur, dass offenbar allein das Rechtsgefühl die Instanz sein konnte, die vor „ungesunder“ Theorie und einer dem Leben abträglichen und insoweit unpassenden keit des Gesetzes und der Ehre“, ein „hoffentlich nie ganz zu vertilgender Zug des deutschen Charakters“ und, wenn man nicht am Begrifflichen kleben mag, ggf. in der idealistischen Philosophie von einem unhintergehbaren Gewissen. Das Gefühl war in der kulturellen Entwicklung der Zeit jedenfalls die erste Alternative zu der von der Aufklärung hypostasierten „Vernunft“. 67 Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868), S. 67; ebenso Behrends in seiner Anmerkung, S. 86, Fn. 106: „Das ‚Rechtsgefühl‘ ist das Leitthema Jherings nach seinem Umschwung.“ 68 Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? 69 Der Kampf ums Recht. 70  Über die Entstehung des Rechtsgefühles. 71  Der Einfachheit halber beginne ich die chronologische Zählung der Wiener Vorträge mit der erstmals 1998 von Okko Behrends herausgegebenen Antrittsvorlesung vom 16. Oktober 1868 (Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?) neu. Der zweite Vortrag ist in dieser Zählung mithin die Abschiedsvorlesung „Der Kampf ums Recht“ (1. u. 2. Aufl. 1872) und der dritte ist dann der bisher als „zweiter Vortrag“ (prägend Wieacker, Jhering und der „Darwinismus“, in: 1. FS Larenz, 1973, S. 63, 88) bezeichnete vom 12. März 1884 „Über die Entstehung des Rechtsgefühls“ (erste zusammenhängende Veröffentlichung in: Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht. Ausgewählte Schriften mit einer Einleitung von Gustav Radbruch; herausgegeben von Christian Rusche, 1965; zuletzt mit Vorbemerkung und Interpretations‑ und Einordnungsversuch von Behrends, 1986). 72 Gefahr beim Kaufcontract I, JhJb 3 (1859), 449/450.

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Rechtskonstruktion bewahren sollte. So wurden ihm der Praktiker und der praktische Fall zum Hort gesunder Prüfung kranker Theorie und das „Rechtsgefühl“ das methodologische Instrument der richtigen Diagnose: „Der Richter soll nicht allein denken, er darf auch fühlen, d. h. er soll das Gesetz, bevor er es anwendet, der Kritik seines Rechtsgefühls unterwerfen, und wenn diese Kritik ungünstig ausfällt, darin die Veranlassung erblicken, das Gesetz einer erneuerten Prüfung zu unterwerfen, und diese Prüfung wird ihn nicht selten dieselbe Erfahrung machen lassen, deren ich vorher in meiner Person gedacht habe, nämlich dass die Unbilligkeit oder Anstößigkeit eines Rechtssatzes nicht in ihm selber, sondern in einer falschen Auffassung desselben seinen Grund hat.“73

Hier wird also nicht einer subjektiven Gefühlsjurisprudenz das Wort geredet, bei der zuerst gefühlt und dann vom Ergebnis her konstruiert wird, sondern es wird das Rechtsgefühl einer von Jhering bekämpften Jurisprudenz entgegengestellt, die aus den Rechtsquellen abstrakte Rechtssätze herausliest, welche nicht den Quellen, sondern dem lediglich begrifflich operierenden Geist des Exegeten entspringen. Dieser Richtung hat er später mit dem prägenden Namen „Begriffsjurisprudenz“ einen bleibenden Stempel aufgedrückt. Nicht das Gesetz wird verworfen, sondern der interpretierende Geist, der pauschal abstrahierend unbrauchbare allgemeine Rechtssätze abstrahiert und aus diesen „Consequenzen“ zieht, die jeder Lebenswirklichkeit spotten. Es ist nun nicht so, dass Jhering das Pathologische dieser Methode zuerst bei seinen Kollegen bemerkt und sodann kritisiert hätte. Objekt seiner methodologischen Beobachtung ist er selbst, und zwar in der Betrachtung seiner frühen dogmatischen Abhandlungen. Diesen hatte er eine gemeinsame „Tendenz“ konzediert: nämlich nicht, wie es der historische Anspruch seiner Zeit war, „die Theorie des römischen Rechts, soweit sie von den römischen Juristen selbst ausgebildet war, darzustellen und sich damit zu begnügen“, als vielmehr, „über dieselbe hinauszugehen und Consequenzen zu ziehen, die sie nicht gezogen“ haben.74 In dieser rechtswissenschaftlichen Ambition handelt es sich also um die dogmatische Seite seines späterhin im „Geist“ berühmt formulierten Diktums „durch das römische Recht über das römische Recht hinaus“. In der Sache sind diese frühen „Abhandlungen“ dann allerdings schnell verfertigte Verallgemeinerungen von Aussprüchen juristischer Klassiker aus den Digesten, bei denen

73  Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868), S. 88; so auch schon zuvor S. 86: „Der Richter wird oft nicht umhin können, einen Rechtssatz anzuwenden, ein Resultat herbeizuführen, das er beklagt und so in den Ausruf des römischen Juristen einzustimmen: lex perquam dura, sed ita scripta est. Aber wenn nicht jedes Gefühl in ihm ertödtet ist, wird er in dem Widerspruch, den sein Rechtsgefühl gegen einen solchen Satz erhebt, nun den Anlaß zu erneuerter Prüfung des Rechtssatzes erblicken und gleich mir nicht selten die Erfahrung machen, dass dieser Nothstand, in den der Rechtssatz ihn versetzte, nur in einer schlechten, ungenauen, einseitigen Fassung desselben seinen Grund hat.“ 74 Jhering, Abhandlungen aus dem römischen Recht (1844), Vorwort S. VI.

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Jhering selbst schon die Frage aufwirft, ob er da nicht zuweilen zu weit gegangen sei: „… eine Frage, deren Beantwortung er nicht ohne Besorgnis entgegen“75 sah. Kurz: Jhering verarbeitet in seinem Bekenntnis zum Rechtsgefühl als dogmatischem Korrektiv unter anderem und insbesondere die Lehre seiner Konstruktion vom „doppelten Kaufpreisanspruch“ als eigene Erfahrung. In Beantwortung der Frage: „Kann der Verkäufer, welcher Mehreren hinter einander abgesondert dieselbe Sache verkauft hat, im Fall ihres casuellen Untergangs von jedem der Käufer den Kaufpreis fordern?“ hatte Jhering kurzerhand die wunderliche These vertreten, dass dem sehr wohl so sei, und diese seine Antwort im Wesentlichen aus dem Begriff des „Kaufvertrages“ deduziert. In seiner dann 1859 erschienenen Revision hat er klargestellt, dass der Fehler nicht in den Quellen selbst, sondern in seiner leichthin en passant vorgenommenen abstrakt-begrifflichen „Consequenz“ gelegen und die zu einem praktisch ganz unvertretbaren Ergebnis geführt habe.76 Mit dieser Revisionsschrift wird die bereits erwähnte emphatische Wendung Jherings zur praktisch orientierten Jurisprudenz datiert. Doch dass diese Revision, wie bereits dargelegt, keineswegs als ein plötzliches „Damaskus-Erlebnis“ zu deuten sein kann, wird gerade bei genauerem Blick auf den Ursprungstext noch einmal besonders deutlich. Das methodologische Problem seiner früheren Abhandlung hat Jhering nämlich bereits in derselben registriert und klargestellt, dass nämlich „… das Bestreben, die Aeußerungen des Paulus in der l. 21. de her. vend. (18.4) zu rechtfertigen sowie den behandelten Stoff auf ein einfaches Princip zurückzuführen, mich verleitet hat, die Aeußerungen mancher anderer römischer Juristen in einem Sinne zu verstehen, wie ich es bei größerer Unbefangenheit vielleicht nicht gethan haben würde. Hätten alle römischen Juristen die rigorose Consequenz des Paulus getheilt, so würde ich den Vorwurf nicht fürchten, auf den ich jetzt allerdings gefasst bin: meinem Princip zu Liebe Consequenzen zugegeben zu haben, zu denen sich die römischen Juristen in ihrem Billigkeitsgefühl nicht verstanden haben würden.“77

Hier findet sich ein ganz wesentlicher Punkt für Jherings eigene und alle sonstigen pathologischen Konstruktionen angesprochen: Der merkwürdige Ehrgeiz, die Lösung ganz vielfältiger Probleme auf ein einfaches Prinzip zurückführen zu wollen, ohne sich um die praktische Tragbarkeit der daraus folgenden Consequenzen viele Sorgen zu machen. Das „Billigkeitsgefühl“ galt Jhering also bereits 1844 als Korrektiv einer auf einfache Prinzipien reduzierenden und aus diesen deduzierenden Jurisprudenz.  Jhering, Abhandlungen aus dem römischen Recht (1844), Vorwort S. VII. Gefahr beim Kaufcontract I, JhJb 3 (1859), 449/453: „Indem ich mich jetzt der Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage zuwende, will ich zunächst einen Irrthum berichtigen, der, so lange er anhielt, den Weg zum Richtigen völlig versperrte. Ich habe nämlich früher angenommen …, daß Paulus in der berühmten l. 21 de hered. vend. (18.4) unsere Frage, ob der Verkäufer von jedem der mehren Käufer den Kaufpreis fordern könne, bejahe, während dies in der That keineswegs der Fall ist (…).“ 77 Jhering, Abhandlungen aus dem Römischen Recht (1844), S. 86. 75

76 Jhering,

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Erst 24 Jahre später erhält dieses „Gefühl“ in seinem ersten Wiener Vortrag (1868) nun namentlich als „Rechtsgefühl“ einen methodologisch näher begründeten Rang, den wir auch als eine Warnung vor leichtfertiger juristischer Konstruktion bezeichnen können. Die praktischen „Consequenzen“ einer Rechtsanwendung sind demnach bei der Konstruktion des Rechtssatzes mit zu berücksichtigen, weil sie einen davor bewahren, allein aufgrund der Faszination für eine theoretische Konstruktion juristische „Consequenzen“ als Recht zu deduzieren, die der Sache bei genauerer Betrachtung nicht gerecht werden. Der Fehler liegt nicht in den (positiven) Rechtsquellen, sondern im Prozess der Rechtsfindung. Und diese Erfahrung wird als Warnung fortan zu einem zentralen Lehrsatz, und dieser Lehrsatz wird existenziell mit dem Begriff des Rechtsgefühls verquickt. So stehen für Jhering die Begriffe „Theorie“, „Logik“ und „Princip“ für die rein begrifflichen – und die Begriffe „Praxis“, „Leben“ und „Rechtsgefühl“ hingegen für die realen „Consequenzen“ der Rechtsfindung. Ziel seines methodologischen Wandels ist es demnach primär, Theorie und Praxis stärker als bisher miteinander zu verbinden, weil nur die Praxis ein Korrektiv für ungesundes Theoretisieren sein könne. In seiner Revisionsschrift von 1859 stellt Jhering zusammenfassend klar: „Hätte ich damals (…) die Frage, anstatt bloß theoretisch, praktisch an einem wirklichen Rechtsfall zu entscheiden gehabt, wie ich vor kurzem dazu genöthigt war, vielleicht wäre damals schon die richtige Ansicht bei mir zum Durchbruch gekommen.“78

Der praktische Fall und der sensible Blick für die praktischen Konsequenzen kennzeichnen demnach die Nagelprobe, an der sich ein theoretisch mit „Consequenz“ aufgestellter Rechtssatz bewähren muss.79 Dass dann bei der Prüfung einer juristischen Entscheidung das Rechtsgefühl die erste Instanz der Wertung ist, wird man aus heutiger Sicht nicht unbedingt bestreiten wollen; und dass wir vor allem dann einem Rechtssatz kritisch gegenüberstehen, wenn er unserem „Rechtsgefühl“ (was immer das genau sein mag) widerstrebt, auch nicht. Ob es deswegen passend und sinnvoll ist, den praktischen Blick für die Rechtsanwendung mit dem Rechtsgefühl unauflöslich zu verbinden, mag hingegen bezweifelt werden, weil sicherlich auch kein Theoretiker leugnen würde, über so etwas wie eine juristische Intuition oder ein Rechtsgefühl zu verfügen. Dass die „Stimme des Rechtsgefühls … in jedem Menschen sich erhebt“80, ist schließlich auch für Jhering selbstverständlich. Im Kern geht es ihm, der immer gerne pointiert argumentierte, bei der Begriffswahl vor allem darum, der rechnenden Logik einen radikalen Antagonismus entgegenzustellen. Und der maßgebliche  Jhering, Gefahr beim Kaufcontract I, JhJb 3 (1859), 449/450.  Jhering, Gefahr beim Kaufcontract I, JhJb 3 (1859), 449: „… daß es sich mit der Erkenntniß der wahren Natur der Rechtssätze ähnlich verhält, wie mit der der Menschen, insofern es nämlich bei beiden oft einer ganz besondern Lage, einer ungewöhnlichen, sie auf die Probe stellenden Situation bedarf, um ihr wahres Wesen zum Vorschein zu bringen.“ 80 Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868), S. 88. 78 79

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Gegenbegriff zum Verstand ist gemäß dem spätestens von der deutschen Romantik geprägten Sprachgebrauch der Zeit das Gefühl. Das Gefühl erscheint gegenüber der Rationalität als Instanz eigentümlicher Erkenntnis, die das Ganze eines Sachverhaltes intuitiv erfasst und insoweit Aspekte wahrnimmt, für die der Verstand blind zu sein scheint. Dass insbesondere Psychologie und Psychoanalyse von einer gegenteiligen Prämisse (also der Möglichkeit einer rationalen Analyse von Emotionen) leben, belegt freilich das Gegenteil: Auch Gefühlen kann und wird reflektiert (d. h. rational) auf den Grund gegangen. Gefühle sind nicht die letzte Quelle des Rechts, sondern die Erfahrungen, die als Ursache der Gefühle ausgemacht werden. Dass nun der reine, in abstrakten Kategorien denkende Theoretiker mit weniger Erfahrung aus der Praxis Rechtssätze deduziert, die der Praxis nicht unbedingt gerecht werden, liegt in der Natur der Sache. Das Problem des mit praktischen Fragen des Lebens nicht vertrauten, gleichwohl aber theoretisch selbstsicher urteilenden Juristen ist denn auch der Ausgangspunkt von Jherings in diesen Jahren erschienenen kritischen Briefe „über die heutige Jurisprudenz“ (1861–66). Zuzustimmen ist Jhering in jedem Fall in der Einsicht, dass die Konstruktion von Rechtssätzen aus einer möglichst umfassenden Anschauung der insoweit betroffenen Lebensverhältnisse und nicht nur aus geistreicher und subtiler begrifflicher Synthese und Deduktion erfolgen darf. Doch liegt eben hierin, in dem ausgewogenen Verhältnis von Theorie und Praxis, eine Erkenntnis, die bereits Savigny in seiner Schrift über den „Beruf seiner Zeit“ und dann später auch im ersten Band seines Systems bereits präzise und klar formuliert hatte, ohne dass es deswegen eines Rekurses auf den Begriff des Rechtsgefühls bedurft hätte.81 Jhering hat also streng genommen mit seiner Wendung zu Rechtsgefühl und praktischer Jurisprudenz zunächst gar nichts weiter vollzogen als eine Besinnung auf die Grundlehre der historischen Rechtsschule: Dass nämlich das Recht nur eine abgesonderte besondere Facette realer menschlicher Verhältnisse ist und auch nur aus einer Gesamtanschauung der Verhältnisse („Rechtsverhältnisse“) gewonnen werden könne.82 Das Rechtsgefühl gilt Jhering demgegenüber als In81 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 30; ders., System I (1840), Vorrede, insb. S. XX ff.: „Es beruht aber alles Heil darauf, daß in diesen gesonderten Thätigkeiten Jeder die ursprüngliche Einheit fest im Auge behalte, daß also in gewissem Grade jeder Theoretiker den praktischen, jeder Praktiker den theoretischen Sinn in sich erhalte und entwickle. Wo dieses nicht geschieht, wo die Trennung zwischen Theorie und Praxis eine absolute wird, da entsteht unvermeidlich die Gefahr, daß die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem bloßen Handwerk herabsinke. (…)“. Zum Problem juristischer Konstruktion aus dem „Cultus des Logischen“ ohne Anschauung der Rechtsverhältnisse bei der „Wiederentdeckung“ der culpa in contrahendo ausf. noch unten § 5 III.3. 82  Vgl. nur Savigny, System I (1840), § 4 zur „Allgemeinen Natur der Rechtsquellen“: Das „Wesen der Sache“, die „tiefere Grundlage“ des Rechts „finden wir in dem Rechtsverhältniß, von welchem jedes einzelne Recht nur eine besondere, durch Abstraction ausgeschiedene Seite darstellt, so daß selbst das Urtheil über das einzelne Recht nur insofern wahr und überzeugend sein kann, als es von der Gesamtanschauung des Rechtsverhältnisses ausgeht“.

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dikator für die Anschauung des realen Lebens und in Rücksicht auf dieses seien auch die Rechtssätze aus den Rechtsquellen zu bilden. In der Programmatik seiner Wiener Antrittsvorlesung (1868) war das Rechtsgefühl insoweit also Korrektiv, nicht aber, wie bei der Konstruktion der culpa in contrahendo, das Motiv logischer Konstruktion. Die Rechtsfortbildung über die Quellen hinaus sieht Jhering dort, woher auch „der Gesetzgeber“ seine „Entscheidung … nehmen würde: aus der Idee der Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit oder, wo ein Anhaltspunkt im vorhandenen Recht sich finden läßt, aus der Consequenz“.83 b) Krieg und Frieden: Der Kampf ums Recht „Und, wie nun? Sehen wir noch heutzutage, daß die Thatkraft das Recht gebiert, welche andere Mutter als sie sollte das Recht am Anfang der Geschichte gehabt haben? Werfen wir aber darum beide nicht zusammen, sagen wir nicht, daß statt des Rechts die Gewalt regiert habe (…).“ Rudolf v. Jhering, 185284

Während das Rechtsgefühl in der rechtswissenschaftlichen Programmatik seines ersten Wiener Vortrages also eine lediglich passive Rolle als Kontrollinstanz erhält und ansonsten allenfalls am Rande vorkommt,85 nimmt es später in der rechtspolitischen Programmatik des zweiten Wiener Vortrages (1872) bereits den zentralen und überaus aktiven Platz ein. Das hier als „psychologischer Urquell allen Rechts“86 angesprochene Rechtsgefühl wächst dabei in die zugespitzt idealisierte Kontur des von „Kohlhaasenbrück“ ausgehenden Streitens für das eigene Recht, bei dem „jeder Berechtigte in seinem Rechte seine ethischen Lebensbedingungen vertheidigt“.87 Eine solche existenzielle Metaphysik des Rechtsgefühls hat freilich nicht viel mit Billigkeitsjurisprudenz gemein. Im Gegenteil: Der vom Rechtsgefühl angefachte „Kampf ums Recht“ muss jede Inflation und Banalisierung geradezu bekämpfen, will er nicht selber banal und inflationär werden. Mit 83 Jhering,

Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868), S. 89. des römischen Rechts I (1852), § 10 (S. 105). 85  Behrends (Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, 1998, S. 66, Fn. 71) meint in dem Bild von der aufgehenden Sonne die Einstrahlung des Rechtsgefühls zu erkennen. Ich sehe hierin aber eher einen Hinweis auf die ebenfalls von der Suche nach Wahrheit redenden Bilder vom Sonnen‑ und Höhlengleichnis in Platos Politeia und insb. das hieran anknüpfende Gleichnis vom Sonnenaufgang, das dann auch Goethe zu Beginn seines Faust II zelebriert. 86 Kampf ums Recht, (4. Aufl. 1874), S. 11, 41. Der psychologische Ausgangspunkt entspricht weiterhin der bereits in seinem 68er Vortrag vorgetragenen These, dass also die „erste und ursprüngliche Quelle des Rechts … in jedes Menschen Brust“ liege (S. 67). 87 Kampf ums Recht, (4. Aufl. 1874), S. 31; Jhering greift hier Überlegungen aus seinem „Geist des römischen Rechts“ (1852, § 10, S. 105) auf, wonach das Recht im frühen rohen Zustand in Gestalt des „Rechtsgefühls“ präsent ist: „Was die Thatkraft geschaffen, was sie erworben und erkämpft, dem drückte das Rechtsgefühl seinen Stempel auf, machte es zu einem Theile der Person selbst (…).“ Doch war hier noch die „Thatkraft“ die Quelle allen Rechts: „Die Thatkraft, die Gewalt also ist die Mutter des Rechts, das ist das Resultat der bisherigen Ausführungen.“ (aaO., S. 112); jetzt (20 Jahre später) ist es das Rechtsgefühl. 84 Geist

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dem so gefassten Rechtsgefühl wird dann ja auch keine wissenschaftliche oder rechtspraktische Rechtsfindungsmethode oder gar ein „Rechtsdarwinismus“,88 sondern eine pointierte Aufgabe der Rechtswissenschaft beschrieben: Pflege und Wahrung eines volksnahen Rechtsbewusstseins.89 Die Existenz und Evidenz dessen, was Recht sei und wofür es sich zu kämpfen und zu sterben lohnt, wird gleichsam vorausgesetzt.90 Die gegenteilige Konsequenz, jeder Person die Keule zur Durchsetzung ihrer individuell gefühlten Rechtsposition in die Hand zu geben, entspräche einer Rechtsphilosophie, die deutlich hinter die Einsichten politischer Philosophie der Zeit (über Hobbes, Rousseau, Locke und Kant) zurück führt. So nimmt es denn auch nicht Wunder, dass der Begriff „Rechtsgefühl“ zuerst in Kleists „Michael Kohlhaas“ mit dem bezeichnenden Satz in das deutsche Sprachbewusstsein getreten ist: „Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ Diese „Consequenz“ seiner Gefühls-Methodologie ist Jhering schwerlich entgangen, wenn er fünf Jahre nach jenem populären zweiten Wiener Vortrag, geläutert durch die späte Auseinandersetzung mit der Rechts‑ und Sozialphilosophie seiner Zeit,91 letztlich sein Bekenntnis zum Rechtspositivismus erneuerte („daß der Staat die alleinige Quelle des Rechts ist“)92 und diese Erkenntnis sogar kon88 Hierzu Helfer, Jherings Gesellschaftsanalyse (1970), S. 79 ff.; Wieacker, Jhering und der „Darwinismus“ (1973), S. 63 ff.; Behrends, Jherings Evolutionstheorie (1996), S. 93 ff.; Jhering selbst relativiert die Simplizität dieses Darwinismus erst später in seinem dritten Vortrag „Über die Entstehung des Rechtsgefühls“ (S. 9): „Mein gegenwärtiger Vortrag bildet in gewissem Sinne ein (Gegen)stück zu dem … über den Kampf ums Recht.“ 89  Vgl. nur die Vorrede zur 4. Aufl.: „Der Zweck, der mich bei Ausarbeitung und Veröffentlichung der Schrift leitete, war (…) weniger darauf gerichtet, die wissenschaftliche Erkenntniss des Rechts als diejenige Gesinnung zu fördern, aus der dasselbe seine letzte Kraft schöpfen muss: die der muthigen und standhaften Behauptung des Rechtsgefühls.“; ganz in diesem Sinne auch Gustav Rümelin, Über das Rechtsgefühl (1875), S. 83 ff.: „Wenn das Recht, wie kaum irgend etwas Anderes, Alle angeht und den Wollenden wie den Widerstrebenden berührt und erfaßt (…), so sollte man erwarten dürfen, daß die Wissenschaft und Verwaltung des Rechts sich in stetiger Fühlung mit dem Rechtsgefühl des Volkes hielte und wenigstens nicht bis zur Unverständlichkeit davon entfernte (…).“ 90  Deutliche Betonung in der Vorrede: Es ginge ihm eben nicht darum, „dem Zank und Streit, der Process‑ und Rauflust das Wort reden“ zu wollen, während er (Jhering) doch den Kampf „nur da verlange, wo der Angriff auf das Recht zugleich eine Missachtung der Person“ enthalte; das sind im Grunde die eindeutigen Verletzungstatbestände der klassischen iniuria, archetypische Verletzungen des „Mein und Dein“ (vgl. S. 22 f.); ebenso im „Geist des römischen Rechts I (1878), S. 122 f.: Das Unrecht ruft die „Reaction des Rechtsgefühls hervor“; „Im Rechtsgefühl liegt einmal der Trieb sich zu realisieren (…) Aber nur wo das Recht des Einen und das Unrecht des Andern sonnenklar war, konnte die Selbsthülfe jener moralischen und physischen Unterstützung gewiß sein …“. 91  Vgl. die confessiones, die Jhering im Vorwort zum Ersten Band seines „Zweck im Recht“ (1877) zum Thema Philosophie abgelegt hat: „Die Aufgabe des ersten Theils hat mich auf ein Gebiet versetzt, auf dem ich Dilettant bin. Wenn ich es je bedauert habe, daß meine Entwicklungszeit in eine Periode gefallen ist, wo Philosophie in Misscredit gekommen war, so ist es bei dem gegenwärtigen Werk“ (S. VII ff.). 92 Der Zweck im Recht I (1. Aufl. 1877), S. 319.

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sequent mit einer deutlichen Absage an richterliche Billigkeitserwägungen verband: „Wir ziehen im Civilrecht das ungerechte oder unbillige Gesetz der über das Gesetz sich erhebenden Billigkeit oder Gerechtigkeit vor.“93 Dass er hiermit im Wesentlichen nur den historischen Ausgangspunkt seiner vorkritischen Zeit gegen einen vernunftrechtlichen eingetauscht hatte, mochte er wohl immerhin gefühlt haben; denn von allen seinen „immer stark gefühlsbetonten Begriffen“94 war es vor allem der Begriff des „Rechtsgefühls“ selbst, von dem er gedanklich weiterhin nicht loskam. Die Besinnung auf die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols bannte zwar die Gefahr eines von widerstreitenden Rechtsgefühlen drohenden Bürgerkriegs, nicht aber die Gefahr eines methodologischen Relativismus in der Rechtswissenschaft. Allein der Wandel von einer rückschauend begrifflichen in eine vorausschauend teleologische Konstruktion des Rechts war für die Rechtsfindung wenig hilfreich, solange unklar blieb, wie denn nun der Telos des Rechts zu erkennen und mithin Rechtsfortbildung möglich sei. Hier blieb Jhering dem Fingerzeig des Rechtsgefühls weiterhin verbunden. Doch nimmt er das Rechtsgefühl nicht länger als ein gleichsam jedem Menschen von Natur gegebenes Phänomen, sondern er erkennt die komplexe Wechselwirkung von sozialen und psychologischen Gegebenheiten. c) Ursprung und Ziel: Der Zweck im Recht „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl, – das Recht kennt nur eine Quelle: den Zweck.“ Rudolf v. Jhering, 187795

Als Jhering 1877 den ersten Band seines „Zweck im Recht“ vorlegte, glaubte er sich am Ziel seiner Suche nach der Quelle des Rechts: Der „Zweck“ ist Ziel und Motiv alles menschlichen und gesellschaftlichen Handelns. In ihm liegt mithin auch die Quelle allen Rechts. Als er sich dann aber an die Ausführungen zum „dritten Hebel“ aller sozialen Bewegung, an die Ergründung des „Sittlichen“ macht, kann er sich allein beim Zweckgedanken letztlich doch nicht beruhigen; denn hier erkennt er, dass die „Teleologie des Sittlichen“ nicht auch und bereits 93  Der Zweck im Recht I (1. Aufl. 1877), S. 425. Eine Aussage, die dann in der 2. Aufl. (1884) präzisiert wird: „In der Zivilrechtspflege verlangen wir die unverbrüchliche Anwendung des Gesetzes und nehmen die etwaigen Härten und Unbilligkeiten mit in den Kauf. Die Sicherheit der formalen Gerechtigkeit des Richters steht uns höher als die Vorteile einer unberechenbaren materiellen Gerechtigkeit, hinter der sich nur allzu leicht die Willkür verbergen kann.“ In dieser Sache ist Jhering also wieder bei seinem formalistischen Standpunkt (strenge gesetzliche Form als „Zwillingsschwester der Freiheit“) angelangt, den er im „Geist des römischen Rechts“ (II/2, S. 319) vertreten hat: „So wie der Baum nicht wieder zum Samenkorn werden kann, so vermag auch keine Macht der Erde ein einmal entwickeltes Recht auf die primitive Form des Rechtsgefühls zurückzuführen und es damit dem Laien zurückzugeben.“ 94  Erik Wolf, Große Rechtsdenker (1963), S. 661. 95 Zweck im Recht I (1877), Vorrede XIII.

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seine (des Sittlichen) alleinige „Quelle“ sein kann. Jhering stößt auf die alte aristotelisch-scholastische Differenzierung zwischen der causa efficiens (Wirk­ur­sache) und der causa finalis (Zweckursache). Bei den von ihm so bezeichneten „drei Kardinalfragen der Ethik“96 unterscheidet er dementsprechend sehr bewusst zwischen dem „Ursprung“ und dem „Zweck“ der sittlichen Normen. Die zwei Fragen: „Was sittliche Normen sollen?“ (Zweck) und „Woher sie kommen?“ (Ursprung, Quelle) werden streng getrennt. Als Jhering dann im Jahre 1883 den zweiten Band seines „Zwecks“ der Öffentlichkeit übergibt, bleibt diese letzte Frage nach dem „Ursprung“ des Rechts, die Suche nach dem „Rechtsgefühl“, weiterhin offen und unbeantwortet: „Als zweiter Abschnitt der Theorie des objektiv Sittlichen müßte eine Untersuchung über die Quelle des Sittlichen folgen. Ist das sittliche Gefühl eine Mitgift der Natur oder ein Werk der Geschichte, sind die sittlichen Grundsätze dem Menschen angeboren, oder bilden sie einen Niederschlag der geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrung? Ich verweise diese Frage jedoch an eine spätere Stelle des Werkes, wo sie in etwas anderer Gestalt, nämlich als Frage vom Ursprunge des Rechtsgefühls wiederum an uns herantreten wird.“97

Das Rechtsgefühl ist offenbar nicht einfach angeboren und ein für alle Mal als eine feste seelische Entscheidungsinstanz angelegt.98 Es ist nicht identisch mit der nach Zwecken fragenden Vernunft und offenbar auch keine objektive und unabänderliche Entität, sondern historisch und sozial variabel determiniert. Jhering konstatiert bereits in der Vorrede in der ihm eigenen offenen Art seine gedankliche Kehrtwendung in Sachen Rechtsgefühl: „Das Verhältnis der objektiven sittlichen Ordnung … und des subjektiven sittlichen Gefühls drehte sich für mich gänzlich um, nicht letzteres erschien mir mehr die Quelle der ersteren, wie die herrschende Theorie lehrt, sondern erstere als die des letzteren … das subjektiv sittliche Gefühl ist nicht das historische Prius, sondern das Posterius der realen, durch den praktischen Zweck geschaffenen Welt (…).“99 Damit ist alle vermeintliche Selbstverständlichkeit, mit der Jhering bisher vom Rechtsgefühl als letzter Rechtsquelle ausgegangen war, dahin. Erst die Sozialisation in einer bestimmten Rechtskultur prägt das Rechtsgefühl. Wie soll es da angehen, dass letzteres zum Prüfungs-Maßstab für die Richtigkeit des Rechts 96 Zweck

im Recht II (1883), S. 98.  Zweck im Recht II (1883), S. 107. 98  So eine feste Vorstellung seiner Zeit, die Jhering als „herrschende Theorie“ und „nativistische“ bezeichnet (Zweck im Recht II, 1883, Vorrede III u. ausf. S. 108 ff.), eine Ansicht, die bereits von John Locke in seinem Essay „Über den menschlichen Verstand“ (orig. „An essay concerning human understanding“) von 1690 grundlegend kritisiert worden war. Jhering übernimmt nunmehr für die Idee seines Rechtsgefühls Lockes Vorstellung von der „tabula rasa“ (blank slate) als einem leeren Blatt Papier, das zunächst vom Leben beschrieben werden muss. Die Kontroverse, was das menschliche Denken, Fühlen und Verhalten mehr determiniert, die menschliche Natur (nature) oder die Sozialisation (nurture), hält bis in die Gegenwart an: zusammenfassend zuletzt etwa Pinker, The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature (2002); Goldhaber, The Nature-Nurture Debates. Bridging the Gap (2012). 99 Zweck im Recht II (1883), Vorrede III. 97

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werden kann? Die Frage nach dem Ursprung des Rechts aus dem Rechtsgefühl ist komplex und ihre Antwort findet keinen Platz in einem Werk über das Ziel, den „Zweck im Recht“. So geht der Verweis auf eine „spätere Stelle“ in „diesem Werk“ ins Leere. Zum zweiten Mal wird eine groß angelegte Arbeit nicht vollendet. Und wieder ist es die Einsicht, die letzte Quelle des Rechts erst in einer weiter ausgreifenden Untersuchung näher fassen zu können.100 Es gibt einen letzten Versuch hierzu: Jherings dritten und letzten Wiener Vortrag über die „Entstehung des Rechtsgefühls“. Die vorläufige Antwort auf die Frage, warum und inwieweit einem Rechtsgefühl mehr Autorität zukommt als einer Digestenstelle oder einem Orakelspruch, ist schließlich auch hier freilich wiederum mehr als eine Anleitung zur Rechtsfortbildung qua profaner Billigkeitsargumentation, wie sie uns bei der „Entdeckung“ der c. i. c. begegnet. Das, was Jhering endlich 23 Jahre später im März 1884 über die „Entstehung des Rechtsgefühls“ mitgeteilt hat, enthält primär eine bereits im zweiten Band des „Zweck“ für „Das Sittliche“ ausgearbeitete und nunmehr komprimiert auf das Recht übertragene, bisher aber kaum in ihrer Bedeutung wahrgenommene Kulturphilosophie; im Kern eine erste ausgearbeitete Rechtssoziologie.101 Spannend ist an dieser Stelle aber vor allem der zweite Aspekt des Vortrags: der Ertrag für die Methodologie praktischer Jurisprudenz: d) Prinzipien und Gefühl: Die Abstraktion als Lehrmeisterin des Rechts „In der Jurisprudenz … werden die Sätze um so wertloser und unbrauchbarer, je abstrakter sie sind (…).“ Hermann Kantorowicz, 1906102

Bereits in seinem Vorwort zum zweiten Band des „Zweck“ (1883) findet sich die insoweit relevante neue Erkenntnis, zu der Jhering in Bezug auf das Verhältnis von objektivem Recht und subjektivem Rechtsgefühl gekommen ist: Das Gefühl, so Jhering, nährt und bildet sich zunächst „auf Grund der unabhängig 100 Fikentscher (Methoden III, 1976, S. 246 f.) markiert eben hier in Jherings Denken noch einen zweiten „Einschnitt“, der mit dem Rechtsgefühl als letzter „Quelle des Sittlichen“ zusammenhängt und zu einem dritten Band des „Zweck“ führen sollte. Letzteres hat Jhering explizit angedeutet. Doch nach dem oben Gesagten handelt es sich nicht um einen „zweiten Einschnitt“, sondern immer noch um eine Kontinuität nach der besagten methodologischen Krise: der Gesichtspunkt des Rechtsgefühls war ja bereits in seinem ersten Band zum „Geist“ angesprochen, unmittelbar mit seiner Abkehr vom „Cultus des Logischen“ präsent und beherrschte unterschwellig seine gesamte „nachkritische“ Phase. 101  Vgl. die Deutungsversuche bei Wieacker, Jhering und der Darwinismus (1973); Fikentscher, Methoden III (1976), S. 245 ff.; Behrends, Rechtsgefühl (1986), S. 57 ff.; aber auch schon Helfer, Jherings Gesellschaftsanalyse (1970), S. 86 ff.: „Gleichwohl ist dieser letzte Teil des unvollendeten Werks für Soziologen von bleibendem Interesse.“ In der Tat wurde Jhering hier vor allem von Max Weber und über diesen dann in der Rechtssoziologie rezipiert: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1921/1972), S. 387 ff. und dann insb. von Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation (1939), inhaltlich fortgedacht. 102 Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906/1962), S. 27.

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von ihm entstandenen Welt“ und „wenn es zu Kräften gekommen ist, erhebt es seine Stimme, um dasjenige, was es in der Welt gelernt hat, an der Welt zu verwerten, den Maßstab, den es ihr auf dem Wege der unbewussten Abstraktion allgemeiner Grundsätze entlehnt hat, auf sie selber zur Anwendung zu bringen, d. h. die Anforderung zu stellen, daß sie die Prinzipien, welche sie bisher nur unvollkommen realisiert hat, vollkommen durchführe – es ist das Kind, das, wenn es herangewachsen, die Mutter nach ihren eignen Lehren meistert“.103 In dem ein Jahr später in Wien gehaltenen Vortrag über die „Entstehung des Rechtsgefühls“ (1884) wird diese Erkenntnis etwas ausführlicher vorgestellt. Anders als noch in seinem „Kampf ums Recht“ ist Jhering jetzt tatsächlich explizit bei der Frage nach einer (sanften) Rechtsfortbildung mittels Rechtsgefühl angelangt. Das Rechtsgefühl wird zur maßgeblichen Rechtsquelle, sobald es auf der „Überholspur“ das geltende Recht hinter sich lässt. Dieser Prozess vollzieht sich in drei Schritten: „Vorsprung des Rechts vor dem Rechtsgefühl – Kongruenz beider – Vorsprung des Rechtsgefühls vor dem Recht.“104 Es ist also zunächst die Bekanntschaft mit dem Recht, die zur Ausbildung eines Rechtsgefühls überhaupt erst führt; und es ist sodann die engste Vertrautheit mit diesem Recht, die für ein zutreffendes (emotionales) Judiz vorausgesetzt wird. Für die mit dem Vortrag aufgeworfene Frage nach der „Entstehung des Rechtsgefühls“ hat Jhering den endgültigen Wandel zu einer sozio-psychologischen Theorie der Rechtsschöpfung vollzogen. Die demgemäß sich aufdrängende und darüber hinaus weisende Frage stellt Jhering noch gleich selbst: „… wie es zugeht, daß unser Rechtsgefühl, wenn es seine Nahrung von aussen, von den Rechtssätzen und Einrichtungen, die aufgestellt sind, bezieht, schliesslich denselben überlegen wird.“105 Woher kommt sie also, die rechtsfortbildende Kraft des Rechtsgefühls, die sich im Widerspruch mit der geltenden Rechtsordnung auf der Überholspur bemerkbar macht und Wandel fordert? Wie kann es sein, dass das Kind die Mutter, von der es seine Lehren empfangen hat, eines Besseren lehren kann? „Und darauf antworte ich, das beruht auf jenem Abstraktionsvermögen des menschlichen Geistes, … das bei jedem einzelnen Vorfalle etwas abstrahirt.“106

Diese Erkenntnis ist nun ausgesprochen wichtig! Jhering formuliert hier nämlich gar nichts anderes als die induktive oder empirische Methode menschlicher Erkenntnis schlechthin: Aus der Erfahrung des Konkreten wird vom einzelnen Erfahrungssatz abstrahiert und eine allgemeinere Regel induziert und von dieser allgemeineren Regel kann dann auch auf bisher unbekannte Fälle – nunmehr de-

 Zweck im Recht II (1883), Vorrede IX. die Kurzfassung, die Jhering später in seiner unvollendet gebliebenen Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (aus dem Nachlass hrsg. v. Ehrenberg, 1894), S. 27 formuliert. 105  Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (1986), S. 44 f. 106 Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (1986), S. 45. 103

104 So

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duktiv – geschlossen werden.107 Die hier sich offenbarende Methodologie ist vor allem deshalb spannend, weil sie letztlich auf nichts anderes hinausläuft als auf jene ursprüngliche Konstruktionsmethode der Pandektistik, von der Jhering sich mit viel Polemik zu lösen hoffte und die bis heute als „Begriffsjurisprudenz“ verpönt ist. Nur deduziert er jetzt nicht mehr formal rational aus der Konzentration der ratio scripta eines Corpus Iuris, sondern formal emotional aus im Gefühl sich kundtuenden Prinzipien, jenen „obersten Grundsätzen und Wahrheiten“108, die nicht mehr mittels rationaler Analyse, sondern durch kontinuierliche Inhalation des bestehenden Rechtsstoffs induziert, d. h. abstrahiert werden: gleichsam vom Einzelfall zum Rechtsprinzip und vom Rechtsprinzip zum Rechtsgefühl. Bemerkenswert sind die Erkenntnisse dieses letzten Wiener Vortrags aber noch aus einem zweiten Grund. Denn formuliert wird auch der bedenkliche Inhalt einer fortschrittsgläubigen Evolutionstheorie: Dass nämlich wirklicher Fortschritt im Recht nur durch immer weiter verallgemeinernde Konstruktion aus induktiv gewonnenen Grundsätzen (Prinzipien) zu gewinnen sei.109 Das Rechtsgefühl ist dabei der entscheidende Motor dieses Evolutionsprozesses, indem es immer gemahnt: „Du ziehst nicht die Consequenz deiner Grundsätze; du hast Grundsätze aufgestellt, aber in zu enger Fassung, die letzten Consequenzen hast du nicht gezogen, die musst du ziehen.“110 Dass so das „Rechtsgefühl“ gar nichts anderes ist als der völlig verinnerlichte (emotionale) „Cultus des Logischen“, ist bereits eine interessante Offenbarung111; das zentrale Problem dieser Lehre ist aber der dabei proklamierte Kultus der Verallgemeinerung112. Wie sinnig sich in seinem Vortrag über das Rechtsgefühl auch die Aspekte der heutigen Methodologie andeuten, der Glaube an den Fortschritt durch stetig verallgemeinernde Konstruktion führt in der Rechtswissenschaft notwendig zu einem Grad an Abstraktion der Rechtssätze, der diese für die Beurteilung des individuellen Falles letztlich unbrauchbar sein lässt und bei der sowohl die Rechtssicherheit als auch der wissenschaftliche Wert der schließlich als Norm gefassten Prinzipien notwendig gegen Null kon-

107 Zum Induktivismus und seinen Problemen vgl. nur Chalmers, Wege der Wissenschaft (4. Aufl. 1999), S. 1 ff. 108  Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (1986), S. 10. 109  So auch Fikentscher, Methoden III (1976), S. 249. 110 Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (1986), S. 49. 111  Zur Bedeutung von „Princip“ und „Consequenz“ für die wissenschaftliche Methode des Juristenrechts im 19. Jh. (Begriffsjurisprudenz) vgl. nur Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004), S. 42 ff. 112  Zutreffend bemerkt schon Szászny-Schwarz: „… die Regel entspringt nicht dem Gefühle, sondern umgekehrt, das Gefühl ist eine Abstraction der Regel.“ (Rudolph von Jhering und sein nächstes Buch (1884/1992, S. 54); und bereits Schlossmann, Der Vertrag (1876), S. 194 hat klargestellt, dass das Rechtsgefühl Ausdruck eines empfundenen Rechtsprinzips ist: „Wenn wir weiter unser Rechtsgefühl analysiren (…), dann finden wir, dass wir in unseren Urtheilen … ganz bestimmte Prinzipien anwenden.“

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vergieren.113 Kurz kann man die pathologische Seite dieser Methodologie auch als Prinzipienkultus oder Generalklausulitis bezeichnen. Das, was bescheiden und vorsichtig mit Analogiebildung von Fall zu Fall beginnt, mündet in der Entdeckung allgemeiner Rechtsgrundsätze und wird für die Rechtsfindung zu einer emotionalen Prinzipiendeduktion, d. i. die Consequenz, die zu ziehen das Rechtsgefühl immer mahnt („Du ziehst die Consequenzen nicht!“). Sollte Jhering, für den einst die Form „die geschworene Feindin der Willkür“114 war und für den die Ohnmacht des Rechts dort beginnt, wo seine Form in einen „luftförmigen Zustand“ übergeht,115 sollte dieser Jhering diese seine „Consequenz“ der ewigen emotionalen Abstraktion tatsächlich leichthin übersehen haben? Schwerlich. Vielmehr liegt offenbar gerade hier der Schlüssel für die Antwort auf die Frage, warum weder die angekündigte Publikation dieses dritten Wiener Vortrags erfolgte noch der dritte Band des „Zweck“, der als Methodenlehre mit dem (aufklärerisch inspirierten) Titel „Kritik des Rechtsgefühls“116 angekündigt war, je geschrieben wurde. Die kulturphilosophischen Aussagen des Vortrages waren im Wesentlichen bereits im zweiten Band des „Zweck“ ausgeführt,117 und der kurze methodologische Exkurs war evident unausgereift. Vor allem aber hatte die Rechtsphilosophie seiner Zeit das Rechtsgefühl als Rechtsquelle längst verabschiedet,118 und das Induktionsproblem war spätestens seit 113  Der Wert gerade auch induktiv gewonnener Erkenntnissätze bemisst sich seit Popper (Logik der Forschung, 9. Aufl. 1989) nach dem Grad der Falsifizierbarkeit; je allgemeiner aber eine Aussage gefasst ist, desto geringer ist auch ihre Falsifizierbarkeit. Hierzu Chalmers, Wege der Wissenschaft (1999), S. 41 ff.; vgl. auch schon zutreffend Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906/1962), S. 27: „In der Jurisprudenz … werden die Sätze um so wertloser und unbrauchbarer, je abstrakter sie sind …“; ebenso Benedict, Zugangsproblematik (2000), S. 1 ff. 114  Geist des römischen Rechts II/2, § 45, S. 471. 115  Geist des römischen Rechts III, § 61, S. 354. 116 Der möglicherweise geplante ‚dritte Band‘ dürfte einerseits einer ‚Methodenlehre‘ gegolten haben, bei der es darum ging, „die Tragweite des Zweckgedankens … in besonderer Anwendung auf die wissenschaftliche Behandlung des Rechts darzulegen“ (vgl. Jhering, Der Besitzwille, 1889, Vorrede X). Dass hierbei auch das Rechtsgefühl nicht zu kurz kommen sollte, verrät sicherlich nicht nur der angedeutete Titel (vgl. Behrends, Entstehung des Rechtsgefühles, 1986, S. 68, Fn. 13), sondern auch die Beständigkeit, mit der Jhering sich um dieses Thema mühte. Es wäre ausgesprochen denkwürdig, wenn der späte Jhering nach Lektüre der drei Kant’schen „Kritiken“ nun seinerseits der ‚Kant des Rechtsgefühls‘ werden wollte. Die Anklänge an die „Vernunft“ in seinen Spätschriften sind insoweit sicher nicht zufällig. 117  So auch Fikentscher, Methoden III (1976), S. 247: „Insgesamt geht der Vortrag inhaltlich über den Erkenntnisstand des ‚Zweck‘ kaum hinaus“. In der Vorrede zum zweiten Band des „Zweck“ (S. XI) findet sich denn auch nicht zufällig bereits das im Vortrag verwendete und von Behrends (Rechtsgefühl, 1986, S. 49, Fn. 24) gesuchte Zitat: „… es ist das Kind, das, wenn es herangewachsen, die Mutter nach ihren eigenen Lehren meistert.“ 118  Vgl. neben der bereits von Kant zitierten Klarstellung (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,1782, S. 442) nur Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 2: „Wenn aber jene Weise des Erkennens mit ihren Förmlichkeiten von Definitionen, Schließen, Beweisen u. dgl., einerseits mehr oder weniger verschwunden ist, so ist es dagegen ein schlimmer Ersatz, den sie durch eine Manier erhalten hat, nämlich die Ideen überhaupt, so auch die des Rechts und dessen weiterer Bestimmungen als Tatsachen des Bewusstseins unmittelbar aufzugreifen

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David Hume allseits bekannt: Mittels Induktion lassen sich allenfalls mehr oder weniger gut begründete Vorurteile zu den Begebenheiten der Welt, nicht aber allgemeingültige Prinzipien gewinnen.119 Kant hatte mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ und der Vorstellung von „synthetischen Urteilen a priori“ das erkenntnistheoretische Problem einflussreich erneut vor Augen gestellt, und dann kommt Jhering und will das Grundproblem der Wissenschaftstheorie dadurch lösen, dass er Induktion und Deduktion ganz im Geiste der längst überlebten Romantik neuerlich dem Gefühl überlässt. Es ist kaum vorstellbar, dass ihn nicht alsbald der ein oder andere Gesprächspartner auf die Bedenklichkeiten seiner Methodologie aufmerksam gemacht haben sollte. Dass er sich selbst schließlich von ihr distanziert hat, scheint mir im Ergebnis außer Frage zu stehen:120 3. Noch ein „Damaskus“: Abschied von Rechtsgefühl und Prinzipienkultus „Wer in seiner Bildung sich nicht höher, als zu dunkeln Gefühlen über Wahrheit und Falschheit erhoben hat, dem mag das Gefühl eine solche Quelle seyn, für den wissenschaftlich Gebildeten kann das Gefühl in keiner Sache eine Erkenntnisquelle der Wahrheit seyn, sondern einzig und allein das klare Bewußtseyn, der aus Vernunftgründen hervorgehenden Notwendigkeit.“ Clemens-August v. Droste-Hülshoff, 1823121

Neben den vorgenannten inhaltlichen Bedenken musste es jedenfalls dem Rechts­ historiker Jhering merkwürdig aufstoßen, dass seine Konzeption von einem rechtsfortbildenden Rechtsgefühl doch immer schon Recht voraussetzte. Wie konnte dann aber jenes ursprüngliche Recht ohne „überholendes Rechtsgefühl“ entstehen?122 Es musste ein „Rechtsgefühl ohne Recht“ geben oder es mussten und zu behaupten, und das natürliche oder ein gesteigertes Gefühl, die eigene Brust und die Begeisterung zur Quelle des Rechts zu machen.“; § 3: „Wenn dem positiven Rechte und den Gesetzen das Gefühl des Herzens, Neigung und Willkür entgegengesetzt wird, so kann es wenigstens nicht die Philosophie sein, welche solche Autoritäten anerkennt.“; v. Droste-Hülshoff, Lehrbuch des Naturrechts oder der Rechtsphilosophie (1823), S. 21: „Daß endlich auch das natürliche Gefühl für Recht und Unrecht keine Erkenntnißquelle des Naturrechts seyn könne“. 119  David Hume, Treatise of Human Nature (1739–40). 120 Verfasst hat Jhering schließlich noch seine methodologische Grundschrift, in der er den Subjektivismus in der Jurisprudenz zu bekämpfen dachte: „Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode“ (1889). Was er hier schreibt, verdeutlicht, dass er sich von seiner Gefühlsjurisprudenz doch deutlich distanziert hat; vgl. etwa S. 10: „Ich bin nicht mit dem Vorurteil an die Quellen herangetreten, das meiner Ansicht nach praktisch Richtige finden zu müssen, sondern erst, nachdem ich auf dem Wege einer gänzlich unbefangenen Lektüre der Quellen es gefunden, habe ich mich überzeugt, daß es das praktisch Richtige war.“ Das klingt schon wieder deutlich nach einem Glauben an die ratio scripta. 121  Lehrbuch des Naturrechts oder der Rechtsphilosophie (1823), S. 21. 122  Die Zirkularität der Frage, was war zuerst, das sittliche Gefühl oder das Recht, wird zurecht als Problem erkannt schon bei Merkel, Jhering, JhJb 32 (1893), 6/34: „Nun kann aber die Welt des Rechts nicht gedacht werden ohne ethische Stützen … Eine Gesetzesherrschaft ist nicht denkbar ohne eine (im ethischen Sinne) bindende Kraft der Gesetze. Sie setzt also ethische Empfindungen und Anschauungen, ein Gefühl von einem Sein-sollenden voraus. Das

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doch andere rechtsgestaltende Kräfte am Werk sein, die seine Theorie vom Fortschritt durch Rechtsgefühl nicht unerheblich ins Wanken brachten, wenn er nicht am Ende seines wissenschaftlichen Wirkens doch der von ihm mit seiner Gefühlsjurisprudenz bekämpften „romantischen Rechtsschule“ darin beipflichten wollte, dass die maßgeblichen Rechtsinstitute vielleicht immer schon als abstrakte Ideen (a priori) vorhanden sind und es die Aufgabe des juristischen (Volks‑)Geistes sei, sie zur realen Anschauung und historischen Geltung zu bringen.123 Oder anders formuliert, ginge es um eine Theorie, „welche die Entwicklung von Recht und Moral mit Leibniz als die ‚stufenweise Enthüllung und Abklärung dessen betrachtet, was von Anfang als ewiges Gesetz in den unbewußten Vorstellungen der menschlichen Einzelseelen geschlummert hat‘“.124 Der Rechtshistoriker hatte hier bereits einen schärferen Blick bewiesen als der Rechtsphilosoph. Das Problem kannte Jhering bereits aus seinem „Geist des römischen Rechts“. Hier hatte er erstmals das Rechtsgefühl mit der Gewalttätigkeit, der „Thatkraft“,125 zu verbinden gesucht: „Was die Thatkraft geschaffen, was sie erworben und erkämpft, dem drückte das Rechtsgefühl seinen Stempel auf (…). Der erste Ansatz des Rechtsgefühls ist das Gefühl der eigenen Berechtigung …“. Die schaffende Thatkraft bleibt demnach der Ursprung; das Rechtsgefühl gibt dem durch Tatkraft Geschaffenen oder Eroberten lediglich das Siegel der Rechtlichkeit. Das Fazit bleibt bis in die letzten Auflagen unzweideutig: „Die Thatkraft, die Gewalt also ist die Mutter des Rechts.“126 Die Frage nach dem Ursprung des Rechts war nun auf einmal neuerlich gestellt. Und so hat Jhering denn auch tatsächlich am Ende seiner Wissenschaft noch einmal dezidiert den Anfängen des Rechts nachgespürt.127 Die Einsichten, Recht kann also nicht die Hebamme des Sittlichen sein, als von welchem seine eigene Existenz abhängt.“ 123 Diese Grundtheorie der historischen Rechtsschule war bei Jhering immer präsent; vgl. nur seine Geschichtsphilosophie im ersten Band des „Geist des römischen Rechts“ (insb. S. 102 ff.: Der Fortschritt in der Geschichte ergebe sich dadurch, dass „die folgenreichsten Wahrheiten“, die in „Jahrtausenden unzugänglich und verborgen lagen“ freigelegt werden und so „Gemeingut der Gebildeten wie der Ungebildeten geworden sind“); in diesem Sinne deutliche Anklänge auch im „Schuldmoment“ (1867, S. 67): „Unser Gewinn ist zunächst die Überzeugung, von dem Walten höherer allgemeiner Gedankenmächte auf dem Gebiete des Rechts, die Anschauung der stillen, geräuschlosen Arbeit der Ideen, die unmerklich und vielleicht dem Werkzeug selber unbewusst, Atom zu Atom hinzufügend, sich über Jahrhunderte und Jahrtausende hinzieht, bis das Werk vollbracht ist und das Recht neu gestaltet und verjüngt dasteht.“ Schließlich auch in seinem Spätwerk „Der Besitzwille“ (1889), etwa S. 103: „… die Wahrnehmung des wahren Sachverhältnisses war hier nicht Sache des juristischen Denkens, sondern der naiven Volksauffassung …“; ebd. S. 109: „Die römische Jurisprudenz hat sie mit auf den Weg bekommen, im alten Rom hat das juristische Denken nicht erst auf die Juristen gewartet, das Volk hatte ihnen bereits erheblich vorgearbeitet (…).“ und passim. 124  Merkel, Jhering, JhJb 32 (1893), 6/36 f. 125 Geist des römischen Rechts I (1852), S. 104, 105, 112. 126  Geist des römischen Rechts I (1878), S. 114. 127  Vgl. die posthum (1894) von Viktor Ehrenberg aus dem Nachlass herausgegebenen Schriften: „Vorgeschichte der Indoeuropäer“ und „Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts“.

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die er von dort mitbrachte, sind – bei aller Vorsicht der Deutung unautorisierter Skizzen – nun freilich die deutliche Hervorhebung des menschlichen Denkens und der Vernunft gegenüber der Emotionalität des Rechtsgefühls128: „Das Recht ist kein Ausfluß des naiv im dunklen Drang schaffenden Rechtsgefühls, … sondern es ist das Werk menschlicher Absicht und Berechnung, die auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung das Angemessene zu treffen bestrebt war. Die Geschichte des Rechts ist die Geschichte des menschlichen Denkens in Bezug auf die praktische Verwirklichung der Lebensbedingungen der menschlichen Gemeinschaft.“129

Diese Einsicht ist bereits beachtlich. Vor allem aber erkennt und formuliert Jhering noch selbst die Bedenklichkeiten der „Consequenzen“ seiner GefühlsMethodologie, bei der letztlich nur mit engagierter Emotionalität die letzten Konsequenzen letzter emotional abstrahierter Prinzipien gezogen werden: „Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Principien angerichtet haben und unter unseren Augen noch täglich anrichten, wird begreifen, daß eine Zeit, die ihrer entbehrte, und sich bloß auf die gesunde, d. i. lediglich den praktischen Zwecken sich zukehrenden Vernunft angewiesen sah, dasjenige, was ihr not that, besser zu beschaffen im stande war, als eine hochentwickelte es vermag, deren geistiges Auge durch Principien umflort ist.“130

Man möchte meinen, mit seinen letzten (Schrift‑)Zügen hat der greise Jhering noch ein Gesicht zu Papier gebracht.131 Er besinnt sich nicht nur auf die „gesun128  Es führte an dieser Stelle zu weit, die verbleibende Bedeutung des Rechtsgefühls beim späten Jhering analysieren zu wollen. Jhering ist hier alles andere als eindeutig. Die „Entwicklungsgeschichte“ enthält zwar einerseits die Aussagen und Bilder, die bereits in seinem Wiener Vortrag verwandt wurden: „Vorsprung des Rechts vor dem Rechtsgefühl – Kongruenz beider – Vorsprung des Rechtsgefühls vor dem Recht“ (aaO., S. 27). Die „rechtsschöpferische Kraft des Rechtsgefühls“ wird andererseits aber als „herrschende Lehre“ bekämpft (aaO., S. 28). Jhering ist bei seinen späten historischen Untersuchungen über die Ursprünge des Rechts offenbar die eigene Nähe zur seit seiner „Wende“ bekämpften „historischen Rechtsschule“ aufgegangen. Der Romantiker des Rechtsgefühls erkennt nun dieses Requisit als das romantische der von ihm ebenso bezeichneten Schule und müht sich, es von sich selber wieder abzustreifen. Er versucht dies in der Unterscheidung von passiver („Werden“) und aktiver („Machen“) Rechtsfortbildung. Das „Machen“ ist bei ihm nunmehr freilich mit den gefühlsarmen Begriffen „Denken“, „Vernunft“, „Verstand“, „Absicht“, „Berechnung“ und „Interesse“ belegt. 129  Jhering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (1894), S. 28; vgl. auch schon S. 18: „Die Vernunft hat eben, weil und insofern sie gesund ist, auf jeder Stufe der geschichtlichen Entwicklung das Richtige, d. i. das den Verhältnissen Angemessene getroffen.“ 130  Jhering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (1894), S. 18 f. Man sollte diese Aussage und die damit verbundene Besinnung auf die Vorzüge des altrömischen Rechts (dem bekanntlich die klare Form der Rechtsinstitute eignete) nicht als wirres ‚Greisengemurmel‘ abtun. Was Jhering hier als Einsicht formuliert, ist ein wichtiger Lehrsatz wissenschaftlicher Methodologie: vgl. etwa nur Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904/1988), S. 146/153: „Es ist einfach eine Naivität, wenn auch von Fachmännern gelegentlich immer noch geglaubt wird, es gehe für die praktische Sozialwissenschaft vor allem darum, ‚ein Prinzip‘ aufzustellen und wissenschaftlich als gültig zu erhärten, aus welchem alsdann die Normen für die Lösung der praktischen Einzelprobleme eindeutig deduzierbar seien.“; insbes dann auch S. 167 ff.; grundsätzlich hierzu: Marquard, Abschied vom Prinzipiellen (1981). 131 Dass diese Aussage ernst zu nehmen ist, verdeutlichen auch persönliche Zeugnisse; so

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de“ praktische Vernunft, sondern er sieht und benennt auch die Gefährlichkeit einer im Prinzipienkultus mündenden unendlichen Abstraktion des Normativen. Nach der Abwendung vom „Quellenkultus“ war aber gerade dies das Kennzeichnende von Jherings suchender Gefühlsjurisprudenz: Die Suche nach einem letzten methodologischen Prinzip, einer letzten Rechtsquelle, die er im „Kampf“ oder im „Zweck“ jeweils prononciert und gleichwohl vorschnell verallgemeinernd dem mystischen „Volksgeist“ entgegengesetzt hatte.132 Die Abwendung vom Prinzipienkultus hatte sich schon zuvor in einem Unbehagen und sogar einem „wahren Ekel“ bei der Neuauflage des ersten Bandes des „Zweck im Recht“ geäußert.133 Von dem Prinzip der Nutzenmaximierung und des individuellen Egoismus die ganze Rechts‑ und Sittenwelt zu konstruieren, ist denn ja auch spätestens seit Thomas Hobbes und bis zur aktuellen Diskussion um den homo oeconomicus ein probater utilitaristischer Ansatz – aber bekanntlich doch nicht der einzige.134 spricht Jhering etwa in seinem Dankesbrief an den Fürsten Bismarck (dieser hatte Jhering zu dessen 70. Geburtstag gratuliert) von einem „Umschwung in seiner ganzen Anschauungsweise“, die sich in der Abkehr von einer „öden Verherrlichung von Principien und toten Formeln“, sowie „dem Blendwerk logischer Konsequenz und abstrakter Prinzipien“ äußere. (Brief v. 15. September 1888, abgedruckt in: H. Ehrenberg, Jhering in Briefen, 1813, S. 441–444). 132 Vgl. die Analyse bei Helfer, Jherings Gesellschaftsanalyse (1970), S. 81 ff. insb. S. 86: „Jedenfalls ist er beim angestrebten Nachweis, daß der Zweck ‚die einzige Triebkraft, der alleinige allerzeugende Gedanke des ganzen Rechts‘ sei, über voreilig verallgemeinernde Schlüsse aus einem trotz seiner Mannigfaltigkeit doch recht begrenzten Material nicht hinausgekommen.“ 133  Brief an Ehrenberg v. 15. 12. ​1883: „Der Grund meiner tiefen Mißstimmung liegt in der Beschaffung der zweiten Auflage von Band 1 des Zweckes, … in der Erkenntnis, die sich mir dabei aufdrängt, daß der Wert des ersten Bandes ein ungleich geringerer ist, als ich bisher angenommen hatte … Ich habe einen wahren Ekel gegen das Buch …“ (Briefe der Göttinger Zeit, S. 41); zu Defiziten in Jherings erstem Band: Helfer, Jherings Gesellschaftsanalyse (1970), S.  84 ff.; ders., Ein Nachtrag Jherings zum „Zweck im Recht“, JZ 1970, 12 f. 134  Der erste Band des „Zweck“ hatte keine gute Aufnahme gefunden, weder im engeren Kreis der Freunde noch in der (Rechts)Philosophie. Die schärfste  – und in Ton und Sache sicher überzogene – Kritik findet sich bei Josef Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte (1915), S. 12: „Dagegen kann uns nicht erspart bleiben, auf ein Werk hinzuweisen, das mit einer gewaltigen Absicht auftritt, als wolle es zuerst eine brauchbare Rechtsphilosophie aufstellen, als habe Hegel eigentlich noch gar nichts erreicht, und das selbst geradezu nichts leistet und zu keinem einzigen haltbaren Ergebnis gelangt: Jherings ‚Zweck im Recht‘, Bd I und II. Dem Werk fehlt jede metaphysische Grundlage; es wird alles auf Sand gebaut: die Einzelwesen sind einmal da, die Gesellschaft ist einmal da  – was sich weiter um ihre philosophische Grundlegung kümmern? Was über Raum und Zeit philosophieren? In der Tat steht Jherings Metaphysik ungefähr auf dem Stande der Metaphysik eines friesischen Landpastors (…).“ usw. Kohler offenbart hier insgesamt einen wenig sympathischen Charakterzug, hatte er doch noch zu Lebzeiten Jherings und als er noch in dessen Jahrbüchern publizierte, von diesem als „Meister“ und dessen „großartigem Werke über den Zweck im Recht“ gesprochen (vgl. JhJb 16 (1878), 325/326, 328). Etwas freundlicher formuliert L. Mitteis, Allgemeine Deutsche Biographie (1905), S. 658: „wo immer er philosophisch gearbeitet hat, ist er bei der Philosophie nur zu Gast gewesen“; Hachenburg (1860–1951) schreibt in seinen Lebenserinnerungen (1928): „Ich habe es Jhering nie vergeben, daß er seinen ‚Geist des römischen Rechts‘ unvollendet ließ, um den ‚Zweck im Recht‘ zu schreiben. Den Zweck dieses ‚Zweckes‘ habe ich nie eingesehen.

II. Rechtstheoretische Krise I: Ratio scripta oder Rechtsgefühl?

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Prinzipien sind eifersüchtig. Das gilt sowohl für prinzipielle Erklärungsmodelle, weil bei ihnen gerne Erscheinungen in das Prokrustesbett eines Prinzips gezwängt werden. Und das gilt gerade und erst recht für eine Rechtsfindung, die aus dem Rechtsgefühl schöpft, weil dabei die notwendige Differenzierung zwischen widerstreitenden Prinzipien und Parteiinteressen unterbleibt, weil mittels gefühlter Billigkeit nichts anderes erfolgt als die Deduktion aus lediglich einem (dem jeweils überwiegenden) ‚Gerechtigkeits‘-Prinzip, aus dem dann die Folgerungen mit engagierter „Consequenz“ gezogen werden (fiat iustitia et pereat mundus). Wer auch heute mit offenen Augen die juristischen und politischen Debatten verfolgt, wird leicht erkennen, wie sich die Grundstruktur der konkurrierenden Argumentationen regelmäßig auf ein normatives Prinzip reduzieren lässt.135 Und mit dem hier offengelegten Zusammenhang von Rechtsprinzip und Rechtsgefühl wird auch klar, warum normative Dispute so schnell emotional werden. Gefühl differenziert nicht. Gefühl verabsolutiert. Ab-Wägung, das maßgebliche Symbol der Iustitia, ist eine Eigenschaft allein der nüchternen ratio, von Verstand und Vernunft. Für die Rechtsdogmatik führt der Abschied von rational begründeter RechtsForm zu einem Kultus emotionaler Prinzipiendeduktion, und die Konstruktion einer Scheinform, wie sie die culpa in contrahendo bis heute darstellt, die nichts anderes ist als ein Pseudotatbestand, in den man nahezu jedes Prinzip hineinlesen kann, verschlimmert diesen Kultus noch dadurch, dass sie ihn verschleiert und nicht offenlegt. Die wissenschaftliche Grundlegung einer Methodenlehre des Es mag ketzerisch klingen, ich gäbe aber dieses ganze Werk für einen einzigen weiteren Band des ‚Geistes‘.“; deutlich kritisch auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1967), S. 451: „philosophisch dilettantischer Torso“. Zur Kritik und eigenen Distanzierung Jherings von diesem Werk auch: Helfer, Ein Nachtrag Jherings zum „Zweck im Recht“, JZ 1970, 12 f.; Braun, Eine briefliche Äusserung Jherings über sein Buch „Der Zweck im Recht“, JZ 2001, 342 f. m. w. N. 135  Für die Debatte in der Sozialphilosophie seit Rawls formuliert etwa Udo di Fabio (Die Kultur der Freiheit, 2005, S. 111 f.): „Was eigentlich hat mehr Gewicht, was hat Vorrang in dieser Trinität der großen politischen und rechtlichen Leitwerte? Ist Freiheit wichtiger als Gleichheit oder umgekehrt? Steckt in der Brüderlichkeit alles Positive der Gemeinschaft, der auch die Freiheit und Gleichheit zu dienen haben? Wo in diesem Dreiklang fühlt sich die Gerechtigkeit eigentlich am besten aufgehoben? Stellt sich Gerechtigkeit dort ein, wo die Menschen frei gelassen werden oder dort, wo die Gemeinschaft für Gleichheit der Lebensbedingungen sorgt? Die heute in der Sozialphilosophie vorherrschende Antwort, sei es auf dem Campus von Harvard oder dem von Oxford, sei es in Frankfurt oder in Berlin, heißt ‚Gleichheit‘. Dies hat enorme Konsequenzen für das Umfeld, nicht nur für die Verfassungsauslegung, sondern für die gesellschaftliche und politische Leitvorstellung, was sozial gerecht, was Gerechtigkeit überhaupt sei.“ Im Privatrecht geht es dann um die Reichweite der Privatautonomie, um Vertragsparität, Antidiskriminierung, Verbraucher‑ und Vertrauensschutz. Regelmäßig steht hinter der Argumentation auf einer höheren Abstraktionsebene eines der genannten drei Prinzipien. Die Zahl der einschlägigen Prinzipien lässt sich beliebig erweitern. Aber welche es letztlich auch sein mögen: Das hier beschriebene methodologische Problem „consequenter“ Prinzipiendeduktion aus dem Rechtsgefühl jedenfalls ist ubiquitär. Zum Problem insgesamt schon Benedict, Rechtskritik (2009).

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Rechtsgefühls konnte Jhering nicht liefern: Es gibt sie nicht.136 Wer das Rechtsgefühl als rechtsetzende Instanz beschwört, der beschwört die Simplizität emotionaler Prinzipiendeduktion und weicht damit sachlichen Differenzierungen und mit Fakten begründeten Abwägungen aus. Mit Friedrich Mommsen, dem Urheber der Unmöglichkeitsdogmatik,137 der mit seiner späten aber ausführlichen Kritik an Jherings „Entdeckung“ maßgeblichen Einfluss auch auf die diesbezüglich ausdifferenzierte Gestaltung des BGB genommen hat, lässt sich aus alledem nur die eine Quintessenz ziehen: „Meiner Meinung nach ist es im höchsten Grade bedenklich, bei juristischen Untersuchungen in der Weise, wie Jhering dies thut, die Billigkeit zum Ausgangspunkte der Untersuchung zu machen. Ueberdies ist es mit der Billigkeit ein eigenes Ding. Was der Billigkeit entsprechend erscheint, wenn man die Sache von dem Standpunkt des einen Contrahenten aus ansieht, erscheint manchmal als unbillig, wenn man sich auf den Standpunkt des anderen Contrahenten stellt.“138

III. Dogmatische Konstruktion „… aber Niemand wird behaupten wollen, daß man einen bestimmten Gesichtspunkt bloß deshalb zu wählen berechtigt ist, weil sich dann besser generalisieren läßt.“ Friedrich Mommsen, 1879139

1. Die „Entdeckung“ eines Rechtsprinzips? „… daß jeder Theil dem anderen für den ihm durch seine culpa zugefügten Schaden aufkommen muß.“ Rudolf v. Jhering, 1861140

Im Grunde ist mit der vorangestellten Analyse des Rechtsgefühls und seiner Enttarnung als Konsequenzen fordernder Prinzipienseismograph auch schon das ganze methodologische Geheimnis um die vermeintliche „Entdeckung“ der culpa in contrahendo offengelegt: Das Rechtsgefühl, auf das Jhering sich gleich zu Beginn seiner Abhandlung beruft, fordert von ihm gar nichts anderes als die „Consequenzen“ aus einem allgemeineren Rechtsprinzip auch für die als pathologisch vorgestellten Irrtumsfälle zu ziehen. Dass Jhering mit seinem späten Hinweis auf den „Unfug“, den die Prinzipien auch unter seinen Augen immer wieder angerichtet haben, nicht zuletzt auch seine eigenen vorschnellen 136  Vgl. vor allem die Kritik bei Riezler, Das Rechtsgefühl (1946), mit umfangreichen Nachweisen zu vorhergehenden Versuchen. Sein Fazit, 54 Jahre nach Jherings Tod: „Der Raum für eine Gefühlsjurisprudenz muß immer enger werden, das ist eine der vornehmsten Aufgaben der Rechtswissenschaft.“ 137 Friedrich Mommsen, Die Unmöglichkeit der Leistung (1853). 138  Friedrich Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 81 f. 139  F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 15. 140 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/40.

III. Dogmatische Konstruktion

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dogmatischen Konstruktionen einschließlich der culpa in contrahendo im Blick gehabt hat, ist durchaus naheliegend. Die Verabsolutierung des Prinzips und die Überschätzung der Konsequenz waren nicht nur vereinzelt das Problem Jhering’scher Konstruktion gewesen. Wie gesehen, hat Jhering schon als Privatdozent am Ende seiner ersten dogmatischen Abhandlung die Pathologie, der er selbst erlegen war, deutlich benannt: „meinem Princip zu Liebe Consequenzen zugegeben zu haben“, zu denen er sich bei gründlicher Auseinandersetzung mit der praktischen Seite der Sache nicht verstanden haben würde.141 Selbstkritisch war er bei der Revision seiner vorschnellen These zur „Gefahr beim Kaufcontract“142, und schließlich ist auch und gerade sein späteres Eingeständnis, dass die c. i. c. als Haftungsinstitut von ihm voreilig konstruiert wurde, ausdrücklich von eben jener Einsicht in die suggestive „Macht“ eines Prinzips getragen, vor der selbst der Wissenschaftler nicht gefeit sei.143 Einer Methodenlehre, die in der Entdeckung von Prinzipien die höchste Jurisprudenz erblickt, muss diese Einsicht freilich verborgen bleiben. Und so gehört es denn aus der nunmehr gefundenen Perspektive zu den nachhaltigsten Missverständnissen bei der Besprechung der „Entdeckungsgeschichte“ der culpa in contrahendo, dass mit dieser exemplarisch die Entdeckung sog. „rechtsethischer Prinzipien“ als Höhepunkt der Rechtsfortbildung gefeiert wird.144 Jhering habe quasi aus dem Nichts ein verborgenes Rechtsprinzip entdeckt. So bekundet etwa Larenz in seinem Lehrbuch zur juristischen Methodenlehre: „Am Anfang stand seine rechtsethische Wertung [ein moderner Ausdruck für Rechtsgefühl, JB], ihr folgte eine Analyse der Fälle, auf die sie sich bezog, und deren Vergleich mit anderen Fällen; darauf formulierte er das Prinzip.“145

Es sollte allerdings stutzig machen, dass man das die c. i. c. tragende und rechtfertigende „Prinzip“ bis heute nicht hat unstreitig dingfest machen können.146  Jhering, Abhandlungen aus dem römischen Recht (1844), S. 86 (oben II.2.a). (1859), 449 ff. Und die Bestätigung ist dann ja auch nicht ausgeblieben: Bereits 1853 hatte Friedrich Mommsen (Unmöglichkeit der Leistung, 1853, S. 297 f.) die Abhandlung als Zeugnis dafür gewertet, „wie viel Bestechendes die strenge Consequenz hat, selbst wenn sie zu den unrichtigsten Resultaten führt“. 143 Hierzu sogleich unten § 2 (Jherings Revocation); in diesem Sinne hat das methodologische Problem der Jhering’schen Konstruktion bereits treffend benannt: Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 66: „Wir treffen hier wieder auf einen wissenschaftlichen Fehler sehr verbreiteter Natur. So berechtigt das Streben ist, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aller Art auf Grundprinzipien zurückzuführen, so sehr dies gerade die vornehmste Aufgabe jeder Wissenschaft ist, so steht doch fest: innerhalb der technischen Jurisprudenz kann a priori kein Satz ausnahmslose Geltung beanspruchen.“ 144  Vgl. nur Larenz, Methodenlehre (6. Aufl. 1991), S. 422 ff., unverändert Larenz / ​Canaris, Methodenlehre (1995), S. 241 ff.; Esser, Grundsatz und Norm (4. Aufl. 1990) S. 162 ff. 145 Methodenlehre, (6. Aufl. 1991), S. 422 f.; vgl. auch Esser, Grundsatz und Norm (4. Aufl. 1990), S. 164. 146  Der Entdecker der „juristischen Entdeckungen“ (Dölle, 1958) etwa meint, „daß Jhering das normative Prinzip ‚entdeckt‘ habe, wonach bereits in der vorvertraglichen Phase … die 141

142 JhJb 3

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Und auch Larenz bleibt die Benennung jenes „rechtsethischen Prinzips“, auf welchem Jherings Konstruktion beruhen soll, schuldig; denn die Verbindung der c. i. c. mit dem „Vertrauensprinzip“ und der „Lehre von den Schutzpflichten“ ist bei ihm bereits wieder eine neue „juristische Entdeckung“. Kurz: So oft und viel besungen das Lied von der „Entdeckung der culpa in contrahendo“ auch ist, vor dem eigentlichen Novum der hier zelebrierten Rechtsfindung besteht offenbar bis heute ein allgemein devot verklärtes Staunen. Ob hierbei die eigene Vorstellung vom Wesen der Rechtsfortbildung die Interpretation des zwischen „Scherz und Ernst“ geschriebenen Aufsatzes von 1861 oder umgekehrt die Interpretation das eigene Methodenverständnis geprägt hat, mag an dieser Stelle ebenso offen bleiben wie der damit zusammenhängende Streit um Jherings Ein-

verhandelnden Parteien in ein konkretes, Pflichten und Rechte erzeugendes Schuldverhältnis treten“ und sieht die „Entdeckung“ Jherings des Weiteren darin, „eine Partei auch dann nach den Grundsätzen des Vertragsrechts (und nicht nur nach denen des Deliktsrechts) haften zu lassen, wenn sie beim Vertragsschluß … ein den Gegner schädigendes Verhalten in vorwerfbarer Weise beobachtet, gleichviel, ob ein Vertragsverhältnis zustande kommt oder nicht (…)“. Mit Gewissheit behauptet Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 331: „Das leitende Prinzip Iherings culpa in contrahendo kam in der Entdeckung des sog. ‚negativen Vertragsinteresses‘ zum Ausdruck.“; ebenso Giaro, Culpa in contrahendo (2000), S. 116: „Mit der culpa in contrahendo entdeckte also Jhering das negative Interesse“; und auch Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses (2007), S. 31: „Seine eigentliche Leistung ist (…) dadurch zu charakterisieren, daß er durch die Einführung des negativen Interesses (…) einer Differenzierung der Sanktionen den Weg bereitete.“; Kindereit, Zivilrechtliche Entdecker (2001), S. 107/128, 131, wiederum glaubt an eine vorvertragliche „Garantie“: „Allein mit der Aufnahme von Vertragsverhandlungen gibt er [der Verhandlungspartner] die Versicherung ab, eine sorgfältige Prüfung vorgenommen zu haben, daß in seiner Person dem wirksamen Vertrag keine Hindernisse entgegenstehen. Damit hat Jhering sein allgemeines Prinzip gefunden.“ HKK / ​Harke, § 311 erkennt bei Jhering „nur … die erste Formulierung des Prinzips einer quasivertraglichen Haftung im Vorfeld eines Vertragsschlusses“ (Rn. 2) bzw. meint ebenfalls, dass Jhering den „Rechtsgrund“ seiner c. i. c. „in einer Garantie gesehen“ habe (Rn. 30); deutlich ders., Das neue Sachmängelrecht, AcP 205 (2005), 67/88: „Das einzig plausible, zugleich regelmäßig übersehene Erklärungsmodell für die Haftung wegen culpa in contrahendo ist das ihres Schöpfers, Rudolph von Jhering. Dieser erkannte den Rechtsgrund der Haftung für vorvertragliches Verschulden in einer Garantie (…).“ Andere enthalten sich in dieser Frage, schauen nicht auf das Ergebnis, sondern auf den Prozess und beharren insoweit auf der klassischen „naturhistorischen Methode“, mit der die c. i. c. ‚gefunden‘ sei: Choe, Culpa in contrahendo bei Rudolph von Jhering (1988), betont einerseits die Kontinuität im methodischen Denken Jherings (S. 236) und stellt andererseits scharfsichtig klar, dass die c. i. c. im „Modellvorgriff konzipiert“ wurde, um sie in die „Quellen hinein‑ und wieder herauszulesen“ (S. 99). Interessant ist auch der zumindest im Grunde trefflich in Bezug genommene Dualismus von sabinianischer und prokulianischer Rechtsschule; hier die Betonung des institutionellen, formalen und dort des prinzipiellen, materialen Elements (S. 140). Akzeptiert man den Dualismus in dieser Lesart, so war die c. i. c. in der Tat eine überwiegend sabinianische Kreation. Der prokulianische Geist hielt Jhering allein noch von der Aufstellung einer großen Generalklausel zurück (vgl. Luig, Von Savignys Irrtumslehre zu Jherings culpa in contrahendo, ZNR 1990, 68/72; anders herum entscheiden würde wohl Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 176 ff., für die in Paulus und Ulpian inkarnierte Schlussphase dieser Schulen). Für die Frage nach dem „entdeckten“ Prinzip sind diese Betrachtungen freilich nicht weiterführend.

III. Dogmatische Konstruktion

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fluss auf die Entwicklung der Freirechtsschule.147 An dieser Stelle geht es nur darum, die Bedenklichkeit gefühlter Rechtsfortbildung für den konkreten Fall der c. i. c. nachzuweisen. Und hierfür ist zunächst eines definitiv klarzustellen: Jhering gewinnt seine c. i. c. nicht wirklich aus einer „sorgfältigen Analyse“ von Einzelfällen mittels Induktion, sondern im Gegenteil ganz im Sinne seiner an den Anfang gestellten Gefühlsmethodologie: vermittels schlichter Deduktion aus jenem gleich zu Beginn des Aufsatzes beschworenen emotionalen Prinzip (Prinzipiendeduktion). Es kommt nicht von ungefähr, dass die langjährigen fruchtlosen Begründungsversuche endlich auf den allgemeinen Grundsatz des neminem laedere hinausgelaufen sind:148 „… daß keiner den andern beschädigen, und der etwa zugefügte Schade gut gemacht werden solle.“149 Ganz in der Nähe liegt nun in der Tat auch der von Jhering gefühlte Ausgangspunkt für die Kreation seiner c. i. c. Denn um nur eine kleine Nuance konkreter ist Jhering mit dem Satz von der „Billigkeit“ und von der „Trostlosigkeit“ eines diesem allgemeinen Grundsatz widerstrebenden Rechtszustandes: „… der culpose Theil geht frei aus, der unschuldige wird das Opfer der fremden Culpa!“150 In dieser wie in jener Aussage liegt nichts anderes als der Verweis auf ein allen Rechtskulturen zu allen Zeiten zugrundeliegendes Rechtsprinzip: dem der Vergeltung.151 Das hier von Jhering emotional in Anspruch genommene Vergeltungsprinzip meint den archaischen Tun-Erdulden-Zusammenhang bzw. – in aristotelischer Tradition – die iustitia commutativa, den Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit. Verknüpft mit dem Schuldmoment begegnet es bei Jhering in der qualifizierten Gestalt des Verschuldensprinzips: dem „allgemeinen Gesetz, … daß jeder Theil dem anderen für den ihm durch seine culpa zugefügten Schaden aufkommen muß“.152 Nun hatte sich freilich das gemeine Recht nicht darauf verstanden, eine allgemeine Verschuldenshaftung rechtlich anzuerkennen. Lediglich in der vertraglichen Haftung und für das Deliktsrecht war im relativ eng gezogenen Rahmen der actio legis aquiliae die culpa scheinbar zu einem allgemeinen Haftungsgrund gemacht. Die dogmatische Aufgabe bestand für Jhering daher darin, eine eingeschränkte und zugleich noch fassliche Form für das aus der deliktsrechtlichen 147  Das Freirecht klopfte bereits an die Tür der juristischen Methodenlehre. Dass Jhering nicht zu seinen Vorkämpfern gehörte, konnte er nicht mehr mit der notwendigen Deutlichkeit klarstellen; dass er dieser Bewegung den Boden bereitet hat, indem er nur allzu plakativ das Rechtsgefühl über die juristische Form stellte, lässt sich aber auch nicht leugnen; vgl. hierzu Behrends, Rechtsgefühl (1986), S. 70 ff., 165 ff. Ausf. noch unten § 5 I. 148 In diesem Sinne und im Ausgangspunkt zutreffend: Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/460 ff. 149  So die Formulierung im Naturrecht bei Pufendorf, zitiert bei Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/462, Fn. 262; ausf. zum Prinzip des neminem leadere, unten § 3 II. 150  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1961), 1/2. 151  Hierzu nur Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941) 152 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1961), 1/40.

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§ 1 Anno 1861: Jherings „culpa in contrahendo“

Diskussion hinlänglich bekannte Verschuldensprinzip zu konstruieren.153 Und das versuchte er entschieden dadurch, dass er die generelle Haftung für bloße culpa auf Fälle in contrahendo beschränkte – oder umgekehrt aus der strengeren Sicht des gemeinen Rechts gewendet: Die kontraktliche culpa-Haftung auf Fälle in contrahendo erweiterte. Ebenso wie später das BGB hatte nämlich auch das römische Recht nicht das „allgemeine Gesetz“ aufgestellt, „daß Jeder den durch seine Schuld, wohl aber den Satz, daß Jeder den durch seine Arglist entstandenen Schaden zu ersetzen verpflichtet sei“.154 D. h., es gab eine allgemeine actio doli, nicht aber eine allgemeine actio culpae: eine allgemeine Haftung für vorsätzliche / ​ arglistige, nicht aber für nur fahrlässige Schädigung. Die lediglich für vertragliche Verhältnisse anerkannte umfassende Realisierung des Verschuldensprinzips war aus Jherings Perspektive also auf gescheiterte Vertragsschlüsse zu erweitern: Dies war die erste Verallgemeinerung, die als „Consequenz“ vom Jhering’schen Rechtsgefühl gefordert wurde. Dieses in der Faszination für ein Prinzip liegende Ausdehnungs-Phänomen begleitet die ganze Geschichte der culpa in contrahendo; denn dieselbe „Consequenz“ wurde mit anderen Vorzeichen 60 Jahre später unter Geltung des BGB mit der „Wiederentdeckung“ der culpa in contrahendo (1911) erneut gezogen.155 Die nächste Phase dieses Abstraktionsprozesses sollte dann weitere 80 Jahre in Anspruch und unter unseren Augen Gestalt annehmen: Die letzte „Consequenz“, die vom Rechtsgefühl insoweit gefordert wird, zielt folgerichtig auf eine umfassende haftungsrechtliche Generalklausel für sämtliche (culposen) Schädigungen. Ob man diese dann dogmatisch als Schutzpflichtverletzung, Vertrauensschutz, Selbstbindung ohne Vertrag, Redlichkeitserwartung oder anders deklariert oder mit dem „Elementarsatz“ neminem laedere, dem Hinweis auf „genuines Deliktsrecht“ oder die großen haftungsrechtlichen Generalklauseln anderer Rechtsordnungen rechtfertigen will, ändert an dem methodologischen Grundprinzip der Abstraktion letztlich nicht viel.156 Das „verfeinerte Rechtsempfinden“, auf das in der Ausdehnungsgeschichte der c. i. c. immer wieder

153 Das Verschuldensprinzip findet sich wohl zuerst von Hugo Grotius explizit ausgesprochen: Naturrechtlich hafte nur, wen eine Schuld treffe (De Iure Belli ac Pacis, 1642, lib. II, cap. XVII); daraus wurde nach verbreiteter Auffassung für das frühe gemeine Recht und im Zuge der Naturrechtskodifikationen der allgemeine haftungsrechtliche Satz: Jeder haftet für sein Verschulden; Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 304 will dementsprechend die „eigentliche historische Wurzel“ des Schuldgrundsatzes im usus modernus sehen. Ausf. hierzu unten § 3 (Die culpa als causa obligationis?). 154 Windscheid, Pandekten II (1906), § 451. Das so verstandene Verschuldensprinzip hatte in der deliktischen Haftung eine zurückhaltende Ausformung erfahren: actio doli (generelle Haftung für arglistige Schädigungen, heute: § 826 BGB) und die actio legis Aquiliae (besonderer Rechtsgüterschutz, heute: § 823 I BGB); vgl. jeweils D. ​4, ​3 de dolo malo; C. ​2, ​20; I. ​4, ​3 de lege Aquilia; D. ​9, ​2 ad legem Aquiliam; C. 3. 35; Windscheid, Pandekten II (1906), § 455. 155  Ausf. unten § 5 II.2. 156 Ausf. hierzu unten § 7 II. (Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel).

III. Dogmatische Konstruktion

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Bezug genommen wird, ist nichts anderes als das allgemeine Haftungsprinzip, das „gemahnt: Du ziehst die letzten Consequenzen nicht!“. Streng genommen offenbart sich der evolutionsgeschichtliche Fortschritt der Zivilrechtswissenschaft so gesehen als eine Kunst, mit vielen Worten am Ende nicht viel prinzipiell Neues zu sagen, sondern bestehende differenzierte dogmatische Ausformungen unter Berufung auf ein „verfeinertes Rechtsempfinden“ als unbillige Beschränkungen eines allgemeineren letzten Prinzips und mithin als überlebt zu erkennen. Das letztgefühlte Prinzip wird zur allgemeinen Generalklausel, zur Norm ohne Form. Der mit Inbrunst geführte dogmatische Streit, ob man das Prinzip denn als deliktisches, vertragliches, quasideliktisches, quasivertragliches oder gar als ‚gesetzliches‘ einzuordnen habe, gewinnt von dieser prinzipiellen Ebene aus betrachtet den Charakter eines müßigen Glasperlenspiels. Für Jhering jedenfalls war es sogar in seiner gefühlsmethodologischen Hochphase noch unvorstellbar, die deliktsrechtliche Generalklausel für dolose Schädigungen (actio doli) einfach einer allgemeinen Haftung auch nur für culpa lata zu öffnen, wie es seinerzeit bereits Friedrich Mommsen vorgeschlagen hatte: „Wohin würde es führen, wenn Jemand in außercontractlichen Verhältnissen schlechthin, wie wegen dolus, auch wegen culpa lata in Anspruch genommen werden könnte! Eine unvorsichtige Äußerung, die Mittheilung eines Gerüchts, einer falschen Nachricht, ein schlechter Rath, ein unbesonnenes Urtheil, … kurz, alles und jedes würde bei vorhandener culpa lata trotz aller bona fides zum Ersatz des dadurch veranlaßten Schadens verpflichten, und die act. de dolo würde in einer solchen Ausdehnung zu einer wahren Geißel des Umgangs und Verkehrs werden, alle Unbefangenheit der Conversation wäre dahin, das harmloseste Wort würde zum Strick.“157

Auch wenn Jhering hier die culpa lata in der ihm eigenen rhetorischen Übertreibung zur culpa levissima werden lässt,158 so erfährt die von ihm befürwortete vorvertragliche Verschuldenshaftung im Interesse der Verkehrssicherheit doch immerhin noch zwei definitive Einschränkungen: Erstens sollte bloße culpa nur bei einem unklagbaren Scheinkontrakt zur Haftung verbinden; Anknüpfungspunkt blieb damit immer noch der objektive Tatbestand des Vertragsschlusses.159 Und zweitens durfte nur den einen Teil ein  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 12 f.  F. Mommsen verteidigt seine „Gleichstellung der lata culpa mit dem dolus“ in einem Anhang seiner „Erörterungen“ (1879), S. 175 ff. In der ihm eigenen Gründlichkeit wird sehr schnell deutlich gemacht, dass die zitierte Passage bei Jhering von deutlicher Überzeichnung getragen wird. Ebenso Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 32, Fn. 53: „Vor allem scheint auch uns Jhering a. a. O., p. 13 den Begriff der lata culpa viel zu harmlos zu fassen …“; ausf. zum Problem unten § 2 II.3. (Objektivität des Rechts). 159  Eingehend Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/42 f. und erneut S. 88: „Wie in allen übrigen Anwendungsfällen setzt unsere Klage auch in diesem den äußerlich erfolgten Abschluß des Contracts, also Acceptation von Seiten des Oblaten voraus …“ Daher auch die heute keineswegs mehr passende Begrifflichkeit „Verschulden bei Vertragsschließung“. Aus dem „Vertragsschluß“ wurde auf dem Weg zur haftungsrechtlichen Generalklausel zunächst 157 158

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Vorwurf der culpa treffen; culpa oder fehlender guter Glaube beim anderen Teil schloss einen Anspruch kategorisch aus (Grundsatz der Culpacompensation).160 Man ist bereits hier an die spätere Diskussion um die culpa in contrahendo erinnert, bei welcher der Gesichtspunkt der „Sonderverbindung“ als das maßgebliche einschränkende Kriterium gegen eine große deliktsrechtliche Generalklausel ins Feld geführt worden ist.161 Die Argumentation ist dabei völlig analog zur Auseinandersetzung zwischen Jhering und Mommsen verlaufen, nur haben die späteren Anhänger einer „dritten Haftungsspur“ von den Pflöcken, die Jhering noch einschränkend formuliert hatte, nicht mehr viel übriggelassen: Die Notwendigkeit eines „Vertragsschlusses“ wurde Stück für Stück zugunsten eines fassungslosen „Vertrauenskontinuums“ aufgegeben162 und der Gedanke der Culpacompensation163 (vgl. noch §§ 122 Abs. 2, 179 Abs. 3, 307 Abs. 1, S. 2 a. F. BGB) ist gänzlich vergessen.164 Aber selbst diese erste Jhering’sche ‚kleine‘ Generalklausel enthielt bereits bedenkliche und leider sehr nachhaltige Konstruktionsmängel. Der wichtigste offenbart sich schon aus der zugrundeliegenden Prinzipiendeduktion: Eine vorschnelle Verallgemeinerung, wo sorgfältiges Differenzieren am Platz gewesen wäre – auch hierin unterschieden sich Jhering und Mommsen. Wie Jhering psychologisch scharfsinnig in seinem „Kampf ums Recht“ bemerkt hatte, ist es immer die Vermutung des absichtlich (d. h. dolos) begangenen Unrechts, die den Geschädigten nach Vergeltung rufen lässt.165 Das Vergeltungsprinzip wird bei Vorliegen eines Schadens immer nach einer Haftung und einem Verantwortlichen für diese Haftung suchen. Dem Recht aber obliegt es, die Vergeltungssucht zu kühlen und sicher zu bestimmen, was denn Unrecht und einer Vergeltung bedürftig ist. Bei vorsätzlichen Schädigungen wäre es in der Tat „trostlos“, wenn der dolos Handelnde frei ausginge und der dolos Geschädigte auf seinem Schaden sitzen bliebe. Insoweit trägt der dolus das Kainsmal des Unrechts sicher an der Stirn – die culpa hingegen nicht. Die Evidenz eines „Verschuldensprinzips“ mag im ersten Fall bestehen, im zweiten nicht. Das Ende der Eindeutigkeit ist nämlich schnell erreicht, je mehr man sich von einer dolosen Schädigung einer Haftung für bloßen „Causalnexus“ nähert; einem „Causalnexus“, zu dem dann auch die „Vertragsverhandlung“, dann die „Vertragsanbahnung“ und schließlich der „ähnliche geschäftliche Kontakt“, kurz: culpa in tangendo. 160  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/82: „… scheint es mir nöthig, hier das Erforderniß der bona fides des anderen Theils vorzugsweise in Erinnerung zu bringen“ und S. 105: „Dagegen schließt hier, wie in allen Fällen der culpa in contrahendo, die eigene culpa den Anspruch auf Schadensersatz aus.“ Dieser Gedanke (ausf. unten § 3 III.2.) ist, auch wenn er sich noch explizit in §§ 122 Abs. 2 und 179 Abs. 3 S. 1 BGB ausgedrückt findet, weitgehend in Vergessenheit geraten. 161  Ausf. unten § 7 II. 162 Ausf. zu dieser Entwicklung unten §§ 5, 6, 7 I. 163  Hierzu insb. unten § 3 III.2. 164  Hierzu noch unten § 3 III.2. (zu den Gründen), § 5 III. (zur weiteren Entwicklung). 165 Jhering, Kampf ums Recht (1874), S. 22 f.

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der Geschädigte seinen Beitrag immer mit beigesteuert hat. Das Schuldmoment muss als Kriterium für Unrecht und Vergeltung hier endlich an nur schwer zu definierende Grenzen stoßen. Das ist nicht nur eine Einsicht, die Jhering in seiner Revisionsschrift über das „Schuldmoment im römischen Recht“ deutlich bekannt und zur Revocation seiner culpa in contrahendo veranlasst hat, sondern kennzeichnet im Kern die moderne Entwicklung des Haftungsrechts: von der Gefährdungshaftung im Deliktsrecht bis zum Verzicht auf das Verschuldensprinzip im Familienrecht. Der Umstand freilich, dass der „Entdecker“ höchstpersönlich an seiner Incontrahendo-Generalklausel nicht mehr festgehalten hat und diese aus guten Gründen ursprünglich auch nicht Gesetz geworden ist, aber gleichwohl bis heute der Mythos genährt wird, dass „… seine Thesen sich geradezu schlagartig und total durchsetzen konnten“166 und sich dieses „Haftungsinstitut“ tatsächlich zur actio culpae mit Gesetzeskraft entwickelt hat, macht es erforderlich, sich nicht pauschal mit den methodologischen Bedenklichkeiten einer Prinzipiendeduktion und vorläufigen Bedenken gegen das vermeintliche Haftungsprinzip zu beruhigen, sondern auch und gerade die Details der dogmatischen Konstruktion und ihre Folgen genauer zu besehen. 2. Prokrustes: Die culpa auf dem Streckbett „Die regelmäßige Voraussetzung der Verpflichtung zum Schadensersatz auf Seiten des Beklagten ist die Verschuldung. Gelingt es uns, bei unserer Klage letztere nachzuweisen, so ist damit die Frage nach dem Grunde unserer Klage gelöst.“ Rudolf v. Jhering, 1861167

Jhering hatte konstruktiv zwei Probleme. Er musste erstens eine sachlich tragende Begründung für die „gefühlte“ Schadensersatzklage liefern und zweitens klären, in welche der vom römischen Recht überkommenen Klageformen die Konstruktion am besten passt. Auch wenn die zweite Frage aus heutiger Sicht eher formal und wenig aktuell erscheinen mag, in der Sache hat sich die damit verbundene Problematik, die an der grundlegenden „Dichotomie“ von Delikts‑ und Vertragsrecht anknüpft, bis in die Diskussion der Gegenwart unfruchtbar fortgepflanzt.168 Für Jhering war mit der Entscheidung gegen eine große schadensrechtliche Generalklausel, wie sie noch im frühen gemeinen Recht nicht nur im Allgemeinen, sondern auch für die Lösung der hier im Konkreten benannten Probleme des Willensdogmas von anderen im Ansatz gefordert wur166  So ohne jeden weiteren Anhaltspunkt (außer den der Faktizität): Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/452. 167 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/34. 168  Vgl. nur die umfassende Kritik bei Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 371 ff., insb. S. 385 ff. Zum dogmatischen Problem zuletzt: Immenhauser, Das Dogma von Vertrag und Delikt (2006). Wir werden im Laufe der Untersuchung noch häufiger auf diese Frage stoßen.

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de,169 notwendig auch die Entscheidung gegen eine deliktsrechtliche Lösung und für die „Contraktsklage“ gefallen. Im Rahmen eines Vertragsverhältnisses war die umfassende Haftung für culpa anerkannt, die Verschuldenshaftung also vollständig durchgeführt, und sie hatte den Vorzug, an einen konkreten Tatbestand anknüpfen zu können: den Vertragsschluss. Die kontraktliche Haftung war nun aus Sicht Jherings lediglich auf unwirksame Verträge, d. h. auf Scheinkontrakte auszudehnen,170 ohne deshalb sogleich einen Dammbruch bei der außervertraglichen Haftung mit herbeizuführen. Inhaltlich interessant ist hier zunächst allein das erste, das rechtsdogmatische Problem der Haftung, nämlich ihre eigentliche Begründung. Das, was Jhering durch seine Anlehnung an die Vertragsklage und das Erfordernis eines Scheinkontraktes konstruktiv-rechtsfortbildend aus dem Verschuldensprinzip zu begründen suchte, war nichts anderes als das, was wir heute allgemeiner auch als Rechtsscheinhaftung bezeichnen würden; denn gehaftet wird für den zurechenbar gesetzten Schein eines wirksamen Vertrages. Der Haftungsgrund liegt bei Jhering freilich im Verschuldens‑ und nicht wie heute im Vertrauensprinzip. Für die Begründung der Haftung macht das durchaus einen signifikanten Unterschied: Das Verschuldensprinzip konzentriert auf die Zurechenbarkeit des gesetzten Rechtscheins, das Vertrauensprinzip deduziert eine Haftung allein aus den Folgen desselben; das Verschuldensprinzip schaut auf die innere Verfasstheit des Handelnden (den Grad der Sorglosigkeit), das Vertrauensprinzip auf die des Geschädigten (den Grad der Enttäuschung). Die Vorstellung aber, allein aus einem Vertrauensprinzip eine Haftung zu deduzieren, war dem 19. Jahrhundert noch völlig fremd. Mit der Tendenz zu einer Verallgemeinerung der Culpa sah es da schon anders aus:

169  Vgl. für den vorliegenden romanistischen Kontext vorerst etwa: Drechsler, Über den Schadenersatz bei nichtigen Verträgen (1873) S. 16: „wenn eine Partei dola oder culpa jene Nichtigkeit veranlasst habe, der andere Theil aber an dieser Schuld keinen Antheil habe“; Thöl, Handelsrecht I (3. Aufl. 1854), S. 104 f. (bei Falschübermittlung durch „Nuntius“ actio doli); und vor allem F. Mommsen, Unmöglichkeit der Leistung (1853), S. 122 f./109: „In der Person des Schuldners setzt die Entschädigungsklage voraus, dass derselbe sich bei Abschließung des Vertrages eines dolus oder einer culpa lata schuldig gemacht hat. In einem weiteren Umfange können wir die Klage nach den allgemeinen Grundsätzen des römischen Rechts nicht zulassen, weil nur der dolus, dem die culpa lata gleich steht, allgemein als causa obligationis anerkannt ist.“; bekräftigt in: ders., Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 210 ff.: Lata culpa als causa obligationis. Zum generellen Problem der gemeinrechtlichen Entwicklung von der actio legis aquilia zu einer allgemeinen actio culpae ausf. unten § 3 (Die culpa als causa obligationis?). 170  „Nicht bloß die bestehenden, sondern bereits die entstehenden Contractsverhältnisse müssen unter dem Schutz der Regeln über die culpa stehen (…)“ JhJb 4 (1861), 1/42.

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a) Abstraktion: Die Konstruktion der Klage „Ganz unrichtig nehmen Manche an, der irrende Verkäufer sey wegen Culpa verantwortlich.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1840171

Jhering konzipiert seine c. i. c. nicht gleichsam aus dem Nichts. Der Bedeutungswandel vom altrömischen Formalismus hin zur Geltung des Willensdogmas der Aufklärungszeit hatte bereits andere auf die Idee gebracht, entgegen Savignys „es ist die culpa gar nicht allgemein eine causa obligationis“172 die Vertragsnichtigkeit bei mangelndem Konsens mit einem culposen Verhalten in Verbindung zu bringen. Gerade bei den beiden zentralen Problemfällen: dem des wesentlichen Irrtums173 und dem des Widerrufs einer Offerte174, hatten sich bereits früh Stimmen für einen Ersatzanspruch erhoben. Das Problem blieb freilich die Begründung. Wenn überhaupt, so wurde mit Vertragsfiktionen oder einer erweiterten deliktsrechtlichen Haftung nach „allgemeinen Grundsätzen“ argumentiert; eine Bezugnahme auf Quellenstellen war jedenfalls nicht möglich: Es gab keine. Mit seiner Affinität für das Prinzipielle fiel dem Meister dogmatischer Konstruktion nun freilich eine Gemeinsamkeit jener zwei diskutierten Fallgruppen mit einer anderen Fallgruppe auf, die ebenfalls zur Diskussion stand175 und für welche die Quellen offenbar in immerhin zwei Fällen eine Klage gewährten: die objektive Unmöglichkeit der Leistung176. Obwohl auch diese Stellen für die dann folgende Jhering’sche Konstruktion alles andere als eindeutig waren

171 Savigny,

System III (1840), S. 295 Note (d).  Savigny, System III (1840), S. 295 Note (d). 173  Unklar Thibaut, System des Pandekten-Rechts (2. Aufl. 1805), § 147: Wenn der Acceptant im wesentlichen Irrthum sich befindet so ist der Vertrag ungültig „vorbehaltlich einer Entschädigung“; ausf. dann: Richelmann, Der Einfluss des Irrthums auf Verträge (1838), S. 132 ff.: „Nothwendige Voraussetzung ist die culpa des Beklagten, denn da der Vertrag von den Gesetzen für nichtig erklärt wird, so kann auch aus dem, die Hauptverpflichtung begründenden Versprechen, keine Klage zulässig sein, es muß also ein neues Fundament, und dieß ist die culpa, hinzukommen …“; Schweppe, Das römische Privatrecht in seiner heutigen Anwendung (1831), § 418 wollte einen Entschädigungsanspruch nach allgemeinen Grundsätzen gewähren, d. h. entweder auf der Basis der allgemeinen Deliktsklagen: der actio legis Aquiliae oder, ebenso wie Thöl, Handelsrecht I (3. Aufl. 1854) § 25, S. 104 f. (für die Falschübermittlung), mit einer Ausdehnung der actio doli auch auf culpa helfen. 174 Scheurl, Vertragsschluß unter Abwesenden, JhJb 2 (1857), 284 ff., der die Konstruktion eines Auftrages zu Hilfe nimmt: In der Offerte liege zugleich ein Auftrag und aus diesem Auftragsverhältnis könne eine Klage gegeben werden (actio mandati contraria); ähnlich Windscheid, bis zur 5. Aufl., Pandekten II § 307 Anm. 5: Annahme einer Garantie; Bekker, Verträge unter Abwesenden, Jahrbuch des gemeinen dt. Rechts, 2 (1858), 342/402: actio doli; Goldschmidt, ZHR 13 (1869), 332/335: Treu und Glauben. 175 Zuerst wohl F. Mommsen, Die Unmöglichkeit der Leistung (1853); Savigny, Obligationenrecht (1851/53), S. 381–385. 176  1. Verkauf einer res extra commercium (Modestin, D. ​18, ​1, ​62, ​1; Inst. 3.23,5; Ulpian, D. ​11, ​ 7, ​8, ​1) und 2. Verkauf einer nicht existierenden Erbschaft (Iavolen, D. ​18, ​4, ​8 und Paulus fr. 9.). 172

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und recht vielschichtig interpretiert werden konnten,177 war nun zumindest für Jhering dem Bedürfnis nach einer positiv-rechtlichen Anknüpfung genügt und vermeintlich „fester quellenmäßiger Grund und Boden betreten“178, von dem aus sich in bekannten Bahnen induktiv abstrahieren ließ. Die Analyse der Un177  Über die Brauchbarkeit dieser Quellenstellen ist immer wieder viel diskutiert, in Frage gestellt und gezweifelt worden: vgl. nur Drechsler, Über den Schadensersatz bei nichtigen Verträgen (1873); F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 12 ff.; Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 10 ff. mit dem kennzeichnenden Fazit S. 56: „Gänzlich ablehnend müssen wir uns gegen jeden Versuch erklären, aus den römischen Quellen die Rechtfertigung für ein dem modernen Verkehr angemessenes Prinzip der Schadenshaftung bei unwirksamen Verträgen zu geben. Die einzigen Quellenstellen, die überhaupt in Betracht kommen, sind in der That die von Jhering verwerteten … Man mag sich zur Interpretation derselben stellen, wie man wolle, unbestreitbar ist, daß es einfach unmöglich erscheinen muß, über Vermutungen hinweg zu einem sicheren, unanzweifelbaren Sinn ihres Inhalts zu kommen …“; zuletzt noch Choe, Culpa in contrahendo (1988), S. 13 ff. In der Sache geht es dabei wohl um dreierlei: Erstens widersprechen diese Stellen den Aussagen, die an anderen Stellen ganz klar verkünden: „Impossibilium nulla obligatio est“ und keinerlei Entschädigung gewähren (vgl. nur D. ​44, ​7, ​1, ​9 ebenfalls für eine res extra commercium; Windscheid, Pandekten II, § 264 Anm. 2 m. w. N.). Diese Diskrepanz wurde vor allem mit der Abhängigkeit des Kenntnisstandes von Käufer und Verkäufer zu erklären gesucht (vgl. die etwas sybillinisch anmutenden Ausführungen bei Windscheid, Pandekten II, § 315; auch F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss, S. 36), und dieser Unsicherheit ist letztlich wohl auch die Fassung des § 307 BGB a. F. geschuldet: Der Vertrag wird hinsichtlich eines Schadensersatzanspruches als wirksam angesehen, wenn der Verschuldensvorwurf einseitig ist; ist auch die andere Seite in culpa, so wird der Vertrag insgesamt als unwirksam behandelt und es gibt keinen Schadensersatzanspruch; d. h. es ginge dann in der Tat nur um einen speziellen Fall der Culpacompensation. Nicht unplausibel ist auch der Hinweis von Drechsler (aaO., S. 49 ff.), wenn er auf den Unterschied der jeweils zugrundeliegenden Vertragsform und damit auf den Gegensatz der actio stricti iuris und der actio bonae fidei aufmerksam macht: „Daß, nachdem ein solcher Mangel die Nichtigkeit des contractus stricti juris stets herbeiführte, eine Contractsklage nicht gewährt wurde, bedarf kaum der Bemerkung. Alle Stellen, welche in unseren Fällen einen Ersatz gewähren, mögen sie nun den Contract für nichtig oder existent erklären, handeln blos von bonaefidei-Contracten, und zwar meist der emtio-venditio. Keine einzige gewährt die actio stricti juris.“ Zweitens ist keineswegs gesichert, dass es in diesen Stellen um das von Jhering so definierte negative Interesse als Rechtsfolge ging; hierzu insb. Brock, aaO., S. 10 ff. Drittens konnte in diesen Stellen jedenfalls bisher kein Hinweis auf eine culpa entdeckt werden, vgl. F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss, S. 12 ff., 34 ff.; Windscheid, Pandekten II, § 315 Anm. 7; Medicus, Entdeckungsgeschichte (1986), S. 170 ff.; zusammenfassend Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 25 ff.: „Über die Voraussetzungen der Haftung … äußern sich die Quellen mit keinem Worte, so daß wir genötigt sind, auf dieselben zu schließen.“ Es ist daher gar nicht ausgeschlossen, dass – wie insb. F. Mommsen klargestellt hat – hier ein dolus des Verkäufers in Rede stand (so etwa auch Ude, AcP 48 (1865) 246/260 ff.); das scheint auch mir die richtige Deutung; vgl. insb. Inst. 3.23,5: „quod sua interest deceptum eum non esse“; in diesem Sinne auch deutlich Modestin, D. ​18, ​1, ​62, ​1 „ne deciperetur“ und deutlich dann auch § 2: die Gefahr liegt beim Käufer, wenn der Verkäufer nicht dolos gehandelt hat: „res in aversione empta, si non dolo venditoris factum sit …“; im Übrigen passt nur diese Deutung zu dem Verhältnis culpa – dolus, das die Römer ganz generell eingenommen haben: Es ist die culpa nicht eigentlich eine causa obligationis. 178  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/8; Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 20 f. bemerkt hierzu: „Nach all dem Vorstehenden werden wir uns der Erkenntnis nicht verschließen können, daß der ‚feste quellenmäßige Grund und Boden‘, den Jhering mit

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möglichkeitsfälle lieferte die abstrakten Tatbestandsmerkmale, die auch zu den anderen Problemfällen passten: 1. Äußerer Abschluss des Kaufcontractes,179 aber Nichtigkeit desselben180 2. Verschulden des Verkäufers181 3. Kein Verschulden beim Käufer182 Damit war die Verallgemeinerung, der abstrakte Tatbestand der neuen Klageform, bereits gewonnen. Hinsichtlich der Rechtsfolge galt es nun nur noch, die bis heute nicht endgültig geklärte Frage zu erörtern, wie denn ein nichtiger Vertrag dennoch Rechtsfolgen zeitigen können soll. Hier greift Jhering willig auf Mommsens Differenzierung zwischen „positivem“ und „negativem Interesse“ zurück,183 um so die bis heute grundlegende These vorzustellen, dass es eben unterschiedliche Rechtsfolgen gebe: Auch ein nichtiger Vertrag sei nicht eigentlich nichtig, sondern ermögliche dennoch die Contractsklage – freilich (nur) auf das „negative Interesse“. „… der Ausdruck Nichtigkeit kann also, wenn er passend gebraucht sein soll, nur einen beschränkten Sinn haben, nicht die Abwesenheit sämmtlicher, sondern nur bestimmter Wirkungen prädicieren.“184

b) Scherz und Ernst: Die ersten Fallgruppen der c. i. c. „… ich möchte glauben, daß Jhering selbst in einigen Fällen darauf verzichtet haben würde, eine culpa herauszubringen, wenn er dies nicht nöthig gehalten hätte, um einen Ersatzanspruch, wie er ihn für billig hielt, construiren zu können.“ Friedrich Mommsen, 1879185

Mit dem abstrakten Tatbestand ging Jhering nun daran, die Allgemeingültigkeit des so gewonnenen Haftungsinstituts mit dem Anspruch zu exerzieren, „alle denkbaren Fälle … aufzuführen und zu entscheiden und lieber nach dieser Richtung hin zu viel, als zu wenig zu thun“.186 Die insoweit folgende und als seiner Theorie von der culpa in contrahendo betreten zu haben glaubte, ein überaus schwankender ist.“ 179 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/10. 180  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/10. 181  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/10–14 und Erweiterung: S. 35–40. 182 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/14–15. 183  F. Mommsen, Unmöglichkeit der Leistung (1853), S. 107, vermeidet allerdings aus guten Gründen die dann von Jhering gewählte Begriffsbildung (ausf. unten § 4 III.3.); er definiert vielmehr das Erfüllungsinteresse: „Es ist dies das Interesse, welches der Gläubiger an der Erfüllung des Contracts hatte.“, und das Vertrauensinteresse: „das Interesse, welches der Gläubiger daran hatte, über die wahre Beschaffenheit der Leistung nicht getäuscht zu sein.“ 184 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/15–22; 28 f. Ausf. zum Problem des „negativen Vertragsinteresses“ unten § 4 III. 185  Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 81. 186 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/56.

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„sorgfältige Entwicklung ihrer Dogmatik“187 gelobte Ausbreitung der c. i. c. leidet methodologisch freilich an zwei signifikanten Problemen: Erstens ist diese „sorgfältige Entwicklung“ nichts anderes als der Zaubertrick desjenigen, der aus dem Hut holt, was er zuvor hineingetan hat. Das gilt selbstverständlich für die Fälle, aus denen Jhering seine Klage zunächst ganz generell abstrahiert hat: Es wäre verwunderlich, wenn sie auf diese Fälle nun nicht mehr passte. Für alle anderen Fälle folgt zweitens ein mit viel Rhetorik verbundenes Augen-Verschließen vor der ‚undenkbaren‘ Alternative, sie könnten sich vielleicht doch nicht in ihrer Gesamtheit dem Verschuldensprinzip unterordnen. Jhering kommen denn auch durchaus Zweifel.188 Aber sollte die Billigkeit etwa bloß „völlig isolierte positive“ Bestimmungen diktieren?189 Alles muss sich aus einem Prinzip deduzieren lassen – so fordert die Methode der Prinzipiendeduktion. Dass aber allein der „Gute Glaube“ (nach heutiger Terminologie: das „Vertrauensprinzip“) eine Verpflichtung zum Schadensersatz sollte aufbürden können, war ihm völlig undenkbar.190 Da nun nicht sein darf, was nicht sein kann, wird Jhering unter dem vom Gefühl diktierten Imperativ „Ein allgemeines Princip für unsere Klage ist nur mittelst der culpa zu gewinnen.“191 zum beispielhaften rechtswissenschaftlichen Prinzipienreiter, zum Prokrustes, der die culpa vorab in die Betten seiner vermeintlichen c. i. c.-Fälle zerrt, sie wieder herausholt, um sodann bei der Präsentation seiner Kasuistik ausrufen zu können „Seht her, es passt!“: Mit einem Hinweis auf die ädilizischen Klagen, nach denen der Verkäufer für Mängel auch bei Nichtwissen haftet, postuliert er das „Nichtwissen“ kurzerhand als culpa schlechthin192 und kreiert damit den Schlauberger-Konjunktiv der Fahrlässigkeit: das „Hätte-Wissen-Können“ als willfährige Formel einer

 Diederichsen, Jherings Rechtsinstitute (1996), S. 175/197.  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/34 f.: Es könne doch durchaus Fälle geben, wo das Hindernis des Vertragsabschlusses dem Verkäufer beim besten Willen verborgen bleiben durfte. „Daß der Verkäufer auch in einem solchen Fall haften muß, ist nicht nur nach Maßgabe der Quellenäußerungen unzweifelhaft, sondern entspricht durchaus der Billigkeit. Denn wenn es sich einmal darum handelt, ob er oder der Käufer unter den Folgen seiner Unkenntnis leiden soll, so kann doch die Wahl nicht zweifelhaft sein. Allein darf man hier von einer culpa auf seiner Seite reden?“ 189  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/40. 190 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/33 f. 191  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/40. Treffend hierzu: F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 15: „… aber Niemand wird behaupten wollen, daß man einen bestimmten Gesichtspunkt bloß deshalb zu wählen berechtigt ist, weil sich dann besser generalisieren läßt.“ 192  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/35–40; hiergegen F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 12 ff., der auch zielsicher den Fehler in Jherings Methode, einen „allgemeinen Rechtsgedanken“ herauszubringen, benennt: von der angeblichen ratio legis einer Vorschrift zu generalisieren, obwohl „dies Moment gar nicht den eigentlichen Grund der Vorschrift bildet“ (S. 15). 187 188

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Verschuldenshaftung, die im Zweifel immer greift.193 Mit dem so dehn‑ und dienstbar gemachten Haftungsband der culpa kann er unproblematisch daran gehen, für alle Fälle schädigender Scheinkontrakte den „Trost“ seiner c. i. c. zu spenden. Doch auch mit der so windelweich geformten culpa muss zuweilen selbst Jhering erkennen, dass die Dinge ganz so billig nicht zu begründen sind, und er konnte sich der Skrupel nicht erwehren, vielleicht „hie und da zu weit gegangen“ zu sein.194 Schauen wir genauer hin: Es sind vier Fallgruppen der Vertragsnichtigkeit, auf die er seine c. i. c. im Interesse ihrer Allgemeingültigkeit anwenden will: 1. Unfähigkeit des Subjekts (fehlende Geschäftsfähigkeit) 2. Unfähigkeit des Objekts (Unmöglichkeit) 3. Unzuverlässigkeit der Erklärung (Irrtümer) 4. Unzuverlässigkeit des Willens (Widerruf einer Offerte) Neben die drei bereits bekannten (Gruppen 2–4) gesellt sich der Vollständigkeit halber eine neu in die Diskussion eingeführte Fallgruppe: Die Nichtigkeit des Vertrages aufgrund Geschäftsunfähigkeit oder fehlender Verfügungsbefugnis (Unfähigkeit des Subjekts)195. Auch wenn Jhering letztlich selbst hier eine Haftung des Minderjährigen konstatiert, räumt er doch „gern ein, daß die Sache nicht so völlig zweifellos ist“.196 Weniger Probleme bereiten die Fallgruppen 2 (Unfähigkeit des Objekts: objektive Unmöglichkeit)197 und 3 (Unzuverlässigkeit der Erklärung: Diskrepanz zwischen Wille und Erklärung)198. Die objektive Unmöglichkeit lieferte ja die Quelle, aus welcher der konstruktive Zuschnitt seiner c. i. c. verallgemeinernd gewonnen wurde, und der „Irrtum“ bildete schließlich den Anlass der ganzen Untersuchung, den Stoff, mit dem die Billigkeit sich kleidete. Neben den ‚evidenten‘ Fällen der Diskrepanz von Wille und Erklärung wird die c. i. c. auf die speziellen Fälle einer abhanden gekommenen Willenserklärung199, den Dissens und das Missverständnis200, den Blankettmissbrauch201 und die seinerzeit viel diskutierte fehlerhafte Übermittlung202 angewendet. Immer steht die culpa mit ihrem „Hätte-Erkennen-Können“ unzweifelhaft zur Stelle.

 Dazu gleich noch unten III.3.a (Grenzen der culpa).  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/52; Jherings Zwangslage, sich nicht selbst falsifizieren zu müssen, erkennt ebenfalls: F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 81. 195  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/57–62. 196 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/61. 197  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/63–71. 198  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/71–86. 199 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/74 f.: Zum Scherz ausgestellter Wechsel. 200  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/77–80. 201  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/80–81. 202 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/81–86 und der ausf. Nachtrag S. 106 ff. 193 194

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Die Problematik des Übermittlungsrisikos führt schließlich unmittelbar zur 4. und letzten Fallgruppe (Unzuverlässigkeit des Willens: Widerruf von Offerte und Auslobung sowie Tod des Offerenten). Während die Ausdehnung der c. i. c. auf den Standardfall des Widerrufs keine weiterreichenden Widerstände mehr bereitet,203 kam Jhering nicht umhin einzugestehen, dass er mit seiner Theorie jedenfalls beim Tod des Offerenten „an einen Stein des Anstoßes gerathen“ war: „Man kann doch unmöglich das Sterben als culpa bezeichnen!“204 Nun ja, nach den Prämissen, die Jhering seiner culpa zugrunde gelegt hatte, läge allerdings auch dieses Ergebnis durchaus in der „Consequenz“ der Haftungskonstruktion. Dass das Leben gefährlich ist und gewöhnlich mit dem Tod endet, wird man als allgemein bekannt unterstellen dürfen. Mit etwas scholastischer Energie hätte sich Jhering sogar auf bekannte Autoritäten berufen können; etwa die Einsicht des Psalmisten: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“ oder das Jesus-Wort: „Wachet, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde!“ Dem durchschnittlichen Bürger und seinen Erben die Vernachlässigung des Todes als culpa in contrahendo zuzurechnen, dürfte aber freilich auch im pietistischen 19. Jahrhundert schwer zu vermitteln gewesen sein. Wieder flackerte sie für einen Moment auf: die Möglichkeit, bei der Konstruktion der c. i. c. einem grundsätzlichen Denkfehler erlegen zu sein. Aber die Kapitulation auch nur vor einer Fallgruppe hieße, die c. i. c. in ihrer Allgemeinheit zu verabschieden. So wurde schließlich auch der tote Offerent in das ‚Schlauberger-Bett‘ gezwängt, in dem zuvor schon andere Übermittlungsrisiken ihr billiges und trostloses Ende gefunden hatten: „Wäre unter Anwesenden contrahirt, so hätte der Tod jenen nachtheiligen Einfluß gar nicht ausüben können.“205 Amen! Billigkeit und Unsinn zogen hier plötzlich offen an einem Strang. Wer hört sie da nicht läuten, die Totenglocken vom „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“: „Es ist der Pfad der dialektischen Deduktion, auf dem die Vernunft bei dem geringsten Fehltritt Gefahr läuft in den Abgrund des Unsinns zu fallen (…).“206

203  Zur Frage, wieso denn die vom Recht zugelassene Ausübung des Widerrufsrechts zum Schadensersatz verbinden können soll, sogleich unten im Text. 204  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/92. 205  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/92 f. 206 Jhering, Scherz und Ernst (1884), S. 264.

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3. Zwei nachhaltige Konstruktionsfehler „Sie begreifen, daß alles auf jenen civilistischen Gestaltungsakt, auf die Konstruktion, ankommt; geschieht bei ihm ein Versehen, setzt man die Beine z. B. an den Kopf, die Nase hinten, und was unsereiner hinten trägt, ins Gesicht, so ist es mit der ganzen Sache nichts – es wird ein Wechselbalg.“ Rudolf v. Jhering, 1861207

Da man offensichtlich bis heute den Glauben an die Ernsthaftigkeit der Jhering’schen Theorie nicht im Mindesten verloren hat, nimmt es nicht Wunder, dass die Bedienung der Rechtsunterworfenen mit unwiderleglichen Haftungsbegründungen keineswegs ab-, sondern permanent zugenommen hat. Eine sachliche Kritik tut freilich not, wollte man nicht die Rechtsentwicklung der vergangenen 100 Jahre einfach als rechtsdogmatischen Scherz abtun. Und insoweit sind hier zwei bis in die heutige Zeit nachwirkende Konstruktionsprobleme kurz zu benennen, die ich nicht Not hätte aufzuführen, wenn einerseits Jherings gereifte Revisionsschrift zu „Schuldmoment“ und Verschuldensprinzip nicht leichthin als strafrechtlicher Exkurs missdeutet worden wäre208 und sich andererseits die Kritik in der Vergangenheit nicht primär auf eine Quellenkritik beschränkt und damit auf eben den Standpunkt begeben hätte, den Jhering ja gerade zu überwinden trachtete: den Quellenkultus.209 Zwei unlösbare Konstruktionsmängel also: Erstens die geringe Brauchbarkeit der culpa als Unrechtsindikator und zweitens die widersprüchliche Kombination von Nichtigkeit und Rechtsfolge mittels einer Anspruchsbegründung über das negative Interesse.

207  Erster Brief eines Unbekannten, in: Preußische Gerichtszeitung III (1861), Nr. 41 v. 16. Juni 1861, auch in: Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), S. 7 f. 208 Vgl. nur Baratta, Über Jherings Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft (1970), S. 17/18; bezeichnend Kleinheyer / ​Schröder, Juristen (1996), S. 224: „Die berühmtesten dogmatischen ‚Entdeckungen‘ J.s sind die ‚culpa in contrahendo‘ … und die Unterscheidung zwischen objektiver Rechtswidrigkeit und Schuld (in: ‚Das Schuldmoment im römischen Privatrecht‘), die für die Strafrechtsdogmatik von großer Bedeutung gewesen ist.“; weitere Nachweise noch unten § 2 I. (Jherings Revocation). 209 Derartigen Kritikern (vgl. etwa Wächter, Pandekten II, § 185; Kühn, Ueber Vertragsschluss unter Abwesenden, JhJb 16 (1878), 58 ff.; teilweise auch F. Mommsen, Haftung bei Vertragsabschluss, S. 50, 79 f., 89 passim) hatte Jhering von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen gesucht: „Wer freilich den Beruf der Jurisprudenz in nichts anderem findet, als mit Hülfe der hermeneutischen Leuchte dunkle Gesetzesstellen zu erklären, möge immerhin meine ganze Theorie mit dem einfachen Einwande abthun, daß der Ausdruck culpa in contrahendo im ganzen corpus juris nicht vorkomme.“ (JhJb 4, 1861, 52); und dass eine quellenkritische Auseinandersetzung im vom Freirecht angehauchten Zeitalter allenfalls als romanistische Nabelschau ignoriert wurde, dürfte auch nicht verwundern. Vgl. aber bereits die weiterreichende Kritik bei Medicus, Entdeckungsgeschichte (1986).

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a) Grenzen der culpa „Andere legten das römische Recht gleichsam auf die Strecke, und jeder zog es so lang, bis es seinen persönlichen Postulaten entsprach.“ Walther Brock, 1902210

Die zentrale Kritik an der Jhering’schen Konstruktion ist und war bereits zu seinen Lebzeiten auf sein deutlich überspanntes Haftungsband bezogen: Die culpa sei zuweilen überhaupt nicht anwendbar (Tod des Offerenten) oder gar nicht notwendig (Unmöglichkeit, Irrtum) oder sie gehe jedenfalls zu weit (Geschäftsunfähige).211 Dieser Fallgruppenkritik ist hier nichts hinzuzufügen; sie ist nur insoweit unzureichend und folgenschwer gewesen, als sie sich scheinbar nur gegen die einzelnen Fallgruppen, nicht aber  – im Anschluss an Jhering selbst212  – gegen den Zuschnitt und Gebrauch der culpa überhaupt gewendet hat. So konnte man sich schließlich nach der individuellen Kodifizierung der einzelnen Fallgruppen im BGB offenbar bei dem Gedanken beruhigen, culpa und c. i. c. seien schon ganz brauchbar, nur Jherings Fallgruppen waren zuweilen etwas beschränkt und unpassend gewählt. Wie gesehen, hat aber das Jhering’sche Streckbett nicht die Fälle, sondern die culpa als causa obligationis überhaupt in Frage gestellt. So wenig konkret auch die culpa bereits im römischen Recht gewesen sein mag,213 sie definierte sich doch immer noch über die contractliche diligentia, das Kriterium der anzuwendenden Sorgfalt innerhalb eines durch Pflichten definierten Vertrages.214 Jenseits von vereinbarten Pflichten jedoch das „Nichtwissen“ schlechthin als culpa zu qualifizieren und mithin den Schlauberger-Konjunktiv „Er hätte es wissen müssen“ als allgemeine Diligenzpflicht zu postulieren, macht leichthin aus dem Verschuldens‑ ein beliebiges und ubiquitäres Haftungsprinzip; denn hiermit wird schließlich zur Haftung für bloßen Causalnexus animiert, weil jedenfalls hinterher die schädigenden Kausalbeiträge, die es zu kennen galt, immer offenbar sind. Die ex-post-Postulation von Verkehrs‑ und Schutzpflichten aus dem schädigenden Kausalverlauf bildet insoweit die moderne „Consequenz“ einer solchen Verschuldenshaftung. Das Phänomen ist durchaus bekannt: Denn wer kennt ihn nicht, den Satz, den die vielen Eingeweihten in das Weltgeschehen so gern gebrauchen: „Und ich sag noch (…).“ Jeder meint genau Bescheid gewusst zu haben. Hinterher. In der Psychologie ist diese sehr verbreitete allzu menschliche  Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 3. nur Drechsler, Über den Schadensersatz bei nichtigen Verträgen (1873); S. 24, 27; F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879); Windscheid, Pandekten II, § 309, Fn. 6: „Freilich stumpft Jherings culpa sich sehr ab und wird fast zur Veranlassung des Schadens.“ 212 Zur Revocation, sogleich ausf. § 2. 213  Eingehend Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815) und sogleich unten § 3 I. 214  Hierzu Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815); F. Mommsen, Lehre von der Culpa (1855), S. 345 ff.; Hesse, Zur Lehre von dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203 ff. 210

211 Vgl.

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Kategorie der Besserwisserei (des nachträglichen „es-besser-gewusst-haben“) mittlerweile auch als hindsight bias (Rückschaufehler) bekannt:215 Menschen überschätzen im Rückblick ganz systematisch die Möglichkeit, (schädigende) Ereignisse vorauszusehen. Juristen sind in diesem Punkt leider keine besseren Menschen. Und vielleicht liegt gerade hier der tiefere Sinn, warum die deutsche Rechtswissenschaft die c. i. c. später auch mit einem Hinweis auf das Gewohnheitsrecht zu legitimieren vermeinte: Die „Besserwisserei“ ex post ist eben nicht nur vox populi, sondern offenbar auch opinio iuris. Sicher ist jedenfalls aus justizsoziologischer Sicht, dass dem Richter, dem ex post ein Haftungsfall zur Entscheidung vorgelegt wird, der Kausalverlauf, der zum Schaden geführt hat, immer evident und vermeidbar erscheint, wenn dies oder das getan bzw. jenes unterlassen worden wäre.216 Es ist daher nicht verwunderlich, dass in dem Moment, da die Rechtswissenschaft ihren Widerstand gegen das Haftungsinstitut der c. i. c. vollständig aufgegeben hat, sich die Rechtsprechung seiner desto ausgiebiger zu bedienen begann.217 Darüber hinaus liegt nun das zentrale dogmatische Problem einer solchen culpa-Konstruktion spätestens in dem Moment auf offener Hand, da man sich vor Augen führt, dass in den von Jhering genannten Fällen der Geschädigte selbst immer einen schadensbegründenden Kausalbeitrag mit zu verantworten hat. Mit dem dann notwendig beide Seiten treffenden Schlauberger-Konjunktiv gerät die Haftungsfrage zwangsläufig in eine Patt-Situation (Verschuldens-PATT). Die Evidenz des überwiegenden Kausalbeitrags bei Irrtum und Widerruf mag Jhering die Einsicht in diese allgemeine „Consequenz“ seiner c. i. c. verstellt haben. Aber schon bei der Haftung des Minderjährigen war die Sache unter diesem Gesichtspunkt eben alles andere als nur „keineswegs völlig gewiß“.218 An keiner Stelle nimmt Jhering seine Einschränkung vom fehlenden Verschulden 215  Originär: Baruch Fischhoff, Hindsight is not equal to Forsight, Journal of Experimental Psychology 1975, 288 ff.; ders., For Those Condemned to Study the Past: Heuristics and Biases in Hindsight (1982). 216 Hierzu etwa andeutungsweise: Luhmann, Zur Soziologie des Risikos (1991); Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht (2005), S. 219 ff.; Vito Roberto / ​Kristoffel Grechenig, „Rückschaufehler“ (‚Hindsight Bias‘) bei Sorgfaltspflichtverletzungen, Zeitschrift für Schweiz. Recht 2011, 1 ff. In der aktuellen deutschen Diskussion wird der „Rückschaufehler“ derzeit vor allem bei der Bewertung von Unternehmerentscheidungen im Rahmen der „Business Judgement Rule“ (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG) thematisiert. Der für die verschuldensabhängige Vorstandshaftung aus den USA mitimportierte Gedanke des Hindsight Bias ist freilich von genereller Bedeutung für eine jede ex post-Beurteilung von auf Handlungsunrecht basierter Verschuldenshaftung: Rachlinski, A Positive Psychological Theory of Judging in Hindsight (2003), S. 95 ff.; Teichman, The hindsight bias and the law in hindsight (2014), S. 354 ff. 217  Hierzu unten § 5 ff. 218 Er nennt sogar eine entsprechende Quellenstelle (D. ​50, ​17, ​19 pr.), die man genauso gut hätte verallgemeinern können und übrigens im Gedanken der Culpacompensation natürlich berücksichtigt wurde: „Es wäre Sache des anderen Theils, sich nach den Verhältnissen seines Contrahenten zu erkundigen.“, (JhJb 4, 1861, 58).

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der anderen Seite wirklich ernst. Ein Blick auf die Regelung des § 307 BGB a. F., die den einzigen kodifizierten Fall und wahrlich den Prototyp der Jhering’schen c. i. c. darstellte, offenbart die „praktische Trostlosigkeit“ einer solchen culpaDogmatik: Verspricht jemand eine objektiv unmögliche Leistung, so wird man jeder der beteiligten Parteien per definitionem immer einen Schuldvorwurf machen können. Jede der Parteien hätte wissen können, dass die Leistung objektiv unmöglich ist.219 Wenn man später allgemein zu der Überzeugung gekommen ist, die §§ 306 f. BGB a. F. wären rechtspolitisch verfehlt,220 so hätte man getrost über die Verfehlung der c. i. c.-Konstruktion in toto weiter nachdenken können. Dieser grundsätzliche Konstruktionsfehler wird für die aktuelle c. i. c. allein dadurch kaschiert, dass statt des Ausschlusses des Anspruches bei Mitverschulden (§§ 122 Abs. 2, 179 Abs. 3 BGB) leichthin die individuellen culpa-Vorwürfe gemäß § 254 BGB gewichtet werden können sollen.221 Wenn aber das immer vorliegende Mitverschulden des Geschädigten bereits den Anspruch ausschließt, ist es schlechterdings nicht möglich, die Berücksichtigung desselben noch auf der Rechtsfolgenseite vorzunehmen. Hier liegt eine der vielen dogmatischen Ungenauigkeiten der späteren Lehre, die ihre Ursache bereits in der Kasuistik bei Jhering finden, spätestens aber hätten augenfällig werden sollen, als man meinte, eine allgemeine vorvertragliche Haftung ließe sich mittels Analogie zu den §§ 122, 179, 307 a. F. BGB legitimieren.222 Wie wenig man sich um diese Grundproblematik gesorgt hat, zeigt schließlich ein Blick auf die aktuell und praktisch bedeutendste Fallgruppe, bei welcher sich die culpa von einem Patt schließlich sogar gänzlich zum Gegenteil verkehrt: bei der „Lösung vom unerwünschten Vertrag“ kraft einer ex-post-Postulation von Aufklärungspflichten. Die „Verschuldenshaftung“ ist hier geradezu zum Schutzschild des Nichtwissens geworden. Haften soll demgegenüber der vermeintlich (Besser‑)Wissende. Kurz: Die entscheidende Frage kann eben nicht sein, ob der prospektiv Haftende etwas hätte wissen können, sondern: warum er es hätte eher wissen 219  Ich halte daher auch die Auffassung von F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 12 ff., 34 ff., allein für richtig: In den vielumstrittenen Quellenstellen kann es nur um eine Sanktion für dolus gegangen sein. Damit entfällt nicht nur die Debatte um Haftung und Nichtigkeit, weil für dolus eben grundsätzlich gehaftet wird (actio doli), sondern allein die Haftung für Arglist entgeht dem allgemeinen Grundsatz der Culpacompensation. Zu diesem Problem noch ausf. unten § 3 III.2. (Verschuldens-Patt). 220  Vgl. statt aller nur MünchKomm / ​Thode, (3. Aufl. 1994), § 307 Rn. 1. 221  Grundlegend Urt. v. 5. April 1922, RGZ 104, 265 (Weinsteinsäure-Fall); zu dieser Entscheidung und ihren Folgewirkungen unten § 5 II.3. 222  Zur späteren Ignoranz des Problems nur Larenz, Schuldrecht I (1987), § 8 III = S. 104: „Die genannten Bestimmungen gehören zu den wenigen, in denen der Rechtsgedanke der Haftung für eine ‚culpa in contrahendo‘ Eingang in das Gesetz gefunden hat. Der Ausbau der Lehre war zur Zeit der Entstehung des Gesetzes noch nicht erfolgt. Daraus erklären sich die beiden Einschränkungen, die bei der Anwendung der Lehre sonst nicht mehr gemacht werden (…).“ Hierzu unten § 5 III.1.

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sollen als die andere Seite. Und damit ist man bei der zentralen Frage nach der deontologischen Begründung für eine Diligenzpflicht, die Jhering aufgrund seiner Prinzipiendeduktion gar nicht in den Blick bekommt und die bis heute nicht geliefert ist. Aber Jhering bekommt nicht nur die Notwendigkeit der Begründung von Pflichten nicht in den Blick, sondern er übersieht, da er sich mit dem Schlauberger-Konjunktiv der culpa beruhigt (hindsight bias), sogar die Ungereimtheiten der insoweit von ihm postulierten Pflichten: „sich nicht zu irren, keine Telegramme zu benutzen, sogar nicht zu einer dem Partner ungelegenen Zeit zu sterben (…).“223 Das leitet zum zweiten und aus rechtswissenschaftlicher Perspektive zentralen Konstruktionsfehler über: Die Akzeptanz von widersprüchlichen Rechtsinstituten. b) Nichtigkeit und Rechtsfolge „Eine gesunde Theorie muß es ablehnen, die Gründe des Schadensersatzes und der Interesseleistung besonders zu classifizieren und zusammenzustellen. Das Interesse ist in dieser Anwendung nur Objekt der Obligation. Der Entstehungsgrund einer Obligation hat aber keinen innerlichen Zusammenhang mit dem Objecte, da nicht das Object für die Entstehung, sondern viel eher umgekehrt, die Entstehung für das Object der Obligation bestimmend ist.“ Richard Cohnfeldt, 1865224

Es ist sicherlich denkbar, einer „juristischen Tatsache“225 allein oder im Kontext mit anderen juristischen Tatsachen durchaus verschiedene Rechtsfolgen zuzusprechen  – nicht jedoch ein und demselben Sachverhalt einander widersprechende. Jhering aber konstruiert ein negotium nullum als fundamentum actionis.226 Natürlich erkennt er den Widerspruch; doch glaubt er ihn dadurch zu beseitigen, dass er auch den Begriff der „Nichtigkeit“ für seine Zwecke zurechtstutzt und „Nichtigkeit“ als „Abwesenheit gewisser, nicht aber aller Wirkungen“227 definiert. Spätestens hier merkt man, dass Jhering seine Sensibilität für Begriffe und Begriffsklarheit im Interesse seiner Prinzipienargumentation deutlich in den Hintergrund treten lässt.228 Ordnet das Recht „Nichtigkeit“ an, so ist  Medicus, Entdeckungsgeschichte (1986), S. 175.  Die Lehre vom Interesse nach römischem Recht (1865), S. 27. 225 In dieser Terminologie Savignys (System III, S. 3) wird die Verknüpfung zwischen tatsächlichen Ereignissen und rechtlichen Konsequenzen sehr sinnfällig benannt; hierzu auch Windscheid, Pandekten I, § 67. 226 Hiergegen schon Drechsler, Schadensersatz bei nichtigen Verträgen (1873), S. 25 ff. insb. gegen eine Herleitung aus den Quellen, die Jhering anführt; Koeppen, Der obligatorische Vertrag, JhJb 11 (1872), 139/303: „… aus einem nichtigen Vertrage giebt das römische Recht keine Klage, weil er überhaupt kein Rechtsverhältnis hervorbringen kann.“ 227  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/29. 228  Freilich nur hier. Später legt er wieder den allergrößten Wert darauf, vgl. etwa sein spätdogmatisches Werk: Der Besitzwille (1889). 223 224

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es aber eben nicht nur begrifflich widersprüchlich, dennoch eine weitergehende Rechtsfolge an den nämlichen Sachverhalt knüpfen zu wollen. Es gehört nicht wirklich viel dogmatisches Gespür dazu, bereits mit Brinz das logische Dilemma der Konstruktion klar zu erkennen: „Entweder ist der Kontrakt nichtig: dann gibt es auch keine Klage aus diesem Kontrakt; oder es gibt eine Klage aus diesem Kontrakt: dann ist der Kontrakt nicht nichtig.“229

Den Gründen für die jeweils in Frage stehende Nichtigkeit geht Jhering jedenfalls nicht auf den Grund. Wenn Jhering mit dem Hinweis auf unterschiedliche Rechtsfolgen seinen Schadensersatzanspruch zu begründen vermeint, so liegt hierin eine bis heute immer wieder gern übernommene Methode, auf diese Weise widersprüchliche Rechtsfolgen bei ein und demselben Sachverhalt wenigstens scheinbar dogmatisch miteinander zu versöhnen.230 In Wahrheit differenziert er gar nicht bei den Rechtsfolgen: Schadensersatz ist nämlich Schadensersatz; daran ändert auch die Möglichkeit nichts, dass die Schadenshöhe in Abhängigkeit vom Interesse des Geschädigten variieren kann. Dies kann so sein, muss es aber nicht. Für Geschäfte, bei denen das „negative“ notwendig immer dem „positiven“ Interesse entspricht (z. B. Bürgschaft), liegt das auf offener Hand.231 Und insoweit ist es bereits bezeichnend, wenn die erste Entscheidung des Reichsgerichts, bei welcher auf den Gedanken der culpa in contrahendo Bezug genommen wird, auch ohne weitere Überlegungen das Erfüllungsinteresse gewährt.232 Schließlich ist es auch bei jedem Kaufvertrag zufällig, ob das Erfüllungsinteresse lediglich mit der Gewinnerwartung für das gescheiterte oder mit dem Hinweis auf ein unterlassenes Alternativgeschäft begründet wird.233 Demgemäß kommt es denn auch systematisch nicht von ungefähr, wenn der genaue Inhalt der Rechtsfolge „Schadensersatz“ im BGB spezielle Regelungen erfahren hat (§§ 249 ff., 842 ff.).  Brinz, Lehrbuch der Pandekten II (2. Aufl. 1879), § 246, S. 129.  Vgl. bereits die unmittelbare Kritik bei Bähr, Ueber Irrungen im Contrahieren, JhJb 6 (1863), 306; ders., JhJb 14 (1875), 422 ff. Am bekanntesten ist dieses methodologische Vorgehen bis heute bei Versuchen einer Rechtfertigung des Verhältnisses von c. i. c. und § 123 BGB: dieses Institut schütze die Entscheidungsfreiheit, so heißt es etwa, jenes hingegen das Vermögen. 231 Hierzu nur etwa BGH, Urt. v. 10. Juni 1999 – IX ZR 409/97, BGHZ 142, 51: unwirksamer Bürgschaftsvertrag hindert nicht die Haftung aus c. i. c. auf das „Erfüllungsinteresse“. Skeptisch seit jeher Medicus, Grenzen der Haftung für culpa in contrahendo, JuS 1965, 214 f.; ders., Bürgerliches Recht (19. Aufl. 2002), Rn. 185. 232 Urt. v. 21 Oktober 1881, IVa 644/80, RGZ 6, 258 (Haussohn-Fall). 233  Nur selten steht leider die Unsinnigkeit dieser Differenzierung so unverblümt im Leitsatz einer BGH-Entscheidung wie beim V. Zivilsenat im Urt. v. 6. April 2001 – V ZR 394/99, NJW  2001, 2875 (Verkauf eines Gewerbegrundstücks): Das Erfüllungsinteresse soll gewährt werden dürfen, wenn feststeht, dass bei Kenntnis des Käufers der Vertrag zu für ihn günstigeren Bedingungen geschlossen worden wäre. Lässt sich diese Feststellung nicht treffen, so könne jedenfalls das Vertrauensinteresse verlangt werden, das darin bestehen soll, dass der Käufer so zu stellen ist, als wäre es ihm gelungen, den Vertrag zu für ihn günstigeren Bedingungen zu schließen. Was für ein Sieg dieser Dogmatik! (zu Recht kritisch Gsell, EWiR § 434 BGB 1/01, 803). Zum Problem des „negativen Interesses“ ausf. unten § 4 III. 229 230

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Ein anspruchsbegründender Tatbestand wird aber an sich durch die Variationen beim Inhalt der Rechtsfolge noch nicht ersetzt. Kurz: die Differenzierung beim zu ersetzenden Interesse kann einen Schadensersatzanspruch bestenfalls begrenzen,234 nicht doch aber ihn begründen. Jherings Argumentation kaschiert mithin lediglich den Widerspruch, den seine c. i. c. gegenüber dem geltenden Recht doch immer perpetuiert: Das Recht nimmt an einer Stelle, was es an anderer gibt – oder umgekehrt: es gibt, was es an anderer Stelle zu geben verwehrt; eine Konsequenz, die Jhering noch selber zurecht verurteilt hat: „Das hieße: in anderer Form dasselbe geben, was man in der einen versagte. Was ist denn die Leistung des Äquivalents anders, als eine Art der Erfüllung des Contracts – statt in natura in Geld?“235 Was aber ist denn die Leistung des Vertrauensinteresses anderes als ein Geldäquivalent für durch die Nichterfüllung enttäuschtes Vertrauen: statt „entgangenen Gewinns“ ein Schaden? Es kommt nicht von ungefähr, wenn die später anstelle der c. i. c. diskutierte „Lehre vom (negativen) Interesse“ auch nur ein kurzes und unkonsolidiertes Intermezzo abgegeben hat236, diese Differenzierung immer wieder zu willkürlichen Abgrenzungsproblemen führte und spätestens nach der Schuldrechtsmodernisierung unter der Doktrin allgemeiner Vertrauenshaftung denn auch überhaupt keine Berücksichtigung mehr gefunden hat. Ebenso wie die Haftungsvoraussetzungen passen sich auch die Rechtsfolgen jedem Einzelfall an. Im Zweifel hilft immer der Grundsatz der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB). Die Widersprüchlichkeit betrifft aber keineswegs nur die Rechtsfolge. Der Hinweis auf die Rechtsfolge war ja auch nur ein „Potemkin’sches Dorf“, um von den Bedenken gegen die mit der Haftung postulierten Primärpflichten abzulenken. Eine Haftung bei gescheitertem bzw. nichtigem Vertragsschluss unterstellt nämlich letztlich doch die Pflicht, das Scheitern bzw. die Nichtigkeit des Vertrages zu verhindern – oder andersherum: sie postuliert eine sanktionsbewehrte Pflicht, in den einschlägigen Fällen einen wirksamen Vertrag abzuschließen. Damit kommt man aber notwendig in Konflikt mit den gesetzlich angeordneten Nichtigkeitsgründen und den diesen zugrundeliegenden Wertungen. Evident ist dies bei den Minderjährigen. Die Nichtigkeitsregelung schützt hier eine Personengruppe vor den Folgen ihres Verhaltens  – Jhering will es dennoch mit einer Sanktion belegen. Auf Prinzipienebene stellt er mithin kurzerhand das Verschuldensprinzip über den Minderjährigenschutz.237 Irrenden will er zur 234  Zu dem damit verbundenen Gedanken der Schuldangemessenheit der Rechtsfolge und der selbst hier wenig brauchbaren Lehre vom „negativen Interesse“ unten § 2 III.2. und § 4 III. 235 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/18. 236  Ausf. unten § 4 III. (Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse). 237  Deutlich insoweit Regelsberger, in: Endemanns Handbuch des Handelsrechts II (1882), S. 415: „Das Gesetz, welches die Verpflichtungsunfähigen gegen die rechtlichen Folgen eines im übrigen fehlerfreien Vertragsschlusses in Schutz nimmt, würde mit sich selbst in Widerspruch treten, wenn es einem fehlerhaften Vertragsschlusse für den Verpflichtungsunfähigen verbindliche Wirkung beilegte.“

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Pflicht machen, sich nicht zu irren bzw. sich nicht auf ihren wirklichen Willen zu berufen; dem Offerenten will er die Pflicht auferlegen, das Recht, revocieren zu dürfen, nicht auszuüben und – gänzlich abstrus: nach Absendung ihrer Offerte nicht zu sterben; auch hier stellt er pauschal das Verschuldensprinzip über den im Willensdogma manifestierten Grundsatz der Privatautonomie. Jeweils ignoriert Jhering im Namen der Billigkeit elementar gegenläufige Grundsätze und postuliert eine Pflicht, die das geltende Recht gerade nicht kennt, weil es umgekehrt an dieser Stelle ein Recht gewährt: Das Recht der anderen Seite nämlich, sich auf die Unwirksamkeit des Vertrags berufen zu können. Auch das Problem ist nicht übersehen worden: „In der That liegt die Sache so: der zu ersetzende Schaden ist hier nicht angerichtet durch die Fahrlässigkeit, sondern durch den Rechtssatz, wonach eine Erklärung ohne Willen nichtig ist. Die Erklärung ist wohl fahrlässigerweise abgegeben, aber befugterweise zurückgenommen; eine berechtigte Handlung aber kann nie als dolose oder kulpose behandelt werden.“238

Aus rechtswissenschaftlicher Sicht erscheint jedenfalls die dauerhafte Akzeptanz einer Hilfskonstruktion allenfalls als suboptimale Lösung der Problemfälle. Denn das neue Haftungsinstitut führt nicht nur zu Widersprüchlichkeiten, sondern es lenkt von den eigentlichen Defiziten und Unvollkommenheiten des geltenden Rechts ab. Das Problem wird nicht eigentlich bei der Wurzel angepackt. So mag man den Schutz Geschäftsunfähiger für zu weitgehend halten – dann erscheint es sinnvoll, diesen Schutz dort einzuschränken und dort konstruktive Abhilfe zu schaffen, wo er gewährt wird; nicht aber eine Schadensersatzpflicht zu postulieren, wenn der Geschützte innerhalb des eingeräumten Schutzes sich auf diesen Schutz beruft. So mag man auch die sanktionslose Berufung auf einen Irrtum für zu weitgehend halten – aber dann muss man das Recht hierzu dort einschränken, wo es gewährt wird und nicht neben dem vom Willensdogma diktierten Votum der Nichtigkeit eine Schadensersatzpflicht für alle die postulieren, die auf jenes Recht sich berufen. Und gleiches gilt für die Übermittlung von Erklärungen und den Widerruf einer Offerte. Hätte man sich seinerzeit tatsächlich bei Jherings Haftung aus c. i. c. beruhigt, wir hätten wohl heute etwa noch den gemeinrechtlichen Streit um die Perfection eines Vertrages, angereichert um ein paar Monografien zur Frage, ob und wann genau denn der Tod des Offerenten die Erben zur Haftung aus c. i. c. verbindet.

238  Pernice, Kritische Beiträge zur Lehre von den Rechtsgeschäften, ZHR 25 (1880), 77/132; ebenso: Wächter, Pandekten II (1881), § 185 (S. 359), der die Annahme einer culpa (in contrahendo) beim Vertragsschluss für „eine unbegreifliche Behauptung“ erklärt: „Denn entweder war der Anbietende zum Widerruf berechtigt und dann hat er nichts zu ersetzen, weil er suo iure usus est; oder er war nicht mehr dazu berechtigt, und dann ist der Widerruf wirkungslos, es bleibt dann beim Vertrag.“

III. Dogmatische Konstruktion

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Jherings Aufsatz von 1861 entsprach nicht der von der historischen Schule geprägten Wissenschaftsauffassung seiner Zeit, die nicht so schnell verallgemeinert, sondern das Recht durch Anschauung der differenzierten Rechtsverhältnisse zu gewinnen sucht. Jhering selber hat sich, wie gesehen, vom Prinzipienkultus abgewandt. Sein Aufsatz hat gleichwohl im Bereich der gemeinrechtlichen Rechtsdogmatik eine rege Diskussion angefacht. Vorsichtig, aber in der Sache zutreffend formulierte schon Adolf Merkel in seinem Nachruf auf Jhering und mit Blick auf dessen dogmatische Konstruktionen: „Ob bei diesen Arbeiten die interpretative Thätigkeit nicht allzu sehr unter dem Einfluß der Überzeugungen des Verfassers von dem Zweckmäßigen und von dem, was sein Rechtsgefühl ihm als das Richtige an die Hand gab, gestanden habe, darüber mögen die Romanisten entscheiden. Aber etwaige Mängel dieser Art nehmen seinen Schriften nicht ihre anregende Kraft und nicht ihren berechtigten Einfluß auf das civilistische Denken.“239

Die von Jhering thematisierten Probleme um die rechtliche Behandlung von Irrtum, Unmöglichkeit, Stellvertretung, Vertragsschluss usw. waren denn auch nicht neu.240 Aber es wurde immerhin kräftig an überkommenen gemeinrechtlichen Vorstellungen gerüttelt, die ihrerseits zum Teil einseitig aus dem Willensdogma deduziert worden waren. Was Jhering insoweit mit seinem Aufsatz anregte, war eine wissenschaftliche Aktivität, die am Ende der Pandektistik zu einer inhaltlich im prinzipiellen ausgewogenen und in der Form an systematischer Schärfe und Klarheit einmaligen Höhe und Gestaltung der Rechtsgeschäftslehre

239 Merkel,

Jhering., JhJb 32 (1893), 6/15 f.  Es ging um altbekannte juristische Probleme: vgl. nur Thomasius, Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (1709), II / ​VII, §§ 1 ff. (Vertragsschluss), §§ 37 ff. (Irrtum), §§ 79 ff. (Unmöglichkeit), §§ 98 ff. (Vertretung); speziell zur Irrtumsproblematik: Wellspacher, Das Naturrecht und das ABGB (1911), S. 175/196: „Es ist bekannt, daß die Irrtumslehre des ABGB, eine der legislativen Großtaten unseres Gesetzbuches, aus dem Naturrechte stammt. Aus den ‚officia circa sermonem‘, aus den ‚Pflichten in Äußerung seiner Gesinnungen‘ hat die naturrechtliche Schule seit Thomasius den Schluss gezogen, daß sich der Anerklärte auf das Wort verlassen dürfe und daß daher der Irrtum grundsätzlich dem Irrenden schade. Wie das Naturrecht diese Vertrauenstheorie ein Jahrhundert vor Gustav Hartmann in ihren Grundzügen ausgebildet hatte, so hat es auch ein Jahrhundert vor Jhering den Gedanken der culpa in contrahendo aus derselben Grundidee heraus abgeleitet, wie die Irrtumslehre.“: Diejenigen, die nicht Thomasius folgten, den Irrtum für unbeachtlich erklärten (heute sog. Erklärungstheorie), hielten bereits – wie Jhering dann auch  – den irrenden Teil für schadensersatzpflichtig; vgl. Christian Wolff, Institutiones Iuris Naturae et Gentium (1750), II/7 § 405: „Wenn aber der Versprechende nachlässig gewesen ist, die Wahrheit zu erforschen, oder seine Gedancken recht auszudrucken, und der, dem etwas versprochen worden, dadurch in Schaden gebracht worden, so ist derselbe zu ersetzen (§ 270), weil er den Schaden durch seine Schuld erlitten hat (§ 21).“; dem ist das preußische ALR in § 79 I 4 gefolgt. Zur Dogmengeschichte der Probleme auch: Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S.  39 ff.; Oebike, Wille und Erklärung beim Irrtum in der Dogmengeschichte der beiden letzten Jahrhunderte (1935); Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (2000); HKK / ​Schermaier, (2003) §§ 116–124. 240

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und des Schuldrechts führte, die schließlich kodifiziert im BGB ihresgleichen suchte. Die auf Jhering folgende Diskussion konzentrierte sich im Kern weiterhin auf eine Klärung der Rechtsprobleme, die wir heute als Kernprobleme der Rechtsgeschäftslehre und Leistungsstörungen kennen. Eben nicht die Abstraktion und das Schwelgen im Prinzipienkultus, nicht die eine einfache „kahle Formel“ zur vermeintlichen einfachen Lösung aller diesbezüglichen Rechtsfragen, sondern die Betrachtung der Verhältnisse in ihrer Differenziertheit war der methodologische Ausgangspunkt, zu dem Jhering, wie gesehen, selbst wieder zurückführte. Es ist insoweit einmal mehr kennzeichnend für die Größe Jherings als Wissenschaftler, dass die Kritik an seiner Konstruktion zu einem großen Teil auch in den von ihm herausgegebenen Jahrbüchern erfolgt ist.241 Es mag Gelehrte geben, die eifersüchtig ihre kleinen Ideen und dogmatischen Konstruktionen gegen jeden Zweifel zu verteidigen und vielleicht sogar ein Leben lang in immer neuer Version als bedenkliches Monument vor sich hertragen – Jhering gehörte nicht zu ihnen. Er hat sich von dem, was andere bis heute als „Entdeckung“ feiern, noch selbst hinreichend schnell und deutlich distanziert:

241 So formuliert etwa Ernst Zimmermann, Die Lehre von der stellvertretenden negotiorum gestio (1876), S. 289, zur Theorie Jherings, dass die „eminente Bedeutung als Anregung zu wissenschaftlich und praktisch äußerst fruchtbaren Untersuchungen natürlich unabhängig von ihrer Richtigkeit ist.“ Zu den Untersuchungen selbst vgl. etwa: Bähr, Über Irrungen im Contrahieren, JhJb 6 (1863), 286 ff. (insb. S. 297 ff.: „Jherings Bemerkungen … haben mich nicht überzeugen können.“); Köppen, Der obligatorische Vertrag unter Abwesenden, JhJb 11 (1871), 139 ff. (zählt die c. i. c. zu den „Fictionen, die dem römischen Recht völlig fremd sind“, S. 143, Begründung insb. S.  299 ff.); E. Zimmermann, 2 Rechtsfälle, JhJb 13 (1874), 381 ff. (vermag der culpa in contrahendo „keinen Geschmack abzugewinnen“, S. 392); Kühn, Ueber Vertragsabschluss unter Abwesenden, JhJb 16 (1878), 1 ff. (schließt sich Köppen an, S. 59); gemäßigte Zustimmung dann aber wieder bei Zitelmann, Die juristische Willenserklärung, JhJb 16 (1878), 357 ff. (der S. 417 f. zwar von einem „abgeblaßten Schatten der Schuld“ spricht, gegen eine „Haftung auf Jherings negatives Interesse“ vom Standpunkt der Willenstheorie aber gar nichts einzuwenden hat.); zu alledem auch die Darstellungen bei Melliger, Culpa in contrahendo (1896), S. 4 ff.; Lilie, Schadensersatz bei unwirksamen Verträgen (1898), S. 16 ff. und vor allem Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 60 ff.; ausf. zur weiteren Entwicklung unten § 4.

§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation „Ein allgemeines Princip für unsere Klage ist nur mittelst der culpa zu gewinnen.“ Rudolf v. Jhering, 18611 „Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Principien angerichtet haben und unter unseren Augen noch täglich anrichten (…).“ Rudolf v. Jhering, 18942

Wenn wir von Jhering nichts weiter besäßen als seinen Aufsatz zur c. i. c. und seine rechtstheoretischen und methodologischen Schriften, wir würden gezwungen sein anzunehmen, dass die Konstruktion von 1861 in keiner Hinsicht seinem immer vorhandenen strengen Methodenverständnis entsprechen konnte. Das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis, der „formalen Realisirbarkeit des Rechts“, d. h. der praktisch relevante Zusammenhang von formalem Rechtssatz und das Recht realisierender wirklicher Rechtsfindung, war ihm von seinem Frühwerk an in einer Weise präsent, wie bei vielleicht keinem Zweiten seiner Zeit: „Je allgemeiner und innerlicher die Voraussetzungen und Folgen eines Rechtssatzes bestimmt sind, desto schwieriger die concrete Ermittelung derselben; je concreter und äußerlicher, desto leichter. Diese Leichtigkeit der concreten Erkennbarkeit des Abstracten ist aber praktisch wichtiger als die logische Vollendung des abstracten Inhalts. (…) Denn die Wichtigkeit dieser … Eigenschaft (der formalen Realisirbarkeit) liegt nicht bloß darin, daß die Operation der Anwendung des Rechts erleichtert und vereinfacht wird, also auch beschleunigt werden kann, sondern daß die gleichmäßige Verwirklichung des Rechts dadurch gesichert wird.“3

Bei aller Eingrenzung, die er seiner c. i. c. auch noch zu geben bemüht war – für die Praxis musste das Institut, das primär von dem zur Beliebigkeit zerflossenen Element der culpa ihren zentralen Haftungsgrund bezog, notwendig zu einem richterlichen Billigkeitsinstrument werden, bei dem alles für den Einzelfall entschieden werden konnte. Es gab in diesem Punkt kein „Damaskus-Erlebnis“. Bei allen Exkursen zur Methodologie eines Rechtsgefühls, die Sicherheit der Rechtsanwendung und die Betonung der formalen Seite des Rechts ist für Jhering das 1 Jhering,

Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/40.  Jhering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (1894), S. 18 f. 3  Jhering, Geist des römischen Rechts I (1852), S. 44 (4. Aufl. 1878), S. 53. 2

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§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation

Kontinuum seines Methodenverständnisses gewesen. Das emphatische Plädoyer für eine Gefühlsjurisprudenz war – wenn überhaupt – Episode. Nur 4 Jahre nach seinem Aufsatz zur c. i. c. äußerte sich Jhering zu den Anforderungen an eine rechtswissenschaftliche Konstruktion, die keinen Zweifel aufkommen lässt über den dogmatisch-konstruktiven Geist, der von ihm wieder in aller Klarheit Besitz ergriffen hatte: „Der Zivilrichter kann nur diejenigen Interessen schützen, welche die Gestalt fester Körper an sich tragen; wo sie diese Form abstreifen und in den luftförmigen Zustand übergehen, sich ins völlig Unbestimmte verlieren, hört seine Macht auf – man kann Wolken nicht in einen Sack oder eine Kapsel fangen –, der Richter aber muß die Sache fassen und greifen können, um sie mit Sicherheit zu beurteilen, es gilt für ihn dasselbe, was Cicero von den Gesetzen sagt: tolunt astutias, quatenus manu tenere possunt.“4

Der culpa aber fehlt diese „feste Gestalt“. Ein Geburtsfehler, der dem Institut der c. i. c. bis heute anhängt, und der sich, wie gesehen, aus einer prinzipiell allzu gewollten Konstruktion der Verallgemeinerung erklären lässt. Die Notwendigkeit der praktischen Anwendbarkeit von theoretischen Entwürfen aber hat Jhering bis zuletzt immer wieder betont: „In der Zivilrechtspflege verlangen wir die unverbrüchliche Anwendung des Gesetzes und nehmen die etwaigen Härten und Unbilligkeiten mit in den Kauf. Die Sicherheit der formalen Gerechtigkeit des Richters steht uns höher als die Vorteile einer unberechenbaren materiellen Gerechtigkeit, hinter der sich nur allzu leicht die Willkür verbergen kann.“5

Von den klaren Aussagen schon im ersten Band seines „Geist des römischen Rechts“ (1852), über seine Darlegungen im dritten Band (1865) und die pointierte Feststellung in seinem Zweck (1877/1884) bis hin zu seiner letzten großen zeitgenössischen Methodenkritik im „Besitzwillen“ (1889) – immer war es neben der Lebensferne vor allem die impraktikable Form von Rechtssätzen, die er in die Kritik genommen hat. Gerade sein letztgenanntes Werk ist, was seine allgemeinen Aussagen zur Praktikabilität des Rechts (in „processualischer“ und „legislativ-politischer“ Perspektive) anlangt, bis heute ebenso grundlegend, wie unbeachtet: „Was sollen alle feinen Begriffsunterscheidungen, wenn der Richter sie im einzelnen Fall nicht erkennen kann? Die Zumuthung, sie zur Anwendung zu bringen, ist keine andere, als wenn ein Componist in eine Orchesterstimme Töne gesetzt hat, die das Instrument versagt, oder wenn der Arzt ein Recept schreiben wollte, das der Apotheker nicht ausführen kann.“6 4  Jhering, Geist des römischen Rechts III (1. Aufl. 1865), § 61 (ab der 4. Aufl., 1888, S. 354); zur Bedeutung der klaren konstruktiven Form des Rechts in Abgrenzung zur „Morgenröte des Freirechts“ bei Jhering, vgl. Behrends, Rechtsgefühl (1986), S. 179 ff., und zum programmatischen Rang des Cicero-Wortes (de officiis III 17,68) dens., fraus legis (1982), S. 38 ff. 5 Jhering, Zweck im Recht I (2. Aufl. 1884), S. 434; noch in der 1. Aufl. (1877), S. 425 stand zu lesen: „Wir ziehen im Civilrecht das ungerechte oder unbillige Gesetz der über das Gesetz sich erhebenden Billigkeit oder Gerechtigkeit vor.“ 6 Jhering, Der Besitzwille (1889), S. 175.

I. Das Schuldmoment im römischen Recht

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Wie gesagt: hätten wir tatsächlich nur diese generellen rechtstheoretischen Aussagen, welche die freirechtliche These von einer „Bekehrung“ Jherings nur allzu deutlich widerlegen, wir wären allein um seines Andenkens willen genötigt, ihn nicht weiter allzu vollmundig weder mit seiner c. i. c. in Verbindung zu bringen – erst recht nicht mit der weiteren Entwicklung dieser Haftungsfigur im folgenden 20. Jahrhundert.7 Aber Jhering hat es der Nachwelt erspart, allein von seinem rechtstheoretischen Denken auf die Wertschätzung seiner eigenen dogmatischen Leistungen schließen zu müssen; er selbst hat sich einmal mehr von einer einmal getätigten Aussage losgesagt; zum zweiten Mal sich von einer aus dem Glauben an ein „Princip“ geleiteten dogmatischen Konstruktion wieder gelöst:

I. Das Schuldmoment im römischen Recht „Nicht der Letzte, welcher das Unbefriedigende seiner Zurechtlegung erkannte und erklärte, war Ihering selbst, welcher dadurch seinem Verdienste um Aufhellung der schwierigen Frage ein neues hinzugefügt hat.“ Ferdinand Regelsberger, 18828

Wenn Jherings erster Widerruf,9 der, als „Bekehrung“ und „Damaskus-Erlebnis“ hochstilisiert, jedenfalls zurecht als „Abkehr“ von einer ausschließlich formallogischen Rechtsfindung gewertet worden ist, so darf es verwundern, dass sein zweiter Widerruf einer vorschnell verallgemeinernden juristischen Konstruktion bisher offenbar überhaupt keine ernstzunehmende Beachtung gefunden hat. Und das, obwohl das zentrale Element, aber auch das zentrale Problem seiner c. i. c. gerade das „Schuldmoment“ war und eben dieses zum Titel und Gegenstand seiner nächsten größeren Abhandlung wurde. Dabei kann man diese zweite Besinnung, die dogmatisch nicht weniger als die Rücknahme seiner ganzen 7 Daher ist jede Vermutung, Jhering wäre über die spätere Rechtsentwicklung „begeistert“ gewesen (so etwa K. Schmidt, Zivilistische Rechtsfiguren, 1990, S. 24), stark zu bezweifeln. Zuzugeben ist bestenfalls, dass er sich mit Blick auf seine eigene methodologische Kreativität (bzw. „Gewaltsamkeit“) über den späteren Umgang mit diesem Institut nicht hätte „beklagen können“ (so Ackermann, Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 42). Und in der Tat: die Späteren haben sich ja denn auch regelmäßig auf Jhering berufen, und zwar weniger auf seine dogmatische Konstruktion als vielmehr auf die Originalität seiner Rechtsschöpfung. 8 Regelsberger, in: Endemanns Handbuch des Handelsrechts, Bd. 2 (1882), S. 413 Fn. 3. 9  Vgl. oben § 1 II.2.a) zu seinem Beitrag „zur Lehre von der Gefahr beim Kaufcontract“, JhJb 3 (1859), 449 ff.: „Zu meiner Entschuldigung will ich übrigens hinzufügen, daß auch die wenigen Schriftsteller, welche sich später über die Frage haben vernehmen lassen, meinen Irrthum getheilt und mir damit zu meiner Freude die Möglichkeit offen gelassen haben, ihn selbst zuerst als solchen zu erkennen und öffentlich zurückzunehmen.“ (S. 450 f.). Diese Aussage ist freilich nicht ganz richtig: Friedrich Mommsen hatte bereits 1853 (Unmöglichkeit der Leistung, S. 297 f.) auf die Unzulänglichkeit von Jherings Ansicht hingewiesen und dessen Abhandlung als Zeugnis dafür gewertet, „wie viel Bestechendes die strenge Consequenz hat, selbst wenn sie zu den unrichtigsten Resultaten führt“.

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§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation

c. i. c.-Konstruktion beinhaltet, doch zugleich und darüber hinaus auch getrost als „Umkehr“ von einer ausschließlich gefühlten Prinzipiendeduktion werten. Muss hier noch einleitend die Frage vorangestellt werden, ob Jhering selbst die genannten Defizite seiner Konstruktion wirklich entgangen sein sollten? Das Rechtsgefühl ließ ihn, wie gesehen, zeitlebens nie mehr ganz los  – von seiner c. i. c. hingegen konnte er sich schneller befreien. Jhering war Wissenschaftler genug zu spüren, dass die c. i. c. doch eine recht spontane und unvollkommene Konstruktion war, die seiner Rechtstheorie wie auch seiner nie abgelegten Rechtsästhetik widerstreben musste. Er hatte am Ende seiner Darlegungen zu diesem Institut eine Revision angekündigt. Sechs Jahre später, 1867, legte er sie gleichsam feierlich im Rahmen einer Festschrift der Öffentlichkeit vor: „Das Schuldmoment im römischen Recht“. In dieser Schrift untersucht Jhering die Rolle des Verschuldensprinzips im römischen Recht und entfaltet für den hier interessierenden Zusammenhang zwei ganz zentrale Einsichten: 1. Die culpa ist kein Haftungsgrund, sondern eine Haftungsbegrenzung. 2. Es ist die vornehmste Aufgabe der Rechtswissenschaft, objektive Tatbestände zur Bezeichnung objektiven Unrechts als Haftungsbegründung herauszuarbeiten. 1. Zwei Einsichten „In der That aber zeugt jene Ansicht in meinen Augen nur für die Macht, welche der hier entwickelte Gedanke auch innerhalb der Wissenschaft ausübt,  – eine Thatsache, für die es dem aufmerksamen Beobachter nicht an Beispielen fehlen wird: Ich könnte mich selber anführen. Die von mir aufgestellte Theorie der culpa in contrahendo wird, indem sie den beschränkten Gedanken des subjectiven Unrechts zu Grunde legt, der Idee des Verhältnisses selber nicht gerecht …“ Rudolf v. Jhering, 186710

a) Culpa als Haftungsbegrenzung „[D]er Schuldbegriff ist der allgemeine Haftungsmasstab des entwickelten römischen Rechts.“ Rudolf v. Jhering, 186711

Die erste und scheinbar zentrale These der Schrift steht an ihrem Anfang und auch als Fazit an ihrem Ende: „Die Geschichte der Strafe ist ein fortwährendes Absterben derselben.“12 In dieser Aussage liegt wohl ein Grund dafür, warum diese Schrift in der späteren Zivilrechtswissenschaft leichthin als strafrechtlicher  Schuldmoment im römischen Privatrecht (1867), S. 38, Fn. 73. im römischen Privatrecht (1867), S. 21. 12  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 4; und am Ende S. 67: „… wenn die Idee des Rechts wächst, sterben die Strafen ab, der Aufwand von Strafmitteln steht im umgekehrten Verhältnis zu der Vollkommenheit der Rechtsordnung und der Reife der Völker.“ 10

11 Schuldmoment

I. Das Schuldmoment im römischen Recht

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Exkurs gewertet und wenig beachtet wurde. Doch handelt es sich nicht um eine seiner Zeit weit vorauseilende Studie, die bereits die Auffassungen fortschrittlicher Kriminologen von der Überflüssigkeit der Strafe antizipiert. Jene These ist für den hier interessierenden Zusammenhang vielmehr deshalb von Bedeutung, weil der Gedanke des „Absterbens“ – einmal mehr bei Jhering – des Effektes wegen verwendet und nicht in dieser Allgemeinheit wörtlich zu nehmen ist. Gemeint ist, „daß auf dem Gebiete des Civilrechts die Idee der Strafe der des Schadensersatzes erlegen ist“.13 Der zentrale Gesichtspunkt der ganzen Schrift ist die Zähmung des Vergeltungsgedankens. Ein Aspekt hierbei ist die Substituierung der Strafe durch die Restitution; ein zweiter die Entwicklung des Schuldmomentes im Vergeltungsgedanken. Der Zusammenhang beider Aspekte, der Bezug des Schadensersatzrechts zum Schuldmoment erfolgt dann über den „ewig wahren Satz“ des Verschuldensprinzips: „kein Uebel ohne Schuld“;14 nulla poena sine culpa! Aus diesem Axiom folgt nun die erste wichtige Einsicht: Die Besinnung auf die eigentliche Bedeutung des Verschuldensprinzips bei der Vergeltung als Haftungsbegrenzung und nicht als Haftungsgrund. Nach frühestem Recht wurde für bloßen „Causalnexus“ ohne Rücksicht auf die individuelle Schuld gehaftet;15 unter der Geltung des Verschuldensprinzips kommt es demgegenüber auf die individuelle Verantwortlichkeit an;16 heute noch haftet man für den gesamten Schaden (Totalreparation), nach dem Verschuldensprinzip muss der Ersatzanspruch hingegen  – ebenso wie die Strafe  – am Grad des Verschuldens ausgerichtet sein: „Der dolus verpflichtet schlechthin zum ganzen Schadensersatz, die culpa nur innerhalb gewisser Gränzen.“17 Die oben genannte erste, scheinbar

13 Jhering,

Schuldmoment (1867), S. 61.  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 8; und später (S. 60) der prägnante Satz: „Keine Strafe ohne Schuld“. 15 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 10 ff.; S. 16: „das alte Recht ignoriert das Schuldmoment“; die Ursache hierfür sieht Jhering im Affect der im Rechtsgefühl gekränkten Leidenschaft, vgl. S. 10: Die „Blindheit der Leidenschaft“ übersieht das Schuldmoment“; S. 19: Die „Festigkeit der Rechtsordnung, d. h. die Sicherheit der Realisierung des Rechts beruht hier [den Anfangsstufen des Rechts] wesentlich auf der energischen Mitwirkung der Individuen, diese Energie wiederum auf der Heftigkeit der Reaction des subjectiven Rechtsgefühls gegen erlittenes Unrecht (…)“. Die Zentralthese aus seinem „Kampf“ findet hier (in den Anfangsstufen des Rechts) ihren Ausgangspunkt! 16  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 21: „[D]er Schuldbegriff ist der allgemeine Haftungsmasstab des entwickelten römischen Rechts.“; S. 41: Für die Frage des Schadensersatzes wurde „gegenüber dem Gesichtspunkt der äusseren Causalität der That der der inneren, der Verschuldung zur Geltung gebracht“; „Nicht das äussere Thun verpflichtet, sondern die Handlung d. h. die Causalität der That im menschlichen Willen, und auch nicht die Handlung schlechthin, sondern nur, wenn sie sich dem Willen zum Vorwurf anrechnen lässt.“ 17  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 56; es geht um das „Gleichgewicht zwischen Schuld und Schadensersatz“ (S. 55) als besonderer Ausprägung des „Gleichgewichts zwischen Schuld und Strafe“ (S. 57). 14

82

§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation

strafrechtliche These löst sich so gleichsam in drei für die zivilrechtliche Verschuldenshaftung ganz wichtige Aussagen auf: 1. Schadensausgleich statt Strafe 2. Verschulden statt Causalnexus (Culpa als Zurechnungsmaßstab) 3. Äquivalenz zwischen Verschulden und Rechtsfolge (Culpa als Haftungsmaßstab). Die erste Aussage, die für die Ausgestaltung des BGB dann ja in der Tat maßgeblich geworden ist, bedarf im Folgenden keiner weiteren Betrachtung, zumal Jhering selbst nur 5 Jahre später in seinem „Kampf ums Recht“ diese Entwicklung wiederum kritisiert hat.18 Die beiden folgenden Punkte sind demgegenüber für die vorliegende Untersuchung relevant; denn sie machen die eigentliche Tragweite des Verschuldensprinzips deutlich: Die culpa ist nicht bereits eine causa obligationis, sondern ein modus obligationis – eine Haftungsbegrenzung und zwar sowohl auf der Seite des Tatbestandes: Keine Haftung ohne Verschulden! – als auch auf der Seite der Rechtsfolge: Haftung nur nach dem Grad des Verschuldens! In der entsprechend ausdefinierten Entfaltung des Verschuldensprinzips im Verlauf der Rechtsevolution sah Jhering „eine der interessantesten culturhistorischen Thatsachen, welche die Geschichte des Rechts für die Erziehung des Menschengeschlechts aufzuweisen vermag: es ist der Fortschritt der Menschheit von wilder, blinder Leidenschaft und Rachsucht zur Mäßigung, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit“.19 An dieser Rolle des Verschuldensprinzips hat Jhering dann zeitlebens festgehalten: „Die Idee der Gerechtigkeit … ist unzertrennlich von der Durchführung des Gesichtspunktes der Verschuldung.“20 Das Verschuldensprinzip liefert nicht den Grund einer Haftung, sondern ihrer Mäßigung und Beschränkung! 18 Jhering, Kampf ums Recht (1872), S. 87 f.: „Mit dieser Unempfänglichkeit unseres heutigen Rechts für das ideale Interesse der Rechtsverletzung hängt auch die Beseitigung der römischen Privatstrafen durch die moderne Praxis zusammen (…) Was heisst das aber? Nichts anders, als dass bei uns das subjektive Unrecht auf die Stufe des objektiven herabgedrückt ist (…).“ Den Widerspruch konstatiert schon Adolf Merkel, Jhering, JhJb 32 (1893), 6/25: „Bald aber bemerkte er, daß dem Zurückdrängen des pönalen Moments … verwandte Erscheinungen zur Seite gingen und in der modernen Welt sich vervielfältigen und ausbreiten … Und er ward sich des Widerspruchs bewußt, in welchem diese Entwicklungsreihe mit seiner gesammten Denk‑ und Empfindungsweise stand.“ Zu neueren Tendenzen und der generellen Problematik pönaler Momente im Zivilrecht: Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht (2004); Bohn, Der Sanktionsgedanke im Privatrecht (2005). 19  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 4; grundlegend bereits im Geist I, § 11 (4. Aufl. 1878, S. 127): „Nach dem Maße, wie das Recht das Moment der Schuld in den einzelnen Rechtsverhältnissen zu der ihm gebührenden Geltung bringt, bestimmt sich die Culturstufe desselben (…).“ 20 Jhering, Kampf ums Recht (1872), S. 88.

I. Das Schuldmoment im römischen Recht

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b) Culpa und objektives Unrecht „In dem oft vorgekommenen Ausdruck: damnum iniuria datum, begreift das Wort iniuria eigentlich ein Doppeltes: 1) die objective und 2) die subjective Widerrechtlichkeit. Beides darf nicht fehlen, damit die Widerrechtlichkeit, die iniuria, vollständig sei.“ Johann Christian Hasse, 181521

Die zweite Einsicht zieht gewissermaßen die Konsequenz aus der ersten; denn wenn der Gesichtspunkt der Verschuldung ein Aspekt der Haftungsbegrenzung ist, dann bedarf es einer anderen causa obligationis, und diese liegt eben nicht im „subjektiven“ (d. h. im Verschulden), sondern im Gedanken des „objektiven Unrechts“. Das „subjektive Unrecht ist verschuldete, das objektive unverschuldete Rechtsverletzung.“22 Hören wir zu dieser wichtigen Differenzierung Jhering selbst: „Zum richtigen Verständnis derselben [der ‚culturhistorischen‘ Entfaltung der Gerechtigkeitsidee] bin ich genöthigt, einen Unterschied zu entwickeln, der zwar in dem römischen Recht thatsächlich auf das klarste ausgeprägt ist, aber weder auf Seiten der römischen, noch der heutigen Jurisprudenz die genügende Beachtung gefunden hat. Jeder fühlt die Verschiedenheit zwischen dem Anspruch des Eigenthümers gegen den dritten gutgläubigen Besitzer seiner Sache und demjenigen des Bestohlenen gegen den Dieb. In jenem Fall handelt es sich lediglich um die Existenz des bestrittenen Rechts, ohne daß von Seiten des Klägers sich der Vorwurf einer bewussten und verschuldeten Rechtskränkung hinzuzugesellen braucht; er kann sich hinzugesellen, und dies ist auf das Mass der Haftung von Einfluss [sic.! s. o.], allein er braucht es nicht, m. a. W. das Moment der subjectiven Verschuldung ist diesem Anspruch unwesentlich, er hat zum Gegenstande lediglich die Unrechtmässigkeit eines sachlichen Zustandes in der Person des Beklagten. Die Klage gegen den Dieb dagegen beruht wesentlich auf dem Vorwurf der Rechtskränkung d. h.bewusster, wissentlicher Verletzung unseres Rechts, das Moment subjectiver Verschuldung ist ihr unerlässlich, es gibt keinen Diebstahl ohne Absicht. In beiden Fällen handelt es sich um die Verwirklichung des Rechts des Klägers, das Urtheil, welches dasselbe anerkennt und wiederherstellt, macht also einem Unrecht in der Person des Gegners ein Ende, und es unterliegt daher in meinen Augen keinem gegründeten Bedenken, daß man in beiden Fällen von einem Unrecht sprechen kann, für welches sich in dem einen die Bezeichnung des objektiven, in dem andern des subjectiven Unrechts empfiehlt.“23

Man hat in dieser Differenzierung die Begründung der modernen Tatbestandslehre (objektiver und subjektiver Tatbestand),24 eine Differenzierung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld25 oder die Begründung unterschiedlicher Rechts Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 52.  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 6. 23 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 5. 24  Vgl. nur Fikentscher, Methoden III (1976), S. 171 ff.: „Begründung der zivilistischen und strafrechtlichen Tatbestandslehre“; Baratta, Jherings Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft (1970), S. 17 f. 25  Grundlegend zu dieser These wohl: H. A.  Fischer, Rechtswidrigkeit (1911), S. 120 f.: „Die zivilrechtliche objektive Rechtswidrigkeit kann das Jahr 1867 als ihr Geburtsjahr nennen …“; v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts (1960), S. 49/127; Stathopoulos, Fahrlässigkeit 21 22

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§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation

folgen26 erblicken wollen. Das bedarf hier keiner Kritik.27 Was Jhering mit „objektivem Unrecht“ jedenfalls meint, ist, dass es auch Rechtsfolgen im Zivilrecht gibt, die allein aufgrund einer „objektiven Rechtsverletzung“ angeordnet sind und sich eben nicht aus dem Gesichtspunkt der Schuld (im subjektiven Sinne) begründen lassen. Diese kann hinzutreten, muss es aber nicht; der eigentliche Haftungsgrund liegt jedenfalls nicht im subjektiven Unrecht der culpa: „Bei den Delicten macht die unerlaubte Handlung den ursprünglichen und einzigen Grund des Anspruchs aus, bei allen andern Verhältnissen hingegen bildet den ursprünglichen Grund des Anspruchs eine von jeder Verschuldung unabhängige Thatsache: Das Eigenthum, der Contract u. s. w., und obschon auch bei ihnen die Schuld als secundäres Moment sich hinzugesellen und die Haftung zu steigern vermag, so können doch die daraus entstehenden Ansprüche andererseits auch ohne alle Zuthat des Schuldmoments zur Verwirklichung gelangen: es ist irrig zu glauben, als ob die Nichterfüllung der Obligation nothwendigerweise ein subjectives Unrecht in sich schlösse, es gilt dies für sie ebenso wenig, wie für die reivindicatio.“28

Bekanntlich liegt denn ja auch bis heute eine ganz wichtige Entwicklung des modernen Haftungsrechts in der Überwindung des Dogmas vom „subjektiven Unrecht“.29 Die Kuriosität ist freilich, dass man immer Jhering mit dem Verschuldensprinzip in Verbindung gebracht hat, nicht aber mit seiner Überwindung. Dabei geht es ihm mit dem Gedanken vom „objektiven Unrecht“ doch gerade um die Einsicht, dass es für eine Haftung primär auf die Definition und Begründung des „objektiven Unrechts“ ankommt und der Gesichtspunkt der und Rechtswidrigkeit (1983), S. 631/644; Deutsch, Haftungsrecht I (1976), S. 193 (2. Aufl. 1996, Rn. 230); ders., Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt (2. Aufl. 1995), S. 20; Brüggemeier, Prinzipien des Haftungsrechts (1999), S. 73. 26  So Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 409 ff.: „Nur ein verschuldetes Unrecht … könne eine Ersatzpflicht begründen, während ein objektives Unrecht lediglich die Pflicht zur Unterlassung weiterer Störungen und zur Herausgabe (bzw. Duldung oder Wegnahme) eines eventuell entzogenen Gegenstandes nach sich ziehe.“ 27  Bzgl. der ersten beiden Thesen zeigt bereits das Eingangszitat von Hasse, dass es darum nicht gehen kann. Schaut man genauer in den Text, wird auch deutlich, dass Jhering sich bereits explizit am strafrechtlichen Haftungsaufbau orientiert; vgl. Jhering, Schuldmoment (1867), S. 20: „Während unter den Criminalisten längst kein Zweifel mehr darüber herrscht, daß die Art, wie das spätere römische Strafrecht das Moment der Verschuldung gegenüber dem äussern Moment der That zur Geltung gebracht hat, demselben in der Universalgeschichte des Strafrechts einen hervorragenden Platz sichert, haben die Civilisten, bei denen der Formalismus der juristischen Methode so leicht den Blick für die ethische Seite des Rechts abschwächt, die nicht minder grossartige Entfaltung des Schuldbegriffs auf dem Gebiet des Civilrechts kaum einer Beachtung gewürdigt.“ Bzgl. der zweiten These bemerkt immerhin v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts, (1960), S. 49/127, dass die Sache so recht nicht passen will: „Das Beispiel freilich, mit dem Jhering begann, war nicht glücklich (…).“ Hinsichtlich aller drei Thesen dürften die folgenden Ausführungen die Sache hinreichend ins rechte Licht rücken. 28  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 21 f.; vgl. aber auch S. 45 ff., wo er die Rolle der culpa bei den Contractsklagen („d. h. des Schadensersatzes für unterbliebene, verzögerte oder mangelhafte Erfüllung“) näher betrachtet und verteidigt; der Haftungsgrund ist sie dort freilich auch nicht, sondern ebenfalls ein zusätzliches Haftungskriterium. 29 Hierzu ausf. Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts (2003).

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„Schuld“ hierbei letztlich sogar ganz außer Betracht bleiben kann. Die Suggestionskraft des „Verschuldensprinzips“ zeigt sich demgegenüber vor allem dort, wo mit ihm eine Haftung begründet werden soll. Das liegt an der unaufgeklärten Nähe von culpa und dolus. Die Haftung für verschuldetes Unrecht verliert seine Überzeugungskraft, wo diese nicht mehr mit der Evidenz des dolus, sondern mittels culpa „gewaltsam in die subjective Form gezwängt“30 wird. Mit dem Hinweis auf die „Macht“, welche das Prinzip des „subjektiven Unrechts“ (Verschuldensprinzip) „auch innerhalb der Wissenschaft ausübt“,31 verbindet Jhering schließlich die selbstkritische Einsicht, dass die von ihm „aufgestellte Theorie der culpa in contrahendo … der Idee des Verhältnisses selber nicht gerecht, und … gewiss durch eine weitere, objektivere ersetzt werden“ wird.32 Was immer mit dem Hinweis auf eine „objektivere“ Theorie auch gemeint sein mag – darauf wird sogleich noch ausführlicher einzugehen sein –, es ist gewiss nicht der Gesichtspunkt des „Vertrauens“ oder einer Vertrauenshaftung, der / ​die hier vermeintlich vorgeahnt wird33. Mit dem Verzicht auf das zentrale Kriterium der culpa als Haftungsgrund in seiner Konstruktion bricht jedenfalls das Rechtsinstitut „culpa in contrahendo“ auseinander wie die Titanic bei ihrem Untergang im Nordatlantik.34 Die culpa in contrahendo war, noch bevor an die Abfassung eines BGB auch nur gedacht wurde, bereits im gemeinen Recht tot und begraben. Ihr Schöpfer selbst hat sie zu Grabe getragen und sie selbst nie wieder erwähnt.35  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 38, Fn. 73. Schuldmoment (1867), S. 38. 32  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 38, Fn. 73. 33  So aber offenbar Ackermann, Der Schutz des negativen Interesses (2007), S. 37 ff. mit einem in der Sache bedenklichen Verweis auf Windscheids (durchaus in der Begründung schwankende) Bemühungen zur Lösung des Problems zur Wirksamkeit des Vertragsschlusses unter Abwesenden („Um die von Jhering prophezeite objektivere Formulierung der Haftung … sollte sich vor allem Windscheid verdient machen …“). Es lässt sich kaum ein subjektiverer Anknüpfungspunkt für eine Haftung finden als der Gedanke des Vertrauens (ausf. unten § 7). Jhering selbst hat es, wie gesehen, abgelehnt, seine Haftung lediglich auf die bona fides zu stützen, und er hat sich auch nachträglich nicht darauf verstanden, die unpassende culpa der einen Seite schlicht durch den guten Glauben der anderen Seite zu ersetzen. Es gab im 19. Jahrhundert auch niemanden sonst, der alle Fallgruppen mit einem Haftungsprinzip zu erledigen suchte. Insb. nicht Windscheid, der die differenzierte (Auf‑)Lösung (der c. i.c) im BGB bekanntlich mitgeprägt hat. 34 Ebenso deutlich: Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 133: „Ihering betrachtet die culpa als Klagefundament; mit dem Wegfall jener stürzt deshalb auch der Anspruch in ein Nichts zusammen.“; Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 54: „Mit diesem Worte aber, durch das Jhering seiner Theorie die culpa entzieht, entreißt er ihr auch den Boden unter den Füßen (…).“ 35  Daran bestand in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts jedenfalls kein Zweifel: vgl. nur Drechsler, Über den Schadensersatz bei nichtigen Verträgen (1873), S. 23: „So bestechend aber die Ausführung Jherings von der culpa in contrahendo auch ist, sie kann doch nicht festgehalten werden und wird auch meines Wissens nicht mehr verteidigt. Selbst ihr Vater glaubt jetzt, daß sie der Idee des Verhältnisses nicht gerecht wird.“; ebenso Windscheid, Pandekten II, § 307 Fn. 5; Goldschmidt, ZHR 13 (1869), 332/335; Zimmermann, JhJb 13 (1874), 381/404. Soweit F. Mommsen, Haftung bei Vertragsabschluss (1879), von einer nur teilweisen Rücknahme ausgeht, so dürfte das vor allem dem Umstand geschuldet sein, seinem schriftstellerischen Unter30

31 Jhering,

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2. Ein Nekrolog „Auch in den am besten bewährten unter unseren Theorien können Fehler verborgen sein; und es ist die spezifische Aufgabe des Wissenschaftlers, nach solchen Fehlern zu suchen. Die Feststellung, daß eine gut bewährte Theorie oder ein viel verwendetes praktisches Verfahren fehlerhaft ist, kann eine wichtige Entdeckung sein.“ Karl R. Popper, 198136 „Am Beispiel der Lehre von der ‚culpa in contrahendo‘ läßt sich besonders deutlich erkennen, wie die Ausbildung einer solchen Lehre vor sich geht …“ Karl Larenz, 199137

Man könnte es nun bei der Bedeutung dieser Schrift als Nekrolog auf die Theorie der culpa (in contrahendo) durch ihren Schöpfer belassen. Die culpa ist keine causa obligationis: Savigny hatte Recht behalten. Der Umstand des Widerrufs wirft freilich darüber hinaus nicht nur ein besonderes Licht auf die zum Teil geradezu euphorischen Feiern mancher Methodenlehrer zu ihrer „Entdeckung“, sondern auch und vor allem einen gewichtigen Schatten auf die spätere Renaissance der c. i. c. Bis heute fehlt in keiner Abhandlung zur vorvertraglichen Haftung ein mehr oder weniger vertiefter Hinweis auf Jherings „Entdeckung“.38 Soweit historische Argumente zuweilen überhaupt Beachtung finden, sind sie, wie in diesem Fall, sehr häufig mit der Wertschätzung ihres Urhebers verknüpft. Die Aura einer historischen Autorität reicht dabei zuweilen recht weit, und eben diese Aura verbreitet dann den Nachdruck des Richtigen nicht nur bei jenen, die sich eingehender mit Persönlichkeit, Leben und Werk beschäftigt haben. Insbesondere Rudolf von Jhering genießt insoweit zweifellos auch und vor allem aufgrund seiner immer wieder hervorgehobenen methodologischen „Abkehr“ vom „Kultus des Logischen“ jene ahnungsvolle Anerkennung als wissenschaftfangen nicht von vornherein den zentralen Anlass zu entziehen: Mommsens Abhandlung war eine umfassende Kritik von Jherings c. i. c., die er schon vor dessen Revocation begonnen, aber erst 12 Jahre danach fertig gestellt hatte; Regelsberger, Pandekten I (1893), § 140 Fn. 12: „Die römische Jurisprudenz hat solche Ersatzansprüche anerkannt, aber beherrscht von dem Verschuldensprinzip bemühte sie sich, eine Verschuldung herauszulesen, wo sie in Wirklichkeit fehlte (…). An dem gleichen Konstruktionsfehler leidet die Theorie von der culpa in contrahendo (Jhering in seinen Jahrb. IV Abh. 1), wie ihr Urheber später selbst anerkannt hat (…).“ Lilie, Schadensersatz bei unwirksamen Verträgen (1898), 15 f. 36 Das 4. der 12 Prinzipien einer „neuen Berufsethik“ für die Wissenschaft; in: „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“ (1983), S. 103 bis 117. 37  Methodenlehre der Rechtswissenschaft (6. Aufl. 1991), S. 423. 38 Eine vollständige Aufzählung verbietet sich; vgl. neben der einschlägigen Lehrbuch‑ und Kommentarliteratur etwa nur: Küpper, Das Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S.  21 ff.; Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 97 ff.; Lehmann, Vertragsanbahnung durch Werbung (1981), S. 300 ff.; Grigoleit, Informationshaftung (1997), S. 1., so dass es einfacher ist zu fragen, wer beruft sich eigentlich nicht auf Jhering? Soweit ich sehe, gibt es insoweit nur eine Schrift: Fleischer, Informationsasymmetrie (2001); anders aber schon wieder ders., Vorvertragliche Pflichten (2001), 243/244.

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liche Autorität. Kein anderer hat die Methodologie des 20. Jahrhunderts so nachhaltig geprägt wie er. Die Abkehr von seiner wirkmächtigsten dogmatischen Konstruktion kann und sollte diese Anerkennung als rechtswissenschaftliche Autorität freilich nur weiter bestärken. Vor allem sollten aber die Lehren, die Jhering selber gezogen hat, dazu anhalten, auch die gegenwärtige juristische Methode grundlegend zu überdenken. Denn diese neuerliche methodologische Abkehr mag daran gemahnen, als Wissenschaftler nicht allzu leichtfertig aus dem „Kultus des Gefühls“ heraus Prinzipien zu verallgemeinern und mit Konsequenz dogmatisch zu konstruieren, einmal gemachten Aussagen gegenüber kritisch zu bleiben und sich ggf. noch selbst zu falsifizieren. „Wir ziehen diesen Weg vor, weil wir glauben, daß wir viel über die Wahrheit gelernt haben werden, wenn wir herausfinden, daß unsere Vermutung falsch war.“ (Karl R. Popper)39 Die kritische Distanz ist im Zuge der „Wiederentdeckung“ der culpa in contrahendo geschwunden. Soweit ich sehe, hat später niemand etwas ernster nach den Gründen für Jherings Revocation gefragt. Jherings eigene Distanzierung kommt im rechtswissenschaftlichen Bewusstsein des 20. Jahrhunderts nicht mehr vor,40 im Gegenteil: die weitere ubiquitäre Entwicklung des gleichnamigen Haftungsinstituts wird als die von Jhering angedeutete „objektivere“ Theorie gedeutet.41 Für die weitere dogmatische Auseinandersetzung ist es deshalb wichtig, sich nicht lediglich bei der Tatsache zu beruhigen, dass Jhering von seiner culpa in contrahendo selbst nichts mehr gehalten hat. Entscheidend sind vielmehr die 39  Vgl. insb. die 12 Prinzipien einer „neuen Berufsethik“ von Popper, Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit (1981): „5. Wir müssen deshalb unsere Einstellung zu unseren Fehlern ändern. Es ist hier, wo unsere praktische ethische Reform beginnen muß. Denn die alte berufsethische Einstellung führt dazu, unsere Fehler zu vertuschen, zu verheimlichen und so schnell wie möglich zu vergessen. 6. Das neue Grundgesetz ist, daß wir, um zu lernen, Fehler möglichst zu vermeiden, gerade von unseren Fehlern lernen müssen. Fehler zu vertuschen ist deshalb die größte intellektuelle Sünde. 7. Wir müssen daher dauernd nach unseren Fehlern Ausschau halten. Wenn wir sie finden, müssen wir sie uns einprägen; sie nach allen Seiten analysieren, um ihnen auf den Grund zu gehen. 8. Die selbstkritische Haltung und die Aufrichtigkeit werden damit zur Pflicht. (…) 11. Wir müssen lernen, daß Selbstkritik die beste Kritik ist; daß aber die Kritik durch andere eine Notwendigkeit ist. Sie ist fast ebenso gut wie die Selbstkritik. (…).“ 40 Kurze Erwähnungen ohne weiteren Aufschluss lediglich bei: Cabjolsky, Entwicklung und heutiger Stand der Lehre von der Haftung für Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 6; Keller, Das negative Interesse im Verhältnis zum positiven Interesse (1949), S. 36; am Ende der Untersuchung bei Schanze, Culpa in contrahendo bei Jhering, Ius Commune VII (1978), 326/356 („eher orakelhaft“); Choe, Culpa in contrahendo bei Rudolph von Jhering (1988), S. 122. 41 In diesem Sinne zuerst wohl Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 188 (lapidar: „Jhering faßte das Verschuldenserfordernis selbst schon außerordentlich weit, ließ es später sogar fallen.“), der dann in einer Haftung für culpa in contrahendo auch ohne culpa kein Problem sieht (ausf. hierzu unten § 7 III.1.a.); zuletzt Ackermann, Schutz des negativen Interesses (2007), S. 37 ff. („erfolgreiche Fortsetzung in der modernen Lehre von der Vertrauenshaftung“), im Anschluss an die Deutung bei Bürge, ZSRom 108 (1991), 571/575. Ausf. zu allen Theorieansätzen unten: §§ 4 ff.

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Gründe und nicht allein die historische Tatsache. Man hat sich bei der späteren Reinkarnation dieses Instituts denn auch weder an diesem noch an dem Umstand gestoßen, dass für die von Jhering angesprochenen Problemfälle in der Tat objektivere, aber eben durchaus differenzierte Lösungen im BGB gefunden wurden. Und man hat sich schließlich auch bei der Kodifizierung dieses Instituts nicht daran gestoßen, dass es in 100 Jahren nicht gelungen ist, eine plausible Begründung für eine allgemeine vorvertragliche Haftung zu finden. Die Merkwürdigkeiten sowohl beim Wandel im maßgeblichen Rechtsgefühl als auch bei seiner rechtsdogmatischen Umsetzung werden deutlich an einem Satz, den Jhering im Zuge seiner culpa in contrahendo aufgestellt und zu dem er sich auch in seiner Revisionsschrift dauerhaft bekannt hat („An dieser von mir in meinen Jahrbüchern IV. S. 84, 85 aufgestellten Ansicht halte ich fortdauernd fest.“): „Wer blos einen Andern für irgend eine Verrichtung auszusuchen hat, haftet consequenterweise lediglich für die dabei begangene Nachlässigkeit, (culpa in eligendo) wer dagegen die Leistung selber zu beschaffen hat und sie durch einen Andern vornehmen lässt, haftet für dessen culpa schlechthin.“42 An dieser Ansicht hat nicht nur Jhering festgehalten; sie wurde maßgeblich für die Differenzierung bei der Haftung für Verrichtungs‑ (§ 831 BGB) und Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB). Es ist nun keineswegs die einzige Ironie in der Dogmengeschichte der culpa in contrahendo, dass dieses Haftungsinstitut einmal zur Konstruktion eben dieser Differenzierung (bei Jhering) und dass ein anderes Mal eben diese Differenzierung zur Konstruktion einer neuen culpa in contrahendo (im Anschluss an den Linoleumrollen-Fall) geführt hat,43 die dann genau diese ursprüngliche Differenzierung wieder nivellieren sollte. Der Wandel im Rechtsgefühl könnte frappierender nicht sein. Das Gleiche gilt für den Wandel in der Rechtstheorie, wenn man statt einer eingehenden Revision der für „Verrichtungsgehilfen“ nicht akzeptierten culpa in eligendo lieber ein undurchsichtiges allgemeines Haftungsinstitut zu akzeptieren bereit ist. Wieder wird mit diesem Institut an einer Stelle gegeben, was an anderer Stelle verweigert wird. Bereits hier wird deutlich: Die Konkurrenz zu bestehenden Rechtssätzen und Rechtsinstituten ist das dogmatische, die Möglichkeit, auf diesem Wege ganz andere und unterschiedliche rechtsethische Wertungen juristisch zu fassen, das rechtstheoretische Grundproblem der culpa in contrahendo von ihrer „Entdeckung“ an. Kurz: Es ist wichtig, sich an dieser Stelle nicht bei dem Wandel oder den Kontinuitäten in Jherings Rechtsauffassung zu beruhigen. Notwendig ist bereits an dieser Stelle eine Vertiefung der von ihm vorgetragenen und für die weitere Betrachtung zentralen Argumente:

42

 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 47. unten § 5 III.

43 Hierzu

II. Rechtstheoretische Besinnung: „Objektivität des Rechts“

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1. Die rechtsdogmatische Besinnung auf eine notwendig bescheidene Rolle der culpa als Haftungsbegrenzung und nicht als Haftungsgrund; 2. Die rechtstheoretische Besinnung auf die Notwendigkeit, das „subjektive Unrecht“ in „objektivem Unrecht“ fassen zu können.

II. Rechtstheoretische Besinnung: „Objektivität des Rechts“ „Die Anwendung des Rechtssatzes besteht darin, daß das, was er abstract hinstellt, concret ermittelt und ausgedrückt wird, und dies kann sehr leicht, aber auch unendlich schwer sein. Es hängt dabei zwar viel von der Geschicklichkeit und dem richtigen Blick des Anwendenden ab …, allein die objective Schwierigkeit oder Leichtigkeit der Anwendung des Rechtssatzes wird durch ihn selbst bestimmt, dadurch nämlich, ob er seine Bestimmungen an schwer oder leicht erkennbare Kriterien angeknüpft hat.“ Rudolf v. Jhering, 187844

1. Jherings Beschreibung der Rechtsevolution „Nach dem Maße, wie das Recht das Moment der Schuld in den einzelnen Rechtsverhältnissen zu der ihm gebührenden Geltung bringt, bestimmt sich die Culturstufe desselben. Wer mit dieser Rücksicht die Geschichte des Rechts verfolgen will, wird finden, daß der Fortschritt desselben im Wesentlichen in einer fort und fort vervollkommneten und verfeinerten Anwendung des Maßstabes der Verschuldung besteht.“ Rudolf v. Jhering, 187345

Auf eine einfache Formel gebracht, lässt sich die von Jhering in seiner Schrift zum „Schuldmoment“ entwickelte These zur Evolution des Rechts wie folgt lesen: 1. Stufe: Schlichte Haftung für bloßen „Causalnexus“; 2. Stufe: Differenzierte Haftung für Verschulden („subjektives Unrecht“); 3. Stufe: Differenzierte Haftung für „objektives Unrecht“. Doch muss man hier sogleich etwas präzisieren. Denn auch die früheste Haftung für Verursachung war in diesem, in Jherings Sinne eine Haftung für „objektives Unrecht“. Es ging allein um kausal verursachtes Erfolgsunrecht, bei dem nicht nach dem Grad der Schuld (Handlungsunrecht) differenziert wurde. Was Jhering im Kern mit seinen drei Stufen der Rechtsentwicklung meint, ist eine immer weiter fortschreitende Ausdifferenzierung der Haftung, die zunächst den Gedanken des „subjektiven Unrechts“ immer feiner berücksichtigt und sodann

 Geist des römischen Rechts I (1878), S. 51. des römischen Rechts I (1878), S. 127.

44

45 Geist

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auch das subjektive Unrecht in objektivere Tatbestände zu fassen sucht.46 Sehen wir genauer zu: a) Injurien und Causalnexus „Das reizbare Rechtsgefühl der älteren Zeit erfasst jede Verletzung oder Bestreitung des eigenen Rechts unter dem Gesichtspunkte des subjectiven Unrechts, ohne dabei die Schuldlosigkeit oder das Maass der Verschuldung des Gegners in Anschlag zu bringen (…).“ Rudolf v. Jhering, 187247

Soweit sich das Recht in seiner frühesten Stufe überhaupt des Streites um Schädigungen annimmt, spielt  – das dürfte unstreitig sein  – die Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Unrecht oder gar noch eine weitere Differenzierung bei letzterem (dolus, culpa lata, levis, levissima) keine Rolle. Sanktioniert werden evidente Fälle der Schädigung als Unrecht (iniuria). Gehaftet wird auf der Grundlage einer objektiven Verursachung des Schadens („Causalnexus“).48 Aus diesem schlichten Zusammenhang erhellt bereits, warum es später im 19. Jahrhundert das Verursachungsprinzip so schwer hatte, sich gegen das Verschuldensprinzip erneut zu etablieren: Es galt als das ältere und sohin als Rückschritt im Haftungsrecht.49 Für die Betrachtung des frühen und frühesten Rechts muss man sich freilich immer wieder vor Augen halten, dass das Recht erst auf einer Entwicklungsstufe in Erscheinung tritt, wo es gilt, die für die Gemeinschaft schädlichen Folgen der Selbstjustiz zu unterbinden. Die zentralen Typen der Verletzungsdelikte (Tötung, Körperverletzung, Raub, Diebstahl …) sind bereits vorhanden und müssen nicht 46  Genau genommen beschreibt Jhering nur die ersten beiden Stufen, und hier insb. die Ausdifferenzierung des Schuldmomentes (also des „subjektiven Unrechts“); die dritte Stufe bleibt bei ihm unklar angedeutet; vgl. auch die Beschreibung 5 Jahre später im „Kampf ums Recht“: „Von diesen Einrichtungen und Sätzen des älteren Rechts ist Manches in das neuere hinübergenommen, aber die selbstständigen neuen Schöpfungen desselben athmen einen völlig anderen Geist. Er lässt sich mit Einem Wort charakterisiren: Aufstellung und Anwendung des Maßstabes der Verschuldung auf alle Verhältnisse des Privatrechts. Das objective und das subjective Unrecht werden streng geschieden (…).“ 47 Kampf ums Recht (1874), S. 75 f. 48 Hierzu nach Jherings Schrift grundlegend: Pernice, Labeo II (1878); Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 125 ff. jeweils m. w. N. Auf die Dispute zur begrifflichen Bedeutung der iniuria im römischen Recht muss hier nicht eingegangen werden; hierzu nur Jhering, Rechtsschutz, JhJb 23 (1885), 155–338; Landsberg, Iniuria und Beleidigung (1886); ausf. Überblick bei Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1050 ff.; Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S.  210 ff. jeweils m. w. N. 49 Noch bis heute wird die Ausbildung des Verschuldensprinzips als Indiz für den Stand einer Kultur angesehen: Andreas Wacke, Fahrlässige Vergehen, RIDA 26 (1979), 505/506: „Denn die Frage, wieweit unabsichtliche Missetaten ihrem Urheber zugerechnet werden, ist ein untrügliches Kennzeichen für den jeweiligen Kulturzustand einer Rechtsgemeinschaft.“; v. Lübtow, Lex Aquilia (1971), S. 7: „Die allmähliche Entwicklung des Rechts der lex Aquilia liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie aus Gesetzesnormen der archaischen Periode im Laufe der Jahrhunderte eines der feinsten Gedankengebilde entsteht.“

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erst vom Gesetzgeber benannt werden. Es geht um die Verletzung der Person selbst oder dessen, was sie ihr Eigen nennt oder als solches beansprucht. Hier ist der originäre Ort, an dem der Satz: summum ius, summa iniuria gilt. Die Summe des Rechts wird gebildet aus der Summe der benannten Verletzungsdelikte.50 Die Bestimmung des objektiven Unrechts bereitet keine ernsten Probleme, weil seine Kenntnis durch die Erfahrungen der Geschichte bereits vermittelt ist, nicht aber ein geregelter Umgang mit ihm: Wo das Recht als Institution zuerst in Erscheinung tritt, besteht die vordringliche Aufgabe nicht darin, Recht vom Unrecht zu scheiden, sondern Konflikte zu befrieden.51 Man muss sich daher weder um den Nachweis etwa einer inneren Konsistenz der von den XII Tafeln überlieferten „unerlaubten Handlungen“ bemühen noch sich über die archaisch anmutenden Rechtsfolgen verwundern. Es geht im Rahmen der Entwicklung des Rechts zunächst nur um die Eindämmung des durch das Delikt hervorgerufenen Vergeltungsbedürfnisses beim Verletzten und seiner Sippe. So wie zunächst die Talion ein Mittel der Mäßigung gegenüber der Blutrache, so war dies schließlich auch die Bußleistung (poena) gegenüber der Talion.52 Und insoweit ist es nur zu verständlich, wenn sich die Bußleistung als Privatstrafe „durchs ganze alte Privatrecht hindurch“ zieht: „Alles Unrecht, richte es sich gegen die Sache oder die Person, muss und kann mit Geld abgekauft werden, die zerschlagenen Glieder, das geschundene Gesicht, Injurien aller Art; selbst die Liederlichkeit und der Ehebruch der Frau finden ihr Aequivalent in einem Abzug an der Dos.“53 Ob, wie es Jhering in seiner Schrift über das „Schuldmoment“ annimmt, die Frage nach dem subjektiven Unrecht erst zu einem späteren Zeitpunkt in das Bewusstsein tritt oder ob nicht vielmehr für die Injurien der frühen Deliktstatbestände die böse Absicht (dolus malus) immer schon mitgedacht wurde und sich erst allmählich die Einsicht in auch nur culpos verursachte Schädigungen eingestellt hat, bedarf hier keiner Erörterung und Entscheidung.54 Beide Mög50  Vgl. Jhering, Geist des römischen Rechts I (1878), S. 82; die moderne Übersetzung des Cicero-Satzes als „Das höchste Recht (ist) das höchste Unrecht“ (De officiis I, 33) mag als sinniges Sprachspiel (mit der Doppeldeutigkeit des „summum“) seine Berechtigung haben; trifft aber schwerlich den originären Sinn. Es ist ja schon sprachlich sehr ungewöhnlich von einem „höchsten Recht“ zu sprechen. Bleibt man bei dem schlichten und naheliegenden Verständnis, dass die Summe des Rechts auch die Summe des Unrechts definiert, dann wird auch das Originalzitat bei Terenz (ius summum saepe summa est malitia) verständlicher; denn das Recht hat ja regelmäßig die Aufgabe, das „Übel“ einzudämmen; immerhin mag dann hier der rechtskritische Ausgangspunkt liegen, die Summe des Rechts selbst als das größte Übel anzusehen, wenn mit ihm nicht das Übel beseitigt, sondern eher noch verstärkt wird. 51  Illustrativ zu diesem Vorgang für das mosaische Recht: Dershowitz, Genesis of Justice (2000); vgl. auch Wesel, Frühformen des Rechts (1985); ders., Juristische Weltkunde (2000), S.  21 ff. 52  Vgl. nur Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1 ff., 914 f.; Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 193 ff. m. w. N. 53  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 17. 54  Jhering selbst deutet sie als möglich an: „Die beigebrachten Zeugnisse … reichen vollkommen aus, unsere obige Behauptung (S. 10) zu begründen. Ob wir letztere so fassen wollen

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lichkeiten sind plausibel und vielleicht auch nicht für alle Delikte einheitlich zu beantworten.55 Wichtig ist hier etwas anderes: Das „Schuldmoment“ tritt in Gestalt des dolus als isolierte juristische Kategorie erst relativ spät in das Bewusstsein des Rechtsdenkens, weil der Begriff zunächst gar nicht ein spezielles „Schuldmoment“ (Absicht bzw. Vorsatz) der Delikte ist,56 sondern weil er als Täuschung und Betrug (fraus)57 auf das Engste mit einer Materie verknüpft ist, die bereits eine entwickelte Verkehrsgesellschaft voraussetzt: wie oben: das alte Recht ignoriert das Schuldmoment, oder: die That gilt ihm als genügender Beweis der Schuld, ist gleichgültig; kurz auch den Unschuldigen trifft die Strafe“ (Schuldmoment, S. 16). Im „Kampf ums Recht“ (S. 22 f.) hat er dann der These von der mit dem Unrecht immer vermuteten Schädigungsabsicht den Vorzug eingeräumt. Entschieden in diesem Sinne auch Pernice, Labeo II, S. 238: „Darüber ist von vornherein kein Zweifel, daß das ältere Recht grundsätzlich die dolo malo geschehene Verübung des Verbrechens voraussetzte“, sodann mit weiterer Verfolgung der hier aufgeworfenen Frage. Zu dieser auch Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 128 f., der meint, ein Bewusstsein für das Schuldmoment habe erst das republikanische Strafrecht hervorgebracht, „und zwar so, daß zum Verbrechen und zur poena legitima stets dolus malus gefordert wird; Alles Uebrige fällt dem casus anheim und ist straflos.“ Zu alledem auch Kaser, Römisches Privatrecht I (1971), S. 155 ff.: „Nach dem Verschulden lernt man erst allmählich zu differenzieren. Wenn man zunächst jeden bestraft, der die Tat begangen hat, beruht dies freilich seit alters nicht auf dem Gedanken der ‚reinen Erfolgshaftung‘, sondern eines typisierten dolus malus …“; Zimmermann, Law of Obligations (1990), 1004 ff. m. w. N. Ein interessantes Kriterium für das tatsächlich vorhandene Bewusstsein dieser Unterscheidung ist die Differenzierung nach den äußeren Kriterien von Hass und Feindschaft zur Erforschung der Willensrichtung; vgl. hierzu das mosaische Recht: 4. Mose 35, 20 ff.; 5. Mose 19, 4 ff. u. 11 ff. 55  So kannten anscheinend (Bericht bei Gaius, D. ​47, ​9, ​9) schon die XII Tafeln eine fahrlässige Brandstiftung (XII T. ​8, ​10) und eine unvorsätzliche Tötung (XII T. ​8, ​24a). Doch muss man die dort gefundene Umschreibung, dass das „Geschoss der Hand entflohen sei“ (XII T. ​8, ​24a: si telum manu fugit magis quam iecit), nicht notwendig als Umschreibung einer „Fahrlässigkeit“ auffassen. Denn es scheint bereits hier um eine Öffnungsmöglichkeit zur Befriedung eines Konflikts zu gehen. Man schiebt die Sache auf höhere Kräfte und einen „Sündenbock“ (aries subicitur): Nicht der eigentlich Handelnde, sondern eine fremde Macht hat die Tat verübt (vgl. zu entsprechenden Ritualen in archaischen Gesellschaften nur Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande (1978); für die Haftung bei Tier‑ und Wasserschäden, mit ähnlicher Begründung: Kaser, Römisches Privatrecht I (1971), S. 162 m. w. N. auch zur Brandstiftung). Immerhin scheint es nicht ausgeschlossen, dass zwischen dieser religiös-magischen und der späteren Entwicklung einer Berücksichtigung von Fahrlässigkeit ein Zusammenhang bestehen kann. Das bedarf hier keiner Vertiefung; vgl. aber Wacke, Fahrlässige Vergehen im römischen Strafrecht, RIDA 26 (1979), 505 ff. mit dem Fazit: „Der dolus ist die normale, gesetzlich einzig anerkannte Schuldform schlechthin. Eine zweite, ihr an Bedeutung gleichkommende Schuldform der kriminellen Fahrlässigkeit entwickelten die Römer daneben nicht. An fahrlässige Vergehen knüpften sie grundsätzlich nur die Sanktionen des zivilen Deliktsrechts.“ 56 Den Gegensatz von wissentlichem und unwissentlichem Unrecht bezeichnet die ältere Rechtssprache mit prudens und imprudens; vgl. Jhering, Schuldmoment (1867), S. 22, Fn. 32.; ausführlicher Pernice, Labeo II (1878), S. 233 f. 57 Die beiden klassischen Definitionen des dolus malus von Servius („aliud simulare aliud agere alterius decipiendi causa“) und Labeo („omnis calliditas fallacia machinatio ad circumveniendum fallendum decipiendum alterum“) finden sich bei Ulpian, D. ​4, ​3, ​1, ​2; zu alledem Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 664 ff.

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b) Die Arglist als juristische Kategorie „Dolus malus est omnis calliditas fallacia machinatio ad circumveniendum fallendum decipiendum alterum adhibita.“ Labeo58

Die Arglist nämlich ist ein zentrales Phänomen nicht der rohen gewalttätigen Zeit, sondern des subtilen geschäftlichen Verkehrs. Sie ist aber auch noch kein praktisch relevantes Phänomen in einer überschaubaren Gemeinschaft, wo einer auf den anderen angewiesen ist und wo jeder im Bewusstsein um diese Gegenseitigkeit seine privaten Beziehungen zu anderen pflegt. Sie wird aus soziologischer Perspektive zu einem praktischen Problem erst in dem Moment, da sich die Gemeinschaft zu einer Gesellschaft ausweitet und über die als Gemeinschaft verstandenen Gruppengrenzen hinaus mit „Gruppenfremden“ Geschäfte gemacht werden. Das Schuldmoment wird zu einem privatrechtlichen Thema erst in dem Moment, in dem neben den Injurien gegen benannte Rechtsgüter auch das Vermögen, die rechtsgeschäftliche Transaktion, vor dem Zugriff anderer geschützt werden soll. An dieser Stelle tritt die (Arg‑)List als eigenständige Kategorie in das Rechtsbewusstsein. Das ist eine neue Stufe der Rechtsbildung: Das Vertragsrecht entwächst dem Delikt! In Rom erfolgt dieser Übergang im letzten Jahrhundert der Republik.59 Rom ist mittlerweile Weltmacht und die in jeder Hinsicht kosmopolitische Gesellschaft steht vor einer inneren Zerreißprobe. Der Bürgerkrieg und der Umgang mit den Peregrinen führen zu einem Verfall der Moral. Das honeste vivere des ehrenhaften Mannes ist in Auflösung und erst die Proskriptionen des Oktavian bringen den inneren Frieden zurück. Metus und Dolus sind nun allgemein verpönte Kategorien. Man hat sich viel mit der Frage befasst, warum das (ältere) römische Recht den dolus in Gestalt eines zulässigen circumvenire als Ausprägung akzeptabler Geschäftstüchtigkeit (solertia) so lange zugelassen hat.60 Ein wichtiger Aspekt der Antwort liegt freilich nicht dort, wo man ihn bisher vor allem gesucht hat: in Zum Zusammenhang von fraus und dolus malus: Pernice, Labeo I (1872), S. 104 ff.: „Der labeonische Dolusbegriff berührt sich nach allem dem nahe mit dem Begriffe der fraus. Und in der Tat führen deutliche Spuren darauf, daß dieser zunächst selbständige Begriff allmählich in dem weiteren des Dolus aufgegangen ist.“ Später wird mit der actio doli auch die vorsätzliche Schädigung erfasst, vgl. zusammenfassend Pernice, aaO, S. 405: „… es ist oben erörtert (S. 101 ff.), daß diese Klage eine andere Art des Dolus als den gewöhnlichen Delictsdolus zu ihrem Tatbestande erfordert; sie setzt principiell eine arglistige Veranstaltung zum Nachteile eines anderen voraus, und infamiert deshalb, weil diese regelmässig eine niedrige Gesinnung in sich schliesst. Offenbar ist neben einem so engen Dolusbegriffe noch Platz genug für vorsätzliche Schadenszufügungen, die ersatzpflichtig machen (…).“ 58  Ulpian, D. ​4, ​3, ​1, ​2: labeonis definitio vera est. 59  Zum historischen Hintergrund nur Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 664 ff.; Christ, Krise und Untergang der römischen Republik (8. Aufl. 2013). Cicero, de officiis (3.60) nennt Gaius Aquilius (116–44 v. Chr.) als den Schöpfer der Klageformeln der actio de dolo. 60  Hierzu vor allem Mayer-Maly, Privatautonomie und Vertragsethik im Digestenrecht, Iura 6 (1955), 128 ff.; Wacke, Circumscribere, SZRom 94 (1977), 184 ff.

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einer rechtsethischen Bewertung der Dinge, sondern auch und vor allem in einer rechtspraktischen; denn es liegt nun einmal im Wesen der Arglist, dass sie nicht wie eine Körperverletzung oder Sachbeschädigung für jedermann offensichtlich ist. Der dolus vermag sich dem Zugriff des Rechts leicht zu entziehen, weil er anders als die Real‑ und Verbalinjurien der Zeit zumeist unsichtbar daherkommt und der Getäuschte auf Grund seiner Leichtgläubigkeit leicht zum Gespött seiner eigenen Dummheit wird. Vor allem aber muss man sich vor Augen halten, dass die (Arg‑)List in allen alten Kulturen als besondere Tugend (insbesondere) der Kriegskunst hoch angesehen und eben keinesfalls per se verpönt gewesen ist.61 Der etymologische Ursprung des lateinischen Begriffs des circumvenire macht dies bis heute deutlich: Es geht darum, seinen Gegner zu täuschen, zu umgehen, in einen Hinterhalt zu locken. Und der Begriff der „List“ ist auch in der deutschen Sprachgeschichte keinesfalls von Anfang an mit einer moralisch negativen Konnotation verknüpft gewesen. Im Gegenteil: auch hier ging es zunächst um eine positiv besetzte Form von Wissen und Klugheit.62 Einer Ausdifferenzierung des Schuldmomentes (des „subjektiven Unrechts“) bedurfte es im ältesten Recht nicht, weil und solange die List positiv konnotiert und das Vermögen als solches nicht als generell schützenswertes Gut betrachtet wurde; denn über sein Vermögen konnte jeder nach Belieben verfügen. Die Ausdifferenzierung des Schuldmomentes kann erst in einer gehobenen Rechtskultur erfolgen; denn beim Zugriff auf das Vermögen eines anderen fehlt die Evidenz des „Causalnexus“. Die Arglist versteht sich nämlich auf die Schliche, den Geschädigten noch selbst als letzte Ursache seines eigenen Schadens zu benutzen, und insoweit galt seit jeher: volenti non fit iniuria! Wer einem anderen aus seinem Vermögen etwas freiwillig herausgibt, kann sich hierüber nicht oder allenfalls über seine eigene Dummheit beklagen. Dieser Rechtssatz findet erst mit der begrifflichen Herausbildung von dolus und bona fides als neuen juristischen Kategorien seine Begrenzung. Kurz: Es gibt einen einheitlichen Grund für das von Jhering für die „Blüthezeit des römischen Rechts“ konstatierte „allesbeherrschende ethische Princip“63 (das Schuldmoment): Es ist dies das praktische Phänomen des „subjektiven 61 Deutlich hierzu Harro v. Senger, Strategeme (1995), u. a. mit dem Hinweis, dass die List in der chinesischen Kultur bis heute eine ganz andere Wertschätzung erlebt als in der abendländischen: ders., Die List im chinesischen und abendländischen Denken (1999). Zum kulturgeschichtlichen und universalen Charakter der Arglist auch: Heinroth, Die Lüge (1934); Falkenberg, Lügen. Grundzüge einer Theorie sprachlicher Täuschung (1982); Sommer, Lob der Lüge (1992); Nyberg, Lob der Halbwahrheit (1994) (orig. The Vanished Truth, 1993); Stiegnitz, Alle Menschen lügen (1994); H.-J. Neubauer, Fama. Eine Geschichte des Gerüchts (1998); Dietzsch, Kleine Kulturgeschichte der Lüge (1998); Schockenhoff, Zur Lüge verdammt (2. Aufl. 2005); neuerdings sprechen einige gar von einer Post-Truth-Era, begriffsprägend: Ralph Keyes, Dishonesty and Deception in Contemporary Life (2004). 62  Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (25. Aufl. 2011); Wolfgang Pfeifer (Hrsg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (2. Aufl. 1993). 63 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 21.

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Unrechts“ selbst: Die unverhüllte Dreistigkeit des  – nunmehr so titulierten  – dolus malus. Alles das, was Jhering als die „vollständige Durchführung des Schuldbegriffs“ und „grosse That der classischen Jurisprudenz“64 bezeichnet, ist vor allem und zunächst einem Problem gewidmet: Der Beseitigung bzw. Unterbindung der Arglist, wo immer sie im geschäftlichen Verkehr erscheint!65 Und es ist eine allgemeine Wahrheit, die für das römische Recht in diesem Falle sich bestätigt sieht: die Blütezeit des Rechts ist regelmäßig Ausdruck eines moralischen Verfalls der Sitten. Und gerade hier liegt nun aber bis heute eine der zentralen und schwierigsten Aufgaben eines entwickelten Privatrechts: die Arglist aus dem Verkehr zu verbannen. Die Entdeckung der Arglist im Verkehr erzeugt das „Schuldmoment“ im römischen Recht: Für die unmittelbare Reaktion in Gestalt der actio de dolo ist dies offensichtlich; für culpa und bona fides hingegen nicht. Doch sind beide Begriffe eine Konsequenz aus der Unsichtbarkeit interner Gesinnungen: Denn mit dem Schutz des „Guten Glaubens“ stellt man unter einer objektivierten Perspektive einfach auf die andere Seite ab und verzichtet so auf den Nachweis eines dolus malus. Die culpa hingegen neutralisiert die böse Gesinnung, indem ihr Nachweis durch die Postulation von objektivierten Diligenzpflichten entbehrlich wird. Die Parallele zur heutigen culpa in contrahendo wird deutlich: bona fides (jetzt genannt: Vertrauensschutz) und culpa (jetzt genannt: Schutzpflichten) gehen hier nicht zufällig Hand in Hand. Wir werden sehen, inwieweit es hier noch um die Beseitigung der Arglist im Rechtsverkehr geht, oder inwieweit vielmehr die Verfolgung weitergehender „makrojuristischer“ Vorstellungen (etwa: ökonomische oder distributive) eigentliche Ursachen der Konstruktion sind. Für die hier zunächst interessierende rechtstheoretische Besinnung auf die Objektivität des Rechts, die Substitution des „subjektiven“ durch das „objektive Unrecht“ als Prozess zur Beseitigung der Arglist, ist für die weitere Betrachtung vor allem ein dogmengeschichtliches Phänomen hervorzuheben, das zugleich als die wohl wichtigste Errungenschaft in diesem Prozess anzusehen ist. Man könnte es in Anlehnung an Jherings Formulierung die Geburt des (formlosen) Vertrags aus dem Delikt nennen. Das setzt freilich voraus, dass wir (mit Jhering) den Begriff des dolus mit dem des Delikts identifizieren. Unter diesem Vorbehalt mag es zunächst dabei bleiben.66 64 Jhering,

Schuldmoment (1867), S. 22.  Vgl. etwa auch die Charakterisierung der actio doli bei Darboven, Actio doli (1901), S. 23: „Die Klage, eingeführt um den bei der Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse sich mehrenden Betrügereien und Arglistigkeiten im Verkehr entgegenzutreten, gegen welche das alte Civilrecht keine Hülfe bot, ist durch die römischen Juristen zu einem starken Schutzmittel für die Aufrechterhaltung von Treu und Glauben entwickelt worden; sie bildete in Rom einen mächtigen Regulator des Geschäftsverkehrs.“ 66  Es gibt freilich gute Gründe, den Delikts-Begriff ganz anders zu fassen. So bestreitet bereits Pernice (Labeo I, S. 97 ff.) der actio doli, „eine reine Delictsklage“ zu sein (Labeo II, S. 405: „Im Sinne des röm. Rechts muss man notwendig die a. doli von den übrigen Delictsklagen getrennt 65

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Es geht dann um die Beobachtung, dass die Ausdifferenzierung einzelner Vertragsverhältnisse zunächst über das „subjektive Unrecht“ des Delikts erfolgt ist: „Das will sagen: jede Art des Unrechts, möge es in Absicht oder Nachlässigkeit seinen Grund haben, möge es schon abgesehen von dem Verhältniss eine Klage erzeugen oder nicht, findet in der Klage aus dem Verhältniss seine Berücksichtigung und entsprechende Vergeltung. … das ganze Delictsrecht repetiert innerhalb des einzelnen Eigenthums‑ oder Contractsverhältnisses, die condictio furtiva, die actio legis Aquiliae, die act. de dolo gehen auf in der betreffenden actio in rem oder in personam, nur freilich mit der dem Geiste der Neuzeit entsprechenden Modification, daß die poena zum blossen Schadensersatz ermässigt ist.“67

Der ganze Prozess durchläuft demnach zwei Stufen: 1. Absorption der Deliktsklagen (dolus) in der Vertragsklage („Klage aus dem Verhältnis“); 2. Entfaltung des dem (Vertrags)Verhältnis eigenen Schuldmoments (culpa) in der Ausgestaltung einzelner, dem Verhältnis eigentümlichen Sorgfaltspflichten.68 2. Delikt und Vertrag I: dolus, bona fides und pacta sunt servanda „At vero obligatio juri correspondens semper externa est.“ Christian Thomasius, 170569

a) Der ursprüngliche Kern des dolus malus: Versprechens-, Vertrauens-, Vertragsbruch „Quid enim tam congruum fidei humanae, quam ea quae inter eos placuerunt servare.“ Ulpian, D. ​2, ​14, ​1 pr.70

Wir sind heute leicht geneigt, den Begriff der Arglist mit unserer Vorstellung von arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) und Betrug (§ 263 StGB) zu assoziieren. Das aber heißt, die Täuschung ausschließlich auf Tatsachenbehauptungen zu beziehen.71 Und wir würden vermutlich unter dieser Perspektive schwerlich verstehen, warum der Betrug in der abendländischen Rechtsgeschichte über halten; eher wäre es zulässig, sie mit den Vertragsklagen in Verbindung zu bringen, da man sie passend als Ergänzung des lückenhaften obligatorischen Klagensystemes ansehen kann.“); und auch Zimmermann (Law of Obligations) behandelt den dolus bei den „General Principles of Contractual Liability“ (S. 651 ff.) und nicht beim „Law of Delicts“. 67  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 24 f. 68  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 25: Zu den „absorbirten Delictsklagen gesellt sich sodann noch das individuelle Schuldmoment des betreffenden Verhältnisses hinzu d. h.die Verletzung derjenigen Pflichten, die gerade ihm eigenthümlich sind.“ 69  Fundamenta juris naturae et gentium (1705), libri I, caput V, § XXI. 70 Was entspricht der menschlichen Treue mehr als zu halten, worüber man sich untereinander geeinigt hat? 71  Vgl. selbst Pernice, Labeo II (1878), S. 101: „Der Ausgangspunkt der a. doli ist unzweifelhaft die betrügliche Täuschung. Die Uebervorteilung durch Entstellung der Wahrheit gewesen.“

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weite Strecken als sehr viel verwerflicher eingestuft wurde als Gewaltverbrechen. Bei Dante etwa erfahren Betrüger und Verräter ihre ewige Vergeltung im tiefsten Höllenkreis.72 Aber man erfährt hier auch warum: Im XXVII. Gesang der Hölle lässt Dante einen gewissen Guido von Montefeltro auftreten. Dieser war Herrscher der Romagna und ein berühmter Heerführer der Ghibellinen. Voller List versöhnte er sich zum Schein mehrmals mit dem Papst und brach dann immer wieder hinterhältig den Frieden. So eine Geschichte ist an sich noch nicht sonderlich spektakulär. Die ganze Kriegs‑ und Völkerrechtsgeschichte ist voll von Vertrags‑ und Bündnisbrüchen. Es ist daher auch kein Zufall, wenn ein bis heute grundlegendes Werk zum Vertragsrecht vom Krieg und vom Frieden handelt.73 Das hierin zum Ausdruck kommende Problem wird bei Dante letztlich am konkreten Fall des ‚Privatkrieges‘ vorgeführt, den Bonifatius VIII. (Papst von 1294–1303) gegen die Adelsfamilie der Colonna führte. Diese wollte er gedemütigt sehen und fragte darum den besagten Guido, der mittlerweile in den Schoß der Kirche zurückgefunden hatte, um Rat, wie er ihrer Hochburg Palestrina beikommen könne. Der Rat lautete: „Versprich viel und halte wenig!“ Daraufhin versprach Bonifaz volle Amnestie, zerstörte dann aber Palestrina bis auf den Grund. Die verwerflichste aller Täuschungen ist eben nicht die Täuschung über Tatsachen, über die sich die andere Seite jederzeit ggf. selbst ein Bild verschaffen könnte. Der tiefe und eigentlich verwerfliche Kern des Betruges ist die arglistige Inanspruchnahme von Vertrauen in die Zuverlässigkeit der eigenen Person, die bewusste Enttäuschung des einmal mit einem gegebenen Versprechen erworbenen Vertrauens. Wir sind heute im Privatrecht leicht geneigt, gerade diese Fälle nicht mehr als Betrug zu realisieren, weil vertragliche Vereinbarungen mittlerweile relativ enttäuschungsfest erscheinen. Ja, es ist geradezu kennzeichnend für die heutige Selbstverständlichkeit beim Umgang mit der Vertragstreue, dass bei der Systembildung der sog. Vertrauenshaftung der Bereich der Versprechen und Verträge ganz ausgeklammert wird und man sogar meint, dieser „dritten Haftungsspur“ gleichsam nur in Abgrenzung zum Vertragsrecht ein dogmatisches Eigenleben erwerben zu können.74 Doch musste sich das Vertragsrecht eben erst zu diesem Gesichtspunkt über die Beseitigung des Betruges hindurchringen. Die Sache ist nämlich besonders bedenklich dann, wenn das Recht selbst die Hand zu derartigen Betrügereien reicht, weil es nur bestimmten Formen von Versprechen und Verträgen einen verbindlichen Charakter zuerkennt. Und so ist die Verban72  Vgl. die Beschreibung durch Vergil im XI. Gesang (Übersetzung nach Wilhelm G. Hertz): „Der Bosheit, die im Himmel findet Rüge, ist Unrecht Endzweck; jeder solche Zweck betrübt den Nächsten durch Gewalt und Lüge. Doch da Betrug des Menschen sondrer Fleck, haßt Gott ihn meist; drum müssen unten ringen Betrüger und erleiden schlimmsten Schreck.“ 73  Grotius, De iure belli ac pacis libri tres (1625). 74 Ausf. hierzu unten § 7 I.3. (Dogmatischer Höhepunkt: Vertrauenshaftung mit System).

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nung des „subjektiven Unrechts“ (die Arglist falscher Versprechungen) durch die generelle Ächtung derartigen Verhaltens als „objektives Unrecht“ eine der spannendsten und grundlegendsten Entwicklungen, die das Privatrecht überhaupt hervorgebracht hat: Die kategorische Verbindlichkeit eines Versprechens und der Grundsatz pacta sunt servanda! Der arglistige Treubruch (subjektives Unrecht: „Versprich viel, halte wenig!“75) wird durch die generelle Klagbarkeit von Verträgen zu „objektivem Unrecht“ in Gestalt des Vertragsbruchs, ohne dass es des Nachweises der Arglist bei Abgabe des Versprechens bedürfte. Bereits Cicero beklagte die Scheinheiligkeit in Gefälligkeitsverhältnissen: Nullae sunt occultiores insidiae, quam eae, quae latent in simulatione officii aut in aliquo necessitudinis nomine.76 (Es gibt keine größere Heimtücke als diejenige, die sich unter dem trügerischen Schein der Gefälligkeit oder unter einem Vorwand freundschaftlicher Verbundenheit versteckt.) Wenn man sich vor Augen führt, dass freie Männer im antiken Rom einander keine vertraglich vereinbarten Dienste erbrachten, sondern einander Gefälligkeiten oder Freundschaftsdienste erwiesen, dann wird leicht verständlich, wie leicht Vertrauensverhältnisse durch den dolus korrumpiert werden konnten. Jhering hat das Problem an fünf Rechtsverhältnissen beschrieben, „die erst im neuern Recht sich zum Rang reiner d. h. durch den Delictsgesichtspunkt nicht mehr bedingter Obligationsverhältnisse aufgeschwungen haben. Zu ihnen gehörten die Tutel, das Mandat, die Societät, die Fiducia und das Depositum“.77 Es handelt sich also durchweg um besondere Treueverhältnisse, die besonders auf die Zuverlässigkeit des anderen Partners beim Umgang mit anvertrauten Rechtsgütern und Vermögenswerten verwiesen sind. In moderner ökonomischer Terminologie mag man auch von für „opportunistisches Verhalten“ besonders anfällige „Principal-Agent“-Verhältnisse reden. Es geht um das gleiche Problem: „Das Delict, um das es sich bei jenen Verhältnissen handelt, wird als ‚crimen perfidiae‘ bezeichnet, es besteht in der gröblichen Täuschung des gerade bei ihnen im besonderen Grade bewiesenen Vertrauens. Als Strafe schliesst sich daran die Infamie, die Verpflichtung zur Leistung des vollen Schadensersatzes und die Berechtigung des Klägers zur Ableistung des juramentum in litem. Der Unterschied der altrömischen zu unserer heutigen Auffassung dieser Verhältnisse liegt auf der Hand. Niemand kommt heutzutage auf den Gedanken, in den aus ihnen entspringenden Klagen etwas anderes als gewöhnliche Contractsklagen zu erblicken, d. h.Ansprüche, zu deren Begründung ganz wie beim Kauf oder Darlehn die blosse Thatsache des Contractes ausreicht, ohne dass sich das Delictsmoment, der Vorwurf widerrechtlicher Handlungsweise hinzugesellen brauchte.“78

 Multi promitunt, qui numquam solvere quaerunt.  Cicero, Reden gegen Verres 2, 1, XV, 39. (Übersetzung bei Friedrich Spiro: „Keine Nachstellung ist so böse wie die, welche sich hinter heuchlerischer Dienstbeflissenheit oder enger Zusammengehörigkeit versteckt.“) 77  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 29. 78 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 30. 75 76

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Das heißt, die Einordnung der Verhältnisse als Verträge und die späterhin gewährte Contractsklage hieraus machten den schwierigen Nachweis eines dolosen Verhaltens entbehrlich. Es genügt die mangelnde Erfüllung der aus dem Vertrag geschuldeten Verbindlichkeit. Jhering führt diesen Prozess für die genannten Verhältnisse detailliert vor. Das bedarf hier keiner Wiederholung; sein Fazit mag genügen: „Wir fassen das Resultat unserer Erörterung der obigen Verhältnisse in die Formel zusammen: bei ihnen allen hat sich die Idee der obligatorischen Kraft des Verhältnisses erst durch den Gesichtspunkt des Delicts hindurch arbeiten müssen. Es ist keine vereinzelte Thatsache der Geschichte des römischen Obligationenrechts, sondern der darin sich vollziehende Durchgang des Rechtsbegriffes durch die subjektivistische zur objektivistischen Form …“79

Der zentrale Grund für diesen Prozess ist benannt: Beseitigung der Arglist. Die hiermit einhergehende Folge ist für das römische Recht ganz zentral geworden: Die Ausbildung des Komplementärbegriffs zum dolus: der Fides. „Fides fassen die Römer unzweifelhaft als Wort halten, juristisch gewendet als Leistung des Zugesagten auf, indem sie das Wort etymologisch mit fieri in Verbindung bringen. Credere bedeutet umgekehrt etymologisch: sein Vertrauen auf etwas setzen, seinen Glauben da lassen. … Schon hieraus ist klar, dass sich von fides bei den verschiedenartigsten Verträgen sprechen lässt.“80 Und man wird schwerlich fehlgehen, wenn man eben hier eine zentrale Wurzel für die Ausbreitung der bonae fidei iudicia, d. h. der auch ohne besondere Formerfordernisse ex fide bona klagbaren Vertragsabreden, und schließlich im fides-Begriff schlechthin die Grundlage für die generelle Verbindlichkeit von formlosen Vereinbarungen, den Grundsatz pacta sunt servanda erblickt.81 Der Zusammenhang zwischen dolus auf der einen und bona fides auf der anderen Seite ist denn ja auch für das römische Recht mit Händen zu greifen: Man denke hier vor allem an die exceptio doli, die den Gedanken der bona fides geradezu ganz in sich aufgenommen hat. Für die actiones bonae fidei galt jeher der Grundsatz: bonae fidei contractibus doli exceptio inest, wie auch klagweise in ihnen der dolus konnte geltend gemacht werden.82 79 Jhering,

Schuldmoment (1867), S. 36.  Pernice, Labeo I (1872), S. 409 f. unter Bezugnahme auf Cicero, de officiis. 1, 23: Fundamentum autem est iustitiae fides, id est dictorum conuentorumque constantia et ueritas, ex quo credamus, quia fiat quod dictum est, appellatam fidem. (Grundlage aber der Gerechtigkeit ist die Zuverlässigkeit, das heißt die Unveränderlichkeit und Wahrheit von Worten und Vereinbarungen) und weiteren ausf. Nachweisen. 81 Vgl. die Nachweise zu mandatum, depositum, societas bei Pernice, Labeo I (1872), S. 410, Fn. 10; im Übrigen nur Kaser, Römisches Privatrecht (1971), §§ 113, 114, 254, 255; zur Bedeutung der fides für die weitere Entwicklung: Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 544 ff. 82 Vgl. nur Darboven, Actio doli (1901), S. 17: „Bei negotia bonae fidei ist die actio doli überflüssig, da schon mit der Klage aus dem Kontrakt sowohl auf Wiederaufhebung als auch auf Leistung alles dessen geklagt werden kann, was nach der Sitte rechtsschaffener Leute, nach Treu und Glauben im Verkehr zu leisten ist.“; Zimmermann, Law of Obligations (1990), 80

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Diese Entwicklung wird noch durch einen zweiten wichtigen Strang bestätigt und ergänzt. In Jherings Beispielsfällen handelt es sich jeweils um die „Transmission“ spezieller Deliktsklagen des älteren Rechts, die den dolus bereits enthalten. Für das jüngere Recht hat diese Aufgabe sodann die actio de dolo selbst mit übernommen83 und damit unter den Romanisten zu einem bis heute andauernden Disput über den dolus-Begriff geführt.84 Die römischen Juristen haben nämlich in einigen Fällen die actio de dolo auch dann gewährt, wenn ein dolus im eigentlichen Sinn (ein hinterlistiges Verhalten: Betrug, bzw. eine vorsätzliche Schädigung) offenbar gar nicht in Rede stand.85 Hierin wollen manche eine ganz allgemeine Weiterbildung auch der actio doli zu einer allgemeinen „Billigkeitsklage“ sehen.86 Dass jedenfalls die exceptio doli S. 667 f.; zur Bona-fides-Lehre des Mucius Scaevola und der darauf beruhenden actio de dolo: Behrends, Scaevola pontifex (1976), S. 262/296 ff.: „… die Einführung der actio de dolo malo, die in ihren Anfängen nichts anderes war, als eine Klage aus vorsätzlicher Verletzung der rechtsgeschäftlichen bona fides …“ (S. 297). 83  Die actio de dolo ist nach zwar bestrittener aber überwiegender Ansicht eine Schöpfung aus dem Jahre 66 v. Chr., als C. Aquilius Gallus als Prätor ganz allgemein für Schädigungen auf Grund eines dolus malus in seinem Edikt eine Klage gab: „Quae dolo malo facta esse dicentur, si de his rebus alia actio non erit et iusta causa esse videbitur, iudicium dabo.“ (D. ​4, ​3, ​1, ​1; Lenel, Edictum perpetuum, 3. Aufl. 1927, § 40, S. 114 ff.); hierzu nur: Pernice, Labeo II (1878), S.  197 ff.; Hänel, actio und exceptio doli, AcP 12 (1829), 409 ff.; Darboven, Actio doli, S. 9; Kaser, Römisches Privatrecht I (1971), §§ 59 IV, § 146 IV; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 662. Die Haftung für dolus ist dabei freilich älter als die actio de dolo. Die Haftung für dolus ist vermutlich auch älter als die bonae fidei iudicia: „Die freien Kontraktsklagen ältester Art sind aus Deliktsklagen hervorgegangen. Sie machten geltend, daß der Gegner nicht wie ein Ehrenmann gehandelt hat. Daher die infamierende Wirkung der Verurteilung“; Sohm / ​Mitteis / ​ Wenger, Institutionen (1931), § 64 II 3 a, S. 379, Fn. 6, § 12, S. 59 ff. (insb. zur fiducia bei der mancipatio); vgl. auch schon Schneider, Die allgemein subsidiären Klagen (1834), S. 308: „Hätte es nicht schon im älteren Recht Mittel gegeben, den dolus bei Rechtsgeschäften unschädlich zu machen, und wäre das everriculum malitiarum omnium, wie Cicero (de Natura Deorum III 30) die actio doli nennt, die erste Sicherheit gewesen, die das Recht gegen homines fraudulosos producirt hätte, so wäre in der That kaum zu begreifen, wie bei diesem Zustande ein lebhafter Verkehr, in der Art, wie er im alten Rom Statt fand, habe bestehen können. Aber weit entfernt, daß Ciceros College, gewiß in der Quästur, Cajus Aquilius Gallus, den ersten Schritt gethan hat, um gegen dolus malus zu schützen, hat er vielmehr nur noch eine Lücke vorgefunden, die er durch sein Edict ausfüllen konnte …“; auch Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/378 mit Hinweis auf die Haftung der römischen Agrimensoren (D. ​11, ​6, ​5 pr.): „Die von C. Aquilius Gallus erst um 60 v. Chr. relativ spät eingeführte actio de dolo ist hiernach als die historisch jüngere anzusehen …“ 84  Vgl. nur Mitteis, Römisches Privatrecht I (1908), S. 315 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 664 ff.; ausf. Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349 ff. 85 Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/383: Die Quellenstellen offenbaren einen „über Betrug und arglistige Täuschung weit hinausgehende[n] dolus-Begriff der actio de dolo“, der mit „Labeos Definition in D. ​4, ​3, ​1, ​2 kaum noch zu vereinbaren“ ist. 86 Mitteis, Römisches Privatrecht I (1908), 317: „Eine noch viel größere Ausdehnung erfährt aber der Dolusbegriff dadurch, daß er zum Gegensatz der Bona fides wird. In dieser Antithese bedeutet Dolus nicht mehr die Verletzung konkreter Gesetze oder subjektiver Rechte, sondern jedes verhalten, welches dem abstrakten Prinzip von Treue und Redlichkeit widerspricht.“;

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in diesem Sinne ein praktisches Pendant zur bona fides darstellte, steht außer Zweifel: „dolus was a kind of opposite number to bona fides“87. Nach allem bisher Gesagten ist das nicht verwunderlich, sondern in der Natur der Sache begründet: „Die exceptio doli ist ursprünglich gegeben, damit nicht unter dem Schutz des formalen Rechts Betrügereien mit Erfolg begangen werden können.“88 Und das gleiche gilt für die im Folgenden näher zu betrachtenden Fälle der actio doli genauso: Diesbezüglich hat nämlich bereits Alfred Pernice darauf aufmerksam gemacht, dass es sich in jenen Fällen, in denen von einem „bewusten schädigenden Verstosse gegen die bona fides“ gesprochen werden kann, wiederum um ganz besondere Fälle des Vertrauensmissbrauchs in Gestalt des Wortbruchs handelt.89 Dieser Gedanke wurde von Ludwig Mitteis aufgenommen, und Andreas Wacke hat ihn zuletzt in seiner Untersuchung zum dolus-Begriff ausdrücklich bestätigt: „Die Hypothese hat danach einiges für sich, dass der Ursprung vieler Kontraktsklagen im deliktischen Bereich zu suchen sei. Zuzustimmen ist jedenfalls der Vermutung von Mitteis (S. 320), dass die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der actio de dolo mit der Enge des römischen Aktionenschemas zusammenhängt.“ Das hier interessierende Problem des Disputes entspricht der Entwicklung vom „subjektiven“ zum „objektiven Unrecht“: In der allgemeinen Sanktionierung des Wortbruches liegt nämlich der Verzicht auf den Nachweis des nur schwer Erweislichen, nämlich dem Nachweis der Absicht, ein einmal gegebenes Wort nicht halten zu wollen. Die einen suchen in diesen Fällen noch immer das subjektive Unrecht des dolus, doch liegt die eigentliche Intention für die Anwendung der actio de dolo gerade in seiner (des dolus) generellen (!) Beseitigung durch die Definition „objektiven Unrechts“, bei dem der schwierige Nachweis des „aliud simulare, aliud agere“90 entfällt. Drei repräsentative Fälle seien zur Illustration herausgegriffen:91 hierzu Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/355 f. mit Nachw. zum Meinungsstand. 87 Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 668 zur exceptio doli; vgl. etwa noch Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 3: „Dolus bezeichnet hier [im spätern Recht] den Gegensatz zur bona fides, der Redlichkeit im Verkehr.“ 88 Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 3. 89  Pernice, Labeo II (1878), S. 97: „Die actio doli ist eine Ergänzung der dem Geschäftsverkehre dienenden Klagen … Dieser Satz ist natürlich ganz allgemein zu verstehen. Die a. doli ergänzt nicht die einzelnen unzulänglichen Klagen des Verkehrsrechts; sie tritt vielmehr da ein, wo die Art und der Brauch redlicher Leute Abhilfe verlangen, aber ein reipersecutorisches Rechtsmittel nicht zu Gebote steht.“; und S. 106 f.: „Und so ist denn wirklich eine Gruppe von Anwendungsfällen der a. doli in traianischer Zeit die Wortbrüchigkeit in Betreff einer sonst nicht klagbaren Abrede.“ 90  So die klassische Definition bei Aquilius und Labeo, vgl. nur Pernice, Labeo II (1878), S.  101 ff.; Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 664 ff. 91  Vgl. im Übrigen etwa: Pomponius, D. ​4, ​3, ​7, ​8 (nicht eingehaltene Schuldübernahme); Ulpian ad Sabinum, D. ​4, ​3, ​34 (Zusage des Steinabbaus und spätere Weigerung des Abtransports);

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Bereits Labeos Zeitgenosse Fabius Mela gewährte die actio de dolo in einem Fall, in dem jemand versprochen hatte, für das Begräbnis des anderen zu sorgen und hierfür sogar bereits Geld entgegengenommen hatte, sich dann aber um das Begräbnis nicht weiter kümmerte (vgl. D. ​11, ​7, ​14, ​2). Der Erbe konnte die Erstattung seiner Auslagen verlangen, d. h. die Sache wurde praktisch mittels der actio doli wie ein wirksamer Vertrag behandelt. Das gleiche gilt für Ulpian D. ​19, ​5, ​15: Jemand verspricht einen Lohn für die Anzeige entlaufener Sklaven, doch verweigert er nach erfolgter Anzeige die Zahlung. Schließlich C. ​2, ​21, ​ 4: Ein Herr wollte seinen Sklaven freilassen und war daran interessiert, dass die mit diesem im contubernium zusammenlebende Sklavin ebenfalls freikäme. Dem Eigentümer der Sklavin versprach er zum Ausgleich die Gewährung eines anderen Sklaven, doch nachdem jene freigelassen war, hielt er nicht, was er zuvor zu geben versprochen hatte.92 Allen Fällen gemeinsam ist der fehlende Klageschutz, weil das römische Recht der Zeit nur bestimmten Vertragsabreden Rechtswirksamkeit zugestand. Bei all diesen Fällen kann es nun sein, dass sich der Beklagte erst später dazu entschloss, sein gegebenes Wort nicht einzuhalten. Es ist aber auch gar nicht ausgeschlossen, dass er von vornherein um den mangelnden Rechtsschutz bei der entsprechenden Abrede wusste und so von vornherein die Maske der dreisten List vor sich hertrug: aliud simulare, aliud agere. Nur in diesem Fall handelte er im eigentlich strengen Sinne dolos, in jenem Fall hingegen – so sagen wir heute – ‚lediglich‘ treuwidrig. Wir sind heute sehr leicht geneigt, hinter der uns nur allzu selbstverständlichen Bewertung der Sache als treuwidriges „objektives Unrecht“ die ursprüngliche Mela, D. ​11, ​7, ​14, ​2. (Vorleistung der Begräbniskosten bei später nicht erfüllter Bestattung); Aristo, D. ​19, ​5, ​16, ​1 (Auslobung zur Anzeige entlaufener Sklaven); zusammenfassend Paulus, D. ​19, ​5, ​5, ​3: „Wenn ich aber etwas tue, damit du mir etwas geben sollest, und du, nachdem ich es getan, deinerseits saumselig geblieben bist, so wird keine bürgerlichrechtliche Klage erteilt, und darum findet die wegen Arglist statt“; in diesem Sinne auch: Diocletian / ​Maximian C. ​2, ​ 21, ​4 (Freilassung einer Sklavin ohne Einlösung des Gegenversprechens); etwas komplizierter liegt der Fall bei Labeo, D. ​4, ​3, ​9, ​3 (Herausgabe des Verkaufserlöses nach einer Hinterlegung scheitert, weil einer der Prätendenten die Vereinbarung zur gerichtlichen Klärung später nicht mehr einhalten will); zusammenfassend und ausf. Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/373 ff. 92  Ich folge hier der Interpretation von Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/379, und Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 667, die beide versehentlich von „C. ​2, ​20, ​4“ ausgehen. Die gegebene Interpretation ist aber wohl nicht richtig, weil der Text eher so zu verstehen sein dürfte, dass nicht Sklave und Sklavin verschiedener Herren im contubernium, sondern der Beklagte im contubernium mit der „ancilla“ lebte und ihre Freilassung für sich begehrte (vgl. die einleitenden Worte zum Streitfall: „Cum proponas inter te et eum, quem in contubernio ancillam …“). In der Sache, um die es hier geht, ändert sich deshalb nichts, der Fall verliert nur ein wenig seine Romantik: Für die Freilassung verspricht der eine dem anderen zur Entschädigung einen anderen Sklaven, sieht sich an dieses Versprechen aber, nachdem er erhalten hat, wonach ihm der Sinn stand, nicht mehr gebunden. Der Geprellte wendet sich nun an die Cäsaren und ihm wird die actio de dolo zugestanden.

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und jederzeit präsente Maske des „subjektiven Unrechts“ (die Arglist) nicht mehr zu erkennen und so die Fälle in ihrer dogmengeschichtlichen Tragweite leichthin zu übergehen oder als Beispiele für einen sehr weiten Anwendungsbereich der actio doli im Sinne einer fast „allgemeinen Billigkeitsklage“ heranzuziehen. So bemerkt etwa Wacke zum genannten Auslobungsfall: „Sich vorzustellen, inwieweit der Auslobende hier arglistig gehandelt haben könnte … übersteigt die Phantasie des Interpreten.“93 Und auch für den Freilassungsfall konstatiert er ohne nähere Angabe von Gründen: „Eine vorbedachte Schädigung liegt auch hier nicht vor.“94 Doch gehört hier eigentlich nicht wirklich viel „Phantasie“ dazu, den klassischen dolus malus in jenen Fällen wieder zu finden. Nur in der Tat: eine entsprechend berechnende „Absicht zu beweisen, wäre kaum möglich“.95 Aus den Quellen wird man das Problem seiner tatsächlichen Feststellung auch nicht erfahren; denn mitgeteilt werden Rechtssprüche, nicht aber Tatsachenfragen. Es ist daher auch nicht überraschend, wenn „am Eingreifen der actio de dolo nur höchst selten deshalb gezweifelt wird, weil es dem Beklagten am subjektiven Tatbestand der Arglist gefehlt haben könnte!“96 Diese Feststellung oblag nämlich dem Iudex, nicht aber dem Prätor. b) Problem und Grund für die Subsidiarität der actio doli „Verba autem edicti talia sunt: ‚quae dolo malo facta esse dicentur, si de his rebus alia actio non erit et iusta causa esse videbitur, iudicium dabo.‘“ Ulpian, D. ​4, ​3, ​1, ​1

Sehr viel auffallender ist daher in den Quellen die Betonung der Subsidiarität der Klage: „Ob statt ihrer eine andere Klage vorrangig Abhilfe schaffen könne, wurde fortwährend in immer neuen Fallkonstellationen ventiliert.“97 Entsprechend heißt es bereits im prätorischen Edikt und zu Beginn der maß93 Wacke,

Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/358, Fn. 28.  Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/380; woher die Gewissheit für diese apodiktische Aussage stammt, wird nicht mitgeteilt; im Gegenteil: die Unerweislichkeit dieser Frage durchaus konzediert. Unsicher insoweit auch Zimmermann (Law of Obligations), der einmal C. ​2, ​21, ​4 (Freilassungsfall) als „not fraudulent behavior“ ansieht (S. 667), während er D. ​4, ​3, ​9, ​3 (Hinterlegungsfall) ohne Probleme unter das aliud simulare, aliud agere bringt (S. 665). 95  Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/380. 96  Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/358, allerdings ohne Hinweis auf eine die Einschränkung („höchst selten“) der gemachten Aussage belegende Quellenstelle. Nur die subjektive Seite der Täuschungsabsicht, nicht aber die Probleme ihrer Beweisbarkeit werden umschrieben (vgl. D. ​4, ​3, ​37; D. ​4, ​3, ​40: decipere; D. ​4, ​3, ​9, ​1; D. ​4, ​3, ​25; D. ​4, ​3, ​31: persuadere; D. ​4, ​3, ​14; D. ​47, ​2, ​43, ​3: colludere). 97  Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/358; hierzu auch Darboven, Actio doli (1901), S. 17: „Vornehmlich ist für die actio doli ihre Subsidiarität charakteristisch.“; ausf.: Schneider, Die allgemein subsidiären Klagen (1834), S. 308 ff. 94

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geblichen Texte in Justinians Kompilation: „si de his rebus alia actio non erit“ (D. ​4, ​3, ​1, ​1 et 4). Die actio doli wurde also nur gewährt, wenn keine andere Klage eingriff. Überwiegend wurde zur Begründung hierfür auf die infamierende Rechtsfolge der actio doli verwiesen.98 Und vielleicht mag hier auch ein Grund für die Zurückhaltung gelegen haben, wenn man bereits den Gedanken der Verhältnismäßigkeit mit einbeziehen möchte. Man wird den klassischen Juristen ein Gespür hierfür sicherlich nicht absprechen wollen, aber warum sollte ein betrogener Kläger in dieser Weise auf den Betrüger Rücksicht nehmen sollen? Die infamierende Wirkung und überhaupt das Ganze noch stark am Vergeltungsgedanken orientierte und für den heutigen Geschmack vielleicht archaisch anmutende Sanktionssystem des römischen Rechts hatte ja durchaus seine Berechtigung, wie Jhering in seinem „Kampf ums Recht“ in der ihm eigenen Art eindringlich vorgeführt hat: „Eine moderne Jurisprudenz“, die sich nur noch um den Ausgleich des materiellen Interesses bemühe und der die „Genugthuung des verletzten Rechtsgefühls … völlig abhandengekommen ist“, schließe eine „wahre Saat des Unrechts in sich“99. Auch hat man längst zurecht darauf hingewiesen, dass die These von der Infamie nicht recht überzeugend ist, weil bei allen übrigen Klagen, die eine Infamie unmittelbar begründen, civile sowohl wie prätorische eine Subsidiarität offensichtlich nicht nachzuweisen ist: „… wie also sollte gerade bei der actio doli der Infamie jene Wirkung beigelegt sein, daß sie diese Klage zu einer allgemein subsidiären mache! Es läge hierin Zweifels ohne eine haltlose Willkühr (…).“100  98 Das ergibt sich nach allgemeiner Auffassung aus der klaren Aussage bei Ulpian, D. ​4, ​3, ​1, ​ 4, der dann natürlich die quellentreue Rechtswissenschaft gefolgt ist: „Zu Recht verspricht der Prätor diese Klage nur dann, wenn keine andere gegeben ist, weil eine Klage, die Ehrlosigkeit nach sich zieht, vom Prätor nicht ohne Not erteilt werden darf, falls eine andere Klage gegeben ist, mit der man klagen kann.“; vgl. nur Hänel, actio und exceptio doli, AcP 12 (1829), 409/412; Savigny, System VII (1848), § 332, S. 199; Windscheid, Pandekten II, § 451, Fn. 10; gegen die alleinige Autorität dieser Quelle m. E. zu Recht bereits: Schneider, Die allgemeinen subsidiären Klagen des römischen Rechts (1834), S. 330: „Aber in der That ist dieß eine schlechte Stütze für die von uns bestrittene Ansicht, was man selbst auf die Gefahr hin behaupten könnte, daß der Sinn der Worte Ulpians wirklich der sei, den man ihnen unterlegt. Denn das, was in sich unhaltbar und ungegründet ist, verliert diese Eigenschaft doch wahrlich nicht dadurch, daß auch ein Römischer Jurist es gesagt hat. Indeß soll dieser Tadel nur die Neueren treffen, die in gutmüthiger Gedankenlosigkeit auch hier einem Führer folgen zu dürfen glaubten, nicht aber den alten Juristen, der das gar nicht sagt, was jene Neueren ihn sagen lassen. Nämlich Ulpian behauptet hier durchaus nicht, daß der Grund der Subsidiarität der actio doli in der sie begleitenden Infamie liegt, sondern er begnügt sich, die Subsidiarität als zweckmäßig darzustellen, weil unsere Klage infamire; er will gar nicht nachweisen, woher es komme, daß die actio doli subsidiär sei, sondern er nimmt die Subsidiarität als etwas Gegebenes, dessen bloße Nützlichkeit er durch jene Gesichtspunkte bedingen will (…)“.  99 Kampf ums Recht (1874), S. 84 ff.: „Ich beschränke mich … darauf, zwei Verirrungen unserer gemeinrechtlichen Jurisprudenz … namhaft zu machen, die principieller Natur sind und eine wahre Saat des Unrechts in sich schliessen (…).“ 100 Schneider, Die allgemeinen subsidiären Klagen des römischen Rechts (1834), S. 330.

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Wir werden daher durchaus gut daran tun, unsere heutige Sentimentalität gegenüber pönalen Elementen im Deliktsrecht nicht allzu gründlich auf die römische Zeit zu übertragen. Die Römer waren doch zuallererst praktisch veranlagt, und insoweit scheint mir der eigentliche Kern der Zurückhaltung beim Umgang mit der actio doli ein ganz anderer, bisher zu sehr vernachlässigter Gesichtspunkt zu sein. Denn in der Sache geht es auch hier wieder um das rechtstatsächliche Problem der Arglist: die Seltenheit nämlich, dass ein dolus tatsächlich unzweifelhaft festzustellen ist. Insoweit ist, wie gesehen, die Einsicht wichtig, dass das (objektive) Recht schon vor der Etablierung der actio doli „ein sehr bedeutendes Feld occupirt“ hatte, auf dem doloses Verhalten zur Verantwortung gezogen wurde.101 Nur freilich nicht in dem materiellrechtlichen Sinne, dass die Subsidiarität aus dem nur „ergänzenden Wesen“ der Klage begründet wäre.102 Die römischen Juristen dachten bekanntlich sehr viel stärker als unsere heutige Wissenschaft vom Prozess her, von der Klageformel. Die Bedeutung der Subsidiarität erhellt sich insoweit wiederum ganz maßgeblich aus der relativen Unsichtbarkeit des „subjektiven Unrechts“ und der im römischen Privatrecht noch voll ausgeprägten Einheit von Prozessrecht und materiellem Recht in der actio. Die Feststellung der Klage durch den Prätor (in iure), aus welcher für den konkreten Fall geklagt werden konnte, war verbindlich natürlich für die Tatsachen, die im Folgenden vor dem Richter (in iudicio) vorgetragen und bewiesen werden mussten. Die gewährte Klage enthielt mithin das Prozessprogramm. Der Vorzug einer Klage, die bereits auf das „objektive Unrecht“ orientiert ist und dem Kläger den Nachweis des dolus ersparte, liegt auf offener Hand. Die Entscheidung für die richtige Klage ist daher für das Urteil geradezu essentiell und die Subsidiarität der actio doli folgerichtig, weil sich kaum eine schwierigere Aufgabe denken lässt, als ein Internum, nämlich die böse Gesinnung des Gegners, beweisen zu müssen.103

101 Schneider, Die allgemeinen subsidiären Klagen des römischen Rechts (1834), S. 328; bereits oben. 102  Das ist das Hauptargument bei: Schneider, Die allgemeinen subsidiären Klagen des römischen Rechts (1834), S. 308–329, das er gegen die herrschende Ansicht von der Infamie als Subsidiaritätsgrund vorträgt. 103  Vgl. hierzu bereits Glück, Pandekten V (1798), § 455: de dolo malo, S. 534: „Daß übrigens bey der actione doli dem Kläger der Beweis des dem Beklagten Schuld gegebenen Betrugs obliege, versteht sich, und zwar wird hierzu ein deutlicher und überzeugender Beweis erfordert, so daß an der betrügerischen Absicht des Beklagten gar nicht gezweifelt werden kann, weil man ohne dieß Niemandes Ehrlichkeit in Zweifel ziehen darf.“ Dass die diesbezüglichen Erfolgsaussichten vom Prätor bei der Gewährung der Klage mit in die Betrachtung gezogen wurde, legt Ulpian, D. ​4, ​3, ​7, ​10 nahe: „nam nisi ex magna et evidenti calliditate, non debet de dolo actio dari“; Glück, aaO. meint insoweit: „Kann man also den Beklagten keines offenbaren Dolus überweisen, so findet die actio doli nicht Statt.“

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c) Vom dolus zum Vertrag „Quod si faciam ut des et posteaquam feci, cessas dare, nulla erit civilis actio et ideo de dolo dabitur.“ Paulus, D. ​19, ​5, ​5, ​3104

Man könnte das Problem der Rechtsfortbildung bei der Bekämpfung der Arglist im Rechtsverkehr auch kurz so formulieren: Die Arglist weiß die Lücken des objektiven Unrechts zu umschiffen, erst leise, dann immer dreister. Das geht solange, bis die hierbei zu Tage tretende dreiste Berufung auf das geltende Recht im Einzelfall oder in der praktizierten Häufigkeit unerträglich wird. Ein konkreter Fall wird dann zum Anlass genommen, das subjektive Unrecht objektiv zu fassen. Rechtsfortbildung ist so die zunehmende Verdrängung des subjektiven Unrechts durch eine zunehmend objektive Formulierung des Rechts.105 Die vorliegenden Fälle gehen dabei freilich noch gar nicht auf den allgemeinen Satz des pacta sunt servanda, der letztlich jeden Missbrauch des Vertrauens in getroffene Vereinbarungen kategorisch auszuschließen begehrt. Die actio de dolo erfasst hier vielmehr zunächst nur eine ganz eigene Kategorie von Verträgen, nämlich die später so genannten Innominatrealverträge, bei denen eine Seite bereits in Vorleistung gegangen ist, während die andere Seite ihren Teil der Vereinbarung schlichtweg nicht erbringt.106 Ob der dolus hier von Anfang an bestand (dolus praeteritus) oder sich erst nach Erhalt der gewünschten Leistung mit der Verweigerung der Gegenleistung einstellt (dolus praesens), bedarf mit der Anerkennung einer allgemeinen Contractsklage für „objektives Unrecht“ in Gestalt der Innominatrealverträge und der Gewährung endlich einer allgemeinen actio praescriptis verbis für diese Fälle keiner Feststellung mehr: Jeder weiß, dass einer Leistung eine entsprechende Gegenleistung gebührt; wer eine entsprechende Abrede nicht einhält, nachdem er selber bereichert ist, handelt  – nunmehr gänzlich objektiviert – immer dolos. Erst hilft man in einem Fall mit der actio doli, dann erkennt man das in dem „subjektiven Unrecht“ liegende Prinzip107

104  Wenn ich aber etwas tue, damit du mir etwas geben sollest, und du, nachdem ich es getan, deinerseits saumselig geblieben bist, so folgt daraus keine Klage und darum wird die actio de dolo gewährt. 105  Zum Problem bereits Jhering, Geist des römischen Rechts III (4. Aufl. 1888), S. 264 ff. 106  So bereits Pernice, Zur Lehre von den Innominatkontrakten (1868), 68/102 ff.; ders., Labeo II (1878), S. 107: „Die a. doli war die naturgemässe Klage, wo es sich um einen sog. Innominatvertrag nach dem Schema facio ut facias und facio ut des handelte.“; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 667: „We are dealing here with what was to become known as an innominate real contract (facio ut des).“ 107  Kennzeichnend für die mittlerweile gewonnene Selbstverständlichkeit bei der Anwendung der actio doli bei Innominatrealverträgen ist Paulus, D. ​19, ​5, ​5, ​3 (vgl. Eingangszitat: „Quod si faciam ut des (…) actio et ideo de dolo dabitur“).

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und schließlich wird dieses objektiv gefasst: „do ut des, do ut facias, facio ut des, facio ut facias“108. Für das römische Recht und die spätere kontinentaleuropäische Entwicklung war dieser Strang der Rechtsentwicklung anders als für das englische Common Law nicht besonders nachhaltig prägend. Der Grundsatz der bona fides hat im Civil Law letztlich auch das „Quid pro Quo“ der unbenannten Realverträge in sich aufgenommen und so, die beiden Stränge im übergreifenden Fides-Begriff zusammenführend, zur allgemeinen Klagbarkeit von Versprechen jeder Art geführt. Im Common Law hingegen hat sich der Gedanke vom realvertraglichen „do ut des“ bis heute in der Doktrin von der Consideration bewahrt.109 Aber hier geht es nicht um eine detaillierte Vertragsrechtsgeschichte. Wichtig ist der tiefere und ursprüngliche Grund für diese Entwicklung: die Beseitigung der Arglist durch die Formulierung „objektiven Unrechts“, die Beseitigung des vom Recht stricti iuris geradezu unterstützten Missbrauchs des Versprechens als Mittel der Arglist durch die Anerkennung einer neuen allgemeinen Vertragsform. Auch wenn heute die Gewährung einer allgemeinen actio de dolo auf das relativ späte Jahr 66 v. Chr. datiert wird, spricht einiges dafür, mit Jhering anzunehmen, dass die Gewährung von Klagen wegen dolus bereits deutlich vorher in Gestalt spezieller Klagen „aus dem Verhältnis“ anzunehmen ist. Die actio de dolo war ein Lückenfüller – aber ihre begrenzte Brauchbarkeit haben die Römer ebenso gespürt wie die Heutigen, die das Fehlen einer großen haftungsrechtlichen Generalklausel im deutschen Recht bedauern, weil allein aus praktischen Gesichtspunkten der Anwendungsbereich der heutigen actio doli (§ 826 BGB) zu eingeschränkt erscheint. Das bringen nicht nur die Überlegungen zur Subsidiarität der actio doli zum Ausdruck. Insbesondere die Entwicklung der bonae fidei iudicia ist insoweit nur aufgrund einer Tatsache hinreichend zu erfassen: Arglist ist ein Internum und daher nur selten nachzuweisen. Mit dem Hinweis auf Treu und Glauben ist es da einfacher. Die bona fides ist ein normatives, der dolus ein faktisches und des Beweises bedürftiges Kriterium. Kurz: Der Grundsatz „pacta sunt servanda“ ist in seinem Ausgangspunkt objektives Ergebnis des allgegenwärtigen Bestrebens, das „subjektive Unrecht“ der Arglist im privaten Verkehr zu eliminieren. Mit der kategorischen Verbindlichkeit jeder formlosen Einigung bedurfte es endlich nicht mehr des Nachweises der Arglist, wenn sich eine Seite später nicht mehr an das Vereinbarte halten wollte. Mit der Beseitigung der Arglist einher geht die positive Anerkennung der vertraglichen Treue als eigenständigem ethischemn Topos. Am Ende steht für das kontinentale Recht das bereits von Ulpian (D. ​2, ​14, ​1 pr.) formulierte allgemeine Prinzip des Konsensualvertrages: „quid enim tam congruum fidei humanae, 108  Paulus D. ​19, ​5, ​5 pr.; zur Bedeutung der Innominatrealkontrakte an der Schwelle zum allgemeinen Konsensualvertrag im Civil Law: Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 532 ff. 109 Zum Problem: Benedict, Consideration, RabelsZ 69 (2005), 1 ff.

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quam ea quae inter eos placuerunt servare?“ („Was entspricht der menschlichen Treue mehr als zu halten, worüber man sich untereinander geeinigt hat?“). Wir haben bereits anhand von Jherings 4. Fallgruppe (Unzuverlässigkeit des Willens) gesehen, dass auch die Überhöhung dieses Prinzips zu einem allgemein verbindlichen Rechtssatz, der die formlose Gültigkeit sämtlicher nuda pacta zulässt, in seiner Durchführung mit Problemen behaftet ist. Und es sind für die weitere Vertragsrechtsgeschichte klar die Probleme zu sehen, die auf der Unsichtbarkeit von Konsens und Rechtsfolgewillen beruhen und eben deshalb zu einer neuen Form von Arglist geführt haben. Das hier lediglich an einer ganz grundlegenden Entwicklung exemplifizierte Phänomen (vom subjektiven zum objektiven Unrecht) wird im Folgenden die Arbeit notwendig begleiten. Weitere Beispiele der älteren oder jüngeren Rechtsgeschichte ließen sich ergänzen.110 Das Problem dürfte hinreichend deutlich geworden sein, und es mag zunächst an dieser Stelle genügen, auf diesen wichtigen Aspekt und Ausgangspunkt in Jherings rechtstheoretischer Besinnung hingewiesen zu haben: Nämlich die Objektivität des Rechts, oder in einer bereits klassischen Formulierung: „Obligatio iuri semper externa est“111. Es ist demgegenüber keine große rechtstheoretische Tat, ein allgemeines Verbot der Arglist im Rechtsverkehr als normativen Satz aufzustellen und zu glauben, man hätte damit etwas Besonderes geleistet; denn man muss auch sagen, woran sie ggf. zu erkennen sei. Die große Leistung der römischen Jurisprudenz lag zu einem wichtigen und für das Vertragsrecht ganz zentralen Punkt eben genau hier: Der Ausdifferenzierung des „objektiven Unrechts“ in Ablösung des subjektiven.

110  Man denke nur an die Naturrechtstradition, die sehr genau zwischen dem forum internum und dem forum externum unterschieden hat; vgl. zuletzt die klare Differenzierung zwischen Moralität und Legalität bei Kant (Metaphysik der Sitten, 1797). Wir können hierin auch als den konstanten Grundzug in Jherings Methodologie erblicken; vgl. ausf. seine letzte große Schrift: Jhering, Der Besitzwille (1889), in welcher er der Subjektivitätstheorie (Willenstheorie) ganz grundsätzlich die Objektivitätstheorie entgegenstellt. Zum Problem auch noch unten § 8 III.3.a). Für das anglo-amerikanische Vertragsrecht mag man insoweit etwa an die considerationDoktrin und den dezidierten rechtstheoretischen Standpunkt von Oliver Wendell Holmes denken: „the whole doctrine of contract is formal and external“; „I think that in enlightened theory, which we now are ready for, all contracts are formal … I do not merely mean that the consideration of the simple contract is as much a form as a seal, but that in the nature of a sound system of law (which deals mainly with externals) the making of a contract must be a question of form, even if the details of our law should be changed“ (zitiert bei De Wolfe Howe, Wendell Holmes, 1963, S. 233); vgl. auch Benedict, Consideration, RabelsZ 69 (2005), 1. So ist die Notwendigkeit der „Objektivität“ schließlich auch in der gelungenen Kodifikation des Insolvenzrechts bei den Anfechtungstatbeständen deutlich berücksichtigt worden; vgl. hierzu K. Schmidt, Jherings Geist (1996), S. 201 ff. 111 Thomasius, Fundamenta juris naturae et gentium (1705), I / ​V § XXI.

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3. Delikt und Vertrag II: dolus, culpa und Pflichtverletzung „Culpa lata dolo comparabitur.“ Ulpian, D. ​11, ​6, ​1, ​1

Der zweite Strang der Ausdifferenzierung des objektiven Unrechts erfolgt nun über den Gesichtspunkt der culpa. Die culpa tritt wiederum nicht zeitgleich mit dem dolus in das Rechtsbewusstsein, sondern sukzessiv.112 Und die entscheidende Ursache für ihr Erscheinen ist, wie bei der bona fides: die relative Unsichtbarkeit des dolus malus. Wenn man die soeben vorgestellte These akzeptiert, dass sich die Emanzipation von den alten Formalgeschäften und die Ausdifferenzierung der verschiedenen formlosen Contractsklagen aus dem Delikt (dolus) vollzog, dann fällt es nicht schwer, die Probleme, die zwischen Gewährung einer Deliktsklage, der generellen Anerkennung des „rumpere fidem“ als dolus und der schließlichen Transformation des Verhältnisses zum eigenständigen Vertragsverhältnis auftreten mussten, zu erkennen: Auf die Dauer war der Beweis des dolus das Hauptproblem, das die Brauchbarkeit der für die entsprechenden Verhältnisse gewährten Deliktsklage stark beeinträchtigte. So wie heute etwa Andreas Wacke, wird regelmäßig auch der Iudex vor den Rechtsstreitigkeiten gestanden haben: einen dolus praeteritus (aliud simulare, aliud agere) zu unterstellen „wäre willkürlich“.113 Und eben hier erhält die culpa ihre originäre juristische Bedeutung für das Privatrecht: a) Beweisrechtlicher Aspekt: Die culpa als dolus preasumtus „Man hat sehr früh und bis auf die neueste Zeit herab von einem dolus praesumtus bey der culpa lata gesprochen; einer hat dies Lied dem andern nachgesungen, ohne recht zu wissen, was man dabey denke. Die Römer haben nie ein Wort davon gesagt und diese Erfindung der Glossatoren ist auch ohne allen Wert.“ Johann Christian Hasse, 1815114

Der Eintritt der culpa in das Rechtsbewusstsein beginnt eben erst dort, wo die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens nicht mehr in Zweifel steht. Solange sich der Arglistige noch im Schutze des Rechtes wähnt, mag er sich ganz offen zu seiner List bekennen. Der o. g. Bonifaz-Fall macht das Phänomen deutlich: Wer eine Sanktion seines arglistigen Verhaltens nicht zu fürchten braucht, der ist leicht geneigt, nachdem er sein Ziel erreicht hat, sich des Gebrauchs seiner Maske nicht zu genieren. Im Gegenteil: Im Schutze einer allgemeinen Rechtsauffassung, die 112  Vgl. etwa Pernice, Labeo II (1878), S. 231: „Im Gegensatze zu dolus malus ist der Begriff der culpa sowohl im Straf‑ wie im Privatrechte verhältnismässig spät entwickelt worden …“; Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 72: Die lata culpa „tritt überall relativ spät auf“. 113  Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/380. 114 Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 116.

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das circumscribere akzeptiert und noch nicht zwischen dolus bonus und dolus malus zu unterscheiden sucht, wird niemand ein ernstes Problem damit haben, sich – und sei es auch nur im engeren Freundes‑ und Bekanntenkreis – seiner Schlauheit bei der Überlistung eines Kontrahenten zu rühmen. Und manchmal wird er für die Publizität seiner Handlung nicht einmal selbst sorgen müssen. So ist es etwa in dem Fall C. ​2, ​21, ​4 (Freilassung der Sklavin) durchaus denkbar, dass der Beklagte sich ganz generell von der Verwerflichkeit der Sklaverei überzeugt hatte, während der getäuschte Kläger als strenger und vielleicht auch brutaler Sklavenhalter bekannt war. Gerade bei fundamentalen rechtsethischen Fragen, wie es schließlich auch die Sklaverei in Rom gewesen ist, erscheint es nicht abwegig, diesen konkreten Rechtsstreit in einen größeren politischen Konflikt eingebettet zu sehen.115 Die Motive also, warum jener von vornherein die Sklavin auch ohne Gegenleistung von ihrem Herrn befreien wollte, sind denkbar vielfältig; aber ebenso auch die tatsächlichen Gründe, warum das aliud simulare, aliud agere im konkreten Fall kein Geheimnis bleiben musste.116 Ähnliche Überlegungen lassen sich für alle frühen dolus-Fälle anstellen. Kurz: Die Haftung für dolus wird zu einem beweisrechtlichen Problem erst in dem Moment, da die Möglichkeit einer entsprechenden Haftung vom listig Handelnden mit in das Kalkül aufgenommen wird: Die List wird zur Arglist. D. h. drastisch ausgedrückt: Einer Haftung unterfallen nur noch die Dümmeren unter den Betrügern, die ihre Maske  – sei es aus Eitelkeit oder Unachtsamkeit  – gelegentlich gegenüber falschen Vertrauten doch zu erkennen geben.117 Die besonders Verschlagenen hingegen kann die Haftung für dolus nur noch selten erfassen. Um das Problem zu entschärfen, tritt nun die culpa lata an die Stelle des dolus: „culpam dolo proximam contineri merito quis dixerit“118; „culpa lata dolo com115  Man denke nur an die generell humanistische Haltung der Stoa zur Sklaverei, wie sie etwa im 47. Brief des Seneca (epistulae morales ad Lucilium) ihren bleibenden Ausdruck gefunden hat „‚Servi sunt.‘ Immo homines. ‚Servi sunt‘ Immo contubernales. ‚Servi sunt.‘ Immo humiles amici.“ Im Galater-Brief etwa heißt es: „… da sind nicht mehr Sklaven und Freie (…), sondern da ist einer in Christus“ (Gal. 3,28); generell zu diesem Thema: Werner Eck / ​Johannes Heinrichs (Hrsg.), Sklaven und Freigelassene in der Gesellschaft der römischen Kaiserzeit (2005); Elisabeth Herrmann-Otto (Hrsg.), Antike Sklaverei (2013). 116  Die Offenheit des Vorgehens frappiert vor allem deshalb, weil zu dieser Zeit der rechtliche Grundsatz des facio ut des in Rom bereits hinreichend bekannt gewesen sein dürfte. 117  Hierzu etwa aus neuerer Zeit den Fall: BGH, Urt. v. 22. September 2005 – III ZR 295/04 (Verkauf einer mit Holzbock befallenen Villa). Der beklagte Makler hatte seine Kenntnis vom Holzbock ‚leichtfertig‘ einem Dritten mitgeteilt, der im Verfahren nun als Zeuge gegen jenen aussagt. Der Makler verteidigt sich seinerseits damit, er hätte seinerzeit von einem ganz anderen Objekt gesprochen. Das Problem des „subjektiven Unrechts“ wird hier deutlich. Dabei hätte es der BGH in der Hand gehabt, die Sache nach „objektivem Unrecht“ zu entscheiden; hierzu die Anmerkung Benedict, EWiR 2005, 857 f. 118  Ulpian, D. ​43, ​26, ​8, ​3 „Dass jedoch die der Arglist nahe stehende Verschuldung mit darin begriffen sei, dürfte wohl mit Recht behauptet werden.“

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parabitur“;119 „magna culpa dolus est“120. Wie sich dabei insbesondere aus Gaius (D. ​47, ​7, ​1, ​5 „magnam neglegentiam placuit in doli crimine cadere“121) ergibt, muss man die Entwicklung der Substitution des dolus durch die culpa durchaus im Zusammenhang mit der Entwicklung der später so genannten Quasidelikte sehen: Der „directe Beweis des dolus ist unerschwinglich; desshalb lässt das Recht bisweilen den unvollkommenen Beweis zu und nimmt dann mittelst praesumtio iuris et de iure dolus als bewiesen an: dieser dolus praesumtus ist die lata culpa“.122 Erst behilft man sich mit Beweiserleichterungen und einer Reduzierung der subjektiven Tatsachen bei der Definition dessen, was dolus sei (vom Nachweis des Motivs zum bloßen Wissen bestimmter Tatsachen: „denn das römische Recht identificirt schlechthin den dolus mit wissentlicher Begehung des Unrechts“),123 und schließlich wird die Sache mit einer neuen dogmatischen  Ulpian, D. ​11, ​6, ​1, ​1: „grobes Verschulden steht aber der Arglist gleich“. D. ​50, ​16, ​226 „große Schuld ist böse Absicht“. 121 Gaius, D. ​44, ​7, ​1, ​5: „große Nachlässigkeit hat man aber als dem Verbrechen der Arglist gleichstehend erachtet“. 122 Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 4; anders noch aus streng dogmatischer Sicht: Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 116 ff.: „Man hat sehr früh und bis auf die neueste Zeit herab von einem dolus praesumtus bey der culpa lata gesprochen; einer hat dies Lied dem andern nachgesungen, ohne recht zu wissen, was man dabey denke. Die Römer haben nie ein Wort davon gesagt und diese Erfindung der Glossatoren ist auch ohne allen Wert.“ Hasse will die Sache so behandelt wissen, wie sie sich ehrlicher Weise verhält: Die bloße Ahnung von einem ‚wahren‘ dolus käme „juristisch gar nicht in Betracht und ist die Wahrscheinlichkeit so groß, daß sie als juristische Wahrheit zu betrachten ist, so ist wahrer dolus anzunehmen: Daher haben auch einige Juristen behauptet, aller dolus sey dolus praesumtus, weil aller dolus nur aus Indicien oder Präsumtionen erkennbar sey“; was Hasse hierbei verkennt, ist die reale Zumutung, die er dem Iudex abverlangt, von einem dolus gegenüber dem Beklagten zu reden, wenn auch nur die Wahrscheinlichkeit besteht, dass er vielleicht doch ganz ohne Vorsatz war. Der Verzicht auf Strafe und die Gewährung nur von Schadensersatz erleichtert insoweit den Schritt zur Haftung für blosse culpa. Zu den Quasidelikten: Inst. 4,5; Kaser, Römisches Privatrecht I (1972), § 122 I 4, S. 524, 629; etwa ab dem 13. Jahrhundert bezeichnete man auch alle Fälle objektiver Rechtsgutverletzung nur aufgrund der culpa als Quasidelikte; vgl. Feenstra, Grotius’ doctrine of liability for negligence (2001), S. 129/137; der Grund zur Differenzierung zwischen Delikt und Quasidelikt liegt dann allein in den Beweisschwierigkeiten des Verletzten: Hochstein, Obligationes quasi ex delicto (1971), S. 100 ff.; und so ist es nicht verwunderlich, wenn noch Ausgang des 19. Jahrhunderts Autoren die culpa in contrahendo dem Deliktsrecht zuzählten; deutlich etwa Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 170 f.: „So hätten wir demnach für das negative Interesse bei Unfähigkeit des Subjektes und ebenso bei Unmöglichkeit der Leistung, weil in letzterem Fall culpa, mithin eine unerlaubte Handlung vorausgesetzt ist, die dreijährige Verjährungsfrist des § 852, beim Willensmangel und bei der Stellvertretung die 30 jährige des § 195.“; ebenso F. Schmidt, Lehre vom negativen Vertragsinteresse (1900), 38 f. 123 Vgl. hierzu: Jhering, Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), 225/268 f.: „… daß die Annahme des dolus durchaus nicht die Absicht erfordert, dem Andern zu schaden; nur in den seltensten Fällen ist diese Absicht das Motiv der der dolosen Handlung, in den meisten Fällen besteht daßelbe vielmehr in dem eigenen Vortheil: l 1 § 22, 25, 32, 47 Dep. (16, 3); l. 65 § 3, 5, pro soc. (17, 2); l. 57 § 3 de cont. emt. (18, 1); l. 12 de her. vend. (18, 4). Ja es ist nicht einmal das letztere Motiv nöthig. Der Kläger kann die Frage vom Motiv völlig umgehen, es reicht für ihn die Behauptung und der Nachweis aus, daß der Gegner wissentlich die wahrheit verschwiegen 119

120 Paulus,

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Kategorie erfasst, die endlich auch das Beweisproblem des „Wissens“ als Internum gänzlich umschifft: culpa (lata)! Eng mit diesem Vorgang verknüpft ist das von Jhering beschriebene „Absterben der Strafen“ im Privatrecht: Eine poena ist an den dolus geknüpft, wo dieser fehlt oder sich nicht erweisen lässt, geht die Sanktion auf schlichte Wiedergutmachung, die Privatklagen verlieren ihren pönalen Charakter. Daher verwundert es nicht, wenn sich für das römische Strafrecht eine Dogmatik der „Fahrlässigkeitstat“ nicht und eine Gleichachtung von dolus und culpa lata nur vereinzelt finden lässt.124 Die Römer bezeichnen stattdessen jede nichtvorsätzliche Tat als casus.125 Man kann die Sache vielleicht auch so beschreiben: Die culpa verdrängt den dolus aus dem Privatrecht und mit ihm auch die Strafe. Die spätere Differenzierung zwischen echtem (auf dolus basierendem) Delikt und der nur culposen Beschädigung als Quasidelikt findet hier ihre Ursache. Es hat nicht an Versuchen gemangelt, die Gleichsetzung von dolus und culpa lata auch bzw. allein materiellrechtlich zu begründen, mit Quellenstellen zu untermauern und sodann auch die weitere Ausdifferenzierung der culpa zwischen lata und levissima zu spitzfindiger Dogmatik immer weiter hinaufzuschrauben. Von diesen Versuchen spricht heute niemand mehr.126 Seit Burckhardts gründlicher Untersuchung ist jedenfalls an der Künstlichkeit der materiellrechtlichen Begründungen und der dogmengeschichtlichen Rolle der lata culpa als dolus praesumtus schwerlich noch zu zweifeln. Gezweifelt wird freilich bis heute noch daran, ob nicht die Substitution des dolus durch die culpa

oder entstellt habe: l. 66 § 1 de cont. emt. (18, 1); l. 2 Cod. cred. evict. (8, 46).“; zu Beweiserleichterungen Jhering, aaO.: „Die Quellen übrigens bieten eine Menge von Beispielen dar, woraus hervorgeht, daß die römischen Juristen in der Beurtheilung dieses Beweises durchaus nicht so peinlich verfuhren, wie unsere heutige Praxis: l. 8 § 7 quib. mod. pign. (20, 6) … doli mali suspicie inerit …, ut possit creditor doli mali replicationem objicere; l. 7 pr. de adm. (26, 7) Tutor qui repertorium non fecit, quod vulgo inventarium appellatur, dolo fecisse vedetur; l. 8 § 8 Mandati (17, 1) … dolo versati sunt, si non provocaverunt; l. 20 pr. ibid. videtur dolo versari, dissolute enim negligentia prope dolum est. § 3 ibid.“ 124 Vgl. Marcian, D. ​47, ​9, ​11; hierzu: Wacke, Fahrlässige Vergehen im römischen Strafrecht, RIDA 26 (1979), 505/556 m. w. N. 125  Wacke, Fahrlässige Vergehen im römischen Strafrecht, RIDA 26 (1979), 505/562 f.: „Der dolus ist die normale, gesetzlich einzig anerkannte Schuldform schlechthin. Eine zweite, ihr an Bedeutung gleichkommende Schuldform der kriminellen Fahrlässigkeit entwickelten die Römer daneben nicht. An fahrlässige Vergehen knüpften sie grundsätzlich nur die Sanktionen des zivilen Deliktsrechts.“ 126 Bereits Franz v. Zeiller, Abhandlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches IV, (1820), S. 173, konstatierte für die Arbeiten am ABGB: „… es lassen sich keine allgemeinen deutlichen Begriffe von dem Unterschiede zwischen groben und geringen Versehen angeben …“; ausf. zu dieser Abstufung: Hans-Joachim Hoffmann, Abstufung der Fahrlässigkeit (1968); vgl. aber gleichsam mit umgekehrten Vorzeichen zur Differenzierung des BAG bei der sog. „gefahrgeneigten Arbeit“: Mayer-Maly, Die Wiederkehr der culpa levissima, AcP 163 (1964), 114 ff.

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als eine allgemeine gedacht werden könne.127 Denn natürlich: Das Problem der Erforschung innerer Tatbestände ist universal und nicht an ein bestimmtes positives Recht geknüpft. Wenn heute etwa entsprechende Haftungstatbestände (z. B. §§ 123, 826 BGB) dadurch aufgelockert werden sollen, dass bereits „Behauptungen ins Blaue hinein“ als geforderte Arglist durchgehen, so liegt darin keine moderne Tendenz, sondern ein altbekanntes Thema: die Substitution des dolus durch die culpa.128

127 Zur generellen Ausweitung der actio doli auf culpa lata insb.: Glück, Pandekten V (1798), § 455: de dolo malo, S. 534/5 unter Berufung auf Ulpian, D. ​4, ​3, ​33; Seuff. Arch. 21 (1868), Nr. 55, S. 99/101 ff. (Verbreitung eines verleumderischen Gerüchts; Actio legis Aquil. in factum); F. Mommsen, Unmöglichkeit der Leistung (1853), S. 122 f./109: „In der Person des Schuldners setzt die Entschädigungsklage voraus, daß derselbe sich bei Abschließung des Vertrages eines dolus oder einer culpa lata schuldig gemacht hat. In einem weiteren Umfange können wir die Klage nach den allgemeinen Grundsätzen des römischen Rechts nicht zulassen, weil nur der dolus, dem die culpa lata gleich steht, allgemein als causa obligationis anerkannt ist.“; ausf.: ders., Haftung bei Vertragsschluss (1879), Anhang II: Über die Gleichstellung der lata culpa mit dem dolus, S. 175–215; vgl. auch den Vorschlag für eine Neufassung des § 826 BGB bei v. Bar, Gutachten (1981), S. 1761: „Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich oder leichtfertig Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.“ Gleichwohl spricht sich die Mehrheit gegen Mommsen und d. h. gegen eine Ausdehnung der actio doli auf culpa lata aus: wie gesehen bereits Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), S. 12: „die in manchen Stellen ausgesprochene Gleichstellung der lata culpa mit dem dolus läßt sich nur auf contractliche Verhältnisse beziehen“ (zur Auseinandersetzung mit F. Mommsen bereits oben § 1 III.1. „Entdeckung eines Rechtsprinzips?“); weitere Begründung noch S. 23 ff.; ausf. dann Pernice, Labeo II (1878), S. 405 ff./411 f.: „Die Regel, daß culpa lata dolo comparatur kann sich hiernach nicht wol auf Delicte beziehen; in der Tat findet sie sich auch nur in Fällen von verkehrsrechtlicher Haftpflicht ausgesprochen.“; ders., Zur Lehre von den Rechtsgeschäften, ZHR 25 (1880), 77/131 f.; R. Leonhard, ZHR 26 (1881) 293/307: Die „Gleichstellung der lata culpa mit dem dolus bei Kontrakten“ erkläre sich daraus, „daß der in ungewöhnlicher Weise Thörichte und Unaufmerksame … ebenso wenig ins Verkehrsleben [passe] wie der Unredliche und daß er daher nothwendigerweise, sobald er sich auf dieses Gebiet in Folge einer Ueberschätzung seiner geistigen und moralischen Fähigkeiten hinauswagt, die Folgen seiner Selbstüberhebung in der Gleichstellung von dolus und culpa lata tragen muß. Sobald er sich jedoch hiervon fern hält, so würde es der Regel nach hart sein, wenn das Recht seine ohnehin bedauernswerthe Lage noch dadurch verschlimmern wollte, daß es aus seinem außerkontraktlichen Verhalten eine dauernde Quelle von Schadensersatzverpflichtungen werden ließe.“; ausf. dann Burckhardt, Culpa lata (1885); Melliger, Culpa in contrahendo (1896), S. 128 ff.; RG Urteil v. 11. Mai 1888, RGZ 21, 162/165 f. Glück, aaO. und die Entscheidung in Seuff. Arch. 21 (1868), Nr. 55 berufen sich auf einen Fall, in welcher eine actio in factum und nicht etwa eine actio doli gewährt wurde (D. ​4, ​3, ​ 33). Pernice, aaO.; Burckhardt (S. 97) und Seuff. Arch. 43 (1888), Nr. 271, S. 412 stellen klar, dass selbst hier der Beklagte „mit Hinterlist, recht dolos vorgegangen ist“ (Pernice). Auf das Phänomen, dass der dolus sich in den mitgeteilten Quellenstellen nicht immer leicht ausmachen lässt, ist bereits ausdrücklich hingewiesen. 128 Die Römer sprachen hier nicht von culpa, sondern von „lascivia“, vgl. Burckhardt, Culpa Lata (1885), S. 145: „Und so erhalten wir in diesem ‚verwerfliches Handeln ins Blaue hinein‘, das nur den auf die Handlung gerichteten animus positiv, den auf den Erfolg gerichteten nur negativ (kein dolus) enthält, keinen juristisch-technischen Begriff.“

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b) Materiell-rechtlicher Aspekt: Die culpa als Pflichtverletzung „In einer Reihe von Stellen des corpus juris finden wir die Regel aufgestellt, daß die lata culpa in Ansehung ihrer Wirkungen dem dolus gleichstehe. Inwieweit diese Regel aber gilt, wie weit sich das Gebiet erstreckt, auf welchem die lata culpa dem dolus gleichsteht, das ist keineswegs unbestritten.“ Friedrich Mommsen, 1879129

Es ist leicht zu erkennen, dass wir uns hier einem grundlegenden Aspekt natürlich auch der culpa in contrahendo nähern. Man spricht heute vorzugsweise von einem „Vorsatzdogma“ des BGB, das es aufgrund eines verfeinerten Rechtsempfindens zu überwinden gelte.130 Für die insoweit wichtige Bewertung dieser – jedenfalls aus prozessualer Sicht immer berechtigten – Tendenz zur Beseitigung des dolus sind die Entwicklungen und Lehren aus dem römischen Recht jedoch keineswegs zu übergehen. Denn es ging hier eben nicht allein  – und es ging schon gar nicht um eine allgemeine prozessrechtliche praesumtio iuris, die nun auf alle Verhältnisse ausgedehnt und insbesondere für die actio de dolo generell übernommen worden wäre. Neben den beweisrechtlichen tritt nämlich noch ein gewichtiger materiell-rechtlicher Gesichtspunkt, der mit dem Übergang vom Delikt zum Vertrag notwendig verknüpft ist: Die Verpflichtung zur Sorgfalt (diligentia) folgt aus dem Verhältnis selbst, und daher vollzog sich der Übergang vom dolus zur culpa im römischen Recht auch nur in Verhältnissen, die als Schuldverhältnis mit entsprechenden Diligenzpflichten zu denken sind. In der deliktsrechtlichen Perspektive begründet allein der dolus die Obligation, die culpa (auch die culpa lata) erhält hingegen ihre Rolle erst in einer bereits bestehenden Obligation, die zur Sorgfalt verpflichtet. Es ist daher keineswegs Zufall, wenn sich die Gleichstellung von dolus und culpa ausschließlich in Vertragsverhältnissen findet:131 129  Ueber die Haftung der Contrahenten bei der Abschließung von Schuldverträgen, in: Erörterungen aus dem Obligationenrecht II (1879), S. 175; zum Problem auch: Hesse, Zur Lehre von dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203/244 ff. 130  Prägend Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997), S. 12 ff.; kritisch hierzu aber etwa schon: Lieb, FS Medicus (1999), S. 337/349 f.; Schwarze, Vorvertragliche Verständigungspflichten (2001), S. 24 f.; ausf. zum Problem noch unten § 3 (Die culpa als causa obligationis?). 131  Vgl. zu den o. g. Zitaten: Ulpian, D. ​43, ​26, ​8, ​3 (betrifft Leihe): „der bittweise Ersuchende vertritt übrigens nicht ohne Grund blos die Arglist, da das ganze Verhältnis seinen Ursprung lediglich in der Gefälligkeit dessen findet, der es bittweise zugestanden hat, und es hinreichend ist, wenn blos die Arglist vertreten wird. Daß jedoch die der Arglist nahe stehende Verschuldung mit darin begriffen sei, dürfte wohl mit Recht behauptet werden.“; Gaius, D. ​44, ​7, ​1, ​5 (Klage gegen den Verwahrer): „denn weil er die Sache nicht seinetwegen, sondern Dessen wegen in Empfang genommen, von dem er sie erhalten, so haftet er auch nur dann, wenn Etwas durch Arglist verloren gegangen ist; wegen Nachlässigkeit haftet er aber darum nicht, weil, wer einem nachlässigen Freunde etwas in Verwahrung gegeben, es sich selbst zuzuschreiben hat; große Nachlässigkeit hat man aber als dem Verbrechen der Arglist gleichstehend erachtet.“; Celsus, D. ​16, ​3, ​32 (Klage gegen den Verwahrer): „Was Nerva sagte: ein gröberes Verschulden sei böse Absicht, mißfiel

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„Seitdem die Entwicklung des Verkehrsrechts sich in grösserm Umfang vollzog, genügte die Haftung für den alten Delictsdolus nicht mehr. Das Edict hatte … die Haftung für dolus beibehalten; Doctrin und Praxis fügten die lata culpa hinzu und dehnten so die Haftung in ein, wenn auch noch schmales Gebiet der culpa aus. So lange kein Gedanke eines Vertragsverhältnisses vorwaltete, hafteten Depositar, Precarist, Mensor nur für Delict, furtum und Betrug, und hatten keine weitere Verpflichtung; eine Beflissenheit zum Thun, wenn auch noch so gering, konnte erst mit dem Uebergang zum Pflichtverhältnis gefordert werden. … War einmal eine wirkliche Verpflichtung angenommen, so war auch ein gewisses überlegtes Verhalten zur Erfüllung derselben geboten. Eine absolute Gleichgiltigkeit und Unbedachtsamkeit, ein Mangel jedes Denkens, ein völliges Ausserachtlassen dessen, was doch, wo man sich verpflichtet hatte, auf der Hand gelegen hätte, erschienen als frivole Fehler, unter denen der Gläubiger nicht sollte zu leiden haben. … Sollte da der Gläubiger Schaden leiden, weil der den schwierigen Beweis des Willens nicht erbringen konnte? Es war einmal die Rücksicht auf den Gläubiger, dann überhaupt die rechtspolitische Erwägung, dass im Verpflichtungsverhältnis eine gewisse, wenn auch noch so geringe, durchschnittliche Aufmerksamkeit gefordert werden müsse, um dasselbe überhaupt verkehrsfähig zu machen, welche hier zu dieser Ausdehnung in das Gebiet der Fahrlässigkeit führte. Denn damit war ein objektiver Massstab gegeben, der sich im Ganzen gleicherweise an jeden Verpflichteten ohne Rücksicht auf seine geistige Beschaffenheit nur nach dem rein externen Factum anlegen liess, während der dolus ein Abstellen auf den internen Willen forderte und ein rein subjectiver Massstab war.“132 Für Jherings Revocation waren, wie gesehen, die beiden hier ausführlicher formulierten Einsichten ganz zentral: 1. Eine Haftung für culpa setzt zunächst ein zur diligentia verpflichtendes Verhältnis voraus; 2. mit der Anerkennung eines entsprechend objektiv formulierten Verhältnisses wird auch das Kriterium der culpa hinfällig: „… als ob die Nichterfüllung der Obligation nothwendigerweise ein subjektives Unrecht in sich schlösse …“.133

dem Proculus, mir scheint es sehr wahr zu sein.“; Ulpian, D. ​11, ​6, ​1, ​1 (zur Klage gegen den agrimensor): „Diese Klage berücksichtigt nur die Arglist; denn man ist der Ansicht gewesen, dass der Feldmesser verpflichtet sei, wenn die Arglist allein zum Gegenstand seiner Verbindlichkeit werde; ist er daher unklug zu Werke gegangen, so muss es sich derjenige selbst zuschreiben, der ihn gebraucht hat; selbst wenn er nachlässig gewesen, ist er gleichfalls sicher; grobes Verschulden steht aber der Arglist gleich.“; zweifelhaft bleibt allein: Paulus, D. ​50, ​16, ​226, doch handelt es sich um eine abstrakte und durchaus mehrdeutige „Begriffserklärung“, die in ihrem Kontext gesehen nichts für eine Gleichsetzung von dolus und culpa lata hergibt, sondern letztlich auch den dolus unter den Begriff der culpa subsumiert: „Eine große Nachlässigkeit ist Schuld, eine große Schuld ist böse Absicht.“ (zu diesem weiten culpa-Begriff sogleich noch unten § 3 II.1.). 132  Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 43 f. 133 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 21 f.

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Die culpa vollzieht im römischen Recht also keineswegs eine generelle Substitution des dolus, sondern tritt in das Rechtsbewusstsein mit dem materiell-rechtlichen Problem mangelhafter Pflichterfüllung im Rahmen eines entsprechenden (Rechts‑)Verhältnisses. Ob eine Seite durch gänzliche Nichterfüllung oder durch Schlechterfüllung zu Schaden kommt, macht für das Ergebnis ebenso wenig einen Unterschied wie die Frage, ob die Schlechterfüllung wissentlich oder leichtfertig erfolgt. Entscheidend ist nur, dass eine Pflicht zur Wahrnehmung fremder Interessen (d. i. ein Pflichtverhältnis) angenommen werden kann. Anschaulich wird dieser Prozess beim agrimensor in D. ​11, ​6, ​1, ​1 ff. Der Fall ist paradigmatisch für die Ausdifferenzierung der besonderen Vertragsverhältnisse und – in moderner Perspektive – für die Ausbildung einer Berufshaftung: Die Tätigkeit des Landvermessers gehörte zu den opera liberalis und war insoweit nicht eine geschuldete Leistung, sondern zunächst Gefälligkeit. Das Interesse an fehlerfreier Ausübung erhielt rechtlichen Schutz daher erst durch eine prätorische actio in factum für den Fall vorsätzlich falscher Erstattung eines Vermessungsgutachtens, also bei dolus malus.134 Man wird auch hier sehr bald die Nutzlosigkeit einer solchen Klage bemerkt haben, weil der dolus für den Kläger kaum je nachzuweisen gewesen sein wird und weil selbst mit einer Haftung nur für dolus den Interessen an fehlerfreier Vermessung gar nicht entsprochen wird.135 Schließlich wird daher dem dolus die culpa lata gleich geachtet; denn in „Verpflichtungsverhältnissen erschien die äusserste Nachlässigkeit gegenüber dem Interesse des andern Theils nicht weit entfernt von einer bewussten Vernachlässigung desselben, und eine scharfe Trennung der Schuldarten mochte hier überhaupt mehr untergeordneten Werth haben, als im aussercontractlichen Verhältnis“.136 Eine fehlerhafte Vermessung ist eine Pflichtverletzung und dafür haftet der agrimensor auch ohne Nachweis eines dolus. Von hier aus bis zur Einsicht Jherings, dass es für die rechtliche Beurteilung der Nicht‑ oder Schlechterfüllung gar nicht notwendig des subjektiven Unrechts bedürfe, ist es nur noch ein kleiner dogmatischer Schritt. Kein Geringerer als Hugo Grotius scheint ihn als erster vollzogen zu haben, indem er die Schuld (culpa) gleichsam als Gegenbegriff zum Geschuldeten (debitum) und mithin schlicht als (objektive) Rechtsverletzung definiert.137 Wenn wir heute von Schuldverhältnissen reden, so meinen wir genau dies: Schuld in Bezug auf das Geschuldete. 134  Vgl. Lenel, Edictum perpetuum (3. Aufl. 1927), § 89, S. 219; Wacke, Zum dolus-Begriff der actio de dolo, RIDA 27 (1980), 349/377. 135 Zutreffend konstatiert Wacke aaO., S. 377 zu dieser Substitution: „vermutlich weil der Beweis für eine bewusst falsche Vermessung sehr schwer zu führen ist.“; vgl. auch Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 227 zu diesem Prozess beim Pignus: „But it was soon realized that this general remedy [actio doli] was too restricted and thus not able to provide satisfactory protection of the pledgees reasonable expectations.“ 136  Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 45. 137 Hierzu sogleich unten § 3 (Die culpa als causa obligationis?).

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Daneben wird dann der Gesichtspunkt der culpa in vertraglichen wie in außervertraglichen Rechtsverhältnissen immer noch wie selbstverständlich mitgeschleppt, ohne dass wir uns ernsthaft Rechenschaft über die Rolle der Schuld (im Sinne von Fahrlässigkeit) im Rahmen einer Schuld (im Sinne des Geschuldeten) und bei der Feststellung und Begründung von Verbindlichkeiten ablegen. Im Anschluss an Cicero hat die natur‑ bzw. vernunftrechtliche Tradition ihre Systeme denn auch regelmäßig am Begriff der „Pflichten“ entfaltet. Die „Pflichtverletzung“ ist an die Stelle der culpa getreten,138 und wir werden im aktuellen Recht Mühe haben, Fälle ausfindig zu machen, bei denen daneben noch die culpa (als Fahrlässigkeit) ernsthaft erörtert würde. Mir ist jedenfalls in dem weiten Feld der heutigen culpa in contrahendo nicht ein Fall vorgekommen, bei dem die culpa (also das „subjektive Unrecht“) überhaupt eine ernstzunehmende Rolle gespielt hätte.139 Die Postulation einer Pflichtverletzung ex post (vorzugsweise einer Aufklärungspflichtverletzung) genügt. Die Frage nach dem subjektiven Unrecht beim Aufklärungspflichtigen wird gar nicht mehr gestellt. Die culpa ist vom Gedanken der Pflichtverletzung substituiert. Gänzlich im Unbewussten bestätigt sich so die Einsicht Jherings, dass die culpa (in contrahendo) „der Idee des Verhältnisses selber nicht gerecht“ wird. Und es ist demgegenüber durchaus bemerkenswert, dass heute dieselbe Haftung immer noch mittels culpa (also subjektiven Unrechts) sowohl begründet140 als auch begrenzt werden soll.141 138 Ausf.

noch zum Verhältnis von culpa und Pflichtverletzung seit Staubs ‚Entdeckung‘: unten § 5 II.1. 139  In der Rechtsprechung wird das Problem des Verschuldens überhaupt nur selten angesprochen, dann aber hilft der Schlaubergerkonjunktiv, vgl. etwa: BGH, Urt. v. 8. Juni 1978, NJW 1978, 2145/48 (Haftung der finanzierenden Bank bei Vermögensbildung: Die Bank haftet auch, wenn sie keine Kenntnis von einem Risiko hat, über das sie aufklären soll; denn sie „hätte es doch erkennen können und müssen“) oder das besondere Vertrauen der anderen Seite genügt: Urt. v. 28. März 1990, BGHZ 111, 75/80 (Motorjachteinfuhr-Fall). Gerd Müller, ZHR 147 (1983), 501/519 spricht in Bezug auf die Haftung für unrichtige Ertragsangaben beim Unternehmenskauf von einer „Fiktion“ des Verschuldens, und ebenso konstatiert auch Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997), S. 8: eine „geringe Bedeutung des Verschuldenserfordernisses“ in der Rechtsprechung des BGH: „Ist erstmal die Weitergabe einer falschen Information nachgewiesen oder wird angenommen, daß der Informationspflichtige die gebotene Aufklärung nicht vorgenommen hat, so stellt der BGH das Merkmal der Fahrlässigkeit – wenn überhaupt  – lediglich in deklaratorischer Weise fest, und es ist keine einzige Entscheidung ersichtlich, in der die Informationshaftung nach der Feststellung einer Informationspflichtverletzung wegen mangelnden Verschuldens abgelehnt worden wäre.“ 140  Fleischer, Konkurrenzprobleme, AcP 200 (2000), 91/101 „Im Zentrum aller Legitimationsbemühungen steht das unleugbare Bedürfnis nach einem rechtlichen Schutz des fahrlässig irregeführten Vertragspartners. Das läßt sich beim ersten Zugriff vor allem rechtsethisch begründen. Gerechtigkeitserwägungen rebellieren dagegen, den Erklärungspflichtigen mit einem lapidaren Hinweis auf § 123 BGB aus seiner Verantwortung zu entlassen. Im Verhältnis zwischen dem schuldhaft handelnden Vertragspartner und seinem schuldlos irregeführten Kontrahenten scheint uns allein letzterer schutzbedürftig.“ (wortgleich: ders., Informationsasymmetrie, 2001, S. 434). 141 Fleischer, Konkurrenzprobleme, AcP 200 (2000), 91/117: „In Deutschland bietet der Tat-

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Kurz: Unter dem Blickwinkel von Pflichterfüllung und Pflichtverletzung lässt sich die These Jherings auch so formulieren: Die culpa ist nur noch ein subjektives Residuum, eine Reminiszenz an den dolus, den zu beseitigen in der Tat ihre originäre Aufgabe gewesen ist. Doch wenn die einschlägige Pflicht objektiv formuliert und begründet ist, dann bedarf es auch der culpa nicht mehr. Wozu ist es notwendig, dann, wenn die Verpflichtung festgestellt ist, noch nach einem Verschulden (culpa) bei ihrer Nichteinhaltung zu fragen: Wenn feststeht, dass niemand einen anderen in seinen Rechtsgütern beschädigen darf, dann kommt es nicht darauf an, der Hausfrau noch eine culpa levissima nachzuweisen, wenn der Schlauch der Waschmaschine sich löst; eine solche Konstruktion wird bei ihr niemals auf Verständnis stoßen. Das gleiche gilt für die vielen Fälle der heute so genannten Gefährdungshaftung, aber auch für die Leistungsstörungen: Wer sich zur Lieferung mangelfreier Waren verpflichtet hat, dem muss man nicht in jedem Fall noch eine culpa für die Fälle seiner Nicht-, Spät‑ oder Schlechterfüllung nachzuweisen suchen. Die objektive Bestimmung des Geschuldeten (debitum) erübrigt den Nachweis subjektiven Unrechts, d. h. einer Schuld (culpa). Bereits Brinz hat in seinen Pandekten das Problem aufgegriffen und sich gefragt: „… worin des näheren innerhalb einer Obligation überhaupt eine Verschuldung durch dolus und culpa möglich sei, ist vielleicht niemals eigens untersucht worden …“142

Wir erinnern uns hier an Jherings Induktion seiner culpa als Nichtwissen aus den „ädilitischen Klagen“: Wenn das Edikt den Verkäufer für verborgene Mängel schlechthin verantwortlich sein lässt, „ohne auf sein Wissen oder Nichtwissen Rücksicht zu nehmen“; wenn der Jurist143 „dem Verkäufer aus seiner Unkenntniß einen Vorwurf macht, wenn er ihm vorhält, er hätte die Mängel kennen können und müssen und damit seine Haftung motiviert, was ist dies anderes, als

bestand der culpa in contrahendo eine Reihe geeigneter Ansatzpunkte, mit denen sich eine Aufweichung des Grundsatzes der Vertragstreue bei objektiv ausgeglichenen Verträgen verhindern läßt. Von herausragender Bedeutung ist zunächst, daß die vorvertragliche Informationshaftung wie jede vertragsschlussbezogene Pflichtverletzung ein schuldhaftes Verhalten voraussetzt.“ (wortgleich: ders., Informationsasymmetrie, 2001, S. 447). 142  Brinz, Pandekten, Band 2/1 (1879), § 266 Fn. 7; in diese Richtung gehen aber Untersuchungen bei Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht (1878); Steinbach, Die Grundsätze des heutigen Rechts über den Ersatz von Vermögensschäden (1888); Rümelin, Culpahaftung und Causalhaftung, AcP 88 (1898), 285 ff.; Karl Adler, Unverschuldetes Unrecht (1909). Schließlich wurde das Thema in jüngeren Untersuchungen in der Tat quasi neu als Problem „entdeckt“ und hierbei die obligatorische Haftung sowohl hinsichtlich ihrer Primär‑ (Erfüllung) als auch ihrer Sekundärleistungspflicht (Schadensersatz) als Garantiehaftung erkannt: Ehmann  / ​ Sutschet, Schadensersatz wegen kaufrechtlicher Schlechtleistungen – Verschuldens‑ und / ​oder Garantiehaftung?, JZ 2004, 62 ff.; eingehend: Sutschet, Garantiehaftung und Verschuldenshaftung im gegenseitigen Vertrag (2006); Ehmann, Garantie‑ oder Verschuldenshaftung bei Nichterfüllung und Schlechtleistung?, in: FS Canaris, Bd. 1 (2007), S. 171 ff. 143 Gemeint ist Ulpian, D. ​21, ​1, ​1, ​2 und D. ​19, ​1, ​13, ​3. ​

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der Vorwurf der culpa?“144 Nun ist aber gerade das Gewährleistungsrecht bereits für das römische Recht – das dürfte die spätere Einsicht bei Jhering mit befördert haben – ein treffliches Beispiel für die Vorstellung von einer Entwicklung, die letztlich ganz auf das subjektive Unrecht Verzicht tut. Das Kaufrecht ist hier vor allem deshalb anschaulich, weil es zweifellos das am weitesten fortgebildete Verkehrsrecht der Zeit gewesen ist: Auch beim Kauf bestand der originäre Zustand zunächst in der Zulässigkeit des circumscribere, dem erlaubten dolus. Die idealtypische Durchführung dieses Grundsatzes, bei dem jede Seite ihre Interessen mit allen Mitteln verfolgen darf, findet sich insoweit im Grundsatz caveat emptor: Jeder ist für die Wahrung seiner Interessen selbst verantwortlich: der Verkäufer für den maximal erzielbaren Preis, der Käufer für Billigkeit und Brauchbarkeit der Sache zu seinen Zwecken. Keiner muss die Interessen der anderen Seite mit wahrnehmen. Mit der Begrenzung des circumscribere durch die Verantwortlichkeit für dolus malus etabliert sich die dolus-Haftung des Verkäufers, das Prinzip caveat emptor wird objektiviert durch die Differenzierung zwischen offenen (manifesta) und verborgenen (occulta) Mängeln:145 Wenn der Käufer offene Mängel nicht realisiert, so ist er selbst schuld, bei verborgenen Mängeln hingegen haftet der Verkäufer zunächst allein für dolus, d. h. der Verkäufer haftete nur, wenn er den Mangel kannte und arglistig unterdrückt oder verschwiegen hat. Das dürfte nicht selten vorgekommen sein, und gleichwohl werden sich die bereits angesprochenen prozessualen Probleme mit dem dolus auch hier unzweifelhaft und bald realisiert haben. So kommt es für die wichtigsten Fälle verborgener Mängel zum Edikt der Ädilen, deren erste Absicht es daher nicht zufällig gewesen ist, „Betrügereien von Verkäufern vorzubeugen und allen Käufern zu Hilfe zu kommen, die von ihren Verkäufern getäuscht worden sind“.146 Von dem Kriterium der culpa keine Spur, auch wenn die Haftungsbegründung bei Ulpian sich so ausnehmen mag. Die Haftung des Verkäufers geht bei verborgenen Mängeln sogleich vom dolus (praesumtus) auf die Definition des Geschuldeten: Es genügt für seine Haftung, dass er einen der vom Edikt minutiös aufgeführten Mängel anzugeben unterlassen hat. Das Ergebnis: die Schlechterfüllung als besonderer Fall der Nichterfüllung allein entscheidet; denn es kann dem Käufer in der Tat gleich viel gelten, „ob er durch Unwissenheit oder Verschlagenheit des Verkäufers in Schaden komme“.147 Das aber ist nicht zufällig die gleiche Begründung, die auch in anderen Verhältnissen zur Ablösung des dolus  – zunächst durch die culpa lata – geführt hat. Und man wird unter diesem Gesichtspunkt Jhering auch hierin Recht geben müssen: Mit Blick auf  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 35 f.  Vgl. hierzu schon Thomas v. Aquin, Summa Theologica, II, qu. 77 art. 3. 146 So Ulpian zum Edikt in D. ​ 21, ​1, ​1, ​2; vgl. Kaser / ​Knütel, Römisches Privatrecht (2003), § 42, Rn. 42. 147  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/35 unter Bezug auf Ulpian, D. ​21, ​1, ​1, ​2 (neque enim interest emptoris, cur fallatur, ignorantia venditoris an callidate). 144 145

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die Nichterfüllung einer objektiv begründeten Pflicht mag das Kriterium der culpa teilweise zufällig und teilweise gezwungen sein. Im ersten Fall ist sie ein Residuum oder Substitut für den dolus und im zweiten Fall eine dogmatische Krücke, solange eine „objektivere Formulierung“ für das Verhältnis noch nicht gefunden ist. Eben hier, in der „Objektivierung“ der Rechtsverhältnisse, liegt, wie gesehen, nicht nur nach Jherings Auffassung eine entscheidende Aufgabe der Rechtswissenschaft. Inwieweit sie durchzuführen ist, hängt von den Verhältnissen selbst ab; sich ihr nicht zu stellen hieße, keinen Beruf zu haben für Gesetzgebung und Wissenschaft. Es ist freilich auch wichtig, sich der Grenzen dieser Aufgabe bewusst zu werden. Wenn und soweit nämlich gleichwohl das subjektive Unrecht in Gestalt der culpa in Erscheinung tritt, dann freilich mit dem Anspruch, neben der objektiven Regelmäßigkeit der Verhältnisse eine individuelle Beurteilung noch zu ermöglichen. Wenn also die Gewährleistung des Verkäufers auf sein Verschulden gar keine Rücksicht nimmt, so verzichtet das Recht bewusst auf schwierige Erwägungen zu seiner Exkulpation. Ausflüchte und Entschuldigungen kommen gar nicht in Betracht. Wenn demgegenüber später Friedrich Mommsen zwischen anfänglicher und nachträglicher Unmöglichkeit unterschieden hat, so hängt das ebenfalls mit einer differenzierten Betrachtung der Verhältnisse vor und nach Vertragsschluss und dem jeweiligen Pflichtenprogramm zusammen. Die Frage also, ob und inwieweit auf die culpa als Kriterium des subjektiven Unrechts wirklich dauerhaft verzichtet werden kann, hängt nicht nur an der Frage, inwieweit individuelle Schuld objektiven Formulierungen überhaupt zugänglich ist, sondern auch und insbesondere inwieweit das subjektive Unrecht im Interesse objektiverer Gesichtspunkte (etwa Rechtsklarheit, Verkehrsschutz; Versicherbarkeit; Steuerungsabsichten u. ä.) in den Hintergrund treten soll. Die Grenzen einer Objektivierung zeigen sich etwa deutlich bei der Strafzumessung im Strafprozess. Hier mag es einen Rahmen geben und objektive Kriterien – das subjektive Unrecht vollständig erfassen können sie allesamt nicht. Hier bleibt ein weiter und notwendiger Ermessensspielraum im Einzelfall, der nur durch den abstrakten Begriff der Schuld gewährleistet werden kann. Jhering jedenfalls hat denn auch an dem „ewig wahren Satz“: Keine Strafe ohne Schuld! dauerhaft festgehalten. Inwieweit dieser Satz nun auch im römischen Zivilrecht seinen Niederschlag gefunden hat, ist im Folgenden noch genauer zu betrachten; denn es geht insoweit um nicht viel weniger als das ganze ausdifferenzierte System des BGB, in dem Schuld und Rechtsfolge in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht wurden. Damit sind wir bei der zweiten wichtigen Erkenntnis, die Jhering aus seiner Untersuchung zum „Schuldmoment“ gewonnen hat: Die Bedeutung der culpa als Haftungsmaßstab für die Rechtsfolge, nämlich als Gradmesser für eine Begrenzung der Haftung:

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III. Rechtsdogmatische Besinnung: Culpa als Haftungsbegrenzung „Denn man soll mir noch erst beweisen, daß es irgend ein Gebiet des Rechts gibt, auf dem die Idee der Gerechtigkeit sich nicht in ihrem vollen Umfange verwirklichen dürfe, die Idee der Gerechtigkeit aber ist unzertrennlich von der Durchführung des Gesichtspunktes der Verschuldung.“ Rudolf v. Jhering, 1872148

1. Tatbestand: „Ohne Schuld kein Schadensersatz“ „Nicht der Schaden verpflichtet zum Schadensersatz, sondern die Schuld.“ Rudolf v. Jhering, 1867149

Der Ausgangspunkt für die Haftungsfrage, d. h. die Besinnung auf die haftungsbegrenzende Rolle der culpa ist bereits angesprochen. Hierin liegt nicht nur ein Fazit von Jherings Beschreibung der rechtsgeschichtlichen Entwicklung, sondern zugleich eine wesentliche Beschränkung des allgemeinen naturrechtlichen Gebotes, niemanden zu schädigen (neminem leadere). Entscheidend für einen Ersatzanspruch ist hiernach nicht allein die Verursachung eines Schadens, sondern hinzukommen muss die subjektive Verantwortlichkeit. Die erste und wichtigste Rolle der culpa für das Haftungsrecht folgt sohin der Einsicht, „daß gegenüber dem Gesichtspunkte der äusseren Causalität der That der der inneren, der Verschuldung zur Geltung gebracht“ werden muss.150 Ob nun bei einem Delikt oder bei der Vertragserfüllung, immer tritt die culpa, wenn sie auftritt, in einer haftungsbegrenzenden, niemals in einer haftungsbegründenden Rolle auf. Für das Delikt bedarf das hier keiner weiteren Erörterung. Für den Vertrag kann an das soeben zur ädilizischen Haftung Gesagte angeknüpft werden: Jede Form der Nicht-, Spät-, oder Schlechtleistung lässt sich als Garantiehaftung aus der vertraglichen Verpflichtung begreifen. Man kann diese Haftung freilich darüber hinaus an das Vorliegen subjektiven Unrechts bei der Leistungsstörung knüpfen. Im letzten Fall ist dann wieder das Kriterium der culpa ein kumulativer, nicht aber der originäre Haftungsgrund; denn die Pflicht zur ordnungsgemäßen Leistung folgt aus dem Vertragsverhältnis.151 Hält man zunächst die haftungsbegrenzende Rolle der culpa fest, so fragt sich freilich darüber hinaus, wie sich dieser subjektive Gesichtspunkt mit der Vorstellung von einer Objektivierung auch des subjektiven Unrechts vereinbaren lässt. 148 Jhering,

Kampf ums Recht (4. Aufl. 1874), S. 88.  Jhering, Schuldmoment im römischen Privatrecht (1867), S. 40. 150  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 41; ausf. untersucht den historischen Vorgang dieser Differenzierung Pernice, Labeo II (1878), S. 238 ff. 151  Von dieser Kumulation objektiven und subjektiven Unrechts geht etwa der Zentralparagraph der schuldrechtlichen Haftung, § 280 Abs. 1 BGB, aus: Der Schuldner haftet nicht, wenn er „die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat“. 149

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Jhering ist hier offensichtlich auf ein dogmatisches Problem in seiner eigenen gedanklichen Entwicklung gestoßen; denn seine Ausführungen im „Schuldmoment“ zu dieser Frage erscheinen zu dieser Frage widersprüchlich. Während er zunächst die Entbehrlichkeit des subjektiven Unrechts und die Beschreibung des objektiven Unrechts für die Haftung betont, unterstreicht er in seinem zweiten Teil wiederum genau die haftungsbegrenzende Rolle des subjektiven Unrechts, ohne noch weiter auf den zuvor ausführlich dargestellten Zusammenhang einzugehen.152 Doch deutet er eine mögliche Lösung immerhin an: Die abstrakte Bestimmung der Schuldfähigkeit enthält dann ebenso eine Objektivierung des subjektiven Unrechts wie die objektive Ausdifferenzierung der jedem Schuldverhältnis eigenen Leistungspflichten: Unmöglichkeit, Verzug und Gewährleistungsrechte sind dann ebenso Ausdruck des subjektiven Unrechts wie sie als Erfolgsunrecht auch objektiviert sind: Schuld und Verantwortlichkeit für übernommene Verpflichtungen gehen hier also in der Tat ineinander auf. Die weitere Ausdifferenzierung der Unmöglichkeit in objektive und subjektive (zur Vermeidung unterschiedlicher Bedeutungen gleicher Begriffe kann man vorliegend auch besser von genereller und individueller bzw. Unmöglichkeit i. e. S. und Unvermögen reden) und sodann anfängliche und nachträgliche verdeutlicht dies: Bei einem anfänglichen Unvermögen macht es wenig Sinn, noch weiter nach dem subjektiven Unrecht hinsichtlich der Nichterfüllung zu fragen; genauso gut könnte man die Gültigkeit eines Vertrages unter einen generellen culpa-Vorbehalt stellen (Vielleicht wussten sie nicht, was sie tun?). Wer sich zu einer Leistung verpflichtet, ist prima facie immer in culpa, wenn sich die Unmöglichkeit der Leistung herausstellt. Schwieriger wird die Sache bei einer nachträglichen Unmöglichkeit. Hier mag man in der Tat fragen, ob sich weiter einfach von objektivem Unrecht aufgrund einer unbedingten Leistungspflicht sprechen lässt, auch wenn die Unmöglichkeit der Leistung auf höherer Gewalt oder Fremdeinwirkung beruht. In diesen Fällen scheint es nahe zu liegen, eine gerechte Entscheidung im Einzelfall mit dem Kriterium der culpa zu ermöglichen. Jedenfalls ausgeschlossen ist es, umgekehrt, eine Haftung noch mit der culpa begründen zu wollen. Die Geschichte hat den „Unfug“ offenbart, der entsteht, wenn mittels culpa (levissima) gleichsam eine Garantiehaftung konstruiert wird: „Nur Erz-Geizhälse mit tausend Augen, welche nicht eher ruhen können, bis sie alle Riegel und Schlösser an den Häusern betastet, und gesehen 152 M. E. gibt der zweite Teil die ältere Auffassung Jherings wieder, die gleichsam zwischen seiner Ergriffenheit vom Verschuldensprinzip sowie der Konstruktion seiner c. i. c. und seiner Revocation steht. So ist es vielleicht auch erklärlich, dass die Schrift in der hier hervorgehobenen Bedeutung unerschlossen geblieben ist und Jhering immer mit dem Satz „Nicht der Schaden verpflichtet zum Ersatz, sondern die Schuld“ als der Protagonist der Verschuldenshaftung angesehen wird; vgl. nur Hochstein, Obligationes quasi ex delicto (1971), S. 33; Benöhr, Zur außervertraglichen Haftung im gemeinen Recht (1976), S. 689/690.

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haben, ob alles zugeschlossen ist“,153 könnten unter einer solchen Doktrin dem Vorwurf mangelnder Sorgfalt vielleicht entgehen, wenn ihnen die Leistung etwa aufgrund eines Diebstahls unmöglich geworden ist. Letztlich ist es noch keineswegs ausgemacht, ob nicht viel eher der Gesichtspunkt vom Wegfall der Geschäftsgrundlage das passende objektive Substitut anstelle von Nachforschungen zu Zumutbarkeit und culpa darstellt.154 Kurz: War, wie gesehen, eine wesentliche Etappe der Rechtsentwicklung dadurch gekennzeichnet, die Haftung für bloßen Causalnexus durch das Kriterium des subjektiven Unrechts zu mäßigen,155 so hat insbesondere die Entwicklung der Vertragsverhältnisse in der Auflösung der dolus-Haftung und mit der Ausdifferenzierung des nach der Anschauung der Verhältnisse geschuldeten Pflichtenprogramms wiederum zu einer Substitution des subjektiven Unrechts durch eine ausdifferenzierte Definition des „objektiven Unrechts“ geführt. Wie passt nun in dieses Bild eine culpa in contrahendo? Zum einen ist hier noch einmal abschließend die Einsicht Jherings zu betonen, dass die culpa als Haftungsbegrenzung nicht einen eigenständigen Haftungsgrund abgeben kann. In seiner Revisionsschrift hat er die Sache so zusammengefasst: „Es ist in meinen Augen einer der glücklichsten Gedanken der römischen Juristen, wenn sie das Interesse des Vertrages für die Contrahirenden zum leitenden Gesichtspunkt machen, und ich halte es für verkehrt, wenn manche Rechtslehrer das Princip der Prästation der culpa levis zum Ausgangspunkt wählen.“156

Dass also die culpa als Haftungsprinzip nicht in Betracht kommt, wird hier noch einmal deutlich herausgestellt. Carl Christoph Burckhardt hat das Problem dann in seiner unter dem Dekanat Jherings von der Göttinger Fakultät preisgekrönten Schrift treffend so formuliert: „Wo für negligentia soll gehaftet werden, muss positiv diligentia gefordert sein. Diligentia gegenüber fremdem Interesse wird aber principiell nur verlangt, wo man zu einem (mehr oder minder fest) bestimmten Berechtigten in einem Verpflichtungsverhältnis steht; dieses erst zieht nach sich eine Verpflichtung zum Wahrnehmen des fremden Interesses und zum Ueberlegen für dasselbe.“157

153 So Heineccius zur culpa-Lehre seiner Zeit, zitiert bei Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 306. 154  Die Kodifikation des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ (§ 313 BGB) und die Neufassung der Unmöglichkeit (§ 275 BGB) im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung 2002 haben die dogmatische Nähe der beiden Institute wieder deutlicher vor Augen geführt: Lobinger, Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten (2004); Schmidt-Recla, Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage (2006), S. 641 ff.; Finn, Erfüllungspflicht und Leistungshindernis (2007). 155  Oben § 2 II.1. 156  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 53. 157 Culpa lata (1885), S. 74; das entspricht dann also ganz der Einsicht, die bereits Savigny seinerzeit nur eine Fußnote wert gewesen war: „Nur wo ein wirklicher Vertrag vorhanden ist, da ist dieser eine causa obligationis und die daraus entspringende Obligation kann durch Culpa, wie durch Betrug, modificirt und erhöht werden.“ (System III, 1840, § 138, S. 295 Note e).

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Wir werden uns später noch ausführlich die Frage vorzulegen haben, ob und wie sich eine „diligentia gegenüber fremden Interessen“ tatsächlich in dem Maße, wie dies heute geschieht, auf ein vorvertragliches Schutzpflichtverhältnis oder worauf auch immer gründen lässt.158 Die culpa jedenfalls kann nicht selbst die Quelle von Pflichten sein. Es gibt sohin streng genommen ebenso wenig eine culpa in contrahendo, wie es eine allgemeine Haftung für culposes Verhalten gibt. Im Vertragsrecht ist es die Anerkennung der Freiheit des Willens im Vertragsschluss, im Sachenrecht die Anerkennung dinglicher Rechte in subjektiver Zuordnung und im Deliktsrecht der Schutz ausgewählter Rechtsgüter, die jeweils für sich Pflichten erzeugen und entsprechende Sorgfalt bei ihrer Einhaltung einfordern, nicht aber ein allgemeines Gebot zur Sorgfalt gegenüber anderen. Kurz: Die Pflicht zur Wahrnehmung fremder Interessen muss besonders begründet sein. Die culpa bietet eine solche Begründung nicht. 18 Jahre nach Jherings Revocation hat Burckhardt die ausführliche rechtsdogmatische Begründung für diese Einsicht nachgereicht: dass also die Theorie der culpa in contrahendo … der Idee der Verhältnisse selber nicht gerecht wird; denn es ist, wie Savigny es bereits zuvor knapp auf den Punkt gebracht hat: die Culpa „gar nicht allgemein eine causa obligationis“159. 2. Rechtsfolge: „Gleichgewicht zwischen Schuld und Schadensersatz“ „Nur wo ein wirklicher Vertrag vorhanden ist, da ist dieser eine causa obligationis und die daraus entspringende Obligation kann durch Culpa, wie durch Betrug, modificirt und erhöht werden.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1840160 „Was für Schaden muß ersetzt werden? Resp.: a) in dolo vel culpa lata lucrum cessans et damnum emergens; b) in culpa levi damnum immediatum et mediatum, c) in culpa levissima damnum immediatum.“ Friedrich Wilhelm Ludwig Bornemann, 1842161

Jhering feiert es als die „Losreissung vom äussern Schein“, als „Selbstbefreiung von der Macht der natürlich-sinnlichen Anschauungsweise“ und als den „unausgesetzten Kampf gegen das Vorurtheil“: dass allein schon „der Schaden zum Ersatz desselben verpflichte.“162 Mag sein, dass dieser Satz für eine postmoderne „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) nicht mehr in allen Bereichen durchzuhalten ist. Aber wer wollte leugnen, dass Rechtsfindung unter dem Etikett angeb158 Unten

§§ 5–7.  System III (1840), § 138, S. 295 Note (d). 160  Savigny, System III (1840), § 138, S. 295 Note e. 161 Bornemann, Preussisches Civilrecht II (1842), S. 171: „Nach diesen Grundsätzen ist die Theorie des Landrechts abgefasst worden. Sie gehört indessen … zu den am wenigsten gelungenen Arbeiten der Redaktoren.“ 162 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 40 f. 159

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licher Verschuldenshaftung heute primär darauf aus ist, für einen Schaden einen solventen Schuldner zu finden?163 Bei dieser Ohnmacht verratenden Frage braucht man nun freilich nicht stehen zu bleiben. Denn ausgehend von der rechtsgeschichtlich unleugbaren Tatsache „daß auf dem Gebiete des Civilrechts die Idee der Strafe der des Schadensersatzes erlegen ist“164, Strafe sich also kulturgeschichtlich mehr und mehr in die Gestalt des Schadensersatzes begeben hat, bekommt der Satz „nulla poena sine culpa“ für die heutige Rechtsordnung freilich noch einen ganz speziellen Zungenschlag (nullum damnum sine culpa); denn mit ihm ist zugleich auch ausgesprochen, was immer noch verfassungsrechtliches Allgemeingut ist: „nulla poena sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG). Eine Norm, die Schadensersatz (letztlich also eine kultivierte Art von Strafe) ausspricht, bedarf mithin der klaren Festlegung ihrer Voraussetzungen: nullum damnum sine lege. Wer wollte aber leugnen, dass man diese Klarheit für das aktuelle Institut der culpa in contrahendo nur leugnen kann? Doch kennzeichnet der Satz „Kein Schadensersatz ohne Schuld“ nur das eine Extrem, nämlich den Ausschluss jeglicher Haftung, wenn sich nicht ein „subjektives Unrecht“ nachweisen lässt. Alles andere wäre casus und daher vom Geschädigten als allgemeines Lebensrisiko selbst zu tragen. Bei diesem Gedanken bleibt Jhering jedoch nicht stehen. Vielmehr entwickelt er aus diesem Ansatz einen nicht nur äußerst konsequenten, sondern einen in dem benannten verfassungsrechtlichen Zusammenhang ebenso bekannten Gedanken: Den Gedanken der Angemessenheit von Haftungsumfang und Schuld; und dieses „Gleichgewicht zwischen Verschuldung und Vergeltung“ bedeutet notwendig die Unmöglichkeit einer „Totalkompensation“. Es ist nämlich „… ein sehr scheinbarer Gedanke: wenn Schuld und Schaden bewiesen sind, verstehe sich die Verpflichtung zum vollen Schadensersatz von selbst, oder anders ausgedrückt: es genüge für letzteren der blosse Causalnexus. Aber jener Schluss ist ein Trugschluss, und zwar ein höchst gefährlicher. Soll der Mandatar haften, wenn er es versäumt hat, einen Brief, von dessen rechtzeitiger Abgabe für den Absender tausende von Thalern abhängen, zu bestellen? Der Causalnexus lässt sich hier möglicherweise mit der grössten Evidenz herstellen. Aber wer wird noch contrahiren wollen, wenn er eine kleine Vergesslichkeit mit seinem ganzen Vermögen bezahlen soll?“165

163  Vgl. nur Zöllner, Zivilrechtswissenschaft und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert, AcP 188 (1988), 85 ff.; Mansel, Eigen‑ und Fremdverantwortung im Haftungsrecht (2000), S.  425–442 m. w. N. 164  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 61; vgl. auch S. 66: „Das Strafprincip im Privatrecht ist der Gedanke einer niederen Culturstufe, welcher dem Fortschritt des Rechtsbewusstseins und der Rechtsentwicklung unabwendbar erliegt, um das Schadensersatzprincip an seine Stelle treten zu sehen.“ 165 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 55.

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Abgesehen davon, dass hier die Parallele zur „Geißel des Umgangs und Verkehrs“166 bei einer solchen Haftung noch einmal ebenso deutlich wird wie Jherings dezidierte Abkehr von seiner c. i. c.-Konstruktion insbesondere bei Übermittlungsfehlern,167 so tritt doch mit diesem Gesichtspunkt die ganze Problematik der aktuellen Haftungshypertrophie deutlich vor Augen. Wohin führt eine vermeintliche Billigkeitshaftung, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dogmatisch völlig vernachlässigt? Sicherlich entspricht die Idee der Totalkompensation dem Standpunkt des BGB.168 Nur kannte dies eben deshalb in seinem originären Zuschnitt auch von vornherein nur streng begrenzte Haftungstatbestände, nicht aber eine überbordende Haftung für vermeintliche culpa. Die einseitig betriebene Ausdehnung einer intransparenten und gleichwohl umfassenden Haftungsgeneralklausel vernachlässigt demgegenüber nicht nur den zentralen Gedanken von einem ausgewogenen Verhältnis von Schuld und Rechtsfolge, sondern auch das Erfordernis klar definierter Haftungsvoraussetzungen.169 Mit Blick auf eine ehrliche Verschuldenshaftung sind darüber hinaus noch zwei Aspekte anzumerken: Erstens tut für diesen Bereich die Besinnung auf die bereits oben benannte Tatsache not, dass man sich jenseits der Haftung für dolus auch sehr schnell 166 Jhering,

Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/12.  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/83 und im „Nachtrag“ S. 106 ff.; nunmehr konzediert er, wohin seine culpa tatsächlich führt: zur Haftung für bloßen „Causalnexus“. Lediglich an der in diesem Zusammenhang getroffenen Aussage, aus welcher er jene abzuleiten glaubte: „Wer blos einen Andern für irgend eine Verrichtung auszusuchen hat, haftet consequenterweise lediglich für die dabei begangene Nachlässigkeit, (culpa in eligendo) wer dagegen die Leistung selber zu beschaffen hat und sie durch einen Andern vornehmen lässt, haftet für dessen culpa schlechthin.“ hält Jhering weiterhin ausdrücklich fest. (Schuldmoment, S. 47, Fn. 92: „An dieser von mir in meinen Jahrbüchern IV. S. 84, 85 aufgestellten Ansicht halte ich fortdauernd fest.“). 168  Vgl. nur Motive II, S. 17 f. und etwa Thüsing, ZRP 2001, 126: „Der Schaden ist zu ersetzen: in voller Höhe, unabhängig von der Schwere des Verschuldens“ dies sei „allgemein anerkannt in Rechtsprechung und Schrifttum, heute wie schon von vergangenen Generationen (sic!)“ (obwohl er immerhin vorgibt, Jhering gelesen zu haben: Fn. 7; und dass die Aussage auch mit Blick in das preußische ALR eher zweifelhaft ist, wird noch ausführlicher zu zeigen sein; vgl. dementsprechend Art. 51 schw. OR, jetzt Art. 43 f. ZGB, wo ausdrücklich richterliches Ermessen eingeräumt wird). Ausf. Gisawi, Der Grundsatz der Totalreparation (2015). 169  Man wende hiergegen nicht ein, der Vergeltungsgedanke spiele ebenso wie im Strafrecht auch im Zivilrecht keine ernsthafte Rolle mehr (vgl. nur Thüsing, ZRP 2001, 126: „Kompensation und Prävention, nicht Sanktion sind der Zweck des Schadensersatzes“). Der Gedanke der Generalprävention wird selbst bei schwerster Vorsatzkriminalität geleugnet und im Zivilrecht soll er nunmehr das zentrale Argument etwa auch bei leichtester Fahrlässigkeit sein können? Die Problematik des Schadensersatzrechts kann hier nicht in ihrer ganzen Breite erörtert werden. Es muss genügen aufzuzeigen, dass die Erweiterung der Haftung auf leichteste Pflichtverletzungen und den bloßen Causalnexus zu schweren Brüchen mit dem zentralen ethischen Grundsatz von der Schuldangemessenheit der Sanktion führt. Zu den damit verbundenen Reformbemühungen und § 255a des Referentenentwurfs eines „Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensrechtlicher Vorschriften“ vgl. noch Lange, Schadensersatz (2. Aufl., 1990), S. 19 ff.; Diederichsen, Jherings Rechtsinstitute im deutschen Privatrecht der Gegenwart (1996), S. 175/178 m. w. N. 167

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jenseits der Eindeutigkeit der Vergeltung befindet. Ist aber die bloße culpa (das „subjektive Unrecht“) eine nur haftungsrechtliche Krücke, so kommt, will man auch die feinsten Nuancen des neminem laedere ausloten, der sensiblen Feinabstimmung zwischen der Festlegung des auf das Kriterium der culpa verzichtenden „objektiven Unrechts“ und den damit verbundenen Rechtsfolgen eine ganz maßgebliche Bedeutung zu. Jhering hat das Zusammenspiel von Tatbestand und Rechtsfolge anhand der Vindikation sehr anschaulich beschrieben:170 Die Rechtsfolgen variieren hier, je nachdem sich die Sache bei einem deliktischen, einem bösgläubigen / ​verklagten oder einem gutgläubigen Besitzer befindet. Das heißt aber auch, dass selbst wenn jeweils ein Schaden beim Eigentümer eingetreten ist, dies nicht notwendig zu einem Schadensersatzanspruch i. S. einer Totalkompensation verbindet (vgl. § 993 BGB). Die Ausgestaltung des EigentümerBesitzer-Verhältnisses ist insoweit in der Tat ein treffliches Beispiel dafür, wie Rechtsfolgen nach dem Grad des „subjektiven Unrechts“ variieren, nicht aber pauschal nach den eingetretenen Vermögenseinbußen im Sinne einer Totalkompensation zu bemessen sind. Eine Rechtspraxis, die nun im Schuldrecht Gegenteiliges vollführt, hat jedenfalls nur wenig mit „Verschuldenshaftung“ zu tun. Das ganze Spektrum denkbarer Rechtsfolgen wäre in Betracht zu ziehen: von der bloßen Reszission eines nachteiligen Rechtszustandes über einen differenzierenden Bereicherungsausgleich hin zu abgestuftem Aufwendungs-, Nutzungs‑ und differenziertem Schadensersatz171 sowie unterschiedlich gestalteten Verjährungsfristen und Sukzessionsregeln. Das bisherige BGB-System spielt(e) diese Klaviatur in vielfältigen Variationen, und jeweils versucht(e) es durch differenzierte Gestaltung der Rechtsverhältnisse die Angemessenheit von Unrecht und Vergeltung in die Waage zu bekommen. Der Prozess, der von Jhering beschriebenen zweifachen Evolution (1. Ausdifferenzierung des Verschuldensprinzips in der Ausgewogenheit von Verschulden 170 Oben

§ 2 I.1.b.  Es ist interessant, aber auch konsequent, dass die „Lehre vom negativen Interesse“, die Jhering noch in Band IV seiner Jahrbücher für seine c. i. c. als brauchbar befunden hatte, in seiner Revisionsschrift keine Erwähnung mehr findet, obwohl ja gerade die Differenzierung zwischen positivem und negativem Interesse sehr gut in seine Idee vom Gleichgewicht zwischen Schuld und Schadensersatz gepasst hätte. Dass er auch an dieser Theorie, die ja manche bis heute als das bleibende Kernstück von Jherings c. i. c. ansehen, nicht mehr festgehalten hat, macht deutlich, dass er ihr selbst nur die Aufgabe zu gedacht hatte, über das Problem, eine Rechtsfolge trotz Nichtigkeit des Vertrages begründen zu müssen, hinwegzuhelfen. Dass aber mittels der Differenzierung zwischen „positivem“ und „negativem“ Interesse tatsächlich eine angemessene Abstufung der Rechtsfolge erreicht werden kann, war augenscheinlich eine nur zufällige Angelegenheit; noch dazu, weil das „negative“ das „positive“ Interesse ebenso zufällig wie häufig übersteigen konnte. Darüber hinaus lässt das Verschuldensprinzip konsequent allein die Abhängigkeit des Ersatzes von der Schuld, nicht aber vom variablen Gläubigerinteresse zu. Zum Problem dieser Differenzierung ausf. unten § 4 III. (Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse?). 171

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und Rechtsfolge, und 2. Ablösung des „subjektiven Unrechts“ durch eine objektive Fassung desselben) wird deutlich, wenn man sich die prinzipielle Lösung dieser Aufgabe vor Augen hält, wie sie noch im Gefolge des usus modernus etwa im preußischen ALR sich finden lässt: „Der dolus verpflichtet schlechthin zum ganzen Schadensersatz, die culpa nur innerhalb gewisser Gränzen.“172 Das „subjektive Unrecht“ wurde sowohl hinsichtlich Tatbestand als auch der Rechtsfolge fein ausdifferenziert, in einer Art, die man auch „das System der festen Stufen nennen könnte“173; grob vereinfacht meint das: bei dolus und culpa lata voller Schadensersatz nebst entgangenem Gewinn, bei culpa levis der unmittelbare und mittelbare Schaden, die culpa levissima prästiert hingegen nur noch für den unmittelbaren Schaden, bei casus geht der Geschädigte leer aus. Zu einem flexiblen Abschluss hat diese Idee im schweizerischen Obligationenrecht (1881) gefunden. Hier gibt es keine festen Abstufungen, aber ein Ermessen für den Richter: „… in Würdigung sowohl der Umstände als der Größe der Verschuldung“. Die Zumessung des Schadensersatzes entspricht in dieser Sicht also noch ganz folgerichtig der relativen Strafzumessung im Strafrecht: je nach Schwere der Schuld. Auch hier mag man nun einwenden, das BGB habe diese Differenzierung nach Verschuldensgraden gerade nicht übernommen. Dabei wird freilich übersehen, dass die Sache im BGB bereits sehr viel feiner in objectiven Regelungen differenziert und verwoben ist und wird vielleicht gerade deshalb von einer „hochentwickelten“ Wissenschaft, „deren geistiges Auge durch Principien umflort ist“,174 nicht mehr wahrgenommen. Die damit verknüpfte Beschränktheit des wissenschaftlichen Geistes hat wiederum Jhering sehr treffend zusammengefasst, wenn er klarstellt, dass sich „vielleicht nicht jeder Jurist … Rechenschaft darüber gegeben (habe), mit wie feinem Verständnis für die Eigenartigkeit der einzelnen Contractsverhältnisse die drei Hauptmaßstäbe der culpa: die culpa lata, levis und diligentia quam in suis bei ihnen zur Anwendung gebracht worden sind“.175 Es würde zu weit führen, dies an dieser Stelle umfänglich nachzuzeichnen. Sehen 172 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 56 m. w. N. Nach dem seinerzeit im usus modernus gelehrten Schadensersatzrecht unterschied man vier Verschuldensgrade (oben im Text) und je nach Schwere wurden drei mögliche Schäden (Lehre vom Interesse) zugeordnet: 1. damnum circa rem (der unmittelbare Schaden), 2. damnum extra rem (der weitere, mittelbare Schaden), 3. lucrum cessans (der mögliche Gewinn). „Voller Schadensersatz“ bei „dolus“ bedeutet dann, alle drei Schäden können geltend gemacht werden. Bei geringerem Verschulden und in Abhängigkeit vom Mitverschulden wurde entsprechend und für die einzelnen Verhältnisse durchaus differenziert nachgelassen; vgl. hierzu im ALR nur die §§ 285 ff. I 5 (Interesse bei Verträgen), die §§ 2 ff. I 6 (bei unerlaubter Handlung); aus der Literatur nur: Bornemann, Preußisches Zivilrecht II (1842), S. 170 ff.; Förster, Theorie und Praxis des heutigen gemeinen preußischen Privatrechts I (1866), § 90, S. 533 ff.; zu dieser Abstufung auch noch unten: § 3 II.2. (Die Generalklausel in den Kodifikationen); daneben auch die §§ 1149 ff. Code Civil (für kontraktliches Verschulden) und § 1324 im österreichischen ABGB. 173  Hedemann, Fortschritte des Zivilrechts im XIX Jahrhundert (1910), S. 100 m. w. N. 174  Jhering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (1894), S. 18 f. 175 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 53.

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wir insoweit nur einmal exemplarisch darauf, wie bereits der dolus eine differenzierte positive Ausprägung im BGB gefunden hat. Denn selbst der dolus ist nicht einfach dolus, sondern enthält bereits in sich unterschiedliche Grade subjektiven Unrechts, die auch unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich ziehen: Das betrifft in konsequenter Anknüpfung an das oben Gesagte zunächst bereits die ausdifferenzierten Pflichten in den Vertragsverhältnissen selbst: Denn da „der Pflichtenkreis in dem einen Verhältnis sich weiter erstreckt als in dem andern, so ergibt sich daraus, dass eine Handlung, die in dem einen Verhältnis eine völlig erlaubte ist, in dem andern eine dolose sein kann. Dass Käufer und Verkäufer bei Abschluss des Handels sich lediglich durch ihr eigenes Interesse leiten lassen, auch wenn sie wissen, dass der Vertrag dem andern Theil nachteilig ist, ist ganz in der Ordnung176; keiner von ihnen braucht den Vormund des Anderen zu spielen, jeder sorgt hier für sich selber und darf dasselbe vom Gegner voraussetzen. Aber ein Mandatar oder Vormund, kurz alle Geschäftsführer, die ein Gleiches thun, versündigen sich gegen die Natur des Verhältnisses, denn der Zweck desselben besteht gerade darin, dass sie das Interesse des Geschäftsherrn wahren sollen; sie also begehen damit einen dolus.177“178 Die Sache wird anschaulich aber auch und besonders bei der Art, wie die actio doli ihre konkrete Ausprägung im BGB erfahren hat: Da ist zunächst der schwerste Fall in Gestalt des strafrechtlichen Betruges (§ 263 StGB). Das Unrecht liegt in der Täuschung zum Zwecke der persönlichen Bereicherung. Das diesbezüglich abgeschlossene Rechtsgeschäft ist ipso iure nichtig (§ 134 BGB), die Vermögensverschiebung konnte179 unabhängig von einer Frist jederzeit restituiert werden (§ 812 BGB), und der Betrüger hat darüber hinaus allen Schaden zu ersetzen, der dem Betrogenen aus dieser Tat erwachsen ist (§ 823 II BGB i. V. m. § 263 StGB). Auf Schadensersatz haftet sodann auch derjenige, dem es gar nicht um die eigene Vermögensmehrung, sondern allein um die Schädigung des anderen ging (§ 826 BGB). Die Möglichkeit einer Restitution kommt hier grundsätzlich nicht in Betracht, sondern allenfalls dann, wenn ein anderer durch das dolose Verhalten bereichert wurde und sich dieser gem. § 123 II BGB die 176  Mit Verweis auf D. ​4, ​4, ​16, ​4: In pretio emtionis et venditionis naturaliter licere contrahentibus se circumvenire, und D. ​19, ​2, ​22, ​13. ​ 177  Sie werden sogar als praedones bezeichnet: D. ​3, ​5, ​6, ​3; D. ​26, ​10, ​3, ​15. ​ 178  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 53. 179 Vgl. ursprünglich § 852 BGB a. F. Im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung wurde mit einem wenig klaren S. 2 eine allgemeine Verjährung auch des Herausgabeanspruchs eingeführt. Den Verfassern ging es allein um eine Vereinheitlichung der Verjährung, der tiefere Sinn der Regelung war offenbar weder präsent noch inhaltlich durchdrungen. In der Konsequenz kann nun eine betrügerisch erworbene Leistung nach 10 Jahren nicht mehr herausverlangt werden. Wenig plausibel erscheint auch die zusätzliche absolute Verjährung von 30 Jahren. Diese macht ja nur dann Sinn, wenn die Verjährung ansonsten an den subjektiven Tatbestand der „Kenntnis“ (bzw. Kennen müssen) von den Anspruchsvoraussetzungen anknüpft, nicht aber, wenn die Verjährung rein objektiv an die „Entstehung“ des Anspruchs, d. h. den Zeitpunkt des Vermögensdelikts angelehnt wird.

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§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation

Täuschung zurechnen lassen muss. Der Standardfall des § 123 I BGB ist daneben der, dass es weder auf eine Vermögensverschiebung noch auf einen Schaden ankommt. Die Rechtsfolgen sind entsprechend beschränkt: es gibt eine verkürzte Anfechtungsfrist (§ 124 BGB), und ein Schadensersatzanspruch kommt bei einer bloßen Täuschung gar nicht in Betracht. Das Bild wurde schließlich durch die Arglist beim Verkauf (§ 463 BGB a. F.) vervollständigt: Danach haftet(e) der Verkäufer auch für Mangelfolgeschäden. Das Äquivalenzinteresse des Käufers ist bereits durch die Gewährleistungsrechte hinreichend geschützt. Anders als bei Betrug (§ 263 StGB) und vorsätzlicher Schädigung (§ 826 BGB) geht es bei der Täuschung über Eigenschaften des Kaufgegenstandes in Bezug auf den daraus resultierenden Schaden gar nicht einmal primär um einen dolus, sondern um eine culpa (lata) oder bestenfalls einen dolus eventualis; denn die Arglist bezieht sich nur auf die Verheimlichung des Mangels, nicht aber auf den durch den Mangel schließlich verursachten Schaden. Die gegenüber den deliktischen Ansprüchen kürzere Anspruchsverjährung beim Kauf (§ 477 BGB a. F.) war insoweit nicht nur aufgrund des geringeren Verschuldens beim Verkäufer gerechtfertigt, sondern auch und vor allem aufgrund einer Berücksichtigung des eigenen Verschuldens beim Käufer. Die kurze Mängelgewährleistungsfrist beim Kauf ist nämlich nicht, wie es immer vorgetragen wurde, allein dem Verkehrsschutz geschuldet, sondern ihrerseits wieder Ausdruck des keineswegs gänzlich verdrängten caveat emptor – und mithin des Verschuldensprinzips: Wenn der Verkäufer für verdeckte Mängel Gewähr zu leisten hat, weil nicht immer eine ausgiebige Prüfung durch den Käufer soll verlangt werden können, so ändert sich die Sachlage, wenn der Käufer die Sache in Besitz und Gebrauch nimmt: Er mag nun selber und in Ruhe prüfen und beurteilen, ob und inwieweit die Sache seinen Gebrauchsvorstellungen tatsächlich gerecht und seinen sonstigen Rechtsgütern gefährlich wird. Diese kursorischen Überlegungen mögen genügen, den Grundgedanken eines differenzierten Wechselspiels von Schuld und Rechtsfolge verdeutlicht zu haben. Man mag die eine oder andere Wertung bemängeln und kritisieren. Nur sind letztlich die Gesamtregelung und die Gesamtwertung des Systems immer mit zu bedenken. Gerechtigkeit hat eben nicht nur etwas mit dem (ggf. auch ungezügelten) Rechtsgefühl im einzelnen Fall, sondern mit einer angemessenen Beurteilung eines konkreten Falles neben und im Vergleich zu anderen Fällen zu tun. Die feine Ausdifferenzierung von Verschuldung und Rechtsfolgen macht das deutlich. Dass freilich die Abstimmung zwischen Schuld und Rechtsfolge nur ein Gesichtspunkt gewesen ist und natürlich nicht das ganze System in seinen Ausdifferenzierungen vollständig beschreiben kann, hat auch Jhering in seiner von simplen Prinzipiendeduktionen befreiten Revisionsschrift noch deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wenn die römischen Juristen diese Regel nicht ausnahmslos durchführen, sondern sie zu Gunsten anderer Rücksichten modificieren, und wenn das Gesammtfachwerk der sich gegenseitig kreuzenden und beschränkenden Regeln einen etwas complicirten Eindruck

III. Rechtsdogmatische Besinnung: Culpa als Haftungsbegrenzung

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macht, so ist das eben nur ein Beweis dafür, wie hoch sie ihre Aufgabe gegriffen, und wie wenig sie geglaubt haben mit einer einzigen kahlen Formel der Mannigfaltigkeit der Verhältnisse gerecht werden zu können.“180

Dem ist schwerlich noch etwas hinzuzufügen. Hier ist die ganze Kritik an der immer wieder anzutreffenden Methode, die Mannigfaltigkeit der Rechtsverhältnisse unter ein Prinzip bringen zu wollen im Allgemeinen und an einem Institut wie der culpa in contrahendo im Besonderen formuliert. Mit einer wie auch immer begründeten Haftung für jede culpa oder auch nur für eine culpa in contrahendo werden die fein abgestimmten Bestimmungen des Bürgerlichen Rechts letztlich zu einer Fußnote dieser neuen „einzigen kahlen Formel“, in der das individuelle Rechtsgefühl die Entscheidung des Einzelfalles mit „Consequenz“ diktiert: überflüssige Regelbeispiele einer umfassenden actio culpae. In diesem Zusammenhang (Gleichgewicht von Schuld und Rechtsfolge) darf es dann zweitens nicht verwundern, wenn sich die Generalklausel selbst in offenen Widerspruch zu den ‚gesetzlichen Regelbeispielen‘ setzt. Allein schon mit Blick auf die Rechtsfolgen musste es von Anfang an bedenklich stimmen, wenn diese etwa bei einem dolus in contrahendo schwächer ausfallen (§ 123 BGB: nur 1 Jahr Anfechtungsfrist, nur Bereicherungsausgleich) als bei einer culpa in contrahendo (früher 30, jetzt immerhin noch 10 Jahre absolut, nebst Schadensersatz). Oder während z. B. immerhin die gesetzlich geregelten Fälle den Ersatzanspruch auf das positive Interesse beschränken (§§ 122, 179, 307 a. F. BGB) und hier die Haftung bei culpa des anderen Teils gänzlich entfällt (Culpacompensation181), soll beides für die c. i. c. nicht gelten.182 Die meisten Widersprüche, die dann euphemistisch als „Konkurrenzprobleme“ bezeichnet werden, sind bekannt. Nur gelöst werden sie nicht durch eine Hinterfragung, Beschränkung oder gar Auflösung der Generalklausel, sondern, wie die Diskussion zur Verjährung verdeutlicht hat, durch eine Nivellierung der Unterschiede und also eine Vereinheitlichung der Rechtsfolgen. Differenzierungen werden als „Verwerfungen“ interpretiert und bilden den Grund, sie durch einen einheitlichen Tatbestand und einheitliche Rechtsfolgen zu ersetzen. Wenn dies die Tendenz des Problembewusstseins exemplarisch wiedergibt, so lassen sich das Phänomen und die allmähliche Ausdehnung einer haftungsrechtlichen Generalklausel im Zivilrecht wie folgt beschreiben: Ihr Anwendungsbereich wächst, weil derjenige der konkurrierenden ausdifferenzierten Rechtsinstitute schwindet. Methodologisch lässt sich hier auch von einer prinzipienteleologischen „Schrumpfungsargumen-

 Jhering, Schuldmoment (1867), S. 54.  Ausf. unten § 3 III.2. 182 Das wurde besonders deutlich im Verhältnis von § 307 BGB und culpa in contrahendo angesprochen: vgl. nur Soergel / ​Wiedemann, BGB (12. Aufl. 1990), Vor § 275 Rn. 147; MünchKomm-Thode, BGB (3. Aufl. 1994), § 307 Rn. 4; nach der Schuldrechtsmodernisierung ist dieser Aspekt dann ganz unter den Tisch gefallen. 180 181

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§ 2 Anno 1867: Jherings Revocation

tation“ sprechen,183 die zunächst den Anwendungsbereich der existierenden Regeln bewusst einschränkt (zurechtschrumpft), um dann mit der Behauptung einer Regelungslücke Platz für das eigene Prinzip zu schaffen. Kurz: War ein wesentlicher Teil der Dogmengeschichte im Privatrecht durch Ausdifferenzierung des objektiven Unrechts gekennzeichnet, so liegt in der jüngeren Entwicklung eher eine Tendenz zurück zum Subjektivismus; und zwar sowohl im Hinblick auf das immer wieder behauptete „verfeinerte Rechtsempfinden“ (als methodologische Instanz) als auch in der neuerlichen Faszination für das subjektive Unrecht (als Haftungsbegründung).

183  Hierzu insb. unten § 6 II.2.c (Schrumpfungsargument I), § 7 I.2.b, 3.a (Schrumpfungsargument II).

§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis? „Ex tali culpae obligatio naturaliter oritur, si damnum datum est, nempe id resarciatur.“ Hugo Grotius, 16421 „Culpa ist gar nicht allgemein eine causa obligationis.“ Friedrich Carl v. Savigny, 18402

Nun sind in der neueren Diskussion weder Jherings neuerliche Bekehrung von einer verunglückten dogmatischen Konstruktion noch die zu dieser Distanzierung führenden Gründe hinreichend gewürdigt worden. Im Gegenteil: dass allein das Verschuldensprinzip eine Haftung rechtfertige, kann bis heute als verbreitetes Vorurteil wahrgenommen werden.3 Wie gesehen, entbehrt es auch nicht einer gewissen Faszination, ein Prinzip sogleich zur rechtsverbindlichen Norm zu machen. Das entspricht den Argumentationen, die ihren Standpunkt

 De iure belli ac pacis, lib II, cap. XVII. III (1840), § 138, S. 295 Note (d). 3  So etwa deutlich Heck, Grundriß des Schuldrechts (1929), S. 124: „Der Schaden, der durch Verschulden bei geschäftlichen Verhandlungen entsteht, ist von dem Schuldigen zu tragen und nicht von dem Unschuldigen. Einzelheiten sind noch zweifelhaft und umstritten.“; F. Leonhard, Schuldrecht (1929), S. 546: Dass „bei jedem Verschulden, also auch bei Fahrlässigkeit gehaftet wird, folgt einfach aus § 276 BGB. Eine Beschränkung auf den Fall der Arglist würde sich nicht nur mit dieser gesetzlichen Vorschrift, sondern vor allem auch mit einem alten und bewährten Gedanken unseres Rechts, dem Schuldprinzip, in Widerspruch setzen.“ Das ist im Grundsatz die gleiche Argumentation, mit der Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/452 später meinte, die culpa in contrahendo und die p. V. vor dem „jüngsten Gericht“ (S. 372) zu bewahren, indem er sich auf eine „eingewurzelte Rechts‑ und Richtigkeitsüberzeugung“ berufen hat und an die „Tatsache“ erinnern zu können glaubte, „daß die Anerkennung eines insbesondere auch vermögensmäßigen Schutzes … einer nahezu zeitlosen rechtlichen Wertung“ entspreche; Jhering habe „recht eigentlich nur auf dogmatische Formeln gebracht, was man zu und vor seiner Zeit bereits dachte oder doch zumindest empfand“ und so habe sich seine Theorie „geradezu schlagartig und total durchsetzen“ können. Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 434; wortgleich ders., Konkurrenzprobleme um die culpa in contrahendo, AcP 200 (2000), 91/101: „Gerechtigkeitserwägungen rebellieren dagegen, den Erklärungspflichtigen mit einem lapidaren Hinweis auf § 123 BGB aus seiner Verantwortung zu entlassen. Im Verhältnis zwischen dem schuldhaft handelnden Vertragspartner und seinem schuldlos irregeführten Kontrahenten scheint uns allein letzterer schutzbedürftig.“ Lando, Das neue Schuldrecht, RabelsZ 67 (2003), S. 231/239: „Ich komme jetzt zum Verschulden als Haftungsgrund (…).“ 1

2 System

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

aus gefühlter Billigkeit entnehmen: „Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf?“4 Zunächst wird gefühlt, dann konstruiert. Der Begriff der „Schuld“ liefert sogleich beides in einem: die rechtsethische Wertung ex ante und die dogmatische Begründung ex post. Was methodologisch von derartigen „juristischen Schutzinstinkten“5 zu halten ist, wurde oben hinreichend erläutert6 und bedarf keiner erneuten Vertiefung. Im Folgenden geht es vielmehr darum, verständlich zu machen, dass es nicht ausreichen kann, mit einem allfälligen Hinweis auf ein („gewandeltes“) Rechtsempfinden das von der actio de dolo übernommene „Vorsatzdogma“ des BGB mit Entschiedenheit beiseite zu schieben und damit zu glauben, bereits eine Haftung für culpa begründet zu haben.7 Es ist sicherlich akzeptabel zu behaupten, eine zivilrechtliche Haftung könne und müsse (als Garantie‑ oder Gefährdungshaftung) ganz auf das Kriterium Verschulden Verzicht tun (sog. strict liability) und sich an objektiven Risikozuweisungen des modernen Lebens orientieren. Diese These wäre dann genauer zu begründen. Wenn man aber grundsätzlich an der Überzeugungskraft einer Verschuldenshaftung festhalten will, dann bedarf es zunächst einer Begründung dafür, warum bereits die culpa anstelle des dolus eine causa obligationis sein soll. Dieser Nachweis aber – das sollte bereits aufgrund der soeben im Anschluss an Jherings Revocation gemachten Ausführungen deutlich geworden sein  – lässt sich nicht leicht erbringen. Das Verschuldensprinzip ist als haftungsrechtlicher Begründungstopos augenscheinlich bis heute ausgesprochen lebendig und suggestiv. Das liegt nicht nur an dem immer vorhandenen Hang wissenschaftlicher Bemühungen zum Prinzipiellen, sondern bereits in der gleichsam vorwissenschaftlichen Intuition, Verantwortlichkeit über den Begriff der Schuld zurechnen zu können. Diese Intuition ist, wie gesehen, sehr alt und sitzt nicht zuletzt daher auch sehr tief. Das Bemühen, vom Schuldprinzip Abschied nehmen zu wollen, gliche daher wohl auch dem vergeblichen Bemühen des Sisyphos: Es kann nicht gelingen. Es ist daher umso wichtiger, die Grundlagen dieses Zurechnungsprinzips aufzuhellen und seine Reichweite positiv festzustellen. Dabei ist der Ausgangspunkt von Jhering hinreichend klar benannt: Die originäre, die sodann verfeinerte und zuweilen auch hypertrophe Rolle des Verschuldens ist in der Tat ein Erbe der gemeinrechtlichen Jurisprudenz. Insbesondere sitzt die Vorstellung vom Verschulden als einem allgemeinen Haftungsgrund seit Justinians Kodifikation sehr tief.

 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/5.  Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 434; wortgleich ders., Konkurrenzprobleme um die culpa in contrahendo, AcP 200 (2000), 91/101. 6  § 1 II., III. 7  In diesem Sinne vor allem Grigoleit, Informationshaftung (1997), insb. S. 40 ff.: „Derogation des informationellen Vorsatzdogmas“. 4 5

§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

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Selbst noch Savignys durchaus einschränkende Aussage impliziert, dass er die culpa zwar „nicht allgemein“, aber offenbar doch in bestimmten Fällen als causa obligationis angesehen hat. Dass insoweit die culpa in allen „Contractsverhältnissen“ im Hinblick auf die Pflichterfüllung zur Anwendung kommt, nicht aber als eigenständiger Haftungsgrund neben dem Vertrag in Betracht zu ziehen ist, bedarf hier keiner erneuten Erwähnung.8 Und dass Savigny hierbei anderes gedacht haben könnte, verbietet sich schon aus seiner eigenen Klarstellung, dass in einem Vertragsverhältnis die Obligation aus dem Vertrag und nicht aus der culpa entspringt: „Nur wo ein wirklicher Vertrag vorhanden ist, da ist dieser eine causa obligationis, und die daraus entspringende Obligation kann durch Culpa, wie durch Betrug, modificirt und erhöht werden.“ Die o. g. Einschränkung bezieht sich also nicht auf ein vertragsrechtliches, sondern ein deliktsrechtliches Erbe des römischen Rechts: Es geht um die ausgedehnte und erst in der jüngeren gemeinrechtlichen Rechtswissenschaft wieder eingeschränkte deliktische Haftung der Lex Aquilia. Gedanke und allgemeiner Grund für Savignys eingeschränkte Aussage findet sich dann sehr deutlich bei Friedrich Mommsen ausgeführt, wenn er klarstellt, dass nur der dolus, dem die lata culpa gleichstehe, allgemein als causa obligationis anerkannt sei, die levis culpa aber nur bei Gelegenheit der act. legis Aquiliae als Obligationsgrund vorkomme.9 Und so ist es denn auch kein Zufall, dass Jhering selbst den Fall des Übermittlungsirrtums zunächst (d. h. vor der Konstruktion seiner c. i. c.) ganz spontan unter die actio legis Aquiliae zu subsumieren suchte.10 Kurz: Es war die aquilische Klage, deren Haftungsgrund bis in das gemeine Recht des 19. Jahrhunderts hinein ganz allgemein unter den Gesichtspunkt der culpa gestellt wurde. Jhering hat sich so gesehen also gleich zweimal revidiert: 1. Nein, eine Haftung für die Fälle nichtiger und nicht zur Perfection gelangter Verträge lässt sich nicht durch eine Ausdehnung der aquilischen culpa begründen (→ Konstruktion der c. i. c. 1861). 2. Nein, sie lässt sich überhaupt nicht mittels culpa begründen, weil die culpa – und hier ist Jhering dann streng genommen noch einen Schritt weiter als Savigny und Mommsen – überhaupt nicht als causa obligationis in Betracht kommt: auch nicht beim Delikt! (→ Revocation der c. i. c. 1867).

 8 Hierzu

oben § 2 II.  F. Mommsen, Unmöglichkeit der Leistung (1853), S. 109, 116, 122 ff., 136 Fn. 6; hierzu auch Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/11 f. 10 Jhering, Mitwirkung für fremde Rechtsgeschäfte, JhJb 1 (1857), 273/280 ff.: „Unsere Quellen kennen zwar eine so weite Ausdehnung dieses Begriffs nicht, allein ich glaube, daß man sie, wenn man sich nicht mit den einfachsten Forderungen der Billigkeit in den schroffsten Widerspruch setzen will, kaum wird umgehen können.“  9

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Bei dieser Einsicht könnte es nun bleiben. Doch zeigt die jüngere Privatrechtsgeschichte, dass hier zumindest für alle, denen die Vertrag-Delikt-Dichotomie als dogmatische Einsicht wichtig und der rechtsvergleichende Blick nicht unwichtig ist, ein letzter Zweifel dahingehend verbleiben mag, ob sich nicht aus deliktsrechtlicher Perspektive anderes ergeben könnte. Und insoweit ist hier auch dieser zweite, für die Dogmengeschichte von Verschuldensprinzip und Verschuldenshaftung grundlegende Strang abschließend näher zu beleuchten. Denn spätestens unter dem Einfluss des Vernunftrechts hatte sich die culpa der aquilischen Haftung mit dem zweiten der drei praeceptae iuris des Ulpian,11 namentlich dem allgemeinen Schädigungsverbot (neminem alterum laedere) verbunden und steht so bis heute in einem unlösbaren Zusammenhang mit der Vorstellung von einer großen haftungsrechtlichen Generalklausel, wonach jeder für den durch seine Schuld verursachten Schaden Ersatz zu leisten habe.12 Es ist aus dieser Entwicklung heraus denn auch nur wenig überraschend, wenn bis heute darauf hingewiesen wird, dass es eine culpa in contrahendo bereits im Naturrecht gegeben und Rudolf v. Jhering eigentlich nur etwas entdeckt habe, was es schon längst gab.13 Denn freilich: Wenn und soweit die Haftung für culpa ohnehin als eine allgemeine gedacht wird, dann umfasst diese allgemeine Haftung natürlich auch jede Haftung in contrahendo: „… il suffit d’appliquer le principe général responsabilité contenu dans l’art 1382 du CC.“14 Was nun wiederum von diesem Gedanken zu halten ist, bedarf im Folgenden der abschließenden Betrachtung:

11 Ulpian, D. ​1, ​1, ​10, ​1: „Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“ 12 Hierzu insb. Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/460 ff., der in diesem allgemeinen Gedanken den „rechtsidealen Grund“ auch für die Haftung aus c. i. c. und p. F. erblickt. 13  Vgl. nur Wellspacher, Das Naturrecht und das ABGB (1911), S. 175/196 f.; Wesenberg  / ​ Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte (4. Aufl. 1985), S. 150; Choe, Culpa in contrahendo bei Rudolph von Jhering (1988), S. 203 ff.; schließlich wird selbst in der Regierungsbegründung zu § 311 BGB n. F. darauf verwiesen, dass es eine Haftung für c. i. c. schon im preußischen ALR gegeben hätte (BT-Drucks. 14/6040, S. 161); hierzu unten II.2.c. 14 J. Ghestin, Traité de Droit Civil II (1980), N. 938; das konstatiert dann auch Wellspacher, aaO.: „… und da das Naturrecht … an jede schuldhafte widerrechtliche Handlung eine Schadensersatzpflicht knüpfte, so war es nur folgerichtig, denjenigen für ersatzpflichtig zu erklären, der jene Diligenz beim Vertragsabschlusse außer acht ließ.“ In diesem Sinne auch Förster  / ​ Eccius, Preußisches Privatrecht I (5. Aufl. 1887), § 78 III, S. 456, die deshalb Jherings quasivertragliche Theorie mit dem Hinweis auf die allgemeine Haftung ALR I 6: „Von den Pflichten und Rechten, die aus unerlaubten Handlungen entstehen“ ablehnen.

I. Culpa und Rechtsverletzung

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I. Culpa und Rechtsverletzung „Wo für negligentia soll gehaftet werden, muss positiv diligentia gefordert sein. Diligentia gegenüber fremdem Interesse wird aber principiell nur verlangt, wo man zu einem (mehr oder minder fest) bestimmten Berechtigten in einem Verpflichtungsverhältnis steht; dieses erst zieht nach sich eine Verpflichtung zum Wahrnehmen des fremden Interesses und zum Ueberlegen für dasselbe.“ Carl Christoph Burckhardt, 188515

Dass der dolus eine selbständige causa obligationis ist, unterliegt seit mehr als 2000 Jahren keinem ernsten Zweifel. Spätestens seit der Prätor in Rom eine actio de dolo gewährte, ist die Haftung bei arglistiger Vermögensschädigung ein gesicherter Bestand abendländischer Rechtsentwicklung. Das Problem einer allgemeinen dolus-Haftung ist dann ja auch nicht die Verständigung über das dem dolus anhaftende Unwerturteil, sondern, wie gesehen, seine tatsächliche Feststellung.16 Die Schädigungsabsicht ist ein Internum und der sicheren weltlichen Erkenntnis nicht leicht zugänglich. Es ist daher bereits darauf hingewiesen: Die ganze Kunst der Rechtsgestaltung und ein wesentlicher Teil privatrechtlicher Dogmengeschichte liegt darin, die Arglist durch objektive Tatbestände aus dem Privatrechtsverkehr herauszuhalten. Zwei dogmengeschichtliche Entwicklungsstränge wurden insoweit bereits benannt: 1. Die für die kontinentale Rechtsentwicklung sehr grundlegende Entwicklung der bonae fidei iudicia und die damit unmittelbar zusammenhängende wichtige Konsequenz: der generellen Haftung für das einmal gegebene Wort; d. h. die grundsätzliche Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen. 2. Die bis heute anhaltende Derogation des dolus durch die culpa. Eine von manchen in Begründung zu diesem zweiten Zweck bis heute immer wieder in der einen oder anderen Form vorgetragene – freilich zumeist lediglich angedeutete Geschichtserzählung  – stellt hierzu auf die in vielerlei Hinsicht parallele Entwicklung der lex Aquilia und der actio de dolo zu einer allgemeinen actio culpae ab. Die Geschichte klingt dann etwa so: Die lex Aquilia gewährte zunächst nur einen Schadenersatzanspruch bei vorsätzlicher Sachbeschädigung. Die Klage war mithin sowohl im objektiven als auch in ihrem subjektiven Unrecht streng eingeschränkt. Spätestens mit der Etablierung einer allgemeinen Vorsatzhaftung im Zuge der jüngeren actio doli wurde das Vorsatzerfordernis bei der actio legis Aquiliae durch bloße culpa ersetzt. Im Folgenden erweiterte die actio legis Aquiliae auch ihren Anwendungsbereich über Sachbeschädigungen hinaus auf alle Vermögensschäden, und die in ihrem sachlichen Anwendungsbereich ohnehin schon immer offene actio doli lockerte ihre strengen subjektiven  Culpa lata (1885), S. 74. § 2 II.

15

16 Oben

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Voraussetzungen wenigstens für die culpa (lata). Am Ende verschmelzen beide actiones unter dem Einfluss vernunftrechtlicher Abstraktionen in einem einheitlichen allgemeinen Haftungsprinzip: Der Haftung für bloße culpa.17 Diese Quintessenz lässt sich dann positiv belegen, etwa mit: Grotius: „Ex tali culpae obligatio naturaliter oritur.“18 Pufendorf: „Auf Schadensersatz haftet nicht nur, wer einem anderen vorsätzlich schadet, sondern auch derjenige, der ohne unmittelbare Absicht in leicht zu vermeidender Weise sorglos oder fahrlässig handelt.“19 § 10 ALR I, 6 „Wer einen anderen aus Vorsatz oder grobem Versehen beleidigt, muss demselben vollständige Genugtuung leisten.“ Art. 1382 f. CC: „Tout fait quelconque de l’homme, qui cause à autrui un damage, oblige celui par la faute duquel il est arrivé, à le réparer. Chacun est responsable du dommage, qu’il a cause non seulement par son fait, mais encore par sa negligence ou par son imprudence.“ § 1295 ABGB: „Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern, der Schade mag durch Übertretung einer Vertragspflicht oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein.“

Und noch der Erste Entwurf zum BGB enthielt nach der Ansicht mancher in diesem Sinne eine „große haftungsrechtliche Generalklausel“. Das Lamento wendet sich dann gegen die Pandektistik und den Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert. Denn offenbar gab es allein für die herrschende Auffassung der gemeinrechtlichen Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts keine allgemeine Haftung für fahrlässig verursachte Vermögensschäden, gab es keine zur actio culpae erweiterte actio legis Aquiliae, und entsprechend haben auch die Verfasser des BGB einer entsprechend weiten Schadensersatzregelung eine Absage erteilt. Die hierüber immer wieder vernommene Klage hat Tradition. Noch in den Motiven zum 1. Entwurf findet sie sich sogar als eine „berechtigte“ explizit aufgeführt. Je nach Ausgangspunkt kann diese Kritik an der eingeschränkten deliktischen Haftung im BGB in zwei Gestaltungen auftreten: 17 Aus der umfangreichen Literatur nur Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959); Robert Feenstra, Zum Ursprung der deliktischen Generalklausel in den modernen europäischen Kodifikationen, ZEuP 9 (2001), 585 ff.; Helmut Koziol / ​Barbara C.  Steininger (Hg.), European Tort Law (2001); Eltjo J. H.  Schrage (ed.), Negligence. The Comparative Legal History of the Law of Torts (2001). 18  De iure belli ac pacis (1625), lib II, cap. XVII, § 1: „Maleficium hic appelamus culpam omnem, sive in faciendo, sive in non faciendo, pugnatem cum eo, quod aut homines communiter, aut pro ratione certae qualitatis facere debent. Ex tali culpae obligatio naturaliter oritur, si damnum datum est, nempe id resarciatur.“ (Unrecht wird hier jedes Verschulden genannt, es bestehe im Tun oder Unterlassen, wenn es dem widerspricht, was die Menschen überhaupt oder nach ihrer besonderen Eigenschaft zu tun verpflichtet sind. Aus solchem Verschulden entspringt eine natürliche Verbindlichkeit, den verursachten Schaden zu ersetzen.). Hierzu: Feenstra, Grotius’ doctrine of liability for negligence (2001), S. 129 ff. insb. S. 138 ff.: culpa als „key concept“. 19 Über die Pflicht (1673/1994), I, VI, § 9.

I. Culpa und Rechtsverletzung

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Die Kritik gilt entweder der neuerlichen Begrenzung des Schadensersatzes auf Sachbeschädigungen (Einschränkung des objektiven Unrechts): „Entschieden ist es die Tendenz der mittelalterlichen und gemeinrechtlichen Entwickelung gewesen, sich über diese Beschränkung hinwegzusetzen und überall, wo Schuld Schaden verursacht hatte, die Gestattung einer actio legis Aquiliae utilis mindestens anzustreben. Die moderne Deutsche Jurisprudenz mit ihrem puristisch-Romanisirenden, alle mittelalterlichen Rechtsfortbildungen als Missbildungen verwerfenden Streben hat uns wieder auf den alten Römischen Standpunkt zurückgeschraubt. Ja, so tief ist die Anschauung, daß Aquilischer Schadensersatz nur für körperliche direkte Vermögensbeschädigung gewährt werden könne, in die gesammte juristische Anschauungsweise unserer Richter eingedrungen, daß sogar, wo das Hindernis des positiven Rechts wegfällt, unter der Herrschaft moderner Civilgesetzbücher, welche wie in seinem § 1330 das Oesterreichische bürgerliche Gesetzbuch von dem weitesten Gesichtspunkten ausgehen, die Gerichtspraxis sich der liberalen Anwendung so liberaler Grundsätze völlig enthält.“20

Oder die Kritik gilt der Begrenzung einer umfassenden Haftung für Vermögensschäden auf dolose Schädigungen (Einschränkung des subjektiven Unrechts). Insoweit erscheine es „… entstehungsgeschichtlich längst nicht ausgemacht, daß die Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuches ein Vorsatzdogma festschreiben wollten: So enthielt noch der Erste Entwurf eine deliktsrechtliche Generalklausel, die nach dem Vorbild der französischen Kodifikation auch fahrlässig verursachte Vermögensschäden erfasst hätte; und in der zeitgenössischen österreichischen Diskussion, die das Sachproblem fahrlässiger Falschinformation mit der deutschen teilt, hat man die Verantwortlichkeit des fahrlässig irreführenden Kontrahenten offenbar für selbstverständlich gehalten. Rechtsgeschichtliche Nachforschungen belegen außerdem, daß man zu allen Zeiten Anstrengungen unternommen hat, das vielfach als zu streng empfundene Arglisterfordernis in Teilbereichen aufzulockern. Ein beredtes Zeugnis dafür legt die gemeinrechtliche Parömie culpa lata dolo aequiparatur ab, die später sogar Eingang in die Sammlung französischer Rechtssprichwörter gefunden hat.“21

Beide Kritiken zielen inhaltlich auf dasselbe: Den Wunsch nach einer umfassende(re)n Haftung für (auch nur) fahrlässig verursachte Vermögensschäden; oder um in der römisch-rechtlichen Tradition zu bleiben: eine Verschmelzung der  So Landsberg, Iniuria und Beleidigung (1886), S. 107 f. Informationsasymmetrie (2001), S. 433; wortgleich ders., AcP 200 (2000), 91; in diesem Sinne historisch argumentieren auch: S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997), S. 341 f.; Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997), S. 71: „Der Vorrang des Vorsatzdogmas gegenüber den Entwicklungstendenzen des vorvertraglichen Schutzprinzips wird schließlich auch durch historische Umstände in Frage gestellt. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Vorsatzdogma und den heute anerkannten, allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo war nämlich bei Erlaß des BGB noch nicht absehbar. Die ‚Entdeckung‘ der culpa in contrahendo durch von Jhering war jung und auf Fälle der Herbeiführung unwirksamer Vertäge beschränkt; die dogmatische Durchdringung der culpa in contrahendo war unausgereift.“; ähnlich: Paefgen, Haftung für mangelhafte Aufklärung aus culpa in contrahendo (1999), S. 28: „Entgegen den Autoren, die dem Vorsatzelement des § 123 BGB eine Sperrwirkung entnehmen wollen, spricht für ein Nebeneinander von Anfechtung und Vertragsaufhebung aus culpa in contrahendo, daß der erste Entwurf des BGB noch eine deliktische Generalklausel enthielt, den Ersatz bloss fahrlässig verursachter Vermögensschäden also durchaus im Blickfeld hatte.“ 20

21 Fleischer,

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

actio doli und der actio legis Aquiliae zu einer actio culpae. Ob man bei dieser die sachliche Ausdehnung auf primäre Vermögensschäden vornehmen oder bei jener den dolus durch die culpa ersetzen will, ist letztlich nur eine Frage des dogmatischen Ausgangspunktes. Das Ziel der allgemeinen Kritik also scheint klar. Nur an ernstzunehmenden Argumenten fehlt es bisher. „Rechtsgeschichtliche Nachforschungen“, die lediglich auf französische Rechtssprichwörter und die französische Generalklausel verweisen, greifen jedenfalls zu kurz. Denn bei genauerem Blick bestätigen sich die bereits gefundenen Ergebnisse: Das „Verschuldensprinzip“ besagt gerade nicht, dass die culpa bereits eine hinreichende causa obligationis ist. Die culpa bezieht sich durchgängig auf eine positive Rechtsverletzung (objektives Unrecht!): Sie kann insoweit entweder begrifflich mit der Rechtsverletzung identisch sein (Synonymität von culpa und Rechtsverletzung); culpa meint dann also objektives Unrecht. Oder sie kann als zusätzliche Haftungsvoraussetzung hinzutreten (culpa als besonderes Kriterium subjektiven Unrechts); culpa meint dann den Gesichtspunkt der Haftungsbeschränkung.

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae „Es ist eine alte Klage, das geltende materielle Recht sei, von dem franz. Rechte abgesehen, zum Schutze der Beschädigten unzureichend. Dieser Klage, wenn sie auch zu nicht geringem Theile auf irrtümlichen Voraussetzungen oder Anschauungen beruhen mag, läßt sich doch nicht jede Berechtigung absprechen …“ Motive zum BGB, 188822

1. Postklassisch: Ausdehnung der actio legis Aquiliae „Man hat in unsrer Lehre in mehrerem Betracht ordentlich die Extreme aufgesucht, gleichsam als wollte man die beiden äußersten Enden der culpa, die man annahm, sofort an sich selbst versuchen. So sprechen hier in neuerer Zeit einige unaufhörlich von technischen Bedeutungen, und wollen alles recht streng juristisch fixieren, andere dagegen machen es dem Römischen Sprachgebrauch so bequem, daß man gar nichts mehr hat, woran man sich halten kann, und alles einem unter den Händen unbestimmt und vulgär wird.“ Johann Christian Hasse, 181523

Die Derogation einer Haftung für absichtliche Beschädigung (dolus) durch den Gesichtspunkt der culpa ist also für die abendländische Privatrechtsgeschichte auf das Engste mit der Entwicklung der actio legis Aquiliae verbunden.24 Wichtig  Motive (1888), Bd. 2, S. 726.  Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 2. 24 Aus der umfangreichen Literatur zur Lex Aquilia: v. Löhr, Die Theorie der Culpa (1806); 22 23

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

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und für die folgende Entwicklung des Schadensersatzrechtes zentral ist hier dreierlei: 1. Die älteste Haftung ist eine Haftung für objektives Unrecht, das sich für das römische Recht mit dem von den XII Tafeln überlieferten Generaltatbestand der iniuria benannt findet.25 2. Das Bewusstsein für eine Differenzierung zwischen einer Haftung für dolus und einer solchen aus culpa hat sich begrifflich zuerst bei den Contractsverhältnissen entwickelt,26 dann aber im Rahmen einer Haftung für Sachbeschädigungen bei den Voraussetzungen der actio legis Aquiliae deutlich im juristischen Bewusstsein manifestiert.27

Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815); Lenel, Culpa lata und culpa levis, ZSRom 38 (1917), 263 ff.; Kunkel, Exegetische Studien zur aquilischen Haftung, ZSRom 49 (1929), 158 ff.; König, Das allgemeine Schadensersatzrecht im Mittelalter im Anschluss an die lex Aquilia (1954); H. Kaufmann, Rezeption und Usus Modernus der Lex Aquilia (1958); Hoffmann, Die Abstufung der Fahrlässigkeit (1968); v. Lübtow, Lex Aquilia (1971); MacCormack, Custodia and Culpa, ZSRom 89 (1972), 149 ff.; MacCormack, Aquilian Culpa (1974), S. 201 ff.; Benöhr, Zur außervertraglichen Haftung im gemeinen Recht (1976), S. 689 ff.; Pugsley, On the Lex Aquilia and Culpa, TR 50 (1982), 1 ff.; Kiefer, Die Aquilische Haftung im ALR (1989); J. Schröder, Die zivilrechtliche Haftung für schuldhafte Schadenszufügung im deutschen usus modernus (1995), S. 144 ff.; ausf. auch: Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 953 ff.; Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003). 25  Hierzu bereits oben § 2 II. (Objektivität des Rechts). Als Ausgangspunkt gilt: XII Tab. 8, 4: SI INIURIAM [ALTERI] FAXSIT, VIGINTI QUINQUE POENAE SUNTO. Deutliche Anklänge auch noch in Inst. 4.4.pr.: Generaliter iniuria dicitur omne quod non iure fit … (Als iniuria (Unrecht) wird im Allgemeinen alles bezeichnet, was nicht rechtmäßig geschieht …). Die Eingrenzung dieses Tatbestandes hat aufgrund der Verselbständigung der aquilischen Haftung (ab Mitte, Ende des 3. vorchristlichen Jahrhunderts) der römischen Rechtswissenschaft seit jeher Sorgen bereitet, und es verwundert nach allem bereits Gesagten nicht, dass sich auch Jhering nach culpa in contrahendo und Schuldmoment endlich eingehend dem objektiven Unrecht zugewandt hat: Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, JhJb 23 (1885), 155 ff.; vgl. daneben nur Landsberg, Iniuria und Beleidigung (1886); D. V.  Simon, Begriff und Tatbestand der ‚Iniuria‘ im altrömischen Recht (1965); Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1050 ff. 26 Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 70: „Die Römer trugen die Rechtslehre der Culpa bald hie bald da, aber immer bey einzelnen Contracten, also beym Obligationenrecht vor …“ 27 Paulus, D. ​9, ​2, ​30, ​3: „In hac … actione … dolus et culpa punitur“. Die Klage erforderte zunächst ein „widerrechtliches Handeln“ im Bewusstsein der Schädigung, vgl. nur Kaser, Römisches Privatrecht I (1972), § 41 IV („Die Tat muß nach beiden Kapiteln ‚unrechtmäßig‘ (iniuria) begangen worden sein, darin hat man wohl den dolus malus mitbegriffen.“); § 118 II, 2 (Alle Deliktstatbestände setzen „den wissentlichen Eingriff in die fremde Rechtssphäre (dolo sciens) voraus. Dieser dolus braucht bei furtum, iniuria usw. nicht besonders erwähnt zu werden, weil er schon im Namen des Delikts mit enthalten ist. Auch für die Tatbestände der lex Aquilia ist das Erfordernis des dolus für die Anfänge zu vermuten.“); in spätrepublikanischer Zeit wird jedoch das Vorsatzerfordernis aufgegeben und die Haftung auf culpa ausgedehnt: Kaser, aaO., § 118 II, 3; § 144 I; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1005 ff.

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3. Die culpa tritt hier vermutlich ebenso als dolus praesumtus an die Stelle des mit dem Begriff der iniuria immer verbundenen Vorsatzerfordernisses.28 Schließlich heißt es dann nicht mehr damnum iniuria datum, sondern damnum culpa datum.29 Und seither ist für die weitere Privatrechtsgeschichte die Vorstellung von einer allgemeinen Haftung für culpa untrennbar mit dieser Klage verbunden. Aus dem Satz, dass für Unrecht (Beschädigung als iniuria) gehaftet werde, „wurde allmählich der Grundsatz, daß jeder verschuldete Schaden zu ersetzen sei“.30

28 „[T]he

actio iniuriarum dealt with situations that where typically characterized by the presence of dolus“ (Zimmermann, Law of Obligations, S. 1014, 1059 ff.). Das ist als Ausgangspunkt für den Bedeutungswandel der iniuria im Rahmen der aquilischen Haftung immer mit zu berücksichtigen. Es ist nicht leicht anzunehmen, dass der Begriff „iniuria“ bereits in der vorklassischen Zeit vom dolus getrennt gedacht wurde; zur Gleichsetzung von iniuria und culpa vgl. dann etwa Ulpian, D. ​9, ​2, ​5, ​1: „Iniuriam autem hic accipere nos opportet non quemadmodum circa iniuriarum actionem contumeliam quandam, sed quod non iure factum est, hoc est contra ius, id est si culpa quis occiderit …“, sowie die Betonung der Gleichstellung von dolus und culpa unter dem Begriff der iniuria bei Gaius, Institutiones III, 211: „Iniuria autem occidere intellegitur, cuius dolo aut culpa id acciderit.“ Die Abgrenzungsbemühungen zur actio iniuriarum setzen das Bewusstsein für eine Differenzierung von dolus und culpa voraus. Nicht unplausibel scheint, dass auch die Notwendigkeit, Unterlassungen im Rahmen der aquilischen Haftung zu erfassen, eine Rolle gespielt haben kann; denn hier tritt 1. bereits die begriffliche Nähe von Nachlässigkeit und Unterlassen deutlich in Erscheinung und vor allem aber auch 2. die Nähe zur Haftung für culpa in anderen Verhältnisses: Es bedarf des Nachweises einer Obligation zum Tätigwerden, vgl. Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 31: „Was kann aber der Grund seyn, weswegen ein bloßes Nichtthun zur actio le. Aquil. nicht hinreicht? Nichts anderes, als daß … eine Unterlassung, welche Schaden zufügt, niemals schon darum und ohne Hinzutreten eines besondern Verpflichtungsverhältnisses widerrechtlich seyn kann.“ 29 Ulpian, D. ​47, ​10, ​1 pr.; ders., D. ​47, ​6, ​1, ​2; ders. D. ​47, ​10, ​15, ​46; Paulus, D. ​44, ​7, ​34 pr. Die genaue Geschichte dieser Entwicklung ist nicht gesichert; hierzu nur: v. Lübtow, Lex Aquilia (1971), S.  83 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1004 ff. m. w. N. Mir erscheint die bereits oben beschriebene Derogation des Dolus-Erfordernisses (vgl. oben § 2 II. „Objektivität des Rechts“) auch hier plausibel. Die Annahme eines speziellen Iniuria-Konzeptes, das primär die Rechtsfertigungsgründe erfassen soll, ist dann eine Folge der Derogation, weil nun – mit dem Verzicht auf eine dolose Schädigung – dem Begriff der iniuria eine neue Bedeutung zuteil werden musste. Diese neue Bedeutung findet sich dann etwa bei Ulpian (D. ​9, ​2, ​5, ​1) und Inst. 4, 3, 2, im Sinne von „nullo iure occidere“ als „negative Widerrechtlichkeit“ gleichsam als Gegenstück zur originären iniuria der XII Tafeln, die eine „positive Widerrechtlichkeit“ beschreibt. Zum Problem der „positiven“ und „negativen“ Rechtswidrigkeit sogleich unten im Text. 30 Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 256; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1006: „This more refined criterion must soon have superseded or swallowed the older concept of iniuria: damnum iniuria datum was replaced, for all practical purposes, by damnum culpa datum.“

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a) Die Larva legis Aquiliae „Die Lehre von der culpa in diesem Sinn ist also mit der Lehre von unerlaubten Handlungen eine und dieselbe, und erstreckt sich so weit, als das ganze Recht, denn bei jeglichem Recht sind dasselbe verletzende Vergehungen möglich und diese immer sind culpa; die Lehre von unrechtmäßigen Beschädigungen aber ist nur ein Theil derselben.“ Johann Christian Hasse, 181531

Manche nehmen insoweit an, die culpa habe bereits im klassischen römischen Recht eine haftungsbegründende Rolle übernommen.32 Doch muss man hier genau hinsehen; denn es steht hier wie bereits bei den Vertragsobligationen: Wo die culpa an die Stelle des dolus tritt, hat sie logisch eine haftungsbeschränkende, nicht aber haftungsbegründende Funktion.33 Dieser Zusammenhang wird freilich aus zwei Gründen regelmäßig verdeckt: 1. Da ist zunächst ein begriffliches Problem; denn die Römer haben den Begriff der culpa durchaus in einem weiten Sinne gebraucht: „Der allgemeinste, aber auch noch sehr vage Begriff von culpa ist ein Vergehen gegen irgend eine Regel, welche zu befolgen war, und man konnte in der Sprache des gemeinen Lebens von einem Flötenspieler, der durch verkehrtes Spielen die Harmonie störte so gut sagen, daß er in culpa sei, als man im Deutschen von ihm sagen kann, daß er an der Störung Schuld sei, oder ihn die Schuld der Disharmonie treffe.“34 Bei dieser Konnotation des Begriffes der culpa wurde mithin schlichtweg von jedem subjektiven Unrecht (dolus bzw. culpa i. e. S.) abstrahiert. D. h.: ob hier aus Tücke, aus Nachlässigkeit oder Unvermögen falsch gespielt wurde, bleibt ganz unbeachtet. Culpa umfasst demnach in diesem allgemeinsten Sinne alles, was gegen eine Regel, gegen Recht oder irgendeine Harmonie bzw. (sittliche) Ordnung verstößt. Noch bis heute heißt es demgemäß im Bußgebet: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Auf die juristische Ebene übertragen bedeutet dies also nichts anderes als „ein Vergehen gegen Recht und Gesetz, eine widerrechtliche Handlung“, mithin eine Übertretung des objektiven Unrechts, das, was die Griechen als adikia bezeichnet haben. Dieser weite culpa-Begriff hat seine Ursache in der Substitution der iniuria durch den Begriff der culpa:35 Es ging  Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 15 f.  So etwa Pugsley, Lex Aquilia and Culpa (1980), S. 11 ff., der meint, die culpa hätte sich bereits neben dem damnum iniuria datum als eigenständiger Haftungsgrund herausgebildet; Jansen (Struktur des Haftungsrechts, S. 255) sieht eine erweiternde Haftungsbegründung lediglich für eine Fallgruppe: Es gehe um mittelbare Schädigungen, bei denen eine Haftung „überhaupt erst im Rückgriff auf den Gedanken der culpa zugerechnet“ wurde. 33  Zutreffend Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 220: „eine haftungsausschließende Funktion“; S. 262: „Normalerweise erfolgt eine Differenzierung von Fahrlässigkeitsmaßstäben nämlich zum Zwecke einer Begrenzung der Haftung oder Strafbarkeit …“; vgl. auch Mayer-Maly, Die Wiederkehr der culpa levissima, AcP 163 (1964), 114/125. 34  Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 11. 35 Vgl. Inst. 4, 4 pr.: … alias culpa, quam Graeci àdíkema dicunt (…). 31 32

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um eine Substitution des mit dem Begriff der iniuria immer verbundenen dolus durch die culpa im engeren, im subjektiven Sinn; doch hat mit dieser Substitution der culpa-Begriff notwendig auch den objektiven Inhalt der iniuria übernommen und so einen weiten Sinn erhalten. Culpa meint daher in diesem weiten Sinne „objektives Unrecht“ (iniuria) und mithin in der Tat eine Haftungsbegründung.36 2. Erst indem man iniuria und culpa wieder begrifflich voneinander scheidet, wird die haftungsbegrenzende Rolle des „subjektiven Unrechts“ deutlich: Gefragt wird, ob für objektive Rechtsverletzung schlechthin auch dann gehaftet wird, wenn der Schaden nicht vorsätzlich, sondern durch Nachlässigkeit verursacht wurde, also auch bei geringer Schuld. Hier liegt dann die eigentliche Rolle des Verschuldensprinzips, die Jhering in seiner Revisionsschrift eindringlich beschrieben hat.37 Wichtig ist freilich, einmal auf die faktische Auswirkung und das eigentliche Motiv dieser juristischen Entwicklung im römischen Recht hinzuweisen. Denn dass mit der Einführung der culpa tatsächlich gar keine Einschränkung der Haftung verbunden ist, sondern faktisch eine Ausdehnung, liegt in der Logik der Sache: Wenn das strenge Vorsatzerfordernis fällt, dann führen notwendig mehr Schädigungen zu einem Ersatzanspruch: Ob nämlich das mit einem roten Tuch vertriebene Vieh in Schädigungsabsicht oder aus purem Jux fortgetrieben wurde,38 ist bei einer nur auf Schadensersatz ausgerichteten Haftung für auch lediglich culposes Handeln ebenso wenig des Beweises bedürftig, wie die Frage, ob man den eingesperrten Sklaven hat absichtlich oder nur aus Versehen verhungern lassen. Die culpa als Substitut für den dolus malus ist bereits ein flexibles normatives Kriterium, mit dem Beschädigungen nach dem Einzelfall zugerechnet werden 36  Zu alledem schon Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), 10 ff., mit dem Fazit S. 52: „Da … culpa im weitesten Sinn die Widerrechtlichkeit einer Handlung andeutet, so darf es niemand wundern, daß die Lehre von widerrechtlichen Schadenszufügungen im Römischen Recht beide Worte oft als gleichbedeutend genommen werden, und daß damnum culpa datum gerade dasselbe sagt, was damnum iniuria datum, und daß sie daher auch beide die objective und subjective Gesetzwidrigkeit umfassen.“; v. Lübtow, Lex Aquilia (1971), S. 83 ff.: „Das Wort ‚iniuria‘ als objektive und subjektive Rechtswidrigkeit (culpa).“ Hiervon zu unterscheiden ist dann eine zweite weite Auffassung zum Begriff der culpa, die sich nunmehr ganz auf das subjektive Unrecht, die „subjektive Zurechnung“ verstanden hat und insoweit alle Grade der Schuld, im Kern also: Vorsatz und Fahrlässigkeit umfasst; vgl. hierzu etwa nur Arndts, Pandekten (9. Aufl. 1877), § 85, S. 118: „Schuld, culpa im weitern Sinn, ist dasjenige Moment in dem Willen eines Menschen, in Beziehung auf eine (positive oder negative) Handlung, vermöge dessen dieser als Urheber einer Rechtswidrigkeit, als Bewirker eines Unrechts erscheint. Diese unrechtliche Willensbestimmung kann in bewußtem Wollen bestehen, es sei nun, daß man absichtlich etwas thue oder absichtlich etwas unterlasse, um den rechtswidrigen Erfolg zu erzeugen. Das ist böser Wille, böser oder rechtswidriger Vorsatz, Arglist, dolus, dolus malus. Sie kann aber auch nur in einem Mangel an gebührender Aufmerksamkeit und Besonnenheit bestehen, in einem Mangel an Energie des Willens, die Verletzung zu vermeiden, ohne die auf das Unrecht gerichtete Absicht. Alsdann heißt die Schuld culpa im engern Sinn, Fahrlässigkeit, Versehen, im Gegensatz von dolus.“ 37  Oben § 2 I., III. 38 Vgl. Gaius, Institutionen III, 202.

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können. Der prozessuale Gesichtspunkt (culpa als dolus praesumtus) befördert ebenso wie bei den Contractsklagen (s. o.) sogleich auch hier eine zweifache materiellrechtliche Entwicklung: Dass die Lex Aquilia ihren pönalen Charakter zugunsten einer reinen, den Schaden ersetzenden Ausrichtung verliert (id quod interest), ist die Konsequenz auf der Rechtsfolgenseite.39 Und auf der Tatbestandsseite ist die Ausweitung einer Haftung für culpa levissima40 und infirmitas41 wiederum nur eine konsequente Folge für eine auf den Ersatz von Schäden ausgerichtete Erfolgshaftung: Das subjektive Unrecht als Abbild des Handlungsunrechts spielt keine Rolle mehr. Man kann dann noch den Gesichtspunkt des subjektiven Unrechts durch weitergehende Gedanken, etwa den des „Übernahmeverschuldens“, anreichern und zu bewahren suchen. Das ändert aber doch nichts daran, dass man mit dem Gesichtspunkt der culpa levissima letztlich an einem Punkt angelangt ist, wo sich die Einsicht Jherings von einem gezwungenen Gebrauch des subjektiven Unrechts bestätigt sieht und sich ein Perspektivenwechsel auf das objektive Unrecht aufdrängt.42 Das wird besonders deutlich bei den Juristen des Mittelalters bis hin zu denen des usus modernus pandectarum, die das Verschuldensprinzip mit dem Stoff der römischen Quellen ganz abstrakt verknüpften und so auch für die lex Aquilia Sorgfaltsanforderungen aufstellten, die sich bei den Römern nur für besondere Vertragsverhältnisse finden lassen. Gefordert wird die exactissima diligentia eines diligentissimus paterfamilias – was immer das sein soll: „Can one be more diligent then diligent? The medieval lawyers evidently thought so …“.43 Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung liegt vermutlich bereits bei Justinans Juristen, die, nach einem allgemeinen Haftungsprinzip suchend, dieses

39 Diesen Wandel betont Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 237 ff. m. ausf. N.; vgl. auch v. Lübtow, Lex Aquilia (1971), S. 36 ff.; mir erscheint in diesem Zusammenhang auch und bereits die These von Hasse, Culpa (1815), S. 82 durchaus nicht unplausibel, dass der unbekannte zweite Teil der Lex Aquilia etwas über die Strafen enthielt, „was nachher durch Sullas Gesetzgebung, namentlich die Lex Cornelia unbrauchbar gemacht worden (…)“ sei. 40  Ulpian, D. ​9, ​2, ​7, ​2 (Haftung auch beim ausrutschen); Ulpian, D. ​9, ​2, ​44 pr.: In lege Aquilia et levissima culpa venit; hierzu nur v. Lübtow, Lex Aquilia (1971), S. 93 f.: „Es soll nicht etwa die culpa in verschiedene Grade eingeteilt werden (lata, levis, levissima), sondern nur gesagt sein, daß der Täter selbst für das kleinste Versehen haftet.“ 41  Gaius, D. ​9, ​2, ​8, ​1 (überforderter Maultiertreiber): infirmitas culpae adnumeratur; ebenso Inst. 4, 3, 8: „sed et si propter infirmitatem … aeque culpae tenetur“. 42  Ausf. zu alledem Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 237 ff. insb. S. 252 ff. 43  Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 192; Gaius, D. ​13, ​6, ​18 pr. und: „The superlatives … (diligentissimus paterfamilias, exactissima diligentia) are not easy to understand. For normal negligence, we would expect to find a reference to the diligens paterfamilias.“; zu alledem ausf.: W. Engelmann, Schuldlehre der Postglossatoren (1895); König, Das allgemeine Schadensersatzrecht im Mittelalter im Anschluss an die lex Aquilia (1954); Kaufmann, Rezeption und Usus Modernus der Lex Aquilia (1958); Hoffmann, Abstufung der Fahrlässigkeit (1968); Hochstein, Obligationes quasi ex delicto (1971); J. Schröder, Die zivilrechtliche Haftung für schuldhafte Schadenszufügung im deutschen usus modernus (1995), S. 144 ff.

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schließlich in der culpa ausgemacht haben.44 Aber wer auch immer es zuerst gewesen ist: Zum Verständnis für diese Entwicklung ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die aquilische Haftung bereits im klassischen römischen Recht durch die Gewährung von an die Lex Aquilia angelehnte actiones in factum und in utilis immer weiter ausgedehnt worden war.45 Jeder Versuch einer systematischen Erfassung dieser Klagevielfalt bedurfte daher eines alle diese Klagen verbindenden Haftungsprinzips. Da nun aber der Begriff der iniuria als Generalbegriff nicht (mehr) zur Verfügung stand, weil dieser historisch in Gestalt der actio iniuriarum unauflöslich mit einem engeren Verständnis von Rechtsverletzungen verknüpft war, so blieb in der Tat nur die culpa als übergreifender Haftungsgedanke. Dieser für die weitere Entwicklung wichtige Zusammenhang, der den Begriff der culpa gleichsam zum Zentralbegriff der unerlaubten Handlungen hat werden lassen, findet sich bereits deutlich ausgesprochen bei Ulpian (D. ​18, ​5, ​1): „Iniuriam autem hic accipere nos oportet, non quemadmodum circa iniuriarum actionem, contumeliam quandam; sed quod non iure factum est, hoc est, contra ius, id est, si culpa quis occiderit; et ideo interdum utraque actio concurrit, et legis Aquiliae et iniuriarum, sed duae erunt aestemationes, alia damni, alia contumeliae. Igitur iniuriam hic damnum accipiemus culpa datum, etiam ab eo, qui nocere noluit.“ („Iniuria heißt hier nicht, wie bei der actio iniuriarum so viel als contumelia, sondern bedeutet, dass unrecht, also hier gegen das Recht gehandelt wurde, mithin, dass aus culpa getötet wurde; daher konkurrieren gelegentlich die actio legis Aquiliae und die actio iniuriarum, doch hat jede ihren eigenen Grund: den Schaden einerseits und die Missachtung der Person andererseits. Also begreifen wir als iniuria jeden Schaden, der aus culpa geschieht, gleichviel ob mit oder ohne Absicht.“)

Die Sache verhält sich insoweit durchaus parallel zur englischen Deliktshaftung46: Hier gibt es zunächst eine allgemeine Klage für objektives Unrecht (writ of trespass), die so gefasste Klage wird zu eng und von Fall zu Fall (on the case) erweitert, schließlich existiert eine Vielzahl von einzelnen Deliktsklagen, die nur noch durch den allgemeinen Gedanken der negligence zusammengehalten werden (action upon the case for negligence). Gleichwohl bedeutet die Haftung für negligence im Common Law heute keineswegs eine allgemeine Haftung für culpa. In der berühmten Entscheidung Donoghue v. Stevenson stellte das House of Lords insoweit klar, dass eine diligentia eben nur im Rahmen eines Verpflichtungsverhältnisses (breach of a duty owed to the complainant) geschuldet wird.47  Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 267. nur Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 993 ff., S. 995: „As far as the lex Aquilia is concerned, the action in factum was competent where the factual circumstances of a specific case did not fit in with the statutory verbs (occidere, urere frangere rumpere); an actio utilis, on the other hand, was the apposite remedy to extend the right to sue to persons other than the owner.“; ausf.: v. Lübtow, Lex Aquilia (1971), S. 135 ff. 46  Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 908 ff. 47 Donoghue v. Stevenson [1932] AC 562 (HL) 579: „The Law appears to be that in order 44

45 Vgl.

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Diesen Gedanken haben wir schon kennen gelernt: Eine ‚Haftung für culpa‘ setzt eine zur Sorgfalt verpflichtende Obligation voraus. Doch zurück zur Entwicklung im römischen Recht: Das die Haftung einigende Schuldmoment wird im Mittelalter und im usus modernus nicht nur in allen Feinheiten durchdekliniert, sondern ebenso wie bei Jherings Konstruktion der culpa in contrahendo auch komplett desavouiert: „Wer eine Teetasse in die Hand nimmt und sie, von einem unerwarteten Schuß erschreckt, fallen lässt, handelt in diesem Sinne fahrlässig.“48 Zutreffend konstatiert Nils Jansen: „Es liegt bei einem modernen Vorverständnis nahe, in einer solchen culpa levissima ein Institut zu sehen, das einer ‚Fahrlässigkeit ohne Verschulden‘ entspricht, also die bloße Reformulierung einer der Sache nach objektiven Haftung in einer Terminologie fingierten Verschuldens bildet.“49 Und wir sehen auch hier die Einsicht Jherings in den „Unfug“, den Prinzipien auch in der Wissenschaft immer anzurichten geneigt sind, trefflich bestätigt: Die Diskussion konzentriert sich mit Akribie auf ein Prinzip (hier die culpa), das für die eigentliche Frage (hier den Haftungsgrund) gar nicht zentral ist. In moderner Terminologie kann man die Sache auch so formulieren: Zentral für die Haftung ist immer noch die objektive Rechtsverletzung, das (objektive) Erfolgsunrecht; die Diskussion um das Verschulden betrifft hingegen die Frage, ob hieran ein auch noch so geringes Maß an Handlungsunrecht etwas ändern kann. Solange man für die Haftung im Kern auf ersteres abstellt und die einzelnen Tatbestände einer objektiven Rechtsverletzung klar definiert und diese als Schädigung erfüllt sind, mag der Hinweis auf eine immer vorhandene und nachweisbare culpa levissima ohnehin irrelevant sein. Es ist allenfalls unredlich, vorderhand das Handlungsunrecht (culpa levissima) als maßgeblich zu betonen und letztlich für die Haftung doch auf das Erfolgsunrecht (Schädigung) abzustellen. Eben hier liegt dann ja auch der berechtigte Grund für die Annahme einer Gefährdungshaftung immer dort, wo Schäden aus grundsätzlich erlaubtem Verhalten entspringen. Die Sache wird allerdings richtig bedenklich in dem Moment, in dem auch die objektive Rechtsverletzung selbst unfassbar wird, weil alles ein Schaden sein kann. Hier liegt dann das zweite und eigentliche Problem in der Entwicklung der actio legis Aquiliae zu einer allgemeinen haftungsrechtlichen Generalklausel im Zuge ihrer Rezeptionsgeschichte: Denn fällt einmal auch das objektive Unrecht aus ihrem Tatbestand (Begrenzung auf Sachbeschädigung), dann verbleibt als Haftungsgrund in der Tat nur noch das zu diesem Zwecke allein völlig untaugto support an action for damages for negligence the complainant has to show that he has been injured by the breach of a duty owed to him in the circumstances by the defendant to take reasonable care to avoid such injury.“ 48  Vgl. die Nachweise insb. aus dem usus modernus bei Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 305 ff. 49 Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 287.

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liche Kriterium der culpa. Und genau dieser Prozess lief parallel zur Auflösung des Schuldmomentes. Von der römischen Lex Aquilia blieb, wie Thomasius es 1695 in seiner Dissertationsschrift sehr drastisch beschrieb, im Laufe der Rezeptionsgeschichte nur mehr der Name, eine Larve, die mit der haftungsrechtlichen Praxis nichts mehr als den Namen gemein hatte.50 Zwar werden auch die differenzierten Deliktstatbestände des römischen Rechts rezipiert, doch verlieren diese für nicht die Person selbst betreffende Schädigungen notwendig an Bedeutung, nachdem die actio legis Aquiliae von den mittelalterlichen Juristen über den Bereich der Sachbeschädigung hinaus auch auf Vermögensschäden ohne Substanzeinwirkung ausgedehnt worden war.51 Insbesondere die actio doli wird insoweit von einigen Autoren auch gar nicht mehr erwähnt oder ganz offen ausgesprochen, „daß nämlich die actio doli überhaupt heutzutage eine unnütze Meuble sey“, da überall eine actio in factum stattfinde.52 Und so werden mit der Ausdehnung der aquilischen Haftung auf primäre Vermögensschäden (consequent) selbst Vertragsklagen überflüssig.53

50 Thomasius, Larva legis Aquiliae (1695/1743), insb. §§ XLVII (S. 34 f.), LVIII (S. 42 f.); hierzu ausf. Zimmermann, Thomasius (2000), S. 49 ff. 51  Kaufmann, Rezeption und Usus Modernus der Lex Aquilia (1958), insb. S. 46 ff.; Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959), S. 13–18, mit dem Fazit: „Die Schriftsteller des usus modernus haben … im wesentlichen das System römischer Deliktsobligationen übernommen. Das gemeine Recht war jedoch bereits auf dem Wege, durch Ausweitung der actio legis Aquiliae und der ihr nachgebildeten Klagen über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus zu einer allgemeinen Klage für jeden schuldhaft zugefügten Schaden – auch ohne Substanzeinwirkung – zu gelangen und damit die Enge des römischrechtlichen Aktionensystems zu sprengen.“ (S. 18); T. Kiefer, Die Aquilische Haftung im „Allgemeinen Landrecht für die Preussischen Staaten“ von 1794 (1989), S. 62 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S.  1018 ff.; Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 292 ff. 52 Vgl. zum Zitat: Hänel, actio und exceptio doli, AcP 12 (1829), 408/415; auch Pernice, Labeo II (1878), S. 407, weist gelegentlich auf den Gesichtspunkt der Verschmelzung von actio doli und actio legis Aquiliae über die actio in factum hin: „Die mit der vom Dolus ausgehenden actio ihrer Tendenz nach nächstverwandte Klage ist die a. in factum ex l. Aquilia … Wie schon früher gesagt (S. 104, S. 110), ist sie öfters von der an die Dolusklage anlehnenden gar nicht zu unterscheiden. Vielmehr ist den Compilatoren der Unterschied nicht klar, wenigstens gleichgiltig gewesen. Denn während fr. 7 § 7 de d. m. 4, 3 die Befreiung eines gefesselten Sklaven aus Mitleiden zur a. doli stellt, knüpfen die Institutionen § 16 ad l. Aqu. 4, 3 die deswegen zuständige a. in factum an die a. l. Aquiliae an.“; Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959), S. 16 f. m. w. N. 53 Vgl. Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 293: „Die actio in factum ist in dem allgemeinen Rechtsbewusstsein offenbar zu einer allgemeinen Billigkeitsklage geworden; ihr usus amplissimus umfasst auch Vertragsverletzungen, und zwar selbst dann, wenn dafür im römischen Recht eine spezielle vetragliche Klage einschlägig gewesen wäre …“; Kaufmann, Rezeption und Usus Modernus der lex Aquilia (1958), S. 46 ff., 110 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1024: „It was a consequence of this extension of delictual liability that the lex Aquilia came to make deep inroads into the province of contractual liability.“

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

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Die actio de damno dato hat durch immer weiter geführte subtile Ausdehnung mittels Gewährung immer weitergehender Klagen (directa, in factum, utilis) ihre Rolle als spezielle Deliktsklage abgelegt und wurde zu der allgemeinen Grundlage für Schadensersatz: „Fundamentum et causa hujus actionis est damnum injuria datum, … quo patrimonium seu res aliena dolo, aut culpa diminuitur“ war die Definition der aquilischen Haftung im 17. Jahrhundert.54 So hält etwa Stryk eine Klage stets für gegeben, wenn nur „irgend ein Verschulden eines anderen gegeben ist“55, und nach Westenberg und Hahn wird bei einem Schaden eine actio in factum aus Billigkeit gewährt.56 Verschuldung und Billigkeit verbinden sich – was kaum mehr überrascht – auch und bereits hier, im usus modernus. In Rede steht freilich nicht eine Haftung in contrahendo, sondern tatsächlich eine allumfassende actio culpae: „Irrespective of whether or not contractual relationships existed between the parties concerned, the actio legis Aquiliae was applied in all cases of damnum culpa datum.“57 Es gibt nun freilich gute Gründe, mit Thomasius anzunehmen, dass die Rezeptionsgeschichte der Lex Aquilia eine Geschichte ist, bei welcher die römische Form gänzlich entleert aber auch nicht mit neuen Inhalten gefüllt wurde und so am Ende in der Tat nur noch eine hohle Maske übrig geblieben ist. Der dogmatische Anknüpfungspunkt mag immer eine weite und weitgehend isolierte Interpretation von Inst. 4, 3, 16 gewesen sein.58 Die wirkenden Kräfte für diese interpretative Ausdehnung lagen jedoch woanders. Neben der haftungsbegründenden Suggestivkraft, die von dem Verschuldensprinzip ausgegangen ist, lässt sich die Entwicklung insbesondere noch in Rücksicht auf zwei Einflussfaktoren erklären: den Einfluss des deutschen und den des Vernunftrechts. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass jeder geistesgeschichtliche Strang für sich den genannten haftungsrechtlichen Kern der objektiven Rechtsverletzung noch in sich trägt, der tragende Gedanke des objektiven Unrechts dann aber schließlich in der aquilischen Haftung und der Betonung des diese einzig noch zusammenhaltenden Schuldmoments verloren ging:

 Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1024 m. N. usus moderni pandectarum (1776), lib. IX, tit. II, § 1 (S. 146 f.): „Tituli praesentis usus amplissimus est, cum omnium damnorum reparatio ex hoc petatur, si modo ulla alterius culpa doceri possit.“ 56 Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 293 f. m. w. N. 57  Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1024. 58  „sed si non corpore damnum fuerit datum neque corpus laesum fuerit, sed alio modo damnum alicui contigit … placuit eum qui obnoxius fuerit in factum actione teneri“ („Wenn jedoch der Schaden nicht durch körperliche Einwirkung zugefügt wird und auch kein Körperschaden vorliegt, sondern jemandem auf andere Weise ein Schaden entstanden ist, so haftet der Schuldige … mit einer auf den Sachverhalt zugeschnittenen Klage.“). 54

55 Specimen

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b) Der Einfluss des deutschen Rechts „Ein formales Recht wird daher im Privatrechte, für die Frage des Schadensersatzes – denn für das Strafrecht liegt die Sache anders – zum mindesten gegen die Scheidung der Begriffe dolus und culpa sich ablehnend verhalten und sich mit zwei Begriffen begnügen, Verschuldung und Zufall, oder mit Ausdrücken des alten deutschen Rechts: Schuld und Unglück.“ Andreas Heusler, 188659

Zunächst darf man den Einfluss des deutschen Rechtsdenkens sicherlich nicht unterschätzen. Die Rezeption der ausdifferenzierten römischen Deliktstatbestände stieß hier auf eine bereits vorhandene abstrakte Vorstellung allgemeiner Rechtsverletzung. Das deutsche Privatrecht kannte nämlich nach verbreiteter Ansicht keinen ausgebildeten Katalog einzelner Deliktstatbestände, sondern nur einen einheitlichen Begriff der „Missetat“. Doch war eben dieser Begriff auf die Rechtsverletzung orientiert: Missetat ist danach jede widerrechtliche Handlung mit schadensbegründendem Erfolg,60 jeder widerrechtliche Eingriff in eine fremde Rechtssphäre,61 jede Verletzung eines fremden Rechts62. Auf ein Verschulden (im subjektiven Sinn) kam es nicht an: Die Schuld lag im Erfolgsunrecht: „Wer Schaden gethan hat, muss dafür haften, auch wenn die That in noch so unabsichtlicher oder unschuldiger Weise geschehen ist. Das subjective Moment des Willens und der Willensfreiheit bleibt hier ganz ausser Betracht, wo es sich nicht um Bestrafung handelt; blos der objective Erfolg der That, der Vermögensverlust, wird ins Auge gefasst und, wie er das directe Ergebnis der That ist, auch dem Thäter aufgebürdet.“63 Das deutsche Deliktsrecht entsprach demnach entwicklungsgeschichtlich der römischen Haftung für iniuria ohne Differenzierung beim subjektiven Unrecht.64 Der Widerstand bei der Übernahme des ausdifferenzierten römischen

59 Institutionen

des deutschen Privatrechts II (1886), S. 263 f. Deutsches Privatrecht III (1885), § 200: „widerrechtlich zugefügter Schaden“. 61  v. Gierke, Deutsches Privatrecht III (1917), § 211, S. 879 f.: „widerrechtliche Verletzung einer fremden Privatrechtssphäre“; ebenso Schwerin, Grundzüge des deutschen Privatrechts (2. Aufl. 1928), S. 218; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte (1962), S. 425. 62  Planitz, Grundzüge des deutschen Privatrechts (1949), S. 172: „Unerlaubte Handlung war nach älterem deutschen Rechte jede widerrechtliche Verletzung eines fremden Rechts. Dieser Begriff war mit dem strafrechtlichen Begriff der Missetat identisch.“ 63  Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts II (1886), S. 262 f.; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte (1962), S. 425; vgl. auch Huber, Geschichte des schweizerischen Privatrechtes (1893), S. 896: „Wer unwillig gethan, muss doch willig zahlen.“ 64  Zu diesem Gedanken für die Rechtsgeschichte zuerst schon Jhering, Geist des römischen Rechts I (1878), S. 81: „Das erste System, wenn wir es so nennen wollen, (…) in der Gestalt, die es in der ältesten römischen Zeit an sich trägt, hat … unverkennbare Aehnlichkeit mit dem Recht, das achthundert bis tausend Jahr später bei den Germanen sichtbar wird (…).“ Jhering übernimmt mit seinen „Stufen der Entwicklung“ Einsichten der Geschichts‑ und Kulturphilosophie, wie sie bereits im 18. Jahrhundert etwa von Bernard le Bovier de Fontenelle 60 Stobbe,

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

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Rechts war insoweit ein dreifacher: „Das im Laufe der Rezeption übernommene römische System der Deliktsobligationen musste zunächst, da nach römischem Recht eine Ersatzpflicht nur bei Verschulden, regelmässig nur bei positivem Handeln und bei der tatbestandlichen Verwirklichung bestimmter Einzeldelikte eintrat, eine Einschränkung des älteren deutschen Schadensersatzrechtes bewirken.“65 Die Beschreibung der Evolution des „Verschuldensprinzips“ bei Jhering findet sich eben hier historisch erneut bestätigt; aber auch die Bedeutung dieses Prinzips zur Beschränkung und nicht zur Begründung einer Haftung. Umgekehrt ging nun dieser letzte Gesichtspunkt bei der weiteren Entwicklung der actio legis Aquiliae unter dem Einfluss des deutschen Rechtsdenkens verloren, weil sich hier ebenso der Begriff der Schuld an die Stelle der Missetat setzen konnte, wie er vordem bereits in der actio legis Aquiliae den Platz der iniuria eingenommen hatte. Der Einfluss des römischen Rechtsdenkens in der Kategorie des subjektiven Unrechts hatte so Auswirkungen immerhin auf die Trennung von Straf‑ und Privatrecht in Delikt einerseits und unerlaubte Handlung (als Quasidelikt) andererseits:66 Nur noch vorsätzliches Handeln unterfiel dem Straf‑ und Bußsystem, der Gedanke der Fahrlässigkeit verblieb dem (privatrechtlichen) Schadensersatz und wurde so auch hier zum Kennzeichen privatrechtlich-(quasi‑) deliktischer Haftung. Umgekehrt erscheint eine vom deutschen Recht ausgehende Rückkoppelung auf die aquilische Haftung nicht unplausibel: Widerrechtlichkeit und culpa verschmelzen auch für die gemeinrechtliche Rechtswissenschaft.67 Die schlichtere Auffassung vom Recht verwehrt sich differenzierter Begründungsstrukturen:

in der „These von der Gleichförmigkeit aller Kulturentwicklung“ vorgetragen wurden: vgl. Fontenelle, Entretiens sur la pluralité des mondes (Unterhaltungen über die Vielzahl der Welten), 1686; Voltaire, Versuch über die Universalgeschichte und über die Sitten und den Geist der Völker (1756); Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767); Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (1795). Dieses Phänomen wird heute auch als die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ genannt: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (1979), 132, 325; Rohbeck, Geschichtsphilosophie (2008), Einleitung und S. 33. 65 Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959), S. 13. 66  Hierzu: Gierke, Deutsches Privatrecht III (1917), § 211, S. 880 ff.: „Die Verselbständigung des Begriffs der unerlaubten Handlung ist eine geschichtliche Errungenschaft. Im deutschen Recht gab es ursprünglich infolge der innigen Verpflechtung des Privatrechts mit dem Strafrecht nur einen einheitlichen Begriff der Missetat, so daß, wenn ihr eine Bußschuld gegen den Verletzten entsprang, durch diese die öffentliche Strafe aufgezehrt und ersetzt wurde. Schon im Mittelalter aber erfolgte gegenüber der Ausbreitung des Systems der öffentlichen Strafen mehr und mehr eine privatrechtliche Ausgestaltung der Ansprüche des Verletzten, wie dies namentlich in der ungleichen Behandlung der absichtlichen und absichtslosen Missetat zum Ausdruck kam (…)“. 67  Vgl. noch Sintenis, Das practische gemeine Civilrecht II (1847 ff.), § 125: „Wie nun hierbei Verschuldung, und zwar, bis auf die letzte … Obligationsform, culpa levis, zur Herstellung des Begriffs der Widerrechtlichkeit ausreicht (…).“

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

„Ein Mann, ein Wort!“, und für eine „Missetat“ hat man einzustehen. Für die einfachen Wahrheiten bedarf es keiner romanisierenden Subtilitäten, genannt dolus, culpa lata, culpa levis, culpa levissima, und unverständlicher Digesten­ exegesen zu Rechtsausprüchen römischer Juristen zu vielfältigen actiones: Man haftet schlicht für Schuld (im Sinne von Causalnexus)! Damit ist die zweite Form des Verschuldensprinzips benannt, das seinerzeit Jhering bei der Konstruktion seiner culpa in contrahendo und, wie gesehen, bis heute als Haftungsbegründung immer wieder vorstellig wird: Schuld und Verursachung sind hier im deutschen Rechtsdenken unauflösbar synonym. Man könnte insoweit auch von einem römisch-rechtlichen und einem deutsch-rechtlichen Verschuldensprinzip sprechen; jenes das haftungsbegrenzende Prinzip bei bestehender Rechtsverletzung, dieses das haftungsbegründende Prinzip, das mit dem Gedanken des Causalnexus unauflöslich verwachsen und das später auch als Verursachungs‑ bzw. Veranlassungsprinzip bekannt und wieder beliebt geworden ist.68 Heusler beschreibt in seinen Institutionen zum deutschen Privatrecht die bis heute gültigen Ursachen für eine undifferenzierte Haftung unter dem schlichten Gesichtspunkt der Schuld als Kausalität: „Das Motiv hierfür liegt wohl in den Schwierigkeiten, welche ein einfaches formales Recht abhalten, die Unterscheidung von dolus, culpa und casus praktisch durchzuführen. So sicher wir nämlich die drei Grundbegriffe dolus, culpa und casus, um die es sich im allgemeinen handelt, zu trennen vermögen, so lange blos eine theoretische Definition verlangt wird, so schwierig ist es oft in der Praxis, alles, was geschieht, einer bestimmten Rubrik einzuordnen. Wir nennen dolus die beabsichtigte Auflehnung gegen das Recht, das Wollen des rechtswidrigen Erfolges, culpa die nicht gewollte, aber durch Mangel der gehörigen Aufmerksamkeit herbeigeführte Verletzung des Rechtes, casus alles unabhängig vom Willen und von der Handlung der Betheiligten Geschehende. Aber diesen abstracten Begriffen entsprechen im Leben sehr verschiedene Grade; zumal dolus und culpa, weil auf Geistes‑ und Willensmomenten beruhend, treten in den allerverschiedensten Graden auf, und in dem einen Fall kann eine Fahrlässigkeit (culpa) so gesteigert, in dem anderen kann sie so gering sein, daß das Recht doch beide Fälle nicht gleich behandeln kann, obschon beide Mal der abstracte Begriff der Fahrlässigkeit vorhanden ist. Darum gelangt das römische Recht weiter zu den Unterschieden von culpa lata und culpa levis und, noch enger, zu culpa dolo proxima und culpa levissima, womit aber auch weiter keine feststehenden

68 Stobbe, Deutsches Privatrecht III (1885), § 200; Rupp, Modernes Recht und Verschuldung (1880); Steinbach, Die Grundsätze des heutigen Rechtes über den Ersatz von Vermögensschaden (1888); Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 33; Binding, Die Normen und ihre Übertretung I (4. Aufl. 1922), S. 434 ff., 472, 476; zu alledem: Rümelin, Schadensersatz ohne Verschulden (1910); mit Blick auf die Haftung für culpa in contrahendo dann insb. Regelsberger, in: Endemanns Handbuch des Handelsrechts II (1882), S. 414: „Der Rechtssatz wurzelt vielleicht mehr in der deutschen Rechtsanschauung, wonach der Urheber eines Schadens ersatzpflichtig ist, es mag ihm eine Verschuldung zur Last fallen oder nicht …“; dem folgen im Ansatz: Eisele, Ueber Nichtigkeit obligatorischer Verträge, JhJb 25 (1887), 414/473, 487 und dezidiert Melliger, Culpa in contrahendo (1896).

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Schranken aufgestellt, keine zwei bzw. vier Classen von culpa gebildet waren, in welche sich nach bestimmten Merkmalen alle vorkommenden Fälle einschachteln liessen, sondern dem richterlichen Ermessen in Beurtheilung des einzelnen Falles ein erheblicher Spielraum musste gelassen werden. Ein formales Recht wird daher im Privatrechte, für die Frage des Schadensersatzes – denn für das Strafrecht liegt die Sache anders – zum mindesten gegen die Scheidung der Begriffe dolus und culpa sich ablehnend verhalten und sich mit zwei Begriffen begnügen, Verschuldung und Zufall, oder mit Ausdrücken des alten deutschen Rechts: Schuld und Unglück.“69

Es ist insoweit kein Wunder, wenn ebenso wie die Vorstellung von einem formfreien Vertrag70 auch der Gedanke einer Haftung für jeden Vermögensschaden im Rahmen einer haftungsrechtlichen Generalklausel den Einflüssen deutschen Rechtsdenkens zugeschrieben wird.71 Ein Einfluss ist sicherlich nicht zu leugnen. Doch er allein hätte es schwerlich vermocht, das römische Recht inhaltlich grundlegend zu modifizieren. Hierzu bedurfte es einer zweiten wirkmächtigen geistigen Strömung, die sich über das Positive des Nationalen hinausgehend einem universalen Geltungsanspruch des Rechts zuwandte. Die Postulation von ethischen Grundprinzipien als Recht war dieser Geistesströmung eigen:

 Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts II (1886), S. 263 f.  Vgl. nur Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem IV (1765/1821), Kap. 1 § III, 3: „… das teutsche Sprichwort sagt: Ein Wort ein Wort, ein Mann ein Mann. … einfolglich würkt auch jedes Versprechen eine solche Verbindlichkeit, woraus gerichtlich geklagt werden kann, und zwar ohne Unterschied, ob selbes nomen und causam habe oder nicht … Die alte teutsche Redlichkeit, worauf sich dieses alles hauptsächlich fundirt, hat zwar in den jüngeren Zeiten schon manchen harten Stoß gelitten, gleichwie sih aber die Natur niemal ganz und gar verändert, so sihet man auch noch hier und dar das ächte Weesen der alten Teutschen …“ 71 Vgl. etwa Höpfner, Theoretisch-practischer Commentar über die Heineccischen Institutionen (7. Aufl. 1803), Lib. IV, Tit. III, § 1060: „Aus diesem allem folgt, daß wie Thomasius … ganz richtig erinnert, heutigestags, die wegen eines damni iniuria dati statt findende Klage nicht auf das Aquilische Gesetz, sondern auf das Deutsche Recht, und auf die natürliche Billigkeit gegründet ist …“; Stobbe, Deutsches Privatrecht III (1885), § 200: „Das ältere deutsche Recht … enthält das Prinzip, daß Jeder den widerrechtlich zugefügten Schaden ersetzen soll, selbst dann, wenn ihn nach unserer Auffassung keine Schuld trifft. Aus dieser germanischen Grundauffassung heraus hat in unseren neueren Gesetzbüchern im Verhältniß zum Römischen Recht eine Erweiterung der Ersatzverbindlichkeit stattgefunden … Peuß. Ldr I. 6. § 10 … C. civ. Art. 1382 … Oestr. GB § 1295 …“; Planitz, Grundzüge des deutschen Privatrechts (3. Aufl. 1949), S. 173: gegenüber dem römischen Recht „stellten die Kodifikationen den einheitlichen Begriff der unerlaubten Handlung wieder her (ALR, CC, ABGB. 1295, so auch OR. 41).“; zu alledem auch Gleim, Die allgemeine Deliktsklage (1913). 69 70

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

c) Der Einfluss des Vernunftrechts „Ein Verdienst des Naturrechts, das heute noch nicht genügend gewürdigt ist, ist die Ausbildung einer allgemeinen Lehre von den Voraussetzungen der Schadensersatzpflicht. Über die Kluft zwischen vertraglichem und außervertraglichem Verschulden hinweg und über die einzelnen Deliktstatbestände des römischen Rechtes hinaus ist die Naturrechtsschule zu dem allgemeinen Grundsatze gelangt, daß jeder schuldhaft zugefügte Schaden zu ersetzen sei.“ Moritz Wellspacher, 191172

Die Entwicklung des römischen Rechts im Mittelalter und vor allem im Zeitalter des usus modernus pandectarum lässt sich insoweit nicht ohne die Einflüsse des Natur‑ und Vernunftrechts verstehen:73 Diese sind von jenem und jenes von diesen geprägt worden. Auch spielte das Vernunftrecht gleichsam eine Mittlerrolle zwischen römischem und deutschem Rechtsdenken, weil und soweit auch die deutschen Rechtsinstitute „dem römischen Recht vor dem Forum der Vernunft“ überlegen schienen.74 Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es nicht zuletzt diese Interdependenzen gewesen sind, die Savigny vor der Ausarbeitung seines Systems zunächst die Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts hat sehr akribisch untersuchen lassen, um neuerlich das reine römische Recht von allen fremden Überlagerungen und Abstraktionen wieder zu befreien. Für die hier interessierende Frage nach den vernunftrechtlichen Wurzeln für eine allgemeine actio culpae und den diesbezüglich starken Einflüssen auf die Gestalt der actio legis Aquiliae sind diese Interdependenzen offensichtlich: Im naturrechtlichen Denken wird der Begriff der culpa mit dem Begriff der Pflichtverletzung auf das engste verknüpft: Einflussreich für die Rezeption des Pflichten-Begriffs ist dabei seit jeher: Ciceros Schrift „Über die Pflichten“ (de officiis). Einflussreich für die Tendenz zur Ausbildung einer allein auf culpa basierenden haftungsrechtlichen Generalklausel war dann aber vor allem Hugo Grotius (1583–1645): Dieser stellte in deutlicher Anlehnung an die Diskussion um das Verschuldenserfordernis der Lex Aquilia (culpa in faciendo – culpa in non faciendo) den allgemeinen Satz auf, dass jede schuldhafte Pflichtverletzung zum Schadensersatz verpflichte: „Ex tali culpae obligatio naturaliter oritur, si damnum datum est, nempe id resarciatur.“75 72 Das Naturrecht und das ABGB, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB (1911), Bd. I, S. 175/198. 73  Hierzu Voppel, Der Einfluß des Naturrechts auf den Usus modernus (1996). 74 Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1. Aufl. 1952), S. 155. Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959), S. 45 f. konstatiert: „Man wird wohl sagen können, daß das Schadensersatzrecht des Naturrechts das deutsche Recht wieder ‚blossgelegt‘ habe; denn erst durch die Untersuchungen von Thomasius und Heineccius gelangten die deutschrechtlichen Grundsätze über den Schadensersatz wieder ins Blickfeld der Rechtswissenschaft.“ 75  De Iure Belli ac Pacis Libri Tres (1625), lib II, cap. XVII, § 1; hierzu Feenstra, Grotius’ doctrine of liability for negligence (2001), S. 129 ff.

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

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Doch auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick so aussieht: bei genauem Hinsehen wird man auch bei Grotius schwerlich von einer allgemeinen actio culpae reden können. Die Frage ist nämlich, was genau Grotius mit „Verschulden“ in jenem Kontext meint. Wenn man den Text im Zusammenhang liest, wird deutlich: Unrecht, Verschulden und Pflichtverletzung sind in der haftungsrechtlichen Generalklausel bei Grotius synonym: „Maleficium hic appelamus culpam omnem, sive in faciendo, sive in non faciendo, pugnatem cum eo, quod aut homines communiter, aut pro ratione certae qualitatis facere debent. Ex tali culpae obligatio naturaliter oritur, si damnum datum est, nempe id resarciatur.“ („Missetat wird hier jedes Verschulden genannt, es bestehe im Tun oder Unterlassen, wenn es dem widerspricht, was die Menschen überhaupt oder nach ihrer besonderen Eigenschaft zu tun verpflichtet sind. Aus solchem Verschulden entspringt eine natürliche Verbindlichkeit, den verursachten Schaden zu ersetzen.“)

Nun wird die Sache deutlich: Wenn die Pflichtverletzung zum Schadensersatz verpflichtet und die Pflichtverletzung nur die objektive Seite der Schuld darstellt, dann verbindet jede culpa zum Schadensersatz. Und wenn die culpa an dem, was man schuldig ist, also am debitum ausgerichtet ist, dann hängt die Haftungsfrage doch an der Bestimmung dessen, was genau man schuldig bzw. zu tun verpflichtet ist. Die klassische Einteilung und Eingrenzung der Pflicht und Schuldigkeit gegenüber anderen erfolgte im römischen Recht über die einzelnen actiones der Delikts‑ und Vertragsklagen. Und in der Tat sieht Grotius konsequent auch Vertragsverletzungen von seiner Generalnorm erfasst und auch die einzelnen Deliktstatbestände werden rezipiert.76 Die eigentliche Eingrenzung des objektiven Unrechts (der Missetaten) erfolgt dann aber nicht mehr über die Beschreibung einzelner Pflichten, sondern über die Definition des Schadens. Und auch insoweit wird Grotius durchaus konkret, wenn er 1. Schäden an der menschlichen Natur, 2. an Rechten aus Eigentum und Vertrag sowie 3. Schäden aufgrund sonstigen Gesetzesverstoßes auflistet: „Das lateinische Wort damnum, Schaden, kommt vielleicht von demere – nehmen – und ist das zu Wenige, d. h. was jemand weniger hat, als ihm entweder nach der reinen Natur oder infolge einer vorgehenden menschlichen Einrichtung wie des Eigentums oder Vertrages oder nach dem Gesetz gebührt.“77 Der Vater der „haftungsrechtlichen Generalklausel“ postuliert also weder eine allgemeine Haftung für Vermögensschäden,78 noch spielt die culpa (im Sinne subjektiven Unrechts) in seiner Haftungskonzeption eine zentrale und schon gar haftungsbegründende Rolle. Das eigentliche Verschuldensprinzip (culpa als  De Iure Belli ac Pacis Libri Tres (1625), Lib. II, cap. XVII, §§ 13–22.  De Iure Belli ac Pacis Libri Tres (1625), Lib. II, cap. XVII, § 2, 1. 78 Zweifelnd schon Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 333: „Ob Grotius mit dieser Formel auch primäre Vermögensschäden erfassen wollte, erscheint angesichts des systematischen Bezugs des Haftungsrechts auf die Verletzung absoluter subjektiver Rechte als ausgesprochen zweifelhaft.“ 76 77

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Haftungsbegrenzung) findet sich dann nämlich in § 21, wonach derjenige, „den keine Schuld trifft“, nicht haftet. Entscheidend für eine Haftungsbegründung ist demgegenüber einerseits die jeweilige Pflicht (debitum) und andererseits die Definition der Rechte und Rechtsgüter, deren Beeinträchtigung einen Schaden (damnum) überhaupt erst konstituieren. Der Begriff der culpa im Sinne von „Fahrlässigkeit“ und als Gegenbegriff zum dolus löst sich in der Generalklausel bei Grotius schlichtweg auf. Culpa und Unrecht (rechtswidrige Handlung) sind hier synonym: Maleficium hic appelamus culpam omnem. In dieser Generalklausel verschmelzen deutsches, römisches und naturrechtliches Rechtsdenken: Die Missetat, nicht die culpa (i. S. von Fahrlässigkeit) ist für den Ersatzanspruch konstitutiv; jene aber wird präzisiert durch das, was Menschen einander schulden (debitum), und dieses Geschuldete schließlich wird durch den Schaden (damnum) definiert, den sie einander nicht zufügen dürfen bzw. widrigenfalls zu ersetzen haben. Die klassischen Gedanken des suum cuique und des neminem laedere sind hier allgegenwärtig. Die ganze Generalklausel scheint somit nur eine Aufgabe zu verfolgen: alle für eine Haftung maßgeblichen Begriffe der Zeit unter der antiken Gerechtigkeitsidee (suum cuique)79 zusammenzufassen. Dass hierbei der Begriff der culpa ebenso vorkommen muss wie Missetat und Pflicht, braucht nach allem bereits Gesagten nicht mehr überraschen. Dieser Zusammenhang kann freilich mit der actio legis Aquiliae nicht abgebildet werden; denn der Gedanke von einem haftungsbegründenden  – und insoweit eine diligentia erfordernden  – debitum kommt in ihrem Tatbestand ebenso wenig vor, wie ein maleficium als objektives Unrecht. Selbst bei einem nur geringen Hang zur Abstraktion musste der wichtige Zusammenhang zwischen Verpflichtung (debitum) und Haftung (obligatio), aber vor allem durch die von Grotius eingeleitete Wendung, das objektive Unrecht über den Schadensbegriff zu erfassen, in den Hintergrund treten. Denn unter diesem Blickwinkel gibt es nur noch eine einzige Pflicht: neminem laedere! Die Präzisierung des Schadensersatzrechts auf eben diese eine Pflicht hat dann Samuel v. Pufendorf (1632–1694) und die ihm nachfolgende Tradition des Vernunftrechts gründlich vollzogen. Pufendorf ist aber nicht nur präziser bei der Bestimmung der einen Pflicht. Er ist auch präziser, wenn er von culpa redet: „Auf Schadensersatz haftet nicht nur, wer einem anderen vorsätzlich schadet, sondern auch derjenige, der ohne unmittelbare Absicht in leicht zu vermeidender Weise sorglos oder fahrlässig handelt. Keineswegs der unwichtigste Teil der Gebote des Gemeinschaftslebens besteht darin, daß wir so umsichtig handeln, daß das, was wir zu unserer Selbsterhaltung tun, für andere nicht gefährlich oder gar unerträglich wird.“80 Auch bei diesem  Ulpian, D. ​1, ​1, ​10 pr.: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Officio Hominis (1673), lib. I, cap. VI, § 9.

79

80 De

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

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Text könnte man bei oberflächlicher Lektüre auf den Gedanken kommen, hier werde nun in der Tat die culpa zu einer allgemeinen causa obligationis gemacht. In Wahrheit erhält aber das so beschriebene subjektive Unrecht bei Pufendorf seinen ergänzenden systematischen Platz im Kontext des objektiven Unrechts. Die culpa steht nämlich auch hier nicht isoliert, sondern sie wird mit der allgemeinen Pflicht des neminem laedere verknüpft. Während Grotius seine Argumentation noch aus der „Gesamtmasse der abendländischen literarischen Tradition“81 belegte, ohne ein geschlossenes Rechtssystem zu bilden, begründete Pufendorf die vernunftrechtliche Systematik geradezu aus einer strengen Systematik der Pflichten (De Officio Hominis et Civis): In klassischer Dreiteilung unterscheidet Pufendorf 1.) Pflichten des Menschen gegen Gott (Religion), 2.) Pflichten des Menschen gegen sich selbst (Entfaltung der Tugenden und Selbsterhaltung) und 3.) schließlich die Pflichten aller gegen alle. In diesem letzten, für das menschliche Recht entscheidenden Bereich, verbindet er geschickt Naturrechtslehre und Pflichtenlehre, indem er weiter absolute und relative Pflichten unterscheidet. Erstere folgen aus der von Gott gegebenen Pflicht zur gemeinschaftlichen Verbundenheit, Zweitere hingegen der Zufälligkeit menschlicher Einrichtungen.82 Ausgangspunkt aller weiteren Betrachtungen ist sodann das Verbot, einen anderen zu schädigen: „Unter den absoluten Pflichten oder den Pflichten eines jeden gegen jeden ist folgende Pflicht die wichtigste: Niemand soll dem anderen Schaden zufügen. Das ist die umfassendste aller Pflichten, die alle Menschen als solche trifft.“83

Mit dem allgemeinen Schädigungsverbot ist das allgemeinste Prinzip für den Privatrechtsverkehr aufgestellt, das sich denken lässt. Dieses klassische Verbot84 ist dabei nämlich nur die Kehrseite der klassischen Definition von Gerechtigkeit: „Jedem das Seine!“.85 Beide Aussagen bleiben blind, wenn unklar ist, wem was 81 Wieacker,

Privatrechtsgeschichte (1952), S. 183.  De Officio Hominis (1673), lib. I, cap. VI, § 1; ebenso in: De Iure naturae et gentium (1672), lib. III, cap. I. 83 De Officio Hominis (1673), lib. I., cap. VI, § 2: „Inter officia absoluta, seu quorumlibet erga quoslibet primum locum obtinet: ne quis alterum laedat. Est quippe hoc officium omnium latissimum, omnes homines ut tales, complexum.“ 84 Ulpian, D. ​1, ​1, ​10, ​1: „honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“. 85  Aristoteles, Rhetorik I 9, 1366 b; ders., Nikomachische Ethik V 7, 1132 b 16; Ulpian, D. ​1, ​ 1, ​10 pr.: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.“ In diesem Sinne dann beides im christlichen Liebesgebot miteinander verbindend: Heineccius, Elementa iuris naturae et gentium (1738), lib. I, cap. VII, § 82 „Da nun dem anderen etwas zu tun, was ihn unglücklicher macht, als er von Natur aus ist, ihn schädigen, ihm etwas zu entwenden, was er sich bereits rechtmäßig erworben hat und was zu seinem Glück gehört, ihm das Seine wegnehmen bzw. entziehen heißt, so folgt hieraus, daß derjenige sich im höchsten Grade gegen das Gesetz der Liebe vergeht, der den anderen schädigt und ihm, was sein ist wegnimmt, entwendet oder entzieht; ferner daß es im Gegenteil der unterste Grad der Liebe ist, niemanden zu schädigen, 82

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

zugehört und daher eine Beschädigung nicht leidet. Auch hier kommt mithin alles auf die Frage an, was man unter dem „suum cuique“ bzw. einer Verletzung des „Mein und Dein“ (also: einem damnum dare) verstehen will. Die Formel ist, wie bereits Hans Kelsen gezeigt hat, anderenfalls völlig „inhaltsleer“: „Denn die entscheidende Frage, was es eigentlich ist, das jedermann als ‚das Seine‘ betrachten darf, bleibt unbeantwortet. Daher ist das Prinzip ‚Jedem das Seine‘ nur unter der Voraussetzung anwendbar, daß diese Frage schon vorher entschieden ist.“86

Die Ausdefinierung des „suum cuique“ ist eben die entscheidende Aufgabe zur Bestimmung der „Gerechtigkeit“ im Privatrechtsverkehr. Und so steht das Gebot des neminem laedere auch bei Pufendorf eben nicht isoliert, sondern in Abhängigkeit von dem, was er als gleichsam „unantastbar“ und geschützt ansieht. Gleichwohl bei ihm der allgemeine Begriff des Schadens weit gefasst ist („der jede Verletzung, Zerstörung, Minderung oder Entziehung dessen umfasst, was sich in unserem Vermögen befindet, und auch die Vorenthaltung dessen worauf wir einen durchsetzbaren Rechtsanspruch haben“),87 darf man auch hier – ebenso wie schon bei Grotius – den unmittelbaren Bezug zu anerkannten Rechtspositionen nicht leichthin übersehen: „Durch diese Pflicht wird aber nicht nur das geschützt, was dem Menschen von Natur aus gegeben ist, wie Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit sowie Ehre und Sittlichkeit, sondern auch all das, was er aufgrund von Rechtsregeln oder durch Vertrag erworben hat. Daher ist alles, was aufgrund eines rechtmäßigen Besitztitels unser ist, durch dieses Verbot vor Wegnahme, Zerstörung, Beschädigung sowie vollständiger oder teilweiser Gebrauchsentziehung geschützt.“88

Die Dinge hängen also auf das engste miteinander zusammen: Ein Schaden kann nicht ohne die Definition von geschützten (objektiven) Rechtspositionen definiert werden („Besitztitel“). Und erst nach Feststellung einer insoweit objektiven Rechtsverletzung kommt die Frage nach dem subjektiven Unrecht, die Frage nach dolus oder culpa ins Spiel. Ein Ersatzanspruch setzt daher auch bei Pufendorf einen Rechtsanspruch („Besitztitel“) voraus. Die culpa selbst begründet ihn nicht. Das Recht schützt nicht allgemein vor Schädigung; vielmehr würde das Recht an sich selber irre, wenn es für eine Übertretung keine Sanktion bereithielte. Es kann

vielmehr jedem das Seine, das ihm geschuldet wird, zuzuteilen bzw. das, was er bereits besitzt, zu lassen.“, vgl. noch die §§ 173 ff.; deutlich dann insb. auch: Christian Wolff, Grundsätze des Natur‑ und Völkerrechtes (1754), II/3 § 269: „Man sagt, daß derjenige um das Seinige komme (jacturam sui facere), dem wieder seinen Willen das Seine dergestalt entzogen wird, daß er es niemahls wieder bekommen kann. Der Verlust des Seinigen wird der Schaden (damnum) genannt; und in Schaden bringen (damnum dare), heisset so viel, als durch das, was man thut, oder unterlässt, Ursache seyn an dem Verlust des Unsrigen.“ 86  Kelsen, Was ist Gerechtigkeit (2000), S. 32 f. 87  De Officio Hominis (1673), lib. I, cap. VI, § 5. 88 De Officio Hominis (1673), lib. I, cap. VI, § 3.

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

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nicht ein Recht gewähren (suum cuique), ohne es auch zu schützen. Aber zunächst müssen die Rechte definiert sein. Alles andere wäre, wie Kelsen zutreffend konstatiert hat, eine leere Tautologie. Das ist die ganze Quintessenz des neminem laedere: Eine Rechtsverletzung verlangt eine angemessene Sanktion zur Wiederherstellung des Rechts. Mehr ist damit nicht gesagt und mehr ist damit auch nicht gewonnen. Das neminem laedere ist nur die Kehrseite des suum cuique. Der die Haftung im Grunde entscheidende Punkt liegt mithin nicht in der Postulation von positiven Normen des Schadensersatzes oder der Feststellung einer allgemeinen Pflicht, Schädigungen zu unterlassen. Beides sind nur Reflexe der Anerkennung und Bewahrung von subjektiven Rechten („Besitztiteln“). Erst Immanuel Kant hat schließlich einflussreich für die Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts die Pflichtenlehre vom Kopf auf die Füße gestellt, indem er nach einer stringenten Begründung von Rechten fragte, die in seinem Privatrecht ja wohl auch nicht zufällig auf eine Deduktion möglicher „Besitztitel“ hinausgelaufen ist.89 Bis dahin ist die Pflichtenlehre der Ausgangspunkt – und der Grundsatz des neminem leadere ein festes Axiom der folgenden Vernunftrechtssysteme. Die Ansätze differieren für die hier interessierende Fragestellung im Wesentlichen nur in dem Versuch einer Begründung des allgemeinen Schädigungsverbots, das Pufendorf zwar als „wichtigste“ und „umfassendste“ Pflicht postuliert – nicht aber seinerseits weiter abgeleitet oder begründet hat. So gehen etwa Christian Thomasius (1655–1728), Johann Gottlieb Heineccius (1681–1741) und schließlich diesen folgend der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (1756) auf die ‚goldene Regel‘ bzw. das christliche Liebesgebot zurück: Aus dem allgemeinen Gebot, „welches die Pflichten aller Menschen untereinander regieret: Tractire einen anderen Menschen auch als einen Menschen“90 folgt 89  Hierzu sogleich noch unten im Text. Die Diskussion um Begriff und Herkunft des „subjektiven Rechts“ ist umfangreich und kontrovers, und natürlich wird man mit dem jeweiligen Verständnis, das man von dem Begriff hat, auch hinreichende und unterschiedliche Anknüpfungspunkte in der Rechtsgeschichte finden (vgl. nur Jansen, Struktur des Haftungsrechts, S. 313 ff.). Mit Blick auf den Gedanken des Erfolgsunrechts als maßgeblichem Anknüpfungspunkt für das Haftungsrecht genügt insoweit ein Verweis auf den Gedanken der iniuria des römischen Rechts. In einem moderneren Kontext würde man heute auch von „property rights“ sprechen. 90 Thomasius, Drey Bücher Göttlicher Rechtsgelahrheit (1709), II / ​ III § 19 f: „Daß aber dieses Gebot in derselben Classe allgemein sey, werden nicht allein die conclusiones desjenigen zeigen, was daraus weiter hergeleitet werden kann, sondern es beweiset dies hauptsächlich der Ausspruch unsers Heylandes, wenn er lehret daß die Summa des Gesetzes, so die Pflichten eines Menschen gegen den andern regieret, dieses sey: Liebe deinen Nechsten wie dich selbst.“; bei Heineccius, Elementa iuris naturae et gentium (1738), lib. I, cap. VII, § 172: „Homo hominem non minus, quam seipsum tenetur amare.“; und cap. III, § 88 ganz explizit unter Berufung auf Matth 7, 12; Luk. 6. 31; Tob. 3, 16: „Quod tibi non vis fieri, alteri non feceris.“; Kreittmayr führt in seinen Anmerkungen (zu Teil I, Kap. 2, 1759, § IV 10, S. 49) zum Codex aus: „Die allgemein, nothwendig, und unbedungene Pflichten gegen andere (officia communia, necessaria & absoluta

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dann auch der Satz: „Beleidige niemand.“91 Das Verbot der „Beleidigung“ (als alter Begriff für Schädigen: von laedere; lädieren: leiden) wird nun deutlicher mit dem Gedanken der Rechtsverletzung verknüpft (II / ​V § 3: „Beleidigung“ = „Versagung eines jeden Rechts“92) und erstreckt sich danach auf alle natürlichen Güter des Leibes (Leben, Körper, Keuschheit, Freiheit) sowie alle vom Recht anerkannten „Glücksgüter“ (Geld und Gut). Der Schadensersatzanspruch ist dann leicht deduziert: „Gleichwie aber ein jedwedes Verbot alwege auch ein Gebot in sich begreift, also folgt auch dieses auff unser Verbot: Ersetze den zugefügten Schaden.“93 Christian Wolff (1679–1754) errichtet sein einflussreiches und u. a. auch das preußische ALR prägende System auf der Pflicht zur Selbstvervollkommnung.94 Eine Pflicht gegen sich selbst ist insoweit auch die Pflicht, sich selbst und alle seine Güter zu erhalten. Da jeden Menschen diese Pflicht trifft, folgt das Verbot, andere in ihren Gütern zu schädigen („Nemo alteri damnum dare, sed omne potius damnum unusquisque quantum in se est, ab altero avertere debet.“95) und ggf. Schäden zu ersetzen. Auch bei Wolff steht das Schädigungsverbot nicht iso-

erga alios) bestehen erstens in der Lieb des Nächsten, und daß man ihn für seines Gleichen tractire, theils weil alle Menschen von Natur einander gleich seynd, theils weil die Gesellschaft in Güte nicht lang bestehet, wann sich einer über die anderen viel herausnehmen will. Daraus folgt zweytens, daß man Niemand beleidigen, das ist: sein Recht, welches er an inn‑ und äusserlichen Gütern hat, ihm nicht entziehen, oder da man Jemand Schaden hieran gethan hat, solchen wieder ersetzen soll (…).“ 91  Thomasius, Drey Bücher Göttlicher Rechtsgelahrheit (1709), II / ​V § 1. „Beleidigen“ steht hier in seiner originären Bedeutung von „Schädigen“; dabei wird auch die etymologische Nähe zur contumelia der römischen iniuria deutlich: Beleidigen und Beschädigen lässt sich ohne Rechtsgut‑ bzw. Rechtsverletzung nicht sinnvoll denken. Die Konkretisierung dessen, was ein Schaden, und mithin Rechtsverletzung sei, wird dann auch bei Thomasius genauer ausgeführt: §§ 17–53. 92  Thomasius, Drey Bücher Göttlicher Rechtsgelahrheit (1709), II / ​V § 3; deutlicher dann noch in seinen „Verbessernden Anmerkungen über das andere Buch der Institut. Iurisprud. Divinae“ als 2. Buch der „Grundlehren des Natur und Völkerrechts (1709) II / ​III § 6: „Oder also: Ich soll den andern in seinen Rechten nicht beleidigen.“; sowie daselbst im 6. Hauptstück des 1. Buches § 62: „Endlichen so viel die Regeln des gerechten betrifft, sollst du andere nicht stören noch in dem Gebrauche ihres Rechtes behindern …“, § 63 „Diesernach sollst du nicht verwunden, nicht tödten, nicht schmähen, nicht mit Lügen schaden, nicht stehlen, nicht Schaden zufügen, nicht Treue und Glauben brechen.“ 93 Drey Bücher Göttlicher Rechtsgelahrheit (1709), II / ​V § 15. 94  Wolff, Grundsätze des Natur‑ und Völkerrechtes (1754), I/2 § 36: „Selbst durch die Natur wird der Mensch verbunden, die Handlungen zu begehen, welche seine und seines Zustandes Vollkommenheit befördern (…).“ 95  Wolff, Jus Naturae, pars II (1743), cap. III, § 579; Grundsätze des Natur‑ und Völkerrechtes (1754), II/3 §§ 269 f. Bei Daries, Institutiones Iurisprudentiae (1757), Tit. II, § 323 wird die Vorstellung des Lehrers in der uns bekannten Fassung weiter ausgeführt: Nemo laedendus est. „Neminem leadamus. Qui alterum laedit, leges perfectas violat, ideoque se infelicem reddit. Sed, ut felicitatem nostrum promoveamus, obligati sumus, ergo et neminem leadamus.“; § 331: „Nemini damnum dare debemus.“

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liert. Das zeigt bereits der systematische Ort, an welchem er es behandelt: „Von den Pflichten und Rechten aus dem Eigentum“, vor allem aber auch die spezielle Behandlung sehr markanter, und das heißt sachbezogener Einzeltatbestände: furtum, fraus, rapina, invasio usw.96 Das, was man unter einer Schädigung verstehen möchte, bedarf eben in jedem Fall einer Präzisierung. Diese kann entweder in der Definition geschützter Rechtsgüter und Rechtspositionen oder durch Definition verbotener Handlungen erfolgen. Es ist letztlich nur die Frage, wem man diese definitorische Arbeit überlassen möchte. Dass jedenfalls allein die schlichte Rezeption von Ulpians zweitem praeceptum keinen justiziablen Rechtssatz macht, war der naturrechtlichen Rechtslehre ebenso sicher wie die Gewissheit, dass die culpa keine causa obligationis ist. Die mit dem Schädigungsverbot verbundene Abwendung vom subjektiven Handlungs‑ hin zum objektiven Erfolgsunrecht wird dabei besonders radikal vollzogen bei Thomasius. In seiner Schrift zur Larva legis Aquiliae verzichtet er ganz auf eine Einschränkung der Haftungsverantwortlichkeit durch die Berücksichtigung subjektiven Unrechts und bietet so gleichsam das objektive Gegenkonzept zu dem, was die römische Jurisprudenz seiner Zeit an Subtilitäten zur culpa levissima vollführte. Dass freilich mit einer derart konsequenten Durchführung des Gedankens „objektiven Unrechts“ seinerseits Schwierigkeiten verbunden sind, ist nicht unbemerkt geblieben und in der Sache bis heute ein Problem bei der Begründung einer Haftung ohne Verschulden, genannt: Verursachungs-, Risiko‑ oder Gefährdungshaftung.97 Doch geht es spätestens seit der vernunftrechtlichen Besinnung auf das objektive Unrecht der Schädigung als maßgeblichem haftungsbegründendem Prinzip eben auch bis heute bei der Diskussion um Bedeutung und Reichweite des Verschuldensprinzips um das „wichtigste haftungsbeschränkende Prinzip“98. 2. Aufklärung und Unklarheit: Die Generalklausel in den Kodifikationen „Oder also: Ich soll den andern in seinen Rechten nicht beleidigen.“ Christian Thomasius, 170999

Wie nun zwischen dem römischen, deutschen und natürlichen Recht unauflösliche Interdependenzen bestanden, so sind freilich auch die sog. natur‑ bzw. vernunftrechtlichen Kodifikationen nicht ohne diese Interdependenzen zu verstehen. Erstens war die Existenz eines einheitlichen haftungsrechtlichen Prinzips

 Grundsätze des Natur‑ und Völkerrechtes (1754), II/3 §§ 263–268. Außervertragliche Schadensersatzpflicht ohne Verschulden? ZSRom 93 (1976), 208 ff.; Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 343 ff. 98  Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 620. 99 Grundlehren des Natur und Völkerrechts (1709) II / ​III § 6. 96

97 Benöhr,

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unbestritten. Zweitens konnte dieses Prinzip nicht von den Subtilitäten der aquilischen Haftung herrühren. Und so wird der klassische Grundsatz des neminem leadere in Gestalt eines einheitlichen allgemeinen Deliktstatbestandes, die culpa hingegen als ergänzendes Haftungsprinzip neben dem dolus positiviert. Aber in der Tat: Eine Kodifikation ist bekanntlich keine leichte Angelegenheit.100 In inhaltlicher Sicht muss sie eingrenzen und doch alles Recht umfassen und in formeller Hinsicht muss sie die Dinge so eindeutig benennen, dass sie vor jeder juristischen Rabulistik Bestand haben. Wer sich kurzfassen will, wird schnell sehr abstrakt, und wer anschaulich sein will, der wird kompliziert und ggf. redundant. Vor allem aber bleiben bei der Konzentration auf das Wesentliche Selbstverständlichkeiten unerwähnt. „Jedes, auch das relativ vollendetste Recht bietet uns Beispiele von mißlungenen Formulierungen d. h. nicht von Mißgriffen in den Bestimmungen selbst, sondern in ihrer Fassung und beweist damit die hohe Schwierigkeit der hier zu betrachtenden Operation (…). Die Formulierung wird bald zu eng, bald zu weit sein. Bald werden wesentliche Voraussetzungen der Regel verschwiegen, vielleicht weil man ihrer gar nicht gedachte, vielleicht auch weil man sie als selbstverständlich ansah (…).“101

So scheint es zumindest auch dem Verhältnis von Rechtsverletzung und Verschuldensprinzip im weiteren Verlauf ergangen zu sein. Wer in abstracto das allgemeine Schädigungsverbot mit dem Verschuldensprinzip zusammen kodifiziert und dabei das Erfordernis der Bestimmung des objektiven Unrechts vernachlässigt, der behält am Ende die culpa als Tatbestand subjektiven Unrechts und alleinigen Haftungsgrund. Die moderne Geschichte der culpa in contrahendo ist zu einem guten Teil – und zwar immer dort, wo man sich auf ein sensibleres Rechtsempfinden und / ​oder die naturrechtlichen Entwicklungen beruft – eine Geschichte schlichter Abstraktion; eine Geschichte schlichter Prinzipiendeduktion, die vom Verschulden als Haftungsprinzip und nicht als Haftungsbegrenzung wie selbstverständlich ausgeht. In den naturrechtlichen Kodifikationen ist der benannte Zusammenhang von Rechtsverletzung (objektives Unrecht) als Haftungsbegründung und Verschulden (subjektives Unrecht) als Haftungsbegrenzung, jedenfalls wenn man genauer hinsieht, immer noch vorhanden. Sehen wir also genauer hin:

100  Zum Problem immer noch grundlegend Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814); auch Jhering, Geist des römischen Rechts I (1878), S. 26 ff. 101 Jhering, Geist des römischen Rechts I (1878), S. 31.

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a) 1756: Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis „Auf die Obligation ex Pacto vel Contractu, wovon sich bishero gehandelt hat, folgt nunmehro auch Obligatio ex Delicto. Darunter sind alle Facta verstanden, welche gegen Gesetz und Verbot aus freyen Muth und Willen verübt werden. … Verum vel Quasi-Delictum heißt es, je nachdem der Delinquent in Dolo oder nur in Culpa versirt.“ Wiguläus Aloysius Frh. v. Kreittmayr, 1765102

Eine interessante Summe aus römischem, deutschem und natürlichem Recht zieht der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756. Die zentrale Fundierung des Codex in der naturrechtlichen Pflichtenlehre von Thomasius und Heineccius ist bereits angesprochen. Ausgangspunkt für eine weitere Präzisierung des insoweit deduzierten allgemeinen Schädigungsverbots im Deliktsrecht ist dann gleichsam die Definition eines „Verbrechens“ als all das, was man gegen Gesetz und Verbot aus freiem Willen tut oder unterlässt (§ 1 Teil IV, Kap. 16: „Von Verbrechen und der daraus entspringenden Verbindlichkeit überhaupt“). Ein so weiter Verbrechensbegriff überrascht aus heutiger Sicht. Doch findet sich hier nicht nur eine interessante Parallele zu Grotius’ Gleichsetzung von culpa als maleficium und debitum, sondern im Kern die bereits oben für das römische Recht angesprochene Trennung von Straf‑ und Privatrecht, die Trennung von Buße / ​Strafe und Schadensersatz / ​Restitution deutlich wieder. Der Codex differenziert insoweit nämlich zwischen verum delictum und quasi-delictum. Ersteres verlangt dolus, für zweites genügt culpa.103 Das entspricht einem wichtigen Ansatz bei der historischen Trennung von Privat‑ und Strafrecht: Allein die vorsätzliche Begehung eines Deliktstatbestandes führte zu Strafe, die fahrlässige ‚nur‘ zu Schadensersatz.104 Der Codex gibt damit die aus dem römischen Recht bekannte Einteilung zwischen delicta privata und publica nicht gänzlich auf, sondern gibt ihr eine neue Bedeutung. Die Unterscheidung ist in ihrem herkömmlichen Sinne nämlich hinfällig, weil mittlerweile alle Verbrechen von Amts wegen bestraft werden und kein einziges Verbrechen mehr privatum, sondern alle publica sind.105 Verwendet wird die Unterscheidung jedoch mit der 102 Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem IV (1765/1821), Kap. 16, §§ I–IV, Anm. 1 f., S. 730/732. 103  Vgl. hierzu auch Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 (1959), S. 25, Fn. 142. 104 Wesel, Geschichte des Rechts (2. Aufl. 2001), Rn. 234. In diesem Zusammenhang wird auch die Aussage von Puchta verständlich, dass in der Verantwortlichkeit für culpa eine Erweiterung des Deliktsbegriffs liege (Pandekten, § 378, Anm. e). 105 Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem IV (1765/1821), Kap. 16, §§ I–IV, Anm. 3, S. 734: „Juro germanico et moderno wird obige Distinktion inter delicta privata et publica von vielen Authoribus völlig verworfen, weil es an einem hinlänglichen Fundamento distinctionis hierunter ermangelt, indem man heut zu Tage alle Verbrechen überhaupt von Amts wegen zu bestrafen pflegt, und jedermann den Ankläger oder Denuncianten hierin machen kann, folglich kein einziges Verbrechen mehr privatum ist, sondern in effectu alle publica sind.“

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überwiegenden Auffassung im usus modernus in einem anderen Sinne: „… man versteht nämlich unter delictis publicis nur die Malefiz‑ und Fraisfälle, unter den privatis hingegen die civil‑ und niedergerichtliche Verbrechen, vulgo Frevel.“106 Wer ein Verbrechen begeht, „der verbindet sich dadurch stillschweigend, und ipso Facto nicht nur gegen die Obrigkeit, sondern auch gegen den beschädigten Theil zu gebührender Satisfaction, woraus mithin eine doppelte Action, nemlich poenalis & persecutoria, entspringt, jene ziehlt hauptsächlich auf die Straf des Delinquentens, diese hingegen auf die Restitution dessen, was er durch das Verbrechen an sich gebracht hat, oder sofern er die Sach selbst nicht mehr in dem nemlichen Stand beyzuschaffen vermag, auf die Vergütung des Werthes wienichtweniger auf die Indemnisation all anderer etwan hierum erlittener Schäden und Kosten.“ (Codex § 2, Teil IV, Kap. 16)107. Unter diesen Prämissen ist die Postulation einer haftungsrechtlichen Generalklausel, welche die Schranken der ursprünglichen actio legis Aquiliae vermeintlich hinter sich lässt, in der Tat unproblematisch: Die Deliktstatbestände sind als Verbrechen und mithin als objektives Unrecht benannt. Für die zivilrechtliche „Satisfaktion“ ist insoweit nurmehr culpa statt dolus erforderlich. Oder anders formuliert: für die privatrechtliche Restitution ist der Nachweis des dolus nicht erforderlich. Mit Blick auf die vertretenen Haftungskonzepte sind somit der naturrechtliche und der römischrechtliche Standpunkt der Zeit miteinander ausgesöhnt: „Daß 1. der Schaden, welcher einem anderen an Hab und Gut ungerechterweiss zugefügt wird, von dem Damnifikanten wiederum ersetzt und gutgemacht werden müsse, ist zwar sowohl in dem natürlichen – als römischen Recht offenbar gegründet, wie aber 2. das letzte durch die sogenannte Legem Aquiliam von dem ersten in vielen Stücken desfalls abweicht und allerhand unnötige Subtilitäten in sich hat, so conformirt sich der heutige Gebrauch mehr mit jenem als diesem Recht und pflegt mithin 3. bei der Actione Legis Aquiliae all jenes, was oben von der Actione persecutoria überhaupt vorkommt, ohne Unterschied der Sachen oder Art und Weis wie der Schaden geschehen ist, wiedrum beobachtet zu werden.“108

106 Kreittmayr, aaO.: „Andere, mit welchen es auch unser Codex § 1 hält, bleiben zwar noch bei obiger Distinktion, jedoch in einem ganz andern Sensu, als es die Römer genommen haben (…).“ 107 Hierzu auch Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem IV (1765/1821), Kap. 16, §§ I–IV, Anm. 4, S. 735: „Der Delinquent macht sich mittels seines Verbrechens auf doppelte Weise obligat, erstlich gegen die Obrigkeit zur Strafe; zweytens: gegen den beleidigten Theil zu gebührenden Satisfaktion, mithin auch zu Restitution dessen, was er etwa ex delicto an sich gebracht hat, oder sofern er die Sache in dem nämlichen Stand nicht mehr beyzuschaffen vermag, zu Restituirung des Werths, wie nicht minder zur Indemnisation anderer hierdurch verursachten Kosten und Schäden, woraus eben auch eine doppelte Aktion wider ihn entspringt, nämlich Actio poenalis et rei persecutoria. Jene zielt auf das erste, diese auf das zweyte Stück obgedachter Obligation.“ 108 § 6, Teil IV, Kap. 16.

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b) 1794: Das preußische Allgemeine Landrecht „Wenn schon in der Praxis des gemeinen Rechts die Actio legis Aquiliae zu einer mehr generellen Entschädigungs-Klage ausgeweitet war, so haben die Redactoren des A. L. R. die Abstraction in der Behandlung der Entschädigungsansprüche bis zur Uebertreibung durchgeführt.“ Ludwig Eduard Heydemann, 1861109

Bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst erscheinen die haftungsbegrenzende Rolle der culpa und der Zusammenhang zwischen culpa und Rechtsverletzung dann offenbar im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794. Und das liegt an dem Einfluss, den wiederum der usus modernus auf diese im Kern von naturrechtlichen und römischrechtlichen Einflüssen geprägte Kodifikation ausgeübt hat. Die hier interessierende inhaltliche Seite betrifft zum einen die Ausdehnung der Haftung auch auf jede culpa, und sie betrifft zum zweiten die Konzeption der Widerrechtlichkeit. Das ALR steht hier gleichsam zwischen einer Haftung für Verhaltens‑ (culpa) und Erfolgsunrecht (iniuria). Die vermeintliche Generalklausel findet sich im 6. Titel des 1. Buches in den §§ 1, 8 und 10–12 § 1 ALR I, 6 definiert zunächst den Begriff des Schadens als jede „Verschlimmerung des Zustandes eines Menschen in Ansehung seines Körpers, seiner Freiheit oder Ehre, oder seines Vermögens“. § 8 ALR I, 6 bestimmt dann mit Bezug auf den Schadensbegriff den Begriff der „Beleidigung“ (Schädigung) im Zusammenhang mit dem objektiven Unrechtsgehalt der schädigenden Handlung (Widerrechtlichkeit): „Wer jemandem ohne Recht Schaden zufügt, der kränkt oder beleidigt denselben.“ § 10 ALR I, 6 konstatiert den Ersatzanspruch in Abhängigkeit vom subjektiven Unrecht (dolus bzw. culpa lata): „Wer einen anderen aus Vorsatz oder grobem Versehen beleidigt, muss demselben vollständige Genugtuung leisten.“ § 11 ALR I, 6 spricht diese Haftung dann auch abstrakt für Pflichtverletzungen (also das Handlungsunrecht) aus: „Eben dazu ist auch der verhaftet, welcher eine dem Andern schuldige Pflicht aus Vorsatz oder grobem Versehen unterlässt, und dadurch demselben Schaden verursacht.“ § 12 ALR I, 6 bestimmt die Haftung für culpa levis: „Wer nur aus mäßigem Versehen den Andern durch eine Handlung oder Unterlassung beleidigt, der haftet nur für den daraus entstandnen wirklichen Schaden.“ Und § 15 ALR I, 6 erfasst schließlich auch die Haftung für culpa levissima: „In Fällen, wo auch ein geringes Versehen vertreten werden muß (Tit. III. § 22. 23.), haftet der Beschädiger nur für den durch ein solches Versehen entstandenen unmittelbaren Schaden.“

Hier scheint nun auf den ersten Blick die culpa zu einer causa obligationis gemacht zu sein und die Festlegung des objektiven Unrechts in § 8 sich allein negativ auf das Fehlen von Rechtfertigungsgründen zu beziehen. Zweifel an 109 System

des Preußischen Civilrechts I (1861), S. 294.

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

dieser allgemeinen Lesart zum ALR ergeben sich allerdings nicht nur mit Blick auf die methodologische Grundstimmung der Kodifikation, die jede Form von Richterwillkür durch gesetzlich strenge Bindung verhindern wollte, sondern auch aus systematischen Gründen, die in der Kodifikation selbst liegen. Dabei fällt zunächst schon die offensichtlich haftungsbegrenzende Rolle auf, die der culpa in der Zusammenschau der genannten ‚Generalklausel‘ zukommt. Die Zweifel, ob hier tatsächlich schlichtweg der Grundsatz des neminem laedere mit der culpa verbunden und zu positivem Recht erklärt wurde, erhärten sich, wenn man auf das geistige Fundament der Gesetzgebung schaut, das in der Einleitung hinlänglich Ausdruck gefunden hat. Dass nämlich auch das ALR nicht lediglich von einer allgemeinen Pflicht, niemanden zu schädigen, sondern letztlich von Rechtsverletzungen ausgeht, erhellt ein Blick in seine Einleitung: § 83 EALR klingt dort nämlich schon sehr nach „wohlgeordneter Freiheit“: „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freiheit, sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines anderen, suchen und befördern zu können.“

Das aber heißt ganz liberal gesprochen: Wo nicht das Recht der Freiheit eine Grenze zieht, da kann der Gebrauch der Freiheit nicht zum Schadensersatz verbinden. Der dahinterstehende aufklärerische Gedanke des ALR findet sich dann auch in den §§ 85–87 EALR klar ausgedrückt: „Rechte und Pflichten, welche aus Handlungen oder Begebenheiten entspringen, werden allein durch die Gesetze bestimmt.“ „Rechte, welche durch die Gesetze nicht unterstützt werden, heißen unvollkommen, und begründen keine gerichtliche Klage oder Einrede.“ Das aber heißt: Was das Gesetz nicht verbietet, das ist erlaubt. Es kommt allein auf die im Gesetz klargestellten Rechte für die Bestimmung an, ob eine Schädigung vorliegt oder nicht. Die Rechtsverletzung ist also die maßgebliche causa obligationis, nicht aber die culpa. Wandel und Präzisierung des Pufendorf-Wolff’schen Pflichtensystems zu einem System wohldefinierter Rechte werden in § 93 EALR deutlich ausgesprochen: „Wer den anderen in der Ausübung seines Rechtes hindert, beleidigt denselben und wird ihm für allen daraus erwachsenen Schaden und Nachteil verantwortlich.“

Das ist die eigentliche haftungsrechtliche Generalklausel. Die „Beleidigung“ (Schädigung) ist hier also deutlich an eine Rechtsverletzung geknüpft. Die §§ 10 ff. ALR I 6 sind in diesem Kontext zu verstehen, und es geht dann in der Tat nur noch um eine differenzierte Berücksichtigung des subjektiven Unrechts bei der Bestimmung des Umfangs des Schadensersatzes  – also eine Regelung, die im BGB bei den §§ 249 ff. ihren Platz hätte und das Problem der Totalkompensation, die ja, wie gesehen, aus der Sicht des Verschuldensprinzips ein Skandal ist, differenzierter auflöst. Wichtig für die weitere Entwicklung ist nun vor allem die doppelte Konnotation, die bei der Bestimmung des objektiven Unrechts eines Delikts im Begriff

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der „Widerrechtlichkeit“ bzw. „Rechtswidrigkeit“ in Erscheinung tritt. Rechtswidrig kann nämlich einerseits bedeuten: Eingriff in ein fremdes Recht (§ 93 EALR) oder andererseits: fehlende Rechtfertigung eines solchen Eingriffs (§ 8 ALR I, 6). Man kann ersteres auch als die positive und zweiteres als die negative Seite der Rechtswidrigkeit (bzw. Widerrechtlichkeit) bezeichnen oder mit Blick auf die zugrunde liegenden Haftungskonzepte auch präziser von einem erfolgs‑ oder verhaltensbezogenen Verständnis der Rechtswidrigkeit sprechen.110 Das erste Begriffspaar macht mit seiner darin vorkommenden, doppelten Negation immerhin deutlich, worum es bei einer negativen Rechtswidrigkeit eigentlich geht: Es geht um die Rechtmäßigkeit entsprechend dem gemeinrechtlichen Satz: qui iure suo utitur, neminem laedit, nemini facit iniuriam111. Was iure ist, das kann bis zur Grenze des dolus nicht zugleich iniuria sein. Mit der negativen Konnotation der Rechtswidrigkeit findet sich übrigens ein Erbe des usus modernus im ALR positiv festgeschrieben. Es ist gleichsam die Rückkopplung der gemeinrechtlichen Lehre auf die naturrechtliche Entwicklung. Denn in dem Moment, da die culpa zum zentralen Haftungsgrund einer allgemeinen actio culpae mit dem Grundsatz neminem leadere erhoben wird, fragt sich, was denn der Haftung noch eine Grenze setzt. Und so kommt es zwischen culpa und iniuria zu einem interessanten Rollentausch: Die ursprünglich die positive Rechtsverletzung charakterisierende iniuria wird jetzt gleichsam umgekehrt (deshalb negativ) interpretiert: Eine Rechtsverletzung liegt dann nicht vor, wenn die Handlung als erlaubt angesehen wird. Denn: Was erlaubt ist, das kann kein verschuldetes Unrecht sein. So bleibt etwa die Nutzung des Eigentums an einem Grundstück grundsätzlich auch dann erlaubt, wenn sie einen Nachbarn schädigt; Gebäude oder Bäume müssen nicht im Interesse des Nachbarn unterhalten werden; wer einen Brunnen graben darf, haftet nicht, wenn er dabei den Brunnen des Nachbarn zum Austrocknen bringt, der gewöhnliche Rauch aus dem Hauskamin macht nicht ersatzpflichtig usw.112 Das ist die logische „Consequenz“ einer auf das Handlungsunrecht abstellenden Haftungskonzeption: Es gibt so gleichsam erlaubte und unerlaubte Schädigungen. Das Entscheidende ist nicht die Schädigung, sondern die Beurteilung des schädigenden Verhaltens als erlaubt oder unerlaubt. Damit zeigt sich noch einmal recht deutlich, dass auf diese Weise – im usus modernus pandectarum wie auch im ALR  – die im Gedanken des neminem leadere grundsätzlich angelegte Haftung für Erfolgsunrecht nicht mehr im Vordergrund stand. Eine am Erfolgsunrecht orientierte Konzeption war dort (im usus modernus) mit der Konzentration auf die culpa nicht möglich, und sie war 110 Diese

Begriffe gebraucht auch Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 301 passim.  Hierzu etwa Sintenis, Das praktische gemeine Zivilrecht I (1844), § 27, 2. 112  Weitere Nachweise unter Bezug auf Stryk, De damno rebus alienis licite illato (1744), bei Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 302 f. 111

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hier (im ALR) nicht deutlich ausgeprägt vorhanden. Dem ALR ist insoweit ein inhaltlich stimmiges inneres System nicht leicht zu entnehmen: Es bricht einerseits nicht völlig mit dem alten Pufendorf’schen Haftungskonzept (Haftung für Schäden: § 1 ALR I, 6) und bleibt andererseits auf dem Weg zu einer freiheitlichen Umdeutung und Definition von Schäden als Rechtsverletzungen auf halbem Wege im usus modernus verfangen. Dass jedenfalls Svarez bei der Aufstellung des Entwurfes sehr deutlich von der Schuldlehre des usus modernus ausgegangen war, zeigen die Materialien. Danach stellt sich das Haftungsrecht im Landrecht schlicht so dar: „1. Wann muß ein zugefügter Schaden ersetzt werden? Resp.: sobald solcher dolose vel culpose, commitendo sive ommitendo verursacht worden. 2. Welcher gradus culpae muß prästiert werden? Resp.: in contractibus relative, extra contractum culpa levissima. 3. Was für Schaden muß ersetzt werden? Resp.: a) in dolo vel culpa lata lucrum cessans et damnum emergens; b) in culpa levi damnum immediatum et mediatum, c) in culpa levissima damnum immediatum. 4. Wie weit kann culpa cum culpa kompensiert werden? Resp.: a) Wenn der Damnifikant in dolo vel culpa lata versirt, so findet quoad damnum immediatum compensatio niemals statt; quoad mediatum aber, ingleichen quoad lucrum cessans in so weit, als der Damnifikant den Schaden und Verlust per diligentiam mediam hätte abwenden können; b) wenn der Damnifikant nur in culpa levi vel levissima versirt, so findet compensatio auch quoad damnum immediatum statt, wenn der Beschädigte solches per diligentiam mediam hätte abwenden können.“113

Dass hierbei vielleicht eine Schädigung als Rechtsverletzung immer schon und gleichsam selbstverständlich mitgedacht gewesen war, wird jedenfalls aus der isolierten Betrachtung nur der §§ 1 ff. ALR I 6 nicht hinreichend deutlich. So muss es auch nicht verwundern, wenn man in der Literatur zum ALR kein einheitliches Bild zu den Voraussetzungen eines deliktsrechtlichen Anspruchs erkennen kann. Besonders drastisch äußert sich Ludwig Eduard Heydemann über das Dunkle der Regelung, und er sieht in den §§ 1 ff. ALR I 6 nichts als eine noch schlimmere Larva legis Aquiliae: Die Überschrift des Titels deute zwar auf unerlaubte Handlungen. „Allein in der That ist hier die Rede von der Entschädigung für jede, durch eine unerlaubte oder durch irgend eine andere außercontractliche Handlung verursachte Beschädigung. Ja es fehlt auch nicht an Einwirkungen auf rechtswidriges Verhalten innerhalb der contractlichen Verhältnisse. Daraus

113  Bornemann, Preussisches Civilrecht II (1842), S. 171: „Nach diesen Grundsätzen ist die Theorie des Landrechts abgefasst worden. Sie gehört indessen … zu den am wenigsten gelungenen Arbeiten der Redaktoren.“

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folgt eine gewisse Unklarheit in der objectiven Abgrenzung dessen, was unter die Bestimmungen dieses Titels fallen soll und was nicht.“114 Heinrich Dernburg sieht das in der Sache genauso, gewinnt seinen Standpunkt aus deutschrechtlicher Perspektive und spricht rund heraus von „Verschuldung“ als dem zentralen Haftungskriterium, ohne auf die Frage der Trennung von Schuld und „Widerrechtlichkeit“ überhaupt einen Gedanken zu verschwenden: „Jede außerkontraktliche Verschuldung, welche mindestens mittleren Grades ist, macht den Beschädiger haftbar.“115 Den römisch-rechtlichen Charakter der Schuld als Haftungsbegrenzung betont demgegenüber wieder Franz Förster: „Die Klage aus einer Vermögensschädigung hat“, so heißt es da, „im heutigen Recht insbesondere im A. L. R. einen ganz abstrakten Charakter, sie individualisiert sich nicht nach den Thatsachen, durch welche die Beschädigung verursacht oder nach den Gegenständen, welche beschädigt worden, sondern im preußischen Recht nur nach dem Grade der Verschuldung, welcher den Umfang der Ersatzpflicht bestimmt.“116 Was aber begründet die Haftung, wenn die culpa sie offenbar doch nur begrenzt? Am gründlichsten – und mit bleibender Gültigkeit für die allgemeine Struktur der möglichen Antworten – hat diese Frage Friedrich Wilhelm Ludwig Bornemann behandelt.117 Er geht zunächst von einer positiven Rechtswidrigkeit aus: „Die Handlung oder Unterlassung muß in Bezug auf den dadurch verursachten Schaden ein verschuldetes Unrecht wider den Beschädigten involvieren.“ Das sei insbesondere dann der Fall, wenn „eine in den Gesetzen gemissbilligte Handlung“ vorliegt; er konstatiert dann zweitens für die negative Rechtswidrigkeit (also bei ausdrücklich erlaubten Handlungen), dass hier nur für dolus gehaftet werde (S. 175), um schließlich drittens für den Fall, in welchem das Recht sowohl positiv als auch negativ zur Widerrechtlichkeit schweigt, eine Haftung für bloße culpa zu konstatieren: „Wer eine Handlung begeht, zu der er zwar nicht 114 Preußisches

Civilrecht I (1861), S. 295; vgl. auch das o. a. Eingangszitat. Preussisches Privatrecht II (1878), § 259: „Der Anspruch setzt hiernach voraus: 1. eine Verschuldung … 2. Die Verschuldung muß im Kausalnexus zu einem Schaden des Klägers stehen.“; die Verhaftung im deutschrechtlichen Verschuldensprinzip wird sehr deutlich in den späteren Auflagen des ersten Bandes: vgl. etwa dens., Preussisches Privatrecht I (3. Aufl. 1881), § 119: „Die Verschuldung ist bald primäre Ursache einer Verpflichtung, bald nur sekundäre. Primäre, wenn zwischen dem Verletzer und Verletzten kein besonderes Kontraktsverhältnis bestand … sekundäre, wenn eine solche specielle Verbindlichkeit bereits vorher existierte …“. 116  Förster, Preußisches Privatrecht II (1966), § 152, S. 462; vgl. aber auch die noch etwas kryptischen Ausführungen im Band I (1865), S. 532: neben 1. einem Schaden und 2. einer diesen verursachenden Handlung tritt bei den Deliktsobligationen „noch hinzu, daß die Handlung nicht bloß eine rechtlose, sondern eine widerrechtliche, unerlaubte gewesen, und – was daraus folgt, weil sie auf einem Verschulden beruht – daß sei dem Thäter zuzurechnen sein muß“. Hier wird immerhin die Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld angedeutet. Dass sie noch nicht vollzogen ist, zeigt sich dann im 2. Band (1866, S. 462), bei der unmittelbaren Besprechung der unerlaubten Handlungen. 117 Bornemann, Preussisches Civilrecht II (1842), S. 173 ff. 115 Dernburg,

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besonders berechtigt ist, die aber doch an sich zu den gesetzlich gemißbilligten nicht gehört, muß für den einem Anderen daraus entstandenen Schaden aufkommen, wenn er die Möglichkeit eines schädlichen Erfolges bei Anwendung der erforderlichen Aufmerksamkeit voraussehen konnte, und dennoch die Handlung vorgenommen hat, ohne die zur Verhütung des Schadens nöthigen Vorkehrungen zu treffen.“ Demnach wäre jedenfalls dann, wenn das positive Recht keine Regelung zur Beurteilung der konkreten Handlung enthält, die culpa eine causa obligationis. Damit sind wir dem Wesen der culpa  als allgemeinem Haftungsgrund bereits sehr nahe gerückt: Sie wäre mithin das Instrument der Rechtsfortbildung schlechthin und zwar überall dort, wo eine positive Aussage zur Rechtswidrigkeit (positive oder negative) überhaupt fehlt. Wir werden noch sehen, dass derselbe Gedanke ein zentraler Begründungstopos auch für die culpa in contrahendo (zumal für ihre Kodifizierung) in der Tat geworden ist (Rechtsfortbildungsthese: Ausbildung von neuem positiven Recht durch die culpa als allgemeiner causa obligationis). Wir sehen freilich bereits hier, dass diese Idee durchaus bedenklich ist, wenn eine Lücke angenommen wird, wo an sich gar keine ist. Die Gesetzgeber des ALR haben bekanntlich die Idee einer Kodifikation als lückenlose Zusammenfassung des geltenden positiven Rechts durchaus ernst genommen. Die von Bornemann für seine dritte Möglichkeit unterstellte Lücke existiert nicht, weil und soweit dem Gedanken der Handlungsfreiheit überall dort, wo sie nicht durch das Gesetz ausdrücklich beschränkt ist, in den §§ 85–87 EALR explizit der Vorzug gegenüber richterlicher Rechtsfindung gegeben wurde. Noch einmal: „Rechte, welche durch die Gesetze nicht unterstützt werden … begründen keine gerichtliche Klage oder Einrede.“

Für die uns hier beschäftigende Frage gab es offensichtlich auch keinen ernsten Grund zur Klage. So war es immerhin die Rechtsprechung, die klarstellte: „Die Grundbedingung eines jeden außervertragsmäßigen Entschädigungsanspruchs ist ein Eingriff in die Rechtssphäre des Beschädigten.“, dies sei „für das Preuß. Recht selbstredend der Fall und im § 8 Thl I Tit 6 ausgedrückt“.118 Zweifelsfragen und 118  Urt. v. 9. Juni 1874, ROHG 13, Nr. 136, S. 427; dieser Ansicht folgen in späteren Auflagen auch Förster / ​Eccius, Theorie und Praxis des heutigen gemeinen preußischen Privatrechts II (5. Aufl. 1887), § 152, S. 486: Haftung bei „jedem schuldhaften und widerrechtlichen Eingriff in die Rechtssphäre eines Andern“; Fischer, Lehrbuch des preußischen Privatrechts (1887), § 22, S. 116: „Außerhalb eines besonderen Rechtsverhältnisses ist jedes einem Rechtsgebot oder einem Rechtsverbot widersprechende Handeln rechtswidrig. Rechtswidrig ist namentlich nicht nur der Eingriff in die fremde Rechtssphäre ohne Recht, sondern auch … die Nichterfüllung einer Zwangspflicht.“; dezidiert a. A. zur Interpretation des ALR: Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959), der die negative Rechtswidrigkeit zum Maßstab der Haftung erklärt (S. 34): „Aus der Formulierung des § 8 ALR I 6 ‚Wer jemandem ohne Recht Schaden zufügt …‘ ergibt sich eindeutig, daß Voraussetzung der Schadensersatzpflicht nicht eine Verletzung von Rechten oder objektiven Rechtsnormen ist, sondern daß jede Schädigung eines

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Unsicherheiten beim Umgang mit der haftungsrechtlichen Generalklausel gab es unter dieser Interpretationslage keine, weil und soweit sich die Grenzen der Freiheit, d. h. die Rechte und Pflichten im preußischen ALR doch sehr klar definiert finden.119 Diesen Zusammenhang hat vor allem Christian Friedrich Koch in seiner Darstellung des Deliktsrechts hervorgehoben, wenn er sich insoweit gar nicht um abstrakte Begriffsbestimmungen sorgt, sondern vielmehr die „Forderungen aus unerlaubter Handlung“ nach dem „Gegenstand der Verletzung“ im Einzelnen auflistet; und siehe da: für eine abstrakte Generalklausel blieb demnach kein relevanter Anwendungsbereich mehr übrig.120 Dass Koch insoweit Geist und Anlage des ALR richtig trifft, braucht nicht erneut betont zu werden, ergibt sich dies doch schon aus der einfachen Überlegung, dass es gerade die königliche Ab‑ und Auflehnung gegen richterliche Freiheiten und juristischen „Subtilitätenkram“ gewesen war, die das Projekt der Kodifikation überhaupt auf den Weg gebracht hatte. Und so gehen denn ja auch die Gesetzesverfasser mit den berühmten §§ 46 ff. der Einleitung zum ALR im Grundsatz von der Vollständigkeit der Kodifikation aus, und zwar ohne deshalb eine Rechtsfortbildung gänzlich zu unterbinden. Die Gründlichkeit der Gesetzeskommission hat an der Berechtigung dieses Anspruchs einen unzweifelhaften Verdienst, den selbst Savigny im Zuge seiner Kritik an der Kodifikationsidee seiner Zeit uneingeschränkt zugestehen und hervorheben musste: „Es ist nicht möglich, in dieser trefflichen Schrift zu sehen, wie durch vereinte und stets wiederholte Arbeit der eigentlichen Redactoren, der Gesetzcommission, der Landescollegien, der ständischen Deputirten, und vieler Gelehrten und Geschäftsmänner aus allen Theilen von Deutschland das Landrecht entstanden ist, ohne vor dem Ernst und der Ausdauer, die darin bewiesen worden sind große Achtung zu empfinden, die Seele des Ganzen aber war der geistreiche Suarez, durch welchen Einheit in der Wirksamkeit so vieler und verschiedener Mitarbeiter erhalten wurde.“121

anderen, soweit sie nicht aus besonderen Gründen gerechtfertigt ist, als an sich widerrechtlich angesehen wird.“ 119 Vgl. etwa zur Frage, ob auch der nur mittelbar Geschädigte Ersatz verlangen kann: Urt. v. 9. Juni 1874, ROHG 13, Nr. 136, S. 427; zu Ersatzansprüchen Hinterbliebener: RGZ 3, 319/321; ausführliche Nachweise bei Kiefer, Die Aquilische Haftung im ALR (1989), S. 221 ff., mit dem Fazit: „Getreu dem römischrechtlichen Aktionensystem ist es nicht die Grundnorm, auf die in den Entscheidungen die Ersatzpflicht gestützt wird. Stattdessen werden die besonderen Vorschriften des Deliktsrechts, die die speziellere Regelung enthalten, vorrangig angewendet.“ 120  Vgl. die Zusammenstellung der aus dem gesamten ALR zusammengetragenen Delikte bei: Koch, Lehrbuch des Preußischen gemeinen Privatrechts II (1846), S. 484 ff.: 1. Ehrenkränkung, 2. Beleidigung der Willensfreiheit, 3. Körperbeschädigung, des weiteren 4. Diebstahl und Raub, 5. Besitzstörungen, 6. Beschädigung an Sachen, nicht ganz in die Systematik passt 7. Beschädigung durch Thiere, 8. Eingriffe in gewerbliche Exklusiv-Berechtigungen, 9. Unerlaubte Selbsthülfe, 10. Betrug, 11. Verletzung durch Staatsbeamte und 12. das römische quasi-delikt: de effusis et dejectis. 121 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 82 f.

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Das leitet nahtlos zum letzten Punkt der Betrachtung: Unter diesem auf Gründlichkeit und Vollständigkeit beruhenden Anspruch der Kodifikation ist es dann ja auch nicht verwunderlich, wenn Jhering im ALR sowohl die Fallgruppen als auch die abstrakte Formel für seine culpa in contrahendo bereits vorgefunden hat. Das gilt insbesondere auch für den zentralen Problemfall, von dem er in seiner Abhandlung zur c. i. c. ausgegangen ist: den Irrtum. Und das gilt ebenso für die vermeintliche Entdeckung des „negativen Vertragsinteresses“. c) Exkurs: Die culpa in contrahendo im ALR „Das preußische Allgemeine Landrecht enthielt in §§ 284 ff I 5 eine Regelung der Haftung wegen Verletzung der ‚bei Abschließung des Vertrags ihm (d. h. einer Partei) obliegenden Pflichten‘. Nach der (Wieder‑)Entdeckung der culpa in contrahendo durch Ihering wurde das Institut … allseits bekannt.“ Regierungsbegründung zu § 311 Abs. 2 BGB, 2002122

Die Frage, inwieweit ein Irrtum beachtlich oder unbeachtlich für die Wirksamkeit des Vertrages ist, war bereits in der Naturrechtsdoktrin ausgiebig debattiert, und die von Christian Wolff vertretene schadensersatzrechtliche Lösung zwischen den Extremen: Wirksamkeit (Vertrauens‑ bzw. Erklärungstheorie) oder Unwirksamkeit (Willenstheorie) ist auch von den Verfassern für das ALR übernommen worden: § 79 ALR I. 4: „Ist jedoch derselbe [der Erklärende] durch eignes grobes oder mäßiges Versehen in den Irrthum gerathen, und der Andre hat nicht gewusst, daß der Erklärende sich irre, so ist der Erklärende zum Ersatz des durch seine Schuld entstandnen Schadens verpflichtet.“

Insbesondere aber die Differenzierung zwischen positivem und negativem Vertragsinteresse, die von manchen bis heute als das eigentlich bewahrenswerte Novum der culpa in contrahendo angesehen wird, ist nur ein schwacher und im Ergebnis unglücklicher Abglanz der ausdifferenzierten Verschuldenshaftung im ALR.123 Vereinfacht wird man sagen dürfen, dass Jhering im Grunde die Lösungen des ALR für die aus seiner Sicht noch ungelösten Probleme des gemeinen Rechts übernommen hat.124 Jhering griff bei der Erstellung seiner Kasuistik munter auf einzelne Bestimmungen des ALR zurück,125 bevor er schließlich 122 BT-Drucks.

14/6040 S. 161 f.  Zum Problem unten § 4 III. (Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse?). 124  Wie gesehen, bestehen bereits in diesem Punkt ernste Zweifel, dass es tatsächlich die von Jhering emphatisch vorgetragenen ungelösten „Trostlosigkeiten“ im gemeinen Recht gegeben habe, vgl. oben und insb. Luig, Von Savignys Irrtumslehre zu Jherings culpa in contrahendo, ZNR 1990, 68 ff. 125 Die Synopse muss hier nicht im Detail ausgebreitet werden; vgl. Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861) etwa zu „1. Fähigkeit des Subjects“: §§ 33, 36 ALR I, 5 bzw. § 135 ALR II, 2 (S. 45 f.) und § 866 ABGB; zu „2. Fähigkeit des Objects“: § 53 ALR I, 5 und § 878 ABGB (S. 47 f.); zu „3. Zuverlässigkeit der Mittheilung des Willens“: § 105 ALR I, 5, § 79 ALR I, 4. 123

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meinte, die Aussage des § 284 ALR I 5 auch für seine Konstruktion als „eine ganz überraschende Bestätigung meiner Ideen“ beanspruchen zu können: § 284 ALR I 5: „Was wegen des bei Erfüllung des Vertrages zu vertretenden Grades der Schuld Rechtens ist, gilt auch für den Fall, wenn einer der Contrahenten bei Abschliessung des Vertrages die ihm obliegenden Pflichten vernachlässigt hat.“

Jedenfalls für die in Anlehnung an Jherings vermeintliche „Entdeckung“ von ihm selbst und sodann auch immer wieder von anderen viel zitierte culpa in contrahendo im ALR126 ist die hier vorrangig zu besprechende Sache eindeutig: Ausgangspunkt der Erweiterung einer vertraglichen auf eine vorvertragliche Haftung ist der Nachweis einer positiven „Pflichtverletzung“. Die culpa selbst erzeugt sie nicht; die Schuld ist auch hier nur Haftungsbegrenzung, nicht aber Haftungsbegründung. Das ALR war ja auch nicht deshalb ein bisschen „dicke“, weil es in Großbuchstaben verfasst war, sondern, weil es sehr detaillierte Regelungen für alle möglichen (so auch vorvertragliche) Pflichten enthielt. Im Übrigen muss man sich nicht über die Präzision des ALR in diesem Punkt verwundern. Verwundern muss man sich eher darüber, dass es bis heute als besondere Erkenntnis gefeiert wird, dass Pflichten, die andere wie selbstverständlich als vertragliche ansehen würden (man denke etwa an alle Fälle der Leistungsstörungen: Nicht-, Spät‑ und Schlechterfüllung), natürlich bereits im vorvertraglichen Bereich als Untersuchungs‑ und Aufklärungspflichten verorten kann. Die Erfüllung dieser Pflichten wird dann freilich bereits vor Vertragsschluss erfordert. Hier eben liegt der schlichte Gedanke der erneuten „Wiederentdeckung“ der culpa in contrahendo bei Franz Leonhard im Jahre 1910.127 Die Verfasser des ALR jedenfalls kannten offenbar die möglichen „Subtilitäten“ juristischer Argumentation. Der zitierte § 284 ALR I, 5 findet sich denn auch nicht zufällig bei den Bestimmungen über die „Erfüllung der Verträge“.128 126 Zuerst wohl Dernburg, Bürgerliches Recht I (1902), § 130, S. 391; Wellspacher, Naturrecht und ABGB (1911), Bd. I, S. 175/196 f.; Titze, Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516/518; Wesenberg / ​Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte (4. Aufl. 1985), S. 150; Choe, Culpa in contrahendo bei Rudolph von Jhering (1988), S. 203 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 245; Grigoleit, Informationshaftung (1997), S. 1, Fn. 1; Giaro, Culpa in contrahendo (2000), S. 114 ff.; und diese Bemerkung hat es dann sogar bis in die Gesetzesbegründung „zu § 311“ BGB des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes geschafft: BT-Drucks. 14/6040 S. 161 f. (siehe Eingangszitat). Die These von der „Wiederentdeckung“ liegt nahe, verschleiert freilich, dass es sich genau genommen weniger um eine „Entdeckung“ als vielmehr um eine schlichte rechtsvergleichende Übernahme mit suggestiver Begriffsbildung handelt. 127 Hierzu unten § 5 II.2. 128  Vgl. schon die Klarstellungen bei Förster / ​Eccius, Preußisches Privatrecht I (5. Aufl. 1887), § 78 III, S. 454 ff.: „Man hat im preußischen Recht den Satz ausgesprochen finden wollen, daß bei allen Verhandlungen über einen Kontraktschluß, auch wenn dieselben nicht das beabsichtigte Ziel erreicht, zwischen den Verhandelnden ein Rechtsverhältniß entstehe, durch welches sie einander zur Wahrung von Treue und Glauben in demselben Maße verpflichtet werden, wie dafür in dem beabsichtigten Vertragsverhältniß selbst einzustehen ist, so daß eine schuldhafte

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In der Sache liegt hier kein tieferer Sinn, als er in der allgemeinen Aussage jeder auf das Handlungsunrecht abstellenden Haftungskonzeption inbegriffen ist: dass jede Pflichtverletzung auch eine angemessene Sanktion erfordert. Die spannende Frage bleibt, woran eine entsprechende haftungsbegründende Pflicht zu erkennen sei und wer zu ihrer Erkenntnis berufen ist. Nach dem dezidierten Anspruch des ALR auf Vollständigkeit  – den Jhering dann ja kaum zufällig auch für sich und die Fallgruppen seiner c. i. c. in Anspruch genommen hat – unterliegt es auch hier (im Vertragsrecht des ALR) keinem Zweifel, dass sich § 285 ALR I, 5129 nur auf die gesetzlich bestimmten Fälle einer entsprechenden vorvertraglichen Pflichtverletzung bezogen hat. Wenn man sich insoweit einmal lediglich auf die bei Jhering erfolgte Rezeption beschränkt, so handelt es sich um die bekannten Fälle der Unwirksamkeit bzw. fehlenden Perfektion eines Vertrages, die sich im ALR explizit normiert finden (1. fehlende Geschäftsfähigkeit;130 2. Unmöglichkeit;131 3. Vertreter ohne Vertretungsmacht;132 4. Scherzerklärung und Irrtum133; 5. Widerruf einer Offerte134) und die als konkrete objektive Bestimmungen dann ja auch im BGB ihre entsprechende oder modifizierte Regelung gefunden haben. Wenn immer wieder und sogar in der Gesetzesbegründung zur Schuldrechtsreform gut 200 Jahre später der Hinweis auf eine culpa in contrahendo im preußischen ALR erfolgt, so liegt darin nur ein vermeintliches historisches Argument für die Dignität dieses Haftungsinstituts. In methodologischen Klartext übersetzt heißt die Berufung auf das ALR in diesem Punkt doch gar nichts anderes als: Sogar das ALR kennt die culpa in contrahendo, lasst uns eine haftungsrechtliche Generalklausel daraus machen! Gerade aber unter diesem Gesichtspunkt ist es eher zynisch, sich für die gesetzliche Fixierung einer „Ermächtigung zu tatbestandsfreiem Judizieren“ (Josef Esser) ausgerechnet auf das ALR zu berufen. Das Gegenteil folgt, und zwar auch für die vermeintlichen Lücken, die zu schließen die vorzugsweise Aufgabe der culpa in contrahendo im 20. Jahrhundert gewesen sein soll:

Verletzung dieser Sorgfalt auf Grund jenes Rechtsverhältnisses Entschädigungsansprüche hervorbringe. Der § 284 I. 5. A. L. R., auf den diese Ausführung gegründet wird, bezieht sich aber, wie die ihm vorangehenden Bestimmungen nur auf den Fall eines fertig geschlossenen verbindlichen Vertrags. Er besagt, daß der eine Kontrahent dem anderen, ebenso wie durch mangelhafte Erfüllung, auch durch sein schuldhaftes Verhalten beim Abschluss des Vertrages (z. B. durch Verschweigen schädlicher Eigenschaften des Vertragsgegenstandes) nach dem Grade der von ihm durch Vertrag übernommenen Sorgfalt verantwortlich werde.“ 129 „Wer bei Abschließung oder Erfüllung des Vertrags seine Pflichten vorsetzlich, oder aus grobem Versehen verletzt hat, muß dem Andern sein ganzes Interesse vergüten.“ 130  §§ 85 f. ALR I 4; §§ 33–36 ALR I 5; § 135 ALR II 2. 131 § 53 ALR I 5; § 40 ALR I 11. 132  §§ 8, 9, 96, 128, 145 f., 171 ALR I 13; hierzu auch RGZ 6, 259. 133  § 56 ALR I 4 (Scherzerklärung); §§ 79 f. ALR I 4 (Irrtum). 134 §§ 103–105 ALR I 5.

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So findet sich nämlich über die genannten Fälle hinaus etwa auch eine spezielle und ähnlich differenzierte Regelung „Von gewagten Geschäften und ungewissen Erwartungen“ in §§ 527 ff. ALR I 11, also einer Materie, die heute wohl ein Hauptanwendungsfeld der culpa in contrahendo bei „unerwünschten Verträgen“ ausmacht. Ebenso hat auch die für den vorvertraglichen Bereich wesentliche Haftung für Rat und Empfehlung in den §§ 217–223 ALR I 13 eine differenzierte Regelung gefunden. Die bereits angesprochene Abstufung der Haftung nach dem jeweiligen Grade des Verschuldens wird auch hier sehr deutlich: Nach § 218 haftet man für wissentliche Falschauskünfte (also dolus); eine erhöhte Sorgfalt trifft „Sachverständige“, die gem. § 219 auch für „grobe Versehen“ (also culpa lata) haften; schließlich haftet für „mäßige Versehen“ (also culpa levis) nur, wer aufgrund eines Entgeltes, d. h. aufgrund eines Vertrages einen Rat erteilt. Das für die heutige Diskussion „primärer Vermögensschäden“ vor allem relevante Problem der „Auskunfts-“ bzw. „Berufshaftung“ hat mithin im ALR eine am Verschuldensprinzip ausdifferenzierte Lösung erfahren. So zeigt sich auch hier, dass für eine ‚deliktische Generalklausel‘ ein ernsthafter eigenständiger Anwendungsbereich schwerlich noch verbleibt;135 eine allgemeine Haftung für culpa in contrahendo findet sich jedenfalls im ALR an keiner Stelle. Nicht zuletzt deshalb erscheint mir auch das, was Achim v. Arnim 1814 gegenüber seinem Schwager Savigny zur Wertschätzung des ALR vorgebracht hat, bis heute für wesentliche Teile desselben und jedenfalls für seine aufklärerische Grundintention beherzigenswert und wahr zu sein: „Und da möchte ich wohl fragen, wie es anders zu erreichen war, daß im Preußischen selbst der Bauer das Rechtswesen nicht mehr wie in Hessen für eine geheimnisvolle Geisterbeschwörung und Glücksspielerei, sondern für etwas Treues, Ehrliches und sehr Würdiges hält, gern sich die Stellen im Landrecht zeigen läßt und sich fast immer damit von törichten Prozessen zurückhalten läßt. … Das Landrecht war für unser Volk in rechtlicher Hinsicht so wichtig wie Luthers Bibelübersetzung, weder die Bibel noch das Gesetzbuch werden eigentlich im Volke gelesen, aber nachgeschlagen werden beide, jeder kann dazu kommen und dieser Zustand ist auch im übrigen Deutschland wünschenswert (…).“136

Man wünschte, dieser bei der Abfassung des ALR obwaltende ernsthafte Geist verantwortungsvoller Gesetzgebung hätte sich bis in unsere Tage bewahren können, und wir könnten Ähnliches noch vom geltenden BGB behaupten.

135  Soweit Förster / ​Eccius, Theorie und Praxis des heutigen gemeinen preußischen Privatrechts I (5. Aufl. 1887), § 78 III, S. 456, die Haftung aus den o. g. speziellen Fällen der culpa in contrahendo tatsächlich als „Ausfluß des allgemeinen Grundsatzes“ einer Haftung für allgemeine Vermögensschäden erblicken und der deliktsrechtlichen Generalklausel überantworten wollen, übersehen sie, daß §§ 285 ff ALR I 5 hier eindeutig die spezielleren Regelungen sind. 136  Arnim an Savigny, abgedruckt in ZSGerm 13 (1892), 228 ff.; auch bei H. Hattenhauer, Einführung in die Geschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (2. Aufl. 1994), S. 29.

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d) 1804: Der Code Civil „Zuletzt ist noch bey dem Code über dasjenige zu sprechen, was in subsidium gelten soll, wo er nicht zureicht. Ueber den Umfang und die Wichtigkeit desselben haben sich die Franzosen nicht getäuscht, sie haben eingesehen, daß eigentlich die allerwenigsten Rechtsfälle unmittelbar durch eine Stelle des Code entschieden werden können, daß also fast überall jenes Unbekannte das wahrhaft entscheidende seyn müsse.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1814137

Der Code Civil von 1804 erscheint nun schon auf den ersten Blick geradezu als Antithese zum ALR. Das betrifft sowohl den Zeitpunkt als auch den Zeitrahmen seiner Entstehung und daraus folgend: den Anspruch auf Vollständigkeit und Durchdachtheit dieses Gesetzes. Der Code ist vornehmlich eine politische Kodifikation, in der es um die Klarstellung der Prinzipien und weniger um die gründliche Lösung von konkreten oder komplizierten juristischen Details geht. Zum politischen Hintergrund bedarf es hier keiner besonderen Erörterung. Der Zusammenhang von Revolution und Kodifikation ist hinreichend bekannt138 und in seiner Auswirkung auf die Gründlichkeit der Redaktion von kritischen Stimmen hinlänglich beschrieben: Die Stimmung war schwankend und in nur 4 Monaten (sic!) legten die vier Redaktoren einen Entwurf dem Staatsrat vor, der dort auf eine Weise diskutiert wurde, die selbst Thibaut als ein oberflächliches Hin‑ und Herreden und Durcheinandertappen beschrieben hat.139 Auch wenn der inhaltliche Einfluss, den Napoleon bei diesen Beratungen genommen hat, Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten ist,140 sein energischer Wille, die  Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 73.  Spangenberg, Commentar über den Code Napoleon I (1810), § 1: „(…) der erste freundliche Stern, welcher über dem unglücklichen Frankreich aufgieng, nach einer langen schreckenvollen Nacht … Empfangen in den Stürmen der Revolution, und den Gräueln der Anarchie, geprüft und bewährt durch eine theuer erkaufte Erfahrung (…).“ 139 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 55 ff.; Ferid, Das französische Zivilrecht I (1971), S. 119 f. 140  Ernest Jac, Bonaparte et le Code civil, De l’influence exercée par le Premier Consul sur notre législation civile (1898); René Savatier, L’art de faire les lois: Bonaparte et le code civil (1927); Pierre Villeneuve de Janti, Bonaparte et le Code civil (1934) ; Jean Carbonnier, in: Le Code civil, 1804–2004, Livre du Bicentenaire (2004), S. 20 : « Le Code civil est inséparable de la personne de Bonaparte »; Carbonnier, Droit civil (2004) vol. 1, Nr. 73 : « On discute si le rôle de Bonaparte dans l’élaboration du Code a été réel ou fictif, heureux ou néfaste. Ce qu’il faut reconnaître, à tout le moins, c’est qu’il a eu le mérite de vouloir un Code civil et de le vouloir avec continuité » ; Pauthier, Les origines du Code civil, in: Claude Witz (Hrsg.) Le Bicentenaire du Code civil – 200 Jahre Code civil, (2004), S. 25–37 : « Bonaparte présida lui-même 55 des 107 séances de discussion au Conseil d’État. Il renoue ici avec une pratique traditionnelle de l’absolutisme. Louis XIV, puis Louis XV, avaient personnellement siégé dans les commissions préparant les grandes ordonnances royales de la fin des 17e et 18e siècles. Le premier Consul a ainsi eu un rôle essentiel, orientant, dirigeant les débats avec autorité, tranchant parfois d’interminables discussions juridiques au gré de ses convenances personnelles (il en est ainsi du maintien du divorce et de l’adoption) ou politiques (l’autorité du père de famille étant le reflet 137 138

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Sache nicht nur auf den Weg, sondern auch zu einem Abschluss zu bringen, war unzweifelhaft dafür verantwortlich, dass das Gesetzbuch in jenen wirren Zeiten überhaupt zustande kam.141 Dieser Zusammenhang bedarf an dieser Stelle nur und vor allem deshalb der Erwähnung, weil wir es hier ganz offenbar mit einer „großen deliktsrechtlichen Generalklausel“ zu tun haben, deren Entstehungsgeschichte sohin die spätere These Hedemanns von den Ursachen einer „Flucht in die Generalklausel“ gleichsam für den Prototyp aller gesetzlichen Generalklauseln zu bestätigen und vorwegzunehmen scheint: „Von da aus gelangen wir mit einem Sprunge zum Gesetzgeber (…) In jagendem Fluge fabriziert er seine Gesetze, seine Notverordnungen, seine Aus‑ und Durchführungsbestimmungen. Er stellt Einzeltatbestände auf, einige nach gründlichster Feile, andere schon flüchtiger, um dann – vom Misstrauen in sein Werk befallen – bei der Generalklausel zu landen. Will man diesen Vorgang besonders deutlich machen, so muß man sagen: Es fehlt die Zeit, die Kraft, die Lust, den zu behandelnden Stoff restlos durchzudenken. Das Denken des Gesetzgebers bricht vorher ab, er tritt die Flucht zur Generalklausel an.“142

Man hat später aus den Worten des Discours préliminaire, mit denen Portalis (1745–1807) den Entwurf des CC einbrachte und die von einer Notwendigkeit der Fortbildung des Rechts durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft sprachen, eine weise Bescheidenheit und Zurückhaltung der Gesetzesverfasser erblicken wollen. Wenn man hier allerdings ehrlich ist, so handelt es sich um gar nichts anderes als um eine salvatorische Klausel in der – nun allerdings zutreffenden – Einsicht, dass man in 4 Monaten schwerlich ein vollständig durchdachtes Gesetzeswerk zustande bringen kann: „Dans cette immensité d’objets divers qui composent les matières civiles, et dont le jugement, dans le plus grand nombre des cas, est moins l’application d’un texte précis, que la combinaison de plusieurs textes qui conduisent à la décision bien plus qu’ils ne la renferment, on ne peut pas plus se passer de jurisprudence que de lois. Or, c’est à la jurisprudence que nous abandonnons les cas rares et extraordinaires qui ne sauraient entrer de celle du chef de l’État). Il est certain que sans cette présence que certains témoins ont qualifiée de « militaire », jamais ce cinquième projet de Code civil n’eut abouti » (S. 31) ; Eckhard Maria Theewen, Napoléons Anteil am Code civil (1991); Sourioux, Le rôle du Premier consul dans les travaux préparatoires du code civil, in: Ouvrage collectif de l’Université Panthéon-Assas, 1804–2004. Le Code civil, un passé, un présent, un avenir (2004), S. 107–121; Romuald Szramkiewicz / ​Jacques Bouineau, Histoire des institutions 1750–1914 (1998), Rn 541 : « Von Justinian zu Napoléon » erzählen eine Anekdote über Napoléon. Er hätte die Digesten von Justinian in Haft, als er ein junger Oberleutnant war, so gut gelesen und auswendig gelernt, dass er bei den Staatsratssitzungen für die Redaktion des Code civil, noch viel hätte zitieren können. Napoleon hat sich offensichtlich die Eingangsworte der Constitutio Imperatoriam zu eigen gemacht, wonach es neben dem militärischen Erfolg gegen die äußeren Feinde der Bewahrung des Rechts im Inneren bedarf: „Imperatoriam maiestatem non solum armis decoratam, sed etiam legibus oportet esse armatam (…).“ 141 Kaden, in: Heinsheimer u. a. (Hrsg.), Die Zivilgesetze der Gegenwart I (1932), S. VII. Der Code trug denn auch „in Anerkennung seiner Verdienste“ (Ebel / ​Thielmann, Rechtsgeschichte, 2003, Rn. 389) von 1807–1816 (und wieder von 1852–1870) den Namen „Code Napoleon“. 142 Hedemann, Die Flucht in die Generalklausel (1933), S. 66.

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dans le plan d’un législation raisonnable, les détails trop variables et trop contentieux qui ne doivent point occuper le législateur, et tous les objets que l’on s’efforcerait inutilement de prévoir, ou qu’une prévoyance précipitée ne pourrait définir sans danger. C’est à l’expérience à combler successivement les vides que nous laissons. Les Codes des peuples se font avec le temps; mais, à proprement parler, on ne les fait pas.“143

Aber sehen wir allein auf das uns interessierende Ergebnis. Ist nämlich im ALR der Zusammenhang zwischen culpa und Rechtsverletzung nicht zuletzt aufgrund der ausdifferenzierten Detailregelungen zumindest nicht mehr auf den ersten Blick offensichtlich, so scheint er schließlich im Code Civil aufgrund seiner Abstraktheit in der Tat gar nicht mehr vorhanden. Der Code basiert mit seiner haftungsrechtlichen Generalklausel der Art. 1382 f. auf dem „Traité des Obligations“ Pothiers, der den allgemeinen Satz enthält, jeder habe den durch seine Schuld verursachten Schaden zu ersetzen.144 Und so ist denn auch nach allgemeiner Auffassung mit der aus nur zwei Artikeln bestehenden „berühmten deliktsrechtlichen Generalklausel“ des CC gleichsam der Kulminationspunkt der gemeinrechtlichen und naturrechtlichen Abstraktionen auf den Punkt gebracht: Art. 1382 CC: „Tout fait quelconque de l’homme, qui cause à autrui un dommage, oblige celui par la faute duquel il est arrivé, à le réparer.“ (Jede Handlung eines Menschen, die einem andern eine Verletzung verursacht, verpflichtet den, durch dessen Verschulden derselbe entstanden ist, ihn zu ersetzen.) Art. 1383 CC: „Chacun est responsable du dommage qu’il a causé non seulement par son fait, mais encore par sa négligence ou par son imprudence.“ (Jeder ist verantwortlich, nicht nur für den Schaden, den er durch sein positives Handeln, sondern auch für den, den er durch seine Nachlässigkeit oder seine Unvorsichtigkeit verursacht hat.)

Hier, im französischen Deliktsrecht, vollendet sich also offenbar die Abstraktionsentwicklung der vorhergehenden Jahrhunderte, verbindet sich die Formel vom neminem laedere mit dem deutschrechtlichen Verschuldensprinzip. Doch hängt genau genommen letztlich alles an dem, was unter der unbestimmten und vieldeutigen „faute“ als einzig besonderem Haftungsmerkmal des Art. 1382 CC zu verstehen sein soll. Die Diskussion zu diesem Thema ist bis heute ebenso 143 Portalis, Discours préliminaire (1841/1999), S. 14 f. : „In der Unendlichkeit verschiedenster Fragen, aus denen sich die zivilistische Materie zusammensetzt, und deren Beurteilung in den weitaus meisten Fällen weniger durch die Anwendung eines präzisen Textes als durch die Verbindung mehrerer Texte vor sich geht, die zwar zur Entscheidung hinführen, aber diese nicht selbst enthalten, kann Jurisprudenz (Rechtsprechung / ​-wissenschaft) so wenig entbehrt werden, wie Gesetze. Daher überlassen wir der Rechtsprechung einmal die seltenen und außerordentlichen Fälle, die eine verständige Gesetzgebung nicht in ihren Plan aufnehmen darf, sodann die Einzelheiten, welche zu veränderlich und zu zweifelhaft sind, um den Gesetzgeber beschäftigen zu können, endlich alle Gegenstände, die vorauszusehen man sich vergebens bemühen würde, oder die schon jetzt zu behandeln voreilig oder gefährlich wäre. Sache der Erfahrung wird es sein, Lücken, die wir lassen, nach und nach auszufüllen. Die Gesetzbücher der Völker machen sich selbst im Laufe der Zeit; aber man kann sie nicht machen, wenigstens nicht im vollen Sinne dieses Wortes.“ 144 Pothier, Traité des obligations (1761), S. 57.

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unerschöpflich wie kontrovers, und es würde zu weit führen, dieselbe an dieser Stelle mit dem Anspruch auf Vollständigkeit rezipieren zu wollen: „Ebenso wie bei der faute contractuelle besteht bei der faute délictuelle keine Klarheit und Einigkeit über Wesen und Inhalt. Insbesondere – und das ist der Urgrund aller Zweifelsfragen – sind objektive und subjektive Tatseite nicht hinreichend getrennt. Faute und cause, objektive und subjektive Haftungsvoraussetzungen werden durcheinander geworfen, aber auch Schuldausschließungs‑ und Rechtfertigungsgründe nicht klar auseinandergehalten.“145 Kurz: Das ganze Spektrum möglicher Interpretationsweisen lässt sich hier leicht nachweisen und damit das Problem einer Generalklausel schlechthin: Unklarheit! Ich beschränke mich im Weiteren auf die Frage, ob und inwieweit die culpa im CC zur causa obligationis gemacht worden ist und dabei auf die Darstellung einer eigenen historischen Deutung, wie sie sich mir aus dem bisher entwickelten Gesamtzusammenhang und den dünnen Quellen ergibt. Dass es sich insoweit bei der faute nicht um die culpa im engeren Sinne (d. h. Fahrlässigkeit) handeln kann, dürfte deutlich aus Art. 1383 CC hervorgehen, der négligence und imprudence eigenständig erwähnt. Auch die häufig anzutreffende Deutung als „Schaden“ passt aus dem gleichen Grund nicht, weil „dommage“ der passende Begriff ist. So liegt die Annahme nahe, mit faute sei die culpa im weiteren Sinne und mithin ihre deutschrechtliche Version, d. h. in der Tat Verschuldung gemeint, die sowohl den Causalnexus, den dolus als auch die culpa im engeren Sinne mit erfasst. Aber auch diese Deutung ist nicht leicht möglich, weil hierfür 1. der Begriff culpabilité zur Verfügung gestanden hätte, 2. ein adäquater Begriff für dolus nun wiederum in Art. 1383 CC nicht zu finden ist,146 3. bei einer so verstandenen culpa der Causalnexus immer mitgedacht wäre, die Schadensverursachung aber wiederum explizit mit der Passage „cause à autrui un dommage“ erwähnt ist und weil vor allem 4. eine Konzeption des Handlungsunrechts nicht recht zu dem Grundthema des Code Civil, nämlich der Definition und dem Schutz subjektiver Rechte, passt. So bleiben in der Sache nur zwei originäre Deutungen von „faute“, die leicht ineinander aufgehen und letztlich doch auf den Begriff der Rechtsverletzung hinauslaufen: Man muss ja faute auch nicht als Schuld, Verschulden oder, wie es neuere Übersetzungen tun, als Pflichtverletzung und mithin als Ausdruck des Handlungsunrechts interpretieren. Näher liegt demgegenüber der Gedanke des Fehlers bzw. der Verfehlung oder Übertretung. Wenn wir heute von einem Foul im Fußball reden, so wird deutlich, worum es geht: Der Begriff Foul erfasst sicherlich auch die Handlung, vor allem aber doch das unschöne Ergebnis, mit 145  Ferid, Das französische Zivilrecht I (1971), S. 829; ebenso: Ferid / ​Sonnenberger, Das französische Zivilrecht II (2. Aufl. 1986), S. 460 f.; Rémy Cabrillac, Droit des obligations (1998), S.  166 f. 146  Heute sucht man überwiegend den dolus in den Begriff fait des Art. 1382 hineinzulesen; doch genügt das schwerlich der historischen Deutung; denn es findet sich doch eher der Kontrast von Tun und Unterlassen in beiden Normen.

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dem der freie Lauf des Gegenspielers sein Ende gefunden hat. Wenn man nun berücksichtigt, dass das Handlungsunrecht speziell mit Art. 1383 CC erfasst ist, dann bleibt in der Tat für die faute in Art. 1382 CC nur das Erfolgsunrecht, der Vorwurf einer juristischen Übertretung. Diesen Vorwurf nennen wir im deutschen Sprachgebrauch: Rechtsverletzung. Dass dies anders als in jüngerer Zeit auch die Deutung der französischen Jurisprudenz im 19. Jahrhundert gewesen ist, bezeugt Zachariäe, wenn er ausgehend vom Begriff délit (Vergehen) feststellt: „Ein Vergehn in der Bedeutung des [französischen] bürgerlichen Rechts ist eine jede Handlung, durch welche Einer die Rechte eines Andern, wissentlich oder aus Fahrlässigkeit unbefugt verletzt. Art. 1382. 1383.“147 Der Begriff „faute“ erfasst demnach sowohl die positive als auch die negative Rechtswidrigkeit: „Die That, durch welche der Schade verursacht worden ist, muss eine die Rechte des Andern verletzende und unbefugte That gewesen sein. (Qui jure suo utitur, nemini injuriam facit.)“148 Nun stellt sich natürlich sofort die Frage, woher diese Rechte, auf welche die faute Bezug nehmen soll, stammen. Die moderne Deutung ist (ganz unabhängig davon, ob sie in der faute die Rechtsverletzung erblicken will oder nicht) sehr leicht versucht, eben hier den fortschrittlichen Gedanken der Generalklausel festzumachen und auf die Freiheit des Richters zu verweisen. Und in der Tat gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die Verfasser des CC gegenüber dem Richterrecht jedenfalls nicht ganz so zurückhaltend eingestellt waren wie ihre preußischen Kollegen. Gleichwohl wird man nicht annehmen können, dass gleichsam das gesamte Deliktsrecht zur richterlichen Gestaltung freigegeben war. Der eigentliche Zusammenhang von haftungsrechtlicher Generalklausel und De Zachariä, Handbuch des Französischen Zivilrechts II, 5. Aufl. (1853), S. 572.  Zachariä, Handbuch des Französischen Zivilrechts II, 5. Aufl. (1853), S. 576; zu demselben Ergebnis kommt Kaden, in: Heinsheimer u. a. (Hrsg.), Die Zivilgesetze der Gegenwart I (1932), S. 441: „Beide Begriffe umfassen rechtswidrige, einen schädigenden Erfolg herbeiführende Handlungen (‚actes illicites [= ‚contraires au droit‘] dommageables‘)“; entsprechend wird in jeder Deutung des Wortes „faute“ der Gedanke der Rechtswidrigkeit hineingelesen und man streitet lediglich darüber, ob auch Verschulden erfordert sei; in diesem Sinne dann Kaden, aaO., S. 445: „Als ‚faute‘ im Sinne der Art. 1382 und 1383 ist daher ein schuldhaftes, rechtswidriges Verhalten des Täters zu bezeichnen.“; Ripert / ​Boulanger, Traité de droit civil d’après le traité de Planiol II (1957), S. 348: „la faute est l’acte contraire à la loi“; explizit a. A. Ferid, Das französische Zivilrecht I (1971), S. 829: „Daß eine klare dogmatische Abgrenzung zwischen den Begriffen Rechtswidrigkeit und Schuld fehlt, daß wir – mit Motulsky – ein Übergewicht des Schuldmoments feststellen müssen, geht letztlich darauf zurück, daß der Code die Ersatzpflicht für außervertragliche Schädigungen nicht ausdrücklich von der Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Schädigers abhängig macht.“; Motulsky, RabelsZ 25 (1960), 242/244 beschreibt die Sache quasi als Literärgeschichte: „Einmal ist im französischen Zivilrecht (die Lage ist anders im Strafrecht) kaum die Rede von der Rechtswidrigkeit. In dem alten Lehrbuch von Aubry und Rau – die nach den Materialien von Zachariae gearbeitet haben – findet man zwar die Bedingung der Rechtswidrigkeit noch erwähnt; aber in der neuen von Esmein herausgegebenen Auflage ist sie verschwunden. Die Schadensersatzpflicht ergibt sich für Esmein aus drei Quellen: Schuld, Schaden, Kausalität; von Rechtswidrigkeit ist nicht die Rede.“; entsprechend immer noch Ferid  / ​ Sonnenberger, Das französische Zivilrecht II (2. Aufl. 1986), S. 460. 147 148

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finition der einschlägigen Rechtsverletzungen wird erst deutlich, wenn wir uns hier noch einmal den Prozess der Emanzipation des Strafrechts vom Privatrecht und mithin die Unterscheidung von Delikt und Quasidelikt vor Augen führen. Wir werden es insoweit schwerlich als Zufall oder skurrile Merkwürdigkeit anzusehen haben, wenn das Kapitel, das im CC von unerlaubten Handlungen handelt, ohne die unerlaubten Handlungen genauer zu benennen, mit „Des délits et des quasi-délits“ überschrieben und nicht im französischen Zivilrecht, dafür aber hinreichend im französischen Strafrecht von Rechtswidrigkeit die Rede ist.149 Erinnern wir uns an die Entwicklungen im deutschen Recht, die ihren deutlichen Ausdruck dann noch im Codex Maximilianeum erhalten haben, so wird auch klar, warum sich in Art. 1382 f. kein Hinweis auf eine Haftung für dolus findet. Diese Haftung ist natürlich mit der in der faute enthaltenen Verweisung auf die im Strafrecht zu ahndenden Verbrechen und Vergehen hinlänglich erfasst. Demgegenüber bedurfte es dann in Art. 1383 CC lediglich einer Klarstellung, dass bei objektiver Erfüllung eines Deliktstatbestandes eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit zum Schadensersatz auch bei négligence und imprudence besteht. Das ist nicht nur eine – im Hinblick auf die sehr knappe zur Verfügung stehende Zeit für den Entwurf – effektive Regelung, sondern entsprach der französischen Doktrin für das Deliktsrecht der Zeit; denn: die „kulposen Vergehungen pflegt die französische Rechtssprache nach Vorgang von Pothier ‚quasidelits‘ zu nennen.“150 Man kann die Sache auch so sehen: Der Schadensersatz aus unerlaubten Handlungen ist für das französische Recht noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nichts weiter als ein „Civilpunkt in Criminalsachen“151 und kann daher gar nicht unabhängig vom Zustand des Strafrechts und Strafprozesses verstanden werden, wo noch bis zur Revolution die allergrößte Willkür der Richter bei der Feststellung sowohl der einzelnen Delikte als auch ihrer Sanktion herrschte.152 Dass  Ferid, Das französische Zivilrecht I (1971), S. 829.  Zachariä, Handbuch des Französischen Civilrechts II (8. Aufl. 1898), § 413 (443), S. 755, Fn. 1.; vgl. auch Warnkoenig / ​Stein, Französische Staats‑ und Rechtsgeschichte II (1848), S. 530: „Bemerkenswerth ist es noch, daß die Franzosen den römischen Begriff von Quasi-delict meist missverstanden haben. Bouteiller gibt eine ganz verworrene Definition derselben, und die Neueren [namentlich Pothier] verstehen darunter Nichts als culpose im Gegensatz zu Delicten als dolosen Vergehen.“ 151  Warnkoenig / ​Stein, Französische Staats‑ und Rechtsgeschichte II (1848), S. 530. Damit wird auch erklärlich, warum etwa Lassaulx, Ueber die unterscheidenden Charactere des Code Napoleon (1811) in seiner Herausarbeitung der grundlegenden Charakteristik und Prinzipien des Code zum Deliktsrecht vollständig schweigt: In diesem Bereich war ja nichts aufregend Neues geregelt! Das wäre also so, als ob das BGB im Deliktsrecht nur das Verhältnis von Delikt und Quasidelikt in § 823 Abs. 2 mit dem Hinweis geregelt hätte, dass auch jede fahrlässige Verletzung (von Straf‑ bzw. Schutzgesetzen) zum Schadensersatz verbindet. Vgl. auch Zimmermann, Heutiges Recht (2000), S. 4: „Der Code civil sei dazu bestimmt gewesen, einheitliches, nicht neues Recht zu schaffen.“ m. w. N. 152  Hierzu: Warnkoenig / ​Stein, Französische Staats‑ und Rechtsgeschichte III (1846), S. 610: „Das Gebiet des Strafrechts ist wirklich das Gebiet der vollständigsten Willkühr der Gerichte gewesen.“; zum bis heute bestehenden engen Zusammenhang von Strafprozess und 149 150

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sich aus dieser wissenschaftlichen Armut gleichsam die Idealvorstellung von einem erstrebenswerten Recht der unerlaubten Handlungen in richterlicher Unabhängigkeit soll entwickelt haben können, ist eine der originellen ironischen Merkwürdigkeiten, wie sie in der Geschichte gelegentlich vorkommen (auch in der Geschichte der Rechtswissenschaft). Wie sagte noch Savigny mit Bezug auf das Unbewusste beim Umgang mit dem CC: „… die Römer des vierten und fünften Jahrhunderts nach Christus haben auch nicht daran gedacht, daß wir sie wegen ihres tiefen Verfalls bedauern würden.“153 Aber wer käme auf die Idee, sie ob ihres Zustandes zu preisen? „Mais quelle jurisprudence! N’ayant d’autre règle que l’arbitraire sur l’immensité d’objets à coordonner au système de la législation nouvelle, à quelle unité, à quel concert faudrait-il s’attendre de la part d’une pareille jurisprudence, ouvrage de tant de juges et de tant de tribunaux, dont l’opinion ébranlée, par les secousses révolutionnaires, serait encore si diversement modifiée! Quel serait enfin le régulateur de cette jurisprudence disparate, qui devrait nécessairement se composer de jugements non sujets à cassation, puisqu’ils ne reposeraient pas sur la base fixe des lois, mais sur des indéterminés d’équité, sur des usages vagues, sur des idées logiciennes, et, pour tout dire en mot, sur l’arbitraire! A un système incomplet de législation, serait donc joint pour supplément une jurisprudence défectueuse.“154

Der immer wieder zu vernehmende Ruf nach einer haftungsrechtlichen Generalklausel im Sinne des französischen CC verkennt letztlich auch nur die damit verbundene Verkehrung des Problems: Es geht dann in der Tat nicht mehr um die Ausdehnung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit  – eine zivilrechtlichem Deliktsrecht: Ferid / ​Sonnenberger, Das französische Zivilrecht II (2. Aufl. 1986), S. 454 ff. 153  Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1914), S. 79. 154  „Was für eine Jurisprudenz! Keine andere Regel als die Willkür, um die Unermesslichkeit des Rechts mit dem System der neuen Gesetzgebung in Übereinstimmung zu bringen; was für eine Einheit, was für eine Harmonie sollte man von einer solchen Rechtsprechung erwarten, die Urteile vieler Richter und vieler Gerichte, deren Auffassungen durch die revolutionäre Entwicklung angeschlagen sind, werden noch immer weiter ungleich modifiziert! Worin bestünde schließlich eine Regulierung dieser disparaten Rechtsprechung, die notwendigerweise aus revisionsbeständigen Urteilen bestehen sollten, da sie nicht auf der festen Grundlage gesetzlicher Regeln beruhen, sondern auf Unbestimmtheiten der Billigkeit, auf unklaren Bräuchen, auf theoretischen Ideen und, kurz und gut in einem Wort: auf der Willkür! Zu einem unvollständigen Gesetzgebungssystem ist so folglich als Zugabe eine notwendig fehlerhafte Rechtsprechung beigefügt.“ So das Tribunal von Montpellier über den zukünftigen Gerichtsgebrauch, wodurch der Code ergänzt werden soll; zitiert bei Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1914), 80 f. mit dem sinnigen Zusatz: „Diesem Uebel zu begegnen, heißt es weiter, könne man zwey Wege einschlagen. Entweder den Code blos betrachten als Institutionen, und ihm ein zweytes, ausführliches Werk beygeben, was den Zweck von Justinians Pandekten und Codex hätte. Oder man könnte zweytens und besser als Regel das bisherige, verschiedene Recht bestehen lassen, und blos in einzelnen bestimmten Stücken neues und gleichförmiges Recht durch ganz Frankreich einführen, das heißt also, kein Gesetzbuch machen. Dieses ist der eigentliche Vorschlag, und die ganze Art, wie er ausgeführt und begründet wird, ist so gediegen und ächt praktisch, daß man in dieser Umgebung durch so frische Gedanken zwiefach erfreut wird.“

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solche wäre (in ihrer weiten Interpretation) ja auch nicht mehr möglich –, sondern es ginge um die Eingrenzung einer quasi omnipräsenten Haftung.155 Die Argumente und Gesichtspunkte zur Lösung der einen Aufgabe sind freilich identisch mit den Argumenten und Begründungen zur Lösung der anderen. Es ist dann letztlich nur die methodologische Frage nach der Zuständigkeit dessen, der sie formuliert: Der Gesetzgeber, der Richter oder die Rechtswissenschaft. Genau in der Antwort auf diese Frage offenbart sich das Selbstverständnis einer Rechtswissenschaft, die Wissenschaft zu sein beansprucht. Und insoweit bleibt es doch wohl bei der Aussage Hedemanns: dass die Generalklausel und mithin die Delegation der Problemlösung an den Richter im Einzelfall immer Ausdruck ist für einen Mangel an Zeit, Kraft und Lust, „den zu behandelnden Stoff restlos durchzudenken“.156 e) 1811: Das österreichische ABGB „Ich glaube hieraus den Schluß ziehen zu dürfen, daß ein gutes Gesetzbuch alle gewöhnlichen Fälle durch positive Normen geregelt, enthalten müsse, sonst werden die Richter über die Anwendung der Principien des Gesetzbuches, eben so wie die Schulen über die verschiedenen Systeme, in schwankende Theorien gerathen, oder ein eigenes usuelles Recht allmählig bilden, nicht zu gedenken, daß von den Richtern kein außerordentliches Maß von Einsichten und Scharfsinn erwartet, oder gefordert werden könne.“ Franz v. Zeiller, 1816157

Das österreichische ABGB von 1811 erscheint im Ergebnis gleichsam wie ein Kompromiss zwischen dem preußischen Landrecht und dem französischen Code. Es ist nicht ganz so ausführlich und detailversessen wie jenes, aber doch auch keineswegs so lose zusammengestrickt wie dieser.158 Der Unterschied wird 155  Das bemerken zutreffend Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/35: „Natürlich bereiten gleichwohl gewisse Bedürfnisse nach einer Haftungsausweitung Schwierigkeiten, doch wirft die ‚große‘ Generalklausel bekanntlich umgekehrt entsprechende Probleme der Haftungseingrenzung auf.“; S. Lorenz, Die c. i. c. im französischen Recht, ZEuP 1994, 218 ff.: Die deliktische Generalklausel sorgt in jeder Situation für angemessenen Ausgleich; Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 733 ff.: Die unterschiedliche dogmatische Verortung ändere „nichts an der Identität der Sachprobleme“ (S. 734). 156  Ausf. zu diesem methodologischen Problem unten §§ 8, 9. 157  Abhandlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, Bd. 2 (1816), S. 173. 158  Maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung ABGB haben beide schon aus dem engen zeitlichen Zusammenhang nicht gehabt; das ALR dabei eher noch stärker als der Code Civil. Vgl. zum Verhältnis mit letzterem: Heiss, Der Einfluß des Code Civil auf die österreichische Privatrechtskodifikation (1999), S. 515 ff.; Meissel, Le code civil autrichien  – contrepart du code civil francais? (2005), S. 119 ff.; ders., Le Code civil autrichien (2011). Zur Gesetzgebungsgeschichte allgemein: Harrasowsky, Geschichte der Codification des österreichischen Civilrechts (1868). Zum Einfluss des römischen Rechts: Koschembahr-Lyskowski, Zur Stellung des römischen Rechts im allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch für das Kaisertum Östreich (1911), S. 209 ff.;

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deutlich in der uns allein interessierenden allgemeinen Deliktsnorm. Diese ist im Grunde ebenso strukturiert wie die des preußischen ALR, jedoch ohne noch das Verschuldensprinzip (d. h. die Haftungsbegrenzung der culpa) in derselben Feinheit aufzulösen. Die österreichische Deliktsklausel kommt daher auch mit drei Paragraphen aus: § 1293 definiert zunächst den Schaden als jeden Nachteil, der jemandem an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefügt worden ist. § 1294 bestimmt die Schädigung als Handlungsunrecht in der Zweiteilung von culpa und casus: „Der Schade entspringt entweder aus einer widerrechtlichen Handlung oder Unterlassung eines Andern; oder aus einem Zufalle.“ § 1295 formuliert das Erfordernis subjektiven Unrechts und die Rechtsfolge: „Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern, der Schade mag durch Übertretung einer Vertragspflicht oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein.“

Auch wenn der Begriff „widerrechtlich“ hier keineswegs so deutlich nur in seiner negativen Konnotation wie in § 8 ALR I, 6 erscheint, verdichtet sich doch das Erfordernis der positiven Rechtsverletzung in diesem einzigen Wort.159 Das ABGB steht bei der Formulierung der deliktsrechtlichen Generalklausel offensichtlich ebenso wie das ALR zwischen den Einflüssen der klassischen, auf die Pflichten orientierte Naturrechtstradition und der zuletzt maßgeblich von Kant begründeten Theorie des Rechts als „wohlgeordneter Freiheit“.160 In den beiden, den Entstehungsprozess des Gesetzes maßgeblich prägenden Persönlichkeiten, Karl Anton v. Martini (1726–1800) und seinem Schüler Franz v. Zeiller (1751–1828), wird diese Zweispurigkeit sehr sinnfällig repräsentiert. Beide waren Lehrer des römischen Rechts, aber entsprechend dem Geist der Zeit der Aufklärung und dem Natur‑ bzw. Vernunftrechtsdenken gegenüber nicht nur aufgeschlossen, sondern zugleich maßgebliche Vertreter desselben. Bereits ein Blick auf die biographischen Daten macht deutlich, dass Kants Philosophie Martini nicht in dem gleichen Maße beeinflussen konnte,161 wie den die Endredaktion des ABGB maßgeblich dominierenden Zeiller, bei welchem die Steinwenter, Einfluß des römischen Rechts auf die Kodifikation des bürgerlichen Rechts in Österreich (1954), S. 403 ff.; Wesener, ZNR 1984, 113 ff.; ders., Einflüsse (1989); Völkl, Die österreichische Kodifikation und das römische Recht (1999), S. 277 ff. 159  Entsprechend kommentiert etwa Wolff in: Klang (Hrsg.), ABGB VI (2. Aufl. 1951), § 1294: „Rechtswidrig ist jeder Sachverhalt, der rechtlich nicht sein soll, also verboten ist.“; ausf. ders., Verbotenes Verhalten (1923); eben dies sagt bekanntlich der Begriff der „unerlaubten Handlungen“. 160 So der passende Titel zur Beschreibung von Kants Rechtslehre bei Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993). 161  Die Hauptwerke Martinis sind „Positiones de lege naturali“ (1762); deutsch „Lehrbegriff des Naturrechts“ (1787, 2. Aufl. 1797, 3. Aufl. 1799) und „De lege naturali exercitationes sex“ (1766); entsprechend naturrechtlich geprägt sind der sog. „Entwurf Martini“ (1796) und das „Westgalizische Gesetzbuch“ (1797). Zu Leben und Werk: Hebeis, Karl Anton von Martini (1996).

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freiheitstheoretische Konzeption individueller Rechte unübersehbar ist.162 Und so verwundert es nicht, wenn Zeiller zum Widerrechtlichkeitsbegriff des § 1294 ABGB festgehalten hat, dass dieser „nicht aus der Verbindlichkeit des anderen, keinen Schaden zuzufügen, sondern aus dem Rechte, sein Eigenthum und seine Rechte zu erhalten und zu behaupten“ herzuleiten sei.163 Damit ist der Wandel vom antiken neminem laedere zum neuzeitlichen Schutz subjektiver Rechte konzeptionell vollzogen. Mit dem so gefassten Begriff der „Widerrechtlichkeit“ wird der Fokus vom subjektiven (Handlungs‑)Unrecht der culpa (bzw. der Pflichtverletzung) auf das objektive (Erfolgs‑)Unrecht der Rechtsverletzung gerichtet. Auf letzteres allein kommt es nach Zeillers Ansicht für die Begründung einer Haftpflicht an. Zeiller behandelt entsprechend der Kantischen Herleitung der subjektiven Rechte aus der Besitzlehre das Recht der unerlaubten Handlungen systematisch als „zu den persönlichen Sachenrechten gehörigen Rechten“, womit die Äquivalenz von neminem laedere und suum cuique noch einmal deutlich wird: Der Begriff der Schädigung korrespondiert der Bestimmung des „Dein“ und „Mein“, korrespondiert der Bestimmung von Besitztiteln, Rechtspositionen oder kurz: der Bestimmung subjektiver Rechte. Erst die Definition dessen, was in dieser Hinsicht als subjektives Recht geschützt ist, ermöglicht die Feststellung einer Schädigung als Rechtsverletzung: Zum Einfluss des älteren Naturrechts (Pufendorf, Thomasius, Heineccius, Wolff) auf Martini insb. Lässer, Martinis Rechtsphilosophie (2008); den grundlegenden Einfluss Martinis auf das ABGB hervorhebend insb. schon die Beiträge von Barta und Lässer, in: Barta / ​Palme / ​Ingenhaeff (Hrsg.), Naturrecht und Privatrechtskodifikation (1999); vgl. auch die Beiträge in: Barta  / ​ Pallaver (Hrsg.), Karl Anton von Martini. Ein österreichischer Jurist, Rechtslehrer, Justiz‑ und Bildungsreformer im Dienste des Naturrechts (2007); zum Einfluss der naturrechtlichen Pflichtenlehre auf die §§ 1293 ff. schon Wellspacher, Das Naturrecht und das ABGB (1911), S. 175 ff. 162  Vgl. nur Zeiller, Das natürliche Privatrecht (3. Aufl. 1819), §§ 2–4, insb. § 3: „Im geselligen Zustande mit anderen Wesen seines Gleichen sagt dem Menschen ferner sein eigenes Bewußtsein (§ 1), daß er, wenn er nicht mit sich selbst in Widerspruch stehen soll (§ 2), die ebenfalls nicht als bloße Mittel zu seinen Zwecken, sondern als Personen behandeln, und daher bey seinen äußeren, auf sie einwirkenden, Handlungen auf keine unumschränkte Freyheit Anspruch machen könne … Die Einschränkung der Freiheit eines jeden Einzelnen auf die Bedingung, daß auch alle anderen neben ihm gleichmässig als Personen bestehen können, ist … das Recht.“ Und daraus folgt (§ 4) „der Hauptgrundsatz der Rechtslehre“: „Alle jene Handlungen, bey denen ein geselliger Zustand äusserlich auf gleiche Weise freyhandelnder Wesen als möglich gedacht werden kann, sind rechtlich, die entgegengesetzten sind widerrechtlich, oder Rechtsverletzungen.“; deutlich auch, wenn er in seinen „Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie“ sich explizit mit der Kritik Kants auseinandersetzend klarstellt, dass die positive Gesetzgebung auf dem Princip beruhe: „seine Freyheit dergestalt einzuschränken, daß auch die Freyheit aller übrigen bestehen könne (…).“ (S. 169). Zum Einfluss Kants auf Zeiller und das ABGB: Swoboda, Das ABGB im Lichte Kants (1926); ders., ABGB I (2. Aufl. 1944), S. 12 ff. 163  Zeiller, Commentar III/2 (1812), S. 729; ders., Das natürliche Privatrecht (3. Aufl. 1819), §§  176 ff.; Rummel / ​Reischauer, ABGB II (2. Aufl. 1992) § 1294, Rn. 7.

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„Das rechtlich Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.“164

Er (Zeiller) spricht von „Gesetzübertretungen“, auf die es für die Geltendmachung eines entsprechenden Schadensersatzanspruchs ankommt und verweist das Verschulden (also das Handlungsunrecht) auf die Rolle als Haftungsbegrenzung. Eben hier – aber auch allein hier – bei der Frage, welcher Grad des Verschuldens (lata oder levis) letztlich vorliege, wird dem Richter ein notwendiger Ermessensspielraum eingeräumt, nicht aber bei der Bestimmung dessen, was denn Unrecht und mithin überhaupt widerrechtlich sei.165 In konsequenter Fortschreibung dieser auf Freiheit hin orientierten Rechtskonzeption wird dann auch deutlich, dass eine allzu weit gefasste Vorstellung von Widerrechtlichkeit keine zu großen Sympathien genießt: „In einem Gesetzbuche, worin die Freyheit der Person und des Eigenthums zum Hauptaugenmerke gemacht wird“166 ist kein Platz für eine allgemeine Schadensersatzpflicht für bloße culpa. Zeiller jedenfalls hat einer solchen haftungsrechtlichen Generalklausel eine sehr deutliche Absage erteilt; denn: „… sehr unbillig und unpolitisch wäre die Sanctionirung dieses Grundsatzes im Staate, wo die Menschen so nahe an einander gedrängt, die Berührungspuncte so häufig sind, und schon die Forderung der höchsten Aufmerksamkeit in auf andere einwirkenden Handlungen den zu begünstigenden Verkehr, wenn nicht unmöglich, doch sehr schwer machen würde.“167

Dem korrespondiert § 1305 ABGB, der nun konsequent eine Haftung ausschließt, wenn ein Nachteil der einen Seite aus einem erlaubten Verhalten der anderen Seite entspringt.168 Originell ist dann auch, auf welche Art das ABGB den Gedanken der positiven Rechtswidrigkeit noch einmal deutlich zum Ausdruck bringt: in der Definition der culpa selbst. Grundsätzlich besteht gem. § 1296 ABGB die „Vermutung, daß ein Schade ohne Verschulden eines Andern entstanden sei“. § 1297 ABGB stellt dann aber hinsichtlich dessen, was als „Verschulden eines Andern“ darzulegen wäre, klar: „Es wird aber auch vermutet, daß jeder, welcher Verstandesgebrauch besitzt, eines solchen Grades des Fleißes und der Aufmerksamkeit fähig sei, welcher bei gewöhnlichen Fähigkeiten angewendet werden kann. Wer bei Handlungen, woraus eine Verkürzung der Rechte eines Andern entsteht, diesen Grad des Fleißes oder der Aufmerksamkeit unterlässt, macht sich eines Versehens schuldig.“  Kant, Metaphysik der Sitten. Der allgemeinen Rechtslehre Erster Theil (1797), § 1. alledem: Zeiller, Principien IV (1820), S. 173 f.: „Allein es lassen sich keine allgemeinen deutlichen Begriffe von dem Unterschiede zwischen groben und geringen Versehen angeben; alles beruht am Ende auf einer vernünftigen, billigen Beurtheilung des Richters (…).“ 166 Zeiller, Principien II (1816), S. 187. 167  Zeiller, Principien IV (1820), S. 172 f. 168  „Wer von seinem Rechte innerhalb der rechtlichen Schranken (§ 1295 Absatz 2) Gebrauch macht, hat den für einen Andern daraus entspringenden Nachteil nicht zu verantworten.“ 164

165 Zu

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In § 1297 ABGB findet sich mithin die Einsicht noch einmal deutlich ausgedrückt: Es ist die culpa nicht eigentlich eine causa obligationis. Voraussetzung für eine Haftung ist eine objektive „Rechtsverletzung“ (die Verkürzung der Rechte eines Andern).169 Das ABGB hat sich unter dem Einfluss Kants und Zeillers deutlich vom allgemeinen Handlungsunrecht des usus modernus befreit und ein auf Freiheit und Erfolgsunrecht gegründetes allgemeines Haftungsrecht festgeschrieben, dessen Dreh‑ und Angelpunkt die Rechtswidrigkeit ist. Die Haftung steht und fällt insoweit mit der Definition der Rechte, die jemand in Freiheit wahrnehmen kann. Auch insoweit ist ein Blick auf den Bereich vorvertraglicher Erklärungshaftung aufschlussreich: So sind hier, wie bereits im ALR, spezielle Formen der Spekulationsgeschäfte unter der Rubrik „Von den Glücksverträgen“ (§§ 1267– 1292 ABGB) und insbesondere die für Vermögensschädigungen relevante Problematik vorvertraglicher Erklärungsfahrlässigkeit in § 1300 ABGB explizit geregelt. Eine Haftung besteht demnach, wie später auch in § 676 BGB (a. F.), nur bei dolus oder entgeltlicher Raterteilung. Auch für das ABGB kann man insoweit schwerlich von einer allgemeinen Haftung für culpa oder einer „großen haftungsrechtlichen“ Generalklausel reden. 3. Neoklassisch: Iniuria und subjektives Recht „Was ist culpa? ja nicht alles, was nur überhaupt bedacht und vermieden werden konnte, sondern was man bedenken und meiden soll, weil dies jeder bonus diligens, diligentissimus pater familias wirklich thut. Da dieser aber mit Rücksicht auf das Ganze seiner Verhältnisse handelt, so wird er sicher vieles wahrhaft Vermeidliche unvermieden lassen.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1810170

Zieht man eine vorläufige Summe, so muss das Urteil von der so genannten „großen deliktsrechtlichen Generalklausel“ deutlich relativiert werden. Weder bei den Theoretikern noch in den Kodifikationen des Vernunftrechts findet sich bei genauerem Blick eine allumfassende Verschuldenshaftung postuliert. Die Formel vom neminem laedere ist immer an die mehr oder weniger klare Definition von Rechten geknüpft, deren Verletzung einen Schaden markiert, und unter der Prämisse der Freiheit, die das Recht jedem Einzelnen gewährt und zu 169  Das findet sich auch deutlich in den Protokollen ausgedrückt: „Damit man aber eines Versehens beschuldigt werden könne, würden zwei Stücke erfordert: 1. müsse man durch das Versehen die Rechte anderer verletzen … 2. werde, da das Versehen laut § 2 im Mangel des gehörigen (schuldigen Fleißes), wozu auch die schuldbare Unwissenheit zu rechnen ist, besteht, und Niemand zu etwas unmöglichen verbunden sein kann, auch erfordert, daß man einen solchen Fleiß anzuwenden fähig war.“ Ofner, Berathungs-Protokolle II (1889), S. 186. 170  Im Brief vom 11. April 1810 an Löhr zu dessen „Theorie der Culpa“ von 1806 und „Beyträge zu der Theorie der Culpa, oder 2ter Theil derselben“ von 1808; abgedruckt bei: Dieter Strauch, Deutsche Juristen im Vormärz (1999), S. 6/8.

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gewähren hat, ist auch das moderne sozialphilosophische Prinzip benannt, aus dem sich nichts Anderes ergeben kann als: In dubio pro libertate! Einer aufgeklärten Gesetzgebung, die von der gleichen Freiheit Aller ausgeht, „sich neue Rechte zu erwerben“171, muss jeder absolute Schutz von bestehenden Rechtspositionen ein Widerspruch in sich sein. Wenn man dann später und bis heute die deutsche Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts eines restriktiven Umgangs mit Haftungsansprüchen gescholten hat, dann muss man auch diese Kritik relativieren. Gemäß dem durchaus maßgeblich von Savigny geprägten Wissenschaftsverständnis der Zeit wurden die Zusammenhänge nur strenger durchdacht und deutlicher ausgesprochen. Dass dann natürlich jedes tiefere Verständnis und jede sprachliche Klarstellung eine Restriktion der Haftung enthält, liegt in der Natur der Sache: Wer definiert, der grenzt nicht nur ein, sondern eben auch aus. Der Leitspruch „Zurück zu den Quellen!“ für die neu erwachte Faszination des römischen Rechts entsprang bereits ganz generell der methodologischen Einsicht, dass das Erbe des usus modernus mit seinem Gemisch aus römischem, deutschem und Naturrecht kein in sich stimmiges System abgeben konnte, sondern hier vielerlei Einflüsse zu einem nicht mehr in sich stimmigen Konglomerat an konkreten und abstrakten Rechtsregeln zusammengefügt worden war. Insbesondere für die hier interessierende deliktische Haftung wurde mit der Rückkehr zu den klassischen Quellen klargestellt: Im römischen Recht sei „die äusserste Grenze der Haftung ex lege Aquilia erreicht“, wenn „die unbefugte Einwirkung des Schuldigen auf eine fremde körperliche Sache die Veranlassung eines Vermögensschadens“ ist.172 a) Vom Beruf jener Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft „Hier drängt sich die Frage auf: Welcher Schaden ist denn ein an sich widerrechtlicher, ein wahres damnum iniuria datum? Man würde sich … vergeblich im corpus iuris nach einem durchgreifenden Princip umsehen, welche Schäden und warum nur diese und keine andre an sich widerrechtliche Schäden sind … Ob sich philosophisch ein solches Princip aufstellen und begründen lasse, ist eine andere Frage, und wiederum eine andere, ob es ratsam wäre, das so gefundene in eine positive Gesetzgebung zu verpflanzen.“ Johann Christian Hasse, 1815173

Jhering hätte nicht nötig gehabt, sich über eine Haftung für culpa wenigstens (in contrahendo) Gedanken zu machen, wenn die Auffassung seiner Zeit zur  Zeiller, Principien II (1816), S. 177.  Pernice, Sachbeschädigungen (1867), S. 157; Landsberg, Iniuria und Beleidigung (1886), S. 107; grundlegend Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 37: „Nur solche positive Handlung, wodurch die Substanz eines Körpers verletzt wird, rechnet der Römer zur Aquilia und kann daher damnum iniuria datum seyn.“ 173 Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 36 f. 171 172

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Reichweite der actio legis Aquiliae und der actio de dolo eine andere gewesen wäre. Er selbst teilte die spätestens seit Hasse herrschende restriktive Lehre zur deliktischen Haftung: „Setzen wir einmal den Fall – und in der That liegt uns derselbe ja in der speciellen act. in factum wirklich vor – das positive Recht hätte sich lediglich darauf beschränkt, für einzelne besonders wichtige Anwendungsfälle unsers Princips, z. B. den des Schreibfehlers, des Widerrufs der Offerte unter Abwesenden die Schadensersatzverbindlichkeit anzuerkennen, ohne über die juristische Natur derselben irgend etwas hinzuzufügen; wie würden wir dieselbe juristisch zu construiren haben? Der Umstand, daß der Contract juristisch gar nicht zu Stande gekommen, würde uns, wie es scheint, mit Nothwendigkeit auf das Gebiet der außercontractlichen Beschädigung verweisen, und insofern wir die Klage nicht als juristische Irregularität völlig isoliert und unerklärt da stehen lassen wollten, würden wir nur die Wahl haben, sie an die act. de dolo oder die act. legis Aquiliae anzuschließen. Gegen beide Klagen erheben sich die gewichtigsten Bedenken. Beide nämlich ließen sich für diesen Zweck nur dann verwenden, wenn man bei der act. de dolo über das Moment des dolus, bei der act. legis Aquiliae über das der eigenthümlichen Art der Beschädigung hinwegsähe. Man würde dadurch eine Klage bekommen, welche die Mitte zwischen ihnen beiden hielte, von der letztern die culpa, von der erstern die Gleichgültigkeit der Form der Beschädigung entlehnte oder mit anderen Worten den Rechtssatz, daß die außercontractliche culpa schlechthin eine Verpflichtung zum Schadensersatz begründe. Wohin ein solcher Rechtssatz führen würde, ist … bereits gezeigt.“174

Für die wieder erstarkte einschränkende Auffassung zur aquilischen Haftung dürfte dabei bereits auf den ersten Blick dreierlei grundlegend gewesen sein. Zum ersten hatte die von Savigny in seiner Berufsschrift einflussreich und ganz bewusst vollzogene Abwendung von den Abstraktionen des Natur‑ und Vernunftrechts ihre Wirkung auf die Zeit nicht verfehlt.175 Zum zweiten hatte Hasse eine grundlegende Schrift über die Culpa des Römischen Rechts vorgelegt, die sich, ganz dem Programm der historischen Rechtsschule entsprechend, an den Quellen des römischen Rechts orientierte und (ohne dabei die praktische Anschauung des Rechtsverkehrs außer Betracht zu lassen176) die späteren Entwicklungen zur Ausdehnung der lex Aquilia kritisch analysierte.177 Das dogmatische 174  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 23 f., das Zitat auf S. 12 wendet sich gegen die Ausdehnung der actio doli bereits auf culpa lata und ist bereits oben (§ 1 III.1.) mitgeteilt: „Wohin würde es führen, wenn …“; hierzu sogleich noch im Text, unten III 1.b. 175  Vgl. nur die Bemerkungen zum „nicht wenig verwickelten Zustand der Rechtsquellen in Deutschland“ (Vom Beruf unserer Zeit, 1814, S. 50) und die Formulierung der zentralen Aufgabe „den gegenwärtigen Zustand des Rechts allmählich von demjenigen zu reinigen, was durch bloße Unkunde literarisch schlechter Zeiten, ohne alles wahrhaft praktische Bedürfniß, hervorgebracht worden ist.“ (ebd. S. 119). 176 Zum Kern der auf Kants Erkenntniskritik aufbauenden historischen Rechtsschule näher unten: § 5 III.3.a) und für unser Thema sogleich im Text. 177  Hasse, Culpa (1815), S. 35: „War nun also die Aquilische Klage für eine widerrechtliche Tätigkeit in jenem allgemeinen Sinn, da sie denn auch die Fälle der actio doli begriffen hätte, gegeben, so war damit die letztere und das ganze edictum de dolo malo überflüssig. Will man dieses ungereimte Resultat vermeiden, und doch die Aquilische Klage, die Klage wegen widerrechtlicher Schadenszufügung nennen, so muß man diesen Ausdruck in einem engeren Sinn

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Hauptargument gegen eine Ausdehnung der actio legis Aquiliae auf jeden Vermögensschaden war dabei die Konkurrenz mit der actio doli. Diese wäre überflüssig, wenn das klassische römische Recht tatsächlich den Satz gekannt hätte, dass bereits jede culpa zum Schadensersatz verbinde. So folgt schließlich drittens die evidente Einsicht, dass in einer auf Freiheit beruhenden Verkehrsgesellschaft das Vermögen als abstraktes Ganzes gar nicht allgemein geschützt werden kann. Hier lag das zentrale Problem des abstrakten naturrechtlichen Schädigungsverbots: Der Schaden ist als ökonomische Bilanzierung eines Vorher und Nachher nicht schon per se eine juristische Kategorie. Spätestens mit der Verschiebung des Blicks auf die Gestaltung des Rechts einer freiheitlichen Gesellschaft, die sich in der Frage nach der Bestimmung subjektiver Rechte und der Sanktionierung von Rechtsverletzung präzisiert, wird aber doch deutlich, dass es ein subjektives Recht auf steten ökonomischen Gewinn oder doch wenigstens auf eine unveränderte Vermögenslage nicht geben kann: „Nur die Unerlaubtheit einer Schadenszufügung, die mit einer besondern Verpflichtung nichts zu thun hat, und eben so wenig eine Rechtsanmaßung nothwendig voraussetzt, beruht auf dem allgemeinen, an sich unbestimmten Recht, von unsern Mitbürgern zu verlangen, daß sie uns durch ihre Handlungen nicht beschädigen. Wer hier mit dem allgemeinen Satz: wer Schaden thut, muß Schaden bessern auszureichen glaubte, würde sich sehr täuschen. Man mag nun Schaden (damnum) in der weiteren Bedeutung nehmen, da es auch die Entziehung eines sichern Gewinns begreift, oder in der engern, da es diese ausschließt; so ist immer das charakteristische Merkmal: Verminderung des Vermögens, des bestehenden oder des künftigen. Wollte man nun die allgemeine Regel aufstellen, daß es nicht erlaubt sey, so zu handeln, daß daraus für einen andern Verminderung seines Vermögens erfolgte, so würde man bald die größten Ungereimtheiten zugeben müssen. So z. B. würde aus dieser Voraussetzung folgen, daß man nie durch Concurrenz in Handelsspeculationen, oder sonst im Gewerbe, dem Andern einen Verlust an Vermögen zuziehen dürfe. Es bleibt also die Frage übrig: welche Beschädigungen sind an sich unerlaubt? Hierüber sind gesetzliche Bestimmungen unentbehrlich.“178

Hierzu passt dann auch die Erkenntnis, dass die Römer niemals zur vollen Abstraktion des Vermögens durchgedrungen sind und ihnen hierfür jeder Begriff fehlt.179 Die ganze Entwicklung des usus modernus wird so „von einem grossen Teil der Literatur … überhaupt nicht für erwähnenswert gehalten“.180 nehmen (…).“; Wening-Ingenheim, Lehre vom Schadensersatz (1841), S. 125: „endlich liegt der entschiedenste Beweis in den vielen Fällen, in welchen die actio doli gestattet wird; denn diese tritt ja nur ein, wo es keine andere Klage giebt.“; dem folgt die Rechtsprechung: OAG Lübeck v. 13. Oktober 1838, SeuffA 8 (1855), Nr. 137, S. 196 (Denunziation); RG v. 10. Februar 1883, RGZ 9, 158 ff (Befrachterfall). 178 Hasse, Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 16 f. 179  Hierüber: Pernice, Labeo I (1873), S. 310 ff.: „Wenn ein Mensch heute 100 in liegenden Gütern, morgen 50 in Obligationen und übermorgen 25 Schulden hat, so sind diese drei verschiedenen Werte lediglich deshalb dasselbe Vermögen, weil sie das Vermögen desselben Menschen sind. Soweit bietet der Begriff juristisch gar nichts Interessantes.“ 180  Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959), S. 46. Die actio legis Aquiliae als allgemeine Schadensersatzklage zu begründen, suchen immerhin ältere Vertreter des ge-

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Die Hypostasierung der culpa als Haftungsprinzip ist schlicht überwunden, weil man es im 19. Jahrhundert im gemeinen Recht als Aufgabe der Rechtswissenschaft begreift, das Recht sowohl als auch das Unrecht möglichst konkret beim Namen zu nennen und sich nicht mit einer „kahlen Formel“ (Jhering) zufrieden zu geben. So bemerkt etwa Sintenis, dass es eine allgemeine Regel, niemandem Schaden zuzufügen, nicht gebe und eine solche auch nicht aufgestellt werden könne.181 Repräsentativ konstatiert Windscheid, das römische Recht kenne keinen allgemeinen Satz, wonach jeder den durch seine Schuld verursachten Schaden zu ersetzen habe.182 Das Reichsgericht ist dieser Ansicht gefolgt.183 Und wie gesehen ist es für Jhering selbst in seiner gefühlsmethodologischen Hochphase gleichsam ein Sakrileg, die actio de dolo auch nur für die culpa lata zu öffnen; denn dass die culpa nur unter der Voraussetzung der „sichtbaren, materiellen Beschädigung“ (bei der actio legis aquiliae) zum Schadensersatz verpflichte, beruhe nicht auf einer willkürlichen Bestimmung des römischen Rechts, sondern dem Gedanken des Verkehrsschutzes:184 „Die Beschränkung der verpflichtenden Wirkung der culpa auf die Form der aquilischen, d. h. der sichtbaren, materiellen Beschädigung äußerer Gegenstände (Sachen oder Personen) ist in der That keine positive Bestimmung des römischen Rechts, sondern eine in der Natur der Dinge gegründete, und eben aus diesem Grunde haben die römischen meinen Rechts (vor Hasses Culpa): Schömann, Lehre vom Schadensersatze (1806): „Alle denkbaren Fälle also, da man durch seine widerrechtliche positive Handlung … jemandem Schaden tut, sind der Aquila oder … einer actio in factum ad exemplum legis Aquiliae unterworfen.“ (S. 68); in diesem Sinne auch Löhr, Die Theorie der Culpa (1806), S. 84; zu demselben Ergebnis kommt Hänel, Versuch einer kurzen und fasslichen Darstellung der Lehre vom Schadensersatze nach heutigem Römischen Rechte, 1823; er sieht zwar die actio legis Aquiliae auf Schäden durch Sacheinwirkung beschränkt (§ 36), vertritt aber die Ansicht, dass das römische Recht „in allen Fällen, wo Einer dem Andern durch seine unbefugte Handlungsweise Nachtheil zufügt“, eine actio in factum zulasse. 181  Das practische gemeine Zivilrecht II (1844), § 100, Fn. 8. 182 Windscheid, Pandekten II, § 451. 183 Urt. v. 10. Februar 1883 – I 493/82, RGZ 9, 158/163 ff.: „In außerkontraktlichen Verhältnissen besteht nach gemeinem Rechte eine allgemeine Verpflichtung zum Ersatze verursachten Schadens nur im Falle des Dolus, nicht auch im Falle bloßer Culpa. (…), daß sich aber im Gebiete des heutigen gemeinen Rechtes ein Gewohnheitsrecht des Inhaltes gebildet habe, daß für jedes Verschulden jedem Dritten gegenüber unbedingt zu haften sei … läßt sich nicht nachweisen (…).“ 184 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/12, 24; hierzu auch ders., Geist des römischen Rechts I, S. 53; II, S. 207: Die „Veräusserlichung des Tatbestandes“, d. h. die Substituierung innerer Tatbestände durch äussere Kriterien und Erfordernisse sei ein Vorzug des römischen Rechts. Je allgemeiner und innerlicher die Voraussetzungen eines Rechtssatzes bestimmt seien, desto schwieriger sei ihre konkrete Ermittlung und umso mehr steige die Gefahr der Missgriffe in der praktischen Anwendung; entsprechend äußert sich Dernburg, Pandekten II (1886/1903), § 135: Die „ältere gemeinrechtliche Lehre und Praxis … warf aber die gemeinrechtliche Theorie unseres Jahrhunderts über Bord, theils weil sie sich ausschließlich auf den Boden der römischen Quellen stellte, Theils weil sie eine so allgemeine außerkontraktliche Schadensklage als zu vag und für den Verkehr bedenklich ansah“.

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Juristen, trotz aller Freiheit, die sie sich bei Ausdehnung der aquilischen Klage erlaubten, doch diese Gränze stets innegehalten. Daß es jenseits derselben noch andere Fälle der Schadenszufügung gebe, daran wurden sie täglich durch die act. doli erinnert, und wenn sie trotzdem die Ersatzpflicht für Fälle dieser Art auf die Voraussetzung des dolus beschränkten, so lehrt dies deutlich, daß sie das nothwendige Abhängigkeitsverhältniß, welches zwischen der culpa und der beschränkten Form der Beschädigung einerseits und der unbeschränkten Form der Beschädigung und dem dolus andererseits Statt findet, richtig erkannten. Diese Unbegränztheit besteht bei der act. doli in zweierlei: erstens nämlich tritt hier an die Stelle des bei dem damnum iniuria datum erforderlichen äußern einzelnen Objects der generelle und abstracte Begriff des Vermögens … und sodann an die Stelle der mechanischen, äußerlichen, sichtbaren, unmittelbaren Form der nachtheiligen Einwirkung eine mittelbare, äußerlich nicht als solche erkennbare. Ein in doloser Absicht ertheilter schlechter Rath, falsche Nachricht, Empfehlung u. s. w. geben sich äußerlich durchaus nicht als Eingriff in eine fremde Rechtssphäre zu erkennen, sie sind nicht an sich ein Unrecht und bewirken auch nicht schon an sich einen Schaden, vielmehr gewinnen sie diesen Charakter und diesen Einfluß erst durch die Art ihrer Beziehung zum Willen der beiden Theile, zu dem des Beklagten: den Charakter des Unrechts durch die Schlechtigkeit seiner Willensrichtung, zu dem des Klägers: den nachtheiligen Einfluß durch die ihrer hervorgerufenen Willensbestimmung.“185

Entsprechend konzediert schließlich auch Landsberg trotz aller Kritik, dass zwar grundsätzlich jedes schuldhafte Unrecht zum Schadensersatz verbinde, doch sei dieser Satz „durch Gewährung der nöthigen Einzelklagen zu einem praktisch verwerthbaren zu machen; direkt aus ihm eine Klage geben, hiesse brechen mit allen Prinzipien unseres gemeinen Aktionenrechts, welche ihre wohlbegründete Bedeutung in der Sicherung vor ungesunden Abstraktionen und schwankenden Rechtsbegriffen haben“.186 Damit scheint nun auf den ersten Blick genau der gegenteilige Standpunkt von dem eingenommen, welchen Zeiller bei den Beratungen zum ABGB vertreten hatte: dass nämlich die Regelung des römischen Rechts, den Schaden nach der Verschiedenheit der Verletzungen zu ersetzen, unvollständig und die justinianische Lehre vom Verschulden undeutlich und inkonsequent sei, und dass allein die rechtsphilosophische Betrachtung in der Lage sei, einfachere und gerechtere Vorschriften aufzustellen.187 Doch liegen die gemeinrechtliche Wissenschaft und die vernunftrechtlichen Erwägungen Zeillers keineswegs so weit auseinander, wie man aus den dargestellten Standpunkten glauben könnte. Die Sache liegt nur im Äußerlichen verschieden: In Österreich glaubte man den usus modernus vor allem durch eine Besinnung auf die zeitgenössische Philosophie, in Deutschland hingegen durch eine Besinnung auf das klassische römische Recht zu überwinden. Der

185 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 24 f.; ganz ähnlich betont die Äußerlichkeit des Rechtsgüterschutzes Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 31. 186  Landsberg, Iniuria und Beleidigung (1886), S. 108. 187 Ofner, Berathungs-Protokolle II (1889), S. 486 f.

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gemeinsame geistige Ausgangspunkt jedoch ist die Rechtslehre Kants und die Vorstellung von der Aufgabe, die in seiner Rechtsphilosophie verkündete „wohlgeordnete Freiheit“ in positives Recht auch umzusetzen.188 Wenn man das Recht nämlich auffasst als die Grenze, welche die Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen in ein angemessenes und mithin gerechtes Verhältnis bringt, dann ist auch der rechtstheoretische Ausgangspunkt für das Haftungsrecht klar gesetzt. Insoweit erklärt und offenbart sich hier nur der nun auch im gemeinen Recht endgültig vollzogene Wandel in der Auffassung über das, was unter einem privatrechtlich relevanten Delikt ganz allgemein zu verstehen sei: Die Verletzung eines subjektiven Rechts.189 Römisches Recht und kantische Rechtslehre gehen hier durchaus ineinander auf: ius und iniuria sind dann die klassischen Begriffe für das, was neuerdings als subjektives Recht und Rechtswidrigkeit (Unrecht bzw. Eingriff in fremde Rechtssphäre) verhandelt wird.190 Die Vereinigung von Philosophie und Historie, der ganze Prozess der Entwicklung im gemeinen Recht des 19. Jahrhunderts wurde für die hier vorliegende Frage etwas mystisch zwar, aber durchaus passend bereits vom ersten zivilrechtlichen Kantianer Hugo191 so formuliert: Der Grundsatz des Schadensersatzrechtes „Wer den anderen widerrechtlich beschädigt, der ist ihm Ersatz schuldig“ müsse von der „Römischen nicht practischen und von der heutigen nicht Römischen Form abstrahiert werden“.192 Von der „römischen, nicht praktischen“

188  Insoweit ist es kein Zufall, wenn sich der von Zeiller in seinem „natürlichen Privatrecht“ zum Ausgangspunkt gewählte Kant etwa auch bei Wening-Ingenheim (Lehre vom Schadensersatz, S. 15: der Mensch als „vernünftiges freies Wesen“; S. 19: „Die von der Vernunft als Bedingung der freien Wirksamkeit des Menschen gegen den Menschen festgesetzte Nichtverletzung der Person und ihrer Zwecke als Person, heißt Recht.“) und bei Savigny sowieso (System I, § 52) findet. Zum Einfluss Kants auf die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bereits oben § 1. 189 Als Mindestanforderung bei Savigny, Obligationenrecht II (1853), § 82, S. 293: „Die Grundlage eines jeden Delicts ist die Rechtsverletzung, und man könnte also versuchen, die Obligationen aus Delicten so zu erklären, als seyen es die Obligationen aus Rechtsverletzungen …“; ebenso: Windscheid, Pandekten I, § 101; Arndts, Pandekten (9. Aufl. 1877), § 84, S. 117 f.: Handlungen, die „an sich widerrechtlich“ sind, heißen „Verbrechen oder Vergehen, delicta, und, insofern sie Privatrechte verletzen, delicta privata“; Baron, Pandekten (5. Aufl. 1885), § 71, S. 126: „Unerlaubt im privatrechtlichen Sinne sind solche Handlungen, durch welche bestehende Rechte in rechtswidriger Weise verletzt werden. Zum Begriff der unerlaubten Handlung gehört demnach I. Eine Rechtsverletzung.“; lediglich Regelsberger, Pandekten I (1893), § 178 stellt noch auf die Verletzung einer „durch rechtliches Verbot oder Gebot begründete Rechtspflicht“ ab. 190  Kant, Metaphysik der Sitten (1797), § 1: „Das rechtlich Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.“ 191  Vgl. zu Hugo: Stintzing / ​Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft (1910), 3/2, S. 1 ff. 192 Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus IV (4. Aufl. 1810), § 194.

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Form abstrahieren heißt, den Begriff der „Rechtsverletzung“ gewinnen. Von der „heutigen nicht Römischen Form“ abstrahieren heißt, den im usus modernus auf jede culpa und jeden denkbaren Vermögensschaden erweiterten Haftungstatbestand auf den Aspekt der Rechtsverletzung zu konkretisieren. b) Der Weg zum BGB: Schaden und Rechtswidrigkeit „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ Immanuel Kant, 1797193

Durchaus anschaulich wird der endgültige Wandel vom allgemeinen naturrechtlichen Schädigungsverbot hin zu einem Rechtsverletzungsverbot beim Sächsischen BGB. Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Sachsen von 1852 lehnt sich in seiner Grundstruktur noch sehr eng an das österreichische ABGB an und steht bei der Bestimmung des Schadensersatzes ganz in der Tradition von ALR und ABGB: § 770 definiert zunächst den Begriff des Schadens: „Schaden heisst der Erfolg eines Ereignisses, welcher jemandem zum Nachtheile an Gesundheit, Freiheit oder Vermögen gereicht.“ Um sodann in § 776 den Ersatzanspruch zu formulieren: „Wer den Schaden eines anderen durch widerrechtliches Handeln oder Unterlassen verschuldet hat, ist dafür verantwortlich.“

In der endgültigen Fassung des Gesetzes von 1863 findet sich dann neben einem ausführlichen Katalog einzeln aufgeführter Verletzungstatbestände (§§ 1483 ff.) auch noch eine Generalklausel, doch wird hier sehr deutlich herausgestellt, dass „widerrechtlich“ nicht nur negativ (d. h. ohne Rechtfertigungsgrund), sondern vor allem positiv als Rechtsverletzung zu lesen ist: § 166: „Wer durch Handlungen, seien es Begehungen oder Unterlassungen, die Rechte eines anderen verletzt, ist, wenn ihm ein Verschulden zur Last fällt, dafür einzustehen verbunden.“

Dass es sich hier wohl nicht nur um eine zufällige sprachliche Variation zur Generalklausel des Entwurfs, sondern die besondere Betonung der positiven Rechtsverletzung handelt, wird bei einem Blick in die Motive deutlich, wonach „jede ohne Recht vorgenommene positive Beeinträchtigung fremder Rechte für widerrechtlich angesehen werde“.194 Einer Definition des Schadens und insbesondere die Problematik der Einbeziehung oder Nicht-Einbeziehung des Vermögens in den Schadensbegriff bedarf es hier nicht mehr, weil ja erst die Summe

193

 Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), § B. Motive zum Entwurf, S. 163.

194 Allgemeine

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

195

der subjektiven Rechtsposition das vom Recht geschützte Vermögen definiert. Neuerlich gilt: summum ius, summa iniuria195. Eine entsprechende Präzisierung des Begriffes „widerrechtlich“ findet sich auch im Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Grossherzogtum Hessen von 1853. In diesem Entwurf wird ebenso wie im ALR und ABGB der sich vollziehende Wandel vom naturrechtlichen Schädigungsverbot zum allgemeinen Rechtsverletzungsverbot deutlich. Die dort in Art. 206 formulierte allgemeine Schadensersatzpflicht basiert noch auf dem allgemeinen Gedanken des neminem laedere: „Jeder ist verpflichtet, alle Handlungen zu unterlassen, wodurch er einem andern widerrechtlicherweise einen Schaden zufügt. Wer gegen diese allgemeine Pflicht, sei es aus böser Absicht, aus Mutwillen oder Unachtsamkeit handelt, haftet für den hieraus einem anderen erwachsenden Schaden (…).“

Doch liegt die Begründung für diese Norm und für das, was unter „widerrechtlicherweise“ und wie der Grundsatz des neminem laedere zu verstehen sein soll, nicht mehr bei der Pflichtenlehre von Pufendorf und Wolff, sondern nunmehr bei Kant und dem Gedanken „Wohlgeordneter Freiheit“. So ist in den Motiven zu lesen: „Jeder Mensch steht allen anderen mit seiner Persönlichkeit und einer eigentümlichen Rechtssphäre gegenüber und kann in dieser Stellung die Unterlassung aller Handlungen, welche eine Verletzung dieser Persönlichkeit, beziehungsweise einen Eingriff in jene Rechtssphäre enthalten würden [positive Widerrechtlichkeit], von jedem fordern, der nicht vermöge eines besonderen Rechtsgrundes darauf einzuwirken befugt ist [negative Widerrechtlichkeit]. Es ist daher auch eine allgemeine, einem jeden obliegende, und die Realisierung der Rechtsordnung im Staate bedingende Pflicht, das Gebot: neminem laede heilig zu halten und niemandem Schaden zuzufügen. Wer dieser Pflicht mit Bewusstsein entgegenhandelt, macht sich einer Widerrechtlichkeit schuldig und begründet dadurch gegen sich einen selbständigen Anspruch von Seiten des Verletzten auf Schadensersatz.“196

Culpa und Widerrechtlichkeit sind hier, wie bei Grotius, Synonyma. Und Art. 207 unterstreicht den Zusammenhang zwischen Recht und Schädigung noch durch die Klarstellung, dass derjenige, der sich innerhalb seines eigenen Rechtskreises auf gesetzliche Weise bewege, unmöglich jemanden schädigen könne. Der Entwurf eines BGB für das Königreich Bayern von 1861 entspricht in Kern und Begründung dem hessischen Entwurf: In Art. 52 ist die Generalklausel formuliert: „Wer widerrechtlich durch seine Handlung aus Vorsatz, Mutwillen oder Unachtsamkeit einem anderen einen Vermögensschaden verursacht, sei es durch unmittelbare Beschädigung des Vermögens oder durch Angriff auf die

195  Zur originären und schlichten Übersetzung des Cicero-Wortes (De officiis I, 33), dass die Summe des Rechts auch die Summe des Unrechts abbildet, bereits oben § 2 II.1.a). 196 Entwurf eines BGB für das Grossherzogtum Hessen nebst Motiven, Abtlg. IV, S. 110.

196

§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Person, ist zum Schadensersatz verpflichtet.“ Und in Art. 54 wird klargestellt, dass die Ausübung eines Rechtes keine Forderung aus unerlaubter Handlung begründen kann. Einen interessanten Kontrastpunkt setzt insoweit der Dresdner Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse von 1866; denn er beginnt mit der Bestimmung negativer Widerrechtlichkeit, die eine Haftung ausschließt. Art. 211: „Wer von seinem Rechte, innerhalb der Grenzen desselben, Gebrauch macht, hat den daraus für einen Anderen entspringenden Schaden nicht zu ersetzen. … Dagegen ist Jeder verpflichtet, alle Handlungen zu unterlassen, durch welche er einem Anderen einen Schaden zufügt.“

Die Gesetzesentwürfe der Zeit haben scheinbar ein Problem, auf einen einheitlichen Begriff der „Widerrechtlichkeit“ zu kommen. Während das sächsische BGB noch den positiven Aspekt betont, hebt der Dresdner Entwurf den negativen Aspekt hervor. Beides lässt sich freilich unter die Idee „wohlgeordneter Freiheit“ bringen: hier, indem man das Gebot, sich in den Grenzen der eigenen Rechtssphäre zu bewegen, hervorhebt, und dort (SBGB), indem man das Verbot, fremde Rechte zu verletzen, in den Vordergrund stellt. Akzeptiert man die Idee, dass die Freiheit des Einen ihre Grenze in der Freiheit des Anderen findet und diese Grenze eben durch das Recht markiert wird, so kann die Ausübung der eigenen Rechte kein Eingriff in die Rechte anderer sein und umgekehrt. Man kann das auch sehr vereinfacht als Gartenzaun-Theorie begreifen: Solange jeder in seinem Garten wirtschaftet, ist alles in Ordnung. Die Sache wird zu einer Rechtsverletzung, sobald jemand mit seinen Handlungen den Zaun missachtet. Ob man dann zur Feststellung einer Verletzungshandlung auf das Verlassen des eigenen Gartens (eigene Rechts‑ bzw. Freiheitssphäre) oder auf den Eingriff in den fremden Garten (fremde Rechts‑ bzw. Freiheitssphäre) abstellt, ist – wenn nur die Grenze eindeutig definiert ist und keine rechtsfreien Räume bestehen – irrelevant. Wichtig ist hier vor allem festzustellen, dass die Gesetze und Entwürfe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eben nicht mehr die Definition des Schadens und die Pflicht, Schädigungen anderer zu unterlassen, in den Vordergrund stellen, sondern der Gedanke der Rechtmäßigkeit des individuellen Freiheitsgebrauches die Begründung der Haftung determiniert. Die haftungsrechtliche Generalklausel lautet nicht mehr ganz allgemein neminem laedere, sondern betont unter der Vorstellung „wohlgeordneter subjektiver Rechte“ das Verbot widerrechtlicher Handlungen, d. h. das Verbot von Rechtsverletzungen. Ausgehend von der relativen Leere des allgemeinen Schädigungsverbotes kann man auch genauer so formulieren: Der Grundsatz des neminem laedere wird in der Definition subjektiver Rechte und dem Verbot der Rechtsverletzung präzisiert!

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

197

Der Wandel wird sehr anschaulich etwa in der Begründung zur bayerischen Definition negativer Widerrechtlichkeit: Hier wird  – offensichtlich in Rücksicht auf den im gleichen Jahr entschiedenen Fall des OAG München197  – in den Motiven zu Art. 54 des bayerischen Entwurfs am Beispiel des Funkenfluges von einem Grundstück auf das andere Grundstück ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Rechtsausübung in einem Umfang, der zugleich in die von dem eigenen Recht nicht erfasste Rechtssphäre eines anderen eingreife, eine Verletzung dieser Rechtssphäre und eine Widerrechtlichkeit darstelle.198 Ein solcher Argumentationsaufwand wäre unter der schlichten Anerkennung eines allgemeinen Schädigungsverbotes unnötig. Das schweizerische Obligationenrecht von 1881 macht es sich da etwas einfacher. Hier haftet man in deutlicher Anlehnung an den französischen CC für jede schädigende Handlung, „die der Handelnde bei derjenigen Aufmerksamkeit, welche ihm nach allgemeiner Rechtsanschauung oder nach positiver Rechtsvorschrift zuzumuten ist, als widerrechtlich hätte erkennen und vermeiden können“.199 Die kantische Idee „wohlgeordneter Freiheit“ hat in der Schweiz nicht so grundlegend Fuß gefasst wie in Österreich und Deutschland, und so bleibt der Begriff der „Widerrechtlichkeit“ hier ausgesprochen unterbelichtet und erscheint als ausfüllungsbedürftiger Begriff Wissenschaft und Praxis anheimgestellt.200 Der Gedanke, dass Haftung etwas mit Widerrechtlichkeit zu tun hat, findet auch im schweizerischen OR explizit Erwähnung: Art. 50 OR: „Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird demselben zum Ersatze verpflichtet.“201 197  Seuff.Arch. 14, Nr. 208, S. 354/355 (Funkenflug von Lokomotiven): „Dem Rechtssatze: qui jure suo utitur, neminem laedit, steht das gleiche allgemeine und wichtige Princip gegenüber, daß ein Jeder einen gleichen Rechtsschutz für die Integrität seines Eigenthums zu beanspruchen berechtigt ist, und ersterer Satz erleidet daher durch dieses Princip die Beschränkung, daß das Eigenthumsrecht nicht in der Art ausgeübt werden darf, daß dadurch ein Angriff auf fremdes Eigenthum verübt wird.“ 198 Motive zum Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (1861), S. 73. 199 Botschaft des Bundesrates zu einem Gesetzentwurfe enthaltend schweizerisches Obligationen‑ und Handelsrecht, vom 27. November 1879 (Text bei Schneider / ​Fick, Das schweizerische Obligationenrecht, 2. Aufl. 1883, S. 115; und Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB, 1959, S. 93). 200 Hierzu: Rensing, Die Widerrechtlichkeit als Schadensersatz-Grund (1892); Pfister, Fragen aus dem Gebiete der Widerrechtlichkeit (1925); Känzig, Die Widerrechtlichkeit (1939); Raschein, Die Widerrechtlichkeit im System des schweizerischen Haftpflichtrechts (1986); Gabriel, Die Widerrechtlichkeit in Art. 41 Abs. 1 OR unter Berücksichtigung des Ersatzes reiner Vermögensschäden: eine These (1987); Bosshard, Neuere Tendenzen in der Lehre zum Begriff der Widerrechtlichkeit nach Art. 41 OR (1988); Portmann, Erfolgsunrecht oder Verhaltensunrecht?, SJZ 93 (1997), 273–278. 201  Art. 50 OR entspricht nahezu wörtlich dem Art. 41 Abs. 1 des schweizerischen OR von 1911. In der französischen Fassung wurde der Ausdruck für „widerrechtlich“ allerdings von „sans droit“ in „d’une manière illicite“ geändert.

198

§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Doch wusste man hier offenbar mit diesem Terminus nicht sehr viel anzufangen; denn das Bedenkliche einer solchen Generalklausel wird in der Gesetzesbegründung sehr deutlich: Demnach haftet nämlich jemand dafür, dass er die Widerrechtlichkeit seiner Handlung „hätte erkennen und vermeiden können“, ohne dass der Gesetzgeber sich selbst der Mühe unterzieht, das, was er als „widerrechtlich“ ansieht, näher zu erläutern.202 Vereinfacht formuliert: Der Rechtsunterworfene haftet wegen Fahrlässigkeit bei einer Frage, die zu beantworten der Rechtssetzer selbst sich nicht in der Lage sieht und Wissenschaft und Praxis überlässt. Es muss denn auch nicht verwundern, wenn gerade dieser Begriff ähnlich wie im französischen Recht der Begriff „faute“ ein Herd von Auslegungsstreitigkeiten geworden ist.203 Nach allem bisher Gesagten überrascht es freilich nicht, wenn in der schweizerischen Interpretation des Begriffs „widerrechtlich“ sowohl einerseits die negative204 als auch andererseits die positive205 Konnotation vertreten werden. Einmal wird auf die ordnungsgemäße Rechtsausübung, das andere Mal auf die objektive Rechtsverletzung abgestellt. Beides meint unter dem Gesichtspunkt „wohlgeordneter Rechte“ in der Sache dasselbe.

202 Vgl.

Schneider / ​Fick, Das schweizerische Obligationenrecht (1882), Art. 50, N. 1: „Der Grundsatz der Entschädigungspflicht ist allgemein ausgesprochen für jede schädigende Handlung, die der Handelnde bei derjenigen Aufmerksamkeit, welche ihm nach allgemeiner Rechtsanschauung oder nach positiver Rechtsvorschrift zuzumuthen ist, als widerrechtlich hätte erkennen und vermeiden können.“ Zum Problem: Gerda Müller, Praktische Auswirkungen der Schuldtheorie im Zivilrecht (1972). 203  Vgl. nur KommZGB / ​Oser (1915), Art. 41 III.1.: „Über die Auslegung dieses Begriffes bestand unter Herrschaft des frühern OR. Streit (…)“. 204  So insb. Schneider / ​Fick, Das schweizerische Obligationenrecht (1882), Art. 50, N. 2: „Wer nur sein Recht ausübt, wird nicht zum Schadensersatz verpflichtet.“; Rensing, Die Widerrechtlichkeit als Schadensersatz-Grund (1892), S. 12 ff.: Der Begriff „widerrechtlich“ bezeichne die Überschreitung des eigenen Rechtsgebietes. Die Grenzen werden durch die dem einzelnen von der Rechtsordnung verliehenen „Rechte“ und „natürlichen Freiheiten“ gezogen. Diese Auffassung stützte sich vornehmlich auch auf die französische Übersetzung des Wortes widerrechtlich durch „sans droit“, die dann später beim ZGB ersetzt wurde (s. o.). 205  Hiernach wird im Anschluss an das schweiz. Bundesgericht auf die Verletzung objektiven Rechts abgestellt: „Die Verletzung von Rechten, Rechtsgütern oder rechtlich geschützten Interessen, … die durch die allgemeine Rechtsordnung oder durch spezielle Schutzgesetze gegründet sind.“; vgl. KommZGB / ​Oser (1915), Art. 41 III. 1 ff. In Anlehnung an die Diskussion zum BGB hat sich schließlich diese Interpretation durchgesetzt: Thur, Obligationenrecht I (1924), S. 324: „Unerlaubte Handlungen im Sinn des Art. 41 f. … bestehen in der Verletzung einer allgemeinen gesetzlichen Pflicht, welche nicht auf einem zwischen dem Täter und dem Verletzten bereits vorhandenen Rechtsverhältnis beruhen (…). Die in Art. 41 nicht definierte Widerrechtlichkeit besteht in einem Verstoß gegen eine Vorschrift der Rechtsordnung. Eine Handlung, die das Gesetz nicht verbietet, verpflichtet nicht zum Ersatz des aus ihr hervorgehenden Schadens.“

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

199

c) Die Lösung des BGB: „Wohlgeordnete Rechtswidrigkeit“ „Das rechtlich Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.“ Immanuel Kant, 1797206 „Die eigentlich erhebliche und, wie ich glaube, bisher noch nicht genug erörterte Frage ist hier also die: wann ist schädliches Thun widerrechtlich, oder, was dasselbe sagt, wann ist es culpa?“ Johann Christian Hasse, 1815207

Am konsequentesten wurde das Konzept der Rechtswidrigkeit schließlich im BGB durchgeführt.208 Die Vorlage von v. Kübel (TE Nr. 15 § 1) enthielt noch eine ganz dem schweizerischen OR entsprechende Generalklausel: „Hat jemand durch eine widerrechtliche Handlung oder Unterlassung aus Absicht oder aus Fahrlässigkeit einem Anderen einen Schaden zugefügt, so ist er diesem zum Schadensersatz verpflichtet.“

Doch wurde sogleich bei der Abfassung des ersten Entwurfs darauf hingewiesen, dass aus den vorgängigen Gesetzen und Entwürfen des 19. Jahrhunderts nicht hinreichend deutlich werde, was unter Widerrechtlichkeit zu verstehen sei.209 Das Bemühen um eine Präzisierung gerade dessen, was als „widerrechtlich“ anzusehen sein soll, dominiert und prägt dann die §§ 704, 705 des 1. Entwurfs. E I § 704 Abs. 1: „Hat Jemand durch eine aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit begangene widerrechtliche Handlung – Thun oder Unterlassen – einem anderen einen Schaden zugefügt, dessen Entstehung er vorausgesehen hat oder voraussehen musste, so ist er dem Anderen zum Ersatze des durch die Handlung verursachten Schadens verpflichtet, ohne Unterschied, ob der Umfang des Schadens vorauszusehen war oder nicht.“ E I § 704 Abs. 2: „Hat jemand aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit durch eine widerrechtliche Handlung das Recht eines anderen verletzt, so ist er den durch die Rechtsverletzung dem anderen verursachten Schaden diesem zu ersetzen verpflichtet, auch wenn die Entstehung eines Schadens nicht vorauszusehen war. Als Verletzung eines Rechtes im Sinne der vorstehenden Vorschrift ist auch die Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit und der Ehre anzusehen.“ E I § 705 „Als widerrechtlich gilt auch die kraft der allgemeinen Freiheit an sich erlaubte Handlung, wenn sie einem Anderen zum Schaden gereicht und ihre Vornahme gegen die guten Sitten verstößt.“  Kant, Metaphysik der Sitten. Der allgemeinen Rechtslehre Erster Theil (1797), § 1.  Die Culpa des Römischen Rechts (1815), S. 20. 208 Hierzu zuletzt vor allem Jansen, Das Problem der Rechtswidrigkeit, AcP 202 (2002), 517 ff.; ders., „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, ZNR 27 (2005), 202/220: „So entspricht die Gliederung des Deliktsrechts in drei Generalklauseln (§§ 823 I, II und 826 BGB) im Wesentlichen der Rechtswidrigkeitsdogmatik des 19. Jahrhunderts. Denn beim Erlass des BGB war es selbstverständlich, das Deliktsrecht konzeptionell auf die Rechtswidrigkeit zu beziehen.“; vgl. auch Benöhr, Die Redaktion der Paragraphen 823 und 826 BGB (1999). 209 Motive II, S. 725. 206 207

200

§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Die Generalklausel des § 704 scheint in ihren zwei Absätzen redundant, weil der erste Absatz doch alle einschlägigen Sachverhalte mit dem ganz allgemeinen Hinweis auf eine „widerrechtliche Handlung“ enthalten sollte. Insbesondere die in Abs. 2 angesprochene „widerrechtliche … Rechtsverletzung“ erscheint, wenn man den Gesamtkontext der Entwicklung nicht im Auge behält, ausgesprochen unbeholfen. Interessant ist aber zu sehen, wie fein ausdifferenziert die „Widerrechtlichkeit“ bereits vorgestellt wird. In Abs. 2 werden die positive und negative Seite der Rechtswidrigkeit erfasst: Die „Rechtsverletzung“ betrifft den explizit angesprochenen Eingriff in die Rechtssphäre eines anderen, und das Attribut „widerrechtlich“ fokussiert auf die fehlende Rechtfertigung dieser Rechtsverletzung. Aus der Konzeption „subjektiver Rechte“ ergibt sich geradezu logisch zwingend diese auch aus der Grundrechtsdogmatik bekannte Zweistufigkeit von Eingriff und Rechtfertigung. Was aber regelt dann noch E I § 704 Abs. 1 mit dem ganz allgemeinen Hinweis auf „widerrechtliche Handlungen“? Bei einem Blick in die Motive wird deutlich, worum es bei diesem allgemeinen Rekurs auf die „Widerrechtlichkeit“ seit dem Codex Maximilianeum im unzweifelhaften Kern immer gegangen ist: Um einen positiven Verstoß gegen bestehende Verbotsgesetze (insbesondere die strafrechtlich relevanten „Verbrechen“; das maleficium bereits bei Grotius), also den Teil der auf das Handlungsunrecht gestützten Haftung, der die deliktische und quasideliktische Haftung des Code civil ausfüllt210 und schließlich in § 823 Abs. 2 BGB noch einmal seinen ausdrücklichen Platz gefunden hat.211 In den Motiven wird mit Blick auf das Problem der negativen Widerrechtlichkeit betont, dass nicht das Fehlen einer Erlaubnis eine Handlung zu einer widerrechtlichen mache. Vielmehr bilde das allgemeine Gesetz der Freiheit den Ausgangspunkt der Haftungsnorm: Was nicht verboten ist, das ist erlaubt, und auf diesem Grundaxiom werden sodann entsprechend der Gesetzesfolge drei Arten widerrechtlichen Verhaltens unterschieden: 1. Das Handeln gegen ein absolutes Verbotsgesetz (§ 704 Abs. 1), 2. die Verletzung absoluter Rechte und „höherer Güter“ (§ 704 Abs. 2),212 und schließlich – das ist das eigentlich Originelle am 1. Entwurf – 3. der Verstoß gegen die guten Sitten.

210 Oben

II.2.d).  Die deutliche Parallele zum Codex findet sich sogar im „Gegenentwurf“ von Bähr (1892), der eine explizite Anlehnung an die strafrechtlichen Vorschriften forderte: „Wer eine Handlung begeht, die den Thatbestand eines Verbrechens oder Vergehens enthält, ist dem von der Handlung Betroffenen zum Ersatz des dadurch verursachten Schadens verpflichtet.“ (§ 787, S. 164). 212  Zu dieser Differenzierung bei der Bestimmung der Widerrechtlichkeit vgl. Windscheid, Pandekten I, § 101. 211

II. Der Mythos von einer allgemeinen actio culpae

201

Die Gleichstellung des sittenwidrigen mit dem rechtswidrigen Handeln ist eine Konsequenz des weiten liberalen Ausgangspunktes und der Einsicht, dass schwerlich alle schädigenden Verhaltensweisen vorausgesehen und ein für alle Mal abschließend als Rechtsverletzungen ausgemacht sind.213 Oder um es mit der Gartenzaun-Theorie auszudrücken: Es gibt nicht für alle Zeiten klar abgesteckte Gartenparzellen und klar definierte Gartenzäune. Aufgrund der allgemeinen Freiheit sind aber dann alle Handlungen immer an sich erlaubte Handlungen und müssten vom Gesetzgeber explizit zunächst verboten werden. Dieses Problem hatte – wie gesehen – allenfalls das französische Recht mit einer offenen Delegation an den Richter gelöst. Soweit wollten die Verfasser des BGB freilich nicht gehen, sondern mit der Bindung des Freiheitsgebrauchs an die „guten Sitten“ dem Richter im Einzelfall ein einschränkendes Kriterium mit auf den Weg geben.214 In den Motiven heißt es hierzu, man wolle der „alten, nicht jeder Berechtigung abzusprechenden Klage“, das geltende Recht sei mit Ausnahme des französischen zum Schutze der Beschädigten noch unzureichend, abhelfen. Ein noch über den Rahmen des § 704 E I hinausgehender Schutz sei aber am besten nicht durch Vergrößerung der Zahl der Spezialdelikte, etwa dolus, üble Nachrede usw., sondern durch eine Einordnung unter das Hauptprinzip des § 704 E I zu erreichen. Andernfalls sei „nur die Unzulänglichkeit und zu große Enge des Hauptprinzips konstatiert und eine grosse Anzahl spezieller Delikte geschaffen, welche dem Hauptprinzipe sich nicht unterordnen liessen und neben diesem als Singularitäten erschienen“.215 Hier findet es sich also noch einmal deutlich ausgesprochen: Das „große Hauptprinzip“ der deliktischen Haftung ist nicht die culpa, sondern die objektive Widerrechtlichkeit der Handlung. Dass zu keiner Zeit die culpa als das entscheidende Haftungsprinzip, sondern immer nur als Haftungsbegrenzung verstanden

213 Das wird zum einen deutlich durch den ausdrücklichen Hinweis auf die große Generalklausel des französischen Rechts: „Es ist eine alte Klage, das geltende materielle Recht sei, von dem franz. Rechte abgesehen, zum Schutze der Beschädigten unzureichend. Dieser Klage, wenn sie auch zu nicht geringem Theile auf irrtümlichen Voraussetzungen oder Anschauungen beruhen mag, läßt sich doch nicht jede Berechtigung absprechen …“ (S. 726); zum anderen wird die Motivation sehr deutlich formuliert: Der Gebrauch der gesetzlich nicht reglementierten Freiheit könne kein Freibrief für Schädigungen sein. Motive II, S. 727: „Diese Ausdehnung beruht auf dem den modernen Rechtsanschauungen, denen auch jene Klage entstammt, entgegenkommenden Gedanken: wer ein besonderes Recht ausübt, muß zwar immer haftfrei sein, auch wenn er aus Chikane handelt; wer dagegen nur kraft seiner natürlichen Freiheit handelt, darf diese nicht zum Schaden Anderer missbrauchen; ein Mißbrauch ist es aber, wenn seine Handlungsweise den in den guten Sitten sich ausprägenden Auffassungen und dem Anstandsgefühle aller billig und gerecht Denkenden widerspricht.“ 214 Motive II, S. 727: „Die Handhabung des Prinzips des § 705 erfordert allerdings Umsicht und Behutsamkeit, indessen darf darauf vertraut werden, daß die Gerichte die Aufgabe zu lösen wissen werden.“ 215 Motive II, S. 727.

202

§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

wurde, wird dann auch in der Kritik am Entwurf deutlich. Es war ja gerade der Verschuldensgrundsatz, der auf verbreitete Ablehnung gestoßen ist.216 An seine Stelle sollte einmal mehr das Verursachungsprinzip, d. h. also die alte, uns bereits bekannte Haftung für „Causalnexus“ treten. Die Gefährdungshaftung, d. h. die Schädigung auch ohne Verschulden und aufgrund erlaubter Handlungen, hatte sich bereits als praktisches Problem offenbart.217 Auch der endgültige Wandel vom naturrechtlichen allgemeinen Schädigungsverbot zum freiheitlichen Rechtsverletzungsverbot ist deutlich vollzogen: Nicht schon die Schädigung an sich wird als widerrechtlich angesehen, sondern nur die Verletzung durch eine widerrechtliche Handlung.218 Das ist eine konsequente Entwicklung, weil der Begriff der Schädigung immer und notwendig auf eine Definition des Schadens hinausläuft und diese wiederum nur durch die Definition von Rechtsgütern und Rechtspositionen – kurz: subjektive Rechte – näher bestimmt werden kann. Und hier eben liegt der Grundgedanke des Entwurfs, der ihn von allen vorhergehenden Kodifikationen und Entwürfen deutlich abhebt: mit der Bestimmung der Widerrechtlichkeit sowohl ein einheitliches Prinzip zu gewinnen als auch der Schadensersatzpflicht eine klare gesetzliche Grundlage zu verleihen.219 Die beiden Absätze in § 704 des Entwurfs finden sich insoweit in präzisierter Formulierung in § 823 Abs. 1 und 2 BGB wieder. Wenn demgegenüber heute über eine fehlende große haftungsrechtliche Generalklausel geklagt wird, dann betrifft dies mithin den letztlich doch nicht realisierten § 705 des Entwurfs. Die Gründe für den Verzicht, die Rechtswidrigkeit sogleich auf die Sittenwidrigkeit auszudehnen und es stattdessen bei einer Rückbesinnung auf die actio doli in Gestalt des späteren § 826 BGB zu belassen, bedarf noch einer abschließenden Betrachtung; denn es geht hier gleichsam nicht nur um die Kernfrage actio doli oder actio culpae, sondern um den Kernbereich noch der heutigen culpa in contrahendo:

216 Vgl. etwa Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht (2. Aufl. 1889), S. 259 ff. 217  Vgl. nur OAG München, Seuff.Arch. 14 (1861), Nr. 208, S. 355, zum bayerischen Entwurf bereits oben; ausführliche Nachweise bei Ogorek, Entwicklung der Gefährdungshaftung (1975), S. 48 ff. 218  Das kritisiert aus der relativ engen strafrechtlichen Perspektive Liszt, Grenzgebiete zwischen Privatrecht und Strafrecht (1889), S. 36 f.: „Jener tiefsinnige Satz, daß alles erlaubt sei, was nicht verboten worden, ist so falsch wie nur möglich (…).“; hierzu auch Keppmann, Dogmengeschichte der §§ 823, 826 BGB (1959), S. 114. 219 Protokolle II, S. 566 ff.

III. Widerrechtlichkeit fahrlässiger Erklärungen?

203

III. Widerrechtlichkeit fahrlässiger Erklärungen? 1. Vorsatzdogma I: Actio doli und Erklärungshaftung „Der Vorrang des Vorsatzdogmas gegenüber den Entwicklungstendenzen des vorvertraglichen Schutzprinzips wird schließlich auch durch historische Umstände in Frage gestellt. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Vorsatzdogma und den heute anerkannten, allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo war nämlich bei Erlaß des BGB noch nicht absehbar. Die ‚Entdeckung‘ der culpa in contrahendo durch von Jhering war jung und auf Fälle der Herbeiführung unwirksamer Verträge beschränkt; die dogmatische Durchdringung der culpa in contrahendo war unausgereift.“ Hans Christoph Grigoleit, 1997220

Mit der Betrachtung des § 705 schließt sich der Bogen zur actio doli: Mit dem Entwurf des § 705 hatte die 1. Kommission nun in der Tat eine – wenn auch an die „Sittenwidrigkeit“ des Verhaltens geknüpfte – allgemeine Haftung für fahrlässige Schädigungen in Vorschlag gebracht und mithin in gewisser Weise die actio doli zu einer actio culpae gemacht. Wenn man sich nun fragt, warum dieser Entwurf gleichwohl nicht Gesetz wurde, dann wird man allein aus den Materialien nicht hinreichend klug werden. Bereits bei den Beratungen der zweiten Kommission wurde die Notwendigkeit einer dolosen Schädigung ohne große Auseinandersetzung durch den Zusatz „vorsätzlich“ wieder klargestellt221 (übrigens eine Klarstellung, die später auch vom schweizerischen ZGB in § 41 übernommen wurde). § 705 E I erhielt damit im Kern die bis heute geltende Fassung: „Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem Anderen vorsätzlich einen Schaden zufügt, ist ihm zum Ersatze des daraus entstandenen Schadens verpflichtet …“222

Der in den Protokollen insoweit als maßgeblich vorgetragene Grund für die Wiederkehr der actio doli liegt schlicht in der Einsicht, dass es keine fahrlässige Illoyalität gebe.223 Mit anderen Worten: Die culpa ist nicht schon an sich sittenwidrig! Sittenwidrig ist im Bereich allgemeiner Vermögensschädigung allein der dolus. Mehr musste dazu offenbar nicht gesagt werden. Aus heutiger Perspektive erscheint diese Erklärung freilich der Verdeutlichung bedürftig:

 Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997), S. 71. II, S. 575 f. 222  Vgl. Jakobs / ​Schubert, Beratungen II/3 (1983), §§ 823, 826, S. 898. 223  „Das fahrlässige Handeln sei nicht zu berücksichtigen, weil kein Bedürfniß bestehe, in dieser Hinsicht von dem geltenden Rechte abzuweichen. Die fahrlässige Verletzung einer fremden Interessensphäre durch eine illoyale Handlung werde selten vorkommen. Jedenfalls sei darin kein so schwerer Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit zu finden, daß der Gesetzgeber einzuschreiten Veranlassung habe.“ 220

221 Protokolle

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

a) Undenkbar: Fahrlässige Illoyalität – Was ist das? „… sehr unbillig und unpolitisch wäre die Sanctionirung dieses Grundsatzes im Staate, wo die Menschen so nahe an einander gedrängt, die Berührungspuncte so häufig sind, und schon die Forderung der höchsten Aufmerksamkeit in auf Andere einwirkenden Handlungen den zu begünstigenden Verkehr, wenn nicht unmöglich, doch sehr schwer machen würde.“ Franz v. Zeiller, 1820224

Da ist zunächst auch hier das methodologische Problem, das wir schon kennen: der „Unfug, den die Principien unter unseren Augen täglich anrichten“. Hatte man sich im usus modernus nicht gescheut, die gesamte Haftung auf dem subjektiven Unrecht der culpa aufzubauen, so sollte das Haftungsrecht jetzt in toto mit dem Prinzip der positiven Rechtswidrigkeit, d. h. der Verletzung subjektiver Rechte, erfasst werden.225 Nun lassen sich aber die Fälle der actio doli gerade nicht eben leicht unter dieses Prinzip bringen; denn die actio doli ist geradezu der Prototyp einer Haftung für subjektives oder eben Handlungsunrecht: Gehaftet wird für die verwerfliche Gesinnung, nicht für einen rechtswidrigen Erfolg, d. h. für eine Rechtsverletzung i. e. S. Erst die verwerfliche Gesinnung, der dolus malus, qualifiziert Handlung und Erfolg als rechtswidrig. Dolus, „üble Nachrede“ u. ä. lassen sich nicht leicht unter den Gesichtspunkt des Erfolgsunrechts bringen, weil weder das Vermögen noch der „gute Name“ in ihrem Bestand absolut geschützt werden können. Die Haftung bei der Tötung eines Menschen als Erfolgsunrecht zu formulieren, ist nicht wirklich problematisch. Die ältesten Rechte haben dies getan und besinnen sich dann früher oder später ggf. auf eine Haftungsmilderung, wenn das Handlungsunrecht (bzw. das subjektive Unrecht) ein nur Geringes ist: An die Stelle der Haftung für Causalnexus (Verursachungsprinzip) tritt eine Haftung für Schuld (Verschuldensprinzip).226 Die Haftung bei Eingriffen in die körperliche Integrität usw. lässt sich ähnlich erfassen. Alles hängt davon ab, ob und inwieweit sich eine Rechtsposition hinreichend präzise und äußerlich als absolutes Schutzgut formulieren lässt. Das Problem ist aus der heutigen verfassungsrechtlichen Dogmatik hinreichend bekannt: Je weiter man sich der allgemeinen Handlungs‑ und Entscheidungsfreiheit als Rechtsgut oder Grundrechtsposition nähert, desto weniger leicht ist hier die Bestimmung eines konkreten Erfolgsunrechts (Grundrechtseingriffs), weil die Freiheit des Einen ihre Grenze in der Freiheit des Anderen findet und jeder für seine Handlungen und Entscheidungen unter dem Grundprinzip der Freiheit auch selbst verantwortlich ist. Wollte man nun etwa das Vermögen schlechthin als absolut 224  Abhandlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches IV (1820), S.  172 f. 225 In diesem Sinne deutlich wieder Jansen, Struktur des Haftungsrechts, vgl. nur S. 567: „Als konzeptuelle Grundlage kommt … nur die in § 2 herausgearbeitete Erfolgsverantwortlichkeit in Frage (…).“ 226 Oben § 2 I., III.

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geschütztes Rechtsgut deklarieren, würde jede wirtschaftliche Handlungsfreiheit zur Farce. Man kann in einer freiheitlichen Gesellschaft zwar den Satz aufstellen: Jeder solle eines natürlichen Todes sterben, nicht aber: Jeder müsse jederzeit das gleiche Vermögen besitzen bzw. niemand dürfe einen Vermögensschaden erleiden. Das genau wäre ein Rechtssatz im Interesse der Besitzenden (beati possidentes). Für die Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts stand es, wie gesehen, außer Frage, dass es in einer Verkehrsgesellschaft einen so allgemeinen Vermögensschutz nicht geben kann.227 Ganz in diesem Sinne hat denn auch später Canaris die ausdifferenzierte Regelung des BGB-Gesetzgebers und die Ablehnung einer großen deliktischen Generalklausel gegen vornehmlich rechtsvergleichend inspirierte Vorstöße verteidigt und die abweichende restriktive Lösung in den §§ 823 ff. BGB „geradezu eine Tat“ genannt228: „Jede schadensersatzrechtliche Regelung gerät ja zwangsläufig in einen mehr oder weniger starken Gegensatz zur allgemeinen Handlungs‑ und Wirtschaftsfreiheit. Daß das BGB diese so wenig wie möglich zu beeinträchtigen sucht und deshalb das Vermögen von einem allgemeinen Schutz gegen fahrlässige Beeinträchtigungen ausnimmt, ist in einem Sinne freiheitlich gedacht, der auch heute noch uneingeschränkt Zustimmung verdient. Insbesondere ist es begrüßenswert, daß ein allzu einseitiges Übergewicht des „Habens und Behaltens“ gegenüber dem „Erwerben und Verändern“, der „Beharrungs-“ gegenüber den „Bewegungsinteressen“ hintangehalten wird.“229

Lehnt man dementsprechend eine statische Gesellschafts‑ und Wirtschaftsstruktur grundsätzlich ab,230 bedarf es im Vermögensrecht also immer des differenzierten Blickes und nicht der pauschalen Aussage, dass derjenige, der „kraft seiner natürlichen Freiheit handelt, … diese nicht zum Schaden Anderer missbrauchen [darf]“.231 Dieser Satz findet in seiner Abstraktheit notwendig Zustimmung, weil in ihm die pauschale Überzeugungskraft des neminem laedere mitschwingt. Aber es bedarf hier zusätzlich der nicht unbedenklichen Prämisse, dass jede Vermögenseinbuße auch bereits ein ersatzfähiger Schaden sei. Das, was heute also mit Blick auf die Ersatzfähigkeit so genannter primärer Vermögensschäden 227 Oben § 3 II.2.d) und 3.a); insb. die Nachweise zu Zeiller und Hasse, Die Culpa des römischen Rechts (1815), S. 16 f.: „Wollte man nun die allgemeine Regel aufstellen, daß es unerlaubt sey, so zu handeln, daß daraus für einen andern Verminderung seines Vermögens erfolgte, so würde man bald die größten Ungereimtheiten zugeben müssen (…).“ 228 Canaris, 2. FS Larenz (1983), 27/35–38 (Zitat S. 36). 229  Canaris, 2. FS Larenz (1983), 27/35 f. 230  Vgl. zur Beschreibung einer „statischen“ und einer „dynamischen“ Wirtschaftsordnung aus dem Verhältnis von Schuld‑ und Sachenrecht: Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (1964), S. 97 ff. 231  Motive II, S. 727: „Diese Ausdehnung beruht auf dem den modernen Rechtsanschauungen, denen auch jene Klage entstammt, entgegenkommenden Gedanken: wer ein besonderes Recht ausübt, muß zwar immer haftfrei sein, auch wenn er aus Chikane handelt; wer dagegen nur kraft seiner natürlichen Freiheit handelt, darf diese nicht zum Schaden Anderer missbrauchen.“

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diskutiert wird, knüpft immer noch genau an dieser Stelle an: Es geht um nichts weniger als eine Regelung zur Haftung für dolose oder culpose Erklärungen, und so gesehen um eine Ausdifferenzierung des rechtsgeschäftlichen Bereichs! Der Versuch einer Präzisierung über den Gesichtspunkt der „Sittenwidrigkeit“ ist insoweit zwar originell und entsprach durchaus der Rechtstheorie der Zeit, wonach das Recht aus Sitte und Gewohnheit hervorgeht.232 Nur konnte es bei genauerem Hinsehen dann auch bei der Haftung für dolus bleiben, weil es einen fahrlässigen Zugriff auf fremdes Vermögen oder eben in der Tat eine fahrlässige Illoyalität nicht gibt. Oder um es noch einmal in modernerer Terminologie auszudrücken: „Opportunistisches Verhalten“ ist immer ein bewusstes, d. h. zielgerichtetes und mithin ein doloses Verhalten. Eine Loyalitätsverletzung setzt zunächst ein Loyalitätsverhältnis voraus, d. h. eine zur Loyalität verpflichtende Obligation. Wir haben insoweit bereits gesehen, dass die Entwicklung der culpa-Haftung auf das Engste mit der Entwicklung der bonae fidei judicia verbunden war. Das, was zur Loyalität verbindet, ist der Vertrag. Und das, was innerhalb dieses Vertragsverhältnisses zur Haftung verpflichtet, ist die „contractliche culpa“. Was aber sollte zur Loyalität verbinden ohne Vertrag? Hier werden wir später noch sehen, dass man zu einem solchen Loyalitätsverhältnis im vorvertraglichen Bereich nur über einen grundlegenden Prämissenwechsel von der Idee der Freiheit zur Idee der Gemeinschaft („Gemeinnutz vor Eigennutz“) gelangt, wenn also der Antagonismus der Interessen, durch Überlegungen zu Genossenschaft, Treue, Vertrauen, Kooperation, Solidarität (und wie die Begriffe letztlich lauten mögen) aufgelöst wird. Der Begriff der Sonderverbindung ist dann der dogmatische Schlüssel, der diesen Wandel auf der Ebene des positiven Rechts konstruktiv vollzieht.233 Unter der Prämisse der Freiheit ist eine außercontractliche Loyalitätsverletzung nicht konstruierbar.234 Aber auch ganz abgesehen davon, ob man den späteren rechtsethischen Prämissenwechsel von der Freiheit vertraglicher Selbstbindung zur sonderverbindlichen Vergemeinschaftung für richtig hält oder nicht: Selbst wenn man ein solches sonderverbindliches Loyalitätsverhältnis generell für jede Vertragsanbahnung annehmen wollte, dann könnte die Verletzung der insoweit konstruierten Loyalitätspflichten (Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen Seite) wiederum nur eine vorsätzliche sein: Der vorsätzliche Zugriff auf das Vermögen der anderen Seite. Die Haftung für dolus erfasste dann notwendig auch diese Fälle, und § 826 BGB wäre der Zentralparagraph für Vermögensschädigungen auch in contrahendo. Es ist daher auch kein Zufall, dass alle Versuche, eine vor-

232  Vgl. nur: Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 8 ff.; Jhering, Zweck im Recht II, S.  1 ff.; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1921/1972), S. 387 ff. 233  Unten § 6. 234  Zu der diesbezüglichen Widersprüchlichkeit der modernen Begründungsansätze ausf. unten § 7 II.2. und III.2.

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vertragliche Haftung auf Fahrlässigkeit zu konstruieren, immer auf eine lediglich rhetorische Ausdehnung des dolus auf die culpa hinausgelaufen sind.235 Der Zusammenhang zwischen dolus, Loyalitäts‑ bzw. Vertrauensbruch in seiner Differenziertheit zum jeweils einschlägigen Vertragsverhältnis wurde einmal mehr zuerst von Jhering sinnig so beschrieben: „Der dolus, d. i. die wissentliche und absichtliche Verletzung fremder Rechte, bestimmt sich ganz nach dem Umfang der fremden Rechte, und dies gilt auch für die durch ein Contractsverhältniß begründeten Rechte der Parteien. Je nach dem Maß der gegenseitigen Ansprüche und Verpflichtungen bei den verschiedenen Contracten kann eine und dieselbe Handlung bei dem einen als dolus zu betrachten sein, bei dem andern nicht. Der Verkäufer, welcher durch Anpreisung der Waare den möglichst hohen Preis zu erzielen sucht, begeht keinen dolus: l. 16 § 4 de minor (4, 4): … in pretio emtionis et venditionis naturaliter licere contrahentibus se circumscribere, l. 22 § 3 Loc. (19, 2). Sehr verkehrt dagegen würde es sein, diesen Satz auf das Mandat zu übertragen, und auch den Mandatar, der durch Anpreisung einer ihm als nicht preiswürdig bekannten Sache den Mandanten zum Ankauf derselben zu verleiten sucht, vom Vorwurf des dolus freizusprechen: arg. l. 42 Mand. (17, 1) … mandanti teneberis. Es beruht dieß auf folgendem allgemeinen, bisher unseres Wissens für diese Frage noch nicht gewürdigten Gegensatz. Bei gewissen Verträgen, wie z. B. Kauf und Miethe, liegt für beide Theile das Motiv ihrer Eingehung in dem eigenen Interesse, und hier ist jeder Theil berechtigt, sich lediglich durch sein Interesse leiten zu lassen, auch wenn er weiß, daß der Vertrag dem Interesse des Gegners nachtheilig ist; jeder sorgt hier für sich selber und darf daßelbe vom Gegner voraussetzen. Die bloße Thatsache der wissentlichen Übervortheilung als solche, d. h. wenn sie nicht durch absichtliche Erregung oder Benutzung des fremden Irrthums erziehlt ist, begründet daher in diesen Verhältnissen keinen dolus: l. 37 de dolo (4, 3), l. 19 pr. de aed. ed. (21, 1), l. 43 pr. de cont. emt. (18, 1), und die oben citirten Stellen. Ganz anders dagegen bei denjenigen Vertrags‑ oder Obligationsverhältnissen, welche wie das Mandat, die Vormundschaft und negotiorum gestio die Führung fremder Geschäfte zum Gegenstand haben. Bei ihnen liegt das Motiv zur Eingehung des Verhältnisses in dem Interesse des Geschäftsherrn, und dieß Interesse bildet für den Geschäftsführer den maßgebenden Gesichtspunkt, durch den er sich bei seiner ganzen Thätigkeit leiten lassen soll. Indem er die Obligation contrahirt, verzichtet er darauf in diesem Verhältniß, von dem ihm etwa zugesicherten Lohn (Honorar, Provision) abgesehen, sein eigenes Interesse zu verfolgen, übernimmt vielmehr die Verpflichtung, sich lediglich durch das fremde Interesse leiten zu lassen, bei seiner ganzen Geschäftsführung in derselben Weise zu verfahren, als beträfe dieselbe seine eigenen Angelegenheiten. Ohne diese Haftung würden jene Verhältnisse ihren Zweck vollkommen verfehlen, sie würden dem Geschäftsführer die Möglichkeit eröffnen, das Vertrauen, welches ihm geschenkt ist, in gröbster Weise zu missbrauchen; das Mandat, die Vormundschaft würde ein Freibrief für die Unredlichkeit, eine Schlinge für den Geschäftsherrn sein. Eben darum stellen die römischen Juristen die obige Regel lediglich für den Kauf und die Miethe auf: in emendo et vendendo … in locatioribus et conductionibus l. 22 § 3 Loc. (19, 2). Hier ist sie ungefährlich, weil jeder Theil weiß, daß er sich vorzusehen hat. Dagegen bei den genannten Vertrauensverhältnissen überlässt der Geschäftsherr diese Fürsorge für sich gerade dem andern Theil. Darum stempelt das römische Recht mit gutem Grunde das Verfahren eines Geschäftsführers, der seine Stellung zu seinem eigenen Vortheil ausbeutet, zu einem dolosen (…).“236 235

 Hierzu insb. unten § 6 I.3.a) und § 7 III.3. Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), 248 ff.

236 Jhering,

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Kurz: Der Verzicht auf die Realisierung des § 705 des Entwurfes basiert auf der Einsicht, dass es in echten Vertrauensverhältnissen keine fahrlässige Loyalitätsverletzung und jedenfalls in einer auf Freiheit und Dynamik ausgerichteten Gesellschaft, die eine Verfolgung von Eigeninteressen nicht nur akzeptiert, sondern vor allem auch aus ökonomischen Gesichtspunkten heraus notwendig befürwortet, jenseits der sichtbaren körperlichen Beschädigungen keine sanktionsbedürftige fahrlässige Vermögensschädigung gibt. Rationale Überlegungen deckten sich demnach mit der römischen Zweigliedrigkeit der deliktischen Haftung (actio doli einerseits und actio legis aquiliae andererseits). Die generelle Haftung für dolus gehörte von ihrer Geburt an in einen ganz eigenen Kontext von Näheverhältnissen. Und so musste letztlich doch „die Unzulänglichkeit und zu große Enge des Hauptprinzips konstatiert“237 werden. Die Fälle einer Vermögensschädigung durch dolus und „üble Nachrede“ wurden in speziellen Tatbeständen ausgesprochen (§§ 824, 826 BGB) und die mit E § 705 gewünschte Flexibilität für zukünftige Rechtsentwicklungen mit der Möglichkeit der Verletzung eines „sonstigen Rechts“ (in § 823 I BGB) durchaus unter das Hauptprinzip gebracht. b) Verkehrsschutz: Erklärungsfahrlässigkeit – Wohin führt das? „Die aquilische Klage, auch die analoge, beschränkte sich in Rom ausschließlich auf Zerstörung oder Entwerthung der Körper. Vermögensbeschädigungen anderer Art verpflichteten den Schädiger daher außerkontraktlich nur in Fällen des Dolus. Anders war es nach der älteren gemeinrechtlichen Lehre und Praxis. Nach ihr galt man wegen jeder verschuldeten Schadenszufügung als zur Schadloshaltung verbunden. Dies warf aber die gemeinrechtliche Theorie unseres Jahrhunderts über Bord, theils weil sie sich ausschließlich auf den Boden der römischen Quellen stellte, theils weil sie eine so allgemeine außerkontraktliche Schadensklage als zu vag und für den Verkehr bedenklich ansah.“ Heinrich Dernburg, 1886238

Allein mit der Erkenntnis, dass es keine fahrlässige Illoyalität gibt, erübrigt sich im Grunde jede weitere Debatte über eine Haftung für culpa (in contrahendo). Man kann die Dogmengeschichte dieses Instituts durchaus als einen Kampf interpretieren, den Gedanken der Loyalität auf den vorvertraglichen Bereich immer weiter auszudehnen, und die Tatsache, dass dieser Kampf keine klare Form für eine vorvertragliche Haftung hinterlassen hat, eben in der ungelösten Schizophrenie erblicken, die Parteien einerseits auf den Vermögensschutz der anderen Seite verpflichten zu wollen, andererseits aber auch das Postulat der (wirtschaftlichen) Freiheit nicht allzu sehr einschränken zu können. Wie gesehen wäre nun aber selbst bei normativer Postulation eines vorvertraglichen Loyalitätsverhältnisses das spezielle Institut der culpa in contrahendo recht überflüssig, 237

 Motive II, S. 727. Pandekten II (1886/1903), § 135.

238 Dernburg,

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weil man in diesem Fall, wie Jhering gezeigt hat, mit einer Haftung für dolus (und das heißt, mit § 826 BGB) durchaus zurechtkäme. Jede Ausdehnung der Erklärungshaftung gehörte so historisch und systematisch entweder zu § 826 BGB oder zu dem jeweiligen Kontraktsverhältnis und nicht in eine wie auch immer definierte „dritte Haftungsspur“ zwischen Delikt und Vertrag. Auch das hat übrigens kein anderer als der „Entdecker“ der culpa in contrahendo noch im Jahr seiner Revocation klargestellt: „Eine derartige spitzfindige Scheidung der Zeit vor und bei Eingehung des Contractsverhältnisses ist … dem römischen Recht – und das aus gutem Grunde – völlig fremd. Der Verkäufer, der den Käufer durch falsche Vorspiegelungen zum Abschluß des Kaufcontracts bestimmt, haftet wegen seines dolus, obschon derselbe dem Abschluß des Contracts vorangegangen ist, dennoch ex emto (…).“239

So war das 19. Jahrhundert aus guten Gründen weit davon entfernt, die Vertragsanbahnung als eigenständiges Loyalitätspflichten begründendes „Verhältnis“ anzusehen. Diese Haltung liegt dabei nicht allein in den genannten rechts‑ und wirtschaftspolitischen Grundüberlegungen. Sie liegt auch keineswegs in einem „puristisch-Romanisirenden“ der gemeinrechtlichen Rechtswissenschaft, die alle ‚fortschrittlichen‘ Abstraktionen des usus modernus „auf den alten Römischen Standpunkt zurückgeschraubt“ hätte. Wenn dem so wäre, so wäre die Rückführung des E § 705 auf eine Haftung für dolus in der Tat eine unreflektiert historisierende und mithin als zufällig und ganz willkürlich anzusehen. Wenn man jedoch genauer hinschaut, so ergibt sich auch hier, dass der römische Rechtsstoff nicht nur zur freiheitstheoretischen Konzeption des Rechts passt, sondern die Vernunft selbst die culpa als Haftungsgrund zurückweist. In der Tat war spätestens seit Hasses Schrift über die Culpa der Hinweis auf die Existenz der actio doli ein entscheidendes dogmatisches Argument gegen eine ausgedehnte aquilische Fahrlässigkeitshaftung gewesen: Wenn diese bereits eine allgemeine Haftung für Fahrlässigkeit enthielte, so wäre die actio de dolo eine ganz unsinnige Einrichtung gewesen. In diesem Hinweis lag aber, wie gesehen, kein bloß formal dogmatischer Versuch, die Konkurrenz zweier Klagen anders als im usus modernus aufzulösen, sondern durchaus die inhaltliche Einsicht, dass beide Klagen nicht nur unterschiedliche Voraussetzungen an das subjektive Unrecht stellten, sondern auch ganz unterschiedliche objektive Handlungsweisen zum Gegenstand hatten. Es macht nämlich durchaus einen Unterschied, ob eine Schädigung direkt durch Tat oder nur mittelbar durch Wort herbeigeführt wird. Aquilischer Schadensersatz bezog sich nur auf körperliche direkte Vermögensbeschädigung (mit entsprechenden Erweiterungen bei Unterlassungen, wenn eine Pflicht zum Tätigwerden bestand). Das Feld der actio de dolo war demgegenüber von Anfang an die Erklärungshaftung und hier geht es immer nur um mittelbare Schädigungen! 239 Jhering,

Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), S. 273.

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Wir erinnern uns: Es war von vornherein die actio de dolo, die neben den bonae fidei iudicia als allgemeine Klage für durch unrichtige Erklärungen herbeigeführte Vermögensschäden die einschlägige Grundlage abgegeben hat. Alfred Pernice wollte die Klage wegen dieser Eigenart gar nicht zu den Deliktsklagen zählen, und auch Reinhard Zimmermann erörtert den dolus nicht beim Delikt, sondern beim Vertrag. Jhering selbst hat das Problem der Haftung für Erklärungen im Rahmen seiner Ausführungen zur c. i. c. sehr deutlich herausgestellt: So lehnt er sofort den Versuch von Thöl ab, aus der actio doli eine actio culpae zu machen.240 Gleiches wiederholt er gegen Mommsen241 mit den eindringlichen Worten: „Wohin würde es führen, wenn Jemand in außercontractlichen Verhältnissen schlechthin, wie wegen dolus, auch wegen culpa lata in Anspruch genommen werden könnte! Eine unvorsichtige Äußerung, die Mittheilung eines Gerüchts, einer falschen Nachricht, ein schlechter Rath, ein unbesonnenes Urtheil, … kurz, alles und jedes würde bei vorhandener culpa lata trotz aller bona fides zum Ersatz des dadurch veranlaßten Schadens verpflichten, und die act.de dolo würde in einer solchen Ausdehnung zu einer wahren Geißel des Umgangs und Verkehrs werden, alle Unbefangenheit der Conversation wäre dahin, das harmloseste Wort würde zum Strick.“242

Man kann die Einsicht auch einfach so formulieren: (Erklärungs‑)Fahrlässigkeit kann nicht ernsthaft allgemein verboten werden. Wohin würde das führen? Die culpa lässt sich gar nicht allgemein als „unerlaubte Handlung“ denken; denn sie ist nicht nur allgegenwärtig – oder wer wüsste alles und macht immer alles richtig?  –, sondern sie wäre auch, wie wir sowohl bei der Konstruktion von Jherings culpa in contrahendo als auch bei der culpa levissima des usus modernus gesehen haben, als Schlauberger-Konjunktiv ex post jederzeit beliebig feststellbar (hindsight bias). Man kann weder faktisch noch rechtlich voraussetzen, dass alle Erklärungen jederzeit wahr („Was ist Wahrheit?“), sondern nur, dass sie jederzeit wahrhaftig sind. „Redlichkeit“ im Geschäftsverkehr zielt daher immer auf Abwesenheit der Arglist. So schließt sich der Kreis zu der bereits oben ausführlich erörterten Einsicht, dass eine besondere Sorgfalt nicht allgemein, sondern nur im Rahmen eines hierzu besonders verpflichtenden Verhältnisses gefordert und hier ggf. auf den Gesichtspunkt des subjektiven Unrechts dann auch ganz verzichtet werden kann. Dass darüber hinaus die Ausdehnung der außervertraglichen Haftung selbst auf culpa lata noch auf ein ernstzunehmendes soziales Bedenken stößt, hat Rudolf Leonhard gegen Friedrich Mommsen nicht ohne Berechtigung geltend 240 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/5 mit Bezug auf Thöl, Handelsrecht I, § 25 (3. Aufl. 1854), S. 104. 241  F. Mommsen, Beiträge zum Obligationenrecht I (1853), S. 122. 242 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), S. 12 f., wiederholt auf S. 23 ff. ausdrücklich zum Zusammenhang von Umfang der Fahrlässigkeit und den Verletzungsgegenständen: Bei Arglist (dolus) haftet man für jeden Schaden. Bei einer Haftung wegen bloßer Fahrlässigkeit (culpa) haftet man nur in eindeutig bestimmten Fällen (äquilisch).

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gemacht: Die Beschränkung der „Gleichstellung der lata culpa mit dem dolus bei Kontrakten“ erkläre sich nämlich auch daraus, „… daß der in ungewöhnlicher Weise Thörichte und Unaufmerksame in das Verkehrsleben so wenig hineinpasst wie der Unredliche, und daß er daher nothwendigerweise, sobald er sich auf dieses Gebiet in Folge einer Ueberschätzung seiner geistigen und moralischen Fähigkeiten hinauswagt, die Folgen seiner Selbstüberhebung in der Gleichstellung von dolus und culpa lata tragen muß. Sobald er sich jedoch hiervon fern hält, so würde es der Regel nach hart sein, wenn das Recht seine ohnehin bedauernswerthe Lage noch dadurch verschlimmern wollte, daß es aus seinem außerkontraktlichen Verhalten eine dauernde Quelle von Schadensersatzverpflichtungen werden ließe.“243

Die „Geißel“ für „Umgang und Verkehr“ wird hier gleichsam personalisiert. In der Summe muss es daher nicht überraschen, wenn ein verantwortungsvoller Gesetzgeber sich gegenüber einer allgemeinen Haftung für culpa sehr zurückhaltend verhält. Franz v. Zeiller hat, wie gesehen, eine entsprechende Überlegung denn auch sogleich an den Anfang seiner prinzipiellen Überlegungen zum Haftungsrecht gestellt: „… sehr unbillig und unpolitisch wäre die Sanctionirung dieses Grundsatzes [einer allgemeinen Haftpflicht] im Staate, wo die Menschen so nahe an einander gedrängt, die Berührungspuncte so häufig sind, und schon die Forderung der höchsten Aufmerksamkeit in auf Andere einwirkenden Handlungen den zu begünstigenden Verkehr, wenn nicht unmöglich, doch sehr schwer machen würde.“244

2. Vorsatzdogma II: Verschuldens-Patt a) Freiheit und Kausalität: Volenti non fit iniuria „Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann. (…) Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat.“ Immanuel Kant, 1785245

Die Erkenntnis, dass die actio doli das besondere Feld der lediglich mittelbar durch Erklärungen verursachten substanzlosen Vermögensschädigungen regiert, führt nun schließlich noch zu einer weiteren Einsicht. Neben den von Jhering drastisch geschilderten Konsequenzen, die eine Haftung bei Erklärungsfahrlässigkeit für die Sicherheit des Verkehrs zeitigt, wird nämlich auch die normative und logische Unmöglichkeit einer solchen Haftung deutlich. Ein Blick auf den  R. Leonhard, Rezension Mommsen, ZHR 26 (1881) 293/307.  Zeiller, Principien, IV (1820), S. 172 f. 245 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), S. 81 f. 243 244

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

klassischen Betrug zeigt, worum es geht: An einer durch Erklärungen vermittelten Vermögensschädigung hat nämlich – anders als bei der aquilischen Haftung – der Geschädigte immer selbst mitgewirkt. Nun galt aber für das alte römische Recht nicht ohne Grund der „selbstevidente“246 Satz: volenti non fit iniuria.247 Das heißt, es gibt im Grundsatz gar kein Unrecht, wenn der Geschädigte selbst sein Vermögen aus der Hand gibt. Erst der Gedanke der bona fides und die Ächtung des dolus malus konnten zu der Gewissheit führen, dass der eigene Kausalbeitrag des Geschädigten bei einem dolosen Verhalten der anderen Seite keine Beachtung finden darf. Der dolus trägt die Verwerflichkeit, die aus moralischen Gründen eine Haftung für fremde Handlung rechtfertigt, in sich. Und nur der dolus kann als hinreichender „Causalnexus“ für den Schaden angesehen werden, weil er den eigenen Beitrag (den „Causalnexus“) des Geschädigten in sich enthält und ihn zielgerichtet bestimmend zu seinem Vorteil ausnutzt. Nur der dolus also, der eine fremde Handlung steuert, lässt sich gleichsam auch als überwiegende Ursache des schädigenden Erfolges denken, nicht aber die culpa, die in diesem Bereich immer und notwendig mit der culpa des Geschädigten konkurriert. Hier liegt nun der tiefere Sinn für das später so genannte „Vorsatzdogma“ des BGB, wie ihn Jhering bereits zutreffend beschrieben hat: Denn alleine „schlechter Rath, falsche Nachricht, Empfehlung usw. geben sich äußerlich durchaus nicht als Eingriff in eine fremde Rechtssphäre zu erkennen, sie sind nicht an sich ein Unrecht und bewirken auch nicht schon an sich einen Schaden, vielmehr 246  Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral (1840), gegen den in diesem Punkt kategorischen Paternalismus Kants: „Rechtspflichten gegen uns selbst sind unmöglich, wegen des selbstevidenten Grundsatzes volenti non fit injuria.“ 247  Zu diesem Grundsatz zuletzt Ohly, Die Einwilligung im Privatrecht (2002), mit dem knappen Hinweis, dass diesem Satz ein „einheitliches dogmatisches Prinzip“ im römischen Recht nicht zugrunde lag (S. 25). Allerdings versucht Ohly auch nicht eigentlich eine Dogmengeschichte dieses Satzes (zum römischen Recht nur 1,5 Seiten); es bleibt sogar ganz unklar, wer ihn zuerst in dieser Form geprägt hat. Man wird aber wohl soviel sagen können, dass in der singulären Stelle Ulpian, D. ​47, ​10, ​1, ​5: „… quia nulla iniuria est, quae in volentem fiat“ etwas für die römische Zeit Selbstverständliches ausgesprochen wird, das nicht dauerhaft in Rechtsvoten ausgeführt werden musste. Das gilt dann nicht nur für die klassischen Fälle der iniuria (also im Kern Persönlichkeitsverletzungen), sondern erst recht für die hier interessierenden Vermögensschäden durch Vermögensverfügung des Geschädigten. Der Betrug war zu keiner Zeit als iniuria erfasst, weder zu Zeiten der 12 Tafeln noch später in der Lex Aquilia. Die reine Vermögensschädigung kommt erst mit der actio doli in das Visier rechtlicher Stigmatisierung und stellt damit tatsächlich die erste Durchbrechung des Grundsatzes, dass dem Wollenden kein Unrecht geschieht, aufgrund des höher bewerteten Vertrauensschutzes (der bona fides) dar (siehe oben § 2 II.2.). Gleichwohl gilt selbst noch für die Kaiserzeit, dass 1. „Eine Iniuria … überall da unmöglich (ist), wo der Beleidigte zu der gegen ihn gerichteten Handlung seine Zustimmung erteilt hat“ und 2. der dolus „durch das Wissen und die Zustimmung des Verletzten von selber ausgeschlossen“ ist. (vgl. Pernice, Labeo≈II, 1868, S. 85 m. N.). D. h., auch wenn die Römer sich enthalten haben, allgemeine Prinzipien aufzustellen, dass die Zustimmung des Geschädigten eine Klage ausgeschlossen hat, war nicht nur für die alte Zeit „selbstevident“.

III. Widerrechtlichkeit fahrlässiger Erklärungen?

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gewinnen sie diesen Charakter und diesen Einfluß erst durch die Art ihrer Beziehung zum Willen der beiden Theile, zu dem des Beklagten: den Charakter des Unrechts durch die Schlechtigkeit seiner Willensrichtung, zu dem des Klägers: den nachtheiligen Einfluß durch die ihrer hervorgerufenen Willensbestimmung“.248 Für die culpa kann das nicht gelten. Es gibt keine plausible Antwort auf die Frage, warum die culpa der einen Seite die culpa der anderen Seite überwiegen soll. Der von einer fahrlässigen Erklärung ausgehende Kausalbeitrag kann außerhalb von entsprechenden Verpflichtungsverhältnissen nicht hinreichen, die fahrlässige Gestaltung der Vermögensinteressen gleichsam als unabwendbares Ereignis und zurechenbar verursacht anzusehen. Eine gegenteilige Annahme hieße, den Geschädigten ex post nicht mehr als autonome Person zu betrachten. Hier liegt die freiheitstheoretische Rechtfertigung, die in Kants Beschreibung negativer (Abwehr heteronomer Kausalitäten) und positiver Freiheit (Autonomie: eine Kausalkette von selbst anzufangen) grundlegend beschrieben wird.249 Die bloße Mitteilung von Sachurteilen und Meinungen der einen Seite kann unter freiheitstheoretischen Gesichtspunkten schwerlich hinreichen, eine Haftung zu begründen, „weil es bei der bloßen Erklärung seiner Gedanken immer dem andern frei bleibt, sie anzunehmen“.250 Hier ist es also der Begriff der „Autonomie“, der, bis heute konkret und zutreffend mit der Normativität der „Privatautonomie“ verbunden, entsprechende Zumutungen, die eine Haftung für bloße culpa mit sich bringt, abwehrt. In der römischen Rechtswissenschaft der Zeit sprach man insoweit weniger von Privatautonomie als von Culpacompensation: „Der Satz: volenti non fit iniuria gilt eben nicht nur dann, wo es sich um eigentliche iniuria handelt und nicht nur da, wo der Wille des Geschädigten geradezu auf den nachtheiligen Erfolg gerichtet war, sondern überall, wo mit dem ‚weil der Beschädiger wollte‘ konkurriert ein ‚weil der Beschädigte wollte‘, mag dieses letzte Wollen auch nur ein den Nachtheil nicht vermeiden wollen sein.“251

b) Reziprozität: Culpacompensation „Si ambo socii parem negligentiam societati adhibuimus, dicendum est, desinere nos invicem esse obligatos, ipso jure compensatione negligentiae facta.“ Ulpian, D. ​16, ​2, ​10 pr.

Das Phänomen der Culpacompensation ist uns bereits bei Jherings Konstruktion der culpa in contrahendo, aber auch in den Naturrechtskodifikationen begegnet.  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/24 f. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), S. 81 ff. (siehe Eingangszitat). 250  Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre: B. Allgemeine Eintheilung der Rechte (1794), S. 238. 251 Demelius, Ueber Kompensation der Kulpa, JhJb 5 (1861), 52/67 f. 248

249 Kant,

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

Für Jhering und seine Zeit252 war es ganz selbstverständlich, dass eine Verschuldenshaftung gar nicht in Betracht zu ziehen ist, wenn auch der anderen Seite ein adäquater Schuldvorwurf zu machen ist.253 Und das gilt bei einer Erklärungshaftung, die keine Haftung für juristisch klar definierte Erklärungstatbestände ist, natürlich immer: „Hier scheint sich die culpa in contrahendo auf seine Seite zu neigen, jedenfalls aber eine Kompensation der beiderseitigen culpa eintreten zu müssen.“254 Unter Verschuldenskompensation kann man Verschiedenes verstehen: Der rechtsethische Ausgangspunkt ist zunächst ganz allgemein der, dass es unredlich ist, einem anderen ein Verhalten zum Vorwurf zu machen, wenn man sich selbst von diesem Verhalten nicht freisprechen kann. Die moralische Extremform findet sich bekanntlich in dem Jesus-Wort: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ (Joh. 8, 7). Dieser gleichsam transzendentale Ausfluss aus einem universal verstandenen Reziprozitätsprinzip, der sogleich jeder Heuchelei selbstberufener Ankläger und Richter den Spiegel vorhält,255 findet sich freilich mit diesem Anspruch und in dieser Weite in keinem Rechtssatz ausgesprochen: Wer könnte noch gegen andere klagen, wer noch richten?256 252  Die Frage, ob die Culpacompensation bereits klassisches römisches Recht ist oder erst auf späteren Überlegungen basiert, mag hier auf sich beruhen; zu dieser (m. E. unrichtigen) These: Wollschläger, Das eigene Verschulden des Verletzten im römischen Recht, ZSRom 93 (1976), 115–137. 253 Hierzu: Glück, Pandekten XV (1813), § 928: de compensationibus, S. 67 ff.; Krug, Die Lehre von der Kompensation (1833); Hartter, Das römisch-deutsche Recht der Kompensation (1837); F. Mommsen, Zur Lehre vom Interesse (1855), 157 ff.; Ubbelohde, Über den Satz: ipso iure compensatur (1858); Demelius, Über Kompensation der Kulpa, JhJb 5 (1861), 52 ff.; Pernice, Lehre von den Sachbeschädigungen (1867), S. 58 ff.; ders., Labeo II (1878), S. 32 ff.; Dernburg, Geschichte und Theorie der Compensation (1868); v. Bar, Die Lehre vom Causalzusammenhange im Rechte, besonders im Strafrecht (1871); ders., Zur Lehre von der Culpa, GrünhutsZ 4 (1877), 21/45 ff.; Hesse, Dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203/253 ff.; Burckhardt, Culpa lata (1885), S.  109 ff.; Levison, Über Compensation der Culpa (1891); Bolze, Der Anspruch auf Rückgabe aus einem nichtigen Geschäft, AcP 76 (1890), 233 ff. (mit einem illustrativen Fall); Unger, Handeln auf eigene Gefahr, JhJb 30 (1891), 363 ff.; Wendt, Eigenes Verschulden, JhJb 31 (1892), 137 ff.; Plog, Die sogenannte Culpa-Compensation bei Schadensersatzansprüchen nach römischem Recht (1896); Priester, Compensatio culpae (1896); Labowsky, Eigenes Verschulden bei Schadensersatzansprüchen nach gemeinem Recht und BGB (1898); Ruhm, Das eigene Verschulden des Verletzten als Grund zur Ausschliessung der Ersatzpflicht im gemeinen Recht (1898); Cohn, Untersuchungen zum § 254 des BGB, Gruchot 43 (1899), 96 ff.; Leyden, Die sogenannte Culpa-Compensation im Bürgerlichen Gesetzbuch (1902); Theissing, Die Verschuldensaufrechnung bei den verschiedenen Verschuldensformen (1909). Aus dem neueren Schrifttum: Medicus, Id quod interest (1962), S. 322 ff.; Luig, Überwiegendes Mitverschulden, Ius Commune 2 (1968), 187/192 ff.; Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht (1999). 254  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/85. 255 Drastisch zugespitzt etwa: H. v. Kleist, Der zerbrochene Krug (1811). 256  Deutlich zur ethischen Bürde von Anklägern aber Cicero, Reden gegen Verres 1, 7, I, 1: „Jeder Mensch, der einen seiner Mitmenschen ohne persönliche Feindschaft, ohne sich für erlittene Unbill zu rächen oder auf einen Lohn zu hoffen, lediglich um des Staates willen vor die

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Gleichwohl lässt sich der ethische Gehalt dieses, in der klassischen Rhetorik auch als argumentum ad hominem (konkret als tu quoque: Du auch!) bekannten Einwands nicht leicht beiseiteschieben. Und so findet sich dieser Gedanke auch im Recht immer wieder positiv ausgesprochen: Man denke nur ganz allgemein an das Grundprinzip des Synallagmas, wonach bereits die Leistungspflichten in unmittelbarer Abhängigkeit von einander stehen (§§ 320 ff. BGB), Rechtsfolgen aus einer Vertragsverletzung nicht geltend gemacht werden können, wenn man selbst seine Vertragspflichten nicht erfüllt257 oder die Arglisteinrede verwehrt wird, wenn ihr Gebrauch selbst arglistig ist.258 Kurz formuliert: „Nur der selbst Rechtstreue darf Rechtstreue fordern.“259 Ganz allgemein zum Rechtsprinzip erhoben findet sich der tu-quoque-Einwand in dem Grundsatz von der „sauberen Hand“ im englischen Billigkeitsrecht (Equity): „He who comes to equity must come with clean hands!“ Am unmittelbarsten ist die Ausprägung freilich immer noch in dem Gedanken der Rechtfertigung einer Schädigung bei Notwehr und Nothilfe ausgesprochen: Wer Unrecht verübt, der hat keinen Anspruch, wenn er dabei selber Schaden nimmt. Das römische Recht hat aus diesem Satz gleich mehrere Folgerungen gezogen. Die quellenmäßige Definition lautet: compensatio est debiti et crediti inter se contributio (D. ​16, ​2, ​1). Es geht mithin bei Compensation um etwas, das wir heute primär mit Aufrechnung und Saldotheorie in Verbindung bringen würden. Berücksichtigt man freilich, welche Bedeutung das Schuldmoment für die Begründung von Forderungen im römischen Recht eingenommen hat, dann liegt der Ausgangspunkt, in der Compensation der Forderung nur eine besondere Form der Compensation der Verschuldung zu sehen, auf der Hand: Es geht dann bei der Culpacompensation nicht um entstandene Verbindlichkeiten, die einander aufrechenbar (im heutigen abstrakten Sinne) gegenüberstehen und nun saldiert werden, sondern darum, dass aufgrund beiderseitigen Verschuldens erst gar keine Verbindlichkeiten entstehen. Derjenige wurde mit seiner Deliktsklage abgewiesen, der sich selbst des nämlichen Verbrechens, wegen dessen er Strafe oder Ersatz beantragte, schulSchranken des Gerichtes fordert, muß sich vorher zu Gemüte führen, welch eine schwere Last er nicht nur für den Augenblick, sondern für sein ganzes Leben auf seine Schultern zu laden im Begriffe steht. Es ist ein Gesetz, das er sich selber auferlegt: das Gesetz eines stets schuldlosen, fleckenreinen, ausgezeichneten Lebenswandels gibt sich für allezeit derjenige, der einen anderen zur Rechenschaft zieht (…).“ 257  Hierzu etwa: Urt. v. 10. Dezember 1935, RGZ 149, 401/404: „… denn ein solches (Recht) steht nach ständiger Rechtsprechung des Reichsgerichts dem anderen Teile nur zu, wenn er selbst den Vertrag genau erfüllt hat und vertragstreu ist (…).“ Der Bundesgerichtshof hat diese Linie jedenfalls dem Grunde nach fortgesetzt: BGH, Urt. v. 1. Oktober 1986, NJW 1987, 251; Urt. v. 15. Oktober 1993, ZIP 1993, 1853; Urt. v. 13. 11. ​1998 – V ZR 386/97, NJW 1999, 352; 258  Urt. v. 7. November 1930, RGZ 130, 215 (Versicherungsprämienfall). 259  Wieacker, Präzisierung des § 242 (1956), 31 f.; ausdifferenzierter dann: Teubner, Gegenseitige Vertragsuntreue (1975); Weller, Die Vertragstreue (2009).

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dig gemacht hatte: quis tulerit Gracchos de seditione querentes.260 Aus einer communis malitia entsteht keine Klage.261 Dieser Gedanke findet sich noch für die Einrede gegen die condictio in turpem vel iniustam causam, wenn den Entreicherten seinerseits der Vorwurf verwerflichen Handelns trifft (§ 817 S. 2 BGB). Von hier aus ist es dann nicht mehr weit zu einer allgemeinen Schuldkompensation im römischen Recht, wonach „dolus gegen dolus und culpa gegen culpa aufgerechnet werden“262: Si duo dolo malo fecerint, invicem de dolo non agent.263; „… dicendum est desinere nos invicem esse obligatos ipso iure compensatione neglegentiae facta“264; zu einer Einsicht also, die sich in Jherings Konstruktion der c. i. c. ebenso dezidiert ausgesprochen findet, wie sie dann auch in den ausdrücklich geregelten Fällen der culpa in contrahendo (§§ 122, 179, 307/309 a. F. BGB) ihren Niederschlag gefunden hat: quod quis ex culpa sua damnum sentit, non intellegitur damnum sentire.265 Das Prinzip der sog. Culpacompensation beruht nach überwiegender Auffassung nicht lediglich auf Billigkeitsgründen, sondern darauf, dass die eigene culpa des Geschädigten den Causalzusammenhang unterbricht und er als der zuletzt Handelnde auch letzthin verantwortlich ist, den von ihm selbst verursachten Schaden zu tragen.266 Das ist im Grundsatz bis heute der Standpunkt im englischen Common Law: 260  Pernice, Labeo II (1878), S. 32 mit Verweis auf: Labeo, D. ​44, ​4, ​4, ​13; 43, 8, 2, 18 und Marcellus, D. ​29, ​4, ​7. ​ 261 Glück, Pandekten XV (1813), § 928, S. 67 ff.: „Der Grund dieser Compensation beruhet hier nicht in einer ficta per brevem manum solutio, sondern vielmehr darin, weil es die Gesetze für unbillig halten, gegen den andern wegen eines Vergehens zu klagen, dessen man sich selbst schuldig gemacht hat.“ 262  Pernice, Labeo II (1878), S. 34; Krug, Die Lehre von der Kompensation (1833), S. 143 f.: „Vom gegenseitigen dolus hat man diese Grundsätze auch auf culpa und negligentia übertragen. Haben nämlich in einem und demselben Kontrakte oder kontraktsähnlichen Verhältnisse beide Teile sich eine gleiche negligentia zu Schulden kommen lassen, so hat keiner gegen den andern Entschädigungsansprüche … Das Resultat also ist dieses, daß in Kontraktsverhältnissen dolus mit dolus, culpa lata mit culpa lata, culpa levis mit culpa levis ipso iure compensiert werden“. 263 Marcian, D. ​4, ​3, ​36. ​ 264  Ulpian, D. ​16, ​2, ​10 pr. 265 Pomponius D. ​50, ​17, ​203; hierzu Pernice, Labeo II (1878), S. 36; Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 109; Medicus, Id quod interest (1962), S. 323 ff.; zur Regelung im ALR vgl. nur die Bemerkung bei Heydemann, System des Preußischen Civilrechts I (1861), S. 296: „An die Stelle des einfachen und natürlichen Römischen Satzes: Qod quis ex culpa sua damnum sentit, non intelligitur damnum sentire (203 de R. I.), ist eine verwickelte und gekünstelte, bis ins Kleinliche gehende Abwägung der Grade der auf Seiten des Beschädigten und des Beschädigers concurrierenden Culpa getreten (je größer die concurrierende Culpa des Beschädigten, desto geringer die Entschädigung desselben: §§ 18–21.“ 266  Etwas unklar noch Cohnfeld, Lehre vom Interesse (1865), S. 142: „Soll etwas von einer Tatsache abhängig sein, so muss es eben diese Tatsache, keine andere sein, von welcher es abhängig ist.“; deutlich dann aber Pernice, Sachbeschädigung (1867), S. 59 f.: „den wahren Rechtsgrund für die Culpacompensation glaube ich immer noch darin finden zu müssen, daß die negligentia des Beschädigten den Causalzusammenhang zwischen der culpa des Schädigers und dem damnum in Frage stellt.“; einschränkend aber ders., Labeo II (1878), S. 36 ff.; v. Bar,

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„Originally, the common law treated contributory negligence as a complete defence: it not only impaired but completely barred recovery except an intentional wrongdoer. ‚[I] f there is blame causing the accident on both sides, however small the blame may be on one side, the loss lies where it falls‘ was the principle as formulated by Lord Blackburn, in Cayzer, Irvine & Co. v. Carron Co. [1884] 9 AC 873 (HL) at 881. It was justified on the basis that, in practical sense, the plaintiff was the author of his own wrong (Butterfield v. Forrester (1809) 11 East 60 at 61) and therefore the only effective cause of his injury … Subsequently, this harsh rule was mitigated by the ‚proximate cause‘, or ‚last opportunity‘, test. As a result of it, the entire blame was now thrown on whoever had had the last opportunity of avoiding the harm.“267

Der gemeinrechtliche Streit um eine alle Quellenstellen deckende Begründung bedarf hier keiner ausführlichen Erörterung, weil, wie gesehen, die Argumentation mit dem Kausalzusammenhang jedenfalls für die hier interessierende Erklärungshaftung ebenso zutrifft wie die normative Wertung in equity selbst. Es geht also anders als bei Schädigungen nach der lex Aquilia nicht um eine Exklusivität der Begründungen, sondern um ihre Kumulation. Der Grundsatz der Culpacompensation hat für die Erklärungshaftung sohin eine zwingend logische (jedenfalls wenn man den Gedanken der Freiheit akzeptiert) und eine normativ rechtsethische Basis (tu quoque). Man kann den Gedanken der Culpacompensation nach allem Gesagten auch so fassen: Derjenige, der seine Vermögensangelegenheiten nicht selbst mit der notwendigen Sorgfalt wahrnimmt, der kann einem anderen mangelnde Sorgfalt nicht zum Vorwurf machen, solange dieser nicht zu einer besonderen Vermögensfürsorge verpflichtet war. Und so wird auch hier wieder deutlich: Es bedarf immer eines überzeugenden Grundes, warum ein anderer eher als der Betroffene selbst zur Sorge um dessen Interessen verpflichtet sein soll. Nur eine klare Allokation der Risiken, d. h. ein Vertrag, zumal ein Geschäftsbesorgungsverhältnis, böte einen entsprechenden Grund zur Verlagerung der Sorgfalt auf die andere Seite. Man mag dann in irgendeiner Form die Pflicht zur Fürsorge jenseits eines Vertragsverhältnisses durch eine „Sonderverbindung“ fingieren; Lehre vom Causalzusammenhang (1871), § 4, S. 27: „Das sog. Princip der Compensation der Culpa beruht also, wie auch Pernice bereits annimmt … nicht auf singulären Billigkeitsgründen, auch nicht auf einer Einwilligung des Beschädigten, sondern einfach auf einer Unterbrechung des Causalzusammenhanges, und dies zu bemerken, ist von erheblicher Bedeutung.“, und er stellt hinsichtlich der Quellen fest (§ 12, S. 131): „Überall wird, wo eine Culpa des Beschädigten selbst intercediert, der Schaden direct aus dieser und nicht aus der früheren Culpa des sonst Verpflichteten abgeleitet.“; ders., GrünhutsZ 4 (1877), 21/46: „daß, wer selbst einen Schaden sich zufügt durch eigene Unvorsichtigkeit, die zu fremder Unvorsichtigkeit später hinzukommt, den Causalzusammenhang zwischen jener ersten Unvorsichtigkeit und dem schliesslichen Erfolge durchbricht und deshalb auf Schadensersatz keinen Anspruch hat.“; Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 109; Dernburg, Pandekten II (1903), S. 126 f.: „Erscheint nach der Anschauung des Lebens die Verschuldung nicht mehr als die Ursache, sondern nur als entfernte Veranlassung der Beschädigung, so besteht eine Verhaftung für die letztere nicht mehr.“; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1012 m. w. N. 267 Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1012, Fn. 90.

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die culpa allein kann diesen Grund jedenfalls nicht liefern, sie ist eben nicht allgemein eine causa obligationis. Das galt für das römische Recht sogar bei körperlichen Rechtsgutsverletzungen im Rahmen der aquilischen Haftung: „any form of contributory negligence cost the victim / ​plaintiff his remedy“268. Derjenige, der sich selbst in Gefahr begibt, d. h. eine Gefahr lässig nimmt (= Fahrlässigkeit), kann nicht den Urheber der Gefahrenquelle zur Verantwortung ziehen, wenn sich die Gefährdung in seiner Person realisiert. Wer trotz Warnung unter Bäumen geht, bei denen die Äste abgesägt werden,269 hat den Schaden ebenso selbst zu tragen wie derjenige, der über ein Trainingsfeld der Speerwerfer läuft270 oder sich neben einem Feld, auf dem mit einem Ball gespielt wird, rasieren lässt.271 Derjenige, der sich um eine Schädigung nicht sorgt, kann die ihm selbst mangelnde Sorgfalt nicht einem anderen zum Vorwurf machen. Der Schädiger haftet außerhalb eines zur besonderen Sorgfalt verpflichtenden Verhältnisses dann jeweils nur, wenn er mit dolus gehandelt hat.272 Hier tritt der Sinn des „Vorsatzdogmas“ ebenso hervor wie die Problematik der Jhering’schen Konstruktion; denn die Fälle vorvertraglicher Erklärungshaftung lassen sich durchweg  – zumal mit dem Schlauberger-Konjunktiv – als Fälle mangelnder eigener Sorgfalt des Geschädigten interpretieren. Die Sache wird, wie bereits angedeutet, ganz deutlich beim klassischen Fall des dolus: Betrug ist geradezu der Prototyp einer Selbstschädigung. Wer ist nicht bei den drastischen Fällen, die selbst das Strafrecht zu bieten hat (man denke etwa an den „Sirius-Fall“273 o. ä.), spontan geneigt zuzugeben, dass hier durchaus eigene Dummheit des Geschädigten bestraft würde.274 Doch gibt es in diesen Fällen keine Compensation der Schuld, es gibt keine Compensation von dolus  Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1012.  Vgl. Paulus, D. ​9, ​2, ​31. ​ 270 Vgl. Ulpian, D. ​9, ​2, ​9, ​4. ​ 271  Mela / ​Proculus / ​Ulpian, D. ​9, ​2, ​11 pr. 272  Ulpian, D. ​9, ​2, ​9, ​4; Paulus, D. ​9, ​2, ​31; vgl. zu alledem nur Lübtow, Lex Aquilia (1971), S.  106 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (1990), S. 1010 ff. 273 Urt. v. 5. Juli 1983, BGHSt 32, 38: „Der Angeklagte A lernte die 23jährige Zeugin H. T. kennen, die sehr unselbstständig und komplexbeladen war. Sie führten eine Freundschaft, in der Diskussion über Psychologie und Philosophie im Vordergrund standen. (…) Sie vertraute und glaubte ihm blindlings. A sagte ihr, daß er vom Stern Sirius komme und auf die Erde gesandt wurde, um dafür zu sorgen, daß einige wertvolle Menschen, darunter auch die Zeugin, nach dem völligen Zerfall ihrer Körper mit einer Seele auf einem anderen Planeten oder dem Sirius weiterleben konnten. Er wollte sich auf ihre Kosten bereichern und erklärte zudem, daß sie zunächst an das Kloster Uliko 30.000 DM zahlen müsse, um die dafür notwendige Entwicklung durchlaufen zu können. A verbraucht das Geld für eigene Zwecke. Später spiegelte er vor, daß sie für das Leben im Jenseits auch Geld benötige und eine Lebensversicherung abschließen solle, in welcher er, der A, unwiderruflich als Bezugsberechtigter bestimmt werde, wenn die Zeugin durch einen vorgetäuschten Unfall aus dem Leben scheide. Mehrere Male versuchte sich die Zeugin auf Weisung des A auf verschiedene Weise umzubringen was jedoch immer mißglückte. Die Zeugin handelte im völligen Vertrauen auf die Erklärung des A. Sie wollte sich ihr Leben nehmen in der Hoffnung sofort in einem neuen Körper zu erwachen (…).“ 274 Zum Problem etwa: Ellmer, Betrug und Opfermitverantwortung (1986). 268 269

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und culpa. Eine Haftung für dolus malus wäre anderenfalls wie im ältesten römischen Recht ausgeschlossen; „… denn wer sich hat betrügen lassen, hat eben damit gezeigt, daß er seinem Gegner ein größeres Vertrauen geschenkt hat, als er verdiente.“ Jhering hat die zwei Seiten der Sache einmal mehr sehr prägnant auf den Punkt gebracht: „Kann der Betrüger dem Betrogenen daraus einen Vorwurf machen, daß derselbe ihm Vertrauen geschenkt, ihn für einen ehrlichen Mann gehalten hat, während er ihn für einen Betrüger hätte halten sollen?“275 Doch ist es eben nicht nur die Gutgläubigkeit allein, die hier eine Haftung bewirkt, sondern hinzukommen muss die Rechtswidrigkeit des Verhaltens, nämlich die bewusste Ausnutzung der Gutgläubigkeit. Wegen der verwerflichen Gesinnung ist die Haftung für dolus eine absolute. Es gibt keine Kompensation von dolus und culpa, egal welchen Grad die Nachlässigkeit beim Betrogenen erreicht. Die Haftung für dolus erfolgt aus der ethischen Verwerflichkeit desselben; denn „es gibt keinen Freibrief auf Schlechtigkeit“.276 3. Der Zentralparagraph der Erklärungshaftung: § 676 BGB a. F. „Wer einem Anderen einen Rath oder eine Empfehlung ertheilt, ist, unbeschadet der sich aus einem Vertragsverhältniß oder einer unerlaubten Handlung ergebenden Verantwortlichkeit, zum Ersatze des aus der Befolgung des Rathes oder der Empfehlung entstehenden Schadens nicht verpflichtet.“

Eine außervertragliche Haftung für fehlerhafte Erklärungen kam daher nur bei dolus, nicht aber bei culpa in Betracht. Erklärungen, die nicht selbst schon rechtsgeschäftliche und die nicht im Rahmen eines Rechtsgeschäftes geschuldete Erklärungen sind, werden zu einem Unrecht erst durch die verwerfliche Gesinnung, die der Erklärende bei ihnen hegt. Entsprechende Regelungen finden sich in allen Kodifikationen oder Entwürfen der Zeit277 und entsprechend formulierte § 604 des 1. Entwurfs zum BGB: 275 Jhering, Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), S. 278; hierzu auch Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 110. Die Frage der Culpa-Compensation spielte im besagten Aktien-Streit eine zentrale Rolle: Goldschmidt, Der Lucca-Pistoja-Actien-Streit (1859) wollte dem dolus der Beklagten eine unentschuldbare, d. h. auf culpa lata beruhende Unkenntnis der klagenden Zeichner entgegenhalten. 276  Jhering, Schuldmoment (1867), S. 53; ders., Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), S. 279: Der Grund „für die dem Betrogenen gewährte Hülfe“ liege „nicht in seinem Irrthum, sondern in der Unrechtlichkeit des Betrügers.“; S. 280: „der Unredlichkeit des Verkäufers gegenüber kommt die Nachlässigkeit des Käufers nicht in Betracht“. 277  Preuß ALR I 13 §§ 217 ff. (siehe bereits oben); hierzu Förster / ​Eccius, Preußisches Privatrecht II (5. Aufl. 1887), § 141; zum CC vgl. Zachariä, französisches Civilrecht II (5. Aufl. 1853), § 410: „Wer blos einen Rath gegeben oder eine Empfehlung ertheilt hat, haftet dafür nur in so fern, als er sich dabei einer Gefährde schuldig gemacht oder dadurch an einem Vergehn Theil genommen hat.“; deutlicher und ausführlicher dann in der 8. Aufl. (1894), S. 681 Fn. 4: „Liegt nun in Wahrheit nur Rath resp. Empfehlung vor, so können die Grundsätze vom Mandat nicht zur Anwendung kommen, und ist die Verantwortlichkeit hierfür nach Art. 1382 ff. zu beurtheilen. Aber auch nach diesen Artikeln ist nicht ohne Weiteres die Haftung für kulpose

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„Wer einem Anderen einen Rath oder eine Empfehlung ertheilt hat, haftet für den Ersatz des dem Anderen aus der Befolgung des Rathes oder der Empfehlung entstandenen Schadens nur dann, wenn er arglistig gehandelt hat, sofern nicht aus einem Vertragsverhältnisse oder aus einer Amtspflicht eine weiter gehende Haftung sich ergiebt.“

Entsprechend konstatieren die Motive zum Entwurf: „Die Vorschrift des § 604 steht im Wesentlichen in Übereinstimmung mit dem richtig verstandenen röm. und gemeinen Rechte und den bezüglichen Bestimmungen der modernen Kodifikationen. Der unaufgefordert oder auf Anfrage gegebene Rath, eine solche Auskunft oder Empfehlung sind an sich unverbindlich. Der Wille sich zu obligiren, fehlt gewöhnlich und derjenige, welcher den Rath oder die Empfehlung empfangen, handelt, wenn er sie befolgt, auf eigene Gefahr. Letzteres erleidet eine Ausnahme nach den gemeinrechtlichen Grundsätzen über die actio doli, wenn der den Rath oder die Empfehlung Ertheilende arglistig gehandelt hat; er haftet für den Ersatz des dem Anderen aus der Befolgung des Rathes oder der Empfehlung entstandenen Schadens aus seinem Delikte, nämlich auf Grund seiner Arglist. Indem der Entwurf dies ausspricht, ist die in Theorie und Praxis noch nicht verschwundene Ansicht, es müsse auch für culpa, mindestens für culpa lata, eingestanden werden, zurückgewiesen.“278

Weder die Kodifikationen der Zeit noch der 1. Entwurf zum BGB hatten also die angebliche „große haftungsrechtliche Generalklausel“. Die mit Blick auf die culpa in contrahendo uns maßgeblich interessierenden Fälle der Kompensation primärer Vermögensschäden, d. h. der ganze Bereich der Erklärungshaftung, war mit § 604 E I unzweifelhaft allein auf dolus gestellt. Und diese Vorschrift ist immer im Kontext des § 705 E I mitzulesen. Nach allem, was wir bereits von Jhering über abstrakte und von Prinzipien umflorte Rechtswissenschaft gelernt haben, muss uns die spätere Ignoranz gegenüber dieser eigentlichen negativen Generalklausel der Erklärungshaftung gar nicht mehr verwundern. Eine „Lücke“ für eine mit der c. i. c. dringend zu schließenden Erklärungshaftung hat es im BGB also niemals gegeben. Bemerkenswert ist an dieser Stelle nur noch die zwar systematisch gar nicht zu beanstandende (denn die Erklärungshaftung gehört in der Tat eher zum Vertrags‑ als zum Deliktsrecht),279 aber für die weitere Entwicklung der Erklärungshaftung kraft culpa (in contrahendo) vielleicht nicht ganz unerhebliche Entscheidung der ersten Kommission, die Vorschrift bei den Vertragsverhältnissen, nämlich Auftrag und Geschäftsbesorgung, und nicht ganz allgemein im Rathserteilung zu bejahen, trotzdem in lege Aquilia et levissima culpa venit. Denn die Culpa des Rathertheilenden wird in den meisten Fällen durch die culpa des Anderen aufgewogen, der dem Rath blindlings folgte.“; vgl. weiter: § 1300 ABGB; §§ 1131 f. zür. GB; § 1301; § 1504 SBGB: „Hat jemand absichtlich durch Angabe falscher oder durch Vorenthaltung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen, oder durch Ertheilung von Rathschlägen, deren Schädlichkeit ihm bekannt war, einem anderen Schaden zugefügt, so ist er dem Beschädigten zum Schadensersatze verpflichtet.“; Art. 267 des hess. Entwurfs; Art. 687 des bayr. Entwurfs; Art. 688 Abs. 2 des dresdn. Entwurfs. 278  Motive II, S. 554 f. 279 Vgl. zur systematischen Einordnung der actio doli bereits oben § 2 II.

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Deliktsrecht zu lozieren.280 Das entsprach der herrschenden Behandlung dieser Thematik beim mandatum im gemeinen Recht: „Die Übernahme einer Garantie liegt natürlich nicht schon in der Ertheilung eines Rathes.“ Dieser Satz wird in Inst. 3, 26, 6; D. ​17, ​1, ​2, ​6; D. ​17, ​1, ​6, ​5 so ausgedrückt: „Ein ‚mandatum‘, welches lediglich im Interesse des Mandatars gegeben sei, z. B. er möge sein Geld lieber in Grundstücken anlegen, als in Darlehn, sei in Wirklichkeit kein Mandat, sondern nur ein Rath, und deswegen für den Ertheiler unverbindlich (…).“281 Die zweite Kommission hat das Bedenkliche dieser Verortung hellseherisch bemerkt und gegenüber den systematischen Erwägungen ein überwiegendes Bedürfnis an der Klarstellung gesehen, „die in Theorie und Praxis noch immer bestrittene Ansicht zurück[zu]weisen, daß in den hier in Rede stehenden Fällen auch für culpa, mindestens für culpa lata, eingestanden werden müsse“.282 Die Vorschrift sollte daher „unter die Bestimmungen eingestellt werden, welche die Haftpflicht aus unerlaubten Handlungen regeln“, d. h. bei § 705 E I (§ 826 BGB). Man hatte sich insoweit vorgenommen, „auf den materiellen Inhalt des § 604 [§ 676 BGB a. F.] bei Berathung des dritten Abschnitts [also den unerlaubten Handlungen] zurückzukommen“. Bei diesem Vorsatz ist es dann allerdings geblieben, und so wurde der Zentralparagraph der Erklärungshaftung in der späteren Entwicklung der modernen culpa in contrahendo zu einer der am meisten ignorierten Vorschriften des ganzen BGB. Dass mit der späteren Ignoranz gegenüber § 676 BGB a. F. freilich auch die ganze Wucht der hinter dieser Norm stehenden Gründe ignoriert wurde, macht einen wichtigen Teil der Tragik der späteren Dogmengeschichte aus. Die vermeintlichen (Wieder‑) Entdeckungen waren eben primär ergebnisorientierte Verdrängungen. Die Erklärungshaftung heißt heute auch „Informationshaftung“, und es muss insoweit nicht verwundern, wenn sich in den modernen Monografien zu diesem Thema keine ernsthaften Ausführungen finden, ja zuweilen § 676 BGB a. F. nicht einmal Erwähnung findet. Man kann es zusammenfassend auch so formulieren: In

280  Zu den Überlegungen über die systematische Stellung dieser Regelung vgl. Protokolle II, S. 380: „Die wesentliche Bedeutung des § 604 [§ 676 BGB a. F.] bestehe nicht darin, daß durch denselben eine Haftpflicht wegen Arglist festgesetzt werden solle (denn neben der Vorschrift des § 705 [erweiterte actio doli] bedürfe es keines solchen positiven Rechtsatzes); sie liege vielmehr in der Bestimmung, daß durch das Geben und Annehmen eines Rathes oder einer Empfehlung noch kein Vertrag zu Stande komme, welcher denjenigen, der die Empfehlung oder den Rath gebe, verpflichte, dabei mit ordnungsgemäßer Sorgfalt zu Werke zu gehen, damit der andere Theil nicht zu Handlungen veranlasst werde, die ihm schädlich seien. Wer eine Empfehlung oder einen Rath erteile, wolle damit keine Garantiepflicht übernehmen, sondern nur eine Gefälligkeit erweisen. Dieser negative Rechtssatz aber gehöre in die Lehre von den Verträgen und seiner inneren Verwandtschaft nach in den vom Auftrage handelnden Abschnitt. Wolle man ihn hier nicht belassen, so verdiene es den Vorzug, ihn ganz zu streichen, da er in dem Abschnitt über die Schuldverhältnisse aus unerlaubten Handlungen überflüssig sei.“ 281  Windscheid, Pandekten II, § 412, Fn. 21. 282 Protokolle II, S. 380.

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§ 3 Zeitlos: Die culpa als causa obligationis?

100 Jahren BGB wurde eine über zweitausend Jahre währende Rechtsentwicklung schlichtweg ignoriert. Hier bleibt zunächst als Fazit festzuhalten: Die culpa ist keine causa obligationis. Jhering selbst steht mit dem Widerruf seiner Haftungskonstruktion, die man bis heute culpa in contrahendo zu nennen pflegt, als Kronzeuge für diese Erkenntnis. Wie sich nun wiederum bis heute die gegenteilige Auffassung hat entwickeln können, wird im Folgenden näher zu untersuchen sein:

2. Kapitel

100 Jahre BGB: Auf der Suche nach Entdeckungen „Jene vielgerühmte Fortbildung des Rechts durch die Juristen, von der man jetzt in allen Kompendien lesen kann, läuft nur auf das Spielwerk des kleineren Details hinaus. Das Fundament zu legen, den neuen Bau kräftig in die Höhe zu führen, das können die Juristen nicht. Aber wohl, wenn der Bau fertig ist, wenn die Säulen ihn tragen, dann kommen sie wie die Raben zu Tausenden und nisten in allen Winkeln und messen die Grenzen und Dimensionen bis auf Zoll und Linie und übermalen und überschnörkeln den edlen Bau.“ Julius v. Kirchmann, 18481

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 Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, S. 43 f.

§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB „Aber wie so mancher Erbe, der durch eigene Kraft sich kaum nothdürftig das Leben würde fristen können, von dem Reichthum des Erblassers lebt, so zehrt auch ein mattes, heruntergekommenes Geschlecht noch lange von dem geistigen Kapital der vorhergehenden kraftvollen Zeit.“ Rudolf v. Jhering, 18721

I. Dogmengeschichte und Motive-Exegese „Wer eine berechtigte wissenschaftliche Strömung einzudämmen sucht, leistet oft für deren Vertiefung und Erhaltung mehr als derjenige, welcher alle ihre Hemmnisse durchbricht; denn er verhindert sie, sich in den Sand unfruchtbarer Abstraktionen zu verlaufen und von den eigentlichen Quellen abgeschnitten zu werden.“ Rudolf Leonhard, 18812

Bis heute herrscht die verbreitete Vorstellung, die Jhering’sche c. i. c. habe „sich geradezu schlagartig und total durchsetzen“3 können und „sich im BGB sofort eingenistet“4. Die „Väter des BGB“ hätten „ganz im Banne seiner Überlegungen“ gestanden,5 und man sieht es gar „für den Grad dieser Anerkennung als bezeichnend, dass man Jhering selbst nicht einmal mehr erwähnte“.6 Unter Bezugnahme auf die Motive zum BGB behaupten manche sogar, die c. i. c. wäre „im Resultat nahezu diskussionslos und somit offensichtlich aufgrund einer eingewurzelten Rechts‑ und Richtigkeitsüberzeugung anerkannt“7 und die „Erweiterung der 1 Der

Kampf ums Recht, 4. Aufl. (1874), S. 79 f.  Besprechung zu Friedrich Mommsens: Ueber die Haftung der Kontrahenten bei der Abschließung von Schuldverträgen, ZHR 26 (1881), 284/285. 3 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/452. 4  Diederichsen, Jherings Rechtsinstitute (1996), S. 178; auch MünchKomm / ​ Emmerich (4. Aufl. 2003, 5. Aufl. 2007), § 311 Rn. 56: „Die Ansicht R. v. Jherings … hatte sich seinerzeit so schnell durchgesetzt, dass die Verfasser des BGB nicht zögerten, zumindest insoweit eine Haftung aus c. i. c. gesetzlich zu verankern (s. die §§ 122, 179 und 307 aF).“ 5  Emmerich, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der culpa in contrahendo, JURA 1987, 561. 6  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/453. 7  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/552. 2

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§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB

punktuellen cic-Regelungen“ im BGB sei „ausdrücklich der Wissenschaft und Praxis überlassen“ worden.8 Bei dieser Sichtweise wird freilich ein wesentlicher Teil der Geschichte ausgeblendet. Denn die gemeinrechtliche Reaktion auf Jherings Aufsatz war nahezu einhellig ablehnende Kritik.9 Eine bedingungslose Übernahme der c. i. c. erfolgte allein von Vangerow in der 7. Aufl. (1863) seiner Pandekten (§ 109). Welche ‚hohe‘ inhaltliche Wertschätzung damit verbunden war, von einem „namhaften Gelehrten“ wie Vangerow zitiert zu werden, hat uns Jhering noch im selben Jahr in seinen „Scherz-und-Ernst-Beiträgen“ mitgeteilt: „Savigny, Puchta, Vangerow, Hühnerfuß“.10 Es ist daher auch keineswegs ein Versehen, wenn ausgerechnet der Referent für die ersten zwei Bücher des zweiten Entwurfs zum BGB, Ludwig Enneccerus, noch bis in die 7. Bearbeitung (1920) seines Lehrbuches zum Bürgerlichen Recht von einem allgemeinen Haftungsinstitut namens culpa in contrahendo gar nichts wissen wollte11  – zu einer Zeit also, da an der wieder 8  So Rieble, Kodifikation der culpa in contrahendo (2003), S. 137/138; ebenso schon Emmerich, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der culpa in contrahendo, JURA 1987, 561: „Die Väter des BGB … überließen die Entscheidung, ob noch in anderen Fällen eine Haftung aus c. i. c. in Betracht kommen solle, Wissenschaft und Praxis …“, wortgleich und kontinuierlich ders. in seiner Kommentierung im MünchKomm / ​Emmerich (4. Aufl. 2003, 5. Aufl. 2007), § 311 Rn. 56.  9  Vgl. nur die Debatte in Jherings Jahrbüchern, die bald schon ohne Bezug auf die – bereits vom Meister selbst verabschiedete – culpa in contrahendo auskam. Mit dem Institut als Ganzem befasst haben sich nur: Drechsler, Über den Schadensersatz bei nichtigen Verträgen (1873), S. 21–27; Hesse, Dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203/258 ff. und F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 5 ff. Daneben finden sich dann vereinzelte ablehnende Stellungnahmen en passant, etwa bei Bekker, Psychologische Jurisprudenz, KritV 22 (1880), S. 57; ausf. Nachweise zur kritischen Rezeption bereits oben § 1 III.3.b) a. E.; ausdrücklich ablehnend positioniert sich auch das Reichsgericht in seinem Urt. v. 29. Juni 1891, RGZ 28, 16/16 f. (Telegraphenfall): Das Gericht lehnt es ab, in der Verwendung eines Telegraphen zur rechtsgeschäftlichen Kommunikation „eine culpa in contrahendo“ bzw. „ein Verschulden irgend welcher Art zu erblicken“. Vorsichtiger formuliert denn auch Giaro, Culpa in contrahendo (2000), S. 118: „In der Pandektistik hat Jherings culpa in contrahendo nicht sofort einen Triumph davon getragen.“; vgl. auch die Bestandsaufnahmen bei Cabjolsky, Entwicklung (1933), S. 5 ff.; Schanze, Culpa in contrahendo (1978), S. 354; Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 100. 10 Jhering, Scherz und Ernst (1884), S. 66 f.: „Vierter Brief“ in der Preußischen Gerichtszeitung (1863), Nr. 21. 11  „Eine Haftung für Verschulden bei der Vertragsschließung ist im BG nicht anerkannt …“ (§ 266 III); vgl. auch die Stellungnahme zu F. Leonhards Schrift von 1910 daselbst: „Neuerdings ist behauptet worden …“ (ab 6.–8. Aufl., 1912). Erst später (ab der 8. Bearb., 15.–17. Aufl., 1922) heißt es dann: „Die … Haftung des Schuldners für Verschulden bei der Vertragsschließung ist als eine den Grundgedanken des BG entsprechende Fortentwicklung des Rechts anzuerkennen.“ In der 1. Auflage (1898) wird demgegenüber der Begriff der c. i. c. gar nicht und in der 2. Auflage (1901) lediglich in einer Fußnote im Rahmen des mit einer Entschädigungspflicht verbundenen Anfechtungsrechtes erwähnt: Die Ersatzpflicht als Vertrauensschaden „ist nach der m. E. richtigen und in der Neuzeit nahezu herrschend gewordenen Ansicht zu bejahen und zwar unabhängig davon, ob den Erklärenden ein Verschulden (culpa in contrahendo) trifft oder nicht“. Dies entspricht der Sichtweise aller Schriftsteller und Kommentatoren in den ersten Jahren des BGB: vgl. etwa noch Endemann in seinem Lehrbuch zum Bürgerlichen Recht I (3. Aufl. 1897),

I. Dogmengeschichte und Motive-Exegese

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auferstandenen Existenz ansonsten kaum noch jemand zweifelte.12 Und es war insoweit ebenso wenig ein Zufall, wenn das Reichsgericht in den ersten 30 Jahren seines Bestehens den Begriff nur ein einziges Mal (1881), im Falle der Haftung eines falsus procurator, zustimmend verwendet13 und unter Geltung des BGB immer wieder darauf hingewiesen und betont hat, dass ein Satz, wonach man allgemein für fahrlässig verursachte Vermögensschäden hafte, dem BGB fremd sei.14 Die culpa in contrahendo war als allgemeines Haftungsinstitut, jedenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts und im Grunde bereits mit Jherings Revocation tot. Es gab niemanden, der dieses Institut auch gegen die bessere Einsicht ihres Schöpfers verteidigte.15 Und so war es nicht ein besonderer „Grad der AnerkenS. 291: „Über die Haftung aus einem Verschulden bereits bei den Vertragsverhandlungen enthält das BGB dagegen keine allgemeinen Vorschriften“; und auch Planck sieht eine c. i. c. lediglich in § 307 a. F. BGB (Bürgerliches Gesetzbuch II, 1. u. 2. Aufl. 1900, § 307 Anm. 1); andere Autoren zum BGB erwähnen eine culpa in contrahendo gar nicht: etwa Paul Krückmann, Institutionen des BGB (3. Aufl. 1901) oder Josef Kohler, Lehrbuch zum BGB (1906). 12  Die letzten eindeutigen Stimmen gegen eine c. i. c. als allgemein anerkanntem Haftungsinstitut bei Staudinger / ​Riezler, 9. Aufl. (1925), § 155, 5 gegen RGZ 104, 265 (WeinsteinsäureFall): „… die culpa in contrahendo als allgemeiner Grund zur Schadensersatzpflicht ist dem BGB unbekannt“; ebenso dann nur noch Geppert, Gruchot 69 (1928), 529 ff.; Erich Jung, Bürgerliches Recht (1931), S. 724 ff.; vgl. auch die Zwischenbilanz unten § 5 III.3. 13 Urt. v. 21 Oktober 1881, IVa 644/80, RGZ 6, 258 (Haussohn-Fall): „Aber der Grund dieser Haftung ist culpa in contrahendo; weil der vermeintliche Bevollmächtigte in dem Vertragsschlusse und durch ihn sich stark macht, imstande zu sein, dem Gegenkontrahenten den vertragsmäßigen Anspruch gegen den angeblichen Mandanten zu verschaffen, muß er dem Gegenkontrahenten für die Nichterfüllung dieser Pflicht aufkommen.“ (Das entspricht der Haftung nach § 179 Abs. 1 BGB). 14 Für die ersten 12 Jahre des BGB kann dies als st. Rspr. gelten; vgl. nur RGZ 51, 92/93; 57, 353/354; 62, 315/316: „Eine Haftung aus schuldhaft fahrlässiger Vermögensschädigung außerhalb des Vertrages … kennt das Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht.“; JW 1908, 657: „Verschulden bei Abschluß des Vertrages begründet keine Haftung. Eine Bestimmung wie sie die §§ 284, 285 ALR I 5 enthalten, kennt das BGB nicht.“; JW 1909, 684: „Eine Haftung wegen schuldhaften Verhaltens bei Verhandlungen zum Zwecke eines Vertragsschlusses (culpa in contrahendo) kann nach dem BGB nur aus dem Gesichtspunkte der Verpflichtung zum Schadensersatz aus unerlaubter Handlung in Betracht kommen.“ Aufschlussreich ist insoweit auch ein Blick in die ersten Bände des „Centralregisters“ zur amtlichen Sammlung der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Hier wird im ersten Band (Entscheidungsregister für die Bände 1–30) unter dem Begriff der culpa in contrahendo Rechtsprechung zusammengefasst, die nicht notwendig etwas mit Jherings Fallgruppen zu tun hat. Der Begriff findet sich dann nicht mehr in den folgenden Registern (zu den Bänden 31–40; 41–50; 51–60; 71–80) und erst wieder im Register von 1910, wo die Entscheidungen RGZ 62, 315 (Bäckereibrandfall: Das BGB kenne eine Haftung aus c. i. c. nicht); RGZ 62, 384 (ein Fall des § 826 wird als culpa in contrahendo aufgeführt); RGZ 63, 112 (im Fall des Betruges wurde erörtert, ob das Erfüllungsinteresse zu ersetzen sei, und hierbei die culpa in contrahendo und die Lehre vom Vertrauensinteresse als besondere Fälle erwähnt, bei denen allein das nicht der Fall ist) unter dem Stichwort versammelt werden. Erst ab dem Register für die Bände 91–100 findet sich die culpa in contrahendo als feste Fundstelle für Fälle, in denen das Reichsgericht die culpa in contrahendo als Haftungsinstitut verwendet. 15  Lilie, Schadensersatz bei unwirksamen Verträgen (1898), 15 f.: Die Lehre „darf heute als aufgegeben gelten, nachdem Jhering selbst anerkannte, daß seine Theorie von der culpa in con-

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§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB

nung“ der c. i. c., sondern der besseren Einsicht ihres Schöpfers geschuldet, „dass man Jhering selbst nicht einmal mehr erwähnte.“ Sich auf Jhering zu berufen, wurde erst wieder im Rahmen der „Wiederentdeckung“ der c. i. c. in den 1920er Jahren populär. Bis dahin verlief die dogmatische Diskussion in anderen Bahnen. Eine Spur dieser Diskussion (dolus und culpa als Delikt) haben wir bereits genauer betrachtet: Die culpa ist hier nicht allgemein als unerlaubte Handlung zu denken, sie ist nicht allgemein eine causa obligationis.16 Für die andere Haftungsspur, die Objektivierung des dolus und der culpa in Rechtsgeschäftslehre und Schuldrecht, galt wiederum: Nicht die gewaltsame Abstraktion, sondern die insbesondere von Friedrich Mommsen in seiner Kritik an Jhering durchgeführte konkrete Betrachtung einzelner Rechtsverhältnisse führte zu differenzierten Lösungen, die letztlich auch im BGB ihren positiv-rechtlichen Niederschlag gefunden haben. Das, was Mommsen tat, war in der Sache eine Fortsetzung dessen, was Jhering mit besserer Einsicht in seinem „Schuldmoment“ (1867) für die culpa im römischen Recht beschrieben hatte: Der Ausweis der culpa in einzelnen vertraglichen Schuldverhältnissen. So ist es vor allem dieser ausführlichen Auseinandersetzung mit der c. i. c., nicht aber ihrer Anerkennung als allgemeinem Haftungsinstitut geschuldet, dass der Begriff der culpa in contrahendo überhaupt Eingang in den Begrifflichkeitskanon der Motive zum BGB gefunden hat. Hier wurde ein prägnanter Sammelbegriff übernommen, der in seinem Gebrauch entweder gar nichts mit den Jhering’schen Fallgruppen zu tun hatte17 oder, bei der (zunächst) in der Tat noch von der culpa geprägten Irrtumsregelung (§§ 97–99 E I) des ersten Entwurfs, immerhin terminologisch sehr viel leichter zu handhaben war als der Hinweis auf eine „Lehre vom (negativen) Vertragsinteresse“18. Oder hätten die Verfasser der Motive etwa jedes Mal von einer Schatrahendo, ‚indem sie den beschränkten Gedanken des subjektiven Unrechts zu Grunde legt, der Idee des Verhältnisses selber nicht gerecht‘ werde“. 16  Oben § 3 (Die culpa als causa obligationis?). 17 Der Einfluss von F. Mommsen (Haftung bei Vertragsschluss, 1879) und die um die actio doli geführte Debatte wird vor allem deutlich in den Motiven II, S. 745 (Vorbem. zu §§ 722 ff. E I: „Einzelne unerlaubte Handlungen“); § 385 E I (Haftung des Verkäufers für zugesicherte Eigenschaften und verschwiegene Mängel; § 463 BGB a. F.), §§ 443, 444 E I (Haftung des Schenkers wegen Rechts‑ und Sachmangel; heute: §§ 523, 524 BGB); § 622 E I (Haftung des Hinterlegers für Schäden, die von der Beschaffenheit der hinterlegten Sache ausgehen; heute: § 694 BGB); nur beschränkt richtig daher Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 59: „Jherings Theorie von der culpa in contrahendo war es, zu der man bei der Redaktion desselben in den einschlägigen Punkten bewusst Stellung nahm (…).“ Hinweise auf die culpa in contrahendo im Allgemeinen Teil finden sich bei § 97 E I (Motive I, S. 195), § 118 E I (Motive I, S. 228). Die culpa in contrahendo wurde bei der Redaktion also sowohl bei wirksamen wie auch bei unwirksamen Verträgen erwähnt, davon findet sich bei Jhering gar nichts. Eben hier lag dann der dogmatische Ansatzpunkt von F. Leonhard, ohne weitere Auseinandersetzung mit der ausf. Arbeit von F. Mommsen, schließlich eine neue culpa in contrahendo für – nunmehr – wirksame Verträge zu kreieren (hierzu unten § 5 II.2.). 18  Die Debatte um die Unmöglichkeit der culpa als Haftungsansatz führte generell zur Untersuchung einer Begründung für das negative Interesse bei nichtigen Verträgen; hierzu Wind-

I. Dogmengeschichte und Motive-Exegese

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densersatzpflicht „wegen Nichtaufrechterhaltens einer tatsächlich vorliegenden aber dem Willen des Erklärenden nicht entsprechenden Willenserklärung“19 oder ähnlich umständlichen Umschreibungen reden sollen, nur um den Begriff der culpa in contrahendo zu vermeiden? Der Begriff „culpa in contrahendo“ ist bis heute trotz aller darüber hinaus weisenden begrifflichen Bemühungen20 für das Phänomen einer vor‑ bzw. außervertraglichen Haftung prägnant und prägend geblieben. Es ist mit Blick auf die weitere Entwicklung der c. i. c. einmal mehr erstaunlich, welche Bedeutung der Dogmengeschichte für die Rechtsfortbildung dann zukommt, wenn historische Argumentation sich in Lektüre und Wiedergabe von Motiven in den Gesetzgebungsmaterialien erschöpft.21 Wären Jhering und Windscheid nicht so gut befreundet gewesen und hätte der erste Entwurf bereits die Anfechtungs‑ an Stelle der (von Windscheid präferierten) Verschuldensregelung für die heutigen §§ 119, 122 BGB enthalten, wäre der Zivilrechtswissenschaft vielleicht eine so frühe Renaissance der c. i. c. erspart geblieben. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet die ausführliche und konstruktive Kritik von Friedrich Mommsen an der Jhering’schen c. i. c. schließlich den Grundstein für ihre Wiederentdeckung in die Motive legte. Insbesondere aber scheid, Pandekten, § 75, Fn. 1d, § 307 Fn. 5; § 311, § 315 Fn. 7; Lilie, Schadensersatz bei unwirksamen Verträgen (1898); Greven, Das negative Vertragsinteresse (1898); Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902); kennzeichnend für den Gebrauch des Begriffes culpa in contrahendo ist die Bemerkung bei Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 3: „Unsere Ausführungen werden dem ersten Teil des Titels nicht entsprechen … wenn wir trotzdem diesen Ausdruck gewählt, so geschieht es in Anlehnung an die Ihering’sche Bezeichnung (…)“ (sinngleich Hammel, Culpa in contrahendo, 1912, S. 6); Kuhlenbeck, DJZ 1905, 1142, 1143. Enneccerus formuliert den Zusammenhang in der 6.–8. Aufl. (1911) seines Lehrbuchs (Allgemeiner Teil) wie folgt: „Gemeinrechtlich ist es eine berühmte Streitfrage, ob derjenige, der eine mit seinem Willen nicht übereinstimmende und deshalb nichtige Erklärung abgegeben hat, dem anderen Teile für den Schaden einstehen muß, den dieser dadurch erlitten hat, daß er auf die Gültigkeit vertraute, mit anderen Worten, ob er für das sog. negative Interesse oder Vertrauensinteresse haftet.“ Und so lassen sich in den Motiven bei Vermeidung des Begriffs der culpa in contrahendo auch Ausführungen zu eben dieser „Lehre“ finden: „Nicht entschieden hat der Entwurf hier und an anderen Orten die Frage, ob die Haftung für das negative Interesse eine Haftung aus Delikt oder wegen Verletzung rechtsgeschäftlicher Pflichten ist.“ (Motive II, S. 179). 19 So Gareis, Allgemeiner Teil (1900), S. 147. 20  F. Leonhard (1910) blieb noch dem Gedanken der culpa verhaftet und nannte seine Konstruktion: „Verschulden bei Vertragsschluß“; erst Heinrich Stoll suchte neuerlich, das „Verschulden“ gänzlich aus dem Begriff zu nehmen und nannte seine c. i. c.: „Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen“ (1923), dem folgen etwa Dickmann (1931) und noch Erman (1934), während schon Herholz von einem „Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung“ (1929) und schließlich Hildebrandt von „Erklärungs‑ „ bzw. „Vertrauenshaftung“ (1931) sprechen. 21  Generell zu diesem Phänomen schon Kuhlenbeck, Von den Pandekten zum Bürgerlichen Gesetzbuch (1898): Das historische Argument reduziere sich auf die Durchsicht der „Papierabfälle“ der BGB-Verfasser; zur Aktualität des Phänomens etwa nur Th. Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht (1982) und die Beiträge in: Zimmermann / ​Knütel / ​Meincke (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (2000).

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die in den Motiven formulierte Frage, „ob begrifflich die Haftung für c. i. c.“ eine rechtsgeschäftliche oder deliktische sei,22 war nun keineswegs eine Aufforderung an die Rechtswissenschaft, eine neue (im Grunde alte) oder noch weitergehende allgemeine Haftung aus Verschulden oder Vertrauen zu ‚entdecken‘, sondern lediglich der Hinweis darauf, dass sich der Gesetzgeber einer Entscheidung darüber enthob, welcher Verjährung die neu kreierten Ansprüche (§§ 122, 179, 307 a. F. BGB) unterfallen sollten: der kurzen deliktischen (§ 852 a. F. BGB: 3 Jahre ab Kenntnis) oder der allgemeinen (§ 195 a. F. BGB: 30 Jahre).23 Wenn bis heute die Legitimation der c. i. c. mit der Geschichte unterlegt ist, die BGB-Gesetzgeber hätten sich in ihrer eingeschränkten ‚liberalen Verirrung‘ restriktiv gegenüber einem anerkannten Haftungsinstitut verhalten, so liegt hierin jedenfalls nur die halbe Wahrheit. Und wenn manche die angeblich lückenhafte BGB-Regelung sogar als Werk legislatorischer Unfähigkeit schelten,24 so liegt darin eine Verkennung der tatsächlichen wissenschaftlichen Bemühungen um eine objektive Fassung der einzelnen Regelungsprobleme. Während zum Ende der Pandektistik und im Zuge der gründlichen Redaktion des BGB, bei Vermeidung einer „kahlen Formel“ als unangemessenen weitem Haftungsinstitut, um konkrete und klare Regelungen gerungen wurde, vollzog sich die spätere ‚Lückenschließung‘ im Wege einer erneuten Abstraktion der culpa als causa obligationis. Es mag vielleicht eine Frage des individuellen Geschmacks sein, ob man die Darstellung einer Idee mit detaillierter klarer Linienführung und Schattierung einer großzügigen Anordnung von konturenlosen Flächen vorzieht. Im Recht geht es aber nicht um abstrakte Kunst, sondern um die möglichst präzise For­ mulierung der „Idee der Verhältnisse“ in Verhaltensnormen. Die betroffenen Interessen müssen, um bei dem Cicero-Jhering-Bild zu bleiben, feste Gestalten annehmen, damit der Richter sie schützen kann. Für die Jurisprudenz, die sich im 19. Jahrhundert in diesem Sinne als Gesetzgebungs-Wissenschaft verstand, folgte daraus, das Wirrsal menschlicher Beziehungen so konkret und plastisch wie möglich aufzulösen und als konkrete „Rechtsverhältnisse“ zu definieren. Allein die Schwierigkeit dieser Aufgabe gebietet es, so abstrakt wie nötig zu verbleiben, wenn die Komplexität der Verhältnisse und die Grenzen des analytischen Verstandes eine weitere Konkretisierung verbieten.25 Hier von vornherein 22 Motive I, S. 195; und an anderer Stelle wird noch hinzugefügt: „Das Bedürfniß einer Lösung durch positive Bestimmung liegt nicht vor.“ (Motive II, S. 179). 23  Hierzu nur Oertmann, Das Recht der Schuldverhältnisse, 1. Aufl. (1899), S. 589: „Nichts spricht dafür, daß das BGB in derartigen … Ansprüchen solche aus unerlaubten Handlungen erblicke oder sie ihnen irgendwie gleichgestellt wissen wolle.“ 24  Vgl. etwa Boehmer, Einführung in das bürgerliche Recht (2. Aufl. 1965), S. 80: „Das hätte bei einem so umfangreichen Gesetze, an dessen Redaktion man fast ein Vierteljahrhundert mit einem Riesenaufwande gelehrten Apparats gearbeitet hat, nicht vorkommen dürfen.“ 25  Schon Justinian erinnerte an die exeguitas ingenii mortalis des Gesetzgebers (constitutio ‚tanta‘, § 16).

II. „Objectivere“ (Auf‑)Lösungen: Die Lehre vom Rechtsgeschäft

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der Abstraktion in Generalklauseln und Prinzipien das Feld zu überlassen, ist zumindest eine deutlich gewandelte Vorstellung von Aufgabe und Bedeutung der Rechtswissenschaft,26 deren Kritikwürdigkeit jedenfalls dann vor Augen stehen dürfte, wenn man sich die dogmatischen Errungenschaften der gemeinrechtlichen Diskussion, die heute für selbstverständlich genommen werden, einmal in ihrem Zusammenhang verdeutlicht. Jhering selbst hatte in seiner Revisionsschrift die Notwendigkeit der dogmatischen Substitution seiner c. i. c. ausgesprochen, weil diese der „Idee der Verhältnisse“ nicht gerecht wird. Die Probleme, die er allein aus dem Gesichtspunkt des Verschuldensprinzips (der culpa) zu lösen gedachte, standen nämlich in einem weit größeren Wertungskontext und bedurften der Abwägung auch mit anderen tragenden rechtsethischen Prinzipien. Hier galt es, eine ausgewogene Klärung herbeizuführen und die beschränkte Antwort des subjektiven Unrechts „durch eine weitere, objectivere“ zu ersetzen.27

II. „Objectivere“ (Auf‑)Lösungen: Die Lehre vom Rechtsgeschäft „Wenn die römischen Juristen diese Regel nicht ausnahmslos durchführen, sondern sie zu Gunsten anderer Rücksichten modificieren, und wenn das Gesammtfachwerk der sich gegenseitig kreuzenden und beschränkenden Regeln einen etwas complicirten Eindruck macht, so ist das eben nur ein Beweis dafür, wie hoch sie ihre Aufgabe gegriffen, und wie wenig sie geglaubt haben mit einer einzigen kahlen Formel der Mannigfaltigkeit der Verhältnisse gerecht werden zu können.“ Rudolf v. Jhering, 186728

Die vier von Jhering gebildeten Fallgruppen haben nicht gleich viel Aufmerksamkeit in der gemeinrechtlichen Diskussion erfahren. Während die erste (Unfähigkeit des Subjekts) kaum ernst genommen wurde,29 erhielt die zweite (Un26 Vgl. neben den rechtstheoretischen Ausführungen im 3. Band zum „Geist des römischen Rechts“ das Programm der Jhering’schen pragmatischen Dogmatik: „Unsere Aufgabe“ in JhJb 1 (1858), 1 ff. Ich glaube nicht (auch bei aller Kritik an Jherings „naturhistorischer Methode“), dass „praktische Jurisprudenz“  – vielleicht mit modifizierter Akzentsetzung im Einzelnen  – grundsätzlich anders formuliert werden kann. 27  Jhering, Schuldmoment im römischen Privatrecht (1867), S. 38, Fn. 73. 28 Jhering, Schuldmoment im römischen Privatrecht (1867), S. 54. 29  Eher en passant: Bähr, Irrungen im Kontrahieren, JhJb 14 (1875), 393/408 f.; gründlicher aber: F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 82 ff. mit dem bekannten Ergebnis: „Meiner Meinung nach treten die Resultate, zu denen Jhering gelangt, mit den Intentionen des positiven Rechts geradezu in Widerspruch (…).“; vgl. demgegenüber aber auch den einzigen Fall, den das Reichsgericht unter dem Gesichtspunkt der culpa in contrahendo entschieden hat: Urt. v. 21 Oktober 1881, IVa 644/80, RGZ 6, 258 (Haussohn-Fall): Haftung des Sohnes, der ohne väterlichen Konsens mit einem Dritten kontrahiert. Das Reichsgericht hat hier freilich auf den Gedanken des falsus procurator abgestellt (ein Fall, der heute in § 165 BGB speziellen Ausdruck gefunden hat). Im Übrigen hat diese Fallgruppe in der deutschen gemeinrechtlichen

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§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB

fähigkeit des Objekts) schließlich als einzige eine (dubiose) positiv-rechtliche Ausgestaltung in den §§ 307, 309 BGB a. F.30 Aber selbst letzteres lag wohl weniger an der notwendigen und passenden Beschreibung der Verhältnisse durch Jhering (diese Fallgruppe stand ja auf relativ sicherem „quellenmäßigen Grund und Boden“), als an dem relativ geringen dogmatischen und vor allem prakDiskussion keine eingehende Erörterung erfahren. Der Schutz des Minderjährigen überwog von vornherein den ohnehin zweifelhaften Vertrauensschutz eines potentiellen Kontrahenten. Dass der Minderjährige ansonsten zwar deliktisch (§ 828 BGB), nicht aber für culpa in contrahendo haftet, ergibt sich dann auch aus § 179 III 2 BGB; das entsprach den allgemeinen Grundsätzen, dass zwar für dolus, nicht aber für culpa gehaftet wird (vgl. im Ausgangspunkt auch § 866 ABGB). Die einfache Logik formulierte Regelsberger, in Endemanns Handbuch des Handelsrechts II (1882), S. 415: „Das Gesetz, welches die Verpflichtungsunfähigen gegen die rechtlichen Folgen eines im übrigen fehlerfreien Vertragsschlusses in Schutz nimmt, würde mit sich selbst in Widerspruch treten, wenn es einem fehlerhaften Vertragsschlusse für den Verpflichtungsunfähigen verbindliche Wirkung beilegte.“ Erst Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 177 ff., stellt sich erneut auf den Standpunkt Jherings und will auch Minderjährige auf das negative Vertragsinteresse haften lassen: Stehe nicht „dem Minderjährigen auch ein des Schutzes würdiger Gegner gegenüber?“ (S. 179). Dem ist dann auch der schweizerische Gesetzgeber gefolgt: In Art. 33 Abs. 3 schweiz. OR wurde die Haftung des Geschäftsunfähigen kodifiziert: „Hat er die andere Vertragspartei zu der irrthümlichen Annahme seiner Vertragsfähigkeit verleitet, so ist er ihr für den verursachten Schaden verantwortlich.“; Schneider / ​Fick, Obligationenrecht (1882), Art. 33 N. 3, sprechen hier explizit von einer Anlehnung an Jherings culpa in contrahendo; hierzu auch Rabel, Der sogen. Vertrauensschaden im schweizerischen Recht, Zeitschrift f. schweiz. Recht, 27 (1908), 291/296–302 („sogen. Unfähigkeit der Person“). 30 § 307 BGB a. F.: „(1) Wer bei der Schließung eines Vertrags, der auf eine unmögliche Leistung gerichtet ist, die Unmöglichkeit der Leistung kennt oder kennen muß, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der andere Teil dadurch erleidet, daß er auf die Gültigkeit des Vertrags vertraut, jedoch nicht über den Betrag des Interesses hinaus, welches der andere Teil an der Gültigkeit des Vertrags hat. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der andere Teil die Unmöglichkeit kennt oder kennen muß.“ § 309 BGB a. F.: „Verstößt ein Vertrag gegen ein gesetzliches Verbot, so finden die Vorschriften der §§ 307, 308 entsprechende Anwendung.“ Wie willkürlich der Begriff der culpa in contrahendo in den Motiven gebraucht wurde, zeigt sich eben hier. Die Motive zu §§ 345, 347 E I (§ 307, 309 BGB a. F.) enthalten ausgerechnet bei ihrem Prototyp keinen ausdrücklichen Hinweis auf eine culpa in contrahendo. Vielmehr sah sich der Entwurf „in Übereinstimmung“ nicht mit der allgemeinen Anerkennung der c. i. c., sondern „mit einem heutzutage nahezu allgemein anerkannten unabweisbaren Verkehrsbedürfnisse“ für diese Fallkonstellation und verweist u. a. auf Windscheid, der die c. i. c. auch hier gerade ablehnt (Pandekten II, § 315 Note 7; § 307 Note 5). In der frühen Literatur sieht allein Planck in seinem Kommentar zum BGB § 307 BGB als Fall an, bei dem beide Teile gem. der c. i. c. haften. Daneben findet sich nur noch bei Oertmann in der ersten Auflage seiner „Schuldverhältnisse“ (1899) bei der Frage nach einer rechtsdogmatischen Begründung für § 307 BGB ein Hinweis auf die c. i. c. Später galt § 307 ganz allgemein als „reiner Fall der cic.“ (so Steinberg, Haftung für culpa in contrahendo, 1930, S. 123 Fn. 471); etwa auch Planck / ​Siber (4. Aufl. 1914), § 307 Bem. 2a; Oertmann, Schuldverhältnisse (5. Aufl. 1928), § 307 Bem. 8; ders., Anfängliches Leistungsunvermögen, AcP 140 (1935), 129 ff.; Staudinger / ​Kuhlenbeck (9. Aufl.), § 307 Bem. 6; Heck, Grundriß des Schuldrechts (1929), § 46, S. 140: „Daß § 307 denjenigen Kontrahenten, der (einseitig) die Unmöglichkeit kannte oder kennen mußte, zum Ersatz des Schadens verpflichtet, entspricht dem allgemeinen Gedanken der Haftpflicht für culpa in contrahendo.“; skeptisch zur inhaltlichen Entsprechung von Regelung und Jherings Auffassung zu dieser Fallgruppe aber Medicus, Entdeckungsgeschichte, FG Kaser (1986), S. 176.

II. „Objectivere“ (Auf‑)Lösungen: Die Lehre vom Rechtsgeschäft

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tischen Interesse, das man dieser Frage beimaß.31 Die späte gemeinrechtliche Diskussion konzentrierte sich auf die von Jhering in seiner 3. und 4. Fallgruppe („Unzuverlässigkeit der Erklärung“ und „Unzuverlässigkeit des Willens“) behandelten Probleme. Es ging mithin dogmatisch um die Modifikation des Willensdogmas selbst und damit letztlich um die dogmatische Ausgestaltung der Rechtsgeschäftslehre im Allgemeinen und den Zuschnitt ihres Grundelements „Willenserklärung“ im Besonderen: Im ersten Fall um die Diskrepanz von Wille und Erklärung sowie das Problem der Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht (falsus procurator), und im zweiten um den Zeitpunkt der Vollendung der Erklärungshandlung, den Vertragsschluss. Das Problem war in diesen beiden Fallgruppen, wie bereits eingangs beschrieben,32 das Willensdogma, die Erhebung des Unsichtbaren zu einer juristischen Tatsache. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Lösung schließlich in einer erneuten Besinnung auf das im Idealismus Kants natürlich gar nicht berücksichtigte, sinnlich wahrnehmbare, Vertrauen erheischende Element des Willens lag: den Erklärungstatbestand. Eine praktische Jurisprudenz besinnt sich neuerlich auf die äußere Form, in der ein rechtsgeschäftlicher Wille sich notwendig kundtut und an der allein sich der Erklärungsempfänger, dem die Fähigkeit des Gedankenlesens abgeht, zu orientieren vermag. Akzeptiert man den Gedanken einer auf Freiheit gegründeten Privatrechtsordnung (Privatautonomie), dass also der Einzelne berufen ist, seine rechtlichen Beziehungen selbst zu gestalten, so muss die autonome Rechtsetzung auch tatsächlich Rechtsfolgen in dem Moment zeitigen, da sie sichtbar vorgenommen, mithin kund getan ist und so, wie jeder andere (staatliche) Rechtsetzungsakt, das Vertrauen in seine Geltung und Sanktionierung erst legitimiert.33 31 Nachweise bei Windscheid, Pandekten II, § 315; F. Mommsen, Erörterungen II (1879), S. 89, hat sich überhaupt gegen einen Anspruch bei culpa levis ausgesprochen: „Die Fälle, in denen der Contract wegen Unfähigkeit des Objectes nichtig ist, sind ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl nach von keiner so großen praktischen Bedeutung, daß eine Abweichung von der Regel, daß nur für dolus in contrahendo zu haften ist, zur Sicherung des Verkehrs als nöthig erscheinen könnte.“; dem folgt Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 192 f., der konstatiert, dass „Nichtigkeitsfälle wegen Unfähigkeit des Objektes selten sind und gewiss seltener heute als bei den Römern“; zu alledem auch Tietze, Unmöglichkeit der Leistung (1900); Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 129 ff.; Wollschläger, Unmöglichkeitslehre (1970); Demmer, Haftung für ursprüngliches Unvermögen (1974). Die Diskussion um die Tragweite und Brauchbarkeit der Unmöglichkeitslehre F. Mommsens setzte erst mit Inkrafttreten des BGB sehr heftig ein. Doch diese Diskussion galt wiederum einem ganz anderen Problemkreis: des Nachweises einer Lücke im Leistungsstörungsrecht und der Existenzberechtigung einer „positiven Vertragsverletzung“ (hierzu unten § 5 II.1.). Die praktische Bedeutung und das Interesse an den §§ 306–309 BGB blieb bescheiden, und so verwundert es nicht, wenn diese Regelungen endlich auch wieder aus dem Gesetz verschwinden sollten, vgl. BMJ (Hrsg.), Abschlußbericht (1992), S. 145, und auch – mit Transformation in einem dogmatisch merkwürdigen Rudiment (§ 311a) – verschwunden sind (hierzu unten § 8 II.3.c). 32  oben § 1 I. 33 In diesem Sinne schon Enneccerus, Rechtsgeschäft (1888), S. 58.

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Die beiden Extrempositionen in diesem Disput waren demnach klar benannt: Entweder es gilt das Gewollte oder es gilt das Erklärte. Dahinter steht jeweils wieder die Verabsolutierung eines Prinzips: Hier der Schutz des Vertrauens in die Erklärung (Erklärungs‑ bzw. Vertrauenstheorie), dort der Schutz der Freiheit des Willens (Willenstheorie). Die zwischen diesen beiden Extremen vermittelnden Ansichten, zu denen dann auch ein Rekurs auf das jeweilige Verschulden und mithin Jherings Konstruktion der culpa in contrahendo zählte, wurden später unter dem Oberbegriff „Lehre vom negativen Vertragsinteresse“ zusammengefasst.34 Der Kern dieser Lehre ist einfach: Die Differenzierung erfolgt bei der Rechtsfolge. Nur der fehlerfreie Wille verbindet zum Erfüllungsinteresse, die Existenz einer vom Willen nicht getragenen Erklärung hingegen nur zum „negativen Vertrags-“ d. h. Vertrauensinteresse: „… ja wir können sagen, das negative Interesse ist nichts anderes als ein Versöhnungsmittel zwischen … Willensdogma auf der einen, Vertrauens‑ oder Erklärungstheorie auf der andern Seite.“35 Für den auf einfache Antworten ausgehenden Geist hätte es nun durchaus nahegelegen, auch eine einheitliche einfache Bestimmung im Recht der Rechtsgeschäfte aufzunehmen. Der Blick der Gesetzgebung entsprach aber dem differenzierten Verlauf der gemeinrechtlichen Diskussion: Gesondert betrachtet und entsprechend ihrer jeweils besonderen Eigenarten gesondert behandelt wurden die einzelnen Problemfelder: Geschäftsfähigkeit, anfängliche Unmöglichkeit, Willens‑ und Erklärungsmängel, Vertragsschluss und Stellvertretung.36 Dieser differenzierte Blick auf die zu regelnden Verhältnisse wird dann nicht nur in der gemeinrechtlichen Diskussion, sondern selbst noch in der Redaktionsgeschichte der schließlich formulierten Regelungen überall deutlich: §§ 104 ff.; §§ 116 ff.; §§ 145 ff.; §§ 164 ff. Selbst zwischen § 122 und § 179 lassen sich bedeutende Differenzen nicht ableugnen, und die Kommission der zweiten Lesung bemerkt ausdrücklich: „In den Beschlüssen zu den §§ 97 bis 99 des Entwurfs habe man keineswegs gegen den erwähnten Grundsatz über Schadensersatzpflicht Stellung nehmen, sondern lediglich nach der Eigenart der Rechtsverhältnisse eine Reihe von Sonderbestimmungen treffen wollen, welche sich nicht ohne weiteres zur Übertragung auf andere Rechtsverhältnisse eignen.“37 Auch hier wurde also durchaus die Lehre aus Jherings Aufsatz zur culpa in contrahendo gezogen: Die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse lässt sich nicht leicht unter ein einheitliches Prinzip zwängen.

34 Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen bei: Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 4 ff. und Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 59 ff. 35  Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 4. 36 Insoweit ist die dogmengeschichtliche Darstellung bei Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), sehr viel präziser und gründlicher als etwa bei Melliger oder anderen diesem Thema gewidmeten Schriften. 37 Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 78 mit Hinweis auf Protokolle, S. 453.

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Da diese Erkenntnis in der späteren Entwicklung der culpa in contrahendo wieder völlig ignoriert wurde, ist es wichtig, die differenzierte (Auf‑)Lösung zwischen Willens‑ und Vertrauensdogma sowie der Jhering’schen Konstruktion bei den beiden wichtigsten Fallgruppen noch einmal an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen: 1. Unzuverlässigkeit der Erklärung I: Erklärungsmängel a) Einfältig: Ein altes Problem und drei einfache Lösungen „Denn eigentlich muß der Wille an sich als das einzig Wichtige und Wirksame gedacht werden, und nur weil er ein inneres, unsichtbares Ereigniß ist, bedürfen wir eines Zeichens, woran er von Anderen erkannt werden könne, und dieses Zeichen, wodurch sich der Wille offenbart, ist eben die Erklärung. … Allein es läßt sich eine Störung dieses natürlichen Verhältnisses denken. Dann entsteht ein Widerspruch zwischen dem Willen und der Erklärung, aus dieser geht der falsche Schein des Willens hervor, und das ist es, was ich die Erklärung ohne Willen nenne. Nun beruht aber alle Rechtsordnung gerade auf der Zuverlässigkeit jener Zeichen, wodurch allein Menschen mit Menschen in eine lebendige Wechselwirkung treten können …“ Friedrich Carl v. Savigny, 184038

Für die Irrtumsproblematik ist die Diskussion umfangreich diskutiert und weitgehend bekannt.39 Sie hat sich in der „Lehre von den Willensmängeln“ (die für den hier interessierenden „unechten Irrtum“ besser eine Lehre von den „Erklärungsmängeln“ heißen sollte) nahezu gänzlich von Erörterungen zur culpa 38 Savigny,

System III (1840), § 134, S. 258.  Richelmann, Der Einfluß des Irrthums auf Verträge (1837); Fuchs, Einige Fragen aus dem Telegraphenrechte, AcP 43 (1860), 94 ff.; Bekker, Zur Lehre von der Willenserklärung, KritV 3 (1861), 180 ff.; Bähr, Über Irrungen im Kontrahieren durch Mitelspersonen, JhJb 6 (1863), 286 ff.; Hölder, Die Lehre vom error, KritV 14 (1872), 561 ff.; Bähr, Ueber Irrungen im Contrahieren, JhJb 14 (1875), 393 ff.; Röver, Über die Bedeutung des Willens bei Willenserklärungen (1874); Schlossmann, Der Vertrag (1876), S. 85–140; Schall, Der Parteiwille im Rechtsgeschäft (1876); Kohler, Studien über Mentalreservation und Simulation, JhJb 16 (1878), 91 ff.; 325–356; Zitelmann, Die juristische Willenserklärung, JhJb 16 (1878), 357 ff.; Scheiff, Die Divergenz zwischen Wille und Erklärung (1879); Kohler, Noch einmal über Mentalreservation und Simulation. Ein Beitrag zur Lehre vom Rechtsgeschäft, JhJb, 16 (1878), 325 ff.; Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft (1879); Bekker, Psychologische Jurisprudenz, KritV 22 (1880), 33 ff.; Windscheid, Wille und Willenserklärung, AcP 63 (1880), 72 ff.; Lenel, Parteiabsicht und Rechtserfolg, JhJb 19 (1881), 154 ff.; R. Leonhard, Der Irrtum bei nichtigen Verträgen, 2 Bd. 1882/3; Hartmann, Wort und Wille im Rechtsverkehr, JhJb 20 (1882), 2 ff.; Eisele, Ueber Nichtigkeit obligatorischer Verträge wegen Mangels an Willensübereinstimmung der Contrahenten, JhJb 25 (1887), 414 ff.; Hartmann, Werk und Wille bei dem sogenannten stillschweigenden Konsens, AcP 72 (1888), 161 ff.; Hollander, Zur Lehre vom error (1898). Zusammenfassend: Windscheid, Pandekten I, §§ 76–79a; Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 100–121; Oebicke, Wille und Erklärung beim Irrtum in der Dogmengeschichte der beiden letzten Jahrhunderte (1935); P. Haupt, Die Entwicklung der Lehre vom Irrtum beim Rechtsgeschäft seit der Reception (1941); Flume, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. (1992), §§ 4, 19, 22. Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (2000); HKK / ​Schermaier, §§ 116–124. 39

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in contrahendo emanzipiert. Es war Otto Bähr, der in einer frühen Kritik an Jherings Konstruktion dem Willensdogma die bereits aus der Naturrechtslehre überkommene Erklärungs‑ bzw. Vertrauenstheorie entgegenstellte, wonach das Erklärte und nicht das Gewollte rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten auslösen sollte: „Wer beim Contrahieren in einer ihm zuzurechnenden Weise die äußere Erscheinung seines Willens hervorruft, so daß der ihm Gegenüberstehende bona fide Rechte daraus erlangt zu haben glaubt und glauben darf, wird mit seiner Behauptung, daß ihm in Wirklichkeit der entsprechende Wille gefehlt habe, gar nicht gehört.“40

Diese Rückbesinnung auf die Bedeutung der Erklärungsform für das Vertrauen im Rechtsverkehr wurde bereits im Naturrecht als Ausfluss des allgemeinen Gebots, Versprechen zu halten, vertreten: „Ausflüchte der Unvorsichtigkeit, Unwissenheit und Uebereilung für gültig erklärt, würden uns bald die Freyheit geben, alle uns missfälligen Verträge nach Willkühr aufzuheben, denn wo würde nicht Unvorsichtigkeit, Unwissenheit und Uebereilung [sich] als ein Grund des nachtheiligen Vertrages beweisen lassen.“41

Die von Jhering entdeckte „Trostlosigkeit“ war in der naturrechtlichen Diskussion also schon lange für die Fälle behoben, in denen er mit der Rücksicht auf culpa helfen wollte. Doch war auch in der Naturrechtslehre bei einem differenzierteren Blick durchaus streitig, wie mit einer Diskrepanz von Gewolltem und Erklärtem umzugehen sei. Das Problem war Inhalt der Debatte um die Folgen eines Irrtums beim Vertragsschluss schlechthin. Neben der grundsoliden Annahme, dass jedes fortgegebene Wort auch einzuhalten sei und Irrtümer generell ohne Belang bleiben müssten, wurden im Grunde schon vor Jhering zwei vermittelnde Positionen vertreten, die namentlich mit Thomasius einerseits und Christian Wolff andererseits verbunden sind und dann ihren entsprechenden Ausdruck im österreichischen ABGB (Thomasius) bzw. im preußischen ALR (Wolff) gefunden haben.42 Jener schaut auf die bona fides des Erklärungsemp40 Bähr,

Ueber Irrungen im Contrahieren, JhJb 6 (1863), 286 ff.; 14 (1875), 393 ff.  Pörschke, Vorbereitung zu einem populären Naturrechte (1795), S. 174 f.: „Dieses sey also die Entscheidung: Jedes juridische Versprechen soll ohne Ausnahme gehalten werden, was verloren ist, ist verloren …“ und später noch deutlicher: „… das Versprochene ist etwas Weggegebenes, es gehört nicht mehr uns: Ehrlichkeit und Redlichkeit wären auf immer dahin, wenn wir befugt wären, nur eine Ausnahme von dem Gesetze des Worthaltens zu machen“; Schmalz, Das reine Naturrecht (1792), § 117: „Wenn aus Irrthum ein Vertrag eingegangen ist: so trägt der Irrende seinen Schaden, der andere ist im äusseren Recht als redlicher Besitzer anzusehen“; Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem I (1759/1821), Kap. 2, § IV, 10, S. 49: „… man soll Pacta halten, denn sobald Jemand etwas versprochen ist, erlangt er ein Recht hierzu, welches ihm also ohne Beleidigung nicht wieder benommen werden kann.“; der Irrtum ist hier ein Problem, das durch die Interpretationsregel „daß die Interpretation gegen jenen gemacht werde, welcher klärer hätte reden sollen“ gelöst wird (hierzu Kreittmayr, aaO. Teil IV (1765/1821), Kap. 1, § XVIII 1 f., S. 61 f. m. w. N.). 42  Zur Vertrauenstheorie vgl. §§ 871, 875 und 876 (a. F.) ABGB: deutlich entsprechend Martini (Positiones 451 u. 458; Entwurf Martini III, 1 §§ 18, 20 u. 21). Der Irrtum geht demnach 41

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fängers und dieser auf die culpa des Erklärenden. In der Tradition Thomasius’ kommt es demnach für die Möglichkeit einer Berufung auf den Irrtum allein auf die Schutzwürdigkeit des Erklärungsempfängers an, ob er den Irrtum kannte oder hätte erkennen können, und in der Theorie Wolffs wird ausgehend vom allgemeinen Schädigungsverbot die Konsequenz gezogen, die wir heute vornehmlich im Anschluss an Jhering auch culpa in contrahendo nennen.43 Erst Savigny hat dann ausgehend von seiner Adaption des Kant’schen Willensdogmas consequent zwischen Willensmängeln (echte Irrtümer) und Erklärungsmängeln (unechte Irrtümer) zu unterscheiden gesucht, um dann  – bereits begrifflich wenig glücklich  – ausgerechnet letzteren eine rechtliche Bedeutung beizumessen, die ihnen zuvor in diesem Maße nicht zukam. Im ersten Fall entsprechen sich Wille und Erklärung, nur der Wille wurde fehlerhaft motiviert. Da freilich Motive und der aus diesen schließlich formulierte Wille zu unterscheiden sind, liegt im Grundsatz ein wirksames Rechtsgeschäft vor, und es ist mit der älteren gemeinrechtlichen Tradition allein des Weiteren zwischen wesentlichen und unwesentlichen Irrtümern zu unterscheiden. Anders aber bei den Erklärungsmängeln. Die Fehler bei der Erklärung des Willens sollen hier immer wesentlich sein; denn eine „Erklärung ohne Willen“ sei unwirksam.44 Damit schließt sich der Kreis zu unserer Ausgangsbetrachtung und der „Trostlosigkeit“ der mit dieser Differenzierung verbundenen Ergebnisse für den Erklärungsempfänger.45 zu Lasten desjenigen, der ihn veranlasst hat. Es wird vermutet, dass der Versprechende gewollt hat, was er zu wollen erklärt hat. Wellspacher, Das Naturrecht und das ABGB (1911), Bd. I, S. 175/196: „Es ist bekannt, daß die Irrtumslehre des ABGB, eine der legislativen Großtaten unseres Gesetzbuches, aus dem Naturrechte stammt. Aus den ‚officia circa sermonem‘, aus den ‚Pflichten in Äußerung seiner Gesinnungen‘ hat die naturrechtliche Schule seit Thomasius den Schluss gezogen, daß sich der Anerklärte auf das Wort verlassen dürfe und daß daher der Irrtum grundsätzlich dem Irrenden schade. Wie das Naturrecht diese Vertrauenstheorie ein Jahrhundert vor Gustav Hartmann in ihren Grundzügen ausgebildet hatte, so hat es auch ein Jahrhundert vor Jhering den Gedanken der culpa in contrahendo aus derselben Grundidee heraus abgeleitet, wie die Irrtumslehre.“ 43 Vgl. einerseits § 871 ABGB: „War ein Teil über den Inhalt der von ihm abgegebenen oder dem anderen zugegangenen Erklärung in einem Irrtum befangen, der die Hauptsache oder eine wesentliche Beschaffenheit derselben betrifft, worauf die Absicht vorzüglich gerichtet und erklärt wurde, so entsteht für ihn keine Verbindlichkeit, falls der Irrtum durch den anderen veranlasst war, oder diesem aus den Umständen offenbar auffallen musste oder noch rechtzeitig aufgeklärt wurde.“ Andererseits Christian Wolff, Institutiones Iuris Naturae et Gentium (1750), II/7 § 405: „Wenn aber der Versprechende nachlässig gewesen ist, die Wahrheit zu erforschen, oder seine Gedancken recht auszudrucken, und der, dem etwas versprochen worden, dadurch in Schaden gebracht worden, so ist derselbe zu ersetzen (§ 270), weil er den Schaden durch seine Schuld erlitten hat (§ 21).“; dieser Schadensersatzlösung ist das preußische ALR in § 79 I 4 gefolgt. 44  Savigny, System III (1840), § 135, S. 263 ff.: „Es ist jedoch dieser Irrthum nicht für minder wichtig zu halten, …, er ist wichtig insoferne wir aus ihm erkennen, daß der Wille, welcher nach der Erklärung angenommen werden müsste, in der That nicht vorhanden ist, weshalb auch die rechtlichen Folgen desselben nicht eintreten können.“ 45 Oben § 1 I.

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Das dogmengeschichtliche Problem dürfte hinreichend deutlich geworden sein: Savigny ist sich der Bedeutung der juristischen Form für den Verkehrsschutz wohl bewusst; denn „alle Rechtsordnung“ beruht auch bei ihm „auf der Zuverlässigkeit jener Zeichen, wodurch allein Menschen mit Menschen in eine lebendige Wechselwirkung treten können“. Aber was wäre von Kants Rechtsphilosophie, die den Willen als Dreh‑ und Angelpunkt aller subjektiven Rechte in das Zentrum stellt, noch übriggeblieben, wenn der „wirkliche“ Wille im wirklichen Rechtsverkehr gar keine maßgebliche Berücksichtigung erfahren kann? Insoweit hat Savigny wider bessere Einsicht noch eine Privatrechtstheorie übernommen, deren grundlegende Defizite er offensichtlich durchaus erkannt und in einem frühen Brief an Fries auch deutlich benannt hat: „Es kam mir immer vor, als habe er [Kant] geglaubt aus seinem metaphysischen Standpunct auch etwas sagen zu müssen über diesen Gegenstand, obgleich ihm dieser fremd war und fremd blieb.“46 Wie wahr! Der Wille taugt als Internum nicht viel für eine praktische Rechtsordnung, sondern alles hängt zunächst an seiner Äußerlichkeit. Diese Einsicht kennzeichnet Grundzug und Ziel der im Anschluss an Jherings Aufsatz zur culpa in contrahendo erfolgten Debatte um „unächte“ Irrtümer und andere Konsequenzen des Willensdogmas. Und es muss uns nach allem Gesagten nicht verwundern, wenn Jherings letzte große Monographie tatsächlich noch einmal dem Willensdogma und seiner Bekämpfung gewidmet war: Der Wille hatte 1803 in Gestalt des animus domini Aufnahme in die Rechtsdogmatik47 gefunden und am Ende des Jahrhunderts ging es nur mehr darum, das Willensdogma auch aus dieser letzten Bastion zu vertreiben. Was Jhering hier gegen den Besitzwillen vorträgt, gilt gleichsam gegen jede Theorie, die Rechtsfolgen ernsthaft an ein Internum zu knüpfen gedenkt. Denn ein solches Rechtsverhältnis würde „… ein reiner Spielball der Laune der Parteien, an Stelle der objectiven Rechtsregel der individuelle Wille der Partei, an Stelle der Rechtssicherheit die Rechtsunsicherheit, an Stelle der Ordnung die Anarchie!“48

Die oben ausführlich beschriebene rechtstheoretische Besinnung auf die Objektivität und Äußerlichkeit des Rechts findet sich dogmatisch in der Behandlung der Erklärungsmängel in einem grundlegenden Prämissenwechsel wieder: Vom Schutz des Willens zum Schutz des Vertrauens auf das einmal gegebene Wort. Oder, um es in der Methodologie des späten Jhering zu formulieren: von der „Subjektivitäts‑ oder Willenstheorie“ zur Besinnung auf die Objektivität des Rechts in der „Objektivitätstheorie“.49 46  Brief an Fries v. 3. 2. ​1802, wiedergegeben bei E. L. Th. Henke, Jakob Friedrich Fries. Aus seinem handschriftlichen Nachlasse dargestellt (1867), S.  293 ff. 47  Savigny, Recht des Besitzes, 1803. 48  Jhering, Besitzwille (1889), S. 14 f. 49 Jhering, Besitzwille (1889), S. 7 f.

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Die Notwendigkeit der „Zuverlässigkeit äußerer Zeichen“ entspricht heute der allgemeinen Auffassung vom normativen Tatbestand einer (wenigstens vorläufig wirksamen) Willenserklärung, bei der es nur auf das Vorhandensein eines Handlungswillens ankommt.50 Doch kennzeichnet dieser Ausgangspunkt freilich nicht das letzte Wort in dem Konflikt Willensfreiheit versus Vertrauensschutz. Die Verteidigung der Autonomie als dem ideellen Geltungsgrund einer mittels Willenserklärung postulierten Rechtsfolge durch die Vertreter der Willenstheorie führte zur „objektiveren“ Anfechtungslösung, wie sie schließlich in den §§ 119–122 BGB positiv-rechtliche Gestaltung gefunden hat. Der maßgebliche Unterschied zur bis dato herrschenden Lehre und noch zur Jhering’schen Konzeption liegt in der expliziten Modifikation des Willensdogmas und der Objektivierung der Haftung durch den Verzicht auf den Nachweis einer culpa einerseits und der Möglichkeit zur Klarstellung des Gewollten mittels fristgebundener (Anfechtungs‑)Erklärung andererseits. Das „subjektive Unrecht“ der culpa wird im Begriff der Willenserklärung selbst „objektiviert“ und im Hinblick auf die Rechtsfolge verbindet sich der Gedanke der culpa (einer unüberlegten Erklärung) mit dem „guten Glauben“ (Vertrauen) an ihre Geltung: Es geht also immer noch um nichts anderes als die (auf das Vertrauensinteresse beschränkte) Haftung für ein gegebenes Wort. Ein kurzer von Kant inspirierter willenstheoretischer Exkurs mit einer Rückkehr zur Konzeption von Christian Wolff und der Regelung im preußischen ALR. b) Dreifältig: Das rechtsgeschäftliche Haftungsdreieck „Wenn aber der Versprechende nachlässig gewesen ist, die Wahrheit zu erforschen, oder seine Gedancken recht auszudrucken, und der, dem etwas versprochen worden, dadurch in Schaden gebracht worden, so ist derselbe zu ersetzen (§ 270), weil er den Schaden durch seine Schuld erlitten hat (§ 21).“ Christian Wolff, 175051

Der Umgang mit dem Irrtum ist, wie gesehen, ein zentrales Thema des Vertragsrechts schlechthin, seit es sich mit dem Satz: pacta sunt servanda im Grundsatz 50 Vgl. nur Urt. v. 7. Juni 1984, BGHZ 91, 324 (Sparkassenfall): „Trotz fehlenden Erklärungsbewusstseins (Rechtsbindungswillens, Geschäftswillens) liegt eine Willenserklärung vor, wenn der Erklärende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, daß seine Äußerung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte als Willenserklärung aufgefasst werden durfte …“; und zuletzt BGH, Urt. v. 5. Oktober 2006 – III ZR 166/05, NJW 2006, 3777: „Für die Auslegung einer Willenserklärung sind nur solche Umstände heranzuziehen, die dem Erklärungsempfänger bekannt oder erkennbar waren.“; zu alledem nur: MünchKomm / ​Kramer, BGB (1993), Vor § 116, Rn. 17; Staudinger / ​Singer, BGB (2004), Vorbem. zu §§ 116–144, Rn. 1; bereits Pernice, Zur Lehre von den Rechtsgeschäften, ZHR 25 (1880), 77/130, konstatierte die Entwicklung fort vom Willen hin zum objektiven Tatbestand der Erklärung: „Wir sehen auch hier eine Verselbständigung der Willenserklärung, unter Beihilfe einer culpa des Erklärenden, sich vollziehen.“ 51 Institutiones Iuris Naturae et Gentium (1750), II/7 § 405.

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gänzlich von dem Formalismus des alten Rechts (Formalvertrag) befreit und den Geltungsgrund der Obligation allein im Konsens der Parteien (Konsensualvertrag) gefunden hat. So sind denn in der früheren und der zeitgenössischen Diskussion alle logisch denkbaren Positionen zu finden: 1. Die Willenstheorie: Es gilt das Gewollte.52 2. Die Verschuldenstheorie: Es gilt das Gewollte, aber je nach Verschulden Haftung am Erklärten.53 3. Die Erklärungs‑ bzw. Vertrauenstheorie: Es gilt das Erklärte.54

52 Es ist nicht leicht, nach Savigny und insb. für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einen eindeutigen Vertreter der Willenstheorie zu finden: Dernburg, Pandekten I (1902), § 99 Fn. 2, fasst die Grundaussage der Willenstheorie wie folgt zusammen: „Die herrschende Meinung – die ‚Willenstheorie‘ – geht davon aus, daß die Erklärung ohne Willen ebenso wenig rechtliche Wirkung hat, wie der Wille ohne Erklärung.“ Windscheid, Wille und Willenserklärung, AcP 63 (1880), 72, stellt den Standpunkt der h. M. klar und verteidigt ihn: „Nach der zur Zeit herrschenden Ansicht ist eine Willenserklärung nichtig, wenn das in derselben als gewollt Bezeichnete von dem Erklärenden nicht wirklich gewollt ist. Das Wirkende, das die beabsichtigte Rechtswirkung Erzeugende, sagt man, ist zwar nicht der Wille in seiner Innerlichkeit, aber auch nicht die Erklärung in ihrer Äußerlichkeit, sondern eben die Erklärung des Willens, die Einheit von Wille und Erklärung.“; Zitelmann präzisiert: Allein im Willen liege der Grund für eine Zurechnung der Erklärung. Einer besonderen Differenzierung bedürfe es nicht, weil im praktischen Rechtsleben ohnehin die Beweisfrage als Korrektor und Regulator fungiere: Der Wille ist nur an seiner Erklärung zu erkennen, ein gegenteiliger Wille schwerlich zu beweisen (JhJb 16, 1878, 357/430 ff.). Das ist bekanntlich auch die Grundaussage bei Savigny, System III (1840), § 134, S. 157 f.; dessen Worte und Standpunkt sich übrigens in einem Judikat wieder finden, das dann von Bähr, JhJb 14 (1875), 393/426 f., zum Beleg für die Richtigkeit der Erklärungstheorie beigezogen wird: „Im Rechtsverkehr kann der innere Wille nur Bedeutung gewinnen durch die Zeichen, mit denen er sich zu erkennen giebt, und es beruht alle Rechtsordnung gerade auf der Zuverlässigkeit der Zeichen, wodurch Menschen allein in lebendige Wechselwirkung treten können …“ So viel zur Nähe von Erklärungstheorie und praktisch verstandener Willenstheorie. 53  Hier gibt es dann Variationen im Einzelnen: Jhering, culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861) 1 ff., mit der entsprechenden Beschränkung der Haftung von vornherein auf das negative Interesse; Windscheid, Willenserklärung, AcP 63 (1880), 72/99 ff.; Pandekten I, § 75, will bei dolus und culpa lata eine Bindung an das Erklärte; und in diesem Sinne der 1. Entwurf mit § 97 III einerseits (SEA) und § 99 I andererseits („Die nach den Vorschriften des § 98 für nichtig zu erachtende Willenserklärung ist gültig, wenn dem Urheber derselben grobe Fahrlässigkeit zu Last fällt.“); durchgesetzt hat sich dann schließlich die Auffassung von Eisele, JherJb 25 (1887), 414/467 ff: Schadensersatz unter Verzicht auf das Kriterium der culpa. Vgl. auch Art. 23 schweizerisches Obligationenrecht: „Hat der Theil, welcher den Vertrag nicht gegen sich gelten läßt, seinen Irrthum der eigenen Fahrlässigkeit zuzuschreiben, so wird er zum Schadensersatze verpflichtet, es sei denn, daß der andere Theil den Irrthum gekannt habe oder hätte kennen sollen.“; Schneider / ​Fick, Obligationenrecht (1882), Art. 23 sprechen die Anlehnung an Jhering deutlich aus: „Es ist dies ein Fall der von Jhering sogen. culpa in contrahendo.“ 54  Neben Bähr insb.: Röver, Über die Bedeutung des Willens bei Willenserklärungen (1874); Schlossmann, Der Vertrag (1876), S. 85–140; Hölder, KritV 14 (1872), S. 176 ff.; Schall, Der Parteiwille im Rechtsgeschäft (1877); Kohler, JhJb, 16 (1878), S. 91 ff.; 325 ff.; ders. JhJb 18 (1880), 136 ff.; Hofmann, Entstehungsgründe der Obligationen (1874), 66 ff.; Hartmann, Wort und Wille im Rechtsverkehr, JhJb 20 (1882), 2/37 ff., Enneccerus, Rechtsgeschäft (1888), S. 95 ff.

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Jeweils konnte ein Prinzip zum maßgeblichen erhoben und als „das einzig Wichtige und Wirksame gedacht werden“: der Wille, die Schuld, das Vertrauen. Doch eine ausgewogene Rechtsgeschäftslehre sucht die legitimen Anliegen aller drei Standpunkte zu vereinen. Und so findet man in der zeitgenössischen Diskussion immer ein Operieren mit den drei maßgeblichen Determinanten: 1. Wille (Selbstbestimmung), 2. bona fides (Vertrauen), 3. Verschulden (dolus, culpa). Man kann hier auch von einem rechtsgeschäftlichen Haftungsdreieck sprechen, das sich bei allen Disputanten in der Argumentation auf die eine oder andere Weise findet. Wenn wir unter diesem Blickwinkel dann auch das in den §§ 116–120, 179 BGB vorliegende Ergebnis durchmustern, so offenbart sich ein objektivierter Ausgleich von Willens‑ und Vertrauensschutz mittels des Verschuldensprinzips: § 116 S. 1 BGB: Beim geheimen Vorbehalt votiert das Verschuldensprinzip zugunsten des Vertrauensschutzes: Der dolus lässt die Berufung auf den eigenen, absichtlich nicht erklärten Willen immer unerheblich sein (vorsätzliches Handeln verdient keinen Schutz) und bewirkt hier die Haftung auf das Erfüllungsinteresse. § 116 S. 2 BGB: Beim erkannten geheimen Vorbehalt entfällt der Vertrauensschutz. Es gilt das Gewollte, weil der Erklärungsempfänger selber nicht gutgläubig ist. (Dieser Fall entspricht dem Sonderfall einer erkannten Scherzerklärung § 118, bei der ein SEA gem. § 122 II ausscheidet.) § 117 I und II BGB: Beim Scheingeschäft gilt das Gewollte und nicht das Erklärte, weil ein Vertrauensschutz bei den Beteiligten keine Rolle spielt: d. h. das simulierte Geschäft ist nichtig, das dissimulierte hingegen gilt. (Der Vertrauensschutz etwaiger Dritter und die ethische Beurteilung des Scheingeschäftes muss über andere Vorschriften gewährleistet werden, z. B. §§ 134, 138, 826.) § 118 BGB: Anders als beim geheimen Vorbehalt erfolgt bei einer Scherzerklärung die Verletzung von Vertrauen nicht dolos, sondern nur culpos. Daher gilt das Gewollte, und es votiert das Verschuldensprinzip lediglich für den Ersatz des Vertrauensschadens, wenn der Scherz für die andere Seite nicht zu erkennen war (§ 122 II). § 119 BGB: Irrtümer sind regelmäßig Folge eines Verhaltens, das mit Unachtsamkeit und mithin mit culpa in Verbindung zu bringen ist. Daher gilt auch zunächst das Erklärte und nicht das Gewollte. Der Erklärende hat aber die Möglichkeit, sich von dem NichtGewollten wieder zu lösen. Doch bleibt er in der Haftung für die Folgen seiner Erklärung. Der Konflikt zwischen Willens‑ und Vertrauensschutz kann hier nur durch ein Drittes gelöst werden: eine Differenzierung bei den Rechtsfolgen. Der Vertrauensschutz beschränkt sich dann auf den Ersatz des tatsächlich vorhandenen Vertrauensschadens. (So ist ein Kompromiss zwischen allen vertretenen Positionen gefunden: Die Vertreter des Willensdogmas konnten sich in dieser Lösung ebenso wiederfinden wie die Vertreter der Erklärungstheorie; denn das Erklärte gilt unter dem Vorbehalt fristgerechter Anfechtung.) § 120 BGB: Bei Übermittlungsfehlern war Jhering, wie gesehen, an die Grenzen seiner Verschuldenstheorie gelangt. Mit dem Prämissenwechsel vom Willensdogma zum Vertrauensschutz wird aber die haftungsbeschränkende Rolle der culpa wieder deutlich: Der Erklärende haftet nicht vollumfänglich, sondern in Anerkennung seines geringen (culpa in eligendo bei Verwendung eines unzuverlässigen Boten) oder gar nicht vorhandenen Verschuldens (Telegraph) nur auf das Vertrauensinteresse (hierzu sogleich noch ausführlicher, bei der dogmatischen Einordnung des § 122, unten c).

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§ 179 BGB: Die Haftung des falsus procurator nimmt alle Prinzipien in sich auf: Der Vertretene wird nicht gebunden, wenn er nicht will, und der Vertragspartner wird in seinem Vertrauen auf die Erklärung an den verwiesen, auf dessen Erklärung er vertraut hat. Der Vertreter ohne Vertretungsmacht haftet bei dolus (d. h. Kenntnis vom Fehlen der Vertretungsmacht) auf das Erfüllungs‑ (§ 179 I) und bei culpa nur auf das Vertrauensinteresse (§ 179 II). §§ 122 II, 179 III berücksichtigen für den Haftungsanspruch das konkurrierende Verschulden der anderen Seite. Der Gedanke der Culpacompensation wird durch den Ausschluss der Haftung deutlich. Die Culpacompensation greift dabei nur, wenn nicht dem Erklärenden selbst ein dolus vorzuwerfen ist (vgl. §§ 116, 123, 179 I).

Das Schuldprinzip hat also in der Rechtsgeschäftslehre ebenso seinen Platz wie Vertrauens‑ und Willensschutz. Die Regelungen sind  – auch wenn sie nicht seiner culpa in contrahendo entsprechen  – gleichwohl in doppelter Hinsicht Jherings Erbe: Das Verschuldensprinzip ist in seinem Sinne durchdekliniert und objektiviert. Und der eifersüchtige Streit divergierender Prinzipien findet eine ausgewogene Befriedung in klarer dogmatischer Form. Im Verlaufe der Geschichte des BGB wurde beides nicht mehr auf diese Weise reflektiert. Das wird etwa deutlich, wenn im Laufe der Entwicklung der Gedanke der Culpacompensation völlig aus den Augen verloren wurde oder wenn von manchen § 122 BGB nicht als Fall der culpa in contrahendo gewertet wird. Natürlich: Die culpa ist gar keine causa obligationis und so kann die culpa in keinem Fall als Grundlage irgendeiner Haftung angesehen werden. Wenn sich daher in § 122 BGB ein Hinweis auf ein „subjektives Unrecht“ nicht finden lässt, so ist das Ausdruck einer fehlenden Exculpationsmöglichkeit für den Anfechtenden, sagt aber weder etwas über den eigentlichen Haftungsgrund noch über die gleichwohl bestehende Wertung des Verschuldensprinzips. c) Vielfältig: Die dogmatische Einordnung des § 122 BGB „… die Ersetzung der gemeinrechtlichen Lehre von der Nichtigkeit mangelbehafteter Willenserklärungen durch die Anfechtbarkeit im Sinne des BGB enthält im Keim bereits die Anerkennung der Unterscheidung zwischen Willenserklärung und Vertrauenswerbung.“ Kurt Ballerstedt, 195055

Wir kennen das Phänomen der Objektivierung der culpa im „objektiven Unrecht“ bereits aus Jherings geläuterter Revisionsschrift. Worin liegt nun aber das „objektive Unrecht“ bei der Diskrepanz von Wille und Erklärung? Unter dem Gesichtspunkt des Erfolgsunrechts liegt es ganz einfach in der Distanzierung von einem einmal gegebenen Wort. Das ist zunächst der schlichte und zutreffende Standpunkt der meisten Naturrechtler und der Erklärungstheorie, der, wie gesagt, zunächst gar nichts anderes ist als eine Rückbesinnung auf das formale 55 Zur

Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501/507, Fn. 18.

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(wir können auch sagen: „objektive“) Element des Rechts, die „Zuverlässigkeit jener Zeichen“, ohne die eine Sicherheit des Verkehrs nicht zu gewährleisten ist. Friedrich Endemann hat das im Anschluss an Heinrich Siegel (Das Versprechen als Verpflichtungsgrund) sehr richtig so zusammengefasst: „Dem Worte wird eine sinnliche Bedeutung und Macht beigelegt, so daß es wie ein gegebenes Objekt erscheint. Damit entsteht eine selbständige Verpflichtung zum Worthalten, eine Gebundenheit an das Versprechen, die von der weiteren Verpflichtung, das Versprochene zu erfüllen, zu unterscheiden ist und ihren eigenen Weg gehen kann.“56

D. h. die Bindung an das gegebene Wort beim Vertragsschluss ist zu unterscheiden von der Verpflichtung zur Erfüllung des Versprochenen. Die Bindung bleibt bestehen, doch der Inhalt der mit der Bindung einhergehenden Verpflichtung wandelt sich: statt Erfüllung nur Schadensersatz gerichtet auf Erstattung des Vertrauensschadens. Wo aber bleibt der Gesichtspunkt der culpa? Er ist im Gedanken des Erfolgsunrechts vollständig objektiviert und wird erst wieder deutlich, wenn man das Erfolgsunrecht als Handlungsunrecht formulieren will. Die Argumentation entspricht dann ganz der bereits von Bähr gegebenen oder – in der Sache völlig identisch – der vom Bundesgerichtshof für das Fehlen des Erklärungsbewusstseins formulierten Haftung für Unachtsamkeit: Wer rechtsgeschäftliche Erklärungen abgibt, der schuldet bereits die im (rechtsgeschäftlichen) Verkehr erforderliche Sorgfalt, weil er mit seinem gegebenen Wort haftet. Das ergibt sich aus der Bindungswirkung des Versprechens, die von der Verpflichtung zur Leistung streng zu unterscheiden ist. Wenn nun aus guten Gründen gleichwohl ein Recht eingeräumt wird, sich von der einmal geäußerten Erklärung wieder zu lösen (Berücksichtigung des Willens), so ändert dies doch nichts daran, dass in den Fällen, in denen eine Erklärung dem Willen nicht entspricht, die erforderliche Sorgfalt gerade nicht beachtet wurde. Von hier aus ist es leicht einzusehen, dass Jhering mit der culpa für bestimmte Konstellationen auf die Streckbank musste. Bei Scherzerklärungen, Inhalts‑ oder Erklärungsirrtümern wird man eine mangelnde Sorgfalt bei der Erklärung sicherlich ganz allgemein präsumieren können. Bedenklich wird es dann aber bei Übermittlungsfehlern (etwa durch Telegraphen). So hatte denn ja auch schon das Reichsgericht in seinem Urteil vom 29. Juni 1891 (RGZ 28, 16 ‑Telegraphenfall‑) noch einmal deutlich gegen Jhering klargestellt, dass es ausgeschlossen sei, „in der Benutzung des Telegraphen an sich ein Verschulden irgend welcher Art zu erblicken“.57

 Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I (6. Aufl. 1899), § 66, S. 275. 28, 16/18: „Der Telegraph ist als Verkehrsmittel von der kaufmännischen, ja von aller Welt, auch von den öffentlichen Behörden so sehr auf‑ und angenommen, daß sich in manchen Verhältnissen, z. B. bei dem Großhandel, bei dem Börsengeschäfte, niemand demselben ohne Nachteil entziehen kann.“ 56

57 RGZ

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Man hat nun lange darüber nachgegrübelt, wie eine Haftung für das gegebene Wort anders als mittels culpa zu begründen sei:58 Garantie,59 bona fides oder Veranlassungsprinzip. Mir scheint, dass hier letztlich mit unterschiedlichen Worten doch immer das Gleiche gesagt wurde: Es geht um die Haftung für ein einmal gegebenes Wort, das Vertrauen und Verlässlichkeit erheischt. Das Hauptproblem der ganzen bis heute nicht endgültig aufgelösten Debatte liegt in der unpräzisen Fragestellung. Bisher hat man die Frage immer so gestellt: „Gilt das Gewollte oder gilt das Erklärte?“ Diese Frage ist vom Ergebnis her gedacht. Sinnvoller erscheint es, von den dogmatischen Prämissen her zu denken: Lässt sich der Wille oder muss man die Erklärung zum dogmatischen Ausgangspunkt wählen? Nach allem bisher Gesagten kann es nicht überraschen, wenn wir die Objektivität des Rechts als allein maßgeblichen Ausgangspunkt begreifen müssen. Und wir werden uns auch nicht wundern, an dieser Stelle festzustellen, dass es letztlich auch keinen Willenstheoretiker der Zeit gegeben hat, der ernsthaft etwas anderes behauptet hätte: Der Wille ist ein Internum, und wir können ihn nur an den äußeren Zeichen erkennen, mit denen er sich kundtut. Das Petitum der so genannten Willenstheoretiker (Savigny, Windscheid, Zitelmann u. a.) war denn ja auch nicht der gegenteilige Standpunkt, sondern die Berücksichtigung des wahren Willens des Erklärenden für die Bestimmung des Inhalts sowie der Folgen der Erklärung. Solange es zur vollständigen Haftung für das gegebene Wort nur die Alternative vollständige Befreiung von demselben gab, musste die Debatte in der Tat auf die erstgenannte Frage und ein scheinbar unauflösliches Dilemma hinauslaufen: Bevorzugt man den Willen vor der Erklärung, dann setzt man Vertrauens‑ und Verkehrsschutz zurück. Entscheidet man umgekehrt, führt dies zu Bindungen, die ungewollt und sohin im Einzelfall auch ungerecht und (in modernerer Perspektive) ineffizient60 erscheinen. 58  Hierzu die ausf. Darstellungen bei Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 102 ff. und Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 151 ff. 59 Windscheid, Pandekten II, (1.–5. Aufl. 1865): § 307, Fn. 2/5: „Die Begründung dieser Verpflichtung ist nicht ohne Schwierigkeit; aber man darf den allgemeinen Satz aufstellen, daß jeder Vertragschließende durch die von ihm abgegebene Vertragserklärung stillschweigend die Garantie übernimmt für die Folgen des durch seine Erklärung in dem Gegner erregten Vertrauens auf das Zustandekommen des Vertrages [einzustehen], insofern dieses Zustandekommen durch einen Grund ausgeschlossen wird, welchen der Gläubiger nicht kennt und nicht zu kennen verpflichtet ist.“; Regelsberger, Civilrechtliche Erörterungen (1868), S. 33: „Eine wahre Befriedigung sowohl des juristischen Gewissens als des Verkehrsbedürfnisses bietet nur die Unterstellung eines stillschweigenden Garantievertrages.“ Das Reichsgericht ist in dem genannten Telegraphenfall (RGZ 28, 16/23) dieser Auffassung gefolgt und behilft sich mit dem Gedanken einer „stillschweigenden Willenserklärung, des Inhaltes, daß der Absender dasjenige, was der Empfänger ordnungsgemäß zufolge der ihm zukommenden Erklärung veranlasst … als in seinem Namen oder für seine Rechnung geschehen gelten lassen und dem Empfänger alle sachgemäßen Aufwendungen und, je nach Lage des Falles, etwaigen entgangenen Gewinn ersetzen werde“. 60  Zum Zusammenhang von Vertragsgerechtigkeit und dem Abschluss effizienter Transaktionen, sogleich unten II.

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Mit der Differenzierung zwischen der Gebundenheit an ein Versprechen und der Verpflichtung zur Erfüllung des Versprechens kommt nun aber Bewegung in die Fronten. Es verbleibt Platz für eine Differenzierung zwischen dem Entweder-Oder einer Erfüllungshaftung auf der einen und einer gänzlich befreienden Einwendung auf der anderen Seite; Platz für ein Drittes zwischen den Extremen: nämlich einen Schadensersatzanspruch, bei dem auch die culpa ihren eigentlichen Platz findet. Jetzt wird nämlich der dogmatische Ausgangspunkt relevant: Vom Willensdogma ausgehend, benötigt man zur Begründung einer daneben bestehenden Schadensersatzhaftung in der Tat einen eigenständigen Haftungsgrund, eine causa obligationis, die, das ist das Drama der gemeinrechtlichen Debatte, weder in der culpa noch in irgend einem anderen Gesichtspunkt zur wirklichen Überzeugung aller gefunden werden konnte, so dass Windscheid den geradezu hilflosen Satz aufstellte: „Das Recht will es so!“61 Dieser Satz wirkt bis heute nach, wenn man sich später überwiegend damit beruhigt hat anzunehmen, die allgemeine Haftung aus culpa in contrahendo basiere halt auf einem gesetzlichen Schuldverhältnis. Deutlicher kann Ratlosigkeit schwerlich auf eine Formel gebracht werden. Die Haftungsbegründung stellt sich demgegenüber schlagartig anders dar, wenn man nun nicht das Willensdogma zum Ausgangspunkt nimmt, sondern von der Prämisse einer kategorischen Haftung für jedes gegebene Versprechen ausgeht. Nennen wir diesen gleichsam naturrechtlichen Ausgangspunkt (vor Kant) zunächst einmal ein Versprechensdogma. Berücksichtigt man nun, dass ein Versprechen, so wie jede andere Handlung auch, mehr oder weniger besonnen vorgenommen werden kann, dann wird deutlich, dass und welche Rolle die culpa auch hier spielt: nämlich die Rolle nicht einer causa obligationis, sondern in der Tat die ihr eigene Rolle einer Haftungsbegrenzung: Ausgehend vom Versprechensdogma steht die Haftung für das einmal gegebene Wort nämlich nicht in Zweifel. Das entspricht dem Grundsatz pacta / ​promissa sunt servanda. Man kann nun allenfalls, aber immerhin noch fragen, ob bei einer unbesonnenen, d. h. übereilten, culposen Erklärung eine nachträgliche Berufung auf einen Irrtum noch soll zugelassen werden. Wenn man dies aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit (Berücksichtigung des Willens für gerechte / ​effiziente Verträge) zulassen will, dann kann es nur noch um einen angemessenen Ausgleich der beteiligten Interessen gehen, der jedenfalls grundsätzlich und notwendig unterhalb des Erfüllungsinteresses anzusiedeln sein muss, wenn er einen eigenständigen Sinn machen soll. Und eben hier liegt dann der eigentliche Kern der Lehre vom

61  Windscheid, Pandekten II, (ab 6. Aufl. 1887) § 307, Fn. 5: „Die Entschädigungspflicht des Urhebers der Willenserklärung beruht nicht auf seinem Willen, sondern das Recht legt sie ihm ohne seinen Willen auf. Das Recht ist es, welches will, daß der Empfänger einer Willenserklärung sich darauf muß verlassen können, daß auf sie ein Vertrag durch Annahme entstehen könne bzw. daß durch sie ein Vertrag zustande gekommen sei.“

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„negativen Vertragsinteresse“, auf die sogleich noch ausführlicher einzugehen sein wird (unten II.). Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten: 1. Auch hier bestätigt sich: die culpa ist nicht eigentlich eine causa obligationis. Die Einräumung eines Schadensersatzanspruches bei Reszissionsmöglichkeit (§ 122 BGB) ist Ausdruck einer Haftungsbegrenzung, der ansonsten bestehenden vollen Haftung für ein gegebenes Wort. 2. Der dogmatische Streit, ob § 122 auf dem Verschuldens‑ oder dem Veranlassungsprinzip beruht, lässt sich also leicht auflösen: Wer das subjektive Unrecht nur bei einem expliziten Hinweis auf Verschulden annehmen mag, der wird natürlich leugnen, es mit einer Ausprägung des Verschuldensprinzips zu tun zu haben; wer hingegen den Gesamtzusammenhang besieht, der erkennt in § 122 den objektivierten Ausdruck einer an der culpa orientierten Haftungsbeschränkung für unbesonnene Erklärungen (Erklärungs‑ bzw. Inhaltsirrtum) und ganz unverschuldete Abweichungen der Erklärung vom Gewollten (Übermittlungsirrtümer): Gehaftet wird weiterhin aufgrund des einmal objektiv vorhandenen Versprechens (das Versprechen also ist die causa obligationis), doch wird der Versprechende mit dem Einwand gehört, das Versprechen entspreche in seiner äußeren Erklärungsform aufgrund eines nur leichten Versehens oder überhaupt gänzlich ohne seine Schuld nicht seinem wahren Willen. Denn „Schuld ist die Causalität des rechtsverletzenden Willens“.62 Ist diese aber gering, weil der Wille, einen anderen in seinen Rechten zu verletzen gering (oder gar nicht vorhanden) ist, dann muss das Auswirkungen auf die Rechtsfolge haben. Diesen Lehrsatz haben wir als „Angemessenheit“ von Schuld und Rechtsfolge und mithin als den zentralen Inhalt des Verschuldensprinzips kennen gelernt (oben § 2 III.2.). Wenn man nun demgegenüber in der jüngeren Literatur den § 122 BGB als Ausdruck des Vertrauensprinzips gedeutet wissen will, so ist daran gar nichts auszusetzen, weil, wie am Verhältnis von dolus und bona fides gesehen, das eine dem anderen korrespondiert und weil auch die Haftung aus § 122 BGB eine Haftung für das gegebene Wort ist. Man muss dann nur consequent sein und mit den Alten auch die Haftung für ein gegebenes Versprechen ganz allgemein natürlich als Ausdruck des Vertrauensschutzes mit begreifen. Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass das Vertrauensprinzip natürlich in allen Rechtsverhältnissen eine Rolle spielt, als Ausgangspunkt für eine grundlegende Systematik aber gerade deshalb alles andere als brauchbar ist.63 Eine Wissenschaft jedenfalls, deren Auge nicht, wie Jhering es ausdrückte, „von Principien umflort ist“, wird das rechte Maß durch eine praktische Konkordanz von Willens‑ und Vertrauensschutz zu suchen sich bemühen. Das Ver62 Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, (2. Aufl. 1868), S. 135; v. Bar, Zur Lehre von der Culpa und dem Causalzusammenhange, GrünhutsZ 4 (1877), 21. 63  Zum Problem einer „dritten Haftungsspur“ als Vertrauenshaftung in Abgrenzung von Rechtsgeschäft und Delikt, unten § 7 I.2.

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schuldensprinzip ist so gesehen für die Erklärungshaftung immer das „Zünglein an der Waage“ gewesen. Und in diesem Kontext steht auch § 122 BGB. 2. Unzuverlässigkeit der Erklärung II: Stellvertretung „Ich selbst gelange nach reiflicher Überlegung dieser äußerst zweifelvollen Frage, in welcher der juristische Verstand von Mitleid und Furcht so sehr bestürmt wird, zu nachfolgendem Resultate. Das kann keinesfalls bestritten werden, daß eine Erfüllungspflicht sich für den Stellvertreter in keiner Weise begründen läßt … Demnach kommen wir zu dem einfachen Satz: Der falsus procurator haftet für den Mangel der Vollmacht, wenn er dolos oder culpos die fehlende Legitimation behauptet hat. Worauf der Procurator haftet, ist hiernach leicht zu bestimmen … das negative Vertragsinteresse.“ Ludwig Mitteis, 188564

Die Lehre von der Stellvertretung ist eine lang umstrittene Materie im gemeinen Recht gewesen.65 Das römische Recht selbst kannte eine Stellvertretung in dem uns heute geläufigen Sinne nicht. Eine Vertretung war hier nur als mittelbare möglich, d. h. der Vertreter musste im eigenen Namen auftreten und Geschäfte abschließen und konnte die in seiner Person entstandenen Rechte und Verbindlichkeiten dann direkt weiter auf den Prinzipal übertragen. Erst im gemeinen Recht hat sich dann kraft Gewohnheitsrechts die unmittelbare Stellvertretung durchaus gegen den Widerstand in Teilen der Lehre durchgesetzt.66 Damit ist der Stellvertreter aus der Reihe der geschäftlich Verpflichteten herausgetreten und musste bei der dogmatischen Rolle, die er von nun an spielt, notwendig in unsicheres Gewässer kommen. Das Problem liegt auf der Hand: Die Sache wird immer vertrackt, wenn mehrere Personen über ein und denselben Gegenstand Geschäfte anstellen. Die unmittelbare Stellvertretung ist so geradezu ein Paradefall dafür, dass Wille und Erklärung – gleichsam physisch in personam – auseinander fallen können: Was der Vertreter erklärt, braucht der Prinzipal nicht zu wollen, und was dieser wollte, muss jener noch lange nicht erklärt haben.67 An wen und an was aber soll sich der Erklärungsempfänger nun halten? Vorher galt der Wille des (mittelbaren)  Die Lehre von der Stellvertretung (1885), S. 169 f.  Zur äußerst umstrittenen Frage der Stellvertretung vgl. vorzüglich Ernst Zimmermann, Lehre von der Stellvertretung (1876), S. 286 ff.; Mitteis, Die Lehre von der Stellvertretung (1885); Windscheid, Pandekten I, § 73; Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 78 ff. 66  Hierzu die Darstellungen bei: Savigny, Obligationenrecht II (1853), §§ 56 f.; Windscheid, Pandekten I, § 73; Dernburg, Pandekten I, §§ 117 ff. 67  Es ist daher m. E. richtig, die Sache systematisch dort zu belassen, wo Jhering sie eingeordnet hat. Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 242, sieht das Problem als „Mangel im Willen“ an; andere wollen hier einen „Mangel in der Person“ sehen: etwa Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 60/78; Hammel, Culpa in contrahendo (1912), S. 57. Aber das verschleiert, dass es ebenso wie bei Übermittlungsfehlern immer noch um das nämliche Problem geht: die Diskrepanz von Wille und Erklärung. 64 65

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Stellvertreters als sein eigener, und er haftete für diesen. Nunmehr vertritt er einen gleichsam unsichtbaren, nicht präsenten Willen, den Willen des Prinzipals. Wie sollen die Rechtsbeziehungen gestaltet werden, wenn der Stellvertreter einen Willen des Prinzipals vertritt, den dieser gar nicht besitzt? Dass der Prinzipal nicht haftet, konnte auch ohne den Gesichtspunkt einer strengen Willenstheorie gar nicht zweifelhaft sein: „Als Regel gilt hier, daß ich das von einem Anderen für mich abgeschlossene Geschäft nur dann anzuerkennen verpflichtet bin, wenn der Andere von mir bevollmächtigt war und innerhalb der Grenzen seiner Vollmacht gehandelt hat.“68 Die Haftung aber des Vertreters ohne Vertretungsmacht (falsus procurator) wurde in allen möglichen Konstellationen ausgelotet: Sowohl nach gemeinem Recht wie nach BGB ist die Sache dann einfach, wenn der Prinzipal den Vertrag genehmigt: Die Diskrepanz von Wille und Erklärung ist durch die Genehmigung beseitigt, der Prinzipal akzeptiert das Erklärte und passt so seinen Willen der fehlerhaften Erklärung an. Schwieriger ist die richtige Lösung, wenn er das nicht tut. Im gemeinen Recht herrschten hier die größten Meinungsverschiedenheiten, die sich bis in die Redaktion des BGB hinein schwankend fortsetzten. Dabei liefert die Diskussion erneut Anschauungsmaterial für eine am „Schuldmoment“ abgestufte Rechtsfolge. Denn dass hier nur um die Rechtsfolge gestritten wurde, verstand sich von selbst. Es gab niemanden, der eine strenge willenstheoretische Position bezogen hätte und neben dem Prinzipal auch den Vertreter etwa mit dem Hinweis hätte frei ausgehen lassen, dieser wollte sich selbst ja nicht binden.69 Dass eine solche Konsequenz die unmittelbare Stellvertretung für den Rechtsverkehr unmöglich gemacht hätte, leuchtete ohne weiteres ein. Wenn aber die Haftung des Vertreters im Grundsatz klar ist, dann hängt die Rechtsfolge allein noch am Schuldvorwurf: Handelt der Vertreter mit dolus, d. h. weiß er um die fehlende Vertretungsmacht, oder handelt er lediglich mit culpa, d. h. irrt er über den ihm kundgetanen Willen seines Prinzipals? Eine dritte Möglichkeit ist vor allem auch die in der Diskussion besonders in Erwägung gezogene Konstellation des negotiorum gestor: Der Vertreter weiß um den Mangel seiner Vertretungsmacht, er rechnet aber sicher mit der Genehmigung durch den Vertretenen; in den bekannten Verschuldenskategorien eine nicht leicht einzuordnende Kombination von dolus, bona fides und culpa lata. Manche haben insoweit in Anlehnung an die allgemeinen Haftungsregeln (actio doli) eine Haftung auf das Interesse bei fehlender Vollmacht immer angenommen: „Hat der Gestor sich dem dritten Contrahenten gegenüber fälschlich als einen Beauftragten hingestellt, so hat er eine lügnerische Angabe gemacht und darin liegt ein Dolus gegen den Dritten.“70 Andere sind demgegenüber 68 F. Mommsen,

Haftung bei Vertragsschluß (1879), S. 113 m. N.  Vgl. immerhin die Klarstellung in § 164 Abs. 2 BGB, die sich nur auf Mängel bei der Erklärung der Offenkundigkeit bezieht. 70 Seuffert, Die Lehre von der Ratihabition der Rechtsgeschäfte (1868), S. 77; ähnlich: Urt. v. 69

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Jhering gefolgt und wollten den falsus procurator auf Grund einer culpa in contrahendo ‚nur‘ auf das negative Vertragsinteresse haften lassen und bei einem entschuldbaren Irrtum über die Vertretungsmacht dem enttäuschten Dritten seinen Vertrauensschaden belassen.71 Wieder andere haben eine verschuldensunabhängige Haftung begründet gesehen und diese allein vom Nichtwissen des Dritten abhängig gemacht.72 Das entsprach dem allgemeinen Grundsatz der Culpacompensation, gab aber noch keine Begründung für den Anspruch gegen den Vertreter ohne Vertretungsmacht. Nach herrschender Auffassung sollte der falsus procurator aber nicht nur auf das Interesse, sondern anstelle des Prinzipals auch Erfüllung dessen schulden, „wozu er in fremden Namen sich verpflichtet hat“.73 Streitig war aber die Begründung einer Erfüllungshaftung. Ein Teil der Lehre, namentlich Otto Bähr,74 Heinrich Thöl75 und Friedrich Mommsen76, gelangten zu ihrer Ansicht in starker Anlehnung noch an das ursprüngliche Prinzip der mittelbaren Stellvertretung. Im Grundsatz sei die Sache so, als sei vom Vertreter das Geschäft im eigenen Namen abgeschlossen: „Das Princip der unmittelbaren Stellvertretung zeigt sich nur insofern wirksam, daß der Mitcontrahent, da er ja nicht mit dem Stellvertreter persönlich, sondern mit dessen Principal ein Geschäft abschließen wollte, berechtigt ist, … ganz von dem Geschäft zurückzutreten.“77 Das entsprach der Regelung des Art. 55 ADHGB (Haftung des Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten) für den Handelsverkehr und war im Grunde auch der Standpunkt des Reichsgerichts: Der falsus procurator haftet auf Erfüllung unabhängig davon, ob ihm hinsichtlich der Vollmacht dolus oder nur culpa zur Last fällt. Nur wird hier zur Begründung der Haftung auf den Gedanken 17. März 1882, RGZ 6, 214/216 f.: „Die rechtliche Folge, daß der Machtgeber direkt verpflichtet wird, und der Bevollmächtigte außer Verbindlichkeit bleibt, tritt nur ein, wenn die behauptete Vollmacht in Wirklichkeit erteilt ist. Fällt diese Voraussetzung fort, so haftet der angebliche Bevollmächtigte als Kontrahent. Er würde arglistig handeln, wenn er den Dritten an den Machtgeber verweisen wollte, obwohl er weiß oder wissen muß, daß derselbe wegen Mangels der Vollmacht an den Vertrag nicht gebunden ist. Der Dritte darf deshalb von dem Bevollmächtigten Erfüllung verlangen … Einer ausdrücklichen Gewährleistung, daß die behauptete Vollmacht erteilt sei, oder die Genehmigung des Machtgebers erfolgen werde, bedarf es zur Begründung der Entschädigungsklage nicht.“ 71 Laband, Die Stellvertretung, ZHR 10 (1866), 183/234: „Die richtige Construction für die Verpflichtung des Pseudo-Stellvertreters ist vielmehr die, daß sie eine Schadensersatzverbindlichkeit ist, welche auf einer culpa in contrahendo beruht.“; Mitteis, Die Lehre von der Stellvertretung (1885), S. 169 ff.: „Demnach kommen wir zu dem einfachen Satz: Der falsus procurator haftet für den Mangel der Vollmacht, wenn er dolos oder culpos die fehlende Legitimation behauptet hat. Worauf der Procurator haftet, ist hiernach leicht zu bestimmen … das negative Vertragsinteresse.“ 72  Regelsberger, Pandekten I (1893), § 164, S. 599 ff. 73  F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluß (1879), S. 115. 74 Bähr, Irrungen beim Contrahiren, JhJb 6 (1863), 286/292. 75  Thöl, Handelsrecht I (6. Aufl. 1879), §§ 71, 76. 76  F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluß (1879), S. 114 f. 77 F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluß (1879), S. 115.

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einer Garantie für die Existenz der Vertretungsmacht zurückgegriffen.78 Dass der Vertreter, indem er in fremdem Namen kontrahiert, eine Garantie für das Vorliegen einer entsprechenden Vollmacht abgibt, war zwar eine insbesondere von Windscheid in der zeitgenössischen Diskussion vertretene Position,79 doch gleichwohl eine offensichtliche Fiktion. Im 1. Entwurf findet sich dann doch ein Rekurs auf die culpa des Vertreters, wenn in § 128 E I seine Haftung von der Verletzung einer Anzeigepflicht abhängig gemacht wird: „Der Vertreter, welcher bei Schließung des Vertrages nicht kundgegeben hat, daß er ohne Vertretungsmacht sei, ist, wenn die Genehmigung des Vertrages verweigert wird, dem anderen Vertragsschließenden persönlich verhaftet. Der Andere kann nach seiner Wahl Erfüllung oder Schadensersatz wegen Nichterfüllung fordern. Die Haftung des Vertreters tritt nicht ein, wenn der andere den Mangel der Vertretungsmacht gekannt hat.“

Es ist so recht deutlich ersichtlich, dass der Entwurf nur von einem dolus des Vertreters (d. h. Kenntnis der fehlenden Vertretungsmacht) für seine Haftung ausgeht. In den Motiven zum Entwurf wird die Haftung auf das negative Interesse aus culpa in contrahendo folgerichtig ausdrücklich abgelehnt. Dem Verkehrsinteresse werde nur mit einer Regelung hinreichend entsprochen, nach welcher „[j]eder, der als ermächtigter Vertreter auftritt, ohne Rücksicht darauf, ob ihn eine Fahrlässigkeit trifft, voll dafür einzustehen habe, daß die Vertretungsmacht vorhanden sei oder doch die Genehmigung des Vertretenen nachträglich hinzutrete“.80 Die Ablehnung der culpa als Haftungsgrund führte auch dazu, dass die Culpacompensation auf das positive Wissen der Gegenseite zurückgenommen wurde: Wenn der Vertreter gleichsam aus einem Garan Das Reichsgericht hatte in seinem Urt. v. 17. März 1882, (RGZ 6, 214/216 f.) die Haftung noch primär mit Arglist begründet und klargestellt, dass es einer „ausdrücklichen Gewährleistung, daß die behauptete Vollmacht erteilt sei, oder die Genehmigung des Machtgebers erfolgen werde“ nicht bedürfe; mit Urt. v. 7. Mai 1895, RGZ 35, 145 f. stellt es dann (gutgläubiger falsus procurator) ganz auf eine Garantiehaftung ab und stellt fest: „daß die Haftung eintritt, gleichviel, ob der Bevollmächtigte den Mangel der Vollmacht gekannt hat oder nicht, ob er dabei in dolo oder in culpa versierte, oder auch, ob auf seiner Seite weder dolus noch culpa zu konstatieren ist. In allen diesen Fällen besteht die kontraktmäßige Pflicht des Bevollmächtigten, für die Existenz seiner Vollmacht einzustehen … Immer ist und bleibt der Vertreter derjenige, welcher die Vollmacht produziert hat, mit Hinweis auf sie als Bevollmächtigter auftritt, den Vertrag abschließt und damit, wie seiner Handlungsweise zu unterstellen ist, die stillschweigende Garantie dafür ausspricht und übernimmt, daß sein Auftreten ein berechtigtes sei.“ 79  Windscheid, Pandekten I (ab 3. Aufl. 1870), § 74: „Erfolgt die Genehmigung nicht, so hat das Rechtsgeschäft für den Vertretenen gar keine Wirkung, aber auch keine für den Vertreter, welcher ja für sich keine Wirkungen hat erzeugen wollen. Nur ist derselbe bei Verträgen, insofern er für die Ertheilung der Genehmigung oder das Dasein der Vollmacht ausdrücklich oder stillschweigend die Garantie übernommen hat, verpflichtet, dem andern Contrahenten sein Interesse zu vergüten.“ Allerdings soll nun das „Interesse“ durchaus auch auf Erfüllung gerichtet sein: „Und also, insofern das Interesse des anderen Contrahenten hierauf geht, den Vertrag selbst zu erfüllen (…).“ 80 Motive I, S. 244. 78

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tieversprechen hafte, dann konnte man der anderen Seite schwerlich die Verpflichtung auferlegen, über das wirkliche Vorhandensein der Vertretungsmacht Erkundigungen einzuziehen. Dass die Haftung des falsus procurator mit dieser Bestimmung keineswegs befriedigend gelöst war, ist in den Beratungen der Kommission für die zweite Lesung deutlich geworden. Nicht weniger als 7 Anträge wurden gestellt, deren jeder die Ersatzpflicht anders geregelt haben wollte.81 Dabei ging es noch einmal ganz grundlegend um die Frage, ob der Vertreter zur Erfüllung des gegebenen Versprechens oder nur zum Ersatz des so genannten negativen Interesses verpflichtet sein soll. Insbesondere sei die Haftung auf Erfüllung in dieser Allgemeinheit nicht recht einleuchtend zu begründen: Die Annahme eines Garantieversprechens sei eine Fiktion und ohnehin nur dann denkbar, wenn der Vertreter im Bewusstsein fehlender Vollmacht handele, nicht aber, wenn er sich über das Vorhandensein derselben im Irrtum befinde. Die alternative Vorstellung, der Vertreter sei der eigentliche Kontrahent, und nur die Wirkungen würden bei bestehender Vollmacht auf den Vertretenen abgelenkt, widerspreche andererseits dem Wesen der unmittelbaren Stellvertretung. „Es bleibe daher nur übrig, davon auszugehen, daß der Vertreter, wenn er als solcher auftrete, dies auf eigene Gefahr tue.“ Insoweit sei aber auch nur der Ersatz des negativen Vertragsinteresses gerechtfertigt. Im Zuge der Diskussion wurde deutlich, dass wohl sinnvoll zwischen dem dolus und der culpa des Vertreters zu unterscheiden sei. Wenn dieser bewusst ohne Vertretungsmacht auftritt, weil er bona fide die Genehmigung sicher erwarte, erscheine die Garantiekonstruktion ganz natürlich, eine Begrenzung der Haftung auf das negative Interesse jedoch gänzlich unbegründet. Anders liege der Fall, wenn er sich im Irrtum über seine Vertretungsmacht befindet. Dieser differenzierte Standpunkt, der im gemeinen Recht insbesondere bei Hölder angedeutet wird,82 wurde in § 179 BGB abschließend formuliert: „(1) Wer als Vertreter einen Vertrag geschlossen hat, ist, sofern er nicht seine Vertretungsmacht nachweist, dem andern Teile nach dessen Wahl zur Erfüllung oder zum Schadensersatz verpflichtet, wenn der Vertretene die Genehmigung des Vertrages verweigert. (2) Hat der Vertreter den Mangel der Vertretungsmacht nicht gekannt, so ist er nur zum Ersatze desjenigen Schadens verpflichtet, welchen der andere Teil dadurch erleidet, daß er auf die Vertretungsmacht vertraut, jedoch nicht über den Betrag des Interesses hinaus, welches der andere Teil an der Wirksamkeit des Vertrages hat. (3) Der Vertreter haftet nicht, wenn der andere Teil den Mangel der Vertretungsmacht kannte oder kennen musste …“.  Hierzu Protokolle I, S. 156–164. Pandekten (1891), § 57, S. 295: „War der Mangel der Vollmacht dolos verschwiegen, so schuldet der Handelnde dem Getäuschten den Ersatz des durch diesen Mangel ihm erwachsenen Schadens. Im Falle irrthümlich angenommener Vollmacht schuldet der Handelnde dem Getäuschten den Ersatz seines Interesses am Unterbleiben der Handlung.“ 81

82 Hölder,

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Zutreffend bemerkt zu dieser Regelung Walter Brock: „Die Lösung, die hiermit unsere Frage im BGB. gefunden hat, scheint uns eine durchaus sachgemäße zu sein. Die Streitigkeiten, welche … über die Frage geherrscht haben, haben überdies das Gute gezeitigt, daß wir nunmehr im BGB. eine Norm haben, die durch die klare und ausführliche Auseinandersetzung ihres Inhalts kaum Raum der Möglichkeit geben wird, in prinzipiellen Punkten über dieselbe verschiedener Meinung zu sein und die Interpretation subjektiven Auffassungen anzupassen.“83 Oder sagen wir es so: Die widerstreitenden Prinzipien des rechtsgeschäftlichen Haftungsdreiecks wurden durch eine ebenso intensive wie konstruktive Auseinandersetzung in eine dem Verhältnis der Stellvertretung angemessene und passende Form, Willensfreiheit und Vertrauensschutz mittels Verschuldensprinzips zu einem optimalen Ausgleich gebracht. Im Ergebnis steht eine allgemeine Regelung, die Verkehrsschutz und Einzelfallgerechtigkeit optimal miteinander zu verbinden sucht. 3. Unzuverlässigkeit im Willen „Labeo ait convenire posse vel re: vel per epistulam vel per nuntium inter absentes quoque posse.“ Paulus, D, ​2, ​14, ​2 pr.

Bei der Diskussion um die Unzuverlässigkeit der Erklärung lassen sich allein aufgrund des Schadensersatzanspruchs immer noch Parallelen zur Jhering’schen c. i. c. entdecken. Wie gesehen ist in keinem der Fälle die culpa eine causa obligationis. Haftungsgrund ist das gegebene Wort. Der Gesichtspunkt einer mittels Schadensersatz zwischen voller Bindung und voller Unverbindlichkeit zu erreichenden Differenzierung nach dem Grad des Verschuldens (dolus oder culpa) tritt endlich bei der dogmatischen Auflösung der 4. Fallgruppe ganz in den Hintergrund.84 Hier, bei der Wankelhaftigkeit des Willens selbst, wird nun aus guten Gründen, insbesondere im Interesse des Verkehrsschutzes das Versprechensdogma ohne weitere Abstriche verwirklicht.

 Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 84 f.  Wening-Ingenheim, Ueber den Zeitpunkt der Gültigkeit eines unter Abwesenden geschlossenen Vertrages, AcP 2 (1819), 267 ff.; Scheurl, Vertragsschluß unter Abwesenden, JhJb 2 (1857), 259 ff.; Bekker, Verträge unter Abwesenden, Jahrb. d. gem. dt. Rechts, 2 (1858), 342 ff.; Regelsberger, Civilrechtliche Erörterungen I, 1868; Thon, Haftpflicht des Offerenten bei Widerruf seiner Offerte, AcP 80 (1893), 63 ff.; Köppen, Der obligatorische Vertrag unter Abwesenden, JhJb 11 (1871), 139 ff.; Schott, Der obligatorische Vertrag unter Abwesenden (1873); Hofmann, Die Entstehungsgründe der Obligationen (1874); Kühn, Ueber Vertragsabschluss unter Abwesenden, JhJb 16 (1878), 1 ff.; Kohler, Über den Vertrag unter Abwesenden, ArchBürgR 1 (1889), 283 ff.; Fritze, Unvollendete Willenserklärungen (1896); vgl. auch die zusammenfassende Darstellung bei Windscheid, Pandekten II, § 306; Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 121–129; Benedict, Entmythologisierung (2000), S. 12 ff. 83

84

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Auf den ersten Blick ging es im Kern um eine sehr ähnliche Problematik: Die Frage nach der Haftung für ein gegebenes Wort. Aber anders als bei der Diskrepanz von Wille und Erklärung konnte man bei der Frage nach dem Zeitpunkt der Vollendung eines Rechtsgeschäfts auf Kompromisslösungen zwischen Willens‑ und Vertrauensschutz verzichten. Denn es ging nun schlicht darum, den Wankelmut bei der Willensäußerung generell zu unterbinden, indem der Zeitpunkt der Bindung an den einmal erklärten Willen rechtlich fixiert wird. D. h. das Willensdogma selbst musste seine formale Grenze finden. Wann ist eine Einigung perfekt, wenn der Wille an sich als das einzig Wichtige und Wirksame gedacht werden soll? Diese Frage ist für echte Willenstheoretiker ein schwieriger Fall. Woran soll man einen vollendeten Willen erkennen, wenn nicht an der ihm gemäßen, den Willen gleichsam vollziehenden Handlung? Oder auf den Vertragsschluss gewendet: Das, was unter Geltung eines vertraglichen Formalismus keine größeren Schwierigkeiten bereitet, wird unter der Prämisse einer allgemeinen Gültigkeit des Konsensualvertrages zu einem handfesten Problem: Woran ist der Konsens zu erkennen? Die von Jhering benannten zwei Problemfälle beim Vertragsschluss (Widerruf und Tod des Offerenten) fanden die adäquate Lösung erst in dem Moment, da der Blick von der Vollendung des Vertrages (Wann liegt Konsens vor?) auf die Vollendung der einzelnen Erklärung (Wann bindet ein Versprechen?) konzentriert wurde. Angebot und Annahme waren ganz allgemein als Fälle der Willenserklärung zu begreifen. Mit der Präzisierung des objektiven Tatbestandes einer Willenserklärung und der Unterscheidung zwischen Vollendung (Abgabe) und Wirksamkeit (Zugang) derselben, hing nunmehr auch die Perfektion des Vertrages allein an der Vollendung und Wirksamkeit der Annahmeerklärung.85 Eine „Unbeständigkeit im Willen“ konnte so notwendig nur noch dann relevant werden, wenn es dem Erklärenden gelang, die Wirksamkeit der ursprünglichen Erklärung durch einen rechtzeitigen Widerruf zu verhindern. Doch war in diesem Fall der gute Glaube an die Verbindlichkeit der später oder zeitgleich eintreffenden Erklärung  – und damit ein wesentlicher Haftungsgrund für das Versprechen (Vertrauensschutz) – beseitigt. Aber auch der Fall des Todes war nun leicht deduziert: Eine abgegebene Willenserklärung ist bereits eine vollendete Willenserklärung. Der Tod kann ihre Wirksamkeit nicht hindern.86 Die auch für Jhering durchaus unangenehme Vorstellung, dem Erklärenden seinen Tod als culpa zurechnen zu müssen, ist so der Rechtspraxis und weiteren Rechtswissenschaft als Problem erspart geblieben. Die Einsicht, dass mit der Definition von Abgabe und Zugang einer Willenserklärung auch die Widerrufsproblematik beim Vertragsschluss objektiv gelöst

 Ausf. Benedict, Entmythologisierung (2000), S. 17 ff. Entmythologisierung (2000), S. 21 f., 53.

85

86 Benedict,

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ist, lag freilich nicht sogleich auf offener Hand, und sie hat auch bis heute noch keine vollständige Verbreitung gefunden. Das betrifft nicht nur die Rechtskreise, in denen die Frage nach der Perfektion eines Vertrages immer noch ein offenes Thema ist (etwa im Common Law oder im französischen Recht87). Auch im BGB selbst finden sich mit §§ 145, 153 BGB Regelungen, die die Konsequenz des § 130 BGB entweder nur noch einmal wiederholen (§ 145) oder bedenklich modifizieren (§ 153)88. Gleichwohl: bei den §§ 145, 130 I, II BGB handelt es sich nicht um völlig isolierte positive Anordnungen des Gesetzes, sondern um konsequente Anordnungen, die in der gemeinrechtlichen Auseinandersetzung um die Dogmatik der Willenserklärung gefunden wurden. Die bis heute zuweilen bestehende Unsicherheit verdeutlicht ein Blick in die neueste Kodifikation jener Zeit: Das ADHGB hatte das Problem nämlich sicherheitshalber gleich zweimal behandelt. In Art. 319 I schließt es den Widerruf des Offerenten aus, indem es die Bindung an den Antrag vorschreibt, um sogleich in Art. 320 I festzulegen, dass ein Widerruf nur dann Wirksamkeit erlangt, wenn er früher oder zu gleicher Zeit mit dem Antrag zugeht. Wenn aber die Möglichkeit zum Widerruf definitiv geregelt ist, wozu dient dann die Anordnung, dass der Offerent an seinen Antrag gebunden ist? Mit der erst später entwickelten Erkenntnis, dass sowohl die Offerte als auch der Widerruf jeweils Willenserklärungen sind, die schließlich mit ihrem Zugang wirksam werden, liegt hierin eine Redundanz, die sich freilich auch noch im BGB wiederfindet: § 145 BGB ist streng genommen eine narrative Norm; denn sie hat neben § 130 BGB keine eigenständige Bedeutung. Wichtig ist festzuhalten: Auch Jherings vierte Fallgruppe seiner c. i. c. betrifft Fragen, die wir heute ohne Bedenken zum Kernbereich der Rechtsgeschäftslehre zählen. So hat Zitelmann § 130 BGB (E I § 74 Abs. 1) nicht ohne Berechtigung als den „Centralparagraphen des ganzen Rechtsgeschäftsgebietes“89 bezeichnet. Man hätte sich sicher auch mit Ansprüchen aus culpa in contrahendo bis heute weiter behelfen können, so wie wir dies heute für viele andere Fallgruppen mit diesem Haftungsinstitut tun. Jhering selbst aber hat den Weg gewiesen: Die culpa

87  Ausgehend von der freien Widerrufbarkeit der Offerte werden die Probleme noch ganz adäquat zum gemeinrechtlichen Streit diskutiert; insb. findet sich im französischen Recht eine Lösung mittels c. i. c., vgl. S. Lorenz, Die culpa in contrahendo im französischen Recht, ZEuP 1994, 218/227 ff. 88  Zweifelhaft ist hier der letzte Rest Willensdogma, wenn für die Wirksamkeit des Vertrages auf den „mutmaßlichen Willen“ des Verstorbenen abzustellen ist. Das Problem hat zuerst richtig gesehen: Kuhlenbeck, Zur Lehre vom sog. Vertragsinteresse (§ 153), DJZ 1905, 1142, der hier erneut mit dem negativen Vertragsinteresse, das er als allgemeines Prinzip ansieht, helfen wollte. Akzeptiert man aber, dass nach dem allgemeinen Prinzip des § 130 BGB die Erklärung des Verstorbenen bereits wirksam geworden ist, dann bedarf es m. E. weder eines Rekurses auf den „mutmaßlichen Willen“ noch einen solchen auf das negative Interesse. 89 Zitelmann, Die Rechtsgeschäfte im Entwurf I (1889), S. 98.

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wird als Haftungsgrund der „Idee der Verhältnisse“ nicht gerecht, und es ist sicher immer ein Zeichen für das wissenschaftliche Selbstverständnis einer Zeit, mit welchen dogmatischen Konstruktionen sie sich umgibt. So wie der Umgang mit dem dolus im römischen Recht zu einer immer feineren Haftungsdogmatik in objektiven Haftungsregelungen, ja geradezu das Vertrags‑ und Schuldrecht aus dem Delikt herausgeführt hat, so hat auch Jherings auf Scheinkontrakte eingeschränkte actio culpae zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Vertragsrechts (als Rechtsgeschäftslehre) geführt. Fälle der „culpa in contrahendo“ sind so im gesamten Vertrags‑ und Schuldrecht notwendig ubiquitär: Vom Vertragsschluss über die Willensmängel und Leistungsstörungen bis hin zu den Gewährleistungsrechten und Nebenpflichten des besonderen Schuldrechts  – überall lässt sich in mehr oder weniger objektivierter Form die Sanktionierung vorvertraglichen Verschuldens finden. Die culpa in contrahendo bei unwirksamen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen führte zu einer Präzisierung der Regeln über Vertragsschluss und Wirksamkeit von Verträgen, und die von F. Mommsen aufgeführten Fälle stehen in einer Linie mit der actio doli (genauer: dem dolus in contrahendo)90 bei der Präzisierung des Pflichtenprogramms von wirksamen Verträgen. Der Zugang zur modernen Debatte um die culpa in contrahendo und ihre rechtsdogmatische Lozierung erfordert daher auch hier zunächst eine methodologische Klarstellung: Liegt die Aufgabe dogmatischer Wissenschaft darin, allgemeine Prinzipien als flexible Haftungsregeln zu pflegen, oder darin, konkurrierende Prinzipien zum Ausgleich zu bringen und in konkreten Normen praktisch und justiziabel zu machen? Die Verfasser des BGB jedenfalls sind mit dem rechtstheoretischen Selbstverständnis der Zeit von letzterem ausgegangen, und insoweit muss es nicht verwundern, wenn sich zunächst ein anderes Grundverständnis von der Aufgabe der Jurisprudenz als Wissenschaft verbreiten musste, bevor die culpa in contrahendo zu dem Haftungsinstitut werden konnte, das sie heute ist. Wir können dieses neue methodologische Grundverständnis als Geist dogmatischer Abstraktion oder in Anlehnung an die gewonnenen Einsichten beim gereiften Jhering auch als Prinzipienkultus bezeichnen. Als rechtswissenschaftliche Leistung (ggf. als „Entdeckung“) wird demnach das Resultat gefeiert, bei dem ausdifferenzierte Regelungen wieder verallgemeinert und schließlich auf eine „kahle Formel“ gebracht werden.

90 Hierzu

bereits Burckhardt, Culpa lata (1885), S. 101 ff.

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III. Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse? „Wenn aber irgend ein Prinzip der analogen Ausdehnung fähig ist, so ist es … dasjenige des Vertrauensinteresses, welches in den §§ 122, 179, 307 nur fragmentarisch seinen gesetzgeberischen Ausdruck gefunden hat.“ Ludwig Kuhlenbeck, 190591 „Nietzsche’s observation, that the most common stupidity consists in forgetting what one is trying to do, retains a discomforting relevance to legal science.“ Lon L. Fuller / ​William R. Perdue, 193692

Wir haben die Diskussion um die Auflösung des Willensdogmas und der Jhering’schen Konstruktion vor allem unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: Der erste betraf die Methode der Rechtsfindung durch differenzierten Blick auf die jeweiligen Rechtsverhältnisse. Der zweite betraf das Spektrum der Argumentation im Rahmen des von mir so genannten rechtsgeschäftlichen Haftungsdreiecks (Wille, Vertrauen, Verschulden). Als grundsätzliche Position ausgespart – und lediglich für die dogmatische Einordnung des § 122 BGB kurz skizziert – blieb die im Anschluss an die Kodifikation der §§ 122, 179, 307 a. F. BGB sich kurzzeitig etablierende „Lehre vom negativen Vertragsinteresse“.93 Auf diese Lehre ist im Folgenden noch näher einzugehen; denn in ihr liegt nicht nur eine wesentliche Wurzel auch für die Reinkarnation der culpa in contrahendo, sondern auch eine bis heute andauernde Faszination für den Gedanken einer Differenzierung zwischen einem sogenannten positiven und einem negativen Interesse. Jherings Idee, über die Differenzierung bei den Rechtsfolgen das dogmatische Problem der Nichtigkeit zu überwinden, hat eine ganz eigenständige Entwicklung ausgelöst, die im Ergebnis an die Wurzel des Vertragsrechts überhaupt führt. Es geht bis heute um zwei grundlegende Fragen: 1. Welche Rechtsfolgen zeitigt ein wirksames Rechtsgeschäft? 2. Welche Rechtsfolgen zeitigt ein unwirksames Rechtsgeschäft? Die Antwort auf beide Fragen glaubt man bis heute in der recht eingängigen Differenzierung zwischen dem Gedanken von einem Anspruch auf das Erfüllungs Zur Lehre vom sog. negativen Vertragsinteresse (§ 153), DJZ 1905, 1142/1144. Reliance Interest in Contract Damages, Yale Law Journal 46 (1936), 52. 93  Halben, Ueber den Schadenersatz aus nichtigen Verträgen (1895); Melliger, Culpa in contrahendo (1896, 2. Aufl. 1898); Petersen, Schadensersatz bei nichtigen Verträgen (1897); Lilie, Schadensersatz bei unwirksamen Verträgen (1898); Greven, Das negative Vertragsinteresse (1898); Moritz, Läßt sich bei unvollendeten oder nichtigen Verträgen eine Klage auf Schadensersatz begründen? (1899); Schmidt, Die Lehre vom negativen Vertragsinteresse (1900); Andreas Fritsch, Das negative Vertragsinteresse (1900); Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902); Weinberg, Der Ersatz des negativen Interesses nach bürgerlichem Recht (1903); Kuhlenbeck, Zur Lehre vom sog. Vertragsinteresse, DJZ 1905, 1142–1146; Niermann, Die Lehre vom negativen Vertragsinteresse (1908); Hammel, Die sog. culpa in contrahendo (1912). 91

92 The

III. Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse?

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interesse (als positives Interesse) bei wirksamen und einem Anspruch auf das Vertrauensinteresse (als negatives Interesse) bei unwirksamen Rechtsgeschäften gefunden zu haben. Doch zeigt bereits ein oberflächlicher Blick nicht nur in das reformierte deutsche Schuldrecht, dass diese Differenzierung trotz Kodifikation der culpa in contrahendo in der Sache offensichtlich keine Rolle mehr spielt. Das „negative Vertragsinteresse“ steht isoliert und gleichsam als Denkmal einer längst vergangenen gemeinrechtlichen Debatte noch in den §§ 122, 179 BGB, ohne dass heute noch irgendwer wirklich viel damit anzufangen weiß. Das aber liegt nicht zuletzt daran, dass die entscheidende Frage bisher offensichtlich nicht plausibel beantwortet wurde: Was genau ist eigentlich das „negative Vertragsinteresse“? 1. Die Rechtsfolge als Anspruchsbegründung? „Das negative Interesse gewinnt immer mehr Anhänger, aber die Theorie sträubt sich dagegen, weil sie keine rechtliche Formulierung zu finden weiss. Man hat Garantie und culpa als Erklärungsmittel betrachtet, aber unbegründet; denn die culpa schrumpft zur causa zusammen …“ Caspar Melliger, 189894

Wenn man sich zunächst recht unbedarft unter der „Lehre vom negativen Vertragsinteresse“ etwas vorstellen wollte, dann wäre dies wohl die Erwartung, eben hier nun eine Antwort zu erhalten auf die bereits weiter oben gestellte kritische Frage, was denn genau das negative dergestalt vom positiven Interesse soll unterscheiden können, dass damit ein völlig neuer Schadensersatzanspruch legitimiert würde. Wir haben es bereits bei der Betrachtung von Jherings Revisionsschrift zum Schuldmoment gesehen: Die unterschiedliche Schwere des Schuldvorwurfes erlaubte wohl eine Differenzierung bei den Rechtsfolgen. Aber geht das auch umgekehrt: Lässt sich zunächst eine Rechtsfolge denken und um diese herum ein Anspruch konstruieren? Man sollte zweifeln, doch genau das ist das zentrale Credo der o. g. Lehre gewesen. Das Dogma war hier weder der Wille noch die culpa oder die bona fides; das Dogma bestand in der Annahme, dass ein Schadensersatzanspruch auf das negative Interesse immer dann gerechtfertigt sei, wenn jemand zu seinem Schaden auf ein unwirksames Rechtsgeschäft vertraut hat.95 Man kann die Leitfrage dieser „Lehre“ auch methodologisch anders, nämlich so formulieren, wie sie dann später, d. h. nach Inkrafttreten des BGB, auch in 94  Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen Verträgen nach dem gemeinen und schweizerischen Obligationenrecht sowie dem deutschen bürgerlichen Gesetzbuch (1898), S. 11. 95  In diesem Sinne, aber deutlich abstrakter verfährt neuerlich wieder Ackermann, Schutz des negativen Interesses (2007): Zum Ersatz des positiven Interesses gelange man bei „Enttäuschung der durch das Verhalten geweckten normativen Erwartung“; zum Ersatz des negativen Interesses soll verbunden sein, wenn „das Verhalten selbst (das Leistungsversprechen) als zum Ersatz verpflichtend bewertet“ werde.

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§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB

Erscheinung getreten ist: Lässt sich den §§ 122 Abs. 1, 179 Abs. 2 (307, 309 a. F.) BGB ein allgemeines Prinzip entnehmen? Die „Lehre vom negativen Interesse“ steht sohin lediglich synonym für das, was später wieder allgemein als culpa in contrahendo oder „Verschulden bei Vertragsschluss“ bezeichnet wurde. Sie hatte in der deutschen Zivilrechtswissenschaft daher auch nur ein relativ kurzes Zwischenspiel – und zwar aus zwei Gründen: 1. Vor Inkrafttreten des BGB herrschte, wie gesehen, in der gemeinrechtlichen Diskussion die differenzierte und mithin konkrete Betrachtung einzelner Rechtsverhältnisse vor. Diese konkrete Anschauung und nicht die abstrakte Frage, was vielleicht ganz allgemein bei unwirksamen Verträgen verlangt werden könne, bestimmte die jeweilige Regelung über die Rechtsfolgen der Geschäftsunfähigkeit (§§ 104 ff.), der Diskrepanz von Wille und Erklärung (§§ 116 ff.), einer Willenserklärung schlechthin (§ 130), der vertraglichen Einigung (§§ 145 ff.), der Stellvertretung (§§ 164 ff.) usw. Kurz: Im gemeinen Recht fand die von Jhering vollführte abstrakte Erörterung der Nichtigkeit und ihrer Folgen keinen allgemeinen Beifall. Jhering selbst hatte sich von ihr kuriert. 2. Der methodologische Geist änderte sich geradezu schlagartig mit der Kodifikation des BGB. Es ist insoweit kein Wunder, wenn die Schriften zur diesbezüglichen „Lehre“ rundweg um die Jahrhundertwende verfasst wurden. Angesichts der gesetzlichen Anerkennung der von Jhering nachhaltig geprägten Differenzierung stellte sich noch einmal die Frage nach ihrer Begründung, die doch wohl nur in einem einheitlichen Prinzip zu suchen sein konnte. So musterte man gleichsam noch einmal und im Ergebnis wenig erfolgreich die gesamte Ideengeschichte des gemeinen Rechts auf der Suche nach einer allgemeingültigen Konstruktion für den Anspruch auf das „negative Interesse“ durch: Mandat96, culpa in contrahendo97, actio doli 98, Garantievertrag99, bona 96  Scheurl, JhJb 2 (1857), 259/274 (bei Widerruf einer Offerte); dem folgt Hölder, Pandekten (1891), § 42, Fn. 6; differenzierend und eher mit Blick auf eine Beschränkung der Haftung auf die Regeln des Mandats: F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 49 f., 79 f., 89 (Unmöglichkeit), 105 (Irrtum), 129 (Bote), 134 f. (Auslobung); doch geht es dann in den genannten Fällen um die Wirksamkeit der Erklärung bzw. das Erfüllungsinteresse: „Es kann sich nur fragen, ob nicht von dem, den Bestimmungen über das Mandat zu Grunde liegenden Gesichtspunkt aus unter Umständen eine Haftung, zwar nicht zur Leistung des negativen Interesses, wohl aber zur Erstattung des positiven Schadens anzunehmen ist …“ (S. 89); nur beim Offertenwiderruf will er mittels Mandatsklage die Auslagen ersetzen (S. 134 f.), wenn „mit er Offerte die ausdrückliche Aufforderung zu einem sofortigen entsprechenden Handeln verbunden gewesen ist“. Grundsätzlich vertritt Mommsen auch nach Jherings Kritik weiterhin die Gleichsetzung von culpa lata und dolus im Rahmen der actio doli, vgl. den ausf. „Anhang II“, S. 175 ff. 97  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1 ff. 98  F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 185–214 mit Ausdehnung auf culpa lata; daneben noch Ude, AcP 48 (1865), 255, 258 ff. (bei Unmöglichkeit); speziell für den Fall der Diskrepanz von Wille und Erklärung Unterstützung auch bei Regelsberger, Civilrechtliche Erörterungen (1868), S. 19; Windscheid, Pandekten I, § 75 Fn. 1. 99 Hierzu werden genannt: Windscheid in seinen Pandekten 1.–5. Aufl. § 307, Fn. 2/5, 10–12;

III. Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse?

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fides100, Veranlassungsprinzip101. Dabei wurde gar nicht bemerkt, dass ganz unabhängig von der Begründung, der man letztlich zuneigte, dieselbe über die Legitimation eines „negativen Interesses“ gar nichts aussagte. Man konnte ebenso gut eine rechtsgeschäftliche Bindung ohne Differenzierung gänzlich ablehnen (Geschäftsunfähige, Minderjährige, nur deliktische Haftung: §§ 827 ff.) oder eine solche kategorisch befürworten (Wirksamkeit einer Offerte: §§ 130, 145; Bindung des falsus procurator: § 179 Abs. 1), die Differenzierung bei den Haftungsfolgen vom Verschuldensgrad abhängig machen (§§ 116, 118, 179 Abs. 2/3) oder gänzlich auf das Verschulden als Element subjektiven Unrechts verzichten (§§ 119, 120). Selbst die schlichte Differenzierung beim Verschuldensprinzip (§ 122 einerseits und §§ 307, 309 a. F. andererseits) ist nicht etwa einer Willkür geschuldet, sondern findet ihre plausible Ursache schlicht darin, dass ein Willensmangel im Innern des Erklärenden seine Ursache findet, während es bei objektiver Unmöglichkeit beiden Kontrahenten möglich ist, sich über das Vorhandensein des Objekts zu vergewissern („darum das weniger strenge Verschuldensprinzip“).102 Schließlich konstatierte immerhin Walter § 308, Fn. 5–8; § 309 Fn 5; § 315 Fn. 7 und später wieder korrigiert: Regelsberger, in Endemanns Handbuch des Handelsrechts II (1882), S. 414 Fn. 8; Windscheid ab der 6. Aufl. seiner Pandekten § 307 Fn. 5; daneben noch Drechsler, Über den Schadensersatz bei nichtigen Verträgen (1873), S. 58 ff. 100  Insb. zum Offertenwiderruf: Thöl, Handelsrecht I, § 237: „Der Antragende, welcher seinen Antrag unter Umständen zurücknimmt, unter welchen ohne die Zurücknahme ein Vertrag zwischen ihm und demjenigen, welchem er anbot, begründet gewesen wäre, muß diesem allen Schaden ersetzen, den dieser infolge der Voraussetzung erlitt, daß jener bei seinem Antrag geblieben ist. Denn zu dieser Voraussetzung hat er nach Treu und Glauben ein Recht.“; Goldschmidt, ZHR 13 (1869), 332/335, gegen Regelsbergers Konstruktion vom Widerrufsverzicht: „Ließe sich die Entscheidung nicht einfacher auf das Postulat der bona fides zurückführen?“; Eisele, JhJb 25 (1887), 414/472 ff.: „Das fundamentale Postulat der bona fides ermöglicht erst den Verkehr … Da die Rechtsordnung zweifellos Verkehr will, so muß in ihr ein Satz enthalten und anerkannt sein, daß jeder, an den ein anderer mit seiner Vertragserklärung herantritt, sich darauf verlassen dürfe, daß der ihm gewordenen Vertragserklärung ein entsprechender Wille zugrunde liegt.“ 101  Regelsberger, in Endemanns Handbuch des Handelsrechts II (1882), S. 414: Die Ersatzpflicht lasse sich nicht aus dem römischen Recht herleiten, sondern habe ihre Wurzeln im deutschen Recht, wonach der Urheber eines Schadens haftbar ist, es mag ihm ein Verschulden zur Last fallen oder nicht; Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 145 ff., der auch Eisele, JhJb 25 (1887), 414/484 hierherzählen will; Hammel, Culpa in contrahendo (1912), S. 57: „Muß einmal ein Schaden getragen werden, so scheint uns unter mindestens gleichen Umständen derjenige, der ihn verursacht hat, näher hierzu berufen zu sein, als der bloß passiv Beteiligte.“ 102  Hammel, Culpa in contrahendo (1912), S. 53, in Bezug auf Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 201 f.: „Man wird mit Fug legislatorisch vermeiden über die Schuldhaftung ohne Notwendigkeit hinauszugehen. Solche Notwendigkeit liegt vor, wenn der eine Kontrahent durch seine eigene Person die Vertragsnichtigkeit herbeiführt. Im Falle des Irrtums wäre der schuldlos gutgläubige Mitkontrahent dem Zufalle preisgegeben, alle seine geschäftlichen Aktionen würden ungewiß und gefährlich sein, wenn er nicht durch eine unbedingte Schadloshaltung gesichert wäre. Bei der mangelnden Vertretungsbefugnis ist zwar die Möglichkeit der Feststellung dieses Mangels seitens des Dritten fast immer gegeben, aber sie würde eine solche

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Brock, dass es wohl ein einheitliches Haftungsprinzip nicht gebe, weil „vielleicht verschiedene Arten unwirksamer Verträge eine unterschiedliche Behandlung erheischen könnten“.103 Doch schließlich ging der Geist der Abstraktion mit der „Wiederentdeckung“ der culpa in contrahendo nahezu blind über alles hinweg: auch über die „Lehre vom negativen Interesse“, die erneut in einer Haftungskonstruktion aufging, die gerade erst abgelehnt worden war. Als Folge dieser Ausdehnung geblieben ist eine mittlerweile eigenständige und wenig fruchtbare Debatte um die Rechtsfolgen der culpa in contrahendo, die schon eine eigene Bibliothek füllt.104 Die Haftung kann sich mittlerweile auf jedes erdenkliche Interesse erstrecken: von der Minderung über die Vertragsauflösung bis zum Schadensersatz ohne besondere Begrenzung auf ein positives Interesse. Ob ein Vertrag geschlossen wurde oder nicht, die culpa in contrahendo hilft die Begrenzungen des Deliktsrechts zu umschiffen und Vertragsfolgen zu begründen oder zu beseitigen und alles unter dem Gesichtspunkt des negativen Interesses. Natürlich: Mit der zunehmenden Ausbreitung des Haftungsinstituts konnte die ursprünglich nur auf unwirksame oder nicht zur Perfection gelangte Verträge zugeschnittene Differenzierung nicht mehr genügen: Inwieweit sollte es gerechtfertigt sein, das Integritätsinteresse des Vertragspartners, bei Vertragsverhandlungen oder sonstigem „sozialen Kontakt“ nicht verletzt zu werden, auf das „Erfüllungsinteresse“ zu beschränken? Was ist das damnum emergens bei einem nun doch wirksamen, aber unerwünschten Vertrag? Wie wenig die spätere Zeit noch vom Kriterium des „negativen Vertragsinteresses“ selbst in seinem originäSchwerfälligkeit des Verkehrs mit sich bringen, daß es durchaus angebracht ist, den Dritten durch Zuerkennen eines unbedingten Ersatzanspruches auf das Wort des Vertreters in billiger Weise vertrauen zu lassen. Anders liegt die Sache bei der Vertragsnichtigkeit wegen Mangels im Objekt. Hier ist zwar auch die auf die kontraktliche Verpflichtung hinzielende persönliche Beziehung der Parteien vorhanden, aber das bedeutsame Moment des persönlichen Vertrauens, gleichsam die Abhängigkeit des einen Kontrahenten vom andern, fällt fort. Dem Vertragsgegenstand stehen prinzipiell beide Parteien gleichmäßig gegenüber. … Das objektive Verhältnis des Schuldners und Gläubigers zur Vertragsleistung läßt es auch einwandsfrei erscheinen, daß gegebenen Falles der Gläubiger dem Schuldner ersatzpflichtig werden kann.“ 103 Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 194. 104 Vgl. etwa nur: Wilutzki, Was gehört zum Vertrauensinteresse, Recht 1901, 189 ff.; Rabel, Vertrauensschaden, Zeitschrift f. schweiz. Recht, 27 (1908), S. 291 ff.; Riezler, Zur Begrenzung des negativen Interesses, DJZ 1912, 1176 ff.; Keller, Das negative Interesse im Verhältnis zum positiven Interesse (1949); Huang, Umfang des Schadensersatzanspruchs bei culpa in contrahendo (1974); Rengier, Die Abgrenzung des positiven Interesses vom negativen Vertragsinteresse und vom Integritätsinteresse (1977); Tutmann, Minderung des Kaufpreises aufgrund von culpa in contrahendo (1982); Hans Stoll, Haftungsfolgen fehlerhafter Erklärungen beim Vertragsschluß (1983); Tiedtke, Der Inhalt des Schadensersatzanspruchs aus Verschulden beim Vertragsschluß wegen fehlender Aufklärung, JZ 1989, 569 ff.; Medicus, Ansprüche auf das Erfüllungsinteresse aus Verschulden bei Vertragsschluß? (1992), S. 539/556 ff.; Gebhardt, Die Herabsetzung der Gegenleistung nach culpa in contrahendo (2001); Nickel, Die Rechtsfolgen der culpa in contrahendo (2004); B. Mertens, Die Rechtsfolgen einer Haftung aus culpa in contrahendo beim zustande gekommenen Vertrag nach neuem Recht, ZGS 2004, 67 ff.

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ren Anwendungsbereich gehalten hat, offenbart das schuldrechtsmodernisierte BGB, das nunmehr zwar die culpa in contrahendo, nicht aber die mit ihr einst verbundene Haftung auf das Vertrauensinteresse kennt. Im Gegenteil: Die ganze gemeinrechtliche Debatte um den Inhalt der römischen Quellen bei anfänglicher Unmöglichkeit scheint Makulatur, wenn der Gläubiger nunmehr von vornherein das Erfüllungsinteresse soll verlangen können (vgl. jetzt § 311a BGB n. F. an Stelle von § 307 BGB a. F.). Diese Entwicklung scheint zu bestätigen, was bereits angesichts der Jhering’schen Konstruktion bemängelt wurde: Der Rekurs auf die Rechtsfolge ist vielleicht doch nicht der maßgebliche Gedanke der Rechtsfortbildung gewesen. Das war er nicht (jedenfalls nicht hinreichend deutlich) bei Jhering und das war er erst recht nicht im Rahmen der späteren Wiederentdeckung und Ausdehnung. Gleichwohl steckt in dem Gedanken vom „negativen Interesse“ ein durchaus beachtenswerter Kern, der auch bei der Legitimation der culpa in contrahendo zuweilen durchaus betont wird und der für eine spontane Sympathie immer gut ist: Es geht, wie gesehen, um ein Drittes, eine Vermittlung, um eine Alternative zum Alles-oder-Nichts-Prinzip. Die Zivilrechtsdogmatik hat mit der „Lehre vom negativen Vertragsinteresse“ und ihrer leidigen Suche nach einer allgemeingültigen Konstruktion für ein vermutetes allgemeines Haftungsprinzip den eigentlich starken Gedanken, der hinter der Differenzierung auf der Rechtsfolgenseite bis heute steht, leider völlig in den Hintergrund treten lassen. Aber: Die Vorstellung von einer Mitte zwischen zwei Extrempositionen ist schon aus der Disputierkunst der Scholastik bekannt, die sich in der Faszination für die Zahl 3 bis zu einem neuen formalen Extrem bei Kant und dann vor allem in der Dialektik Hegels bewahrt und Ausdruck gefunden hat: Wenn sich nun diese eher formale Suche nach der Mitte mit der aristotelischen Idee einer Gerechtigkeit als Mitte verbinden kann, so gibt das freilich auch für die juristische Diskussion einen Standpunkt, den man überall leicht finden und der sich auch immer gut einnehmen lässt: 1. These (Willensdogma), 2. Antithese (Vertrauensdogma), 3. Synthese (negatives Vertragsinteresse bei Diskrepanz von Wille und Vertrauen).105 Worin liegt nun aber die Mitte einer „relativen Gerechtigkeit“ beim „negativen Vertragsinteresse“? Man könnte leicht versucht sein, sie darin zu sehen, dass das negative Interesse weniger als das positive sei. So jedenfalls suggeriert es die begriffliche Konnotation, und das war wohl durchaus auch die Grundüberlegung bei Jhering: „Daß die Interessenforderung des Klägers, wie sie sich einerseits bis zur Höhe des Erfüllungsinteresses erheben, so andererseits auf Nichts reduciren kann, bedarf nicht erst der Bemerkung.“106 105 In diesem Sinne Andeutungen bei Hammel, Culpa in contrahendo (1912), S. 57: „Hinter den Bestimmungen steht also der Gedanke sozial gerechter Schadensverteilung, der ‚relativen Gerechtigkeit‘ (…).“ 106 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/22.

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Doch hinge hier alles oder doch sehr viel von der Definition des „negativen Vertragsinteresses“ ab. Und gerade insoweit bestehen sofort Zweifel, weil alle Vertreter der schadensrechtlichen Mittellösung darin übereinstimmen, dass das negative nicht nur mit dem positiven Interesse identisch sein, sondern es sogar übersteigen könne.107 Der ausdrückliche legislatorische Hinweis auf die Begrenzung des negativen durch das positive Interesse in den §§ 122, 179, 307 a. F. BGB macht das Problem deutlich. Worum aber geht es dann? Zur Veranschaulichung des Problems ist es sinnvoll, sich zunächst einmal das Extrem dieser Differenzierung und mithin die Früchte anzuschauen, welche diese Lehre im Common Law hervorgebracht hat. Nennen wir es kurz: den Abschied vom Dogma einer Erfüllungshaftung überhaupt! 2. Export – Import: „reliance interest“ und „efficient breach“ „Might it not be that the real oddity lies in the belief that a bare promise creates a moral obligation and should create a legal obligation, without any inquiry into the reason for which the promise was given, or the effect that the promise has had.“ Patrick Selim Atiyah, 1978108

Im Vertragsrecht des Common Law ist der Gedanke einer Differenzierung zwischen positivem Interesse (expectation interest) und negativem Interesse (reliance interest) nämlich keineswegs unbekannt. Im Gegenteil: Hier, wo es weniger um dogmatische Konstruktion als um eine pragmatisch getragene Suche nach Begründungen für gerechte Entscheidungen geht, hat die deutsche Lehre mit dem berühmten Aufsatz von Lon Fuller und William Perdue nachhaltig gewirkt.109 Hier konnte sich der eigentliche Gedanke, der das negative Interesse (reliance interest) vom positiven (expectation interest) unterscheidet, relativ unbeschadet von dogmatischen Restriktionen entfalten. Ja, die Faszination für diesen Gedanken ist sogar über die Ausgangsfrage nach den Rechtsfolgen eines unwirksamen Vertrages hinaus und auf die Frage nach den Rechtsfolgen eines wirksamen Vertrages übergegangen und scheint nunmehr im Zuge des economic approach und in Gestalt der Lehre vom efficient breach auch in Deutschland wieder reimportiert zu werden: Warum soll ein Versprechen, das noch zu keinerlei Vertrauensdisposition beim Versprechensempfänger geführt hat, überhaupt 107  Die Gleichheit hatte bereits Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), S. 21 eingeräumt: „Das negative Interesse kann unter Umständen die Höhe des positiven erreichen.“; bereits Bähr, JhJb 6 (1863), 286/306, hat aber darauf hingewiesen, dass das negative Interesse auch das positive übersteigen kann. Das wurde dann – soweit ich sehe – von niemandem mehr in Frage gestellt. 108 Contracts, Promises and the Law of Obligations, 94 L. Q. R. (1978), 193 ff., in: ders., Essays on Contract (1988), S. 39. 109  Fuller / ​Perdue, The Reliance Interest in Contract Damages, Yale Law Journal 46 (1936), 52–96, 373–420.

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rechtlich bindend sein? Und warum sollte sich der Versprechende nicht ggf. auch von der Verbindlichkeit seines Versprechens durch Ersatz des Vertrauensschadens ‚freikaufen‘ dürfen, wenn er sich eines Besseren besonnen hat?110 Die entsprechende Frage ist aufgeworfen bei Fuller / ​Perdue: „It may be said parenthetically that the discussion which follows, though directed primeraly to the normal measure of recovery where damages are sought, also has relevance to the more general question, why should a promise which has not been relied on ever be enforced at all, whether by a decree of specific performance or by an award of damages?“111

Es ist hier nicht erforderlich, die gesamte US-amerikanische Entwicklung genauer zu betrachten. Wichtig ist an dieser Stelle nur, auf den eigentlichen Kern der Lehre vom „negativen Vertragsinteresse“ aufmerksam zu machen. Und dieser liegt weniger in der Betrachtung einer vermeintlich unterschiedlichen Höhe des Interesses als in der Vermeidung einer Bindung an ungewollte und daher zumeist auch unsinnige (d. h. in ökonomischer Terminologie: ineffiziente) Verträge. Oder anders formuliert: Es geht um die Beseitigung einer kategorischen Vertragsbindung überhaupt. Das mit dieser (der Vertragsbindung) verbundene Erfüllungsinteresse (expectation interest) muss daher um den Preis einer generell möglichen Erstattung des nur negativen Interesses (reliance interest) ganz allgemein entfallen können. Ganz unabhängig von und noch vor der dynamischen Entfaltung der ökonomischen Theorie hat diesen Standpunkt sehr dezidiert der englische Vertragsrechtler Patrick Selim Atiyah bei dem Versuch zu begründen gesucht, der consideration-Doktrin im englischen Vertragsrecht eine neue Bedeutung beizumessen.112 Seine Grundthese ist im Grunde genommen einfach: Versprechen sollen eine rechtliche Verbindlichkeit nur dann entfalten, wenn in ihrem Gefolge eine Vertrauenshandlung des Versprechensempfängers tatsächlich schon erfolgt ist (detrimental reliance).113 Das heißt, der für den kontinentaleuropäischen Juristen gleichsam selbstverständliche Grundsatz, dass aus jeder vertraglichen Einigung ipso iure ein Erfüllungsanspruch entspringt, kommt hier gar nicht in Betracht. Die rechtliche Verbindlichkeit (enforceability) von Versprechen wird an eine signifikante Vertrauensinvestition geknüpft. Nun muss man wissen, dass ein Anspruch auf Erfüllung (specific performance) im englischen Recht noch nie eine feste Heimstatt gehabt hat, es im Law of

110  Hierzu: Kronman / ​Posner, The Economics of Contract Law (1979); Schäfer / ​Ott, Lehrbuch der Ökonomischen Analyse (2005), S. 456 ff. m. w. N. 111 Fuller / ​Perdue, The Reliance Interest in Contract Damages, Yale Law Journal 46 (1936), 52/57. 112  Zum Problem Benedict, Consideration, RabelsZ 69 (2005), 1 ff. 113 Atiyah, Contract, Promises and the Law of Obligations, 94 L. Q. R. (1978), 193 ff. auch in: Essays on Contract: S. 10–56; ders., Promises, Morals and Law (1981); ders., Executory Contracts, Expectation Damages, and the Economic Analysis of Contract, in: Essays on Contract (1988), S. 150 ff. insb. S. 170 ff.: „Abolition of the Executory Contract?“

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Contract vielmehr schon immer ‚nur‘ (von gewissen Ausnahmen abgesehen) um Schadensersatzansprüche gegangen ist. Damit war es nicht überraschend, dass die von Fuller / ​Perdue aus der deutschen Diskussion in das angloamerikanische Rechtsdenken importierte Differenzierung zwischen reliance und expectation interest eine besondere Faszination auslösen konnte. In der schließlich von Atiyah ausgesprochenen Tendenz, eine Haftung allein an das detrimental reliance zu knüpfen, bedeutet das eben gar nichts anderes als eine weitgehende Freiheit, sich von einem einmal gegebenen Versprechen ohne großes Haftungsrisiko doch wieder distanzieren zu können: Eine Bindung des Versprechenden hängt allein ab von einer im Vertrauen auf das Versprechen erfolgten Disposition (change of position) beim Versprechensempfänger. Die rechtliche Verbindlichkeit eines Versprechens ganz generell an das Vertrauen der anderen Seite zu knüpfen, ist das eine. Hier geht es nicht nur um eine interessante positiv-rechtliche Sinndeutung der consideration-Doktrin im angloamerikanischen Vertragsrecht, sondern, wie der vorliegende Kontext zeigt, eine geradezu universale Problematik der Vertrags‑ bzw. Erklärungshaftung schlechthin (enforceability of contract).114 Hiervon zu trennen ist die zweite Frage, ob mit der Bindung an ein Versprechen eine Haftung auf das Erfüllungs‑ (expectation interest) oder das Vertrauensinteresse (reliance interest) verbunden wird. An dieser Stelle kommt dann der Gedanke vom efficient breach in die Überlegung: Der Promissar kann sich von seinem Versprechen zum Preis der Erstattung des Vertrauensschadens wieder loskaufen. Ob dies für ihn ökonomisch sinnvoller als die Durchführung des Vertrages ist, bleibt seiner eigenen Kalkulation anheimgestellt. Selbstbestimmung und Vertrauensschutz sind hierbei gleichsam unmittelbar miteinander verbunden. Der diesbezügliche Grundgedanke des negativen Vertragsinteresses ist insoweit freilich bereits 1902 von Walther Brock (als vorbildlichem Schüler Rudolf Stammlers) unter Verknüpfung von ökonomischen und ethischen Gesichtspunkten sehr deutlich in der deutschen Diskussion um die Rechtsfolgen unwirksamer Verträge gegen die Erklärungs‑ und Vertrauenstheorie formuliert worden: „Die Erklärungstheorie ist u. E. ein überstiegener Fortschritt gegenüber scheinbar misslichen Konsequenzen der Willenstheorie. Als ein Hauptargument wird für sie vorgebracht, daß sie allein den Bedürfnissen des Verkehrs gerecht werde, und selbst ein so bedeutender Gegner wie Windscheid glaubt anerkennen zu müssen, daß in ihr ein Zug verwertet wird, ‚der in dem modernen Rechtsbewußtsein sich mit Energie geltend macht, der Zug nach Gleichstellung des bona fide als Wirklichkeit angenommenen Scheins mit der Wirklichkeit.‘115 […] Es ist unbestreitbar, die Anschauung des Volkes, besonders der kaufmännischen Kreise, geht dahin, daß die einmal abgegebene Erklärung unantastbar 114  Vgl. zum Problem die vergleichende Studie: James Gordley (ed.), The Enforceability of Promises in European Contract Law, 2001. 115 Windscheid, Pandekten I, § 75, S. 323, Fn. 1a.

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dastehen, daß es auf den zugrunde liegenden Willen nicht ankommen solle. Dahingestellt mag bleiben, wie eng überhaupt der Gesichtskreis dieser Meinung, wie oft nur laienhafte Verallgemeinerung eines konkreten Vorkommnisses ihr Anlaß ist, für uns erhebt sich nur die Frage: giebt sie die Grundlage eines ‚richtigen Rechtes‘, eines Rechtes zur Förderung des Gemeinschaftslebens im Sinne eines sozialen Ideals? Mit keinem Zweifel verneinen wir die Frage! Die Erklärungstheorie ist die Förderin eines krassen Egoismus. Die an sich berechtigte Freude am Gewinne sanktioniert sie zu einem unverletzlichen Rechtsgut, das bloße Vertrauen jemandes auf die Wirksamkeit eines guten Geschäftsabschlusses schützt sie selbst zum höchsten Schaden des Nebenmenschen. U. E. sichert sie nicht sowohl den Verkehr, wie sie die Geschäftsgier wider Treu und Glauben rechtfertigt. Ein Beispiel, das Bähr116 anführt, diene zur Erläuterung: ‚Ein Theaterdirektor will eine Sängerin, die er persönlich irgendwo kennen gelernt hat, engagieren. Er schreibt aber infolge Verwechslung an deren Schwester, die gleichfalls Sängerin ist, und engagiert diese. Kann er nun, wenn dieselbe anlangt, sie wegen wesentlichen Irrtums wieder nach Hause schicken?‘ Bähr, ein Hauptvertreter der Erklärungstheorie, meint, ‚wenn das Engagement in einer Weise erfolgte, daß die Sängerin den Irrtum durchaus nicht erkennen konnte, so müßte ihr der Kontrakt gehalten werden.‘ Auf den bloßen Zufall des Verschreibens soll der Direktor eine Sängerin nehmen müssen, die er vielleicht gar nicht verwenden kann, weil sie ein anderes Stimm‑ oder Rollenfach hat, als die noch benötigte haben muß? Etwa weil die Sängerin sich darauf gefreut hat, ein Engagement zu haben? Kein Unterschied, ob die Sängerin noch ein anderes ebenso gutes Engagement bekommen kann, ob ihr auch nicht der geringste Schaden aus dem Versehen des Direktors erwachsen ist? Dieser ‚Fortschritt‘ im Verkehr scheint uns das Rad der Zeit zurückzudrehen in die Zustände des ältesten römischen Rechtes, wo ein kleinstes Versehen in den vorgeschriebenen Formen das materielle Recht konsumierte.“117

Mit anderen – Jherings – Worten: Es ist unverhältnismäßig, den culposen Teil auf das Erfüllungsinteresse haften zu lassen! Der Gedanke einer Ausgeglichenheit von Schuld und Rechtsfolge wird hier ebenso deutlich wie die Leitidee der Pareto-Effizienz in der ökonomischen Theorie, wonach für die Förderung der gemeinen Wohlfahrt die ökonomische Bilanz beider Vertragspartner zu berücksichtigen ist.118 Dass es insoweit bereits Jhering (auch) um die Vermeidung einer unbilligen Vertragsbindung ging, wird jedenfalls in den von ihm gewählten Beispielen deutlich: „Wenn der Bote, nachdem er aus dem Laden gegangen, entdeckt, daß er den Auftrag falsch ausgerichtet, und seinen Irrthum sofort berichtigt, wenn bei Vertragsabschluß unter Abwesenden der Widerrufsbrief oder die Berichtigung des Schreibfehlers beim Adressaten eintrifft, bevor derselbe mit Ausführung der Bestellung begonnen, so hat der Scheincontract überall noch keine äußern und objectiven Folgen gehabt; für die subjectiven und innern, d. h.

116 Bähr,

Irrungen im Kontrahieren, JhJb 14 (1875), 393/416.  Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 94 f. 118  Paretoeffizient (nach dem italienischen Ökonomen und Soziologen Vinfredo Pareto, Cours d’économie pratique, 1897) sind danach Sozialakte, die mindestens ein Individuum besser stellen, ohne dass ein anderes Individuum einen Nachteil erleidet. Vgl. nur Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995/2015), S. 48 ff.; Schäfer / ​Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse (4. Aufl. 2005), S. 24 ff. 117

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die Unannehmlichkeit der Enttäuschung gewährt aber das Recht bekanntlich keinen Ersatz.“119 Hier wird der Gedanke des detrimental reliance deutlich angesprochen. Die Vertrauensinvestition des Versprechensempfängers muss sich über die bloße Gewinnerwartung hinaus in „äußern und objectiven Folgen“ manifestiert haben. Dabei bedarf es an dieser Stelle zunächst keiner eingehenden Erörterung darüber, ob diese Überlegungen auch von den sie tragenden Übermittlungs‑ und Erklärungsfehlern auf jeden Willensmangel, d. h. auch jeden Motivirrtum, ausgedehnt werden könnten und sollten, wie das in letzter „Consequenz“ dieses Gedankens Atiyah und Verfechter eines efficient breach befürworten.120 In der Sache ginge es darum, die gesamte Lehre vom „wesentlichen Irrtum“ unter dem Kriterium des „Vertrauensinteresses“ einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Das ist nicht das Ziel dieser Untersuchung. Hier kommt es nur auf den originären und tragenden Gedanken des negativen Vertragsinteresses als Rechtsfolge an: Und dabei ginge es tatsächlich um die Ausschaltung einer Vertragsbindung in Konstellationen, die ein Festhalten am Vertrag als unangemessen erscheinen lassen. Unangemessen erscheint aber das Beharren auf Durchführung des Vertrages: 1. aus ökonomischer und willenstheoretischer Sicht: weil ein Vertrag, der einer Seite bei genauerer Bilanzierung Nachteile bringt, dem ökonomischen Ideal des Vertrages, wonach beide Seiten einen Vorteil erstreben und erlangen wollen, widerspricht. Die einseitige Durchsetzung der Gewinnerwartung führt hier ggf. zu einer negativen Gesamtbilanz. 2. aus ethischer Sicht: weil die auf Erfüllung beharrende Seite, aus einem nur geringen Versehen der anderen Seite (Zitelmann spricht bei Erklärungsirrtümern vom „Schatten einer Verschuldung“) gleichwohl ihren vollen Gewinn ziehen will. Beide Gedanken sind dann etwa auch der eigentliche Grund für die dogmatische Konstruktion eines vermeintlich „erkannten Kalkulationsirrtums“: Man

119 Jhering,

Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/22.  Dass diese „Consequenz“ eine durchaus berechtigte wäre, wenn man mit dem Lösungsrecht einmal beginnt, darauf hat bereits Leonhard (ZHR 26, 1881, 284/296) gegen Mommsen hingewiesen: „Es bestellt Jemand etwas im Laden; er vergreift sich im Ausdrucke. Nachdem der Verkäufer zugestimmt, berichtigt er sich. Ist es nun nicht unbillig, fragt der Verfasser [gemeint ist Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss, S. 111], wenn der Verkäufer ihm dieß nicht gestatten will? Sicherlich, aber die gleiche Unbilligkeit begeht ein Verkäufer dann, wenn der Käufer, wie es unzählige Male bei kleineren Objekten geschieht, nach geschehenem Vertragsabschlusse sogleich seinen Willen ändert und den Vertrag aufheben will und der Verkäufer ihm das verwehrt. Die Unbilligkeit besteht in beiden Fällen nicht in einem rechtlich unzulässigen Verlangen, sondern darin, daß der Verkäufer ungefälliger Weise allzu starr auf seinem Rechte besteht.“; zu dieser Consequenz, wie gesehen, auch Fuller / ​Perdue, The Reliance Interest in Contract Damages, Yale Law Journal 46 (1936), 52/57. 120

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erachtet das Beharren des Ausschreibenden auf Durchführung des zu gering kalkulierten Angebots schlicht als unbilliges Ausnützen und mithin als unangemessene Rechtsfolge für ein nur leichtes Versehen beim Anbieter. Und es ist unter dieser Perspektive natürlich auch kein Zufall, wenn die naturrechtlichen Kodifikationen, die ein ausgewogenes Verhältnis von Verschuldung und Rechtsfolge im Auge hatten, einen Anspruch auf die Gewinnerwartung (das lucrum cessans) nur bei dolus und culpa lata, nicht aber bei culpa levis gewährt haben.121 Damit wird nun aber auch das zentrale Problem der deutschen dogmatischen Entwicklung in dieser Frage sehr deutlich: Brock analysiert und beschreibt den grundlegenden Gedanken der „Lehre vom negativen Vertragsinteresse“ sehr treffend, er zieht aber ebenso wenig wie seine Zeitgenossen die dogmatischen Konsequenzen seiner Erkenntnisse. Er wendet sich gegen die „Geschäftsgier“ und dagegen, dass die Erklärungstheorie mit ihrer dogmatischen Vertragsbindung die „Freude am Gewinne … zu einem unverletzlichen Rechtsgut“ erhebt. Und was tut er gleichwohl? Er schlägt die „Freude am Gewinn“ dann doch wieder dem „negativen Vertragsinteresse“ zu: „Das negative Vertragsinteresse stellt die Schadensfolgen des unwirksamen Vertrages in ihrem ganzen Umfang dar. Daraus erhellt, daß es sowohl den positiven Schaden (damnum emergens), wie den entgangenen Gewinn (lucrum cessans) umfasst.“122

Das aber ist bereits ein Schritt zurück hinter Jhering; denn was bedeutet der Ersatz des Gewinns anderes als den Ersatz des Erfüllungsinteresses? Dass eine so gefasste „Lehre“, die in der dogmatischen Umsetzung ihren eigenen Prämissen widerspricht, keinen sinnvollen Bestand haben konnte, bedarf an sich keiner weiteren Erörterung. Das Problem liegt hier nun wirklich darin, dass die Konstruktion sich selbst nicht ernst genommen hat und insoweit auch die „Lehre“ nicht bis zu Ende gedacht wurde. Wichtig ist daher abschließend noch die Frage, was denn überhaupt unter dem Begriff des „negativen Vertragsinteresses“ zu verstehen ist und warum es in diesem, seinem dogmatischen Zuschnitt seine Aufgabe, Mittler zwischen Extremen zu sein, nicht erfüllen kann:

121  Vgl. dazu §§ 285 ff. ALR I 5; §§ 10–16 ALR I 6 und §§ 1323, 1324 ABGB, sowie §§ 1331 f. ABGB, wonach ein entgangener Gewinn nur bei dolus und culpa lata zu ersetzen ist; bei culpa levis ist hingegen nur der Wert zu ersetzen, „den die Sache zur Zeit der Beschädigung hatte“. Zu diesem Gesichtspunkt, der Ausgewogenheit von Schuld und Schadensersatz in Jherings Revisionsschrift, bereits oben § 2 III.2. 122 Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 207.

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3. Eher negativ: Das „negative Interesse“ „Das negative Vertragsinteresse stellt die Schadensfolgen des unwirksamen Vertrages in ihrem ganzen Umfang dar. Daraus erhellt, daß es sowohl den positiven Schaden (damnum emergens), wie den entgangenen Gewinn (lucrum cessans) umfasst.“ Walter Brock, 1912123

a) Der theoretische Wert der Differenzierung „Das hieße: in anderer Form dasselbe geben, was man in der einen versagte. Was ist denn die Leistung des Äquivalents anders, als eine Art der Erfüllung des Contracts – statt in natura in Geld?“ Rudolf v. Jhering, 1861124

Die Lehre vom Interesse galt im römischen Recht als eine „der verwickeltesten und schwierigsten“ Materien „des ganzen Civilrechts“.125 Das hing vor allem damit zusammen, dass der Begriff des Interesses seit der Zeit der Glossatoren mit der Vorstellung vom Schadensersatz und sodann notwendig mit einzelnen Schadensersatzklagen und diesbezüglichen Aussprüchen einzelner Juristen verbunden war. Das „Interesse“ war aufgrund seiner engen Verbindung mit einzelnen Schadensersatzklagen immer auch geknüpft an Tatsachen und Kausalitätserwägungen, aufgrund derer das Interesse (an der entsprechenden Rechtsverfolgung) als ein berechtigtes angesehen wurde.126 Man schaue insoweit nur auf die Diskussion um die von Jhering zur Stütze seiner Theorie von der culpa in contrahendo herangezogenen Quellenstellen. Drei Fragen wurden hier mit‑ und nebeneinander diskutiert: 1. Wurden die Verträge als wirksam behandelt? 2. Welches Interesse wurde gewährt? 3. Welche Voraussetzungen (dolus, culpa, causalnexus) hatte der entsprechende Ersatzanspruch? Man kann auch sagen: Tatbestand und Rechtsfolge waren nicht in dem Maße klar voneinander getrennt, wie wir das heute gewohnt sind. Das entsprach dem Bewusstsein für die komplexe Verwobenheit von Schuld und Rechtsfolge, das die ganze Lehre von der culpa im Mittelalter und im usus modernus beherrschte und Jhering dann ja in seinem „Schuldmoment“ auch sehr deutlich herausgestellt hat. Insoweit darf es aber auch nicht verwundern, wenn es andererseits scheinbar ganz selbstverständlich erscheint, mit einer Differenzierung beim Interesse auch eine neue Klage legitimieren zu können. Verwunderlich ist schon eher, dass man das bis  Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 207.  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/18. 125 Cohnfeldt, Lehre vom Interesse (1865), Vorwort S. VII.; zuvor: Schömann, Die Lehre vom Schadenersatz (1807); Hänel, Versuch einer kurzen aber faßlichen Darstellung der Lehre vom Schadenersatz (1823); Wening-Ingenheim, Die Lehre vom Schadenersatze nach römischem Recht (1841); F. Mommsen, Unmöglichkeit der Leistung (1853), S. 107; ausf. und grundlegend für die weitere Entwicklung: ders., Zur Lehre von dem Interesse (1855); vgl. zur Problematik auch Medicus, Id quod interest (1962). 126 Cohnfeldt, Lehre vom Interesse (1865), S. 90 ff. insb. 121 ff. 123 124

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heute für eine probate Methode der Rechtsfindung ansieht, obwohl der dahinterstehende Rechtsgedanke schon lange in Vergessenheit geraten ist. Demgegenüber bemerkte bereits Richard Cohnfeldt: „Eine gesunde Theorie muß es ablehnen, die Gründe des Schadensersatzes und der Interesseleistung besonders zu classifizieren und zusammenzustellen. Das Interesse ist in dieser Anwendung nur Objekt der Obligation. Der Entstehungsgrund einer Obligation hat aber keinen innerlichen Zusammenhang mit dem Objecte, da nicht das Object für die Entstehung, sondern viel eher umgekehrt, die Entstehung für das Object der Obligation bestimmend ist.“127 Wichtig für das weitere Verständnis der uns hier interessierenden Problematik ist nun vor allem aber der inhaltliche Gebrauch des Begriffs vom „Interesse“. Insbesondere die begriffliche Differenzierung zwischen positivem und negativem Interesse war insoweit eine durchaus alte. Nur, mit diesen Begriffen verband man etwas ganz anderes als wir heute zu tun pflegen. Das positive Interesse bezeichnete das damnum emergens (den positiv vorhandenen und d. h. objektiv bestimmbaren Schaden), während das negative Interesse für das lucrum cessans (den nicht vorhandenen Vorteil, den subjektiv bestimmten entgangenen Gewinn) stand. Mit anderen Worten: Das positive Interesse ist bezogen auf einen Vorteil, den man besaß und nicht behalten, das negative Interesse hingegen auf einen Vorteil, den man erwartet und nicht erhalten hat.128 Hier, beim (negativen) Interesse am lucrum cessans, sprechen wir heute auch von einer enttäuschten Gewinnerwartung oder einem Spekulationsinteresse – und dort, beim (positiven) Interesse an der Vermeidung des damnum emergens, vom Erhaltungs‑ oder in neuerer Terminologie: Integritätsinteresse. Bei dieser Begriffsbildung leuchtet die Bedeutung von negativ und positiv durchaus ein: Positiv bezieht sich auf das, was man hat und nicht verlieren will (Verlust positiv vorhandenen Vermögens); negativ bezieht sich auf die Dinge, die einem vermeintlich noch fehlen (Verlust negativ vorhandenen Vermögens). Wichtig ist hier also der Bezug des Interesses zum jeweiligen Schaden: Der tatsächliche Schaden an den Rechtsgütern ist positiv feststellbar, während der Schaden durch die enttäuschte Gewinnerwartung immer ein hypothetischer und mithin auch nur negativ feststellbar ist.129 127 Cohnfeldt,

Die Lehre vom Interesse (1865), S. 27.  Nachweise bei Cohnfeldt, Lehre vom Interesse (1865), S. 1; Cohnfeldt selbst formuliert sehr treffend: „… man zieht beides in einen Begriff zusammen, indem man von einem Vortheile spricht, den man besaß und nicht behalten, oder erwartete und nicht erlangt hat, und sagt damit nur negativ das, was positiv Schaden ist.“ 129  Das entspricht dem Sprachgebrauch nicht nur der damaligen Zeit: vgl. etwa WeningIngenheim, Die Lehre vom Schadenersatze nach römischem Recht (1841), S. 17: „Sieht man auf das Objekt, welchem der Schade zugefügt wurde, so ergiebt sich die Eintheilung desselben 1) in den positiven Schaden, damnum emergens, 2) in den negativen, lucrum cessans.“; insb. bezeichnet man das damnum emergens auch als damnum positivum im Gegensatz zum lucrum cessans als damnum privativum, vgl. F. Mommsen, Lehre vom Interesse (1855), S. 11; Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/21: „… haben durch dieses Versehen keinerlei positiven Schaden gehabt …“, „Dasselbe ist auch rücksichtlich des positiven Schadens möglich …“; Wind128

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Jhering hat dann die Begriffe vom positiven und negativen Interesse auf den unwirksamen Vertragsschluss bezogen und so in der uns heute bekannten Bedeutung nachhaltig umgeprägt: „Das Interesse des Käufers läßt sich in unserm Verhältniß in doppelter Weise denken: einmal nämlich als ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Contracts, also an der Erfüllung  – hier würde der Käufer in einem Geldäquivalent alles erhalten, was er im Fall der Gültigkeit des Contracts gehabt haben würde  – und sodann als Interesse am Nichtabschluß des Contracts  – hier würde er erhalten, was er haben würde, wenn die äußere Thatsache des Contractsabschlusses gar nicht vorgekommen wäre. Einige Beispiele werden diesen Unterschied, den ich der Kürze wegen mit positivem und negativem Vertragsinteresse bezeichnen will, klar machen.“130

Abgesehen von der Merkwürdigkeit, den Begriff des negativen Interesses wenig realitätsnah mit einem „Interesse am Nichtabschluß“ des Vertrages zu identifizieren: Hier liegt der Grund dafür, dass wir heute unter dem positiven Interesse tatsächlich auch das lucrum cessans (die Erwartung eines Vorteils; d. i. das Erfüllungsinteresse, expectation interest) und unter dem negativen Interesse ganz allgemein einen Vorteil verstehen, den man in seinem Vermögen eingebüßt hat (auch Vertrauensinteresse, reliance interest). Die den Inhalt des Schadensersatzes regelnden §§ 249 ff. BGB bestimmen insoweit nach allgemeiner Auffassung bis heute das negative Interesse.131 Jhering hat aber die Begriffe nicht nur umgedeutet, er hat sie auch ineinander verwirrt. Eine ganz merkwürdige Rolle spielt bei seiner Begriffsbildung nämlich die Gewinnerwartung (lucrum cessans), die der heutige Jurist nun zweifelsohne auch bei der Erstattung des negativen Interesses erwartet, und zwar zunächst einfach deshalb, weil es im Rahmen der §§ 249 ff. BGB explizit so vorgesehen ist: § 252 BGB. Das negative Interesse umfasst so also auch den Ersatz des positiven. Das ist nun allerdings nicht nur begrifflich wenig glücklich; der sachliche Gehalt der einst sinnvollen Unterscheidung zwischen positivem Schaden und negativer Gewinnerwartung ist damit völlig abhandengekommen: „Der modernrechtliche Schadensbegriff kennt zwischen damnum emergens und lucrum cessans keinen begrifflichen Unterschied; er umfaßt beides in gleicher Weise.“132

scheid, Pandekten II, § 258: „positiver Schaden“ und „entbehrter Gewinn“; Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 207 (Zitat oben im Text): „positiver Schaden (damnum emergens)“, „entgangener Gewinn (lucrum cessans).“; vgl. auch schon Thomasius, Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit (1709), II / ​V § 17: „Denn es ist ein wircklicher Schade (positivum) wenn man einem etwas nimpt, das er schon hat (…).“ 130  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/16, mit deutlicher Anlehnung an F. Mommsen, Unmöglichkeit der Leistung (1853), S. 107; doch hatte dieser es noch aus guten Gründen vermieden, hier neue Begriffe zu bilden. 131  Deliktische Ansprüche gehen demnach immer auf das negative Interesse: vgl. Urt. v. 10. November 1921, RGZ 103, 154/159 mit ausf. Nachw. 132 Medicus, Id quod interest (1962), S. 308.

III. Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse?

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Das hat Jhering bei seiner Konstruktion offensichtlich übersehen.133 Er gibt zunächst eine sehr eingängige Definition zur Unterscheidung von positivem und negativem Vertragsinteresse. Die von ihm gewählten Beispiele führen ihn dann aber zu der Einsicht, dass das negative Interesse „unter Umständen die Höhe des positiven erreichen“ kann.134 Bähr hat hier sogleich präzisiert und darauf hingewiesen, dass das negative das positive Interesse nicht nur erreichen, sondern sogar übersteigen kann. Und so hat man sich im Folgenden um die Begrenzung des negativen auf das positive Interesse gesorgt und sich jede Menge weitere dogmatische Probleme eingehandelt in Konstellationen, für die die Jhering’sche Unterscheidung gar nicht mitgedacht war. Doch damit wurde bereits der begriffliche Grundfehler nur immer weiter fortgeschleppt; denn warum ist es überhaupt möglich, dass das negative Interesse dem positiven entsprechen oder es auch übersteigen kann? In der Antwort auf diese Frage liegt genau das zentrale dogmatische Problem der Jhering’schen Begriffsbildung: Weil das negative Interesse bereits so definiert ist, dass es auch das positive enthält! Und jenes kann dieses übersteigen, weil die Gewinnerwartung mit unterschiedlichen Geschäftsoptionen variiert: Ein entgangenes Geschäft wird nur darum als ein „entgangenes“ bedauert, weil es ein lukrativeres gewesen ist. Jhering kommt bei seiner eigenwilligen Definition von positiv und negativ nicht umhin, beide doch auch mit den klassischen Interessebegriffen in Verbindung zu bringen. Denn die klassische Scheidung von damnum emergens und lucrum cessans ist ja keine willkürliche Erfindung der römischen Jurisprudenz, sondern plausibel in der Natur der (Vermögens‑)Verhältnisse begründet. Diese Differenzierung beschreibt den Ausgangspunkt jeder Betrachtung eines Vermögensschadens, der sich eben nur aus dem Verlust an vorhandenem Vermögen und der Prognose über entgangenes Vermögen zusammensetzen kann. Und so definiert Jhering „sein“ negatives Interesse so weit, dass es sogleich alle denkbaren Kategorien von Vermögensschäden enthält: nämlich das damnum emergens in Gestalt von Mangelfolgeschäden und Aufwendungen einerseits135 sowie das lucrum cessans, den entgangenen Gewinn, anderseits.136 Wenn nun aber die Gewinnerwartung beim gescheiterten Geschäft nicht geschützt werden 133  Es liegt nahe anzunehmen, dass Jhering hier schlicht den unausgegorenen Gedanken des § 13 ALR I 6 mit übernommen hat; zum Problem dieser Regelung bereits Koch, Allgemeines Landrecht (1862), S. 368, Fn. 8. 134  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/21. 135  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/19: „Die nachtheiligen Folgen des Contracts für den Kläger können theils in unmittelbarer Beschädigung durch die Sache, theils in Handlungen bestehen, zu denen ihm der Glaube an die Existenz desselben Veranlassung gegeben hat (…).“ 136 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/20 f.: „Der Abschluß des vermeintlichen Contracts kann für den Kläger aber auch das Entgehen eines Gewinns zur Folge gehabt haben, sei es, daß er eine andere Gelegenheit zum Abschluß desselben von der Hand gewiesen oder nur unterlassen hat, sich bei Zeiten nach einer solchen umzusehen (…).“

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soll, dann ist es ein Widerspruch in sich, gleichwohl die Gewinnerwartung für entgangene Alternativgeschäfte schützen zu wollen. Oder anders und einfacher formuliert: Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen lucrum cessans und Erfüllungsinteresse. Das Interesse an der Erfüllung eines Rechtsgeschäfts ist identisch mit der Gewinnerwartung, die mit diesem Geschäft verbunden war. Hier liegt nun der unauflösliche Konstruktionsfehler, der sich bis heute in der geistreichen und doch in dieser Fassung wenig brauchbaren Differenzierung zwischen positivem und negativem (Vertrags‑)Interesse durchgehalten hat. Melliger bringt die Sackgasse dieser Dogmatik auf den Punkt, wenn er einerseits das vorgegebene Ergebnis (§§ 249, 252 BGB) nicht anders als aus dem Begriff des Interesses meint deduzieren zu können, und wenn er andererseits zugestehen muss, dass eine Unterscheidung von positivem und negativem Interesse offensichtlich nicht aus dem Interesse selbst begründbar ist: „Will das Interesse Interesse sein, so muss es sowohl den entstandenen positiven Schaden (damnum emergens) als den entgangenen Gewinn (lucrum cessans) umfassen; ansonsten liesse sich ja nicht sagen, daß die Vermögensfolgen des schädigenden Ereignisses durch Leistung des Interesses ausgeglichen würden. … Hieraus folgt, … daß demnach eine Unterscheidung zwischen Erfüllungs‑ und negativem Interesse nicht auf den Umstand zurückgeführt werden kann, daß jenes sowohl das lucrum cessans wie das damnum emergens, dieses aber nur letzteres in sich begreift; vielmehr stehen in dieser Beziehung beide einander vollkommen gleich.“137 Es gibt mithin keinen Unterschied zwischen positivem und negativem Vertragsinteresse, weil und soweit beide das lucrum cessans enthalten sollen. Damit hat auch diese „Lehre“ ihren tieferen Geist ausgehaucht. Der einzige Unterschied liegt allein in der tatsächlichen Zufälligkeit, ob der enttäuschte Vertragspartner später ggf. einen entgangenen Gewinn geltend machen kann oder nicht. Das kann man – mit den Vätern des BGB – freilich immer noch als einen hinreichenden Vorteil der „Lehre“ begreifen, wenn man auf den eigentlichen Kerngedanken, nämlich die Lösung von einer ungewollten / ​ineffizienten Vertragsverbindlichkeit abstellt (s. o.).138 Denn bei einer unauflöslichen Bindung an seine fehlerhafte Erklärung hat der Irrende der anderen Seite immer die Gewinnerwartung zu ersetzen, bei einer Lösungsmöglichkeit hingegen nur, wenn der Enttäuschte zu Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 25 (Hervorhebung von mir). Problem wurde besprochen, doch hielt man die unmittelbare Bindung in den letztlich mit dem negativen Interesse ausgestatteten Fällen (§§ 122, 179, 307, 309) für eine unbillige Lösung; vgl. Motive I, S. 195: „Der gegen die Haftung für das negative Interesse erhobene Einwand, daß dem Verkehre wegen der obwaltenden Beweisschwierigkeiten mit einem solchen Anspruch wenig gedient sei, ist nicht ohne eine gewisse Berechtigung. Der Entwurf hat diesem Bedenken auch in verschiedenen Beziehungen Rechnung getragen; vgl. u. a. S. 165, 166. Allein die Fälle, in welchen die Haftung anerkannt wird, sind sämmtlich der Art, daß ein Hinausgehen über dieselbe, ein Festhalten des Erklärenden an der Erklärung selbst sich verbietet. In den Fällen der §§ 345, 347 ist letzteres an sich nicht möglich; in den übrigen Fällen würde es die Grenzen der Billigkeit überschreiten.“ 137

138 Das

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fällig eine anderweitige Möglichkeit, d. h. einen entgangenen Gewinn darlegen und beweisen kann. Wie immer man aber ein solches Ergebnis begründen will: Mit der Differenzierung zwischen Erfüllungs‑ und Vertrauensinteresse ist das dogmatisch unmöglich. b) Der praktische Wert der Differenzierung „Weit entfernt im bequemen Hochmuth, das Urtheil der Praktiker über theoretische Leistungen als nicht maßgebendes anzuerkennen, ordne ich mich in bezug auf alle meine dogmatischen Arbeiten bereitwillig dem Urtheil der Praktiker unter, und Ansichten, die bei ihnen keinen Beifall finden, gelten mir von vornherein als verdächtig.“ Rudolf v. Jhering, 1868139

Die praktischen Folgen dieser Dogmatik wurden jedenfalls bereits im gemeinen Recht deutlich wahrgenommen. Und so ist es wohl kein Zufall, wenn gegen die Jhering’sche Konstruktion sogleich ein Praktiker, nämlich der Obertribunalrath am Berliner Kammergericht Otto Bähr, auf die „Schwierigkeit processualischer Realisierung der von Jhering seiner Construction zu Grunde gelegten Begriffe“ und „noch einige nicht ganz leicht zu überwindende Bedenken wider diese Construction selbst, auch vom legislatorischen Standpunkte aus“140 hingewiesen hat und diesbezüglich ausführte: „Ich halte nämlich das sog. ‚negative Interesse‘ … für einen zu wenig praktikablen Begriff. Das ist auch der Grund, weshalb, meiner Überzeugung nach, die Römer niemals diesen Begriff aufgestellt haben. Es klingt ja so einfach, daß der Eine den Anderen für das Nichtvorhandensein eines vermeintlich abgeschlossenen Vertrags zu entschädigen habe. Fragt man sich aber, wie denn nun eine solche Entschädigung sich bestimme, so kommt man in die allergrößten Schwierigkeiten (…).“141

Die von Bähr aufgezählten Schwierigkeiten hängen – wen wundert’s – notwendig mit dem Nachweis von etwas Negativem, nicht Vorhandenem, rein Hypothetischem, einem entgangen lucrum cessans zusammen und verdeutlichen, dass diese Konstruktion selbst und gerade dem, dem sie nutzen soll, eher Verdruss einbringt: „Der Pretiosenhändler, dem ein aus seinem Laden entnommenes Stück, wegen Irrthums über den Preis zurückgeschickt wird, könnte Entschädigung nur fordern, wenn er nachwiese, daß inzwischen ein Anderer dieses Stück ihm zu gleichem Preise abgekauft haben würde. Aber wie soll er das beweisen, wenn das Stück nicht einmal mehr in seinem Laden zum Ausgebot gelegen hat? – Die irrthümlich engagirte Sängerin kann das vergeblich aufgewandte Reisegeld wohl angeben. Aber wie erlangt sie, wenn sie nun ohne Stelle bleibt, Ersatz dafür, daß ihr vielleicht andere Engagements entgangen sind, wozu die Anträge gar nicht einmal an sie gelangten, weil verlautete, daß sie schon engagiert ist (…).“142  Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868), S. 84. Ueber Irrungen beim Contrahieren, JhJb 6 (1863), 286/306. 141  Bähr, Ueber Irrungen beim Contrahieren, JhJb 14 (1875), 393/422 f. 142  Bähr, Ueber Irrungen beim Contrahieren, JhJb 14 (1875), 393/423; in diesem Sinne dann auch Bekker, KritV 22 (1880), 33/57: „… der Erklärungsnehmer würde das Dasein dieses 139

140 Bähr,

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Aber verlassen wir die fiktiven Fälle von Bähr und sehen auf einen Fall, der 125 Jahre später die Schwierigkeiten mit dem „negativen Interesse“ pars pro toto vor unseren Augen bezeugt hat: Das BVerfG hatte sich nämlich im Jahre 2001 mit der Beschwerde eines Klägers zu befassen, der Anfang der 1970er Jahre über die Errichtung eines Einkaufszentrums mit der beklagten Stadt vergeblich verhandelte und deshalb 1974 (geradezu im Sog der seinerzeit in Konjunktur befindlichen „Abbruch-von-Vertragsverhandlungen-Fälle“) 30 Mio. DM ‚Vertrauensschaden‘ einklagte, der dann selbst nach einer 26-jährigen Prozessgeschichte immer noch nicht abschließend berechnet war.143 Wer hier konstatiert: „Negativ, das mit dem negativen Interesse“, liegt vermutlich mit Otto Bähr sehr dicht an der Prozesswirklichkeit: „Aber ich frage Jeden, der einigen praktischen Sinn hat: sind denn überhaupt solche Dinge, die möglicher Weise hätten geschehen können, zu erweisen?“144

Vielleicht wird es bei unmittelbarer Anschauung der „praktischen Trostlosigkeit“ eines solchen Schadenersatzanspruchs verständlich, warum auch Josef Kohler bereits vor 115 Jahren gegen die Theorie der culpa in contrahendo eingewandt hat, „daß die Parteien damit dem Processe verfallen sind“: „Darum halten wir es für verfehlt, wenn civilistische Rechtssätze in der Art gestaltet sind, daß sie fast nothwendig zum Processe drängen; und das sind eben solche Rechtssätze, wie die mit dem negativen Schadensersatz, mit dem negativen Vertragsinteresse: wie sich die Situation der betreffenden Partei gestaltet haben würde, wenn sie nicht auf die Wirklichkeit des Vertrages gebaut hätte, ist so schwer festzusetzen, schwimmt so sehr im Nebel von mehr oder weniger plausibeln Probabilitäten, daß zwar der Richter hierbei zu Recht kommen wird, die Parteien aber in den allerseltensten Fällen sich verständigen werden (…).“145 Interesses und den Umfang der daraus erwachsenen Ansprüche zu beweisen haben. Augenscheinlich aber ist dieser Beweis oft schwer, manchmal gar nicht zu führen, und wir würden also die Verwirklichung des guten Rechts des Erklärungsnehmers abhängig machen von unberechenbaren Zufälligkeiten.“; Hartmann, AcP 72 (1888), 161/214, Fn. 41: Das negative Interesse „widerspricht durchaus dem gesunden Sinne der klassischen Jurisprudenz für Praktikabilität des Rechts. Heißt es denn nicht dem Vermiether … ein Danaergeschenk geben, wenn man seine Klage davon abhängig macht, daß er inzwischen ‚andere gleichwerthige Anträge zahlungsfähiger Mieter zurückgewiesen hat‘ (Eisele, S. 499)? Wer wird, wenn er seine Wohnung als bestimmt vermiethet anzusehen allen Grund hat, spätere Erkundiger noch annehmen, ihre Namen und Verhältnisse feststellen für weitere Eventualitäten?“ 143  BVerfG, NJW 2001, 214 ff. Die Sache wanderte viermal (!) vom OLG zum BGH (vgl. BGHZ 76, 343; WM 1983, 993; NVwZ-RR 1989, 600) und zurück; die letzten 10 Jahre wurden mit der komplizierten, weil hypothetischen Schadensberechnung zugebracht (Wie hoch ist der entgangene Gewinn bei einem nicht gebauten Einkaufszentrum?). 144 Bähr, Ueber Irrungen beim Contrahieren, JhJb 14 (1875), 393/427. 145  Kohler, Ueber den Willen im Privatrecht, JhJb 28 (1889), 166/226 f.: „Was ich der Theorie des Schadensersatzes wegen culpa in contrahendo hauptsächlich vorwerfe und was auch von ihren Vertheidigern keineswegs widerlegt wurde, ist Folgendes. Man bezieht sich, um dem Einwurf der Unpracticabilität einer solchen Entschädigungspflicht abzuwehren, auf das freie richterliche Ermessen. Allein gerade hierin liegt die größte Mißstand, daß die Parteien damit dem Processe verfallen sind, daß Processe fast unvermeidlich werden (…).“

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Mit anderen Worten: Wie immer ein Urteil im Einzelfall ausfallen mag, Rechtsfrieden und den Glauben an eine gerechte Rechtsordnung wird es nicht mit sich bringen! Natürlich kann man etwa mit Zitelmann auf den allfälligen Rekurs zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit verfallen und zwischen der höheren Zweckmäßigkeit, die in der Gerechtigkeit, und der niederen, die in der Bequemlichkeit und Sicherheit bei der Handhabung des Rechtssatzes, in der Berücksichtigung der Möglichkeit, dass der Böswillige des unklaren Rechtes und der Kurzsichtigkeit des Richters sich bedient, unterscheiden wollen.146 Man kann die Dinge auch durchaus so bewerten und die imaginäre materiale Gerechtigkeit als das anzustrebende Höhere und die Rechtssicherheit als das dienende Niedere betrachten. Man darf sich von dieser Betrachtung nur nicht düpieren lassen. Denn ohne Sicherheit im Prozess nutzt die beste Idee einer Gerechtigkeit nichts, und ich möchte bezweifeln, dass in dem oben dargestellten Kaufhausbau-Fall der Kläger (oder seine Erben) ein rechtskräftiges Obsiegen endlich als Emanation der Gerechtigkeit empfunden haben wird.147 Darüber hinaus ist es mit der Beurteilung des diesbezüglichen Gerechtigkeitsgehaltes so eine Sache. Hören wir noch einmal Josef Kohler: „… kommt es dann zum Processe, so machen die Kosten oft mehr als der Schaden betrüge, wenn die Parteien sich sofort als gebunden gewußt hätten. Ich erinnere mich beispielsweise an einen Proceß wegen Christbäumchen, wo beim Kaufe ebenfalls irgend eine Verwechslung vorgekommen war. Der Proceß machte viele Mühe; ich war noch ein jugendlicher Jurist, und das negative Vertragsinteresse galt mir als eine wahre juristische Labsal. Die Christbäumchen waren in Folge dessen nicht angenommen worden, der Verkäufer hatte sie auf den Markt gelegt, die Schuljugend zankte sich um die Zweige; wäre es nicht besser gewesen, wenn in solchem Falle der Vertrag trotz der Verwechslung von Anfang an bestanden hätte und als bestehend erkannt worden wäre?“148

Man muss, wenn man die Gerechtigkeit gegenüber dem Gedanken des Rechtsfriedens so hoch schätzen will, eben immer auch vor Augen haben, dass es ein Leichtes ist, sich für den eigenen Standpunkt auf vermeintliche Gebote materialer Gerechtigkeit zu berufen. Letztlich werden hier Steine statt Brot gereicht, wenn und soweit die vermeintliche Gerechtigkeit nicht in hinreichend objektivierter und mithin handhabbarer Form daherkommt. Und wie steht es doch überhaupt um die Gerechtigkeit der Gewährung von Gewinnerwartungen? Es ist ja, wie gesehen, kein Zufall, wenn einerseits die vernunftrechtlichen Kodifikationen, die den Gedanken der Ausgeglichenheit von Schuld und Schadensersatz zu realisieren suchten, das lucrum cessans nur bei dolus und culpa lata zugesprochen haben,149 und wenn andererseits auch Jhering in seiner Revisionsschrift seine Theorie vom negativen Vertragsinteresse 146 Zitelmann,

Die juristische Willenserklärung, JhJb 16 (1878), 357/410 f.  Ausf. zum Problem unten: § 9 (Einzelfallgerechtigkeit). 148  Kohler, Ueber den Willen im Privatrecht, JhJb 28 (1889), 166/228. 149 Oben III.2. 147

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mit keinem Worte mehr erwähnt hat. Wir haben das Problem der Konstruktion gesehen: Dem Enttäuschten wird grundsätzlich das lucrum cessans zugebilligt, obwohl der tiefere Sinn des negativen Vertragsinteresses als etwas „Drittem“ zwischen Erfüllung und Unverbindlichkeit ein solches Ergebnis gerade ausschließen sollte. So beruhigt man sich bei der im Ergebnis ganz unrichtigen Einsicht, dass bereits zwischen Erfüllungsanspruch und Erfüllungsinteresse ein Unterschied liege und so das Vertrauensinteresse eine wichtige und eigenständige dogmatische Kategorie sei. Mit der Erkenntnis, dass es dem Enttäuschten letztlich aber immer um den Ersatz seiner Gewinnerwartung (lucrum cessans) geht, die das Recht in allen drei dogmatischen Kategorien auch gewährt, wird freilich deutlich, dass der einzige Unterschied gerade nicht materialer Natur ist, sondern lediglich in prozessualen Hürden besteht, die der Kläger auf seinem Weg zum lucrum cessans überwinden muss: Er verfolgt seine Gewinnerwartung im Wege der Erfüllungsklage und wird spätestens im Zuge der Vollstreckung auf das Erfüllungsinteresse verwiesen. Und wird ihm das lucrum cessans ‚nur‘ in einem Anspruch auf das negative Interesse gewährt, muss er, um es dann tatsächlich zu erhalten, entweder Glück gehabt haben, dass er einen möglichen anderen Geschäftsabschluss nachweisen kann oder durch entsprechende Manipulationen danach trachten, worauf er bei dieser Dogmatik durchaus berechtigt einen Anspruch zu haben vermeint. Jhering selbst hat mit seiner Wendung zur praktischen Jurisprudenz vor allem eines, nämlich die Frage der Anwendbarkeit dogmatischer Konstruktionen und theoretischer Differenzierungen, immer wieder betont. Gerade hier finden wir ein anschauliches Beispiel für seine Lehre, wonach das Leben nicht der Begriffe wegen, sondern die Begriffe des Lebens wegen da sind. Im Jahr nach seiner Revocation verkündet er bei seiner Antrittsvorlesung in Wien auch seine Einsichten zu einer auf die Praxis hin orientierten Jurisprudenz: „Wie manche Ansichten sind von nahmhaften Theoretikern aufgestellt, die der Praktiker einfach nicht anwenden kann, weil bei ihm die Möglichkeit der Anwendung von vornherein außer Acht gelassen war, vor allem die Beweisfrage. Es mag dem Theoretiker als ein schönes Ding erscheinen, sich in den Begriff zu vertiefen und immer feinere Unterschiede zu entdecken. Wären diese Begriffe ihrer selbst wegen da – gewiß es wäre eine Bereicherung der Wissenschaft und in der That scheinen manche von der Voraussetzung auszugehen, die Begriffe seien nicht des Lebens, sondern das Leben der Begriffe wegen da – aber die Begriffe sind des Lebens wegen da und sie müssen den Bedingungen gerecht werden, die das Leben stellt, damit sie Anwendung finden können. Unterscheidungen, so scharf zugespitzt, dass sie sich im einzelnen Fall nicht constatiren lassen, sind für das Leben ein Fluch; es gibt bei allen praktischen Dingen einen Grad der Genauigkeit, wo sie, weil sie zu viel Zeit und Aufwand und Mühe erfordern würde, anfängt von Übel zu sein.“150

Wir werden nicht fehl gehen in der Annahme, dass Jhering hier einmal mehr seine eigene Erfahrung mit theoretischen Spitzfindigkeiten zum Lehrsatz er150 Jhering,

Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft (1868), S. 81 f.

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hoben hat.151 Die selbstkritische Revision seiner culpa in contrahendo und die praktisch so wenig brauchbare Differenzierung von negativem und positivem Interesse gehören in diesen Kontext. Die deutsche Rechtswissenschaft glaubt bis heute in der Differenzierung zwischen „positivem“ und „negativem“ Interesse die Leistungsfähigkeit begrifflicher Dogmatik manifestiert zu sehen. Nur an plausiblen Beispielsfällen aus der Praxis mangelt es seit jeher. Im selben Jahr, in dem Josef Kohler die culpa in contrahendo aufgrund ihrer prozessualischen Folgen kritisiert, zieht auch Jhering noch einmal seine abschließende methodologische Bilanz, in deren Zentrum, wie gesehen, ganz generell die Objektivität und prozessuale Handhabbarkeit des materiellen Rechts stehen: „Ich müsste nicht selber Theoretiker sein, um nicht aus eigener Erfahrung zu wissen, wie fern ab dem Denken des Theoretikers die Beweisfrage liegt, ich bin erst relativ spät dazu gelangt, mir dessen bewußt zu werden, und wenn ich mir auch von da an zum Gesetz gemacht habe, bei allem, was ich schreibe, die Beweisfrage ins Auge zu fassen, so fühle ich mich trotzdem nicht sicher, daß ich ihr stets völlig gerecht geworden bin. Und wie könnte es auch anders sein? Wer kaum je in die Lage kommt, das Recht praktisch anzuwenden … wie sollte der den Blick für die Bedingungen und Schwierigkeiten, welche die Beweisfrage in sich schließt, in sich ausbilden können? Es ist der Chirurg, der keine Gelegenheit hat, das Messer zur Hand zu nehmen, und da kann es denn allerdings nicht Wunder nehmen, daß er auf dem Wege des rein theoretischen Denkens zu Resultaten gelangt, welche sich der praktischen, an die Führung des entsprechenden Beweises im einzelnen Fall geknüpften Verwirklichung entweder gänzlich entziehen, oder bei denen die Beweisführung mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, daß eine Partei thöricht sein müßte, sich ihnen zu unterziehen. Was sollen alle feinen Begriffsunterscheidungen, wenn der Richter sie im einzelnen Fall nicht erkennen kann? Die Zumuthung, sie zur Anwendung zu bringen, ist keine andere, als wenn ein Componist in eine Orchesterstimme Töne gesetzt hat, die das Instrument versagt, oder wenn der Arzt ein Recept schreiben wollte, das der Apotheker nicht ausführen kann. Die einzige Antwort, die sich darauf gebührt, lautet: versuch’ es selber, mach es mir vor.“152

Noch einmal: Nicht der Gedanke einer mittleren Lösung zwischen dem „Allesoder-Nichts“ ist grundsätzlich zu beanstanden; die widersprüchliche Konstruktion des negativen Vertragsinteresses unter Einschluss des lucrum cessans und der damit geforderte Beweis von etwas Negativem ist es. Otto Bähr hatte auf „einige nicht ganz leicht zu überwindende Bedenken wider diese Construction selbst, auch vom legislatorischen Standpunkte aus“153 hingewiesen. Der „Wandel“ Jherings zur „praktischen Jurisprudenz“ liegt in eben dieser Erfahrung, der theoretischen Distinktion ohne praktische Reflexion. Hier liegt, wie gesehen, die Besinnung auf die klare juristische Form der Rechtssätze und die Betonung 151  Er spricht diesen Punkt auch hier selbstkritisch an: „Es ist nicht meine Absicht, mich damit zu heben, indem ich andre herabsetze, ich weiß vielmehr sehr wohl, daß dieselben Ursachen … auch in meiner Person bestehen (…).“ (aaO., S. 84). 152  Jhering, Der Besitzwille (1889), S. 174 f.; ausf. zum Beweisproblem materiellrechtlicher Normen in dieser Schrift S. 144 ff. 153 Bähr, Ueber Irrungen beim Contrahieren, JhJb 6 (1863), 286/306.

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des „manu tenere“ in dem vielzitierten Cicero-Wort (de officiis III, 17). Die praktische Brauchbarkeit eines Rechtssatzes wird ab Mitte der 1860er Jahre zum zentralen Glaubensbekenntnis, das Jhering zuletzt noch einmal auf eine allgemeine Formel für die Gesetzgebung gebracht hat: „Richtige Gestaltung der Beweisfrage muß demnach für den Gesetzgeber bei allen Rechtssätzen, die er aufstellt, ein Hauptaugenmerk bilden. Er muß denselben diejenige Form geben, die der Partei keinen zu schwierigen Beweis aufbürdet und es dem Richter ermöglicht, sie ohne mühevolle und zeitraubende Untersuchungen zur Anwendung zu bringen. Entschlägt er sich dieser Rücksicht, so erschwert er sich selber die Erreichung des Ziels, das er sich vorgesetzt hat, er gleicht einem Maschinenbauer, der eine Maschine construirt, welche durch Reibung die Kraft, die sie erzeugt, selber consumirt. Eine solche Maschine nennen wir eine unpraktische, und ganz dieselbe Bezeichnung trifft für Rechtssätze zu, welche auf Seiten des Richters und der Parteien einen Aufwand von Kraft erheischen, der mit dem erstrebten Resultat in keinem Verhältniß steht.“154

Ein letzter Punkt ist wichtig zu bemerken: Bähr hat nicht nur den praktischlegislativen Blick geschärft und mit seiner Erklärungstheorie nicht nur die Konsequenzen aus der mangelnden Praktikabilität und dem damit verbundenen mangelnden Gerechtigkeitsgehalt jener Zwischenlösung, sondern auch die dogmatische Konsequenz dieser Konstruktion selbst gezogen: Naturalersatz! Wenn entsprechend der Jhering’schen Theorie auch nach heute allgemeiner Auffassung das negative Interesse der §§ 122, 179 BGB auf gar nichts anderes abzielen soll als auf das, was in den §§ 249 ff. BGB als Schadensersatz allgemein normiert ist,155 dann liegt es wahrlich nicht fern, den entgangenen Gewinn entweder ganz generell zuzusprechen (§ 252 BGB) oder mit Bähr zu konstatieren, dass der „wahre Schadensersatz dafür, daß Jemand einem Andern für die Existenz eines Rechtsgeschäfts einzustehen hat, … stets darin bestehen [wird], daß er das Rechtsgeschäft selbst gegen sich gelten läßt“.156 Dass diese Lösung die Grundidee vom „negativen Vertragsinteresse“ endgültig desavouiert, bedarf keiner erneuten Betonung; dass sie gleichwohl die logische „Consequenz“ dieser ganzen Theorie darstellt, hingegen sehr wohl.157 154  Jhering, Der Besitzwille (1889), S. 146; vgl. auch die Ausführungen im „Kampf ums Recht“ (1874), S. 84 ff.: „Die Geldcondemnation, die in den Händen des römischen Richters das ausreichendste Mittel gewährte, dem idealen Interesse der Rechtsverletzung gerecht zu werden, hat sich unter dem Einfluss unserer modernen Beweistheorie zu einem der trostlosesten Nothbehelfe gestaltet, mit denen die Gerechtigkeit je dem Unrecht zu steuern versucht hat. Man verlangt vom Kläger, dass er sein Geldinteresse beweise, genau bis auf Heller und Pfennig. Man sehe zu, was aus dem Rechtsschutz wird, wenn ein Geldinteresse nicht existirt!“ oder eben: sich nicht beweisen lässt. 155 Bereits Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 29: „Die Normen des § 249 u. ff. gelten sowohl für vertragliche wie ausservertragliche Verhältnisse, … sie beanspruchen mithin auch Geltung für das negative Vertragsinteresse. Die besonderen Umschreibungen des letztern in § 122, § 179 Alinea 2 und § 307 Alinea 1 wiederholen nur, was in § 249 u. ff. gesagt ist (…).“ 156  Bähr, Ueber Irrungen im Contrahieren, JhJb 14 (1875), 393/424. 157  Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Debatte um die Rechtsfolgen bei unwirksamen oder nicht zustande gekommenen Verträgen gar nicht zur Ruhe kommen kann; denn die

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Die ganze Lehre erhält erst dann eine ihrer Idee angemessene dogmatische Form, wenn man sich von der Vorstellung trennt, das negative Vertragsinteresse enthalte einen Anspruch auf das lucrum cessans und entspräche dem, was in den §§ 249 ff. BGB über den Schadensersatz im Allgemeinen geregelt sei. Begreift man das negative Vertragsinteresse als das, was Jhering ursprünglich wohl auch vorschwebte, dann kann es bei dieser Kategorie nur um Aufwendungsersatz gehen. Nur diese Kategorie gibt der Idee zugleich ein angemessenes theoretisches und auch praktikables Gewand; und auch nur der Begriff der Aufwendungen passt zu dem, worum es hier der Sache nach immer geht: um freiwillige Vermögensopfer, die aus dem Bereich des Schadensersatzes, der (jedenfalls begrifflich ernst genommen) nur unfreiwillige Vermögenseinbußen erfasst, herausfallen. Wer die Begrenzung des Anspruchs im Sinne eines Aufwendungsersatzanspruchs im Ergebnis für unbillig hält und zum Vertrauensschaden auch Gewinnerwartungen zählen möchte, der steht in der Sache letztlich doch auf dem Standpunkt des Versprechensdogmas der Erklärungstheorie; er gewährt nicht das Vertrauensinteresse, sondern das Spekulationsinteresse. Die englische Rechtssprache macht dies in der begrifflichen Differenzierung zwischen reliance und expectation durchaus deutlich. c) Eine praktisch und theoretisch vergessene Lehre „Der zu ersetzende Schaden erfaßt den entgangenen Gewinn unabhängig davon, ob die Haftung auf den Ersatz des positiven oder des negativen Interesses gerichtet ist – mit dem Unterschied, daß im ersten Fall … der Gewinn aus dem mit dem Haftenden abgeschlossenen und im zweiten Fall … der Gewinn aus einem möglichen anderen Geschäft zu ersetzen ist, das der Geschädigte im Vertrauen auf das abgeschlossene ausgeschlagen hat. Es ginge daher fehl, das positive Interesse, wie es in der französischen Literatur und leider auch in den Erörterungen zu Art. 7.4.2 UP und zu Art. 9:502 EP vorkommt, mit dem lucrum cessans und das negative Interesse mit dem damnum emergens zu verwechseln.“ Thomas Ackermann, 2007158

Die Lehre vom „negativen Vertragsinteresse“ hatte, wie gesagt, in der deutschen Zivilrechtsdogmatik nur ein kurzes Zwischenspiel. Die Mittlerrolle kam ihr „Naturalrestitution“ schwebt hier immer in der Luft: vgl. etwa Dömpke, Die Grundlagen und der Umfang der Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen (1933), S. 78: „Ist der Vertrag infolge der Pflichtverletzung einer Partei nicht zum Abschluß gekommen, so wird nach dem Grundsatz der Naturalrestitution die zum Schadensersatz verpflichtete Partei sich so ansehen lassen müssen, als ob der Vertrag zustande gekommen ist. … Der Geschädigte würde also einen Erfüllungsanspruch aus dem Vertrage geltend machen und, wenn dieser nicht erfüllt werden könnte, Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen können. Da unser Schadensersatzrecht auf dem Grundsatz des § 249 BGB. aufgebaut ist, ist es nicht angängig, eine Einschränkung des Schadensersatzanspruches innerhalb des Schuldverhältnisses der Vertragsverhandlungen dahin vorzunehmen, daß die Parteien in jedem Falle so zu stellen sind, als ob sie nie in Verhandlungen zueinander gestanden hätten.“ 158 Der Schutz des negativen Interesses (2007), S. 17 f.

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§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB

weniger in Bezug auf eine gerechte Lösung als vielmehr in einem dogmengeschichtlichen Prozess als Hilfskonstruktion zu. Caspar Melliger hat diese Rolle durchaus richtig bemerkt: „… das negative Interesse ist nichts anderes als ein Versöhnungsmittel … zwischen Willensdogma auf der einen, Vertrauens‑ oder Erklärungstheorie auf der anderen Seite. Daher denn auch die Erscheinung, daß die ältern Schriftsteller, da zu ihrer Zeit die Willenstheorie noch unangefochten war, mit wenigen Ausnahmen von unserer Frage nicht oder nur spärlich reden, daß mit wachsendem Kampf gegen jene auch das negative Interesse an Bedeutung und Umfang gewinnt, so verschieden es auch juristisch gerechtfertigt wurde, und daß es endlich, wie die Gegenwart zeigt, in dem Masse wieder aus dem System des Privatrechts verschwindet als die Erklärungstheorie die Oberhand gewinnt.“159

Setzt man nun für „Vertrauens‑ oder Erklärungstheorie“: Vertrauens‑ bzw. Erklärungshaftung, so hat Melliger bereits vor mehr als 100 Jahren den ganz trivialen Grundgedanken vom Verlauf der diesbezüglichen Dogmengeschichte vorweg skizziert: vom Willens‑ zum Vertrauensdogma! Waren es für das 19. Jahrhundert der von Kant als Grundgesetz der Freiheit in die dogmatische „Schlachtordnung“ (Rosenkranz) gestellte Wille einerseits und das aus der gemeinrechtlichen Diskussion geläuterte Verschuldensmoment (dolus und culpa) andererseits, die jeweils die Diskussion in letzter Instanz entschieden, so übernahm diese Rolle im 20. Jahrhundert erneut die bona fides: Der das ganze Rechtsleben durchziehende Gesichtspunkt von Treu und Glauben, der sich für die hier speziell interessierende Frage zu einer umfassenden Vertrauenshaftung verdichtete. Das „negative Vertragsinteresse“ war in diesem Prozess in der Tat nur eine dogmatische Krücke, die diesen Wechsel ermöglicht hat und, nachdem er vollzogen, als überflüssiger dogmatischer Ballast wieder abgeworfen werden konnte. Zwar wird bis heute immer noch der Lehrsatz als Dogma vorgetragen, dass die Rechtsfolge der culpa in contrahendo nur das negative Interesse sei. Was genau das aber in den vielen Fallgruppen, in denen das Haftungsinstitut herangezogen wird, bedeutet, ist bis heute völlig ungeklärt. Die Sache wird recht anschaulich in einer jüngeren Entscheidung des BGH,160 die gleichsam als Quintessenz von 100 Jahren „negatives Interesse“ den Stand dieser Lehre vorführt: Der Käufer eines Gewerbegrundstücks begehrt Schadensersatz, weil ihn der Verkäufer über das Bestehen einer vertraglich bestehenden Mietverlängerungsoption hätte aufklären sollen. Hier ist bereits die Postulation einer Aufklärungspflicht mehr als zweifelhaft, weil es u. a. mit Blick auf die Formvorschrift des § 571 BGB a. F. (jetzt § 550 BGB) Sinn des Schriftformerfordernisses bei Mietverträgen ist, dass sich der Erwerber von den zu übernehmenden mietrechtlichen Begebenheiten leicht selber überzeugen kann, und wenn er das nicht tut, er die Konsequenzen selber tragen mag. Hier interessiert aber nicht die Zweifelhaftigkeit der Aufklärungspflicht, sondern nur die Er Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 4. v. 6. April 2001 – V ZR 394/99, NJW 2001, 2875 ff.

159

160 Urt.

III. Was blieb: Die Lehre vom negativen Interesse?

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klärung des BGH zu den Rechtsfolgen der von ihm gleichwohl angenommenen culpa in contrahendo des Verkäufers: Demnach soll nämlich das Erfüllungsinteresse gewährt werden dürfen, wenn feststeht, dass bei Kenntnis des Käufers der Vertrag zu für ihn günstigeren Bedingungen geschlossen worden wäre. Lasse sich diese Feststellung nicht treffen, so könne das Vertrauensinteresse verlangt werden, das darin bestehe, dass der Käufer so zu stellen sei, als wäre es ihm gelungen, den Vertrag zu für ihn günstigeren Bedingungen zu schließen. Sic! Was eine Absurdität in der Differenzierung. Das bis heute bestehende Problem liegt, wie gesagt, schlicht in der mangelnden Einsicht, dass die Idee von einem „negativen Vertragsinteresse“ für die weit verzweigten Anwendungsfälle der culpa in contrahendo nicht wirklich mehr passt. Nur der nicht ganz unberechtigte Glaube, das Institut der culpa in contrahendo schöpfe seine eigentliche Legitimation aus seiner Verknüpfung mit einem vom Erfüllungsinteresse zu unterscheidenden negativen Interesse, führt zu solchen juristischen Subtilitäten, die auf nichts anderes abzielen, als jede mögliche Rechtsfolge als negatives Interesse nachweisen zu wollen und es – bei der gängigen Definition desselben  – freilich auch zu können. Fuller / ​Perdue haben mit Nietzsche das Problem der Eigendynamik einer solchen Dogmatik recht treffend aufgespießt: „Nietzsche’s observation, that the most common stupidity consists in forgetting what one is trying to do, retains a discomforting relevance to legal science.“161

Begriffe entfalten ihre Eigendynamik. In dem Vergessen des ursprünglichen Sinn und Zwecks einer dogmatischen Figur und seiner gleichsam fortlebenden und sich weiter fortpflanzenden Eigenständigkeit liegt eine der großen Probleme dogmatischer Rechtswissenschaft, die Jhering in seinem „Begriffshimmel“ hinreichend und zutreffend gegeißelt hat.162 Doch handelt es sich eben nicht um eine temporäre Pathologie des 19. Jahrhunderts, wie man dies später gemeinhin meinte reklamieren zu müssen. Begriffsjurisprudenz, in der von Jhering kritisierten Form, ist ein generelles methodologisches Problem, das sich bis heute  – und zumal bei den Konstruktionsbemühungen um die culpa in contrahendo – hinreichend feststellen lässt. So lebt eine tote Lehre immer weiter fort, weil und solange es die suggestiven Begriffe oder vermeintlich neue geistreiche Differenzierungen tun.163 161

52.

 Fuller / ​Perdue, The Reliance Interest in Contract Damages, Yale Law Journal 46 (1936),

162 Jhering,

Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), S. 245 ff.  Der Versuch einer Wiederbelebung der Lehre vom „negativen Interesse“ bei Ackermann, Schutz des negativen Interesses (2007) löst letztlich den aufgezeigten Grundwiderspruch zwischen positivem und negativem Interesse nicht auf, weil auch hier der Ausgangspunkt widersprüchlich bleibt: Ackermann will einerseits zwischen positivem und negativem Interesse „dogmatisch scharf unterscheiden“ (S. 174), erliegt aber gleichwohl dem seit Jhering eingeführten Grundfehler, beide in der Sache doch wieder ganz identisch zu nehmen: „Der zu 163

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§ 4 Status quo ante (1900): Gemeines Recht und ‚gemeines‘ BGB

Es ist für die ganze Entwicklung durchaus kennzeichnend, dass die Wiederentdeckung der culpa in contrahendo demgegenüber sogleich mit dem Anspruch auf das Erfüllungsinteresse aufgetreten ist. Der eigentlich zentrale und bewahrenswerte Kern der „Lehre vom negativen Vertragsinteresse“, den Schutz von Spekulations‑ bzw. Gewinnerwartungen in bestimmten Konstellationen zu relativieren, ist in der allgemeinen Tendenz zu abstrakter dogmatischer Konstruktion untergegangen. Die ursprüngliche Frage nach einem angemessenen Verhältnis von Verschulden und Rechtsfolge spielt so bis heute keine Rolle mehr in der juristischen Argumentation. In der Theorie bleibt es bei theoretischen Begriffsbildungen und in der Rechtspraxis wird vom Ergebnis her quasi jede denkbare Rechtsfolge als Konsequenz einer vorvertraglichen Haftung konstruiert.

ersetzende Schaden erfaßt den entgangenen Gewinn unabhängig davon, ob die Haftung auf den Ersatz des positiven oder des negativen Interesses gerichtet ist (…).“ (S. 17 f.). Stattdessen soll zwischen der enttäuschten Erwartung („Enttäuschung der durch das Verhalten geweckten normativen Erwartung“) und dem „Verhalten selbst (das Leistungsversprechen)“ unterschieden werden und in diesem Fall das „negative“ und in jenem Fall das „positive“ Interesse zu ersetzen sein. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass hier begrifflich recht willkürlich ein einheitlicher Lebenssachverhalt auseinanderdividiert wird (das Leistungsversprechen ist doch die Ursache für die Leistungserwartung), wenn positives und negatives Interesse inhaltlich identisch sind (erstattet werden soll in jedem Fall die Gewinnerwartung), dann ist jeder Versuch einer noch so scharfsinnigen Abgrenzung ohne Sinn. Über die Frage der praktischen Handhabbarkeit der neuerlich vorgeschlagenen Differenzierung ist damit noch gar nichts gesagt.

§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c. „Setzen wir einmal den Fall … das positive Recht hätte sich lediglich darauf beschränkt, für einzelne besonders wichtige Anwendungsfälle unseres Princips, z. B. den des Schreibfehlers, des Widerrufs der Offerte unter Abwesenden die Schadensersatzverbindlichkeit anzuerkennen, ohne über die juristische Natur derselben irgend etwas hinzuzufügen; wie würden wir dieselbe juristisch zu construiren haben?“ Rudolf v. Jhering, 18611 „Wer sich heute nicht auf die ‚civilistische Konstruktion‘ versteht, der möge nur zusehen, wie er durch die Welt kommt; sowenig wie eine Dame heutzutage ohne Krinoline zu erscheinen wagt, sowenig ein moderner Civilist ohne Konstruktion.“ Rudolf v. Jhering, 18612

Es scheint eine zwingende Wahrheit in dem Satz zu liegen: „Wer früher stirbt, ist länger tot.“ Die Geschichte der culpa in contrahendo ist insoweit interessant; denn sie folgt dieser Logik nicht. Ihre gemeinrechtliche Lebenszeit war ausgesprochen kurz bemessen, ihre Agilität unter der Geltung des BGB hingegen ist unübertroffen. Für dieses Phänomen gibt es drei Erklärungsmöglichkeiten. Zum einen ließe sich die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ in der Geschichte konstatieren: Es gibt nichts wirklich Neues; dies zu behaupten ist ein Zeichen von Unbildung. Es gibt aber auch nichts wirklich Totes; alles ist stete „Wiederentdeckung“ des Alten oder eben „Wiederbelebung“ des Abgestorbenen. Zum Zweiten ist es durchaus denkbar, an das Neue, den steten Fortschritt in Medizin und Rechtsfindung zu glauben und insoweit die Beschränktheit der gemeinrechtlichen Wissenschaft und die Lückenhaftigkeit des BGB für die voreilige Diagnose vom frühen Tod der c. i. c. verantwortlich zu machen. Schließlich kann man freilich auch festhalten am Glauben an den Tod. Die als „Wiederentdeckung“ oder „Fortschritt“ betitelte Faktizität positiver Rechtsvorstellung ist dann nichts als ein dogmatisches Gespinst, ein „civilistischer Homunculus“, bei dem ein orakelnder Geist aus einer fadenscheinigen Konstruktionshülse von Fall zu Fall finale Rechtswirklichkeiten schafft.  Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 23. Brief eines Unbekannten in: Preußische Gerichtszeitung, Nr. 41 v. 16. Juni 1861, wieder abgedruckt in: Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), S. 7. 1

2 Erster

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§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c.

Welcher Erklärung man hier auch zuneigt, in der Sache geht es letztlich doch immer um ein grundlegendes methodologisches Bekenntnis zur dogmatischen Konstruktion im Allgemeinen und zur Idee einer Kodifikation im Besonderen: Ist es sinnvoll oder überhaupt durchführbar, die Buntheit und Wandelhaftigkeit der Welt in konkreten Normen und Rechtsinstituten hinreichend konkret zu formulieren? Und da die Jurisprudenz diese Frage, will sie ihre Existenzberechtigung als Wissenschaft nicht gänzlich leugnen, schlechterdings nur bejahen kann, konzentriert sich eigentlich alles auf die Frage: Wie konkret oder wie abstrakt können oder müssen Normen und Rechtsinstitute sein? Für die pragmatische Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts stand die innere Stimmigkeit und praktische Brauchbarkeit der Rechtssätze im Vordergrund. Daher hat Jhering an seiner abstrakten Konstruktion nicht mehr festgehalten und später auch den modernen Kultus der Prinzipien überhaupt verworfen. Die vorvertraglichen Probleme bei unwirksamen Verträgen wurden „objectiver“, aber vor allem konkreter gelöst, und für wirksame Verträge hat insbesondere Friedrich Mommsen ebenso konkrete vorvertragliche Pflichten innerhalb einzelner Schuldverhältnisse herausgearbeitet. Die Idee einer möglichst klaren sachlichen Erfassung der Rechtsverhältnisse und die Vorstellung, dass jede Pflicht einer guten Begründung bedarf, ging aber mit dem Inkrafttreten des BGB ebenso schnell verloren wie der Glaube an die in ihm liegende ratio scripta. Die ausdifferenzierten Einzelregelungen wurden wieder zu einer einzigen „kahlen Formel“ abstrahiert, so als hätte es weder eine Revision Jherings noch eine gemeinrechtliche Diskussion zu diesem Thema gegeben. Das hatte einmal mehr seine Ursache in einer grundlegenden methodologischen Sinnkrise der Jurisprudenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts:

I. Rechtstheoretische Krise II: Ratio scripta oder Freirecht?

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I. Rechtstheoretische Krise II: Ratio scripta oder Freirecht? „Brechen wir den Bann, mit dem der Irrwahn uns gefangen hält. Jener ganze Cultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Mathematik des Rechts hinaufzuschrauben gedenkt, ist eine Verirrung und beruht auf der Verkennung des Wesens des Rechts. Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern die Begriffe sind des Lebens wegen da. Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postulirt, hat zu geschehen (…).“ Rudolf v. Jhering, 18653

1. Jherings Erben: Methodologische Radikalisierung „Ich fürchte, daß beim Lesen des obigen Titels manchen Fachgenossen ein gelindes Grauen erfassen und die Frage auf die Lippen drängen wird, ob dem Moloch ‚freie Rechtsfindung‘ noch nicht genug Druckerschwärze geopfert sei.“ Ferdinand Regelsberger, 19114

Es ist hier nicht der Platz, und es besteht auch nicht die Notwendigkeit, Ursachen, Inhalt, Bedeutung und Folgen der „Freirechtslehre“ neuerlich ausführlich zu betrachten.5 Die Wiederbelebung der c. i. c. ist jedenfalls nicht denkbar ohne die Wiederbelebung ihrer methodologischen Basis: der Gefühlsjurisprudenz. Wieder ist es eine Krise in der Methodologie der Rechtsfindung, die für eine Konjunktur der „Billigkeit“ im Rahmen der rechtsdogmatischen Evolution sorgte. Nur diesmal vollzieht sich diese Krise nicht als wankend suchender Prozess bei nur einem Rechtsgelehrten. Die Scherz-und-Ernst-Phase Jherings wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zur maßgeblichen methodologischen Geisteshaltung einer ganzen Juristen-Generation. Und sie hält (weitgehend unreflektiert) bis heute an. Die späte „Weihnachtsgabe für das juristische Publikum“, so der Untertitel der 1884 veröffentlichten Kompilation von Jherings Kritik an der gemeinrechtlichen Wissenschaft, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie durfte in keiner juristischen Bibliothek fehlen. Bis zum Tod des Verfassers haben seine Betrachtungen zu „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ nicht weniger als sechs Auflagen erlebt. Mit dem Inkrafttreten des BGB zur Jahrhundertwende waren es dann bereits zehn. Nicht etwa, dass sich nun die gesamte Jurisprudenz explizit zur Freirechtslehre i. e. S. bekannt hätte – das geschieht nur selten gegenüber der  Geist des römischen Rechts III (1865), § 59, S. 302 f.  Gesetz und Rechtsanwendung, JhJb 58 (1911), 146. 5 Hierzu etwa Larenz, Methodenlehre (1991), S. 59 ff.; Fikentscher, Methoden II (1976), S.  365 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1967), S. 579 ff.; Vallauri, Geschichte des Freirechts (1967); Riebschläger, Freirechtsbewegung (1968); Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freirechtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart (1971); R. Schröder, Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende, Rechtstheorie 1988, 323 ff.; Gängel / ​Mollnau (Hrsg.), Gesetzesbindung und Richterfreiheit. Texte zur Methodendebatte 1900–1914 (1992). 3 4

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Formulierung von Extrempositionen6 –, vielmehr reichte das Spektrum der Diskussion durchaus von der Betonung einer „Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz“ (Ernst Fuchs, 1909) bis zu den Warnungen vor den „Gefahren einer Gefühlsjurisprudenz in der Gegenwart“ (Fritz Berolzheimer, 1911). Jedoch sind es die maßgeblichen Grundprämissen einer neuen Methodenlehre, die am radikalsten von den Vertretern der Freirechtsbewegung benannt wurden und die eine bis heute nachwirkende7 Grundhaltung in der Rechtswissenschaft geprägt haben. Die Bewegung beginnt dort, wo v. Kirchmann und eben insbesondere Jhering zuvor schon angesetzt hatten: Bei einer harschen Kritik an einer begriffs‑ bzw. theorielastigen Jurisprudenz ihrer Zeit: „Diese neue Bewegung (…) hat nicht weniger zum Ziel, als das ganze bisherige Ideal abzutragen“, schrieb Herrmann Kantorowicz 1906 in seiner Programmschrift „Der Kampf um die Rechtswissenschaft“, bei der bereits im Titel die Anknüpfung an Jherings „Kampf ums Recht“ unübersehbar ist. Das ganze „bisherige Ideal“ wird dann plakativ und im Anschluss an die bestehenden Kritikansätze als „Rechtspositivismus“ und „Begriffsjurisprudenz“ ausgemacht.8 Was genau kritikwürdig und letztlich an deren Stelle zu setzen sei, wurde bei den Anhängern der Bewegung freilich nicht einheitlich beantwortet. Der Grundtenor war vor allem kritisch, und das heißt  – im Anschluss an Jherings begriffsbildender Kritik der Begriffsjurisprudenz9  – vor 6 Begriffsbildend

Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903); zum eigentlichen „harten Kern“ werden neben Ehrlich gezählt: Stampe, Rechtsfindung durch Konstruktion, DJZ 1905, 417 ff.; ders., Rechtsfindung durch Interessenwägung, DJZ 1905, 713 ff.; ders., Gesetz und Richtermacht, DJZ 1905, 1017 ff.; Kantorowicz (vgl. insb. die Programmschrift von 1906 „Der Kampf um die Rechtswissenschaft“, die unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius erschien); Fuchs, Schreibjustiz und Richterkönigtum (1907); ders., Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz (1909); ders., Juristischer Kulturkampf (1912); ders., Was will die Freirechtsschule? (1929), und schließlich noch Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929). Zu Grenzen und den Meinungsverschiedenheiten unter den ‚Freirechtlern‘, vgl. Stampe, Die Freirechtsbewegung. Gründe und Grenzen ihrer Berechtigung (1911), S. 25 f. Darüber hinaus vgl. die Übersicht zu den Angehörigen der frühen Freirechtsbewegung bei Reichel, Gesetz und Richterspruch (1915) und die umfangreiche Bibliographie bei Gängel / ​Mollnau, Gesetzesbindung und Richterfreiheit (1992), S. 411–440. Speziell zu Kantorowicz: Karlheinz Muscheler, Relativismus und Freirecht: ein Versuch über Hermann Kantorowicz (1984); Sebastian Silberg, Hermann Kantorowicz und die Freirechtsbewegung (2004). 7  Vgl. nur Thieme, Was bleibt von der Freirechtsschule? (1970/1976), S. 1159 ff.; Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freirechtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart (1971); A. Kaufmann, Freirechtsbewegung – lebendig oder tot? (1972), S. 251 ff. Zusammenfassend schon Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1967), S. 581: „Die Tendenzen der jüngsten Rechtsprechung zu Entscheidungen nach der konkreten Billigkeit des Einzelfalls wären ohne die frühe Ermutigung durch die Freirechtsschule und diese unmerkliche Veränderung des öffentlichen Bewußtseins so nicht denkbar.“ 8 Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 29 f. 9  Scherz und Ernst (1912), S. 337: „Es ist mir bitterer Ernst mit dem Angriff, den ich gegen die ‚Begriffsjurisprudenz‘, d. i. die Scholastik in der heutigen romanistischen Wissenschaft, unternommen habe (…).“

I. Rechtstheoretische Krise II: Ratio scripta oder Freirecht?

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allem antidogmatisch und antitheoretisch. An die Stelle des wissenschaftlichen, staatlich gesetzten Rechts sollte „freies“ Recht treten; an die Stelle juristischer Konstruktion die freie Rechtsfindung im Einzelfall. Der gemeinrechtliche Disput um ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Praxis wurde nun, da der Theorieentwurf kodifiziert war, zu einem Disput um das Verhältnis von „Gesetz und Richtermacht“. Freies Rechtsgefühl und freie Rechtsfindung kennzeichneten das methodologische Ideal bei den radikalsten Denkern dieser Bewegung. Wie weit diese Freiheit gehen dürfe, war – und ist bekanntlich bis heute – ein zentraler und schier unerschöpflicher Streitpunkt in der Methodendiskussion. Man hat sich seither vor allem um eben diesen Punkt, die Freiheit oder Gebundenheit des Richters, in einem quantitativ kaum zu überbietenden Ausmaß gesorgt, das zu allen rechtstatsächlichen Erkenntnissen in keinem Verhältnis steht und die eigentlich spannenden Punkte der von der Freirechtslehre ausgelösten Methodendebatte in den Hintergrund gedrängt hat. Neben der offenen oder stillen Anerkennung des Primats der Rechtsprechung vor dem Gesetz, d. h. der Praxis vor der Theorie, für die konkrete Entscheidungsfindung waren es aber vor allem zwei Dogmen des neuen Wissenschaftsverständnisses, die positiv vorgetragen wurden und als methodologische Glaubenssätze in der Tat das ganze „bisherige Ideal abzutragen“ den Grundstein legten: Erstens das Dogma von der Lückenhaftigkeit des (insbesondere gerade im BGB) kodifizierten Rechts (Lückendogma)10 und zweitens das Primat des (vorgefühlten) Ergebnisses vor der Entscheidungsbegründung (Finalismus)11. 10 Gegen das Lückendogma dezidiert noch Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I (1892), S. 371 ff.; grundlegend anders Bülow, Gesetz und Richteramt (1885); Ehrlich, Über Lücken im Rechte, Juristische Bl., 1888, 447 ff.; Jung, Von der „logischen Geschlossenheit“ des Rechts (1900), S. 133 ff.; Ehrlich, Freie Rechtsfindung (1903), S. 16 ff.; Zitelmann, Lücken im Recht (1903); Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft (1911), S. 641 ff.; Elze, Lücken im Gesetz (1913); Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz (1914), §§ 14–16; Ehrlich, Juristische Logik (1918); Burckhardt, Die Lücken des Gesetzes (1925). Das Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung war angesichts des schier unermesslichen Reichtums der Quellen noch eine ganz herrschende Auffassung im gemeinen Recht gewesen; hierzu nur Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung II/1(1951), S. 160; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1967), S. 458 ff.; Thieme, Was bleibt von der Freirechtsschule? (1970/1976), S. 1159. Insb. die engeren Vertreter der Freirechtsschule vertraten aber die Auffassung, dass eine Lücke immer schon dann vorliege, wenn das geltende Recht mit dem Rechtsgefühl nicht in Übereinstimmung steht: vgl. nur Fuchs, Was will die Freirechtsschule (1929/1965), S. 15 f.: „Der geborene Jurist entdeckt nämlich mit seinem Rechtsgefühl (Rechtsempfinden, Rechtssinn, Rechtsgewissen) überall da eine Lücke im gesetzten Recht, wo das formal folgerechte Unterordnen unter die Norm dem allgemeinen Gerechtigkeits‑ und Billigkeitsgefühl zuwiderläuft (…)“; ähnlich Jung, Rechtsregel und Rechtsgewissen, AcP 118 (1920), 1/101 ff.: Eine Lücke liege vor, wenn „eine neu auftauchende Frage mit den vorhandenen Begriffen und Hilfsmitteln nicht die rechte, die vor dem Rechtsbewußtsein gebilligte Lösung findet“. 11  Begriffsprägend Kantorowicz, Epochen der Rechtswissenschaft (1914), S. 345 f.: der der „formalistischen Richtung in der Rechtswissenschaft“ (die fragt: „wie muss ich diesen Text

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§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c.

Wenn ein Gesetz oder eine Kodifikation bei aller Gründlichkeit ihrer Abfassung tatsächlich und gleichsam naturnotwendig lückenhaft sein soll, dann rückt ebenso notwendig die Frage nach der tatsächlichen Grundlage für die juristische Entscheidungsfindung im Einzelfall in den Vordergrund der Betrachtung. Und wenn es tatsächlich gleichsam naturnotwendig so sein soll, dass das Ergebnis ohnehin vorläufig, d. h. also ohne Begründung und ohne Rücksicht auf einen Gesetzestext gefunden wird, dann fragt sich in der Tat, was anders dann genau die Entscheidung im Einzelfall leitet. Mit diesen beiden grundstürzenden Dogmen sind zwei zentrale Glaubenssätze der historischen Schule definitiv in Frage gestellt bzw. endgültig aufgegeben: 1.) Rechtsverhältnisse begrifflich scharf durch konkrete Rechte und Pflichten definieren zu wollen und 2.) die Vorstellung, dass allein eine wissenschaftlich erarbeitete Dogmatik und nicht eine ad-hoc-Rechtsfindung im Einzelfall brauchbare Begründungssätze liefert. Vereinfacht lässt sich der methodologische Wandel auf die Formel bringen: Die Rechtssicherheit einer historisch und rechtssystematisch begründeten Rechtsdogmatik verliert gegenüber der richterlichen Rechtsfindung im Einzelfall an Wertschätzung. Überall wurden nun Lücken im Recht geahnt und auch behauptet, wenn man mit dem gefundenen Ergebnis nicht zufrieden war, es nicht besser verstanden hat oder etwas Neues „entdeckt“ werden musste. Damit führte die neue Krise deutlich weiter als die methodologische Krise bei Jhering, der, wie gesehen, seiner Kritik gegenüber noch immer selbst kritisch geblieben war.12 „Voluntarismus“ (Jeder Akt der Rechtsfindung ist ein freier schöpferischer Akt des Willens) und „Finalismus“ (Der Wille findet erst das Ergebnis, dann die Begründung) werden nun als unabänderliche wissenschaftstheoretische Wahrheiten vorgetragen und so zum Fundament einer offen anerkannten oder doch stillschweigend akzeptierten allgemeinen Methodenlehre: Die juristische Konstruktion ist demnach „nämlich nichts als der Nachweis, daß nur die Anwendung bestimmter Rechtsbegriffe die gewollten Rechtsfolgen gewährt, so daß die Konstruktion die Konsequenz ihrer eigenen Konsequenzen ist“.13 auslegen, damit ich dem Willen entspreche, der einstens diesen Text formuliert hat“), die „finalistische Richtung“ gleichsam als Antipode gegenüber stellt; diese geht, „mag sie es wissen oder nicht – statt vom Buch, von dem ‚Sinn‘ der Wirklichkeit aus, von den als wertvoll erachteten Zwecken und Bedürfnissen des sozialen, geistigen, sittlichen Lebens; sie fragt: ‚wie muß ich das Recht handhaben und gestalten, um den Lebenszwecken zu genügen?‘; diesen Zwecken gemäß löst sie nun die unzähligen Zweifel des förmlichen Rechtes, füllt sie seine unzähligen Lücken aus.“ 12  In seiner Schrift zum „Besitzwillen“ stellt Jhering explizit sein geläutertes Methodenverständnis klar: „Ich bin nicht mit dem Vorurtheil an die Quellen herangetreten, das meiner Ansicht nach praktisch Richtige finden zu müssen, sondern erst, nachdem ich auf dem Wege einer gänzlich unbefangenen Lektüre der Quellen es gefunden, habe ich mich überzeugt, daß es das praktisch Richtige war.“ (S. 10). 13 Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 22.

I. Rechtstheoretische Krise II: Ratio scripta oder Freirecht?

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Hier wird sie nun explizit ausgesprochen, die Methodenlehre, die wir bereits bei der „Entdeckung“ der culpa in contrahendo am Werk gesehen haben. Dass erst das Ergebnis und dann die Begründung gefunden wird, hatte offenbar große Überzeugungskraft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Kantorowicz spricht denn auch selbstbewusst davon, dass „der Kampf nicht konstitutive, sondern deklarative Bedeutung hat, daß nur anerkannt werden soll, was unbewußt – wenn auch eben deshalb unvollkommen – stets und überall geübt worden ist, daß es nur gilt: auszusprechen, was ist“. Er sieht sich dabei nicht nur im Einklang mit namhaften Gelehrten (v. Kirchmann, Jhering, Kohler, Bülow, G. Rümelin), sondern, was für diese Lehre freilich viel wichtiger ist, „daß unter Richtern und Anwälten tausende der neuen Auffassung zugeneigt sind, eine Tatsache, die nur deshalb nicht greifbar hervortritt, weil jene Praktiker es leider nicht der Mühe für wert halten, sich für die ihnen seit jeher selbstverständlichen Lehren zu erhitzen“.14 Diese voluntaristische Lehre des Finalismus hat in Gustav Radbruchs einflussreicher „Einführung in die Rechtswissenschaft“ ihren Platz erhalten15 und wurde dann in etwas modernerer Fassung von Josef Esser als „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ (1970) noch einmal neu und ausführlich dem staunenden juristischen Publikum vorgetragen.16

14  Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 9; zur entsprechenden Sicht der Praktiker insb. schon Fuchs, Juristischer Kulturkampf (1912), S. 42 ff.; und schließlich Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), S. 23: „Jeder, der an Beratungen von Kollegialinstanzen teilgenommen hat, weiß, wie stark auch in allen denjenigen Fällen die Ansichten innerhalb der Diskussion hier ist, und wie oft das Zünglein an der Waage durch ein ganz irrationales Moment zum Ausschlag nach der einen Seite gebracht wird; ein irrationales Moment, d. h. ein solches, das keine verstandesmäßigen und logisch ableitbaren Zusammenhänge mit dem zu entscheidenden Tatbestande aufweist. (…)“; auch mit einer ausführlichen Auflistung von Stimmen aus der Praxis (S. 62 ff.); die Quintessenz der Stimmen ist immer dieselbe: Erst wird das Ergebnis gefunden, die Begründung folgt hinterher. Vgl. zum neuen Selbstverständnis der Judikative auch: Rückert, Richtertum (1994), S. 267 ff. 15 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (1929, S. 129; 1964, S. 166.): „Die Auslegung ist also das Ergebnis ihres Ergebnisses, das Auslegungsmittel wird erst gewählt, nachdem das Ergebnis schon feststeht (…).“ 16 Vgl. auch zuvor etwa: Brecher, Scheinbegründungen und Methodenehrlichkeit (1958); Scheuerle, Finale Subsumtion, AcP 167 (1967), 305; Dunz, Freirecht mit Skrupeln, JZ 1968, 54; und später: Berkemann, Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, JZ 1971, 537 ff.; R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung (1971); H.-J. Koch, Zur Analyse richterlicher Entscheidungen (1971); Lautmann, Justiz – die stille Gewalt (1972); Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung (1975); Bihler, Rechtsgefühl, System und Wertung (1979); Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung (1995); Leder, Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts (1998); Foerste, Verdeckte Rechtsfortbildung, JZ 2007, 122; Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007).

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2. Wider die ratio scripta: Voluntarismus, Finalismus und Rechtsgefühl „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“ Arthur Schopenhauer, 183817 „Was uns … interpretieren heißt, ist eben nicht das Gesetz und die Logik, sondern das freie Recht und der Wille, – bald der Wille, erwünschte Ergebnisse zu erzielen, bald derjenige, unerwünschten auszuweichen. Wir nehmen also nicht eine Konstruktion mit all ihren Konsequenzen an, weil sie die zwangloseste, logischste, natürlichste, beste ist, sondern umgekehrt erscheint uns eine Konstruktion als solche, wenn ihre Konsequenzen derart sind, daß wir sie wollen können.“ Hermann Kantorowicz, 190618

In der Freirechtsbewegung findet nun auf breiter Front die Abneigung gegen den von Jhering plakativ gegeißelten „Kultus des Logischen“ ihre Anhänger. Kalte Logik könne mit am Leben orientierter Gerechtigkeit nicht viel gemein haben. Gerechtigkeit lasse sich nicht aus Begriffen deduzieren. Und bis heute ist der Gebrauch des Wortes „Begriffsjurisprudenz“ ein ‚wissenschaftliches‘ Schimpfwort, mit dem die Geringschätzung gegenüber einer am Gesetzeswortlaut orientierten logischen Argumentation oder überhaupt jede Geringschätzung eines für unrichtig befundenen Ergebnisses zum Ausdruck gebracht wird.19 Was

17 Das

Zitat ist eine prägnante Zusammenfassung der Grundaussage Schopenhauers durch Albert Einstein in dessen „Glaubensbekenntnis“ von 1932: „Ich glaube nicht an die Freiheit des Willens. Schopenhauers Wort: ‚Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will‘, begleitet mich in allen Lebenslagen und versöhnt mich mit den Handlungen der Menschen, auch wenn sie mir recht schmerzlich sind. Diese Erkenntnis von der Unfreiheit des Willens schützt mich davor, mich selbst und die Mitmenschen als handelnde und urteilende Individuen allzu ernst zu nehmen und den guten Humor zu verlieren.“ Das Original findet sich in der preisgekrönten Schrift „Über die Freiheit des menschlichen Willens“, in: Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841) S. 81: „Du kannst t h u n was du w i l l s t : aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes w o l l e n und schlechterdings nicht Anderes, als dieses Eine.“ (Hervorhebungen wie im Original). 18  Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 24. 19 Zum Streit über diesen Begriff vgl. nur Sohm, Über Begriffsjurisprudenz, DJZ 1909, 1019 ff. einerseits; Heck, Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die wir bekämpfen?, DJZ 1909, 1457 ff. andererseits. Als Kampfbegriff gegen die Pandektistik des 19. Jahrhunderts fortgetragen insb. durch Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 193 f. (Christian Wolff als „Vater“ der ‚Begriffs-‘ oder ‚Konstruktionsjurisprudenz‘), S. 239: Puchta als Vollender) und Larenz, Methodenlehre (1960), S. 18 („Es war Puchta (…).“). Differenziert selbstkritisch allerdings noch Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 255: wir seien „von einer überzeugenden Kritik der Begriffsjurisprudenz weit entfernt.“ (Diese Einschränkung findet sich nicht mehr in der 2. Aufl.) Zu Unklarheit und Entwicklung dieses rechtstheoretischen Feindbildes vgl. nur die Beiträge bei Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz (1976); zu den „wissenschaftsgeschichtlichen Fesseln“ der insb. von Larenz und Wieacker vermittelten methodologischen „Kontinuitäten“: Rückert, Einführung, in: ders., Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 7 ff., 15; und zuletzt zu Recht relativierend Haferkamp, Georg

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bleibt, ist die Einsicht, dass die Rechtsfindung ein rein voluntativer Akt ist. Recht werde nicht aus dem Gesetz deduziert, sondern in einem freien schöpferischen Willensakt postuliert. Woher der Wille letztlich seinen Willen in die eine oder andere Richtung bezieht, bleibt freilich bei einigen Vertretern der Richtung weitgehend ungeklärt. So findet sich etwa bei Kantorowicz ein entschiedener Skeptizismus20 und in der Konsequenz mit dem Gedanken des „Voluntarismus“ notwendig verbundener individueller Relativismus21 als Basis aller Rechtsfindung klar formuliert: „Wir behaupten demgegenüber, daß viele Rechtsfälle überhaupt keine rechtliche Lösung zulassen. Wir lassen zunächst die schwierige, vielleicht sogar sinnlose Frage unerörtert, ob es nicht möglich sei, daß freies Recht Lösungen enthalte, ohne daß wir fähig wären diese Lösungen zu erkennen. … Und wie sollte es anders sein, da doch der individuelle Faktor sich in jeder Hinsicht … geltend macht. (…) In einer Zeit, die überall den individuellen Faktor mächtig zur Geltung bringt, konnte nur eine der geistigen Bewegung stets nachhinkende Wissenschaft, wie die Jurisprudenz, dieses Element vollkommen außer acht lassen. Und doch wird die Meinung sich durchsetzen müssen, daß auch über Rechtsfragen so wenig ein übereinstimmendes Urteil aller verlangt und erwartet werden darf, als jemand genötigt werden kann und darf, eine Handlung als gut, ein Kunstwerk als schön anzuerkennen, wenn seine abweichende Individualität eine abweichende Reaktion seines Gefühls mit Notwendigkeit herbeiführt.“22

Der Wille kann sich nicht selbst motivieren. Der Hinweis auf einen freien Akt eines freien oder schon unergründlich determinierten Willens bei der Entscheidungsfindung ist entweder zirkulär (Der Wille will es!) oder nichtssagend. Um

Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004). Selbst noch gegen den Entwurf zur Schuldrechtsmodernisierung, der mit seinen Generalklauseln alles andere als einen begrifflich klaren Systementwurf darstellte, wurde der Vorwurf der „Begriffsjurisprudenz“ erhoben; vgl. etwa U. Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 94 ff. und 104 f.: „Er (der Entwurf) bestätigt …, was wir alle eigentlich wissen, daß Begriffsjurisprudenz kein geeignetes Mittel der Rechtsgewinnung ist.“ 20 Deutlich: Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 18: „Statt daß man sich zunächst bei jeder Frage erst die Vorfrage stellt: Ist unser Fall denn überhaupt lösbar? stürzt man sich blind und siegessicher in die Diskussion (…) Und doch braucht es bei der unübersehbaren Kompliziertheit der sozialen Zusammenhänge, bei der Gegensätzlichkeit der wirtschaftlichen Interessen und der Lückenhaftigkeit des Gesetzestextes gar nicht erst ausgeführt zu werden, daß auf jene Vorfrage in tausend Fällen ein entschiedenes Nein geboten ist. Und unser Skeptizismus ist auch Problemen freien Rechtes gegenüber wohl am Platze … Ergebnisse der verschiedensten Kulturepochen und Lebenskreise, organisch geworden, nicht nach festem Plane erdacht, sind sie vielfach ungeprüft und ungeordnet im Bewußtsein und Unterbewußtsein zum Gebrauch niedergelegt (…). “ 21 Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 40 f.: „Uns, die wir auf dem Standpunkt stehen, daß auch fremdes Fühlen Achtung verdient, fällt es nicht ein, eine bestimmte Lösung (d. h., unserem Fühlen entsprechende) als die richtige zu preisen und als für alle anderen verpflichtend auszugeben (…).“ 22  Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 16 f.; in der Sache ähnlich auch Rumpf, Gesetz und Richter (1906). Kantorowicz distanziert sich erst später von seinem radikalen Voluntarismus: Tat und Schuld (1933), S. 47 ff.

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dem naheliegenden Einwand zu entgehen, Rechtsfindung sei letztlich in der Tat ein nicht näher ergründbarer finaler Akt der Willkür („Voluntarismus“ und „Finalismus“), wollen einige die Entscheidung aus soziologischen oder psychologischen Gesichtspunkten des Lebens entfalten,23 doch überwiegend erfolgt einmal mehr der Rekurs auf das als maßgebliche Instanz hinter dem Willen erkannte „Rechtsgefühl“24. Regelmäßig geht, wie bereits bei Jhering beobachtet, alles zusammen und mal dominiert der eine, mal der andere Gesichtspunkt. Aber ähnlich der heutigen Faszination für das Gehirn und die damit verknüpften neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und Determiniertheiten stand um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Gefühl als Alternative zum Gesetz in hoher wissenschaftlicher Wertschätzung fortschrittlicher Jurisprudenz.

23  Vgl. etwa Kohler, Über die Interpretation von Gesetzen, GrünhZ 13 (1886), 1; Ehrlich, Freie Rechtsfindung (1903): entscheidend seien das Wissen und das Gefühl für das Vergangene und Gegenwärtige, das allein ein gerechtes Urteil erlaube (S. 32); Wurzel, Das juristische Denken (1904); Stampe, Rechtsfindung durch Interessenwägung, DJZ 1905, 713 ff.; Müller-Erzbach, Rechtsfindung auf realer Grundlage, DJZ 1906, 1235. Aus diesem Ansatz, der das Erbe und den Anspruch der historischen Schule am ehesten fortsetzt, entwickelt sich die soziologische Rechtsschule einerseits (etwa Fuchs, Recht und Wahrheit in unserer heutigen Justiz, 1908; ders., Die soziologische Rechtslehre, DJZ 1910, 283–288; Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913) und die Interessenjurisprudenz andererseits (insb.: Heck, Interessenjurisprudenz und Gesetzestreue, DJZ 1905, 1140; ders., Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912; ders., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1 ff.; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932). 24  Keine der folgenden Schriften ist freilich in ihrer Tiefe den Überlegungen Jherings zu diesem Thema nahe gekommen; insb. lässt sich keine Einheitlichkeit über das, was Rechtsgefühl eigentlich sei, wie es entsteht und wie es zugehe, dass und inwieweit das Rechtsgefühl zu gerechten Entscheidungen führe. Nur exemplarisch seien genannt: G. Rümelin, der in seiner Rede „Über das Rechtsgefühl“ (1871) Vernunft („Intellekt“) und Gefühl recht originell durch den Gedanken des „Ordnungstriebes“ miteinander zu versöhnen sucht; Adickes erklärt dann in seiner „Lehre von den Rechtsquellen“ (1872) die „subjektive Vernunft“ zur maßgeblichen Instanz der Rechtsfindung; Schlossmann (Der Vertrag, 1876) präzisiert die subjektive Instanz wieder als „Rechtsgefühl“, in welchem „der Prüfstein für das Gerechte und das Ungerechte“ liege „und deshalb nur das als Satz der Rechtswissenschaft zugelassen werden kann, was sich vor dieser Instanz zu verantworten vermag“; Frank, Naturrecht, geschichtliches Recht und sociales Recht (1891) akzeptiert Vernunft und Rechtsgefühl als die maßgeblichen Instanzen, „das wirkliche Recht in Übereinstimmung mit dem idealen zu bringen“. Für Karl Gareis, Vom Begriff Gerechtigkeit (1907) sind insb. das Lust‑ und Unlustgefühl die maßgeblichen Quellen der Gerechtigkeit; daneben, ganz verschiedene Ansätze vorstellend: Löning, Über Wurzel und Wesen des Rechts (1907); F. Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, 1912 (insb. S. 37 ff.); Kübl, Das Rechtsgefühl (1913); Radbruch etwa, in seinem Aufsatz „Über das Rechtsgefühl“ (1914/15, S. 337 ff.), möchte einen Dualismus zwischen Gewissen und Rechtsgefühl erkennen, wobei dieses (ganz im Sinne der Jhering’schen KampfesEthik von 1872) als ein „System des Rechts und der Ehre, des Kampfes und des Stolzes“ jenes hingegen als ein „System der Pflicht und der Liebe, des Friedens und der Demut“ angenommen wird, und so stehe „neben unserem christlichen Gewissen … unvermittelt unser vorchristliches Rechtsgefühl“ (S. 341); M. Rümelin, Die Billigkeit im Recht (1921); ders., Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein (1925); schließlich Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), insb. S. 56 ff. Im Kern analytisch distanziert und nur deskriptiv Riezler, Das Rechtsgefühl (1921).

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Diese Entwicklung hat ihre geistesgeschichtlichen Vorläufer: Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Aufschwung der Psychologie als neue sich von der Philosophie lösenden Leitwissenschaft bescherte den hinter dem Willen vermuteten „Trieben“ und dem „Unterbewussten“ als maßgeblichen Handlungsmotiven eine enorme Bedeutung für die Geisteswissenschaften insgesamt. Für die Philosophie des Geistes waren die Themen „Wille“ und „Selbstbewusstsein“ seit jeher zentrale Begriffe, notwendige Axiome und Gegenstände philosophischer Spekulation insbesondere zuletzt auch der idealistischen Philosophie in der Nachfolge Kants.25 Den Einfluss dieser willenstheoretischen Betrachtung der Welt auf rechtsdogmatische Konstruktionen, insbesondere der Rechtsgeschäftslehre, haben wir bereits näher kennen gelernt. Doch ist von diesem psychologischen Grundgedanken aus auch eine sehr grundlegende erkenntnistheoretische Strömung ausgegangen, deren früher Ausläufer uns ebenfalls schon, und zwar bei Jherings Rekurs auf die Billigkeitsjurisprudenz bei der Entdeckung seiner culpa in contrahendo, begegnet ist. Insbesondere Arthur Schopenhauer (1788–1860) begründete mit seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“26 und der Preisschrift „Über die Freiheit des menschlichen Willens“ (1839) für den deutschen Sprachraum einen nicht nur auf die Freirechtsschule begrenzten einflussreichen „Voluntarismus“ in den Wissenschaften.27 25  So ist es vielleicht nicht überraschend, dass sich Kants Nachfolger auf dem Königsberger Lehrstuhl, Johann Friedrich Herbart (1776–1841), mit einer Reihe von Veröffentlichungen um eine eigenständige Lehre der Psychologie bemüht und verdient gemacht hat. Sehr einflussreich suchte insb. Eduard v. Hartmann (1842–1906) in seiner zweibändigen „Philosophie des Unbewussten“ (1. Aufl. 1868; 9. Aufl. 1882) die voluntaristischen Philosophieansätze Hegels und Schopenhauers zu vereinen und die Aufmerksamkeit auf die tieferen Schichten unterhalb des Bewusstseins zu lenken. In dieser Tradition stehen dann die tiefenpsychologischen Ansätze bei Wilhelm Wundt (1832–1920), Sigmund Freud (1856–1939), Alfred Adler (1870–1937), Carl Gustav Jung (1875–1961), um nur einige Namen aus der Gründungszeit der Psychologie zu nennen. Durchaus passend konstatiert Odo Marquard (Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 9): „Die Psychoanalyse ist – philosophisch gesehen – die Fortsetzung des deutschen Idealismus unter Verwendung entzauberter Mittel.“ Oder anders formuliert: der deutsche Idealismus wird nun empirisch und mithin wissenschaftlich betrieben. Für die Moralphilosophie der Zeit ist neben Eduard v. Hartmanns „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins“ (1878) insb. Franz Brentano (Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 1889) zu erwähnen, der einflussreich den Begriff des „Wertfühlens“ geprägt hat: Die innerlich gefühlte Wertevidenz ist danach die letzte Instanz für die Richtigkeit von Werten. Hierauf baut die Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) auf, wonach Werte ihrem Wesen nach nur als „intentionale Korrelate des wertenden Aktes“ und immer nur „in der Einheit des synthetischen Gefühls“ gegeben sind; und diese Grundthese des Intuitionismus kennzeichnet dann auch die Basis der objektiven Wertethik bei Max Scheler (1874–1928) und Nicolai Hartmann (1882–1950): „(…) es gibt eben ein reines Wert-Apriori. Das unmittelbar, intuitiv, gefühlsmäßig unser praktisches Bewusstsein, unsere ganze Lebensauffassung durchzieht, und allem, was in unseren Gesichtskreis fällt, die Wert-Unwert-Akzente verleiht.“ (Ethik, 1926, S. 116). 26 Erster Band: 1. Aufl. 1819, 2. Aufl. 1844, 3. Aufl. 1859; zweiter Band: 1844. 27  Begriffsprägend: Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887); ders., Die Tatsache des Wollens (1892); für die Geschichtsphilosophie: Paul Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, 1897; Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens (1904).

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Der gegen den Optimismus der Aufklärung gerichtete metaethische Grundgedanke desselben, wonach nicht die Vernunft, sondern der Wille alles menschliche Denken und Handeln bestimme, findet sich freilich bereits bei David Hume (1711–1776) in der Tradition des ethischen Sensualismus28 sehr radikal so ausgedrückt: „Die Vernunft ist und soll nur der Sklave der Leidenschaften sein, sie kann niemals eine andere Aufgabe beanspruchen, als ihnen zu dienen und zu gehorchen.“29 Hier ist die These, dass das Ergebnis (eine Entscheidung) bereits emotional feststeht und eine Begründung dafür erst hinterher rational gefunden wird, für die Moralphilosophie zum ersten Mal deutlich ausgesprochen: Die Neigungen, Triebe, Affekte, Leidenschaften – kurz: der Wille bestimmt unsere Handlungen, die Vernunft konstruiert die Rechtfertigungen ex post.30 Die Vernunft ist demnach nicht das Primäre, sondern nimmt nur eine dienende Stellung ein; die Leidenschaften und Gefühle der Lust und Unlust diktieren der Vernunft ihre Gründe. Gustav Rümelin hat diesen philosophischen Grundgedanken dann in seiner Rede „Über das Rechtsgefühl“ am 6. November 1871 unter (freilich irrtümlicher) Berufung auf Benedictus de Spinoza (1632–1677)31 zusammenfassend so formuliert: „… der Mensch erstrebt, will, verlangt oder begehrt nichts deswegen, weil er es für gut hält, sondern umgekehrt, weil er es erstrebt, will, verlangt oder begehrt, hält er es für gut. Ich möchte diesem Satz eine weit größere Tragweite zuschreiben, als die sein Autor selbst ihm gab, und ihn gerade heutzutage, wo es eine so vorherrschende Übung ist, alle psychischen Vorgänge von den Vorstellungen aus zu konstruieren und die Seele als einen passiven Tummelplatz innerer Bilder zu deuten, an die Spitze aller psychologischen Lehrbücher schreiben. Also: der Mensch will nicht etwas, weil er es für gut hält, sondern weil er es will, nennt er es gut.“32

28 Shaftsbury, Hutcheson, Adam Smith; vgl. bereits oben § 1 I.2. zu den Vorläufern von Jherings Gefühlsjurisprudenz. 29  „Reason is and ought only to be the slave of the passions (…)“, in: A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects (1738–1740); deutsch: Ein Traktat über die menschliche Natur), II 3, 3. 30  Vgl. insoweit schon die Beobachtung bei Blaise Pascal (1623–1662): „Der Willen ist eins der vorzüglichsten Werkzeuge des Glaubens, nicht daß er den Glauben bildet, sondern weil die Dinge wahr oder falsch erscheinen, je nachdem man sie von der einen oder andern Seite betrachtet. Der Wille, welchem die eine besser gefällt als die andre, wendet den Geist davon ab, die Eigenschaften der Seite, die er nicht liebt, zu beschauen, und so macht, der Geist mit dem Willen gemeinschaftliche Sache und verweilt dabei, die Seite, welche dieser liebt, zu betrachten, urtheilt nach dem, was er hier sieht und regelt unmerklich seinen Glauben nach der Neigung des Willens.“ (Gedanken, I,6,13). 31 Ein entsprechendes Zitat lässt sich bei Spinoza nicht finden; es widerspricht auch seiner Ethik; denn anders als Hume steht Spinoza noch in der Tradition, die davon ausgeht, dass die Vernunft die Triebe, Begierden und Leidenschaften bezwingt und insoweit das intellektuelle Korrektiv zur animalischen-körperlichen Seite des Menschseins und mithin den zentralen Maßstab für unser moralisches Handeln darstellt. 32  G. Rümelin, Über das Rechtsgefühl (1875), S. 64; ausf. zu diesem wissenschaftstheoretischen Dogma auch ders., Werturteile und Willensentscheidung (1891). Das Originelle in

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Die Individualität der Wertungen und die Individualität der Gefühlswelt bilden die Grundlage des dann schließlich am Beginn des 20. Jahrhunderts pointiert von Hermann Kantorowicz proklamierten voluntaristischen Werterelativismus in der Rechtswissenschaft. Wolle die Rechtswissenschaft „Rechtsquelle“ sein, so müsse sie „… dieselbe Natur haben wie alle übrigen Quellen, und wie das Recht selbst muß sie Wille sein. Mit dieser Erkenntnis schließt sich die Rechtswissenschaft dem Zuge der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert an und tritt in ihre voluntaristische Phase. (…) Gerade aber die Rechtswissenschaft ist das Gebiet, auf welchem die voluntaristische Auffassung ihre höchsten Triumphe feiern kann. Der Primat des Willens ist nirgends unbestreitbarer als hier (…).“33

Erst wird das Ergebnis gefunden, gefühlt, intuitiv aus der inneren Fülle un(ter)bewusster Weisheit geschöpft. Begründet wird es, weil es gewollt ist. Und die letzte Idee der Begründung ist die Idee der die Beschränkungen des positiven Rechts überschreitenden Gerechtigkeit. Für die Jurisprudenz verbanden sich in diesem Zuge Voluntarismus und Emotivismus explizit mit der Idee der Gerechtigkeit selbst: „So strebt denn die Bewegung mit allen Kräften einem Ziele zu, das alle die genannten in sich schließt, – dem höchsten Ziele alles rechtlichen Geschehens – Gerechtigkeit. Nur wo gesprengt der enge Kanon weniger Paragraphen, die Fülle freien Rechtes die Möglichkeit gewährt, jedem Fall die angemessene Regelung zu geben, nur wo Freiheit ist, – ist Gerechtigkeit. Nur wo statt unfruchtbaren Tiftelns ein schöpferischer Wille neue Gedanken zeugt, nur wo Persönlichkeit ist, – ist Gerechtigkeit. Nur wo ein aus dem Buch ins Leben fortgewandter Blick des Handelns fernste Folgen und Bedingungen ermißt, nur wo Weisheit ist, – ist Gerechtigkeit.“34

Die Entscheidung des Einzelfalls zielt als Rechtsakt auf Gerechtigkeit, doch die ist als tiefer liegender Wert „für den Verstand schlechthin unerfaßlich“, d. h. unbegreiflich und mithin bar jeder begrifflichen Formulierung; sie ist notwendig „irrational“35 und werde allein „durch das Rechtsgefühl erzeugt“.36 Was von Rümelins Vortrag ist nun, dass er zwar den Bruch von Gefühl und Intellekt als philosophischen Ausgangspunkt akzeptiert, letztlich aber die Dichotomie in dem Gedanken eines „Ordnungstriebes“, den er auch als „Vernunfttrieb“ und „Trieb der Lebensharmonie“ bezeichnet, wieder zusammenführt und so der Vernunft letztlich in das „Rechtsgefühl“ wieder Einlass gewährt bzw. sogar in Eins setzt: „Gewissen und Rechtsgefühl haben die Idee des Guten zu ihrem gemeinsamen Inhalt und Ziel; sie fassen es als ordnende Norm des Willens und wollen es zur Macht und Herrschaft bringen.“ (S. 73); dieser Ordnungsgedanke, der zwangsläufig wieder auf das System hinführt, wurde von der Freirechtslehre nicht rezipiert. 33 Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 20. 34  So schon der pathetische Schluss bei Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 46 f. 35 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), S. 23: „… ein irrationales Moment, d. h. ein solches, das keine verstandesmäßigen und logisch ableitbaren Zusammenhänge mit dem zu entscheidenden Tatbestande aufweist (…).“ 36 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), S. 18, 25: „Die Norm ist ihrem Wesen nach

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einer solchen Gefühlsjurisprudenz wissenschaftlich zu halten ist, ist bereits oben ausgeführt: Prinzipiendeduktion bei der Rechtsfindung im Einzelfall und amorphe Abstraktion bei der Rechtsschöpfung allgemeiner Rechtssätze. Das, was auf den ersten Blick aussieht wie eine Befreiung des Richters von den Zwängen eines Subsumtionsautomatismus, ist in seiner Konsequenz auch und vor allem eine ‚Befreiung‘ der Rechtswissenschaft von den Zwängen einer mit dem BGB notwendig vorgegebenen systematischen Dogmatik und seinen rechtsethischen Prämissen. Überhaupt beginnt an dieser Stelle der Niedergang des Systemdenkens in der Zivilrechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts. Das System war für die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts im Anschluss an Kants Wissenschaftstheorie noch ein ganz unverzichtbares Merkmal ihrer Wissenschaftlichkeit. Die Vorstellung aber, das Recht lasse sich für die Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse tatsächlich in einem System erfassen, stieß aufgrund seiner notwendigen Nähe zum „Kultus des Logischen“ in den Misskredit der allgemeinen Hatz auf die „Begriffsjurisprudenz“, und mit Beginn des 20. Jahrhunderts in dauerhaften Verfall: „Die Jagd … nach einem allgemein gültigen System von Sätzen, gleichviel ob staatlichen oder freien Rechtes, ist zumal in einem Zeitalter des steigenden Individualismus nichts als die Utopie einer dilettantischen Logik.“37

Die freirechtliche Theorie knüpfte also zwar am naturrechtlichen Grundgedanken an, dass der positive Rechtssatz zufällig und allein deshalb zweifelhaft sei, unterschied sich aber zugleich ganz grundsätzlich von der methodologischen Vorstellung des klassischen Natur‑ und Vernunftrechtsdenkens darin, dass es dem geltenden Recht gerade kein alternatives (Rechts‑)System positiv entgegen stellte. Die methodologische Kritik war daher vor allem abstrakt destruktiv und – wenn sie ausnahmsweise praktisch wurde – allenfalls punktuell, d. h. ohne ernsthafte dogmatisch-systematische Ambition. Für die weitere Entwicklung der Zivilrechtsdogmatik hatte das dramatische Folgen. Der Phantasie in der Rechtsfortbildung waren von diesem freirechtlichen Theorieansatz dogmatische Schranken nicht mehr gesetzt, und die Verantwortung für neue, frei gefundene Rechte trug letztlich ohnehin nicht der Theoretiker, sondern allein der in der Praxis tätige Richter. Paul Feyerabends „anything goes“38 wurde sehr frühzeitig von der deutschen Jurisprudenz antizipiert: Von

rational, die Entscheidung entsteht irrational und enthält jedenfalls irrationale Elemente.“; Gareis, Vom Begriff Gerechtigkeit (1907), hatte es so formuliert: „Die Gerechtigkeit besteht also … darin, daß dem mit Rücksicht auf die Mit‑ und Nachwelt unseres Gemeinwesens sich bildenden Lust‑ und bzw. Unlustgefühl entsprochen werde.“; Fuchs, Was will die Freirechtsschule (1929), S. 14: „… die innerste Triebfeder der Gerechtigkeit ist das Rechtsgefühl, d. i. der Sinn für das, was recht und billig ist.“ 37  Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 23. 38 Vgl. seine Wissenschaftstheorie: „Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen

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der Beliebigkeit der Methodenwahl zwischen Analogie und Umkehrschluss, Entwicklung eines allgemeinen Rechtsgedankens oder eines rechtsethischen Prinzips, von der Annahme eines Gewohnheitsrechts bis zur „rechtsethischen Notwendigkeit“ einer „Vertrauenshaftung ohne Vertrauen“  – die Dogmengeschichte der c. i. c. ist das Paradebeispiel für methodologisches „anything goes“, eine Frucht, die nur auf dem methodologischen Boden gedeihen konnte, der vom freirechtlichen Gedanken des „Voluntarismus“ bereitet war: Haftung, wenn man nur will, und Begründung, wie man nur will. Das zunächst gefühlte und sodann gewollte Ergebnis wurde zum Dreh‑ und Angelpunkt der Rechtsfindung und der Rechtsschöpfung im 20. Jahrhundert. So hatte es Hermann Kantorowicz bereits 1906 deutlich vorausgeahnt: „Denn nachdem das 19. Jahrhundert vorüber ist, dieses Zeitalter der Halbheit und des Kompromisses, gehen wir einem 20. entgegen, das, wenn nicht alle Zeichen trügen, in Kunst und Wissenschaft und Religion ein Jahrhundert des Gefühls und des Willens sein wird (…); aus den Trümmern der Dogmatik wird, zum Entsetzen aller Unklaren, der Stolz der Zukunft steigen, die Freie Rechtsschöpfung.“39

Es versteht sich freilich von selbst, dass grundlegende Veränderungen sich erst allmählich vollziehen. Die radikalen Thesen einiger Rechtserneuerer mussten zunächst durch die Läuterung des energischen Widerspruchs der älteren Generation40 in der Vermittlung allgemeineren Beifall finden. Insbesondere das Reichsgericht verstand sich zunächst in seiner eigenen Tradition.41 Die dem Richter zugedachte zentrale Rolle bei der (freien) Rechtsfindung entsprach (noch) nicht dem noch durch die Aufklärung tradierten Richterbild des 19. Jahrhunderts.42 Die „voluntaristische Phase“ und der Anschluss an den allgemeinen „Zug der Geisteswissenschaften“ setzte in der Richterschaft mit einiger Verzögerung erst nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und zu einer Zeit ein, da in der Weimarer Republik mit dem politischen System auch die Achtung vor dem Geist

Erkenntnistheorie“ (1976). Die Vorstellung von einer anarchistischen Theorie der Rechtsfindung entbehrt nicht einer gewissen Ironie. 39 Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 23. 40 Kritisch gegen die Bewegung etwa: Landsberg, Das entgegengesetzte Extrem?, DJZ 1905, 921; Michaelis, Die Emanzipation des Richters vom Gesetzgeber, DJZ 1906, 395; Klein, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Allg. österreich. Gerichts-Zeitung, 1906; Unger, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, DJZ 1906, 783 ff.; Bülow, Über das Verhältnis der Rechtsprechung zum Gesetzesrecht, Recht 1906, 773 ff.; Oertmann, Gesetzeszwang und Richterfreiheit (1908); Sohm, Über Begriffsjurisprudenz, DJZ 1909, 1021; Mitteis, Freirechtslehren und Juristenzunft, DJZ 1909, 1038. 41  Hierzu die Beiträge in: Falk / ​Mohnhaupt (Hrsg.) Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896–1914), 2000. 42  Hierzu Hübner, Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters in der Geschichte des Privatrechts (1980); Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert (1986).

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der Gesetzgebung generell ins Schwanken geraten war. Das den Freirechtlern vorschwebende Ideal der umfassend gebildeten Richterpersönlichkeit, wie sie als Konsequenz der freien Rechtsschöpfung vorausgesetzt und gefordert wurde,43 hat es freilich zu keiner Zeit gegeben. Die ersten 10 Jahre nach Inkrafttreten des BGB waren zunächst noch eine „Dekade des richterlichen Gesetzespositivismus“.44 Die Abneigung gegen methodisch sauber gebundene Deduktionen aus dem Gesetzestext breitete sich zunächst in der „fortschrittlichen“ Rechtswissenschaft aus: 3. Wissenschaftliche Identitätskrise: Das Lückendogma „Die Erkenntnis, daß das Gesetz unvermeidlich lückenhaft und innerhalb seiner Lücken der Richter zu gesetzgeberähnlich freier Rechtsfindung genötigt sei, ist das Verdienst der ‚freirechtlichen Bewegung‘, die, das kräftigste Lebenszeichen der deutschen Rechtswissenschaft seit Jhering, … den jeder Erkenntnis beschiedenen Weg von der Paradoxie zur Trivialität in wenigen Jahren durchmessen und angesichts der ihr unverhofft zugewachsenen Fülle durch Alter und Stellung ausgezeichneter Anhänger schon jetzt über Mangel an Gegnern und über die zu schnell verblühte Zeit jugendlich kecker Husarenritte ins juristische Philisterland zu klagen hat.“ Gustav Radbruch, 1929 – 6945

Die „neue Auffassung von der Rechtswissenschaft“ protestierte gegen die Bindung an das Gesetz und erinnerte selbstbewusst an den Gedanken der frühen historischen Rechtsschule, dass Rechtswissenschaft selbst gestalterische „Rechtsquelle“ sein müsse, wenn sie Wissenschaft sein wolle. Diese Erinnerung mochte ihren berechtigten Platz haben, wenn und solange sich mit diesem Anspruch auch die Gründlichkeit der historischen Schule verknüpft fände. Doch wendete sich diese methodologische Erneuerung hauptsächlich gegen die Brauchbarkeit der eben erst erlassenen Kodifikation BGB. Sich selbst als „Rechtsquelle“ auszurufen, ohne auch die Tiefe der Gedanken des Gesetzbuches überhaupt

43 Vgl. nur die Beschreibungen bei Ehrlich, Freie Rechtsfindung (1903), S. 20 f.: „… da es keine andere Gewähr der Rechtspflege als in der Persönlichkeit des Richters gibt.“; Kantorowicz (1906): „Wir brauchen Richter, die sowohl mit den im Volke herrschenden Rechtsanschauungen, als mit den Tatsachen des Lebens und den Ergebnissen benachbarter Wissenschaften vertraut sind. Die mit gründlichster nationalökonomischer und kaufmännischer Bildung ausgerüstet keinem Bankprozeß mehr hilflos gegenüberstehen. Die allen Schlichen des modernen gewerbsmäßigen Verbrechers so gewappnet entgegentreten, wie sie mit der Eigenart künstlerischer Berufsverhältnisse vertraut sind.“ Kritisch bereits Michaelis, Die Emanzipation des Richters vom Gesetzgeber, DJZ 1906, 395: Der von der Freirechtsbewegung geforderte Richter entspräche dem von Nietzsche beschriebenen Bild vom „Übermenschen“. Ausf. zu diesem Problem Benedict, Rechtskritik (2009). 44  Giaro, Culpa in contrahendo (2000), S. 126. 45  Einführung in die Rechtswissenschaft (7./8. Aufl. 1929), S. 130; bis in die letzte, 12. von Konrad Zweigert besorgte Auflage (1969).

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ausgelotet und nachvollzogen zu haben, zeugt in der Tat von einem „jugendlich kecken Husarenritt“, dessen methodologische Folgen freilich bis heute nicht „verblüht“ sind.46 Paradigmatisch ist hier Herrmann Kantorowicz, der sich mit allen möglichen Themen, jedoch mit keinem einzigen zivilrechtlichen Institut, geschweige denn mit den komplexen Interdependenzen und Ausdifferenzierungen der zivilrechtlichen Normen überhaupt eingehender befasst und gleichwohl ganz allgemein und aus einer prinzipiellen Rolle der Rechtswissenschaft deduzierend zur freien Rechtsschöpfung aufgerufen hat: „Ist das Gesetz in seiner Blöße enthüllt, so kann die Rechtswissenschaft nicht mehr sich begnügen mit der Rolle eines bloßen Sprachrohrs, einer in Selbstverleugnung sich erschöpfenden Handlangerin des Gesetzgebers: Die Bedürfnisse des Rechtslebens verlangen eben, weil das Gesetz sie nicht befriedigen kann, danach, daß andere Mächte, zunächst die Rechtswissenschaft, frei und schöpferisch ihr zur Seite treten.“47

Kantorowicz ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Es ist bereits von anderen bemerkt worden, dass „mit den Klassikern verglichen fast alle diese Rechtserneuerer als Rechtsdogmatiker zu den ‚Kleinen‘ zählen“48, die sich kaum je mit den Niederungen des praktischen Falls und der Rechtsdogmatik abgegeben haben. Das Dogma von der Lückenhaftigkeit des Rechts und die vermeintlich höhere Einsicht in die „Bedürfnisse des Rechtslebens“ ersetzte nun jede tiefere Einsicht in das ausdifferenzierte Regelungskonzept der zivilrechtlichen Institute. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vollzieht sich ein folgenschwerer Schritt in der Rechtswissenschaft: Die Auflösung ihrer Ganzheitlichkeit. Die Rechtsdogmatik löst sich von ihren geisteswissenschaftlichen Grundlagen (Philosophie und Geschichte), und die Grundlagen lösen sich von der praktischen Jurisprudenz. Die noch aus dem Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts für notwendig erkannte Einheit von Philosophie, Historie und Dogmatik ging verloren. Diejenigen, die nicht dogmatisch arbeiteten, proklamierten ein neues Wissenschaftsverständnis für die Rechtsfindung. Und diese neue Lehre von Voluntarismus und Lückendogma fiel auf fruchtbaren Boden auch in der praktischen Jurisprudenz: Dabei spielten verschiedene Aspekte zusammen: Die Eingängigkeit und Plausibilität dieser neuen Lehre seit Jhering und die Zunahme der fächerübergreifenden Anhängerschaft für die neu verkündeten methodologischen Einsichten. Aber wichtig ist vor allem ein anderer Punkt: Wissenschaftlicher Ehrgeiz kann nur darauf zielen, Neues zu formulieren, d. h. „Entdeckungen“ zu machen und nicht lediglich mit „Hülfe der hermeneutischen Leuchte dunkle Gesetzesstellen

46 Hierauf hat zu Recht hingewiesen Düringer, Eine neue Methode, Recht 1908, 262 ff.; zum methodologischen Fazit dann auch unten § 9 (Einzelfallgerechtigkeit). 47  Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 16. 48 Vallauri, Geschichte des Freirechts (1967), S. 33.

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zu erklären“49. Es wäre für ambitionierte Wissenschaftler schon eine deprimierende Vorstellung, es gäbe nun tatsächlich eine umfassende Kodifikation, die alle juristische Weisheit der letzten Jahrhunderte in sich vollständig verdichtete. Was bliebe dann noch zu tun?50 „Ich wiederhole nun ausdrücklich: Die Schuld dieser Proceduren liegt nicht an unseren Schriftstellern, sondern an den Verhältnissen. Schreiben sollen sie einmal. Einfach die bereits vorhandenen Ansichten reproduzieren dürfen sie nicht,  – das gilt nicht als ‚literarische Leistung‘, – was bleibt also übrig, wenn die Vorgänger alles Gute bereits vorweggenommen haben, als das Schlechte zu nehmen? Sind die denkbaren vernünftigen Ansichten über den Gegenstand vollständig erschöpft, nun gut, wer will es einem armen Schriftsteller, der trotzdem eine neue Ansicht aufstellen muß, zur Last legen, daß er zu einer unsinnigen hat greifen müssen?“51

Die Sympathie für das freirechtliche Dogma von der Lückenhaftigkeit des BGB findet ihren Grund daher gar nicht primär in der Einsicht der schon von Savigny benannten Schwierigkeit einer erschöpfenden Erfassung des Rechtsstoffs, sondern vor allem in einem grundsätzlichen Bedeutungsverlust, den eine ernst zu nehmende Kodifikation für das wissenschaftliche Engagement notwendig mit sich bringt. Die Kodifikation soll die Quintessenz wissenschaftlicher Bemühungen sein. Und kein ernst zu nehmender Schriftsteller, der gerade ein wissenschaftliches Buch publiziert hat, wird sogleich beginnen, es neu zu schreiben, weil er es für misslungen oder wesentlich unvollständig hält.52 Die Sache wird jedoch dann komplizierter, wenn Rechtswissenschaftlern, deren Selbstverständnis darin besteht, wichtige und bedeutende Bücher zu schreiben – und zwar Bücher, denen bis eben noch Rechtsquellencharakter zuteil wurde – nunmehr die hermeneutische Kommentierungsleuchte gleichsam in die Hand gezwungen wird. Die Armseligkeit des eigenen Daseins und der verbleibenden Aufgabe wird noch verschärft und unterstrichen, weil das, was Jhering einst bei der Beschreibung der „Aufgabe“ dogmatischer Wissenschaft als die weite Philosophie praktischer Jurisprudenz glorifizierte, das Forschen und Konstruieren aus dem gewaltigen Quellenmaterial des Corpus Iuris, nun plötzlich für die Neubildung von Rechtssätzen offenbar keine Rolle mehr spielte. Der Blickwinkel wurde gleichsam schlagartig auf eine einzige Rechtsquelle verengt:

49 Jhering,

Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 52.  Vgl. die kritische Bemerkung bei Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 23: „Nur wo das Gesetz noch jung ist, ist der Wille, es möglichst rein darzustellen, stark und erfolgreich, der dogmatische Wert des Lehrbuchs dann freilich aber auch am geringsten, wie zahlreiche Lehrbücher des neuen bürgerlichen Rechts beweisen.“ 51  Sechster Brief eines Unbekannten, Preussische Gerichtszeitung (1866), 309 ff., auch in: ders., Scherz und Ernst (1884), S. 111. 52  Bemerkenswert ist insoweit immer noch Flumes Vorwort zur 4. Auflage seines Lehrbuchs zum Rechtsgeschäft, wo er konstatiert, dass sich seit der Vorauflage „nichts ergeben“ hätte, „was eine Neubearbeitung erfordern würde“. 50

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das BGB.53 Eine Methodenlehre, die, wie die historische Rechtsschule es lehrte, von der umfassenden historischen Anschauung herkommend ihre juristischen Begriffe bildete, war nun offenbar nicht mehr viel Wert. Die eigentliche „Begriffsjurisprudenz“ wurde jetzt in einer gleichsam gesetzestreuen Dogmatik und an der diesbezüglichen Praxis des Reichsgerichts wahrgenommen. Wer immer Geist für sich in Anspruch nahm, suchte sich über den (Un‑)Geist der Kodifikation zu erheben, indem in dieser die begriffliche Logik und Schärfe herabgesetzt und der eigene Scharfsinn (bei der Entdeckung von „Lücken“ und bisher ganz unbedachten „Bedürfnissen des Verkehrs“) heraufgehoben wurde. Kurz: Wo der Glaube an die einzig noch Sinn und Erlösung verheißende wissenschaftliche Aufgabe allmählich zum Gemeingut wird, da lässt sie auch nicht lange auf sich warten: die „Entdeckung“ von Gesetzeslücken. Es ist in diesem Sinne geradezu symptomatisch, dass eine Zeit, in der dann auch diese Aufgabe zweifelhaft geworden ist, geradezu als Ritual der Selbstvergewisserung immer wieder neu „juristische Entdeckungen“ als Glaubensbekenntnis ihrer Wissenschaftlichkeit feiern muss. Die letzte „Consequenz“ des Lückendogmas liegt mittlerweile auf offener Hand: schleichende, aber totale Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens. Der Abschied vom casus führt zur unendlichen Kasuistik. Sollte es wirklich ein bloß sprachlicher Zufall sein, dass die moderne Haftung aus c. i. c. schließlich in der einfallsreichen „Lehre vom sozialen Kontakt“ eine ratlose Begründung gefunden hat54 oder dass die lückenausfüllende „dritte Haftungsspur“ zwischen Vertrag und Delikt auf ein ubiquitäres Phänomen rekurriert, das die Basis letztlich jeglicher menschlichen Handlung und mithin auch jeglicher sozialen Interaktion ist: Vertrauen?55 Scharfsichtig konstatierte schon Bergbohm, dass die behauptete Lücke „in dem nach Recht Forschenden, nicht im Recht“ selbst liege.56 Die ganze „Lückentheorie“ ist so gesehen ein Phantom, das auf der freirechtlichen Annahme beruht, dass überall dort eine Lücke im Gesetz vorhanden sei, wo das Rechtsgefühl dem geltenden Recht widerspreche: Die „Lücke“ ist demnach also die Diskrepanz zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es

53  Vgl. vor allem: Zitelmann, Die Gefahren des bürgerlichen Gesetzbuches für die Rechtswissenschaft (1896); Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1967), S. 579 ff.; Th. Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht (1982), S. 22 ff.: „Einlieferung allen gestaltungsfreien Rechts in die Gefängniszellen des BGB“ (S. 23). 54  Hierzu unten § 6 II.2.c). 55 Hierzu unten § 6 II.2. und § 7. 56  Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I (1892), S. 382 unter Bezug auf Brinz, KritV 15 (1873), 160/164: „Allein bei näherem Betracht muß geleugnet werden, daß es Lücken im Recht gibt. … es gibt keinen rechtslosen Raum im Rechte; ist für diesen und diesen Fall noch keine actio, keine exceptio, kein Erbrecht, keine Forderung, keine Befreiung gesetzt, so besteht da, wo der Verfasser (und mit ihm freilich die Meisten) eine Lücke im Rechte erblicken, lediglich eine Lücke auf Seiten des Rechtsuchenden (…).“

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nach Ansicht des Interpreten sein sollte.57 Dass insoweit mit der Zahl der Interpreten auch die Zahl der Lücken zunimmt, ist die zwangsläufige Konsequenz dieser Lehre. Aber sehen wir genauer hin: „Als das BGB schließlich am 18. 8. ​1896 verkündet wurde, herrschte die Überzeugung vor, in jahrzehntelanger Arbeit entweder die regelungsbedürftigen Fragen im Gesetz selbst gelöst oder ihre Entscheidung bewußt der Lehre und Rechtsprechung überlassen zu haben. Es wurde daher als Sensation empfunden, als bereits im Jahre 1902 Staub nachwies, daß das BGB in seinen Vorschriften über Verzug und Unmöglichkeit sonstigen Leistungsstörungen nicht gerecht wurde, die er als ‚positive Vertragsverletzungen‘ qualifizierte.“58

57 So

hängt denn alles am rechtstheoretischen Standpunkt, ob man neben dem positiven noch eine vor‑ oder nichtpositive Rechtsmaterie anerkennen will: Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 11 f. „Mit der Leugnung der Existenz freien Rechtes nämlich ist die Behauptung der Existenz von Lücken unvereinbar, man muß bei diesem Standpunkt einfach zu dem Ergebnis kommen, daß stets, wo das Gesetz keine Entscheidung bietet, Abweisung der Klage oder Freispruch zu erfolgen hat. Von Lücken und deren Ausfüllung dürfte da gar keine Rede sein (Zitelmann). Wer von ihnen spricht, meint, daß nach freiem Recht eine Entscheidung geboten ist, die nach staatlichem Recht nicht gegeben ist.“ Ebenso (unter Verzicht auf den Begriff „freies Recht“): Jung, Rechtsregel und Rechtsgewissen, AcP 118 (1920), 1/105: „Nämlich: wird das bestehende Recht durch einen inhaltlich neuen Satz ergänzt, so ist das stets auch eine teilweise Aenderung des bisherigen Rechtszustandes.“; deutlich Fuchs, Was will die Freirechtsschule (1929), S. 14: „Der geborene Jurist entdeckt nämlich mit seinem Rechtsgefühl … überall da eine Lücke im gesetzten Recht, wo das formal folgerechte Unterordnen unter die Norm dem allgemeinen Gerechtigkeits‑ und Billigkeitsgefühl zuwiderläuft (…).“; Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), S. 100 ff./101: „Die sogenannte ‚Lücke‘ ist somit nichts anderes als die Differenz zwischen dem positiven Recht und einer für besser, gerechter, richtiger gehaltenen Ordnung. Nur dadurch, daß man eine solche an die positive heranbringt und so an dieser Mängel feststellt, kann so etwas wie eine Lücke behauptet werden.“; und in diesem Sinne auch Koch / ​Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982), S. 254: „Genau betrachtet ist ‚Lücke‘ ein zweistelliger Relationsbegriff, der mit der Einsetzung von Gesetz auf der einen Seite noch gar nicht verständlich ist. Es bedarf der Einsetzung einer zum Vergleich herangezogenen Ordnung auf der anderen Seite (…).“; hier ist man schließlich bei einer der zentralen rechtsphilosophischen Grundfragen angelangt: Die Suche nach dem „richtigen Recht“. Zu einem sehr fein gesponnenen dogmatischen Versuch demgegenüber: Canaris, Feststellung von Lücken (1983). 58 Riebschläger, Die Freirechtsbewegung (1968), S. 32.

II. Dogmatischer Aufbruch: culpa in solvendo oder in contrahendo?

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II. Dogmatischer Aufbruch: culpa in solvendo oder in contrahendo? „Was ist konstruieren? … In der untern Etage wird die gröbere Arbeit verrichtet, da wird der Rohstoff gewalkt, gegerbt, gebeizt, kurz – interpretiert, dann aber kommt er in die obere Etage, in die Hände der civilistischen Künstler, die gestalten ihn, geben ihm künstlerisch-civilistische Form. Haben sie diese gefunden, so verwandelt sich jetzt die leblose Masse in ein lebendiges Wesen; durch irgend einen mystischen Vorgang wird demselben, wie dem Tongebilde des Prometheus, Leben und Odem eingehaucht, und der civilistische Homunculus, d. h. der Begriff, wird produktiv und begattet sich mit andern seinesgleichen und zeugt Junge.“ Rudolf v. Jhering, 186159

1. Die erste „große Lücke“: positive Vertragsverletzungen „Nur hier und da taucht einmal ein Advokat auf, den das Gefühl, zum Reformator der Jurisprudenz geboren zu sein, nicht schlafen läßt, und der die unfreiwillige Muße, die seine Klienten ihm lassen, zum Heile der Menschheit benutzt, um mit urwüchsiger, wilder Kraft welthistorische Ideen unter das erstaunte Volk der juristischen Philister zu werfen.“ Rudolf v. Jhering, 186260

Das geradezu klassisch gewordene Beispiel für die „Lückenhaftigkeit“ des gerade erst in Kraft getretenen BGB ist die immer wieder beschworene ‚Entdeckung‘ der „positiven Vertragsverletzung“ (p. V.). Die Aussage von Hermann Staub war eindeutig: Das BGB enthalte keine Vorschrift für die „zahlreichen Fälle, in denen Jemand eine Verbindlichkeit durch positives Thun verletzt, in denen Jemand thut, was er unterlassen soll, oder die Leistung, die er zu bewirken hat, zwar bewirkt, aber fehlerhaft“.61 Nur, diese Aussage war auch schon in dem Moment, da sie getätigt wurde, falsch: Für den damals und heute zentralen Anwendungsbereich dieses Instituts (Nicht‑ und Schlechtleistung) gab es zu keiner Zeit eine „Lücke“.62 Was immer 59 Erster Brief eines Unbekannten in: Preußische Gerichtszeitung III (1861), Nr. 41; auch in: Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), S. 7. 60 Dritter Brief eines Unbekannten in: Preußische Gerichtszeitung IV (1862), Nr. 55; auch in: Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), S. 37. 61  Staub, Die positiven Vertragsverletzungen (1902), S. 29; erweiterte Buchfassung 1904, S. 5. Zu dieser „Entdeckungsgeschichte“ vgl. etwa: Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen (1978–2003); Glöckner, Die positive Vertragsverletzung, in: Falk / ​Mohnhaupt (Hrsg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter (2000), S. 155 ff; ders., Positive Vertragsverletzung: die Geburt eines Rechtsinstituts (2006); Elschner, Herrmann Staub und die Lehre von den positiven Vertragsverletzungen, in: Hoeren (Hrsg.), Zivilrechtliche Entdecker (2001), S. 191 ff. 62  Zusammenfassend: Himmelschein, Lehre von den positiven Vertragsverletzungen, AcP 135 (1932), 255 ff.; ders., Zur Frage der Haftung für fehlerhafte Leistung, AcP 158 (1959/60), 273 ff.; Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung (1969), S. 58 ff.: „Die Lehre von der positiven Forderungsverletzung, ihre Begründung durch Staub und ihre Entwicklung zur grundlegenden Kategorie der Lehre von der Haftung des Schuldners ist die Folge eines Verständnisses des Gesetzes, das zur Zeit Staubs begreiflicherweise verbreitet war, heute aber unverständlich und

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man unter einer Gesetzeslücke verstehen mag, erfordert ist doch zumindest der Nachweis, dass das Gesetz einen Fall oder gar eine ganze Serie von Fällen nicht regele, der / ​die aber nach Auffassung desjenigen, der eine Lücke behauptet, geregelt werden müsste / ​n. Ein solcher Nachweis ist weder vom wohl bekanntesten Advokaten jener Zeit noch später von einem anderen Anhänger der p. V. überzeugend erbracht oder auch nur versucht worden. In der Sache zutreffend konstatierte schon Heinrich Stoll, „daß die Lehre von der pVV. historisch betrachtet kein Ruhmesblatt der deutschen Rechtswissenschaft sein wird und daß es an der Zeit wäre, nach ihrem dreißigjährigen Bestand endgültig von ihr Abschied zu nehmen“.63 Die „positive Vertragsverletzung“ ist weder historisch noch dogmatisch ein „Ruhmesblatt“. Aber noch bis heute werden Hermann Staub (1856–1904) und seine „Entdeckung“ als Ausweis von Lückendogma und Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz gefeiert.64

jedenfalls theoretisch auch überwunden ist (…).“; Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen (1978–1997), § 2 (§ 1 IV), § 20 IV (III); ab 5. Aufl. (2003) § 1 II 3, § 20 I; Huber, Leistungsstörungen I (1999), § 3 II 3; ders. Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31, 67; Schermaier, „Den Deutschen thut das Studium der Römer noth …“, JZ 2006, 330/335 f.: „Hermann Staub … sah … plötzlich zahlreiche Fälle der Nichterfüllung ungeregelt, insb. die Folgen schlechter, also nicht vertragsgemäßer Leistung. Diese Lücke ist aber eine selbst geschaffene; sie entstand nur, weil Staub weder der Wissensstand vor 1900 noch die Intention des Gesetzgebers interessierte. Staub schloß sie – wie allgemein bekannt ist – mit der Figur der „positiven Vertragsverletzung“. Daß ein solches Mißverständnis Anlaß für die kürzlich erfolgte Modernisierung des Schuldrechts sein konnte, macht die Modernisierung selbst zum Mißverständnis.“; zuletzt eingehend: Glöckner, Positive Vertragsverletzung (2006), S. 95 ff. m. w. N.; Hermann, Mehr Lotse als Entdecker (2006) 63  Heinrich Stoll, Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung, AcP 136 (1934), 257/260. 64  Dölle, Juristische Entdeckungen (1958); Hoeren (Hrsg.), Zivilrechtliche Entdecker (2001); dem BMJ war der 100. Todestag Anlass genug für eine Pressemitteilung, in der Staub als „Pionier des Schuldrechts“ gewürdigt wurde; in der Mitteilung vom 02. 09. ​2004 heißt es u. a.: „Samuel Hermann Staub entwickelte 1902 die ‚positive Vertragsverletzung‘ und prägte damit das deutsche Schuldrecht bis heute. (…) Mit der grundlegenden Modernisierung des deutschen Schuldrechts 2002 fand die ‚positive Vertragsverletzung‘ schließlich Eingang in das BGB.“; zuletzt: Henne / ​Schröder / ​Thiessen (Hrsg.): Anwalt – Kommentator – „Entdecker“, Festschrift für Hermann Staub zum 150. Geburtstag, 2006. Eine heikle Randbemerkung vor der nächsten Festschrift wäre freilich ggf. ein delikates biographisches Detail: Wie nämlich der Neffe Staubs und seinerseits berühmte Psychologe, Friedrich Salomon Perls (1893–1970), in seiner autobiographischen Schrift „In and Out the Garbage Pail“ (1969, deutsch: Gestalt-Wahrnehmung. Verworfenes und Wiedergefundenes aus meiner Mülltonne. Die ungewöhnliche Autobiografie des Begründers der Gestalt-Therapie, 1981) berichtet, sei seine Cousine Lucy im Alter von 13 Jahren von ihrem Vater (also Staub) verführt worden. Wenn darüber hinaus auch die Aussage Wilhelm Reichs (1897–1957) zutreffen sollte, dass Perls gar nicht der Neffe, sondern der Sohn Hermann Staubs sei, dann hätte der „berühmteste Advokat“ seiner Zeit wohl ein ausgesprochen bedenkliches bürgerliches Leben geführt. Ob es sich bei diesen confessiones um eine frühe „#MeToo“-Kampagne von Staubs Tochter oder die extravagante Phantasie einer sexuell entfesselten Boheme der Tiefenpsycholo-

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a) Die ‚Wiederentdeckung‘ der kontraktlichen culpa „In einem der Lex Aquilia analogen Sinn sind alle Handlungen, welche einem Contractsverhältnis widerstreiten, positive Rechtsverletzungen.“ Johann Christian Hasse, 181565

Die Haftung für die Verletzung von Pflichten aus einem Schuldverhältnis war, wie gesehen, im gemeinen Recht mit dem Begriff der culpa schlechthin erfasst. Die Sache ist uns bereits bei Jhering ausführlich begegnet, wonach „die culpa in contrahendo … nichts anderes als die kontraktliche culpa in einer besonderen Richtung“ ist.66 Das bedarf hier keiner erneuten Vertiefung. Der culpa korrespondierte eine diligentia, und diese bezog sich auf die Erfüllung der Pflichten, die aus der Vertragsbeziehung (dem „Obligationsverhältnis“) erwuchsen.67 Es kam mithin nur darauf an, ob der Schuldner die Nichterfüllung dieser, seiner Pflichten „zu vertreten“ hatte. Eben diese Sicht der Dinge lag dann auch § 276 BGB zugrunde68 und auf diese Vorschrift stützte das Reichsgericht in kontinuierlicher Rechtsprechung seine Haftung für „kontraktliche culpa“ oder eben: positive Vertragsverletzungen mit dem wenig überraschenden Rechtssatz: „Jede gie handelt, mag als tiefergehende biographische Untersuchung bis zum nächsten Jubiläumsjahr Staubs (2056) vielleicht abschließend geklärt sein. 65  Die Culpa des Römischen Rechts, S. 659. 66  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 52. 67 Vgl. nur Puchta, Pandekten (9. Aufl. 1863), § 264 ff.; F. Mommsen, Lehre von der Mora (1855), insb. S. 367 ff. („Natur der Leistung“). Die Frage von Brinz, Pandekten II (2. Aufl. 1879), § 266, Fn. 7: „Worin des näheren innerhalb einer Obligation überhaupt eine Verschuldung durch dolus und culpa möglich sei“, blieb vereinzelt: „Im Gemeinen Recht war die Haftung für Forderungsverletzungen durchgreifend und lückenlos.“ (Himmelschein, AcP 158, 273); vgl. auch Picker, p. F. und c. i. c., AcP 1983, (1983) 369, 454 f.; MünchKomm / ​Emmerich, Vor § 275, Rn.  220 ff.; Würthwein, Zur Schadensersatzpflicht wegen Vertragsverletzungen im Gemeinen Recht des 19. Jahrhunderts (1990), S. 222 und Glöckner, Positive Vertragsverletzung (2006), S.  202 ff. 68 Hierzu: Motive II, S.  27 ff.; Protokolle I, S.  303 f., 319 f.; Müller, Begründet ein Verschulden des Verkäufers beim Verkaufe oder bei der Lieferung einer mangelhaften Sache die Verpflichtung zum Schadensersatz nach Vertragsrecht?, Recht 1902, 541 ff., 576 ff.; Crome, System II (1902), S. 65; Brecht, System der Vertragshaftung, JhJb 53 (1908), 213/246; Oertmann, LZ 1914, 513/517 hat § 276 daher auch immer noch den „Kardinalsatz der vertraglichen Ersatzpflichtlehre“ genannt; und Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1934), 257/281 f. stellt klar: „Von einer Riesenlücke kann nicht die Rede sein, denn das grundlegende Werturteil des Gesetzes: jede schuldhafte Forderungsverletzung verpflichtet zum Schadensersatz, steht außer Zweifel … Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält den allgemeinen Grundsatz: Jede vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung einer Verbindlichkeit verpflichtet zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens. Dieses Grundprinzip ergibt sich sowohl unmittelbar aus § 276 wie auch aus den Wertungen, die den einzelnen gesetzlichen Vorschriften zugrunde liegen. … § 276 gibt im Grunde genommen einfach die alte Lehre von der Verschuldung wieder (…).“; MünchKomm / ​Emmerich, Vor § 275, Rn. 225; ders., Leistungsstörungen (4. Aufl. 1997), § 20 III, S. 224 f.; Würthwein, aaO., S. 263 f.; zur Redaktion des § 276: Heck, Entstehungsgeschichte des § 276 BGB, AcP 137 (1933), 259/269; HKK / ​Schermaier (2003), §§ 276–278, Rn. 98; ausf. Glöckner, Positive Vertragsverletzung (2006), S. 268 ff.

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schuldhafte Vertragsverletzung macht schadensersatzpflichtig.“69 Es ist einmal mehr eine Ironie der Rechtsentwicklung, dass mit der – streng begrifflich! – nicht ganz unrichtigen Feststellung, § 276 BGB sei doch wohl lediglich eine Definitions-, nicht aber eine Haftungsnorm,70 ein Akt von „Begriffsjurisprudenz“71 bis heute zentrales Anschauungsmaterial für den vermeintlichen Methodenwandel und das Signal zum lückenausfüllenden Entdeckungsfieber geliefert hat.72 Dabei ist, soweit ich sehe, auch noch niemand auf die Idee gekommen, etwa § 433 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB ernsthaft den Charakter, Anspruchsgrundlage zu sein, abzusprechen, obwohl dort lediglich die Hauptpflichten des Kaufvertrages definiert sind. Es gehörte jedenfalls seit jeher zu den Selbstverständlichkeiten der Privatrechtsgeschichte, dass eine Schuld nicht ohne Haftung zu denken ist.73 69  Vgl. etwa RGZ 52, 19; 53, 201; 62, 120; 66, 291; 106, 22; ausf. Rechtsprechungsnachweise nebst Besprechung bei Glöckner, Positive Vertragsverletzung (2006), S. 362 ff. 70 Staub, Die positiven Vertragsverletzungen (1902), S. 33 f.: „Der § 276 BGB giebt nichts weiter als eine Definition der civilrechtlichen Schuld. Civilrechtlich schuldhaft handelt, ‚zu vertreten hat‘, wer vorsätzlich oder fahrlässig handelt.“; und so bereits in seinem Kommentar zum HGB (2. Bd., Handelsgeschäfte, 6/7.Aufl. 1900), § 347, Anm. 11: „Welches aber die Folgen sind, wenn fahrlässig gehandelt wird, mit anderen Worten: in welcher Weise die Fahrlässigkeit zu vertreten ist, darüber ist in § 276 nichts gesagt.“ Dieses Argument wiederholte dann BGHZ 11, 80 /83: „Das Reichsgericht hat zwar in ständiger Rechtsprechung die Rechtsfolgen des Schadensersatzes unmittelbar aus § 276 BGB hergeleitet, obwohl diese Vorschrift nach richtiger Auffassung nur einen Haftungsmaßstab enthält (…).“ 71  Zutreffend bereits Stoll, AcP 136 (1936), 257/268: „Blüte der Buchstabenjurisprudenz“; Wollschläger, Die Entstehung der Unmöglichkeitslehre (1970), S. 180: „Die Lückentheorie beweist … eher einen Wandel zu einem naturalistischeren Begriffsverständnis als einen schwerwiegenden rechtstechnischen Mangel des Gesetzes.“; zuletzt Rückert, Wozu Rechtsgeschichte, RG 3 (2003), 58/62: „Mit etwas mehr Problemgeschichtsbewusstsein hätte man die unsäglichen Irrwege zur positiven Forderungsverletzung und Unmöglichkeit überhaupt, zur c. i. c., zur Schutzwirkung für Dritte … usw. nicht erst betreten. Der PVv-‚Entdecker‘ Staub von 1904 wäre als einseitig interessierter Buchstabenjurist entdeckt worden (vgl. Rückert, ZRG GA 1998) (…).“ 72  Vgl. etwa nur Peter Klein, Abhandlungen aus dem Internationalen Privatrecht, AbR 29 (1906), 92/105: „Gibt es nicht in allen Zweigen unseres Rechts Gebiete, wo es an jedem leisesten Worte des unmittelbar positiven Rechts fehlt, (…) Ich erinnere nur an das … fast zum Musterbeispiel gewordene Beispiel der ‚positiven Vertragsverletzungen‘.“; selbst Oertmann, Gesetzeszwang und Richterfreiheit (1908), hat dieser Fall davon überzeugt, dass „auch das beste Gesetz aus der schier unendlichen Fülle der Verhältnisse nur einen höchst lückenhaften Ausschnitt behandeln kann“ und das mit Blick auf den „ständigen Fortschritt der Kulturentwicklung immer lückenhafter wird“ (S. 13); Jung, Das Problem des natürlichen Rechts (1912), S. 19; Wüstendörfer, Die deutsche Rechtsprechung am Wendepunkt, AcP 110 (1913), 219/306 f.: Die reichsgerichtliche Judikatur zur positiven Vertragsverletzung trage „den Stempel soziologischer Rechtsfindung an der Stirn“. Und die aktuelle Sicht der engen Verbindung von p. V.-‚Entdeckung‘ und Methodendebatte formuliert exemplarisch Riebschläger, Freirechtsbewegung (1968), S. 32 f.: „Der Bann war damit jedoch gebrochen. Die Kodifikation hatte offensichtlich nicht das zu leisten vermocht, was ihr unbesehen zugeschrieben worden war: den Richter für jeden Streitfall mit dem notwendigen Entscheidungsmaterial versorgen zu können.“ 73  Die Haftung ist dabei grundsätzlich: Schadensersatz. Ein Anspruch auf Erfüllung (specific performance) ist, wie das englische Common Law bis heute lehrt, die seltene Ausnahme. Grundsätzlich hierzu Gierke, Schuld und Haftung (1910); entsprechend bemerkt Heinrich Stoll,

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§ 276 BGB hat lediglich die gemeinrechtliche Erkenntnis festgehalten, dass innerhalb eines Schuldverhältnisses für dolus und culpa gehaftet wird; der damit verknüpfte Lehrsatz ist ebenso einfach wie unbestritten gewesen: „Dolus und culpa setzen in ihrer allgemeinen Bedeutung von Schuld stets ein Uebel voraus. In der Rechtsordnung besteht dieses Uebel darin, daß das rechtlich geschützte Interesse eines Andern verletzt resp. geschädigt worden ist. Diese Verletzung erfordert eine Sühne, welche entweder in einer Strafe besteht, oder, wenn die Verletzung in Natur nicht mehr gut zu machen ist, in einer Entschädigung in Geld (Schadensersatz).“74

Vielleicht wäre es für die Einsicht in die Beschränktheit der von Staub initiierten Debatte förderlicher gewesen, wenn nicht die Gegner der Lückenthese sich auf den begrifflichen „Cultus des Logischen“ eingelassen und überwiegend eine leicht angreifbare Überdehnung der Unmöglichkeitslehre vorgelegt hätten.75 Der eigentliche Kern von Staubs Beitrag zur Dogmengeschichte des Haftungsrechts ist so bis heute nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Dieser liegt denn aber gar nicht in dem Nachweis einer „Lücke“ im BGB, sondern einer eigenwilligen Transformation der allgemeinen und unzweifelhaften kontraktlichen Haftung für culpa: b) Begrifflicher Wandel: Von der culpa zur Pflichtverletzung „Staubs vielumstrittene Lehre hat jedenfalls den einen günstigen Erfolg gehabt, daß unsere Dogmatik durch eingehende Untersuchungen über die Pflichten aus einem Schuldverhältnis, die Arten und Folgen ihrer Verletzung wesentlich bereichert worden ist.“ Heinrich Stoll, 193276

Wie oben ausführlich dargestellt, ist die culpa selbst in der Tat gar keine causa obligationis. Den Verfassern des BGB dürfte diese Einsicht ebenso wenig entgangen sein, wie andererseits die Gewissheit bestand, dass der Schuldner jede „kontraktliche culpa“ zu prästieren hatte. Die zwei Bedeutungen der culpa konAbschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/283 zu Recht: „Es war den Verfassern des BGB. ebenso wie den gemeinrechtlichen Schriftstellern nicht im geringsten zweifelhaft, daß die Form der Haftung nur die Verpflichtung zum Schadensersatz sein konnte.“ Und im Anschluss an Heck (Schuldrecht, 1929, § 2) konstatiert er eine doppelte Aufgabe des Schuldrechts: „… die Bestimmung des Leistungsinhaltes (der Schuld) sowie die Sicherung der Verwirklichung … (die Haftung).“ (S. 287). 74 Exemplarisch für die gemeinrechtliche Lehre: Hesse, Dolus und Culpa, AcP 61 (1878), 203. 75  Etwa Goldmann / ​Lilienthal, Das Bürgerliche Gesetzbuch I (1903), § 85 III 5, S. 333 f.: „Die Unmöglichkeit der Leistung kann sich auf jeden Bestandteil der Verbindlichkeit des Schuldners beziehen: auf die Zeit der Leistung … den Ort und den Gegenstand der Leistung … Hieraus ergibt sich die weittragende Bedeutung der Vorschriften über die Unmöglichkeit der Leistung (§§ 275, 280 ff.). Nach ihnen bestimmt sich die Wirkung jeder Nichterfüllung oder nicht gehörigen Erfüllung auf den Inhalt des Schuldverhältnisses, soweit nicht das Gesetz Sondervorschriften gegeben hat.“; ähnlich Himmelschein, Lehre von den p. V., AcP 135 (1932), 255 ff.; hiergegen kritisch Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1934), 257/267 ff. 76 Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/286.

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kurrierten hier miteinander: War die culpa nun Haftungsgrund oder Haftungsbegrenzung? Und so ist die Formulierung des § 276 BGB auch schwerlich nur ein Redaktionsversehen, sondern dem letztlich in der Tat unsicheren Umgang mit dem Problem selbst geschuldet. Wir haben gesehen, wie schwer sich Jhering mit seiner Einsicht in die Natur der culpa tat. Man kann aber nur die Dinge klar formulieren, die man in ihrem Wesen deutlich erkannt hat. Mit der Haftung für culpa war das aber nicht so einfach, weil die gemeinrechtliche Rechtsauffassung hier ein mehrdeutiges begriffliches Erbe mit sich herumtrug. Wenn man insoweit spätestens seit Hasses grundlegender Schrift zur Culpa wie selbstverständlich davon ausgegangen ist, dass keineswegs allgemein (d. h. deliktisch), sondern lediglich innerhalb eines Schuldverhältnisses für jede culpa gehaftet wird, so war hierbei der Gedanke einer Schuld (als debitum), d. h. eine obligatorische Pflichtverletzung, immer mitgedacht. Eine diligentia in fremden Angelegenheiten besteht danach nur, wenn man im Rahmen eines entsprechenden (Schuld‑)„Verhältnisses“ zur Wahrnehmung dieser Angelegenheiten verpflichtet ist.77 Das ist unproblematisch, solange das debitum (die Schuld, die Pflicht) in einem Vertrag hinreichend genau benannt ist oder sich aus dem „Verhältnis“ hinreichend genau bestimmen lässt.78 Die Haftung hängt dann in der Tat nur daran, ob der schädigenden Seite ein Schuldvorwurf zu machen ist oder nicht (d. h. Haftung für culpa als Außerachtlassung der notwendigen diligentia). Soweit das nicht der Fall ist, übernimmt von nun an der Begriff der Pflichtverletzung die dogmatische Rolle, die im gemeinen Recht die culpa gespielt hat: Sie begründet eine Haftung dort, wo derjenige, der sie postuliert, glaubt, dass sie geboten sei. Mit Staubs Beitrag wird also die gemeinrechtliche Haftung für culpa zu einer solchen für Pflichtverletzung. Die culpa erhält daneben dogmatisch deutlich ihre Rolle als Haftungsbegrenzung zugewiesen, aber damit auch ihre praktische Bedeutungslosigkeit, weil die Annahme einer positiven Pflichtverletzung die mangelnde Sorgfalt immer bereits objektiv indiziert. Wir sind also letztlich wieder dort, wo Grotius die culpa als debitum definierte:79 Erst das debitum verpflichtet zur diligentia, und deren Versäumung verbindet zur Haftung, zur Haftung für culpa. Und wir sind erneut bei Jhering und der Vorstellung, dass es der culpa in klar definierten Schuldver77  Vgl. hierzu ausf. oben § 2 III: „Wo für neglegentia soll gehaftet werden, muss positiv diligentia gefordert sein. Diligentia gegenüber fremdem Interesse wird aber principiell nur verlangt, wo man zu einem (mehr oder minder fest) bestimmten Berechtigten in einem Verpflichtungsverhältnis steht; dieses erst zieht nach sich eine Verpflichtung zum Wahrnehmen des fremden Interesses und zum Ueberlegen für dasselbe.“ (Burckhardt, culpa lata, S. 74). 78  Nehmen wir Staubs eigene Beispiele: „Es verpflichtet sich Jemand, die ihm verkauften Lampen nicht nach Frankreich weiter zu verkaufen; er thut es doch. … Ein Kommis verkauft aus Fahrlässigkeit weit unter dem Einkaufspreise. Ein Prinzipal giebt seinem Handlungsgehilfen ein unrichtiges Zeugniß.“ (Staub, aaO., S. 31 f.). Jeweils wird die sich aus dem Vertrag ergebende Pflicht und ihre Verletzung als selbstverständlich angenommen. 79 Oben § 3 II 1 c.

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hältnissen gar nicht mehr bedarf: „… als ob die Nichterfüllung der Obligation nothwendigerweise ein subjektives Unrecht in sich schlösse (…).“80 Kurz: Die culpa des römischen Rechts wird durch den Begriff der Pflichtverletzung substituiert. Die Definition des Geschuldeten in einem entsprechenden „Verhältnis“ übernimmt für das 20. Jahrhundert erneut (wie schon in der naturrechtlichen Tradition) der Begriff der Pflicht.81 c) Wirklich neu: Verschmelzung von culpa und bona fides „Bei negotia bonae fidei ist die actio doli überflüssig, da schon mit der Klage aus dem Kontrakt sowohl auf Wiederaufhebung als auch auf Leistung alles dessen geklagt werden kann, was nach der Sitte rechtschaffener Leute, nach Treu und Glauben im Verkehr zu leisten ist.“ Nicolaus Darboven, 190182

Doch auch hierin, dem Wechsel von der culpa zur Pflichtverletzung, vollzieht Staub nicht etwas, was nicht bereits im gemeinen Recht und auch im BGB vollzogen wäre. Denn bei genauerer Betrachtung der Redaktionsgeschichte des § 276 BGB wird deutlich, dass die „kontraktliche culpa“ des gemeinen Rechts tatsächlich nicht allein in § 276, sondern in den §§ 242, 276 BGB aufgegangen ist: In diesem Zusammenhang ist es nicht ganz unerheblich zu erkennen, dass die allgemeine Norm zur Begründung kontraktlicher Pflichten (§ 242 BGB) aus der Debatte um § 276 BGB und der Frage, was denn der Schuldner zu prästieren habe, herausgewachsen ist.83 §§ 242, 276 BGB sind mithin für die vertragliche Haftung sehr sinnig zusammen zu lesen: Jene Vorschrift definiert die vertraglichen Pflichten (aus „Treu und Glauben“) und diese die diligentia, die bei ihrer Erfüllung zu vertreten ist. Der Zusammenhang wird deutlich, wenn man sich die Fassung des § 276 BGB im Ersten Entwurf zum BGB (§ 224 I) anschaut: „Der Schuldner ist verpflichtet, die nach dem Schuldverhältnisse ihm obliegende Leistung vollständig zu bewirken. Er haftet nicht blos wegen vorsätzlicher, sondern auch wegen fahrlässiger Nichterfüllung seiner Verbindlichkeit.“ Hier finden sich Pflicht und Schuld noch zusammen: Das Verhältnis, aus dem die Verbindlichkeit folgt und die Haftungsanordnung für kontraktliche culpa. Die gesicherte Vorstellung einer umfassenden Haftung für culpa im Rahmen eines Schuldverhältnisses fand ihren Ausdruck in der weitest möglichen Definition vertraglicher Pflichten nach „Treu und Glauben“ in § 242 BGB einerseits und in der Notwendigkeit eines Verschuldensvorwurfes in Gestalt einer Vernachlässigung der bei der Pflichterfüllung gebotenen Sorgfalt in § 276 BGB andererseits. Der Leistungsanspruch ergab sich aus der Generalnorm des § 241 Abs. 1 BGB:  Jhering, Schuldmoment im römischen Privatrecht (1867), S. 21 f. bereits oben § 2 II.3.b). 82  Die actio doli im römischen und gemeinen Recht und ihr Verhältnis zu den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich (1901), S. 17. 83 Vgl. die Darstellung bei Glöckner, Positive Vertragsverletzung (2006), S. 269. 80

81 Hierzu

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Der Gläubiger kann fordern, der Schuldner muss leisten. Die Haftung setzt eine Obligation voraus und eine schuldhafte Verletzung einer entsprechenden Pflicht aus dem Schuldverhältnis. Wenn man nun noch den Gedanken der Verletzung bzw. Nichterfüllung (der aus §§ 241, 242 gewonnenen Primärpflichten) als zentralen Haftungstatbestand und insoweit auch – sprachlich in der Tat wenig glücklich – Nichterfüllung und Unmöglichkeit als Synonyma begreift, dann wird letztlich auch der Standpunkt derer verständlich, welche die von Staub vorgetragenen Fälle mit dem Begriff der Unmöglichkeit zu lösen gedachten: Pflichten, deren Vernachlässigung durch den Schuldner bereits zu einem Schaden beim Gläubiger geführt haben, lassen sich nicht mehr erfüllen: Die sorgfältige Beachtung derselben ist dann in der Tat unmöglich geworden. Und wenn man insoweit berücksichtigt, dass mittels § 242 BGB ein sehr umfassender „Leistungsbegriff“ gewählt wurde, dann ist es auch in der Tat nicht mehr schwer, die von Staub vorgetragenen Fälle sämtlich unter die Unmöglichkeitsregeln der §§ 280 a. F., 325 a. F. BGB zu subsumieren. Haftung für Culpa (§§ 276, 242 BGB), Unmöglichkeit (§§ 280 a. F., 242 BGB) oder positive Vertragsverletzung (§§ 280 n. F. 242 BGB) sind so inhaltlich letztlich ein und dasselbe. Wie Johann Christian Hasse es bereits 1814 klargestellt hatte, sind „alle Handlungen, welche einem Contractsverhältnis widerstreiten, positive Rechtsverletzungen“,84 d. h. alle vertragsverletzenden Handlungen sind „culpa“. Daran bestand zu keiner Zeit ein ernsthafter Zweifel. Immer kommt es darauf an, welche Pflichten zu erfüllen bzw. nicht zu verletzen sind. Entscheidend wird insoweit in jedem Fall die neue Generalklausel für die kontraktliche Haftung: Treu und Glauben und die Rücksicht auf die Verkehrssitte (§ 242 BGB). Eine „Lücke“ wird hier nur derjenige „Entdecker“ entdecken können, der mit dolus oder culpa lata Ursprung und Weite des geltenden Rechts übersieht. Die ganze Debatte um die „Entdeckung“ der positiven Vertragsverletzung ist aus dieser Perspektive nichts anderes als ein dogmatisches und begriffliches Tohuwabohu, das von der eigentlichen Problematik, Wie erkennen und woraus begründen wir die Pflichten, die im Rahmen eines Schuldverhältnisses bestehen?, nur ablenkt. Man nenne die Pflichtverletzung letztlich Culpa, Unmöglichkeit oder positive Vertragsverletzung  – das releviert in der Sache gar nichts. Die Ubiquität der Pflichtverletzung und die Entwicklung des § 242 BGB zum „königlichen Paragraphen“ im 20. Jahrhundert finden nicht zuletzt hier ihre Ursache: Es gibt jede Menge konkurrierende Haftungsinstitute, aber an die Ursache der Haftung wird dadurch kein Zaumzeug gelegt. Im Gegenteil: Die Haftung wird vermehrt, die eigentliche Quelle derselben aber nicht offengelegt. Und eben hier beginnt und liegt ein wesentliches Problem der culpa in contrahendo bis heute. 84 Die

Culpa des Römischen Rechts, S. 659.

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Wichtig für die weitere Geschichte dieses Haftungsinstituts ist jedenfalls Folgendes: Die Haftung für culpa nimmt eine neue Grundlage in sich auf und wird von dieser substituiert: Es ist nun nicht mehr die culpa, sondern die aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) gewonnene Pflichtverletzung, die eine Haftung begründet. Spannen wir den Bogen zurück zum römischen Recht, so lässt sich die Parallelität der neuerlichen Entwicklung leicht erkennen: Die zwei dogmatischen Strategien zur Beseitigung des dolus im Rechtsverkehr gehen ineinander auf; die Haftung für culpa wird zu einer für bona fides. Jedes Schuldverhältnis ist auch unter Geltung des BGB ein bonae fidei iudicium, und alle Pflichten entspringen der bona fides. Eine „Lücke“ konnte da im Grunde nur von Blinden „entdeckt“ werden. Aber freilich: Wer etwas gelten wollte im 20. Jahrhundert, der musste nun einmal etwas „Neues“ entdecken. Der nachhaltige Glaube an die vielfältigen Lücken des BGB, die es zu schließen galt, führte letztlich auch zur neuerlichen Wiederentdeckung der culpa in contrahendo als ein allgemeines „Verschulden beim Vertragsschlusse“. 2. Die Wiederbelebung der c. i. c. aus dem Geist der p. V. „Ist es nun dem Bisherigen nach geradezu unmöglich, unsern Schadensersatzanspruch an die genannten beiden Fälle außercontractlicher Beschädigung anzubahnen  – und andere Fälle bieten sich nicht dar  –, so bleibt nichts übrig, als den Gedanken des außercontractlichen Charakters der demselben zu Grunde liegenden Verschuldung gänzlich aufzugeben, und entweder jenen Anspruch als völlig unconstruirbar anzuerkennen oder aber zu versuchen, ob er sich nicht trotz der Nichtigkeit des Contracts auf den Gesichtspunkt contractlicher Verschuldung zurückführen lasse.“ Rudolf v. Jhering, 186185

Man kann den weiteren Gang der hier interessierenden Dogmengeschichte als Wiederholung dessen beschreiben, was Jhering 1861 noch so formuliert hat: „Die culpa in contrahendo ist nichts anderes als die kontraktliche Pflicht in einer besonderen Richtung.“86 Eine völlig parallele gedankliche Entwicklung erfolgt jetzt nur mit anderen, den neuen Begrifflichkeiten. Statt culpa: Pflichtverletzung; statt bona fides: Treu und Glauben und (später dann Vertrauen). Die erste Etappe dieses Prozesses ist spätestens in dem Moment abgeschlossen, da Walter Erman im Jahr 1933 sogleich am Anfang seiner Ausführungen zur „Haftung für das Verhalten bei Vertragsverhandlungen“ klarstellt: „Nicht die Frage des Verschuldens, sondern die der Pflichten, deren zu vertretende Verletzung ersatzpflichtig macht, ist die primäre.“87 Was wie ein Fortschritt aussieht, ist dogmengeschichtlich betrachtet also lediglich eine Tautologie.  Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/25 f.  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/52. 87 Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1933), 273. 85 86

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Hier liegt nun eine weitere Ironie der Entwicklung: Mit dem Gedanken der p. V. wird in der Sache erneut – nun für das Vertragsrecht – die culpa als Haftungsgrund verabschiedet. Gleichwohl führte der methodologische und dogmatische Sog, der von Staubs Quasi-Entdeckung ausging, auch zur (Re)Konstruktion einer ganz neuen culpa in contrahendo. Unter dem Eindruck der doch wohl offensichtlichen Lückenhaftigkeit des BGB, führten die Jahre nach dessen Inkrafttreten zu einem wahren ‚Klondike-Fieber‘ in der Zivilrechtswissenschaft. Überall wurden nun ausfüllungsbedürftige Lücken geahnt und mit nachhaltigen Prinzipien oder Lehren zu schließen gesucht.88 Die Methodologie war dabei eine Mischung aus an der Pandektistik geschulter induktiver Methode (Verallgemeinerung von Einzelregelungen) und freirechtlicher Billigkeitsargumentation. Auf diesem Grund vollzog sich die Wiederbelebung der c. i. c. als Haftungsinstitut auf drei (zunächst voneinander isolierten) Pfaden: 1. Konkurrenz zur p. V. bei wirksamen Verträgen; 2. Analogiebildung bei unwirksamen Verträgen (§§ 122, 179, 307 BGB); 3. Abstraktion einer generellen Idee von einem vorvertraglichen Schuldverhältnis. Obwohl zwar alle drei Aspekte bereits in der Zeit zwischen 1905 und 1911 ihre gedankliche Grundlegung erfuhren, war es zunächst allein die erste Argumentationslinie, die im Aufwind der p. V. eine dogmatische und vor allem praktische Akzeptanz erlangte. Flankiert von dem methodologisch richtig anmutenden Hinweis auf eine Gesamtanalogie bedurfte es dann nur noch eines suggestiven neuen Rechtsprinzips, um am Ende eine neue culpa in contrahendo aus der Asche des gemeinen Rechts auferstehen zu lassen. Ohne Rekurs auf die geschichtliche Genese der Einzelvorschriften war es zuerst Kuhlenbeck (1905)  – „ein Schriftsteller, der auch sonst von voreiligen 88 Vgl. etwa nur Titze, Die Lehre vom Mißverständnis (1910), der sehr umfangreich die Auffassung verfocht, das BGB habe das Phänomen des „Missverständnisses“ nicht und etwa mit § 130 nur das Wirksamwerden von „verkörperten Willenserklärungen“ geregelt, für mündliche Erklärungen bestünde daher noch Regelungsbedarf (hierzu Benedict, Zugangsproblematik, S. 129 ff.); nicht zu vergessen die Entdeckung der „Geschäftsgrundlage“ durch Oertmann (Die Geschäftsgrundlage – Ein neuer Rechtsbegriff, 1921); das Entdeckungsfieber hält bis heute an und betrifft nicht zuletzt die hier interessierende Frage nach der Grundlage der Haftung für culpa in contrahendo: „Lehre von den Schutzpflichten“ und „Vertrauenshaftung“ kennzeichnen hier keineswegs das Ende aller Entdeckungen; so konstatiert etwa Picker, c. i. c. und p. V.,AcP 183 (1983), 369/431, dass „der wahre Rechtfertigungsgrund von Sonderhaftungsfiguren, wie sie seit langem anerkannt sind, in den bisherigen Lehren noch nicht aufgedeckt wurde (…).“; dies war dann offenbar Anregung für Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten (2000), nun seinerseits für sich die „späte ‚Entdeckung‘“ eines neuen „funktionalen Legitimationsansatzes“ zu reklamieren und zugleich auch zu begründen, „weshalb“ dieser Ansatz „trotz der intensiven wissenschaftlichen Bemühungen bisher nicht gefunden worden ist“, obwohl doch „wissenschaftliche ‚Entdeckungen‘ … bei intensiver wissenschaftlicher Diskussion mit der Zeit immer unwahrscheinlicher“ werden (S. 226 ff.).

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Behauptungen sich bekanntlich nicht genügend freizuhalten wusste“89 –, der in Analogie zu den §§ 122, 179, 307 a. F. BGB vermeinte, den originellen Rechtssatz induzieren zu müssen, dass unabhängig von einem Verschulden „in allen Fällen, in denen eine Erklärung nichtig sei, der dadurch beschädigte Erklärungsempfänger einen Anspruch auf das negative Vertragsinteresse (Vertrauensinteresse) erlange …“.90 Wenn sich auch hiergegen sofort einiges erinnern ließ,91 die Vorstellung von einer Gesamtanalogie und einem allgemeinen Haftungsprinzip war damit benannt und bereitete den Boden für jene Zeit, in der die gemeinrechtlichen Bezüge des BGB ihre Unmittelbarkeit endgültig verloren hatten.92 Der Gedanke einer Gesamtanalogie konnte in den ersten 20 Jahren der Geltung des BGB nicht ernsthaft Fuß fassen. Der Bezug zur gemeinrechtlichen Diskussion und zur inhaltlichen Debatte um die Normen des BGB war noch 89  So das Urteil noch 15 Jahre später bei Oertmann, Haftung bei Mißverständnis, AcP 121 (1923), 122/125. 90 Kuhlenbeck, Zur Lehre vom sog. negativen Interesse, DJZ 1905, 1142/1144, mit der Ergänzung: „Wenn aber irgend ein Prinzip der analogen Ausdehnung fähig ist, so ist es … dasjenige des Vertrauensinteresses, welches in den §§ 122, 179, 307 nur fragmentarisch seinen gesetzgeberischen Ausdruck gefunden hat.“ Ein ähnliches Fazit hatte bereits Lilie, Schadensersatz bei unwirksamen Verträgen (1898), S. 54, als „Grundregel“ gezogen: „Der Schadensersatzanspruch ist bei allen unwirksamen Verträgen auf das s. g. negative Vertragsinteresse gerichtet (…).“; allerdings bleibt bei ihm unklar, ob es sich um eine rein deskriptive Beobachtung oder auch sogleich eine normative Folgerung handelt. Demgegenüber resümiert Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), S. 194 f.: „Versuchen wir den Standpunkt des BGB zu generellem Ausdruck zu bringen, so werden wir hinsichtlich seiner Stellungnahme zur Ersatzpflicht des negativen Vertragsinteresses zunächst nur sagen können, daß es kraft positiver Vorschriften eine diesbezügliche Haftung überhaupt anerkennt. Eine prägnantere einheitliche Zusammenfassung läßt die differenzierte Behandlung der einzelnen Fälle nicht zu.“ 91  Vgl. etwa Klein, Zur Lehre vom sogenannten negativen Vertragsinteresse, DJZ 1906, 596, der bestreitet, dass es tatsächlich ein „gemeinsames Prinzip“ hinter den Einzelregelungen gibt, und weist insoweit sowohl auf die Unterschiede zwischen den §§ 122, 179 (Haftung ohne Verschulden) einerseits und §§ 307, 309 (Haftung für Verschulden) andererseits sowie auf den doch eher naheliegenden Umkehrschluss hin: „Hätte das BGB, das in den Materialien so entschieden mehrfach zu der gemeinrechtlichen Theorie Stellung genommen, eine allgemeine gesetzgeberische Entscheidung im Sinne Windscheids und Kuhlenbecks geben wollen, so hätte es wohl kaum die kasuistische, bei unserer Auffassung wohlbegründete Regelung gewählt.“ (ausf. zur Dogmengeschichte der einzelnen Regelungen Brock, Das negative Vertragsinteresse, S. 59 ff.); Hammel, Culpa in contrahendo (1912), S. 29: Vom BGB sei „ein einheitliches Haftungsprinzip absichtlich in bewusster Stellungnahme zur gemeinrechtlichen Doktrin nicht gewählt worden, vielmehr sind die Bestimmungen kasuistisch und in wohlerwogener Interessenabgrenzung und Wechselwirkung zueinander gegeben, so daß eine Durchführung des oben wiedergegebenen allgemeinen Prinzips gerade die ‚feinen Linien verwischen‘ würde, die das organische Gefüge der Normen aufweist“.; weitere Nachweise noch bei Oertmann, Haftung bei Mißverständnis, AcP 121 (1923), 122/125. 92  Die Erinnerung an die Pandektistik verschwand mit Geltung des BGB erstaunlich schnell; hierzu auch Koschaker, Europa und das römische Recht (4. Aufl. 1966), S. 190; Zimmermann, Schuldrechtsmodernisierung? (2001), S. 1/5. Zur geschichtsfeindlichen Wirkung einer Kodifikation prononciert schon Himmelschein, Lehre von den p. V., AcP 135 (1932), 255/314 ff.: Die Textgeschichte eines Gesetzes „wird gewöhnlich ersetzt durch mehr oder weniger geistreiches Raten über den ‚Willen des Gesetzgebers‘.“

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zu präsent: Es gab keine allgemeine Erklärungshaftung! So kommt es denn auch nicht von ungefähr, dass der verlockenden Gesamtanalogie u. a. auch von einem Autor vehement widersprochen wurde, der sich bereits im gemeinen Recht mit dem Problem der c. i. c. befasst hatte. Für das, was er nun erneut zu begründen suchte, befand er sich allerdings in einer noch misslicheren Lage als seinerzeit Jhering: Die neue positive Quelle der Rechtsfindung sah die Haftung, die er für richtig hielt, nicht im Ansatz vor. Im Gegenteil: Die „vorvertragliche“ Haftung des Verkäufers auf Schadensersatz war mit § 463 BGB (a. F.) dezidiert auf den dolus in contrahendo eingeschränkt.93 Aber das galt freilich für die zunehmend von der „Freirechtsbewegung“ bewegte Zeit nicht viel. Denn seit der Entdeckung der p. V. lautete das allgemeine Paradigma fortschrittlich gesinnter Rechtsfindung, „daß der Wortlaut des Gesetzes nicht selten ergänzt werden kann und muß, daß es neben den ausdrücklichen Bestimmungen des Gesetzes noch viele andere Rechtssätze gibt (…)“.94 So verwundert es denn auch gar nicht, dass der Erste, der eine große Lücke im Gesetz namens culpa in contrahendo festgestellt hat, einer der eifrigsten Vorkämpfer der Freirechtsbewegung, namentlich Ernst Fuchs gewesen ist,95 und dass die erste Monografie zum Thema „Verschulden beim Vertragsschlusse“ in guter Tradition mit einem Rekurs auf die Billigkeit, die praktischen Bedürfnisse des Lebens und den schon klassisch zu nennenden Hinweis auf die „Trostlosigkeit“ des geltenden Rechts beginnt: „Daß hier sehr zahlreiche und wichtige Fälle eine Haftung erfordern, wird wohl niemand bestreiten. Man kann sie nicht mit dem melancholischen Troste abtun, daß alles irdische unvollkommen sei.“96

a) Etwas ganz Neues: „Verschulden beim Vertragsschlusse“ „Zum Glück haben wir bei unserer Frage ein ungemein starkes Triebmittel, dessen Kraft sich auch der Banause nicht so leicht entzieht: das praktische Bedürfnis.“ Franz Leonhard, 191097

Franz Leonhard, der vorsichtshalber gleich am Anfang seiner Ausführungen jeden potenziellen Kritiker seiner Auffassung als „Banausen“ entlarvt, hatte bereits mit seiner Dissertation für das gemeine Recht eine zweifelhafte vorvertragliche Verschuldenshaftung des Verkäufers bei Sachmängeln im römischen Recht nachzuweisen gesucht.98 14 Jahre später greift er nun als Ordinarius den 93 Dies betont bis zuletzt Enneccerus, Schuldverhältnisse (10. Bearb. 1928), § 266 III gegen F. Leonhard. 94  F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 3. 95 Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz (1909), S. 128 f. 96  F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 23. 97  Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 3. 98 Die Haftung des Verkäufers für sein Verschulden beim Vertragsschlusse (1896).

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jedenfalls historisch unhaltbaren Gedankengang99 als Ausgangspunkt wieder auf und plädiert für eine erweiterte culpa-Haftung des Verkäufers auf Schadensersatz, die insbesondere dann vorliege, wenn der Verkäufer fahrlässig 1.) Mängel verschweigt, 2.) unrichtige Angaben macht und 3.) eine Überprüfung der Sache unterlässt. Gerade mit dieser letzten Möglichkeit – die das Reichsgericht soeben noch einmal mit dem Grundgedanken vom caveat emptor vehement abgelehnt hatte100  – ist die Haftung ergebnisorientiert für jeden Fall geöffnet: Der Verkäufer haftet, weil er zumindest immer „den Mangel der Ware hätte erkennen müssen“.101 Und das wird man ihm freilich, wenn man denn will, immer zum Vorwurf machen können. Die tragenden Requisiten der culpa in contrahendo sind also alle wieder versammelt: Billigkeit und Trostlosigkeit als haftungsrechtliche Motivation und der „Schlauberger-Konjunktiv“ (hindsight bias) als haftungsrechtliche Konstruktion. Als hätte Jhering gar nicht gelebt. Der Umgang mit der insoweit notwendig auftretenden Konkurrenz der c. i. c. zu den Gewährleistungsrechten der §§ 459 a. F. BGB ist kennzeichnend für die ganze weitere Entwicklung und für die Willkür der Methodenwahl zwischen Analogie und Umkehrschluss: Einerseits will Leonhard die §§ 122, 179, 307/309 a. F. BGB als abschließende Sonderregelungen für unwirksame Vertragsschlüsse ansehen, den Gewährleistungsrechten hingegen eben diesen abschließenden Charakter absprechen und daneben eine allgemeine Haftung für culpa in contrahendo zulassen:102 Einmal, so die Begründung, handele es sich um eine Haftung für Verschulden, im anderen Fall hingegen um eine Haftung ohne Verschulden; einerseits handele es sich um Leistungs-, andererseits hingegen um Gewährleistungspflichten, hier um eine allgemeine, dort um eine besondere Haftung.103 Diese Argumentation verdeutlicht die ganze logische Rabulistik, weil sämtliche angeführten Argumente bei genauerem Hinsehen doch wohl eher zum Ausschluss einer neben den Gewährleistungsrechten noch zusätzlich bestehenden Verschuldenshaftung führen: Bei den ädilizischen Rechtsbehelfen (Wandelung,

 99  F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 3–10. Dagegen bereits die Ausführungen bei Pernice, Labeo II, S. 239 ff.; ausf. dann auch Heldrich, Das Verschulden beim Vertragsabschluss (1924), S. 6., dessen Argumentation Leonhard in seiner Replik (Allgemeines Schuldrecht, 1929, S. 545) immerhin als „sehr schwach“ erkennt. Vgl. zum Quellenproblem noch Geppert, Gruchot 69 (1928), 528 ff.: Alle Beweise, „die Leonhard für seine Ansicht anführt … sind alles eher, als überzeugend!“; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 34–38, insb. S. 59: „Inhaltlich verdienen diese Ausführungen nur sehr beschränkten Beifall.“ 100  Urt. v. 27. Mai 1910 – II 409/09, JW 1910, 748 (Schlingenriß-Fall): „Denn der Verkäufer einer individuell bestimmten Ware ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die Ware auf ihre Tauglichkeit für den ihm bekannten Verwendungszweck näher zu prüfen, vielmehr ist diese Prüfung grundsätzlich Sache des Käufers.“ 101 F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 13. 102  Er knüpft dabei an Gedanken an, die sich bereits bei Taenzer, Die Haftung für Betrug bei Kaufabschluß (1909), S. 23 ff. angedeutet finden. 103 Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 51–57.

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Minderung) ist, wie gesehen, das Schuldmoment (Beseitigung der Arglist) immer mitgedacht, und der Verzicht auf das Kriterium des „subjektiven Unrechts“ führt zu einer Haftungsverschärfung, die Gewährleistungsrechte sind also in ihrer Anwendung weiter als eine Verschuldenshaftung und nur für die weitergehende Rechtsfolge (Schadensersatz bei Mangelfolgeschäden) an den dolus gebunden und insoweit immer im Kontext der §§ 823, 826, 676, 123 BGB zu lesen. Hierzu ist bereits das Notwendige gesagt.104 Daneben ist die Unterscheidung zwischen Leistungs‑ und Gewährleistungspflichten nicht nur deshalb wenig überzeugend, weil man demgegenüber heute gerade umgekehrt die Gewährleistungsrechte als Ausprägung der Primärleistungspflicht des Verkäufers und die Haftung aus c. i. c. als Haftung für etwas ganz Anderes (Schutzpflichtverletzungen) interpretiert. Schließlich stellt Leonhard mit der Unterscheidung von besonderer und allgemeiner Haftung den Grundsatz vom Vorrang der lex specialis auf den Kopf. b) Die ‚Entdeckung‘ vorvertraglicher Pflichtverletzungen „Was wegen des bey Erfüllung des Vertrages zu vertretenden Grades der Schuld Rechtens ist, gilt auch auf den Fall, wenn einer der Contrahenten bey Abschließung des Vertrags die ihm obliegenden Pflichten vernachlässigt hat.“ § 284 I 5 preußisches ALR, 1794

An dieser eigenwilligen Wiederbelebung der c. i. c. ist für die hier zunächst interessierende Betrachtung neben dem rein begrifflich vollführten methodologischen Freiflug105 zweierlei besonders hervorzuheben. Erstens tritt Leonhard mit dem Versuch, seine Promotionsthese vom „Verschulden beim Vertragsschlusse“ vor dem Vergessen zu bewahren, stillschweigend in Konkurrenz zur mittlerweile bereits etablierten p. V. Die Frage, ob die den Käufer schädigende Handlung letztlich auf einer culpa in solvendo (Lieferung einer mangelhaften Sache) oder doch auf einer in contrahendo (fehlende Überprüfung oder Aufklärung) beruht,106 ist vielleicht für das von der Billigkeit geforderte Ergebnis

104 Oben

§ 2 III.2. bei Regelsberger, Gesetz und Rechtsanwendung, JhJb 58 (1911), 146/172: „Denn daß eine solche Haftung mit der grundsätzlichen Regelung des Vertragsrechts oder mit einer einzelnen Vorschrift im BGB im Widerspruch stehe, wird niemand behaupten; vielmehr fügt sie sich in das Ganze als wünschenswerte Ergänzung ein.“; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 58: „Bahnbrechend für die weitere Entwicklung …“; Schanze, Ius Commune VII (1978), 326/356: eine „eher oberflächliche, die historische Diskussion kaum beachtende Abhandlung“. 106 Vgl. die Fallbeispiele bei Staub, Positive Vertragsverletzungen (1902), S. 31 f.: „Es liefert ein Kaufmann einem anderen einen von ihm fabrizierten Leuchtstoff, der explosive Bestandt­ theile hat, ohne den Käufer darauf aufmerksam zu machen; der Leuchtstoff richtet im Laden des Käufers großen Schaden an. Ein Agent giebt aus Nachlässigkeit unrichtige Berichte über die Solvenz eines von ihm gewonnenen Kunden (…).“ Das sind offensichtlich Fälle, die wir bis heute als Fälle der culpa in contrahendo kennen. Als erster bemerkt hat dies offenbar bereits Kipp, DJZ 1903, 253/255: „Wer eine individuelle Sache verkauft und einen Mangel derselben 105 Beifall

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eine unbedeutende Nebenfrage der juristischen Konstruktion, nicht aber für die Notwendigkeit und dogmatische Begründung eines weiteren Rechtsinstituts. Haftet der Lieferant von vergiftetem Pferdefutter wegen Schlechterfüllung oder vielleicht, weil er den Mangel bereits beim Vertragsschlusse hätte erkennen und dem Käufer mitteilen müssen? Leonhards Antwort ist natürlich klar: „Also ist der Vertrag nicht nur das zeitliche, sondern auch das sachliche prius, die Ursache des ganzen Schadens. Unnatürlich und verkehrt scheint es mir, ihn nur auf die Erfüllung zurückzuführen.“107

Leonhard entwickelt mit seinem „Verschulden beim Vertragsschlusse“ in der Sache also gar kein neues Haftungsinstitut, sondern liefert im Grunde eine alternative (seiner Meinung nach: die richtige) Begründung einer Haftung für Schlechterfüllung, indem er die Pflichtverletzung streng an den schadensursächlichen Kausalbeitrag anknüpft und so bereits im vorvertraglichen Stadium ausmacht! Diese „Entdeckung“ der eigentlich ursächlichen (vorvertraglichen) Pflichtverletzung ist eine „consequente“ Folge sowohl des für die Pflichtverletzung sensibilisierten juristischen Blickwinkels als auch des mit der culpa levissima verbundenen „Schlauberger-Konjunktivs“. Die Kausalkette reicht bei genauer Analyse weiter zurück: Erste Ursache für den Schaden ist nicht der Gebrauch der Sache und auch nicht die Lieferung der Sache, sondern die Unachtsamkeit des Verkäufers im vorvertraglichen Bereich ist die maßgebliche conditio sine qua non. Damit ist die Analogie zu § 276 BGB für Leonhard eine notwendige „Consequenz“: „Der Schuldner haftet für seine Schuld bei der Vertragserfüllung; ebenso muß er auch für seine Schuld beim Vertragsschlusse haften.“108

Das ist also im Prinzip noch einmal die gleiche erweiternde Ausdehnung einer Haftung für culpa, wie wir sie bereits von Jherings „Entdeckung“ kennen: „Das Gebot der kontraktlichen diligentia gilt für gewordene so auch für werdende Kontraktsverhältnisse“. Nur da es Leonhard gerade gar nicht um eine Haftung bei unwirksamen, sondern nur bei wirksamen Verträgen geht, stellt sich die Frage: Welche culpa (resp. welche Pflichtverletzung) trifft den Schuldner dann noch in solvendo?

nicht angibt, weil er ihn nicht kennt, während er ihn kennen müsste, begeht etwas, was man culpa in contrahendo nennen kann, aber er begeht kein Verschulden in der Erfüllung seiner Vertragspflichten.“ 107  Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 27; der Gedanke einer vorvertraglichen Pflichtverletzung findet sich (freilich in anderem Zusammenhang) bereits bei Brecht, System der Vertragshaftung, JhJb 53 (1908), 222/281: „Das Gesetz enthält eine Lücke … Wie ist es, wenn die Leistung infolge eines Umstandes unmöglich wird, der schon zur Zeit des Vertragsschlusses vorlag? Das Gesetz schweigt (…).“ 108 Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 42.

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Schaut man mit dem „Schlauberger-Konjunktiv“ genauer auf den Kausalverlauf, so wird sich für jede Leistungsstörung das wahre „sachliche prius“ regelmäßig schon im vorvertraglichen Stadium ausmachen lassen. Das gesamte vertragliche Schuldrecht lässt sich so unproblematisch als vorvertragliches Schuldrecht erklären: Unmöglichkeit, Verzug und Gewährleistungsrechte – immer hätte der Schuldner den zum Schaden führenden Umstand vorher erkennen können, immer liegt seine Sorgfaltswidrigkeit irgendwo (auch bereits) im vorvertraglichen Bereich.109 Die heute die dogmatische Diskussion dominierende Debatte um die Vielzahl der vorvertraglichen Schutzpflichten (insbesondere Aufklärungs-, Untersuchungs‑ und Erkundigungspflichten) ist nur eine „consequente“ Folge der hier vollführten Weichenstellung von der culpa in solvendo zur culpa in contrahendo. c) Der Grund ist gelegt: Lückenfüllung durch Aufklärungspflichten „Bei Tauschverträgen sind sich die Interessen polarisch entgegengesetzt – je unvorteilhafter der Kauf für den Käufer, um so vorteilhafter für den Verkäufer, und umgekehrt. Die Politik eines jeden Teils läßt sich in den Satz fassen: sein Schaden mein Gewinn, niemand kann es mir verargen, daß ich nur für mich, nicht für ihn sorge, jeder hat in diesen Verhältnissen für sich selber einzustehen.“ Rudolf v. Jhering, 1877110

Ein zweiter Punkt ist zu betonen: Franz Leonhard hat immerhin noch eines ausdrücklich hervorgehoben, dass die „Jheringsche Haftung für culpa in contrahendo“ dem Gesetzgeber deutlich vor Augen gestanden hat, differenziert geregelt wurde und es mithin darüber hinaus schlechterdings nicht möglich sei, noch eine allgemeine Haftung beim Abschluss nichtiger Verträge zu postulieren. Der Hinweis auf die Normen, die seit Kuhlenbeck (1905) und bis heute gleichwohl immer noch für eine Gesamtanalogie herangezogen werden,111 dient hier methodologisch zutreffend dem Gegenteil: einem Umkehrschluss.112 Erste Voraussetzung für eine Haftung ist daher nach Leonhard – und darin wird die

109  Zum Problem zuerst: A. Kohler, Zur Anzeigepflicht im Zivilrecht, AbR 25 (1905), 164 ff.; Krückmann, Unmöglichkeit und Unmöglichkeitsprozeß, AcP 101 (1907), 1/181 ff.; P. Klein, Die Anzeigepflicht im Schuldrecht (1908); ausf. Alberti, Die Mitteilungspflicht über Unvermögen oder Unmöglichkeit, AcP 118 (1920), 144–247. 110 Zweck im Recht I (1877), S. 212 f. 111  Vgl. statt aller nur Soergel / ​Wiedemann, BGB (12. Aufl. 1990), Vor § 275 Rn. 101; hierzu sogleich unten § 5 III. 112 Um den Kanon teleologischer Nutzbarbachung dieser Vorschriften voll zu machen: Oertmann, LZ 1914, 513, 520 zieht aus den §§ 122, 179, 307, 309 sogar ein argumentum a fortiori für die Haftung. Wenn diese Normen sogar eine Haftung bei ungültigen Verträgen anordneten, so müsse das erst recht (sic!) bei gültigen Verträgen gelten.

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Nähe seiner c. i. c. zur originären p. V. noch einmal deutlich – ein „gültiger Geschäftsschluss“.113 Daneben steht dann die bis heute bekannte „schuldhafte Pflichtverletzung“114, deren genauer Zuschnitt freilich auch bereits hier, bei Leonhard, alles andere als klar umrissen ist. Immerhin erfolgt noch der etwas hilflose Hinweis darauf, dass nicht „jede Verletzung des Gegners eine Pflichtverletzung enthalte“: „Im Gegenteil muß man sehr vorsichtig mit dieser Annahme sein. Beim Vertragsschluß ist jede Partei zunächst darauf bedacht, ihre eigenen Interessen zu wahren. Das ist einmal so und ist auch ganz in der Ordnung. Man kann nicht verlangen, daß jeder sorgsam erwägt, ob der Gegner auch zu seinem Rechte kommt. Vom Standpunkt einer sehr feinen Ethik würde man dies von den Parteien fordern können. Aber das Recht geht überall nur von einer mittleren, etwas nüchternen Gesinnung aus.“115

Leonhard ahnte offenbar, dass die von ihm befürwortete Haftung leicht die Tendenz in sich trägt, die Grenze zwischen „einer feinen Ethik“ und einem noch justiziablen Recht zu nivellieren; eine Folge, mit der ein Hinweis auf die Billigkeit notwendig immer schwanger geht. Er konnte freilich auch nicht wissen, dass einige Jahre später diese Nivellierung zu einem methodologischen Prinzip der Zivilrechtswissenschaft werden sollte: Rechtsfindung kraft „rechtsethischer Notwendigkeit“.116

113 F. Leonhard,

Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 58–60; eine Haftung Dritter ist auch ihm noch unbekannt (mit Hinweis auf RGZ 62, 315). 114  F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 60. 115 F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S.  60 f.; deutlicher Jhering, Zweck I (1877), S. 212 f.: Bei einem Tauschvertrag sind die „Interessen polarisch entgegengesetzt – je unvorteilhafter der Kauf für den Käufer, um so vorteilhafter für den Verkäufer, und umgekehrt. Die Politik eines jeden Teils läßt sich in den Satz fassen: sein Schaden mein Gewinn, niemand kann es mir verargen, daß ich nur für mich, nicht für ihn sorge, jeder hat in diesen Verhältnissen für sich selber einzustehen.“; in diesem Sinne etwa auch noch Hedemann, Schuldrecht (1921), § 41 IV, S. 318: „Denn im Vorstadium vor dem Vertragsschluß hat ein gesunder Egoismus beider Teile seine Berechtigung.“; Ebbecke, Verpflichtungen aus unerlaubten Handlungen, JhJb 71 (1922), 346/358: „Als Rechtsgrundsatz kann es nicht aufgestellt werden, daß derjenige, welcher sich in Vertragsverhandlungen einläßt, hierbei die Interessen des anderen zu wahren habe. Bei diesen Verhandlungen verfolgt jede Partei ihre eigenen Interessen, und es kann ihr nicht wohl zugemutet werden, auf die Förderung der Interessen des anderen Teils besonders Bedacht zu nehmen (vgl. Enneccerus, § 266 unter III).“; eingeschränkt dann aber schon: Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/283: „… etwas Politik, wie wir es genannt haben, ist erlaubt. Natürlich steht gerade auch diese Frage besonders stark unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben, und ist dem Wandel der Anschauungen besonders ausgesetzt. Heute wird man ein auch nur vorübergehendes Abweichen von der Wahrheit eher als Pflichtverletzung anzusehen geneigt sein, als noch vor kurzem (…).“; zum endgültigen Wandel der Verpflichtung zur Wahrnehmung der Gemeinschaftsinteressen „Gemeinnutz vor Eigennutz“ unten § 6 I.3., II.2. 116  Hierzu etwa: Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 266 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 421 ff.: „Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip“, wo die c. i. c. als schillerndes Paradebeispiel vorgestellt wird.

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Den Grundstein zu dieser Entwicklung hat Franz Leonhard mit seiner Schrift jedenfalls gelegt. Wenn ihr auch eine überzeugende Argumentation mangelt, für die Praxis war nunmehr ein Raum geschaffen, auch jenseits der gesetzlich geregelten Leistungsstörungen Haftungsfolgen mit einer ebenso einfachen wie ethisch überzeugenden Begründung auszusprechen. Der erste große Anwendungsbereich der neuen c. i. c. brach sich in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Bahn: Eine allgemeine Haftung für Aufklärungspflichtverletzung.117 Zwar hatte das Reichsgericht bereits im Jahre 1911 (unter Berufung auf das „allgemeine Rechtsempfinden“) zunächst die quasivertragliche Begründung von Erhaltungspflichten für „die Gesundheit und das Eigentum des anderen Teiles“ ausgesprochen. Diese später als „Linoleumrollenfall“ in die Privatrechtsgeschichte eingegangene Entscheidung (RGZ 78, 239) enthielt aber noch keinen Hinweis auf eine culpa in contrahendo. Ihre Bedeutung erhielt sie erst später aufgrund des dogmatischen Ansatzes, in einem vorvertraglichen Kontakt nicht einen bloß tatsächlichen Vorgang, „sondern … ein den Kauf vorbereitendes Rechtsverhältnis (sic!) zwischen den Parteien, das einen vertragsähnlichen Charakter trägt und insofern rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten erzeugt“, zu sehen. Für die frühe Praxis der reichsgerichtlichen Judikatur ist diese Auffassung völlig singulär geblieben. Bereits wenige Monate nach dieser Entscheidung ließ derselbe Senat eine Exculpation gem. § 831 BGB wieder zu, ohne ein „vorvertragliches Rechtsverhältnis“ überhaupt noch zu erwähnen.118 Und dabei blieb es, bis erst 1961 der Bundesgerichtshof im „Bananenschalenfall“ (hierin der Lehre folgend) der culpa in contrahendo auch Erhaltungs‑ bzw. Verkehrssicherungspflichten entnehmen zu müssen glaubte.119 Der Anwendungsbereich für das „Verschulden beim Vertragsschlusse“ blieb die nächsten 10 Jahre lang allein das Leonhard’sche Haftungsinstitut: die Postulation von Aufklärungspflichtverletzungen bei wirksamen Verträgen. Das, was das Reichsgericht noch im Jahre 1895 als einen allgemeinen Rechtssatz des gemeinen Rechts nicht anerkennen konnte, dass nämlich „jeder Contrahent verpflichtet sei, dem Mitcontrahenten alle Umstände mitzutheilen, die auf dessen

117  Grundlegend RG, Urt. v. 26. April 1912, JW 1912, 743 (Luisinlicht); Urt. v. 12. Januar 1915, JW 1915, 240 (Uferpfähle); dagegen noch der V. Senat: Urt. v. 6. Oktober 1915, JW 1916, 116 (Mieterabfindung); Urt. v. 16. Februar 1916, RGZ 88, 105 (Filtervertriebsrecht); dann jedoch ständige Rspr.: Urt. v. 8. Juni 1918, RGZ 93, 165 (Bisulfat); Urt. v. 24. September 1918, RGZ 95, 58 (Wasserableitung); Urt. v. 2. Januar 1920, RGZ 97, 327 (Heereslieferung); 19. Oktober 1921, RGZ 103, 47 (Hypothekenzession); Urt. v. 27. November 1924, RGZ 108, 408 (Munitionsreste). 118  Urt. v. 26. November 1912, JW 1913, 23 ff. (Galerie-Fall): Ein schwerer Metallständer war dem Kläger in einem Warenhaus auf den Kopf gefallen. 119  Urt. v. 26. September 1961  – VI ZR 92/61, NJW 1962, 31 (Bananenschalen-Fall): Ein Kunde war in einem Warenhaus auf einer Bananenschale ausgerutscht und hatte sich hierbei verletzt; zum Problem noch unten § 5 III.2.a), § 7 II.

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Entscheidung von wesentlichem Einfluß sein mußten“120, wurde keine zwanzig Jahre später aus einer Abstraktion des § 463 BGB a. F. und unter Verzicht auf das Kriterium des dolus mit der Vorstellung von einem allgemeinen Verschulden (culpa: Abstraktion des § 276 BGB) beim Vertragsschlusse gewonnen: Es sei „kein stichhaltiger Grund einzusehen, weshalb die Vertragsparteien beim Vertragsschluß einander zu einer geringeren Sorgfalt verpflichtet sein sollten, als nach Vertragsschluß“.121 In von nun an steter Rechtsprechung formulierte das Reichsgericht: „Die Bedürfnisse des redlichen Verkehrs und der für das ganze Vertragsrecht beherrschende Grundsatz von Treu und Glauben lassen … die rechtliche Anerkennung der vertraglichen Haftung (sic!) für Verschulden beim Vertragsschluß als unentbehrlich erscheinen, wenn ein Vertrag gültig geschlossen worden ist und eine Partei beim Vertragsschluß Umstände, von denen sie wußte oder sich sagen mußte, daß sie für den Willensentschluß des anderen teils von wesentlicher Bedeutung seien, fahrlässigerweise verschwiegen oder darüber unrichtige Angaben gemacht hat.“122

Man konnte leicht den Eindruck gewinnen, die Haltung der Rechtsprechung sei nun, nach den ersten 10 Jahren strikter Ablehnung, ins Gegenteil umgeschwenkt: „Man bemühte sich, die Haftung für c. i. c. überall anzuwenden.“123 Dabei ist es recht kennzeichnend, dass sich die Leitentscheidungen, die nunmehr unter Berufung auf die Ausführungen Leonhards ergingen, durchweg auch mit dem geltenden Recht hätten begründen lassen. So war der dammbrechende Luisinlicht-Fall (JW 1912, 743) ein Fall der Nichterfüllung,124 und der grundlegende Wasserableitungs-Fall (RGZ 95, 58) betraf das Problem der Kalkulationsgrund Urt. v. 4. Januar 1895, SeuffArch 51 (1896), Nr. 4 (Wiederverheiratungs-Fall).  RGZ 95, 58 (Wasserableitungs-Fall); vgl. auch RGZ 97, 326 (Heereslieferungs-Fall): „… weil die Kl. bereits bei Abschluß des Vertrages ein von ihr zu vertretendes Verschulden treffe. (…) Daß eine Rechtspflicht für den einen Vertragsteil besteht, dem andern die für ihn beim Vertragsschluß bedeutsamen Tatsachen kundzugeben, und daß fahrlässiges Unterlassen dieser Kundgabe nach § 276 BGB haftbar macht, hat das RG. bereits in mehreren Entscheidungen anerkannt.“ 122  Vgl. RGZ 95, 58 (Wasserableitungs-Fall); RGZ 103, 50 (Hypothekenzessions-Fall); das Reichsgericht hat hier auf die Formulierungen in der Literatur zurückgegriffen: Klein, Anzeigepflicht im Schuldrecht (1908); Oertmann, LZ 1914, 513/514: Aufklärungspflichten ergäben sich „auch ohne ausdrücklich im Gesetzbuch festgelegt zu sein, als Nebenpflichten, aus dem das gesamte Schuldrecht laut § 242 beherrschenden Grundsatze von Treu und Glauben. Sie erstrecken sich auf alle Umstände, die dem einen Teile bekannt sind und von denen er weiß oder wissen muß, daß der andere an ihrer Mitteilung ein berechtigtes Interesse hat …“; zustimmend Cosack, Lehrbuch I, § 135, S. 354 ff. 123 Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 42. 124  Hierzu schon: Berger, Grenzen der Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1935), S. 43; Hans Stoll, FS Caemmerer (1978), S. 435/457; Huber, Gutachten (1981), S. 745; Klingler, Aufklärungspflichten (1981), S. 70. Der Fall lag übrigens ganz ähnlich wie im Urt. v. 15. März 1902 – I 392/01, RGZ 51, 92 (Lizenzvertrags-Fall): hier war nicht das Patent bestritten, sondern die Patentfrist vorzeitig abgelaufen und das RG hatte einen Anspruch aus § 307 BGB a. F. zugesprochen. 120

121

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lage und ließ sich mit Mitteln der Vertragsauslegung ebenso interessengerecht lösen125 wie etwa der Heereslieferungs-Fall (RGZ 97, 327)126. Der Wechsel zur Postulation von Aufklärungspflichten kam dabei freilich nicht überraschend; denn bereits vor Leonhards Schrift hatten Krückmann (1907)127 und ihm folgend Theissing (1909)128 die §§ 122, 179, 307/9 BGB als Fälle der Anzeigepflichtverletzung ausgemacht. Ebenso sah auch Klein (1908)129 in der Haftung für anfängliche Unmöglichkeit (§ 307 BGB a. F.) einen „vom Gesetz ausdrücklich geregelten Fall von Haftung wegen Verletzung der Anzeigepflicht“. Damit wird die Wurzel der Idee von Aufklärungspflichten deutlich. Es ging auch hier um Bemühungen, die vermeintlich von Staub entdeckte Lücke zu schließen: „… so ergibt sich zuletzt der allgemeine und tiefere Grund, weshalb Unmöglichkeitsrecht und Verzugsrecht nicht herangezogen werden können: es handelt sich eben um etwas ganz anderes, um die Vernachlässigung einer bloßen Anzeigepflicht, die mit Verzug oder Unmöglichkeit der Leistung gar nichts gemein hat (…).“130 Dass also auch Leonhard hier offenbar nur eine neue Begründung für ohnehin bestehende Lösungsmöglichkeiten als Lückenfüllung vorgetragen hat, findet sich auch in den von ihm aus dem gemeinen Recht herangezogenen Fällen bestätigt. Auch bei diesen ging es um Fragen der Auslegung,131 der Vertragserfüllung132 oder der deliktischen culpa133. Die Ubiquität dieses neuen Rechtsinstituts deutet 125 Hans

Stoll, FS Caemmerer (1978), S. 435/457; Huber, Gutachten (1981), S. 746; Flume, Rechtsgeschäft (1992), § 26, 4, S. 506. 126  Der Beklagte machte einen Gegenanspruch geltend, weil der Kläger 150 Tonnen Flacheisen, die er ihm verkauft hatte, nicht geliefert hatte. Der Kläger berief sich auf eine Klausel des Vertrages, mit welcher er sich „die Lieferungsmöglichkeit vorbehalten“ habe. Gestritten wurde letztlich über Berechtigung und Reichweite dieses Vorbehalts. Zutreffend konstatiert schon Geppert, Gruchot 69 (1928), 529/542 hierzu: „Wenn man diese Entscheidung liest, fragt man sich: handelt es sich denn nicht einfach um die Auslegung der Formel ‚Lieferungsmöglichkeit vorbehalten‘, also um Zweifel, wie sie bei solchen Verträgen alle Tage entstehen?“ 127 Unmöglichkeit und Unmöglichkeitsprozeß, AcP 101 (1907), 1/207 ff. 128 Die Verschuldensaufrechnung (1909), S. 7 ff. 129  Die Anzeigepflicht im Schuldrecht (1908), S. 129. 130 Krückmann, Unmöglichkeit und Unmöglichkeitsprozeß, AcP 101 (1907), 1/207. 131 SeuffArch. 2, 23 (Getreide-Fall): Das Problem lag in der Frage, ob sich eine vertragliche Zusicherung auf eine ganze Schiffsladung oder nur auf einen untersuchten Teil derselben bezog; SeuffArch. 5, 153 (Wald-Fall): Der Beklagte hatte seinen Hof „samt allen besitzenden Liegenschaften“ verkauft; gestritten wurde um die „allein entscheidende Frage“, ob insoweit auch ein Wald mitverkauft sei. 132  SeuffArch. 7, 31 (Speicher-Fall): Ein vermieteter Speicher war eingestürzt und alle gelagerten Waren vernichtet; gefragt wurde danach, ob die Beklagte ihre Verbindlichkeiten aus dem Mietverhältnis verletzt hatte. 133  SeuffArch. 7, 170 (Kümmel-Fall): Der Beklagte hatte schwarzen Kümmel, der mit giftigen Stechapfelsamen vermischt war, verkauft und war deswegen bereits polizeilich in Strafe genommen; er ist zum Ersatz der Arztkosten verurteilt worden, da die Vergiftung des Klägers durch sein Verschulden herbeigeführt worden war; vgl. hierzu auch schon Geppert, Gruchot 69 (1928), 529/531, Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß, (1933), S. 17.

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sich also bereits in ihrem dogmatischen Ursprung an. Auch das überrascht nicht, erschien doch erstens das einzig Originelle an Leonhards Schrift der Blick auf das vorvertragliche Verhalten zu sein, das sich nun natürlich auch überall finden ließ. Und zweitens ist auch die Idee von vorvertraglichen Aufklärungs‑ und Untersuchungspflichten im Schlauberger-Konjunktiv nichts anderes als die Wiederkehr der culpa levissima in neuem dogmatischen Gewand. So wie es im usus modernus möglich war, jeden Fall mit der culpa levissima zu lösen, so wurde es jetzt möglich, jeden Fall mit dem Hinweis auf vorvertragliches Verschulden, d. h. mittels einer Postulation von Aufklärungs‑ oder Untersuchungspflichten zu lösen. Wie mit jener, so konnte man auch mit dieser neuen Konzeption von Handlungsunrecht leicht jeden Fall erledigen. Wenn entsprechend der freirechtlichen Theorie das Ergebnis zuerst gefunden wird, dann bereitet mit dem neuen Haftungsinstrument die Begründung der Entscheidung keine Schwierigkeiten mehr: Der „Schlauberger-Konjunktiv“ passt für alle Fälle. Die sich notwendig einstellende Konkurrenz zwischen den allgemeinen Regeln des Vertragsrechts, dem Leistungsstörungs‑ sowie dem Deliktsrecht und dem neuen Haftungsinstitut basierte also – jedenfalls nicht originär – auf einer „Flucht vor der Härte der §§ 477, 638 BGB“134 oder vor für ähnlich zweifelhaft gehaltenen Regelungen (etwa § 831 BGB), sondern auf wissenschaftlichem Ehrgeiz und der, für eine vom Freirecht inspirierten Praxis der Rechtsprechung, einfacheren Handhabung eines allgemeinen Prinzips gegenüber einer ausdifferenzierten Dogmatik. Justus Wilhelm Hedemann hat die Sache später ebenso allgemein wie treffend als „Flucht in die Generalklausel“ (1933) bezeichnet: Die Vorteile der juristischen Beweglichkeit, „Freiheit“, Lockerung, kurz: „Anpassungsfähigkeit“ und „Elastizität“ sind zugleich auch die Nachteile der „bequemen Generalklauseln“: Die Freiheit beim Umgang mit ihrem Gebrauch führt zur „Ermüdung“ bei der geistigen Durchdringung des Stoffes. Diese Bequemlichkeit führt zu einer „Verweichlichung“ des Denkens; und einmal als probates Mittel entdeckt, steigert sich von Jahr zu Jahr der bequeme Griff nach „Treu und Glauben“: „Der Einzelsatz ist hart und spröde, die Kombination und das Gegeneinander mehrerer Einzelsätze ist noch schwieriger und zeitraubender. Wie leicht tut es sich da bei der ‚Lösung‘ eines Falles mit Treu und Glauben oder den guten Sitten.“135 Das, was römische Jurisprudenz und gemeinrechtliche Wissenschaft in einer Vielzahl einzelner Regeln durchdekliniert und ausdifferenziert hatten: Die obligatorische Verschuldenshaftung findet nun doch wieder ihre Auflösung in einem allgemein abstrahierten Prinzip einer einzigen „kahlen Formel“, bei der das gefühlte / ​ gewollte Ergebnis mit dem „Schlauberger-Konjunktiv“ in jedem Fall begründet werden kann. 134

 Medicus, Gutachten (1981), S. 538. Flucht in die Generalklausel (1933), S. 66.

135 Hedemann,

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In dogmatischer Hinsicht zeichnet sich so bereits hier eine doppelte Konkurrenz von Rechtsinstituten ab: 1. Erfolgs‑ oder Handlungsunrecht? Das Konkurrenzproblem wird zunächst gerade für das Leistungsstörungsrecht sehr deutlich. Die Ursache für die Konkurrenz liegt in unterschiedlichen Ansätzen zur juristischen Erfassung derselben Sachprobleme. Entweder man schaut auf die Rechtsverletzung beim Gläubiger oder man schaut auf die Pflichtverletzung des Schuldners. Im ersten Fall interessiert nur das Ergebnis: Nicht-, Spät‑ oder Schlechtleistung. Aufgrund welcher Handlung es zu der jeweiligen Leistungsstörung gekommen ist, muss nicht interessieren; auch nicht, ob die Versäumnisse als vertragliche oder vorvertragliche einzuordnen sind. Das Haftungskonzept basiert ganz auf der Rechtswidrigkeit des Ergebnisses. Es ist bei den Überlegungen zur deliktsrechtlichen Generalklausel bereits deutlich geworden: Die gemeinrechtliche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts interessierte aus dem rechtstheoretischen Konzept „wohlgeordneter Freiheit“ und subjektiver Rechte heraus vor allem das Ergebnis der Rechtsverletzung, die Rechtswidrigkeit als Erfolgsunrecht. Das galt nun eben nicht nur für das Deliktsrecht, sondern auch für die Bestimmung der Rechtsverletzungen im Vertragsrecht. Der mit Staub und seiner p. V. in den Vordergrund gerückte Gedanke der Pflichtverletzung belebt demgegenüber erneut den im Naturrecht und im usus modernus hervorgehobenen Gedanken des Handlungsunrechts beim Schuldner und d. h. die culpa als causa obligationis. Vom Ergebnis des Schadens her wird das Unterlassen der gebotenen Handlung (ex post) als konkrete Pflichtverletzung ausgemacht. Das haben wir als methodologischen „Finalismus“ kennen gelernt. Mit dieser grundlegenden Differenzierung vor Augen bekommt die dogmatische Debatte um die „Lücke“ für eine p. V. ihren eigentlichen Sinn. Denn die Frage ist dann in der Tat die: Sind die vorhandenen Regelungen der Nicht-, Spät‑ und Schlechtleistung abschließend? Wenn man das bezweifelt und mit dem Gedanken des Handlungsunrechts einen allgemeinen Tatbestand der Pflichtverletzung in das Zentrum des Schuldrechts rückt, dann stellt sich zwangsläufig das zweite Konkurrenzproblem: 2. Vertragliche oder vorvertragliche Pflichtverletzung? Die bereits bei Staub und Leonhard angelegte Konsequenz, sowohl eine vertragliche als auch eine vorvertragliche Pflichtverletzung konstatieren zu können,136 zeigt nicht nur die Einfachheit und das Bedenkliche von freirechtlich zu findenden Pflichten, 136 Vgl. bereits Oertmann, LZ 1914, 513, der in Fortführung der Leonhard’schen Dogmatik immerhin zwischen Anzeige‑ und Untersuchungspflichten differenzieren möchte, wobei nur letztere eine rein vorvertragliche Pflicht darstelle, während erstere nach Vertragsschluß zu einem „Dauerverschulden“ führe und man insoweit mit der Haftung für nachvertragliche culpa (§ 276 BGB also p. V.) auskomme; übrigens eine Argumentation, die sich bis heute insb. bei der Diskussion um das „einheitliche Schutzpflichtverhältnis“ gehalten hat; vgl. nur Medicus, Ansprüche auf Schadensersatz, JuS 1986, 665/669 m. N.

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sondern sie bildet auch den faktisch natürlichen Grundstein dafür, letztlich überhaupt jede dogmatische Begründung und Differenzierung fallen zu lassen und ein von einem wirksamen Vertrag gänzlich unabhängiges „einheitliches gesetzliches Schutzpflichtverhältnis“ zu konstruieren.137 Mit der positiven Anerkennung eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses in § 311 Abs. 2 und 3 BGB und einer umfassenden schuldrechtlichen Rücksichtnahmepflicht in § 241 BGB ist die Unterscheidung denn auch in der Tat überflüssig geworden, und es muss insoweit nicht verwundern, wenn heute die Rechtsprechung bei der Postulation von Pflichtverletzungen gar nicht mehr auf eine Rechtsgrundlage zu achten braucht und eine Sensibilität für die Unterscheidung zwischen vertraglichen und vorvertraglichen Pflichtverletzungen ganz „consequent“ bereits nivelliert ist.138 Immerhin hat es 15 Jahre gedauert, bis die bestehende Konkurrenz zwischen der neuen c. i. c. und den im BGB geregelten Instituten überhaupt in der Wissenschaft zur Kenntnis genommen wurden. Heinrich Titze war, wenn ich recht sehe, der Erste, der angesichts der zunehmenden Ubiquität des neuen Haftungsinstituts gleichsam den Ansatz von Leonhard wieder zurückschrauben und insbesondere alle die Fälle vom Anwendungsbereich der c. i. c. wieder ausnehmen wollte, die unter die Grundsätze der Haftung für culpa in solvendo, also Fälle der Nicht‑ oder Schlechterfüllung, fallen.139 Damit war der neu erfundenen c. i. c. im Grunde der dogmatische Boden entzogen. Doch die Entwicklung war nach dem 1. Weltkrieg und zu Beginn der Weimarer Republik bereits stürmisch über die bescheidene Konstruktion Leonhards hinaus geschritten. Die Zeit war eine Zeit der Umbrüche, nicht aber des dogmatischen Details. Die Zeit schritt nicht nur über Leonhard, sondern über das BGB überhaupt hinaus …

137 Hierzu

unten § 6 I.1. deutlich etwa BGH, Urt. v. 24. November 2005 – VII ZR 87/04, WM 2006, 247, wo der BGH sogar im Leitsatz deutlich macht, dass es ihm offenbar egal ist, ob bereits ein Vertrag geschlossen wurde (so im ersten Satz) oder nicht (so in der zweiten Hälfte): „Weigert sich der Bieter ernsthaft und endgültig, sich an einem bindenden Vertragsangebot festhalten zu lassen und bringt er zum Ausdruck, daß er nicht bereit ist, nach Annahme seines Angebots die Leistung vertragsgemäß zu erbringen, stellt dies eine Pflichtverletzung dar. Wird der Angebotsempfänger dadurch veranlasst, das Angebot nicht anzunehmen, ist er berechtigt, den Schaden geltend zu machen, der ihm dadurch entstanden ist, daß der Vertrag mit diesem Bieter nicht zustande kam, sondern er einen anderen Bieter beauftragen musste.“ Aber eines geht nur: entweder es besteht bereits ein Vertrag oder eben nicht (hierzu Benedict, EWiR 2006, 361 f.). 139  Titze, Verschulden bei Vertragsschluß (1929), S. 516 ff.; ders., JW 1931, 512 ff.; zutreffend konstatiert Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 44: „Mit dieser Lehre hat Titze alle die Fälle aus dem Gebiet der c. i. c. ausgeschieden, auf denen einst Leonhard seine Lehre aufbaute.“ Ebenso Ottensmeyer, Die rechtsgeschäftliche Haftung für culpa in contrahendo unter besonderer Berücksichtigung der Lehre Leonhards. Eine kritische Untersuchung (1935). 138 Besonders

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3. Der kleine Unterschied: Haftung mit oder ohne Vertrag? „Die Haftung für Verschulden beim Vertragsschlusse aber untersteht keineswegs ohneweiteres denselben Regeln wie die Haftung des Schuldners gegenüber seinem Gläubiger. Insbesondere der Kardinalsatz der vertraglichen Ersatzpflichtlehre, § 276, setzt nach seinem zweifellosen Wortlaute jemanden voraus, der bereits Schuldner ist: ‚Der Schuldner … hat zu vertreten.‘“ Paul Oertmann, 1914140

a) Telegraphobie: Theodor Fontane und die Weinsteinsäure-Entscheidung „Kürze soll eine Tugend sein, aber sich kurz fassen heißt meistens auch, sich grob fassen. Jede Spur von Verbindlichkeit fällt fort, und das Wort ‚Herr‘ ist beispielsweise gar nicht mehr anzutreffen. … Jeder, der wieder eine neue Fünfpfennigersparnis herausdoktert, ist ein Genie.“ Theodor Fontane, 1899141

Das Ende Leonhard’scher ‚Bescheidenheit‘ lässt sich auf den 5. April 1922 datieren. In Anlehnung an seine Entscheidung vom 3. Januar 1920142 leitete der I. Zivilsenat des Reichsgerichts mit dem an jenem Tag entschiedenen Weinsteinsäure-Fall (RGZ 104, 265) eine neue Etappe in der Dogmengeschichte der c. i. c. ein: Von dieser Entscheidung an betonte das Reichsgericht in ununterbrochener und widerspruchsloser Entwicklung, dass für culpa in contrahendo auch dann gehaftet werde, wenn der beabsichtigte Vertrag nicht oder nicht rechtsgültig zustande kommt. In dieser viel besprochenen Entscheidung143 realisierte sich das schon von Theodor Fontane in seinem „Stechlin“ umschriebene Problem eines mit der Telegraphie einhergehenden Formenverfalls in der zwischenmenschlichen Kommunikation: „Es ist das mit dem Telegraphieren solche Sache, manches wird besser, aber manches wird auch schlechter, und die feinere Sitte leidet nun schon ganz gewiß (…).“

140 Ein Beitrag zur Frage der Haftung für Verschulden beim Vertragsschlusse, insbesondere für Verschulden des Bestellers beim Abschlusse des Werkvertrages, LZ 1914, 513/517. 141  Der Stechlin, 3. Kapitel. 142 Urt. v. 3. Januar 1920, RGZ 97, 336 (Fernsprech-Fall): Ein Vertragsschluss scheitert, weil innerhalb der gesetzten Frist beim Offerenten niemand mehr telefonisch erreichbar war. Der Senat schwankte in dieser singulär gebliebenen Entscheidung offenbar noch zwischen der Anwendung der Grundsätze zur „Zugangsvereitelung“ und denen zum Verschulden bei Vertragsschluss. Offenbar ging es ihm letztlich um die Anwendung des § 254 BGB; zu Recht kritisch schon Richter, JW 1921, 664/665; zum Problem Benedict, Zugangsproblematik (2000), S. 109 ff. 143 Vgl. nur Levy, JW 1922, 1313; Oertmann, AcP 121 (1923), 122 ff.; Thur, AcP 121 (1923), S.  359 ff.; Manigk, JhJb 75 (1925), 127/190 ff.; R. Raiser, AcP 127 (1927), 1 ff.; Winter, Die Haftung für culpa in contrahendo beim Nichtzustandekommen des Vertrages wegen Mißverständnisses (1928).

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Dass die „feinere Sitte“ leidet („sich kurz fassen heißt meistens auch, sich grob fassen“), realisierten in der Weinsteinsäure-Entscheidung die Parteien erst am Ende ihrer telegraphischen Kommunikation, da beide verkaufen wollten, einander aber jeweils als Kaufinteressenten wähnten: Ein klassischer Fall von Missverständnis: Die Klägerin schickte der Beklagten freibleibend ein Preisverzeichnis, das u. a. Weinsteinsäure mit einem Preis von 68,50 Mark / ​kg aufführte. Die Beklagte telegrafierte bald darauf: „Erbitten Limit über hundert Kilo Weinsteinsäure Gries bleifrei.“ Die Klägerin antwortete: „Weinsteinsäure Gries bleifrei Kilogramm 128 Mk. Nettokasse bei hiesiger Übenahme.“ Darauf telegrafierte die Beklagte zurück: „Hundert Kilo Weinsteinsäure Gries bleifrei geordert, briefliche Bestätigung unterwegs.“ Bei Zugang der Bestätigung stellte sich heraus, dass auch die Beklagte verkaufen wollte. Die Beklagte hat Abnahme und Zahlung verweigert, die Klägerin daraufhin die Ware öffentlich versteigern lassen und forderte nunmehr den Unterschied zwischen dem vermeintlich vereinbarten Kaufpreis und dem Versteigerungserlös als Schadensersatz. In juristischer Perspektive handelte es sich allerdings um ein Missverständnis, bei dem recht eindeutig der Beklagten der Fehler, nämlich ein Deutungsfehler144 zugerechnet werden konnte. Wer ein Preisverzeichnis von angebotenen Waren zugesandt bekommt, wird kaum plausibel annehmen dürfen, dass der Absender damit ein Kaufgesuch verbindet. Der Fall war also relativ einfach nach allgemeinen Auslegungsregeln und geltendem Recht zu entscheiden; denn ein Deutungsfehler ist nur das Pendant zum Inhaltsirrtum – oder anders formuliert: Wer eine Erklärung in ihrem Inhalt falsch interpretiert, trägt den Irrtum über den Inhalt in seiner weiteren Korrespondenz mit. Es handelte sich also um einen Fall des § 119 Abs. 1 BGB (Inhalts‑ bzw. Deutungsirrtum). So lag es auch hier. Die Klägerin konnte die telegrafische Anfrage der Beklagten „Erbitte Limit über hundert Kilo Weinsteinsäure …“ zu Recht als Bekundung des Kaufinteresses auf die übermittelte Preisliste und die Antwort auf ihr daraufhin abgegebenes Verkaufsangebot „Weinsteinsäure … Kilogramm 128 Mk. Nettokasse bei hiesiger Übernahme“ objektiv als Annahmeerklärung verstehen.145 Die

144  Zu den Kategorien: Wahrnehmungs‑ und Deutungsfehler vgl. Titze, Lehre vom Mißverständnis (1910), S. 11; Benedict, Zugangsproblematik (2000), S. 132 ff. 145 So zu Recht bereits die rechtliche Würdigung des OLG Karlsruhe als Vorinstanz (mitgeteilt in RGZ 104, 266) sowie beim überwiegenden Schrifttum: etwas unklar noch Levy, JW 1922, 1313 a. E.; deutlicher Manigk, JhJb 75 (1925), 127/190 ff.: „Der Berufungsrichter nahm an, daß Kläger an Beklagten perfekt verkauft habe, weil die Auslegung des Tatbestandes im Sinne des Klägers richtig sei. Die Revisionsbegründung basiert demgegenüber in der Hauptsache auf dem häufigen Fehlurteil, daß trotz dieser Auslegung doch Einigungsmangel vorliege.“; Rolf Raiser, AcP 127 (1927), 1/14: „Diese Auslegung dürfte richtig sein. Wenn ein Großhändler eine Preisliste zugeschickt erhält, so kann er nicht erwarten, daß der Absender Verkaufsofferten erwartet.“ Oertmann, AcP 121 (1923), 122/123, meint, mit dem Reichsgericht die Übersendung des Preisverzeichnisses nicht in die Auslegung der Korrespondenz mit einbeziehen zu müssen

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Weigerung der Beklagten, den von ihr von vornherein nicht gewollten Kauf auch zu vollziehen, entspricht dann der Geltendmachung eines Irrtums und der Anfechtung des Rechtsgeschäfts (§ 143 BGB). Die Kommunikation im Weinsteinsäure-Fall bietet so geradezu einen Schulfall des § 119 Abs. 1 BGB: Es besteht (auf Seiten der Beklagten) eine Diskrepanz zwischen dem Gewollten und dem objektiv Erklärten, die nur durch Anfechtung und mit der Folge des § 122 BGB beseitigt werden kann. Was objektiv erklärt wurde, konnte durch Auslegung ermittelt werden. Soweit das Reichsgericht demgegenüber bereits das Vorliegen eines Vertragsschlusses mit dem Hinweis auf einen „versteckten Dissens“ meinte ablehnen zu müssen, so war das ein Rückfall auf den Standpunkt der Willenstheorie, wonach es dann, wenn beide Seiten Verschiedenes wollen, an einem Konsens und mithin an einem wirksamen Vertrag fehlt. Einmal mehr wird eine „Lücke“ ausgefüllt, wo es gar keine gibt; denn die Willenstheorie ist in den §§ 116 ff. BGB nicht Gesetz geworden. § 122 Abs. 1 BGB wäre die gesetzliche und auch sachlich passende Anspruchsgrundlage gewesen. Eine überzeugende Begründung für den stattdessen völlig aus der Luft gegriffenen Haftungsanspruch aus c. i. c. gibt das Reichsgericht nicht. „Eine Begründung wäre aber um so gebotener gewesen, als seit der Entstehung des BGB. das Bedürfnis nach einer Haftung aus dem Tatbestand des Putativkonsenses vorher nie bejaht worden ist.“146 Es bedarf hier letztlich keiner Spekulation darüber, ob und warum das Reichsgericht die Debatte um die Auflösung des Willensdogmas im Irrtumsrecht der §§ 119 ff. BGB tatsächlich nicht realisiert hat. Es steht zu befürchten, und ein dauernder Blick auf Ausbildung und Praxis im Bereich der deutschen Rechtsgeschäftslehre scheint diesen Blick zu bestätigen, dass es einen Grad an feinsinnig ausdifferenzierter Dogmatik gibt, der für die meisten Rechtsanwender intellektuell nicht mehr nachvollzogen wird. Ein Verständnis für den Ersatz des Vertrauensschadens und die Grundgedanken der Culpacompensation (§ 122 Abs. 2 BGB) muss man da schon gleich gar nicht erwarten. Die Neigung zu

(es habe „keinen Zweck, auf diesen für den grundsätzlichen Inhalt des Erkenntnisses belanglosen Punkt einzugehen“). In der Sache offenbart aber das Reichsgericht an späterer Stelle, dass es die Sache doch gar nicht für belanglos hält: „Die Klägerin konnte sehr wohl der Meinung sein, daß die Beklagte kaufen wollte.“ (RGZ 104, 268). 146 Zutreffende Kritik bei R. Raiser, AcP 127 (1927), 1/17 f.: Ein Haftungsbedürfnis ist im Gegenteil, soweit der Fall überhaupt der Erwähnung bedürftig angesehen wurde, immer zu Recht mit dem Gedanken der Culpacompensation „sofort von der Hand gewiesen worden“. Engels, Der offene und versteckte Dissens (1903): „Wo gleiche Schuld auf beiden Seiten ist, da kann niemand von einem andern Schadensersatz verlangen.“; Thur, Allgemeiner Teil (1914): „Den Schaden … hat jede Partei selbst zu tragen; denn wer einen Vertrag schließen will, hat darauf zu achten, ob die Willenserklärungen in allen Punkten übereinstimmen.“; Wawrzyn, Üeber den versteckten Dissens (1921), S. 68: „Liegen tatsächlich zwei objektiv mißverständliche Erklärungen vor, die auch beiderseits mißverstanden wurden, so kann keiner Partei zugemutet werden, für den Wert ihrer Erklärung einzustehen (…).“

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einer Halbe-Halbe-Gerechtigkeit auf der Basis eines Halbe-Halbe-Verschuldens (§ 254 BGB) wird da vielleicht verständlich.147 Hier wird sie deutlich, die von Hedemann 11 Jahre später analysierte „Flucht in die Generalklausel“ aus „Bequemlichkeit“: „Keinem einzelnen aus dem Korps der Richter wird ein Vorwurf zu machen sein. Aber der Gesamtstand der Justiz muß leiden, wenn auch hier, wie deutlich erkennbar, im Übermaß zu den lockenden, ach so einfachen Generalklauseln geflüchtet wird. Blitzartig wird die Gefahr durch ein imaginäres Beispiel beleuchtet: Culpa concurrens, mitwirkendes Verschulden. Hier hat der Gesetzgeber ein Verteilungsrecht eingeräumt (BGB. § 254). Wie, wenn es nicht klar ist, wer der Täter war, wenn die Aufhellung dessen Schwierigkeiten macht? Was weiter prüfen – halbieren wir!“148

Hedemann nennt den Fall „imaginär“!? Der Weinsteinsäurefall passt jedenfalls exakt auf diese Flucht von der feingestrickten Dogmatik der Rechtsgeschäftslehre in die Halbe-Halbe-Bequemlichkeit des § 254 BGB. Interessant ist immerhin, dass Hedemann dieses generelle Problem – das er ja offensichtlich kritisiert – gar nicht mit der culpa in contrahendo in Verbindung bringt, die seiner Meinung nach auf einem gelungenen Gebrauch der Generalklauseln basiert (merkwürdige Inkonsequenz). Tatsächlich aber liegt das Problem auch dieser Generalklausel genau hier: „Imaginär, sagten wir, sei dieses Beispiel. In der Tat, es wirkt heute noch wie ein wesenloses Gespenst. Aber wer bürgt, daß die einmal beschrittene, noch im Lichten liegende Bahn nicht in solche dunklen Dinge hinabführt? Der, der überlastet, der müde ist, macht sich’s bequem, – und greift, im langsamen Gleiten öfter und öfter, nach dem bequemen Polster der Generalklausel.“149

Ein Letztes wird an der Weinsteinsäure-Entscheidung deutlich, nämlich einmal mehr die Willkürlichkeit der Begründung mit dem Verschuldensprinzip, wenn der Senat einerseits den Standpunkt der Vorinstanz bestätigt und aus-

147  Bereits Rümelin, Schadensersatz ohne Verschulden (1910), S. 5, bemerkte zunehmend viele Anhänger für „ein angebliches Prinzip der billigen Schadensverteilung“; der erkennende Senat des Reichsgerichts scheint daran Gefallen gefunden zu haben: vgl. schon RGZ 97, 336 und die Kritik hieran bei Richter, JW 1921, 664/665. Eine entsprechende Regelung kannte nur der Urentwurf zum österreichischen ABGB: „Sind aber beide, der Beschädiger und der Beschädigte Urheber des Schadens, so trägt jeder die Hälfte.“; vgl. Hedemann, Fortschritte des Zivilrechts im XIX Jahrhundert (1910), S. 104: „salomonische Hälftenteilung“; zu den damit verbundenen Problemen treffend Oertmann, AcP 121 (1923), 122/126: „Und wie, wenn beide Parteien durch das entstandene Missverständnis geschädigt sind? Wer soll dann den Schaden tragen? Bei beiderseitigem ‚Verschulden‘ im Sinne des Reichsgerichts offenbar jeder wieder anteilsweise. Soll das heißen, daß jedem alsdann der bei ihm entstandene Schaden verbleibe, oder daß jeder umschichtig einen entsprechenden Teil des gegnerischen Schadens dem anderen abnehmen soll? Das eine wäre ebenso wundersam wie das andere.“ 148  Hedemann, Flucht in die Generalklausel (1933), S. 67. 149 Hedemann, Flucht in die Generalklausel (1933), S. 67.

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führt: „Die Klägerin konnte sehr wohl der Meinung sein, daß die Beklagte kaufen wollte.“150, andererseits aber seinen Ausgangspunkt dann doch darin wählt, „daß beide Parteien an dem Mißverständnis Schuld tragen“. Aber eines geht nur: Entweder die Klägerin konnte zu Recht vom Kaufinteresse der Beklagten ausgehen, oder sie konnte es nicht. Wie gesehen, sind die §§ 116 ff. BGB eben nicht nur Ausdruck einer praktischen Konkordanz von Willens‑ und Vertrauensschutz, sondern insoweit auch objektivierte Ausprägung des Verschuldensprinzips der rechtsgeschäftlichen Kommunikation.151 Als hätten 60 Jahre rechtswissenschaftliche Diskussion zum Rechtsgeschäft gar nicht stattgefunden: Der vom Reichsgericht erhobene Vorwurf gegenüber der Klägerin geht dann genau genommen noch über das Streckbett der Jhering’schen culpa bei Übermittlungsrisiken hinaus: Bezog sich dessen Vorwurf auf die Wahl des konkreten Übermittlungsmediums (culpa in eligendo), so bezieht sich der vermeintliche Vorwurf des Mitverschuldens beim Reichsgericht allein darauf, dass sich die Klägerin an einer telegrafischen Korrespondenz überhaupt beteiligt hat. Es ging ihm (dem Reichsgericht) daher bei der Ablehnung der gesetzlich vorgesehenen Lösung ersichtlich darum, beide Parteien für die Folgen ihrer telegrafischen Kommunikation haften zu lassen, weil anderenfalls der Gedanke der Culpacompensation einen Schadensersatzanspruch ganz ausgeschlossen hätte (§ 122 Abs. 2 BGB).152 Spätestens hier wird deutlich, dass es für ein Mitverschulden beim Scheitern eines Vertragsschlusses (Dissens) eben allein darauf ankommt, ob der Irrtum (die Diskrepanz von Wille und Erklärung) von der anderen Seite hätte erkannt werden können; nicht aber darauf, ob man sich auf die gleiche Kommunikationsform eingelassen und insoweit ebenfalls „Kürze zur Tugend“ erhoben und jede Anrede im Interesse einer „Fünfpfennigersparnis“ ganz fortgelassen hat. So wurde in dem für die weitere Entwicklung der c. i. c. bahnbrechenden Weinsteinsäurefall letztlich gar nichts anderes normativ zum Ausdruck gebracht als eine Sanktion der vom alten Stechlin vorgetragenen Kritik am Formenverfall der modernen Kommunikation: Denn – so der Kernsatz der Begründung des 150 RGZ

104, 268.  Oben § 4 II.1. 152  Zum gleichen Ergebnis (Culpa-Compensation) kommt man übrigens auch, wenn man mit Levy, JW 1922, 1313 von § 307 BGB als Analogiebasis und mithin (wie das Reichsgericht) von einer reinen culpa in contrahendo ausgehen will. Abgesehen davon, dass § 122 BGB für diesen Fall lex specialis ist, formuliert Levy für diesen Fall zutreffend: „Wer sich bei einer Unklarheit oder Mehrdeutigkeit beruhigt, statt seine Interessen zu wahren, der kann nicht hinterher den anderen dafür verantwortlich machen, daß dieser unbewusst unklar gesprochen hat. Sind beide Teile unaufmerksam gewesen, so hat jeder seinen Schaden selbst zu tragen (vgl. v. Thur, II 484 f., s. auch Siber-Planck 193 zu cc), und es heißt dieses Ergebnis nur verdunkeln, wenn jeder die eigene Unaufmerksamkeit dem anderen aufbürdet, um dann die beiderseitige Fahrlässigkeit gegeneinander zu kompensieren.“ Das entspricht dem alten Grundsatz der Selbstverantwortung und: casum sentit dominus. 151

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Reichsgerichts  – jede der Parteien „hat sich, vermutlich um Worte zu sparen, unklar ausgedrückt“.153 Die methodologischen und dogmatischen Folgen dieser Telegraphobie des Reichsgerichts waren beachtlich. Die Fallkonstellation war so skurril, wie sie singulär geblieben ist. Von einem Schadensersatzanspruch bei „verstecktem Dissens“ spricht heute ernsthaft niemand mehr154 – doch die culpa in contrahendo war von nun an in aller Munde. b) Billigkeit und Logik: Das Ende der Bescheidenheit „Entweder gibt es besondere Rechtspflichten gegenüber dem anderen Teil schon vor Vertragsschluß  – dann müssen sie auch ohne ihn gelten, oder aber entstehen diese Rechtspflichten erst durch den Vertragsschluß – dann können sie nicht vor, sondern erst mit diesem wirksam werden.“ Heinrich Stoll, 1923155

Ohne ein Wort der begründenden Auseinandersetzung mit den bis dato ablehnenden Stimmen anerkannte das Reichsgericht in der Weinsteinsäure-Entscheidung einen Anspruch auf Schadensersatz auch ohne wirksamen Vertrag und deutete – im Namen der „Billigkeit“ – eine Analogie zu den §§ 122, 179, 307, 309, 663 BGB an. Das Freirecht war in der Rechtsprechung angekommen. Auch wenn Oertmann insoweit sofort mahnend Einhalt gebot,156 der reichsgerichtliche Hinweis auf eine Ausdehnung der Haftung für culpa in contrahendo auf unwirksame Verträge kam letztlich nicht wirklich überraschend. War es doch zuvor Oertmann selbst, der aus den §§ 122, 179, 307, 309 sogar ein argumentum a fortiori für die von Franz Leonhard postulierte Haftung herleiten wollte: Wenn diese Normen sogar eine Haftung bei unwirksamen Verträgen anordneten, so

153  RGZ 104, 266. Diese Aversion gegen die Telegraphie kam gelegentlich in anderen Judikaten vor: So hatte der Berufungsrichter im Fall von RGZ 28, 16 (Telegraphenfall, 29. Juni 1891) den Beklagten schlicht mit dem Hinweis haften lassen, dass er sich „eines an und für sich unzuverlässigen Mittels bedient habe“; ein Urteil, dass wir von Jherings Schrift her bereits kennen. Doch ist das Reichsgericht in nämlicher Entscheidung dieser Art von Aversion deutlich entgegengetreten, wenn es hiergegen ausführte: „Dieser Erwägung, welche wohl dahin aufzufassen ist, daß in dem Vorgehen des Beklagten eine culpa in contrahendo zu erblicken sei, kann nicht zugestimmt werden. Der Telegraph ist als Verkehrsmittel von der kaufmännischen, ja von aller Welt, auch von den öffentlichen Behörden so sehr auf‑ und angenommen, daß sich in manchen Verhältnissen, z. B. bei dem Großhandel, bei dem Börsengeschäfte, niemand demselben ohne Nachteil entziehen kann … Deshalb ist es ausgeschlossen, in der Benutzung des Telegraphen an sich ein Verschulden irgend welcher Art zu erblicken.“ 154 Die §§ 154, 155 BGB regeln einen anderen Modus des Vertragsschlusses (vgl. zutreffend Leenen, AcP 188 (1988), 381/404 ff.) und sind gesetzliche Auslegungsregeln. 155  Heinrich Stoll, Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen, LZ 1923, 532/ 543. 156  Oertmann, AcP 121 (1923), 122/127: „Möge das Reichsgericht, das sich bisher von solcher Freirechtlerei fernzuhalten pflegt, auf dem mit unserem Erkenntnis eingeschlagenen gefährlichen Wege rechtzeitig einhalten!“

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müsse die Haftung erst recht bei wirksamen Verträgen gelten.157 Das Argument lässt sich dann natürlich leicht umkehren: Wenn man schon eine Haftung bei wirksam zustande gekommenen Verträgen annimmt, so wird man diese Haftung erst recht für gescheiterte annehmen können. Die von der Freirechtslehre durchaus zu Recht gegeißelte Methodenvariabilität fand neues Anschauungsmaterial: Jedes Ergebnis konnte offenbar juristisch konstruiert werden. Und so kam die Beschränkung von Leonhards Konstruktion in die zermalmenden Mühlen des Logischen; denn erkenne „… man einmal an, daß schon im Stadium der Vertragsverhandlungen dem anderen Teil gegenüber gewisse Pflichten zur Aufklärung und zur Verhütung von Schaden an Leib und Gut bestehen, so ist es ein hysteron proteron, die Begründung dieser Pflichten dann doch wieder von dem etwaigen Abschluß des Hauptvertrages abhängig zu machen (…).“158

Es ist also scheinbar nur die notwendige „Consequenz“ des Leonhard’schen Prinzips, eine Haftung auch und erst recht ohne wirksamen Vertrag anzunehmen. Aufgrund der zeitlichen Vorverlagerung der Pflichten (Aufklärungs‑ und Untersuchungspflichten) stieß die Theorie Leonhards mit einmal auf ein nachhaltiges dogmatisches Problem: Wie waren denn vorvertragliche Pflichten zu begründen, wenn der Vertrag noch gar nicht geschlossen ist? Für Leonhard war die Sache noch relativ einfach erklärt: Analogie zu §§ 463, 276 BGB159. Die Haftung für dolus offenbare, dass es Sorgfaltspflichten in contrahendo gibt.

157  Oertmann, LZ 1914, 513/520: „Es wäre doch geradezu sinnwidrig, wenn die Haftung des beim Vertragsschluss schuldhaft Handelnden durch den Umstand beseitigt werden könnte, daß der Vertrag rechtswirksam zustande gekommen ist, statt daß dieser Umstand sie umgekehrt eher verstärkte. Die §§ 122 usw. begründen für die Fälle eines wirksamen Vertrages weniger einen Umkehrschluß, als vielmehr ein argumentum fortiori!“ 158 Levy, JW 1922, 1313; den Vorwurf der Unlogik hat zuerst wohl Siber gegen Leonhard und die ihm folgende Rechtsprechung erhoben: Es könne nicht sein, dass Pflichten eher bestehen als ihr Grund; denn es sei logisch unmöglich, dass eine Wirkung eher da sei als ihre Ursache (Planck / ​Siber, Vor §§ 275, Anm. I 4 b). Bereits Mommsen hatte gegenüber der Jhering’schen c. i. c. von einer „Vertragspflicht ohne Vertrag“ gesprochen. Nach der Weinsteinsäure-Entscheidung wurde dies das bis heute herrschende Argument gegen die Leonhard’sche „Zielvertragstheorie“; vgl. nur Heinrich Stoll (LZ 1923, 532/543); R. Raiser, AcP 127 (1927), 1/20 ff.: „Indem Fr. Leonhard in seinem … Buche die Gültigkeit des Vertrages maßgebend sein ließ und einen scharfen Grenzstrich zwischen seinen und den Jheringschen Tatbeständen zog, hat er zur Verdunkelung des Problems einen verhängnisvollen Beitrag geleistet (…). Leonhard vergröbert den Fehler Jherings. Daß Sorgfaltspflichten, die vor Vertragsschluß verletzt werden, erst mit Vertragsschluß entstehen und von der Gültigkeit des Vertrags abhängen sollen, ist ein groteskes hysteron proteron (…).“; und die Geschichte vom Hysteron Proteron reden dann alle nach … etwa noch Ehrlich, Die Entwicklung der Lehre von der Haftung bei Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 20; Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 10; Böhme, Aufklärungspflicht bei Vertragsverhandlungen (1964), S. 44 ff.; zur Logik der Unlogik noch unten § 5 III.3.; § 7 I.2.c). 159  Er nennt ergänzend noch §§ 678, 694 BGB (S. 2, 48). Später nimmt er in seinem „Allgemeinen Schuldrecht“ von 1929 (S. 544 f.) Bezug auch auf: §§ 443, 540, 637 BGB sowie § 17 VersVG und § 45 BörsG (Prospekthaftung).

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Das genügte ihm als Argument. So leicht kann juristische Rechtsfindung sich gestalten: das eine Mal passt der Umkehrschluss (keine Verallgemeinerung der §§ 122, 179, 307) und das andere Mal greift man zur Analogie (von § 463 BGB a. F. zur c. i. c.).160 Die Sache ist freilich nicht mehr ganz so einfach, wenn man genauer nachfragt; denn der Hinweis auf eine besondere vorvertragliche Pflicht innerhalb einer Rechtsnorm (hier § 463 BGB a. F.) sagt zunächst nur etwas über die konkrete rechtliche Ausgestaltung der Rechte und Pflichten in Anschauung eines konkreten Rechtsverhältnisses.161 Die Verallgemeinerung zu einem eigenständigen neuen Rechtsinstitut für alle denkbaren Rechtsverhältnisse setzt doch wohl zweierlei voraus: 1. den Nachweis der generellen Existenz derartiger Pflichten und 2. den Nachweis eines Geltungsgrundes für diese Pflichten, mithin den Nachweis eines die Pflichten legitimierenden (allgemeinen) Prinzips. Damit sind die beiden zentralen dogmatischen Probleme bezeichnet, die mit der Wiederbelebung der c. i. c. einsetzten und bis heute nicht plausibel gelöst sind: Wie lassen sich vorvertragliche Pflichten begründen? Für die p. V. existierten diese Probleme (zunächst) nicht: Geltungsgrund war der Vertrag mit seiner allgemeinen Haftung für culpa (resp. Pflichtverletzung) und Treu und Glauben (§ 242 BGB). Aufgrund seines dogmatischen Ausgangspunktes konnte F. Leonhard die Frage nach dem Geltungsgrund vorvertraglicher Pflichten gar nicht sehen. Meinte er doch, es genüge der Hinweis, dass die einschlägigen Pflichten der Sache nach im vorvertraglichen Stadium ihre Ursache finden und damit die vertraglichen eigentlich doch vorvertragliche Pflichten seien. Ihr Geltungsgrund liege – wie gehabt – auch im folgenden Vertragsschluss. Kommt es zu diesem nicht, dann ist die legitimierende Kausalität unterbrochen. Von seinem Standpunkt ist das konsequent: Die vertraglichen Nebenpflichten finden ihren eigentlichen Ursprung im vorvertraglichen Stadium, ihren Geltungsgrund freilich weiterhin im Vertrag; denn wenn es nicht zum Vertrag und zum damit verbundenen Leistungsaustausch kommt, kann sich die vorvertragliche Pflichtverletzung auch nicht schädigend auswirken. Die Ausdehnung der c. i. c. auf unwirksame oder gescheiterte Verträge war daher auch nicht etwa eine logische Konsequenz der Leonhard’schen Theorie, sondern sie war etwas völlig Neues.

160  F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 44. Auf die Widersprüchlichkeit, ausgerechnet hier einen Umkehrschluss abzulehnen, den er an anderem Orte noch vehement betont, ist bereits oben (§ 5 II.2.) hingewiesen. 161  In diesem Sinne bemerkt denn auch Geppert, Fahrlässigkeit beim Vertragsschluß, Gruchot 69 (1928), 528/536: „Aber man darf einen Rechtssatz, der für den Kauf mangelhafter Sachen gilt, … nicht ohne weiteres auf das ganze Obligationenrecht ausdehnen.“

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§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c.

Vielleicht hätte man die Leonhard’sche c. i. c. seinerzeit noch leicht mit dem Hinweis verabschieden können, dass es sich der Sache nach doch nur um eine noch spitzfindigere p. V. handelt.162 Die Rechtswissenschaft ist aber offenbar anders konstituiert, wenn es darum geht, dogmatisches Neuland zu wittern und zu betreten. Immerhin kannte man das Phänomen von „vorvertraglichen Pflichten“ seit Jherings Schrift. Im BGB finden sich entsprechende Anknüpfungspunkte, und auch die Motive zum BGB sprechen von einer culpa in contrahendo sowohl bei wirksamen wie auch bei unwirksamen Verträgen. Dann muss da doch auch etwas dran sein! Und wissen wir nicht spätestens seit der Entdeckung Staubs, wie lückenhaft das BGB geschaffen wurde?! Rechtswissenschaft ist trotz aller darüberhinausgehenden Bemühungen vereinzelter Rechtsreformer primär eine Wissenschaft vom Logos und so kann es nicht ausbleiben, dass auch hier im Anfang das Wort steht: Verschulden beim Vertragsschluss! Wenn von Vielen dieses Wort gebraucht wird, so wird schließlich auch von Vielen geglaubt, dass es eine entsprechende Haftung gibt. Das ist das Credo einer herrschenden Meinung. Amen! Die Dogmatik ist demgemäß über die inhaltliche Nähe zur p. V. hinweg geschritten, hat stattdessen der beschränkten Leonhard’schen Lehre ein Denkmal namens „Zielvertragstheorie“163 gesetzt und konnte nun weiter nach dem eigentlichen Geltungsgrund für vorvertragliche Pflichten forschen. Eine dogmatische Hülle war jetzt immerhin allgemein anerkannt. Und die passenden vorvertraglichen Pflichten würden sich bei Gelegenheit schon finden lassen. Der „Cultus des Logischen“, der über Leonhard angeblich so zwingend hinausführte, sowie die Beurteilung seiner dogmatischen Begründung als „zielvertragstheoretische“ Beschränktheit verstellten dann allerdings auch den Blick auf die methodologische Basis, auf welcher seine auf wirksame Verträge beschränkte c. i. c. sich noch gründete: Umkehrschluss und die Unzulässigkeit einer Analogie zu den §§ 122, 179, 307/9 BGB a. F. Die Vorstellung von einer gut begründeten Zurückhaltung

162 In diesem Sinne aber immerhin Richter, JW 1921, 664/665: „M. E. ist die Lehre von der culpa in contrahendo weiter nichts als eine Anwendung des bei der positiven Vertragsverletzung bereits anerkannten Grundsatzes: Wer Vertragsinteressen verletzt (gefährdet), hat dafür einzustehen (Schadensersatz zu leisten). Dieser Grundsatz lässt sich nach Ansicht des RG. aus § 276 BGB. in beiden Fällen herausschälen. Die Verschiedenheit zwischen culpa in contrahendo und positiver Vertragsverletzung beruht daher lediglich in dem zeitlichen Moment.“ Und später dann auch Titze, mit dem Versuch den Anwendungsbereich der c. i. c. wieder einzudämmen: DJZ 1925, 490 ff.; ders., Verschulden bei Vertragsschluß, (1929), S. 516 ff.; JW 1931, 512 ff.; ebenso Jung, Bürgerliches Recht (1931), S. 725: „M. E. ist es näher liegend diese besonderen … Schadensersatzpflichten aus dem § 276 und demnach als Haftung wegen Schlechterfüllung, also als positive Vertragsverletzung aufzufasssen (…).“ 163  Die Bezeichnung stammt von Hildebrandt, Erklärungshaftung (1933), S. 56 ff.; ihm folgend die spätere Literatur, vgl. nur Soergel / ​Wiedemann, BGB (11. Aufl. 1990), Vor § 275 Rn. 3; Küpper, Das Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 24.

II. Dogmatischer Aufbruch: culpa in solvendo oder in contrahendo?

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des Gesetzgebers gegenüber einer allgemeinen vorvertraglichen Erklärungshaftung wurde verabschiedet. Die Stimmen derer, die insoweit auf den dolus und das Deliktsrecht verwiesen, waren verstummt,164 die gemeinrechtliche Diskussion vergessen und allein Rudolf v. Jhering wurde  – Ironie der Entwicklung  – als Autorität der folgenden Rechtsentwicklung und als Kronzeuge ihrer Kontinuität und Berechtigung immer wieder beschworen: „Es ist ein seit Jherings Schrift über die culpa in contrahendo in der Rechtslehre vertretener Satz, daß auch schon vor Abschluß eines Vertrags zwischen den über einen solchen verhandelnden Parteien gewisse auf Treu und Glauben beruhende Sorgfaltspflichten, insbesondere zur Mitteilung und Offenbarung von Umständen, die auf die Entschließung des anderen Teils über den Abschluß und die Gestaltung des Vertrags von Einfluß sein können, begründet sind.“165

Tatsächlich? Davon haben, wie gesehen, weder Jhering noch die Rechtslehre bis 1910 etwas gewusst. Im Gegenteil: War es doch Jhering selbst, der die Trennung von vorvertraglichem und vertraglichem Bereich noch im selben Jahr seiner Revocation – als wenn die Diskussion schon zu seinen Lebzeiten und nicht erst 60 Jahre später stattgefunden hätte  – als juristische „Spitzfindigkeit“ herausgestellt hatte: „Eine derartige spitzfindige Scheidung der Zeit vor und bei Eingehung des Contractsverhältnisses ist jedoch dem römischen Recht – und das aus gutem Grunde – völlig fremd. Der Verkäufer, der den Käufer durch falsche Vorspiegelungen zum Abschluß des Kaufcontracts bestimmt, haftet wegen seines dolus, obschon derselbe dem Abschluß des Contracts vorangegangen ist, dennoch ex emto (…).“166

164 Dernburg, Bürgerliches Recht I (1902), § 130, S. 391, sieht die c. i. c. bei § 823, „wonach vorsätzliche oder fahrlässige Beschädigung des Eigentumes, d. h. hier des Vermögens … zum Schadensersatz verpflichtet“; Kipp, Das Reichsgericht und die positiven Vertragsverletzungen, DJZ 1903, 253/255 f.; Goldmann / ​Lilienthal, Das Bürgerliche Gesetzbuch I (2. Aufl. 1903), § 84 II 1 d, S. 321 f.: „Eine Verpflichtung, bei den Verhandlungen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anzuwenden, besteht aufgrund des § 276 nicht, da ein Schuldverhältnis noch nicht begründet ist. Eine Haftung für culpa in contrahendo tritt nur nach Maßgabe der Vorschriften über unerlaubte Handlungen oder auf Grund besonderer Bestimmungen ein.“; in der Sache ebenso: Bruschwitz, Schadensersatz bei arglistiger Verleitung zum Kauf (1910); Kiehl, Haftung des Verkäufers für die Arglist seines Vermittlers sowie Vertreters bei Gelegenheit des Kaufabschlusses, JW 1914, 497 ff.; Riehl, Die Arglist beim Vertragsschluß, 1916; alle handeln selbst nach Leonhards Schrift sämtlich nur vom dolus in contrahendo, obwohl sich bereits bei Taenzer, Die Haftung für Betrug bei Kaufabschluß, 1909, S. 23, anderes abzeichnet. 165 Urt. v. 28. November 1923 – V 802/22, RGZ 107, 357/362 (Inflations-Fall); Heinrich Stoll, LZ 1923, 532: „Seitdem Ihering in seinem Aufsatz über die culpa in contrahendo eingehend dargelegt hat, daß das ‚Gebot der kontraktlichen dil. gilt für gewordene so auch für werdende Kontraktsverhältnisse‘, hat der Gedanke der Haftung für ein Verhalten während der Vertragsverhandlungen (=VV.) … in Gesetzg. u. Praxis Eingang gefunden (…).“ 166  Jhering, Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit, Archiv für practische Rechtswissenschaft, 4 (1867), 225/273.

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Aber diese Aussage wurde ebenso ignoriert wie der eigentliche Kerngehalt seiner Revisionsschrift. In Erinnerung blieb ein für alle Mal der suggestive Titel aus dem Jahre 1861. Der Durchbruch der culpa in contrahendo – ziemlich genau 60 Jahre danach – war die endgültige Ablösung der Verschuldenshaftung vom Vertragsschluss und so in der Sache verbunden mit einer endgültigen dogmatischen Entfesselung dieses Instituts. So war das, was man als konsequente dogmatische Fortgestaltung der c. i. c. meinte in Angriff nehmen zu müssen, in seinem Beginnen, drastisch gesprochen, dogmatischer und methodologischer Nihilismus. Man suchte nach einem plausiblen Rechtsgrund für ein Ergebnis, das nicht mehr ernsthaft in Zweifel stand: Es gibt außergesetzliche vorvertragliche Pflichtverletzungen! Nur das diese begründende Haftungsprinzip lag noch im Dunkeln. Die innere Geltung bezog die culpa in contrahendo bei Jhering vom Verschuldensprinzip und der culpa als Haftungsgrund. Das war nicht haltbar, aber als Einsicht bereits bei Franz Leonhard nicht mehr präsent. Was nun auf Leonhard folgte, ist ein Schaustück für den Einfallsreichtum juristischer Konstruktion und die Unbrauchbarkeit juristischer Methodenlehre, wenn sie auf dogmengeschichtlichen Tiefgang verzichtet: Analogie, Umkehrschluss, argumenta a fortiori, vorvertragliche Vertragsfiktionen und die „logische juristische Sekunde“  – nahezu alles lässt sich an Argumentation und Konstruktion finden, um eine allgemeine oder eine eingeschränkte vorvertragliche Haftung auch jenseits der gesetzlich normierten Fälle zu begründen. Spätestens seit der Weinsteinsäure-Entscheidung des Reichsgerichts war immerhin eines klar: Ansprüche aus c. i. c. waren keine (ziel)vertraglichen Ansprüche, d. h. auf einen wirksamen Vertragsschluss, wie Leonhard ihn noch forderte, konnte es nicht mehr ankommen. Die insbesondere von Krückmann vorgetragene Vorstellung, das rechtlich unerhebliche Schweigen beim Vertragsschluss schlage „in der nächsten Sekunde nach dem Abschluß in ein Verschweigen nach Vertragsschluß“ um,167 trug die Zeichen hilfloser Konstruiertheit ebenso an der Stirn, wie die These Oertmanns, Aufklärungspflichten seien deshalb Vertragspflichten, weil sie über den Vertragsschluss als „Dauerpflicht“ Bestand haben und „daher durch andauerndes Schweigen in jedem Zeitpunkt neu verletzt“ werden.168 Schließlich

167 Krückmann, Institutionen (1929), § 13, S. 162; ders., Nachlese zur Unmöglichkeitslehre, JhJb 59 (1911), 234/325 f.: Das Verschulden bei dem Vertragsschluß gehe „sofort in der nächsten Sekunde nach dem Vertragsschluß in ein Verschulden nach dem Vertragsschluß“ über. 168 Oertmann, LZ 1914, 513/515 f.: Die „Aufklärungspflicht ist eine Vertragspflicht, ihre Verletzung Vertragsverletzung, die bei Verschulden nach § 276, s. auch § 645 Abs 2, vertragsmäßig verantwortlich macht. Das ist klar, wenn der Besteller die Kenntnis des Umstandes, über den er den Unternehmer aufzuklären hat, erst nach Begründung des Vertragsverhältnisses erlangt … Kannte aber der Besteller den Umstand bereits bei Abschluß des Vertrages und verschweigt ihn, so kann das sinngemäß seine Verantwortlichkeit zwar vielleicht noch verschärfen, aber nie und nimmer herabmindern: seine Aufklärungspflicht dauert naturgemäß auch nach vollzogenem

II. Dogmatischer Aufbruch: culpa in solvendo oder in contrahendo?

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bedurfte es auch der Fiktion eines besonderen „vorbereitenden“ Haftungsvertrages nicht mehr.169 Die letzte dogmatische Einschränkung wie auch Legitimation der c. i. c. in Gestalt eines wirksamen (Ziel‑)Vertrages ließ sich offenbar logisch nicht länger aufrechterhalten, und auch die Trennung von der Geburtshelferin p. V. wurde so (vorerst) dogmatisch vollzogen. Jedes Institut erhielt nun vorübergehend seinen eigenen Anwendungsbereich zugewiesen: vertragliche Pflichten hier (p. V.) und vorvertragliche Pflichten dort (c. i. c.). Erst als später in logischer „Consequenz“ auch der Anwendungsbereich der p. V. vom wirksamen auf den unwirksamen Vertrag ausgedehnt wurde, konnte in einem „einheitlichen Schutzpflichtverhältnis“ wieder zusammenwachsen, was bereits im Ursprung zusammengehörte – nunmehr freilich in einer ganz neuen rechtspraktischen und dogmatischen Dimension. Der Vertrag – ob wirksam oder unwirksam – sollte in Zukunft für die Begründung von (Schutz‑)Pflichten gar keine entscheidende Rolle mehr spielen:

Vertragsschluß fort und ändert nur ihre rechtliche Grundlage, – sie wird von einer Pflicht beim Vertragsschlusse zur eigentlichen Vertragspflicht, ihre schuldhafte Nichterfüllung von einer bloßen culpa in contrahendo zur culpa in solvendo (…).“ 169  Diese Ansicht vertrat insb. Siber, bei Planck / ​Siber, vor § 275 I 4; verteidigt in ders., Vertragsfreiheit, JhJb 70 (1920), 223/258 ff: „Natürlich besteht … kein Hindernis, solche vorvertraglichen Beziehungen durch einen eigenen vorbereitenden Vertrag zu regeln, der mangels Formvorschrift auch stillschweigend geschlossen werden kann. Den gegen die Annahme eines stillschweigenden Vertragsschlusses erhobenen Vorwurf der Fiktion fürchtet nicht, wer der Meinung ist, daß die Auslegung gemäß § 157 nicht einen inneren Willen, sondern nur die Angemessenheit nach dem objektiven Maßstab von Treu und Glauben nach der Verkehrssitte zu ermitteln hat.“ So stellt Siber zu RGZ 78, 239 (Linoleumrollen-Fall) klar, dass die vom Reichsgericht angenommenen „rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten nur aus einem Rechtsgeschäft entspringen und dass Antrag und Annahme nur Rechtsgeschäfte, nämlich Verträge zum Abschluss bringen können, dass es auch nur eine Vertragsfreiheit, keine Freiheit vertragsähnlicher Verhältnisse gibt. Setzt man aber als Begründung anstatt des vertragsähnlichen Verhältnisses einen vorbereitenden Vertrag ein, so ist die Entscheidung im Grundgedanken zu halten. Denn die Parteien waren allerdings schon in geschäftliche Verhandlungen eingetreten, und in der – schon im Offenhalten einer Verkaufsstelle enthaltenen – Einladung zu Verkaufsverhandlungen ist nach Treu und Glauben zwar kein Versprechen der Schadensersatzleistung zu finden … auch kein Versprechen allgemeiner Sorge für die persönliche Sicherheit des Eingeladenen, aber doch die Uebernahme einer primären Pflicht, die auf Grund der Einladung zu betretenden Räume in einem die Sicherheit nicht gefährdenden Zustande zu erhalten.“ Die Fiktion eines Haftungsvertrages kam freilich nicht von ungefähr; denn das Reichsgericht hatte sich seiner zuweilen schon bedient, um eine Haftung zu konstruieren: vgl. etwa Urt. v. 13. Dezember 1906, RGZ 65, 17 (Probefahrt-Fall); vor allem aber bei der Haftung des Gastwirtes vgl. nur Urt. v. 19. Juni 1914, RGZ 85, 185 (Billiard-Fall); in der Literatur hat Siber – soweit ich sehe – lediglich von Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 96, 225 ff. Zustimmung erfahren.

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III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis „Eine derartige spitzfindige Scheidung der Zeit vor und bei Eingehung des Contractsverhältnisses ist jedoch dem römischen Recht – und das aus gutem Grunde – völlig fremd. Der Verkäufer, der den Käufer durch falsche Vorspiegelungen zum Abschluß des Kaufcontracts bestimmt, haftet wegen seines dolus, obschon derselbe dem Abschluß des Contracts vorangegangen ist, dennoch ex emto (…).“ Rudolf v. Jhering, 1867170

Deskriptiv sehr gründlich hat sich vor allem Heinz Hildebrandt um eine Systematisierung des Meinungsstandes in einer Differenzierung nach „Deliktstheorien“, „Zielvertragstheorien“, „Haftungsvertragstheorien“ und „Rechtstheorien“ bemüht. Diese Differenzierung erscheint freilich nicht wirklich hilfreich, wie bereits ein Blick auf die vermeintlichen Vertreter der „Zielvertragstheorie“ zeigt: So wird die Haftung weder bei Jhering noch bei Leonhard mit dem späteren Vertragsschluss begründet. Bei Jhering geht es, wie gesehen, um eine Haftung bei nichtigen und gerade auch nicht zustande gekommenen Verträgen, und Leonhard bemüht im Kern eine Analogie zu den §§ 276, 463 a. F. BGB. Der Vertrag gehört hier zur notwendigen Analogiebasis, ist aber nicht eigentlich der zentrale Rechtsgrund für die Haftung. Der ist bei beiden die culpa bzw. das Verschulden. Wenn man mit und seit der Schrift von Hildebrandt sich angewöhnt hat, die von Leonhard maßgeblich geprägte dogmatische Auffassung vom Haftungsgrund der culpa in contrahendo im späteren Vertragsschluss als „Zielvertragstheorie“ zu bezeichnen,171 so steckt darin gleichwohl ein wichtiger Hinweis darauf, warum Leonhard am Erfordernis eines wirksamen Vertragsschlusses als Haftungsvoraussetzung dauerhaft (!) festgehalten hat. Insoweit ist einerseits bereits betont, dass die Fälle unwirksamer Vertragsschlüsse seiner Meinung nach abschließend im Gesetz berücksichtigt wurden. Wichtiger für die im Folgenden zu betrachtende Ausdehnung des Haftungsinstituts ist demgegenüber das bei ihm (Leonhard) durchaus noch vorhandene Bewusstsein dafür, dass die culpa nicht an sich eine causa obligationis ist, sondern es überhaupt eines zur besonderen diligentia verpflichtenden Verhältnisses bedarf: „Erst dadurch, daß ein Vertrag zustande kommt, erwächst eine Verpflichtung der Parteien, für ihr Verhalten einzustehen. Es wäre nicht richtig, aus bloßen Vorverhandlungen, die nicht zum Ziele führen, eine Haftung abzuleiten; hier fehlt das Moment, das beide Parteien zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet; es erwächst erst daraus, daß eine Einigung und zwar rechtsgültig zustande kommt.“172

170 Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit, Archiv für practische Rechtswissenschaft, 4 n.  F. (1867), 225/273. 171  Hildebrandt, Die Erklärungshaftung (1931), S. 56 ff. mit ausführlichen Nachweisen. 172 F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 58.

III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis

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Nur unter diesem Gesichtspunkt wird die folgende Dogmengeschichte der c. i. c. überhaupt verständlich, und auch der Grund für die Kennzeichnung der Leonhard’schen Theorie als „Zielvertragstheorie“. Wir erinnern uns: Wer vom dolus abstrahiert und bereits für culpa will haften lassen, muss eine besondere Pflicht zur Sorgfalt gegenüber den Angelegenheiten der anderen Seite begründen. Ein Vertrag begründet diese Pflichten (ggf. aus § 242 BGB). Wie aber steht es mit dem Stadium der Vertragsanbahnung? Hier lag seit jeher das eigentliche Domizil des dolus und insbesondere des dolus in contrahendo (in Gestalt des subjektiven Unrechts etwa: §§ 123, 463 a. F., 676 a. F., 826 BGB). Aber hier lag auch insbesondere in der Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts die Objektivierung der vertraglichen diligentia in der Rechtsgeschäftslehre und im Leistungsstörungsrecht: Die §§ 104 ff., 116 ff., 145 ff., 164 ff. usw. sanktionieren ebenso vorvertragliche Verhaltensweisen und postulieren mithin Sorgfaltspflichten, wie man sie im allgemeinen und im besonderen Schuldrecht überall finden kann.173 Das überrascht wie gesehen nicht, weil letztlich jeder Haftungstatbestand unter dem Gesichtspunkt des Handlungsunrechts interpretiert und das „zeitliche und sachliche prius“174 in allen Fällen, die nicht gerade vertragliche Dauerschuldverhältnisse sind, auch leicht bereits vor Vertragsschluss erkannt werden kann. Vor dem Problem, die Haftung für c. i. c. systematisch passend einzuordnen, standen dann ja auch die Verfasser der Motive zum BGB, doch hielten sie sich noch bei der Frage auf, die auch schon von Jhering aufgeworfen und zugunsten einer (quasi)vertraglichen Einordnung entschieden war: „Ob begrifflich die Haftung für culpa in contrahendo auf einen Eingriff in einen fremden Rechtskreis, mithin auf eine unerlaubte Handlung oder auf die Verletzung einer rechts Hierzu bereits oben § 3 III., § 4 II.; vgl. daneben nur die ausf. Kasuistik bei Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 176 ff. und Brock, Das negative Vertragsinteresse (1902), 59 ff. Das folgt schlichtweg bereits daraus, dass sich zunächst schon Jhering mit dem Vertragsschluss und seiner Wirksamkeit ausreichend detailliert befasst und insoweit konsequent mit der Frage der Geschäftsfähigkeit begonnen hat und diese Frage natürlich als culpa oder Pflichtverletzung sich formulieren lässt (Jhering, JhJb 4, 1861, 1/58: „Es wäre Sache des andern Teils gewesen, sich nach den Verhältnissen seines Kontrahenten zu erkundigen …“.). Die Sache wird vielleicht besonders einprägsam, wenn man sich vor Augen hält, dass selbst § 165 BGB so gesehen einen Fall der culpa in contrahendo regelt (vgl. Urt. v. 21 Oktober 1881, RGZ 6, 258 – Haussohn-Fall ‑). Mit nur ein bisschen juristischer Rabulistik lässt sich in den entscheidenden Regelungen des Vertrags‑ und Schuldrechts immer eine Aufklärungs-, Untersuchungs‑ oder sonstige Pflicht ausfindig machen. So sehen etwa Krückmann, Ermächtigung, AcP 137 (1933), 167/187 und mit ihm auch Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/295 f., in den §§ 116 ff. geradezu die Grundregeln für die c. i. c.-Haftung; und Thur, Allgemeiner Teil, II/1 (1914), § 62 VI, S. 486 ff., hat insb. auf die §§ 145 ff. (Bindungswirkung, Zugang und Erlöschen der Offerte), die Anfechtungsregelung des § 123 und auf die gesetzlich normierten vorvertraglichen Aufklärungspflichten in den §§ 307, 463 S. 2, 523 I, 524, I, 600 und 694 verwiesen, um so einen allgemeinen Grundsatz von Aufklärungspflichten induzieren zu können (vgl. dens., AcP 121, 360); dazu unten III.2.a); ausf. Nachweise auch bei Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 94 ff.; 122 ff. 174 F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 27. 173

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geschäftlichen Pflicht zurückzuführen sei, ist eine Konstruktionsfrage, deren Lösung der Wissenschaft überlassen werden darf.“175

Die Wissenschaft hat nun aber bis heute weder diese Frage abschließend beantwortet noch überhaupt an dieser Frage und mithin an die Ergebnisse der gemeinrechtlichen Wissenschaft weiter angeknüpft. Der Fokus lag nicht mehr auf dem Grundgedanken „wohlgeordneter Freiheit“ und dem Bemühen, subjektive Rechte und Rechtssphären abzugrenzen, sondern seit der „Wiederentdeckung“ der Pflichtverletzung zielte der wissenschaftliche Ehrgeiz darauf, nunmehr diese zu strukturieren, zu konstruieren, zu systematisieren und unter allgemeinere Prinzipien zu subsumieren. Und insoweit konnten offenbar vorvertragliche keine „rechtsgeschäftlichen Pflichten“ sein. Sie blieben bis zuletzt etwas anderes, ein aliud.176 In dem Moment also, wo die Existenz von vorvertraglichen Pflichtverletzungen zunächst entdeckt und sodann auch nicht mehr in Zweifel gezogen wird, ist es auch nur eine Frage der Zeit, ein vorvertragliches Schuldverhältnis anzuerkennen, in dem jede Seite bereits für culpa haftet. Hier liegt der nächste grundlegende Schritt in der Dogmengeschichte der culpa in contrahendo: Denn gibt es ein vorvertragliches Schuldverhältnis, so folgen aus ihm vorvertragliche Pflichten und aus diesen wiederum eine Haftung bei jeder culpa in contrahendo. Und so zieht sich die neue Haftung an den eigenen Haaren aus dem Sumpf. Erst werden allgemeine vertragliche Leistungspflichten als vorvertragliche Pflichten vorgestellt, dann ein zugehöriges vorvertragliches Schuldverhältnis konstruiert, um schließlich aus dieser neuen Rechtsquelle jederzeit neue Pflichten sprudeln zu lassen: nunmehr als sog. Schutzpflichten. Die Begründung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses basiert dabei letztlich auf einem einfachen Argument abstrahierender Logik: Es ist der Schluss von vorvertraglichen Pflichten auf ein vorvertragliches Schuldverhältnis. In der etwas komplexeren juristischen Argumentation heißt das: Gesamtanalogie – oder in der Sprache allgemeiner Denkgesetze: Induktion. D. h. aus den im Gesetz explizit gefundenen Regelungen, die an vorvertragliches Verhalten anknüpfen, wird ein allgemeines, zu besonderer Sorgfalt verpflichtendes Schuldverhältnis abstrahiert.177 Die maßgebliche Debatte zu dieser heute selbstverständlichen Vorstellung wurde in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geführt. Der 175 Motive

I, S. 195; inhaltsgleich: Motive II, S. 745.  Deutlich noch Huber, Leistungsstörungen I (1999), S. 3: „Ich selber halte die Fallgruppe der culpa in contrahendo, im Vergleich zu den sonstigen Typen der Leistungsstörung, für ein aliud, für einen Gegenstand eigener Art (…).“ 177  Diese Einsicht findet sich auf den Punkt ausformuliert etwa bei Böhme, Die Aufklärungspflicht bei Vertragsverhandlungen (1964), S. 52 f.: Aus der Existenz der §§ 116 ff., 145 ff., 307 und 309 „muß geschlossen werden, daß ein Schuldverhältnis der Vertragsverhandlungen … besteht, aus dem sich gewisse Rechte und Pflichten, zum Beispiel Schadensersatzansprüche gemäß §§ 122, 179, 307 und 309 BGB, Anfechtungsrechte gemäß §§ 119, 120 und 123 BGB oder die Bindungswirkung gemäß § 145 BGB, ergeben“. 176

III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis

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diesbezügliche Durchbruch ist dabei mit einem Namen auf das engste verbunden: Heinrich Stoll. Bei ihm sollten die beiden anderen bereits genannten Stränge in ihrer dogmatischen Bedeutung abschließend zusammengeführt werden: 1. Die im Linoleumrollenfall angedeutete Vorstellung von einem allgemeinen außervertraglichen Schuldverhältnis 2. Die Begründung desselben mittels gesetzesanaloger Abstraktion. 1. Die Neukonstruktion einer c. i. c. aus dem Schein der Analogie „In meiner Studienzeit in den 50er Jahren gehörte das Aufzählen der Analogiegrundlagen für die Rechtsfiguren der culpa in contrahendo wie der positiven Vertragsverletzung noch zu dem vom Repetitor vermittelten Grundwissen.“ Gerhard Dilcher, 1984178

a) Methodologischer Freiflug: Die These von einer Gesamtanalogie „Wenn aber irgend ein Prinzip der analogen Ausdehnung fähig ist, so ist es … dasjenige des Vertrauensinteresses, welches in den §§ 122, 179, 307 nur fragmentarisch seinen gesetzgeberischen Ausdruck gefunden hat.“ Ludwig Kuhlenbeck, 1905179

Die Sache mit den Analogien begann, wie bereits erwähnt, zunächst durchaus bescheiden: So ging es Kuhlenbeck (1905) im Ausgangspunkt vorerst nur um den singulären Fall des Todes eines Offerenten und die seiner Meinung nach unbillige Einschränkung des § 153 BGB im Hinblick auf den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen.180 Auch Brecht (1908) zielte zunächst lediglich auf eine analoge Ausdehnung des § 307 a. F. BGB für Fälle, die seiner Meinung nach weder eindeutig Fälle der anfänglichen noch der nachträglichen Unmöglichkeit waren.181 Gleichwohl wird bereits bei beiden Autoren das Wesen induktivistischer Lückenausfüllung deutlich: Man begnügt sich nicht mit einer Einzelanalogie, sondern formuliert sogleich ein allgemeineres Haftungsprinzip, „wonach der Schuldner stets für culpa in contrahendo haftet“182. 178  Vom Beitrag der Rechtsgeschichte zu einer zeitgemäßen Zivilrechtswissenschaft, AcP 184 (1984), 247/255. 179 Zur Lehre vom sogenannten negativen Interesse, DJZ 1905, 1142/1144. 180  Kuhlenbeck, DJZ 1905, 1142 ff.: Nach § 153 BGB wird der Vertragsschluss durch Tod oder Geschäftsunfähigkeit des Antragenden nicht gehindert, „es sei denn, daß ein anderer Wille des Antragenden anzunehmen ist“. 181  Brecht, System der Vertragshaftung, JhJb 53 (1908), 222/281: „Das Gesetz enthält eine Lücke … Wie ist es, wenn die Leistung infolge eines Umstandes unmöglich wird, der schon zur Zeit des Vertragsschlusses vorlag? Das Gesetz schweigt (…).“ 182  Brecht, System der Vertragshaftung, JhJb 53 (1908), 222/282: Der Schuldner hafte stets, „wenn er leichtsinnig Aussichten auf Erfüllung eröffnet, die er so, wie er es getan hat, nach Lage der Sache nicht eröffnen konnte“.

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Doch überwog zunächst noch der Gedanke des Umkehrschlusses aus den explizit geregelten Fällen der culpa in contrahendo das Spektrum der in dieser Sache vertretenen Meinungen.183 Wie gesehen hielt sich auch Franz Leonhard noch 1910 relativ bescheiden bei den §§ 276, 463 BGB auf.184 Gleichwohl war für alle, die nur in die Motive zum BGB geschaut hatten, zu erkennen, dass sich im BGB neben den §§ 122, 179, 307/9, 463 a. F. noch andere Fälle (namentlich die von F. Mommsen in seiner Abhandlung gegen Jherings c. i. c. als konkrete Fälle kontraktlicher culpa herausgearbeiteten) vermeintlich gesetzlich geregelter culpa in contrahendo finden ließen: so die Haftung des Schenkers wegen Rechts‑ und Sachmangel (§§ 443, 444 E I, heute: §§ 523, 524 BGB) sowie die Haftung des Hinterlegers für Schäden, die von der Beschaffenheit der hinterlegten Sache ausgehen (§ 622 E I, heute § 694 BGB). Hatte man hier einmal nachgeschaut, dann war das Prinzip leicht erfasst, und es konnte die Auflistung schnell erweitert werden: In diesem Sinne hat offenbar zuerst Paul Taenzer (1909)185 mittels Gesamtanalogie zu §§ 307/9, 463 (515 a. F., 651, 2376), 523 I, 524 I eine allgemeine Haftung aus culpa in contrahendo auf das Vertrauensinteresse zu begründen gesucht. In seinen Darlegungen wird sogleich deutlich, was für spitzfindige juristische Dogmatik kennzeichnend ist und fortan auch ein nicht ganz unwichtiger Diskussionspunkt für die Dogmatik bis in die heutigen Darstellungen werden sollte: Die Frage nämlich, ob einzelne Regelungen des BGB, die zwar den vorvertraglichen Handlungsbereich erfassen, das subjektive Unrecht (dolus oder culpa) jedoch nicht explizit im Tatbestand enthalten, überhaupt Fälle der c. i. c. sind. So sieht bereits Taenzer mit einigen vor ihm186 und vielen nach ihm in §§ 122, 179 BGB keine Haftung für culpa; auch § 538 sei eine gesetzliche Garantie und die §§ 480 a. F., 523 II, 524 II BGB seien Ausprägung einer Haftung für culpa in solvendo. Damit ist der Einwand vom Umkehrschluss auch schon relativiert.

183 Vgl. etwa: Goldmann / ​Lilienthal, Das Bürgerliche Gesetzbuch (2. Aufl. 1903), § 84 II 1 d, S. 322 Fn. 16. lehnen es explizit ab, aus den „Sondervorschriften“ der §§ 122, 179, 307/9 BGB ein allgemeines Prinzip zu entnehmen; ebenso wie gesehen: P. Klein, Zur Lehre vom sogenannten negativen Vertragsinteresse, DJZ 1906, 596; F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschluß (1910); daran festhaltend: ders., Schuldrecht I (1929), S. 555 f.; Hammel, Die sogenannte culpa in contrahendo (1912); Richter, JW 1921, 664/665; generell bezweifelt eine ausfüllungsbedürftige Lücke: Geppert, Fahrlässigkeit beim Vertragsschluß, Gruchot 69 (1928), 529 ff. 184  Später, in seinem Schuldrecht (1929), erweitert er dann allerdings auch die Analogiebasis und nennt ergänzend: §§ 694, 443, 540, 637, 678 BGB, § 17 VVG, § 45 BörsG und – obwohl er eine Erweiterung der Haftung bei unwirksamen Verträgen ablehnt – zieht er nun im offensichtlichen Anschluss an Oertmann (1914) sogar die §§ 122, 307 BGB mit heran: Diese Vorschriften sprächen dafür, „daß bei einem gültigen Rechtsgeschäft erst recht gehaftet werden müsse“ (S. 545). 185  Die Haftung für Betrug bei Kaufabschluß (1909), S. 23 ff. 186  Insb. die Vertreter eines Umkehrschlusses wollten in den §§ 122, 179, 307/9 kein „einheitliches Prinzip“ vorvertraglicher Haftung erkennen; vgl. Nachw. bereits oben bei § 5 II.2.

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Paul Oertmann sieht in seinem „Beitrag zur Frage der Haftung für Verschulden beim Vertragsschlusse“ von 1914 die Frage der Analogiebasis nicht so streng.187 Neben dem bereits oben erwähnten argumentum a fortiori aus den §§ 122, 179, 307, 309 (wenn c. i. c. schon bei unwirksamen Verträgen, dann erst recht bei wirksamen)188 nennt er zur Begründung der von ihm befürworteten vorvertraglichen Untersuchungspflicht: §§ 538 (Miete); 524 (Schenkung); 600 (Leihe); 678 (GoA); 694 (Hinterlegung); 645 II (Werkvertrag). Auch bei dieser Schrift lässt sich sogleich ein Phänomen feststellen, das für die weitere Entwicklung des Gegenstandes geradezu exemplarisch geworden ist. Der Gedanke eines Mitverschuldens wird hier nämlich von vornherein kategorisch ausgeschlossen. Gleich in der ersten Anmerkung seiner Abhandlung wird klargestellt: „Von dem Gesichtspunkt eines etwaigen konkurrierenden Verschuldens beim Unternehmer soll hier und im folgenden abgesehen werden.“189

Oertmann ist – soweit ich sehe – der einzige geblieben, der diesen seinen Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen so ehrlich offengelegt hat. Diese Unterlassung lässt sich gleichwohl bei allen weiteren Darstellungen des Gegenstandes nachweisen: So gibt es niemanden, der bei aller gesetzesanalogen Konstruktion auch den in den §§ 122 Abs. 2, 179 Abs. 3, 307/9 explizit ausgesprochenen Gedanken der Culpacompensation auf die von ihm befürwortete allgemeine Haftungskonstruktion mit übertragen hätte.190 Es gibt niemanden, der vielleicht in Anknüpfung an die gemeinrechtliche Diskussion einmal erwogen hätte, dass es sich bei der befürworteten Haftung für primäre Vermögensschäden immer um Fälle der Selbstschädigung handelt, ein eigenes Verschulden des Geschädigten mithin immer auch vorhanden ist. Selbst Jhering hatte bei allem Finalismus seiner Konstruktion immer wieder darauf verwiesen. Der Satz „Es wäre Sache des andern Teils gewesen, sich nach den Verhältnissen seines Kontrahenten zu 187  Ein Beitrag zur Frage der Haftung für Verschulden beim Vertragsschlusse, insb. für Verschulden des Bestellers beim Abschlusse des Werkvertrages, LZ 1914, 513 ff. 188 Oben II.3.b); Oertmann, LZ 1914, 513/520: „Die §§ 122 usw. begründen für die Fälle eines wirksamen Vertrages weniger einen Umkehrschluß, als vielmehr ein argumentum fortiori!“ 189 LZ 1914, 513, Fn. 1. 190 Mit dieser „merkwürdigen Regelung“ (Steinberg, Haftung für culpa in contrahendo, 1930, S. 110) konnte man nichts mehr anfangen. Stattdessen wurde eine gespaltene Analogie vorgenommen und der bevorzugte § 254 BGB gleichsam ohne Rechtsgrundlage angewendet. Die Weinsteinsäure-Entscheidung des Reichsgerichts (RGZ 104, 265; oben II.3.a) kam also nicht von ungefähr und markierte zugleich doch schon das Ende der gemeinrechtlichen Lehre von der Culpacompensation (dazu oben: § 3 III.2.). Später wurden der dogmatische Fortschritt in der Lehre und die Rückständigkeit dieser gesetzlichen Rudimente hervorgehoben: vgl. nur Larenz, Schuldrecht I (1987), § 8 III = S. 104: „Der Ausbau der Lehre war zur Zeit der Entstehung des Gesetzes noch nicht erfolgt. Daraus erklären sich die beiden Einschränkungen, die bei der Anwendung der Lehre sonst nicht mehr gemacht werden (…).“ Gleichwohl: Diese Vernachlässigung führt notwendig zu merkwürdigen Konstruktionsbemühungen, wenn eine Haftung aus dem Gesichtspunkt des „Mitverschuldens“ doch ausgeschlossen werden soll, vgl. etwa OLG Düsseldorf, ZIP 2003, 336 m. Anm. Benedict EWiR § 242 BGB 1/03, 455.

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erkundigen.“191 passt im „Schlauberger-Konjunktiv“ letztlich immer und als Vorwurf für jede Seite. Maßgeblich konnte und kann immer nur eine an der Interessenabwägung orientierte Allokation der Vertragsrisiken dazu führen, das Gewicht der Sorgfaltspflicht eher der einen als der anderen Seite aufzubürden. Die hierfür erforderliche differenzierte Betrachtung findet im Rausch gesamtanaloger Abstraktion nicht mehr statt. So verwundert es nicht, dass schließlich auch niemand auf die Idee gekommen ist, dass den immer zur Analogie herangezogenen Regelungen (also insbesondere den §§ 463 a. F., 523 f., 538, 600, 645 II, 678, 694) bereits eine am Verschulden orientierte differenzierte Abwägung der beteiligten Interessen im konkreten Vertragsverhältnis zugrunde liegt. Wie dem auch sei. Dass Oertmann unter dieser Prämisse (Mitverschulden des Geschädigten wird ausgeblendet!) nur zu einseitigen Ergebnissen kommen kann, liegt auf der Hand. So soll den Besteller beim Werkvertrag eine Untersuchungspflicht zur Bodenbeschaffenheit und ein hierauf gegründeter Schadensersatzanspruch des Bauunternehmers treffen, „soweit z. B. Maschinen oder sonstiges Eigentum des Unternehmers durch die fortzuschaffenden Steine verletzt sind … und wegen der zur Fortschaffung aufgewendeten Arbeitslöhne, Sprengkosten und anderer Mehrauslagen“.192 Warum die Sache nicht vielmehr umgekehrt liegt und die Bodenuntersuchung – soweit keine abweichende vertraglichen Abreden bestehen – in das Risiko und die Kalkulation des Unternehmers fällt, wird von Oertmann folgerichtig gar nicht erörtert: Dieser Blickwinkel wurde ja von vornherein ausgeblendet. So wiederholt sich keine vierzig Jahre nach Friedrich Mommsens eingehender Kritik an Jherings c. i. c. dasselbe Phänomen; denn es ist mit der culpa wie „mit der Billigkeit ein eigenes Ding. Was der Billigkeit entsprechend erscheint, wenn man die Sache von dem Standpunkt des einen Contrahenten aus ansieht, erscheint manchmal als unbillig, wenn man sich auf den Standpunkt des anderen Contrahenten stellt.“193 Dass die Ergebnisse jedenfalls dann unbillig werden, wenn man den Standpunkt der anderen Seite gar nicht mit in die Betrachtung zieht, dürfte außer Frage stehen. Exemplarisch ist diese Vorgehensweise im Übrigen für ein bis heute verbreitetes Phänomen juristischer Publizistik: Oertmann ist als Privatgutachter in einem praktischen Fall tätig geworden und hat im Parteiinteresse auf ein Ergebnis hin argumentiert und dieses Ergebnis als ‚wissenschaftlichen‘ Beitrag publiziert. Man mag von derartigen Beiträgen halten, was man will; dass ihnen regelmäßig die notwendige Objektivität mangelt, dürfte unstreitig sein.194 Gleichwohl hin Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/58.  Ein Beitrag zur Frage der Haftung für Verschulden beim Vertragsschlusse, insb. für Verschulden des Bestellers beim Abschlusse des Werkvertrages, LZ 1914, 513/518. 193  Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 81 f. 194  Es wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum Oertmann kurze Zeit später, anlässlich seiner Besprechung der Weinsteinsäure-Entscheidung eine ganz andere Haltung zur 191 192

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terlassen auch einseitige und inhaltlich flache Beiträge zu einem Thema ihre Spuren auf dem Weg zu einer herrschenden Meinung: Das Reichsgericht ist Oertmann im konkreten Fall (Entwässerungsgrabenfall) zwar nicht gefolgt und hat stattdessen die Untersuchung des Bodens zu Recht als Obliegenheit beim Unternehmer belassen.195 Die von Oertmann vorgelegte Konstruktion hat gleichwohl bleibenden Einfluss auf Doktrin und Rechtsprechung behalten.196 Das Reichsgericht ist im nur 2 Jahre später entschiedenen „Wasserableitungsfall“ dann aber tatsächlich der Argumentation von Oertmann im Grundsatz gefolgt, hat die Sache nunmehr doch als culpa in contrahendo des Bestellers behandelt und so letztlich der Idee einer allgemeinen vorvertraglichen Haftung zum Durchbruch verholfen.197 Oertmann und das Reichsgericht kommen so gleichsam vom § 645 BGB (Haftung des Bestellers für Verschulden) zu einer allgemeinen culpa in contrahendo. Natürlich gab es in dem Spektrum der Meinungen auch durchaus Zurückhaltung und differenziertere Töne. Siber198 etwa vertrat eine Analogie des § 694 BGB auf unverlangt zugesandte Waren. Die Vorschriften über Rechts‑ und Sachmängel bilden bei ihm die Grundlage für Anzeigepflichten für bekannte, dem Vertragspartner wesentliche Tatsachen, während er demgegenüber eine Haftung für positiv unrichtige Angaben im Anfechtungs‑ (§§ 119 II, 123 BGB) und Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) abschließend geregelt sieht und auch eine Verallgemeinerung der §§ 307, 309 BGB a. F. für ihn nicht in Frage kommt, weil dies auf eine Untersuchungspflicht zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen des Rechtsgeschäftes im Interesse des Vertragspartners hinausliefe. Auch Rolf Raiser meint zwar ein „latentes Prinzip“ in den „gesetzlichen Fällen einer Haftung aus dem Verhalten während der Vertragsverhandlungen“ erahnen zu dürfen, steht aber einer Gesamtanalogie skeptisch gegenüber und betont die Notwendigkeit der Einzelanalogie im konkreten „Bedürfnisfall“ und in konkreter „Anlehnung an

Ausdehnung der Haftung für c. i. c. eingenommen hat: „Möge das Reichsgericht, das sich bisher von solcher Freirechtlerei fernzuhalten pflegt, auf dem mit unserem Erkenntnis eingeschlagenen gefährlichen Wege rechtzeitig einhalten!“ (AcP 121 (1923), 122/127). 195 Urt. v. 28. September 1916, JW 1916, 115 (Herstellung eines Entwässerungsgrabens). 196  Der Einfluss wird ganz augenfällig bei dem ansonsten zur c. i. c. grundsätzlich kritischen Titze, Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516/518, der nun ausgerechnet Oertmann folgt und dessen konkreten Fall explizit als Anwendungsfall der culpa in contrahendo vorstellt: „Es vergibt jemand Tiefbauarbeiten, ohne den Unternehmer auf die aus der besonderen Beschaffenheit des Terrains sich ergebenden Schwierigkeiten hinzuweisen, und veranlaßt ihn dadurch zu falschen Kalkulationen.“ 197  Urt. v. 24. September 1918, RGZ 95, 58 (Wasserableitung); der Fall lag hier freilich in einem nicht unwesentlichen Punkt anders als im o. g. Entwässerungsgraben-Fall: Es ging nicht um eine Aufklärungs‑ bzw. gar eine Untersuchungspflicht, sondern der Besteller hatte positiv unrichtige Angaben gemacht, die der Tiefbauunternehmer für seine Kalkulation zu Grunde gelegt hatte. 198 Planck / ​Siber (1914), Vor. §§ 275 ff. I 4 (S. 190 ff.).

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die vorhandenen Gesetzesbestimmungen“.199 Doch diese, am konkreten Einzelfall orientierte Bescheidenheit blieb singulär. Spätestens nachdem das Reichsgericht im Weinsteinsäurefall den Gedanken einer auf Gesamtanalogie begründeten generellen Haftung für culpa in contrahendo anerkannt hatte, war der Damm endgültig gebrochen: Die gerichtliche Praxis erschloss der Rechtswirklichkeit immer neue Pflichtverletzungen in contrahendo.200 Auch Enneccerus kommt angesichts der Faktizität reichsgerichtlicher Entscheidungshoheit nun nicht mehr umhin, seine Ablehnung gegenüber einem allgemeinen Haftungsinstitut namens culpa in contrahendo aufzugeben und die von ihm ursprünglich missbilligte Entwicklung in den letzten Bearbeitungen seines Lehrbuches immerhin als „eine dem Grundgedanken des BG. entsprechende Fortentwicklung des Rechts“ zu bezeichnen.201 b) Methodologische Skepsis: Analogie ohne Basis „Selbst zwischen § 122 und § 179 lassen sich bedeutende Differenzen nicht ableugnen (…).“ Caspar Melliger, 1898202

Von nun an ging es weniger darum, die Existenz eines allgemeinen Haftungsinstituts für vorvertragliche Pflichtverletzungen noch weiter mit Hinweisen auf die Existenz vorvertraglicher Pflichten zu behaupten, als vielmehr darum, seine Voraussetzungen und Rechtsfolgen genauer zu konturieren. Das Problem der hier vorgestellten Gesamtanalogie ist ihre Abstraktheit und die Ubiquität vorvertraglicher Anknüpfungspunkte in den Regelungen über das Zustandekommen von Rechtsgeschäften und den Inhaltsbestimmungen des allgemeinen und besonderen Schuldrechts. So war bereits Kuhlenbecks These von einer Verallgemeinerung der Haftung auf das Vertrauensinteresse bei allen unwirksamen Verträgen weniger deshalb bedenklich, weil die §§ 122, 179 nach Ansicht mancher gar keine Fälle der culpa in contrahendo sein sollten, als vielmehr deswegen, weil § 179 BGB den falsus procurator ganz offensichtlich doch auch auf das Erfüllungsinteresse haften lässt. Wir haben bereits bei der Auflösung der Jhering’schen Fall-

199  R. Raiser, Schadenshaftung bei verstecktem Dissens, AcP 127 (1927), 1/29; freilich geht selbst die anvisierte (Einzel‑)Analogie zu § 122 BGB für den Dissens fehl, weil, wie gesehen (oben II.3.a), § 122 BGB im konkreten Weinsteinsäure-Fall direkt zur Anwendung kommt. 200  Vgl. etwa nur die Urteile: v. 5. April 1922, RGZ 104, 265/267 ff. (Weinsteinsäure-Fall): Pflicht zu klarer Kommunikation; v. 28. November 1923, RGZ 107, 357/362 (Inflations-Fall): Exceptio doli aus c. i. c.; v. 1. März 1928, RGZ 120, 249/251 (Büdnerei-Fall): Pflicht zur Aufklärung über Rechtslage; v. 22. Juni 1936, RGZ 151, 357/358 (Grundstücksvermietung-Fall): Pflicht zur Erstattung von Aufwendungen über das Erfüllungsinteresse hinaus; v. 29. Oktober 1938, RGZ 159, 33/54 (Kohlegruben-Verkaufsfall): Durchgriffshaftung auf hinter einer Gesellschaft stehende Personen. 201  Enneccerus, Schuldverhältnisse (1923), § 266 III. 202 Culpa in contrahendo (1898), S. 78.

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gruppen gesehen,203 dass die Problematik des Vertragsschlusses und des Todes bzw. Widerrufs einer Offerte ganz ohne Schadensersatzanspruch gelöst (§§ 130, 145, 153 BGB) und die Verfasser des BGB auf eine Haftung bei fehlender oder verminderter Geschäftsfähigkeit gänzlich verzichtet haben (§§ 104 ff. BGB). Sinn der ausführlichen Darstellung war es nicht, die Problematik aus rein historischer Langeweile noch einmal auszubreiten, sondern die Differenziertheit der Sachprobleme und die Gründe hinter ihrer differenzierten Lösung zu verdeutlichen. Doch das Detail ging im Fieber der Verallgemeinerung unter. So ist es denn auch bis heute nicht wirklich gelungen, aus den gesetzlichen Fällen vermeintlicher oder echter culpa in contrahendo einen über den Aspekt ihrer Vorvertraglichkeit hinausgehenden gemeinsamen Grundgedanken herauszustellen. Das aber heißt: Es fehlt an einer soliden Analogiebasis! Denjenigen, die im Anschluss an Melliger (1898) und Brock (1902) genauer auf die Sache sahen, konnte diese Erkenntnis nicht entgehen.204 Aber wie ließ sich ohne eine solche, eine allumfassende culpa in contrahendo mittels Gesamtanalogie induzieren? Das sei, so konstatierte resümierend Heinz Hildebrandt (1931), „bei der Verschiedenartigkeit der gesetzlichen Einzelregelung nicht ganz leicht; denn (1) bald verbindet sie für nichtige (§§ 122, 179 II und III) oder für erwartete, aber nicht zustande gekommene Rechtsgeschäfte (§§ 663, 675, an sich auch § 149), bald für verletzte Anzeigepflichten bei gültigem Zielvertragsschluß (§§ 463, 523 I, 524 I, 1624 II, 600, 694, 443, 476, 540, 637, VVG §§ 16 ff.; HGB § 426 III, Eis.VO § 57). Die Haftung setzt hier das Nichtzustandekommen, dort den gültigen Zielgeschäftsschluß voraus. (2) Sie ist teils ohne Rücksicht auf Verschulden (§§ 122 I, 179 II, HGB 426 III, EisVO. 57), teils nur bei arglistigem (§§ 463, 523/4 I, 1624 II, 600; 443, 476, 540, 537, VVG. § 18 II) oder doch schuldhaft wissentlichem (VVG. § 16) Verschweigen, teils bei jedem Verschulden (§ 149, 307/9, 663, 675, VVG. 17) gegeben, das in § 694 und VVG. §§ 16 III, 17 II sogar ausdrücklich vermutet wird. (3) Die Sanktion besteht regelmäßig in einem Schadensersatzanspruch, sei es auf das Vertrauens‑ – mit (§§ 122, 307/9, 179 II) oder ohne (§§ 523 I, 524 I, 1624 II, 600, 663, 675, 694, HGB 426 III, Eis.VO. 57) Beschränkung durch das positive – sei es auf das Erfüllungsinteresse (§ 463), ausnahmsweise in der Verlängerung der Annahmefrist (§ 149), der (gegenständlich relativen) Nichtigkeit

 Oben § 4 II.  Vgl. bereits die oben (bei und gegen Kuhlenbeck) Genannten (§ 5 II.1.): P. Klein, Zur Lehre vom sogenannten negativen Vertragsinteresse, DJZ 1906, 596; Hammel, Culpa in contrahendo (1912), S. 29; Oertmann, Haftung bei Mißverständnis, AcP 121 (1923), 122/125; dann Unterhinninghofen, Die Haftung für culpa in contrahendo (1924), § 4: „Die Haftung für c. i. c. läßt sich nicht, wie vorgenannte Schriftsteller und das RG es wollen, aus der Rechtsanalogie folgern (…).“; und sehr gründlich dann Bogusch, Die neuere Entwicklung der Lehre von der Culpa in contrahendo (1928), S. 18 ff. Wer nach dieser Arbeit noch eine Gesetzesanalogie ernsthaft behaupten wollte, zeigte nur, dass er sich mit der Frage nicht eingehend befasst hat. 203 204

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des vertraglichen Gewährleistungsausschlusses (§§ 443, 476, 540, 637) oder dem Rücktrittsrecht des Vertragsgegners (§§ 16 ff. VVG).“205 Diese Darstellung ließe sich leicht um weitere rechtsgeschäftliche Normen ergänzen (etwa die differenzierten Regelungen der §§ 116 ff., 130, 145 ff. BGB, § 362 HGB), und wir haben bereits gesehen, dass jeweils sowohl die Haftungsvoraussetzungen als auch die Rechtsfolgen durchaus unterschiedliche sind. Auch der Grund für die Ausdifferenzierung der Regelungen wurde eingehend benannt: Die Regelungen waren nicht das Ergebnis zufälliger Willkürlichkeit, sondern Ergebnis einer gründlichen Anschauung und Analyse der einzelnen Rechtsverhältnisse in der Methodologie der historischen Schule.206 Den eher einfachen und für die weitere Entwicklung kennzeichnenden Blick auf die Problematik im 20. Jahrhundert vermittelt demgegenüber exemplarisch Hedemann in seinem Lehrbuch des Schuldrechts: § 307 BGB a. F. sei der gesetzliche Anknüpfungspunkt für vorvertragliche Pflichten bei unwirksamen oder gar nicht geschlossenen, und die Haftung für das „arglistige Verschweigen von Kaufmängeln“ (§ 463 a. F.) vermittele dieselbe Einsicht bei wirksam zustande gekommenen Verträgen.207 Es erscheint insoweit nur konsequent, wenn beide Vorschriften 80 Jahre später die Schuldrechtsmodernisierung nicht überlebt haben: Die culpa in contrahendo wurde ja endlich doch ganz allgemein als abstrahierte „kahle Formel“ Gesetz. Man könnte allerdings noch provokant weiter fragen: Warum überlebten die Schuldrechtsmodernisierung eigentlich all die anderen genannten Paragraphen?208 2. Von vorvertraglichen Pflichten zum vorvertraglichen Schuldverhältnis „Die einzige Möglichkeit, eine Verantwortlichkeit dabei zu begründen, beruht auf dem Gesichtspunkte, daß bereits die Einleitung von Vertragsverhandlungen, also gegebenenfalls auch die Stellung eines Angebots, eine gewisse Sorgfaltspflicht begründe. Ich will gewiß nicht bestreiten, daß das ein sehr beachtenswerter rechtspolitischer Gedanke sei, der vielleicht noch eine große Zukunft hat, jedenfalls der vollen Aufmerksamkeit würdig ist.“ Paul Oertmann, 1923209

Wir erinnern uns: Die culpa selbst ist keine causa obligationis. Entweder es bedarf der Definition bestimmter subjektiver Rechte, gegenüber denen jedermann die 205 Hildebrandt,

Erklärungshaftung (1931), S. 122 f.  Hierzu sogleich noch resümierend unten III.3. 207  Hedemann, Schuldrecht (1921), § 41 IV, S. 317. 208 Ausführliche methodologische Kritik schon bei Benedict, Einzelfallgerechtigkeit, ARSP 89 (2003), 216 ff., zusammenfassend unten §§ 8, 9. 209  Bemerkungen zur Frage der Haftung bei einem wegen Mißverständnis nicht zustande gekommenen Vertrage, AcP 121 (1923), 122/127, freilich seinerzeit noch mit dem klarstellenden Zusatz: „Aber im geltenden Recht ist er nur in einer Anzahl von Sonderbestimmungen verwirklicht, bei deren entsprechender Erweiterung es große Vorsicht zu üben gilt. Die bloße Berufung auf angebliche ‚Billigkeit‘ reicht dazu nicht aus.“ 206

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erforderliche Sorgfalt hat obwalten zu lassen (Leben, Körper, Gesundheit, Eigentum usw.), sie nicht zu verletzen (neminem laedere). Oder es bedarf eines besonderen Schuldverhältnisses, aufgrund dessen eine Seite zur besonderen Sorgfalt in den (Vermögens‑)Angelegenheiten der anderen Seite verpflichtet ist. Die subjektiven Rechte sind dann inter partes aufgrund des Schuldverhältnisses definiert und ggf. aus der bona fides zu gewinnen. Es gab einige, denen war dieser keineswegs nur systematische Zusammenhang, der auch die Grundlage für die gesetzliche Regelung der deliktischen Haftung auf der einen und der vertraglichen Haftung auf der anderen Seite abgibt, durchaus noch bewusst.210 Es gab andere, die schauten vor allem auf die Konstruktion eines Ergebnisses, das ihnen die Billigkeit im Einzelfall eingab. Und so ist es durchaus kennzeichnend für die weitere Geschichte der culpa in contrahendo, dass der Gedanke von einem vorvertraglichen Schuldverhältnis zunächst als Hilfskonstruktion zur Begründung eines als richtig empfundenen Ergebnisses das Licht der Dogmengeschichte erblickte. Das gefühlte Bedürfnis nach einer Hilfskonstruktion bestand dabei zunächst auf beiden Seiten des Haftungsrechts: 1. im Deliktsrecht bei der Begründung einer Haftung für Verrichtungsgehilfen jenseits der Exkulpationsmöglichkeit des § 831 BGB und 2. im Vertragsrecht bei der Begründung eines Vertragsschlusses auch ohne Zugang der Annahmeerklärung jenseits der Bestimmungen der §§ 130, 145 ff. BGB. Der Rest war dann wieder nur weitere Abstraktion. a) Unbilliges Deliktsrecht: Linoleumrollen‑ und andere (Un‑)Fälle „Wer blos einen Andern für irgend eine Verrichtung auszusuchen hat, haftet consequenterweise lediglich für die dabei begangene Nachlässigkeit (culpa in eligendo).“ Rudolf v. Jhering, 1867211

So war es einmal mehr das „Rechtsempfinden“, das zunächst dem Reichsgericht in seiner Linoleumrollen-Entscheidung212 eingab, in dem „Vorlegen von Waren“ ein „den Kauf vorbereitendes Rechtsverhältnis zwischen den Parteien“ zu erblicken, „das vertragsähnlichen Charakter trägt und insoweit rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten erzeugt“. Im Fall hatte die Klägerin das beklagte Warenhaus aufgesucht und Interesse für Linoleumteppiche bekundet. Der Handlungsgehilfe W., der sie in dieser Sache bediente, stellte zwei Rollen so ungeschickt auf, dass

210 Vgl. etwa Krückmann, Unmöglichkeit und Unmöglichkeitsprozeß, AcP 101 (1907), 1/202: „Es ist wahr: eine abstrakte Sorgfaltspflicht gibt es nicht, es muß vielmehr immer je nach dem betreffenden Rechtsverhältnis festgestellt werden, in Bezug auf welche konkrete Pflicht und ihre Erfüllung eine Sorgfaltspflicht besteht.“ 211  Schuldmoment im römischen Privatrecht (1867), S. 47 Fn. 92: „An dieser von mir in meinen Jahrbüchern IV. S. 84, 85 aufgestellten Ansicht halte ich fortdauernd fest.“ 212 Urt. v. 7. Dezember 1911, RGZ 78, 239.

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sie umfielen und die Klägerin und ihr Kind umrissen und verletzten. In diesem Klassiker der culpa in contrahendo, der in keinem Lehrbuch fehlt, obgleich das Reichsgericht das Institut selbst auch gar nicht erwähnte, ging es also nicht eigentlich um vorvertraglichen Vermögensschutz, sondern um das Integritätsinteresse bei Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter – oder, wie es später auch hieß: „genuines Deliktsrecht“213. Das Verschulden des Bediensteten stand außer Frage, eine Haftung des solventen Warenhauses hingegen war durch die Exkulpationsmöglichkeit des § 831 BGB verhindert. Diese Vorschrift galt es also auszuschalten, um eine unbedingte Haftung für Erfüllungsgehilfen gem. § 278 BGB begründen zu können. Mit Kantorowicz können wir dieses Bemühen, ein gewolltes Ergebnis zu konstruieren, Voluntarismus und Finalismus nennen.214 Um das gewünschte Ziel (Haftung des Kaufhauses) zu erreichen, wurden dem „vorbereitenden Rechtsverhältnis“ dieselben Pflichten unterstellt, die ohnehin gegenüber jedermann gem. § 823 I BGB gelten: „die gebotene Sorgfalt für die Gesundheit und das Eigentum des anderen Teiles zu beobachten“.215 Das leuchtet ein; denn was bereits jedermann verbindet, verbindet doch erst recht bei Vertragsverhandlungen. Nur liegt hierin eine recht folgenschwere Vermengung von Delikts‑ und Vertrags‑ (bzw. Quasivertrags‑)recht, die dann später in der Debatte um den Vorrang von Schutz‑ oder Verkehrspflichten die Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser unterscheidenden Dichotomie überhaupt erst möglich gemacht hat. Die Konstruktion ist also einfach: Der deliktische Rechtsgüterschutz wird zu einer quasi-vertraglichen Leistungspflicht erhoben, bei der der prospektive und solvente Schuldner dann auch für die culpa seiner Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) einzustehen hat. Dass die Konstruktion eines entsprechenden Rechtsverhältnisses insoweit also allein die Aufgabe hatte, den als unbillig empfundenen § 831 BGB auszuschalten, ist dabei gar kein Geheimnis (Vehikel-Funktion). Das Reichsgericht selbst spricht – und darin unterscheidet sich diese Entscheidung von späteren Judikaten – die rechtspolitischen Überlegungen hinter seiner rechtsdogmatischen Konstruktion offen aus: „Es würde dem allgemeinen Rechtsempfinden widerstreiten, wenn in Fällen, wo der Geschäftsangestellte beim Vorzeigen oder beim Vorlegen von Waren zur Besichtigung, zum Verkosten, um einen Versuch zu machen u. dgl. den Kauflustigen durch Unvorsichtigkeit schädigt, der Geschäftsinhaber – mit dem der Kauflustige den Kauf hat abschließen wollen – nur nach Maßgabe des § 831 BGB und nicht unbedingt haftete, der Verletzte also beim Gelingen des Entlastungsbeweises an den zumeist mittellosen Angestellten verwiesen würde.“216

213 Ausf.

zum finalen Streit über die Zuordnung dieser Fälle, unten § 7 II.  Oben I.2. 215  RGZ 178, 239/240. 216 RGZ 178, 239/241. 214

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Das ethische Prinzip hinter diesem „allgemeinen Rechtsempfinden“ kennen wir bereits: der Grundsatz, dass für die Verursachung eines Schadens ein Schuldiger zu haften habe. Aber so einfach ist die Sache hier nicht: die letzte „Consequenz“ dieses Prinzips zu ziehen, ist bereits dogmatisch nicht leicht möglich, weil die vollständige Haftung durch die gesetzliche Wertung des § 831 BGB eingeschränkt wird. Bei genauerer Betrachtung bleibt das Prinzip des neminem laedere sogar in Geltung; denn die Haftung des Schädigers selbst (hier also des Handlungsgehilfen W.) steht gar nicht in Frage. Es geht allein darum, für einen Schaden einen anderen Verantwortlichen, einen (solventen) „Dritten“ zu finden. Mit dem einfachen Hinweis auf das Haftungsprinzip, neminem laedere, ist der Fall also nicht zu lösen. Es geht um die rechtsethische Plausibilität der Exkulpationsmöglichkeit des § 831 BGB. Diese Regelung geht dabei, wie gesehen, in der Tat auf Jhering und seine Schrift zur culpa in contrahendo zurück, weshalb es wohl auch für alle, die dies wussten, nicht wirklich opportun gewesen ist, die Entscheidung überhaupt als Fall der c. i. c. anzusehen. Jhering jedenfalls hatte an der eingeschränkten Verantwortlichkeit, der culpa in eligendo auch im Rahmen seiner Revisionsschrift „dauernd festgehalten“. Vielleicht liegt ja auch hier und in der Besinnung auf den Regelungssinn des § 831 BGB der tiefere Grund dafür, dass derselbe Senat des Reichsgerichts bereits wenige Monate nach seiner Linoleumrollen-Entscheidung von einem „vorvertraglichen Rechtsverhältnis“ doch gar nichts mehr wissen wollte und vielmehr in einem viel drastischeren Fall von Körperverletzung (ein Leuchter war von der Galerie einem Kunden auf den Kopf gestürzt) eine Exculpation nach § 831 BGB wieder zugelassen hat.217 Wie immer man zum Gedanken einer culpa in eligendo im Allgemeinen und der inhaltlichen Richtigkeit des § 831 BGB im Besonderen auch stehen mochte:218 Die Vorstellung von einem „vorvertraglichen Rechtsverhältnis“ war nun in der Welt. Niemand kümmerte sich in einer Zeit „juristischer Entdeckungen“ um die dogmatischen Details oder den tieferen Sinn des § 831 BGB. Erstaunlich ist nur, dass dieser Entdecker‑ und Neuerungsdrang bis in die Gegenwart angehalten hat, das Schuldrecht modernisiert und eine sog. „Anvertrauenshaftung“ in § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB kodifiziert wurde, während die originäre Regelung des § 831 BGB bis heute ganz unbehelligt im Gesetz die culpa in eligendo als Haftungsmaßstab für die Gehilfenhaftung vorsieht. Der differenzierte Blick, der beim konkreten Problem ansetzt, wird durch die abstrakte Konstruktion ersetzt, die das geltende Recht ganz offensichtlich umgeht.219

 Urt. v. 26. November 1912, JW 1913, 23 ff. (Galerie-Fall). Details gehören in den dogmatischen Teil. Zur rechtspolitischen Debatte um diese Vorschrift noch unten § 7 II. 219  Zur Kritik an der Konstruktionsjurisprudenz Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1912), S. 6 ff.: „Sie kennen den hinkenden Teufel, der die Dächer abdeckte und seinen 217

218 Die

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So hat etwa schon Siber, der offenbar auch aufgrund seiner vorsichtigen Analogiebildung richtig erkannte, dass sich für Erhaltungspflichten der vorliegenden Art (die wir heute Verkehrssicherungspflichten nennen) nicht leicht eine vorvertragliche Analogiebasis auffinden lässt,220 die Vorstellung von einem „vertragsähnlichen Rechtsverhältnis“ abgelehnt und zu RGZ 78, 239 (Linoleumrollen-Fall) klargestellt, dass die vom Reichsgericht angenommenen „… rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten nur aus einem Rechtsgeschäft entspringen, und daß Antrag und Annahme nur Rechtsgeschäfte, nämlich Verträge zum Abschluß bringen können, daß es auch nur eine Vertragsfreiheit, keine Freiheit vertragsähnlicher Verhältnisse gibt.“221

Gleichwohl suchte er das gleiche Ergebnis mittels Fiktion eines vorvertraglichen Haftungsvertrages zu konstruieren: „Denn … in der – schon im Offenhalten einer Verkaufsstelle enthaltenen – Einladung zu Verkaufsverhandlungen ist nach Treu und Glauben zwar kein Versprechen der Schadensersatzleistung zu finden … auch kein Versprechen allgemeiner Sorge für die persönliche Sicherheit des Eingeladenen, aber doch die Uebernahme einer primären Pflicht, die auf Grund der Einladung zu betretenden Räume in einem die Sicherheit nicht gefährdenden Zustande zu erhalten.“

Ganz einverstanden mit dem Reichsgericht war demgegenüber Fischbach, der den konstruktiven Gedanken des Reichsgerichts aufnehmend als erster die praktische Existenz eines vorvertraglichen Rechtsverhältnisses induzierte und demgemäß konstatiert: „Dem eigentlichen Vertragsabschluß pflegen vielfach Handlungen der Parteien vorauszugehen, die zwar nur vorbereitender Natur sind, gleichwohl aber rechtliche Wirkungen auszulösen vermögen; man kann hier von sogenannten vorbereitenden Rechtsverhältnissen sprechen.“222 Fischbach repräsentiert insoweit die bis heute bestehende Auffassung, welche einerseits

Schützling in die Geheimnisse der Zimmer blicken ließ. Lassen Sie mich einmal die Rolle übernehmen und Ihnen die Studierzimmer unserer juristischen Theoretiker zeigen (…).“ Zur offensichtlichen „Vehikel-Funktion“ der c. i. c. ausf. unten § 7 II. 220 Vgl. Planck / ​Siber (1914), vor §§ 275, 4a  ff.; Siber, Vertragsfreiheit, JhJb 70 (1920), 223/258: „Die nur vereinzelt vorgeschriebenen, aber der entsprechenden Ausdehnung nicht unfähigen Ersatzpflichten aus Verschulden beim Vertragsschluß zeigen, daß zwischen den nur gesellschaftlichen und rechtlichen Beziehungen unter den Parteien vielfach nicht erst der fertige Vertrag, sondern schon der Eintritt in Vertragsverhandlungen die Grenze bildet.“ 221  Siber, Vertragsfreiheit, JhJb 70 (1920), 223/260; zustimmend Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), obwohl dieser die Anwendung der c. i. c. auf Erklärungspflichten begrenzt sieht: S. 96: „Richtig erkennt Siber, daß die etwaigen Erhaltungspflichten an der Person und an den Sachen des Gegners nicht auf Analogien, sondern auf (stillschweigend geschlossene) Erhaltungsverträge zurückzuführen sind.“, ausf. S. 225 ff.: „Das Verhandlungsverhältnis (c. i. c.) deckt nur Erklärungspflichten. Das Bedürfnis für eine Ausdehnung auf selbständige Erhaltungs‑ und Sorgfaltspflichten besteht nicht (…).“ 222 Fischbach, Vorbereitende Rechtsverhältnisse, AbR 41 (1915), 160 ff.

III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis

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in der Linoleumrollen-Entscheidung des Reichsgerichts die Grundlage für den Gedanken eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses überhaupt erblickt, und die andererseits auch den deliktischen Rechtsgüterschutz bei Vertragsanbahnung als Haftungsfälle der culpa in contrahendo ansehen will.223 Auch das sachliche Problem dieser Unterstellung findet sich bereits bei Fischbach deutlich angesprochen: Wann genau beginnt dieses „vorbereitende Rechtsverhältnis“? Mit der Absicht, ein Geschäft zu betreten, mit der ersten Kontaktaufnahme oder erst mit ernsthaften Geschäftsverhandlungen? Wer hier – wie Fischbach es tut – von den Entscheidungen des Reichsgerichts ausgeht, für den muss der Gedanke der tatsächlichen Verhandlungen („Vorlegen von Waren“) das einzig plausible Kriterium sein, weil sich nur so die unterschiedlichen Ergebnisse im Linoleumrollen-Fall einerseits und im Galerie-Fall anderseits erklären lassen: Bei letzterem gab es ja nicht einmal Verhandlungen und entsprechend konnte sich das Reichsgericht von seiner zuvor gefassten Erkenntnis wieder abgrenzen224  – eine offensichtliche Willkürlichkeit, die dann ja auch späterhin immer wieder als Beispiel für reichsgerichtliche Begriffsjurisprudenz aufgespießt worden ist und zur allgemeinen „Lehre vom sozialen Kontakt“ geführt hat.225 Wer hingegen in jeder Form eines entsprechenden Schnittes immer eine willkürliche Verkürzung des Haftungsanspruchs sieht, der wird, wie es später der BGH tatsächlich getan hat, das haftungsbegründende Verhältnis von innen (Verletzung in den Geschäftsräumen: Bananenschalen-Fall226; Gemüseblatt-Fall227) nach außen (Verletzung vor den Geschäftsräumen: Wurstpelle-Fall228) und schließlich auf das forum internum, die schlichte Absicht des Geschädigten, eine Lokalität besuchen zu wollen (Studienrats-Fall229), immer weiter ausdehnen. Am Ende dieses slippery slope liegt zugleich auch das Ende dieses „vorbereitenden Rechtsverhältnisses“; denn man ist wieder bei einer allgemeinen deliktischen Haftung!230

 Zum Problem unten § 6 I.2. 1913, 23 (Galerie-Fall): Ein durch „Vorlegen von Waren“ begründetes vertragsähnliches Verhältnis wie in RGZ 78, 239 (Linoleumrollen-Fall) habe nicht bestanden, und durch das bloße Betreten eines Warenhauses mit oder ohne Kaufabsicht entstehe ein solches Rechtsverhältnis nicht. 225  Ausf. unten § 6 II.2.c). 226  Urt. v. 26. September 1961, NJW 1962, 31. 227 Urt. v. 28. Januar 1976, BGHZ 66, 51 = NJW 1976, 712. 228  Urt. v. 25. Juni 1968, VersR 1968, 993. 229  Urt. v. 27. Januar 1987, NJW 1987, 2671. 230 Hierzu ausf. unten § 7 II.3. 223

224 JW

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§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c.

b) Andreas v. Thur: Vom Versprechensdogma zum Rechtsverhältnis „Aber schon im Stadium der Vertragsverhandlungen besteht unter den Parteien ein Rechtsverhältnis, aus welchem gewisse Pflichten, insbesondere zur Aufklärung des Gegners hervorgehen.“ Andreas v. Thur, 1918231

Deutlich präziser ist insoweit Andreas v. Thur gewesen, der als erster den Gedanken von einem vorbereitenden vertragsähnlichen Rechtsverhältnis für die Rechtsgeschäftslehre aufgenommen und die These aufgestellt hat, dass „schon während der Vertragsverhandlungen, als Vorläufer des Vertrags zwischen den Parteien ein Rechtsverhältnis mit eigenartigen Wirkungen“ bestehe.232 Ein solches Rechtsverhältnis entwickelt er in seinem Lehrbuch ausschließlich aus dem Gesichtspunkt der Bindung des Offerenten an seine Offerte (§ 145 BGB). Das von ihm so genannte „Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlung“233 setzt also immerhin eine Willenserklärung (ein Versprechen bzw. ein konkretes Vertragsangebot) voraus, weshalb er sich auch von der Vorstellung des Reichsgerichts distanziert, ein entsprechendes zur Sorgfalt verpflichtendes Verhältnis entstünde bereits bei „Vorlegung der Ware“. Diese Abgrenzung ist konsequent, weil er das Rechtsverhältnis nicht wie das Reichsgericht gleichsam aus dem Nichts konstruiert, sondern aus den §§ 145, 160 Abs. 1 BGB. Denn nach § 160 Abs. 1 BGB hat der Berechtigte einer aufschiebenden Bedingung einen Schadensersatzanspruch gegen den anderen Teil, „wenn dieser während der Schwebezeit das von der Bedingung abhängige Recht durch sein Verschulden beeinträchtigt oder vereitelt“. Das eigentümliche „Rechtsverhältnis“ basiert also auf einem Gedanken, den wir heute „Anwartschaft“ nennen würden, und findet seine eigentliche Ursache in dem Versuch, das besondere Problem der Zugangsvereitelung zu lösen.234 Der Rest ist dann wiederum das, was wir bei Jhering als Prinzipiendeduktion kennengelernt haben: Es werden die „Consequenzen“ aus der einmal gesetzten Prämisse gezogen. Denn wenn man schon einmal ein anwartschaftliches Rechtsverhältnis mit dem Zugang der Offerte annimmt, dann ergibt sich alles Weitere aus einer „unabweislichen Analogie des § 160 I“235: Die Pflicht, den Zugang der Annahmeerklärung zu ermöglichen, dafür zu sorgen, „daß für ihn [den Offerenten] keine Unmöglichkeit der Leistung eintritt“ oder die Sache vor Ablieferung nicht beschädigt wird. 231 Allgemeiner

Teil II/2 (1918), S. 463.  v. Thur, Allgemeiner Teil II/1 (1914), S. 486 f.; ders., Allgemeiner Teil II/2 (1918), S. 463. 233  v. Thur, Allgemeiner Teil II/1 (1914), S. 488. 234 v. Thur, Allgemeiner Teil II/1 (1914), S. 446, Fn. 254; gegen die Einbeziehung der Zugangsvereitelung in den Bereich der culpa in contrahendo dann aber im Ergebnis zu Recht schon Titze, DJZ 1925, 490; ders., Verschulden bei Vertragsschluß, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft (1929), S. 516 ff.; ders., JW 1931, 512; zustimmend Cabjolsky, Entwicklung und heutiger Stand der Lehre von der Haftung für Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 46; hierzu auch Benedict, Zugangsproblematik, S. 109 ff. 235 v. Thur, Allgemeiner Teil II/1 (1914), S. 487. 232

III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis

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Das Thur’sche „Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlung“ ist also mit dem Gedanken der Offerte zwar deutlich präziser als das deliktisch inspirierte Rechtsverhältnis des Reichsgerichts. Aber es ist ebenfalls auf den ersten Blick eine eher wackelige Konstruktion. Zunächst ist es, wie gesehen, nicht überraschend, in den Regelungen der Rechtsgeschäftslehre vorvertragliches Verhalten kodifiziert zu finden. Die Regelungen insbesondere der §§ 116 ff. und §§ 145 ff. BGB sind der Versuch, einen fairen normativen Rahmen im Ausgleich zwischen Privatautonomie, Vertrauensschutz und Verschuldensprinzip im Zuge der Vertragsanbahnung abzubilden. Wenn man insoweit ein allgemeines vorvertragliches Rechtsverhältnis annehmen möchte, stellt sich die Frage, was mit der Postulation eines solchen Verhältnisses anderes gewonnen ist, als die einschlägigen Regelungen auch unter dem Gesichtspunkt einer Haftung für culpa (bzw. Pflichtverletzung) begründen zu können. Bereits dieses Ziel greift aber zu kurz, weil die rechtsgeschäftlichen Normen, wie gesehen, gerade nicht allein Ausprägung einer Verschuldenshaftung sind. Das „vorvertragliche Rechtsverhältnis“ Thurs ist insoweit ein anschauliches Beispiel, wie neuerlich eine Hilfskonstruktion nur dazu dient, ein bereits vorab für richtig befundenes Ergebnis neu bzw. anders zu begründen (Finalismus). Und dabei ist die zur Lösung des Problems der Zugangsvereitelung beabsichtigte Postulation einer Pflicht zu Empfangsvorkehrungen bei näherer Betrachtung schwerlich haltbar.236 Aber auch in seinen weiteren Konsequenzen geht Thur nur noch einen kleinen Schritt über den bereits bei Leonhard beobachteten Ansatz hinaus, das Leistungsstörungsrecht als Bündel vorvertraglicher Pflichtverletzungen zu deklarieren: Notwendig für die Haftung sei nicht ein wirksamer Vertrag, sondern es genüge bereits eine wirksame Offerte. Auch hier wäre also der Nachweis zu führen gewesen, ob und warum die bestehenden Regelungen der Leistungsstörung nicht hinreichen und es nunmehr eines vorvertraglichen Rechtsverhältnisses bedarf, um die Grenze zwischen anfänglicher und nachträglicher Unmöglichkeit vom Vertragsschluss auf die Offerte vorzuverlegen.237 Wir können den Kern der Thur’schen Konstruktion auch kurz so fassen: Die Bindungswirkung der Offerte, das Versprechensdogma (promissa sunt servanda),238 wird zu einem „vorvertraglichen Rechtsverhältnis“ aufgebläht. Es ist wie so oft, wenn zur Lösung eines einzelnen Problems sogleich eine darüber hinaus weisende allgemeine Erkenntnis induziert wird: Es geht um eine Maus und konstruiert wird ein Elefant. Dieser wird dann in der Tat auch nicht mehr leicht übersehen. Der Gedanke von einem abstrakten vorvertraglichen

 Hierzu Benedict, Zugangsproblematik (2000), S. 117 ff. m. w. N. zum Problem dann im Detail Alberti, Mitteilungspflicht über Unvermögen und Unmöglichkeit, AcP 118 (1920), 144/154 f., der u. a. eine Anzeigepflicht des gebundenen Offerenten annimmt, wenn dieser innerhalb der Annahmefrist erfahren hat, dass er nicht leisten könne. 238 Hierzu ausf. oben § 4 II.1. 236

237 Vgl.

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Rechtsverhältnis hat denn auch nachhaltig Schule gemacht. Seine endgültige dogmatische Konsolidierung erfolgte final bei Heinrich Stoll: c) Heinrich Stoll: Abstraktion und das Schuldverhältnis als „Organismus“ „Die reale, objective Schöpfung des Rechts, wie sie uns in der Gestaltung und Bewegung des Lebens und Verkehrs als verwirklicht erscheint, läßt sich als ein Organismus bezeichnen (…). Diese Vergleichung, die Bezeichnung: organisch, naturwüchsig u. s. w. ist heutzutage eine sehr beliebte geworden, aber nicht selten ist sie ein prunkendes Aushängeschild, hinter dem sich eine ganz mechanische Behandlungsweise verbirgt.“ Rudolf v. Jhering, 1852239

Der Gedankengang, den der junge Privatdozent in seinem Habilitationsvortrag 1923 entwickelt,240 ist im Grunde sehr einfach. Anders als seine Vorgänger konstruiert er das vorvertragliche Verhältnis nicht offensichtlich als „Ergebnis eines Ergebnisses“ für den konkreten Fall, sondern er abstrahiert nun tatsächlich aus allen vorhergehenden Überlegungen, d. h. er zieht gleichsam die Summe des bisherigen Meinungsstandes auf der Basis zweier juristischer Axiome: 1. Eine Haftung für culpa bzw. Treu und Glauben setzt ein zur entsprechenden Sorgfalt / ​Treue verpflichtendes Verhältnis voraus. 2. Da dieses Verhältnis nicht der Leonhard’sche „Zielvertrag“ sein kann, muss es ein anderes, nämlich bereits ein vorvertragliches Schuldverhältnis geben. Stoll zieht zunächst eine Bilanz der Rechtsentwicklung und begründet neuerlich das, was bis heute für die dogmatische Behandlung der culpa in contrahendo unabdingbar geworden ist: Fallgruppen. Nun kann man freilich Fallgruppen in zweierlei Absicht bilden. Entweder um zu differenzieren und abzugrenzen (so etwa sehr gründlich Siber mit seinen Einzelanalogien im vertraglichen und seiner speziellen Fiktion eines vorvertraglichen Haftungsvertrags im deliktischen Bereich) oder um sie schließlich unter einem einheitlichen Gedanken auf einer höheren abstrakten Ebene zusammen zu fassen (so die Absicht bei Stoll). Die alte, noch von Leonhard begründete und seither vorherrschende Zweiteilung in Fälle unwirksamen oder mangelnden Vertragsschlusses einerseits (auch kurz: die Jhering’sche Fallgruppe) und in Fälle mit wirksam zustande gekommenem (Ziel‑)Vertrag andererseits (auch kurz: die Leonhard’sche Fallgruppe) hatte seit der Weinsteinsäure-Entscheidung des Reichsgerichts ihre Bedeutung endgültig verloren. Niemand glaubte mehr an die Berechtigung dieser Differenzierung. Stoll setzt an die Stelle der alten Zweiteilung nunmehr drei „neue“ Fallgruppen, wobei er in der Sache freilich nur den mittlerweile als Fälle der c. i. c. behandelten Fallgruppen neue Namen gibt: 1. Fälle der Haftung für Nichtig239

 Geist des römischen Rechts I (1852), S. 26. Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen, LZ 1923, 532 ff.

240 Stoll,

III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis

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keit des Vertrages (Jhering’sche)241, 2. Fälle der Haftung für das Verhalten beim Vertragsschluss (Leonhard’sche), 3. Fälle der Haftung für das Verhalten vor Vertragsschluss (Fälle i. S. d. Linoleumrollen-Entscheidung“).242 Dabei geht es ihm weniger um die präzise Beschreibung der Fallgruppen als vielmehr um die Subsumtion aller Fälle unter einer alle Fälle verbindenden Gemeinsamkeit: „daß die Ursache für das schädigende Ereignis gesetzt wurde, bevor es zum Vertragsabschluß gekommen ist“. Die schlichte Verbindung aller Fälle findet sich also in der Ausdehnung des von F. Leonhard betonten Kausalitäsgedankens, dass das „zeitliche und sachliche prius“ vor dem Vertragsschluss liegt. Daraus folgt: es sind allesamt vorvertragliche Schädigungen. Der gemeinsame Grund der Haftung sei indes fraglich und bisher wenig geklärt. Hier setzt die Kritik Stolls an der herrschenden Lehre und Praxis an, die seiner Ansicht nach bisher keine tragende Begründung für die Haftung dargetan habe: „Fast durchweg wird nur untersucht, ob das Verhalten schuldhaft sei, ohne daß geprüft wurde, ob u. warum denn eine Pflicht für die Partei zu einem bestimmten Verhalten bestehe; das RG. insbes. beliebt, einfach auf Treu und Glauben zu verweisen.“243

Die Bemerkung ist in der Tat eine Bilanz der bisherigen Argumentation. Die neuen gefühlten vorvertraglichen Pflichten (insbesondere die Aufklärungs‑ und Untersuchungspflichten) wurden ebenso, wie dies bis auf den heutigen Tag geschieht, entweder mit dem Verweis auf das Verschulden (so überwiegend die Literatur)244 oder mit dem Hinweis auf „Treu und Glauben“ (so überwiegend 241  Für die 1. Fallgruppe („Fälle …, von denen Iher. ausgegangen ist“) zieht er ebenso wie schon zuvor Kuhlenbeck, nun aber im Fahrwasser des Reichsgerichts, eine Gesamtanalogie zu den §§ 122, 179, 307, 309 BGB: „Die einzelnen Best. sind der Analogie fähig und auszudehnen auf Fälle, in denen das Verhalten einer Partei das Zustandekommen des Vertrages verhinderte und dadurch den Gegner schädigte.“ (Stoll, LZ 1923, 533). 242  Stoll unterstellt dieser dritten Fallgruppe auch zwei weitere Fälle, die zur Veranschaulichung dienen sollen, dass hierbei der „Schaden sowohl in der Verletzung der persönlichen Unversehrtheit wie in der Beeinträchtigung des Vermögens“ liegen könne. Doch offenbart er mit den beiden Beispielen nur, dass er offensichtlich das Prinzip der Jhering’schen Fallgruppen nicht erfasst hat; denn beide Fällen gehören zu dieser. Jeweils hat eine Partei zu ihrem Nachteil auf eine rechtlich unwirksame Abrede vertraut, an die sich die andere Seite später nicht mehr gehalten hat. Aber es kam Stoll letztlich auch weniger auf eine passende Fallgruppenbildung als ihre gemeinsame Haftungsgrundlage an. 243  Stoll, LZ 1923, 532/536, Fn. 10; ausführlicher dann Sp. 540: „Die herrschende Praxis unterstellt zwar häufig ohne weiteres, daß schon vor Vertragsschluß eine bes. Rechtspflicht gegenüber dem anderen Teil bestände, begnügt sich aber damit, als Grundlage für diese Pflicht einfach auf Treu und Glauben mit Berücksichtigung der Verkehrssitte zu verweisen (…).“; vgl. hierzu dann auch Heck, Schuldrecht (1929), § 25; Kreß, Schuldrecht (1929), S. 8, 330; und Stoll selbst noch einmal 10 Jahre später im AcP 136 (1932), 257/290: „Das Verschulden aber kann immer nur in der vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung einer konkreten Pflicht bestehen (…).“ 244 Vgl. etwa: Krasser, Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen (1929), S. 31: „Anerkennung einer allgemeinen Haftung für Verschulden während der V. V.“; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 120: „Bedürfnis nach einer allgemeinen Haftung für Fahrlässigkeit“.

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die Rechtsprechung)245 postuliert. Aber, so fragt Stoll konsequent weiter, wie soll aus culpa und / ​oder Treu und Glauben246 eine Haftung begründbar sein, „solange nicht das Rechtsverhältnis nachgewiesen ist, zu dessen Auslegung allein doch die Grundsätze von Treu und Glauben Anwendung finden können?“247 Das aus dem gemeinen Recht bekannte Problem der Jhering’schen Vorstellung einer vorvertraglichen Haftung für culpa kehrt hier zurück: Ohne besonderes „Verhältnis“ – keine Haftung für culpa! Und das Gleiche galt gegen eine Haftungskonstruktion allein aufgrund der bona fides.248 Jhering hatte sich, wie gesehen, nicht zuletzt aus diesem Grund von seiner allein auf culpa basierenden Konstruktion distanziert. Und Leonhard hat u. a. aus diesem Grund am Erfordernis eines wirksamen Vertragsschlusses festgehalten und so die Tür für die Formel von „Treu und Glauben“ auch schon im vorvertraglichen Bereich aufgestoßen. Stoll kritisiert nun mit Siber und Levy die bis zur Weinsteinsäure-Entscheidung herrschende Leonhard’sche (Ziel‑)Vertragstheorie und konstruiert das fehlende abstrakte Verhältnis stattdessen aus den in einzelnen Verhältnissen bestehenden und mittlerweile als solche nicht mehr in Zweifel stehenden vorvertraglichen Pflichten (§§ 122, 179, 307, 309, 694, 523, 524, 663, 675, 149, 676 BGB; 362, 363 HGB; 6, 16 VVG); kurz: mittels Gesamtanalogie und scheinbar zwingender Logik: „Entweder gibt es besondere Rechtspflichten gegenüber dem anderen Teil schon vor Vertragsabschluß – dann müssen sie auch ohne ihn gelten, oder aber entstehen diese Rechtspflichten erst durch den Vertragsabschluß – dann können sie auch nicht vor, sondern erst mit diesem wirksam werden.“249

In ausdrücklicher Anlehnung an den „richtigen Weg“, den v. Thur gewiesen habe, qualifiziert Stoll das rechtsgeschäftliche „Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen“ sogleich als „Schuldverhältnis“: „… denn es verpflichtet die Parteien gegenseitig zu Handlungen und Unterlassungen. Es kommt durch einseitiges Rechtsgeschäft zustande, durch das Vertragsangebot oder durch die Aufforderung zum Eintritt in die VV.“250

Die dann im Folgenden einsetzende geistreiche dogmatische Debatte zu der Frage, ob denn das vorvertragliche Schuldverhältnis tatsächlich ein rechtsgeschäftliches oder doch eher ein ungeschrieben gesetzliches sei, lässt sich leicht aus den extremen Polen ermessen, die von Stoll hier mit seiner kurzen Formel ausgeklammert werden: Auf der einen Seite nämlich stellt sich die Frage, wie  Nachweise wie oben II.2.b.  Zum Zusammenhang zwischen vertraglichen Pflichten aus Treu und Glauben (§ 242) und der Haftung für „kontraktliche culpa“, vgl. die Redaktionsgeschichte zu § 276 BGB; oben II.1. 247  Stoll, LZ 1923, 532/540. 248  Vgl. schon Köppen, Der obligatorische Vertrag unter Abwesenden, JhJb 11 (1871), 139/274: „Die Haftung für bona fides setzt wie jede andere Verbindlichkeit die Existenz einer Obligation zu ihrer Begründung voraus.“ 249  Stoll, LZ 1923, 532/543. 250 Stoll, LZ 1923, 532/544. 245 246

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Stoll den Linoleumrollen-Fall (und mithin seine 3. Fallgruppe) unter dieses Schuldverhältnis bringen will. Er postuliert ein „einseitiges Rechtsgeschäft“, ohne dass er tatsächlich ein Rechtsgeschäft verlangt; denn, anders als noch die originäre Auffassung bei v. Thur, sei eine „besondere Willenserklärung“ nun doch nicht erforderlich, sondern es genüge „die reine Tatsache des Eintritts in die Vertragsverhandlungen“.251 Hier trifft sich Stoll also mit der Vertragsfiktion Sibers252 und weist bereits den Weg in Richtung „faktische Vertragsverhältnisse“, die später Günther Haupt einflussreich behaupten wird253. Auf der anderen Seite bleibt recht unerfindlich, wie denn ein „rechtsgeschäftliches“ Schuldverhältnis anders als durch Vertrag entstehen können soll; denn zumindest das Axiom des § 305 BGB a.F (jetzt § 311 Abs. 1) stand noch zu Stolls Zeiten dogmatisch unangefochten: nicht die Offerte, sondern erst ihre Annahme erzeugt ein Schuldverhältnis.254 Von diesem Zweifel führt ein gerader Weg zur These von einem „gesetzlichen Schuldverhältnis“ mit oder ohne Berufung auf Gewohnheitsrecht. Stoll selbst ist die dogmatische Schwäche seiner Konstruktion (rechtsgeschäftliches Schuldverhältnis ohne Rechtsgeschäft) vermutlich nicht entgangen. Die methodologisch unhaltbare Gesamtanalogie zu gesetzlich geregelten vorvertraglichen Zurechnungsnormen war nicht neu. Neu war nur die radikale logische „Consequenz“, die er hieraus zu ziehen gewillt war, nämlich die Existenz eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses. Das Ergebnis liefert aber nicht zugleich auch die Begründung. Und so trägt Stoll noch eine metaphysische Begründung zum Wesen des Schuldverhältnisses als „Organismus“ vor, die ihrerseits zur Beantwortung der dogmatischen Zweifelsfragen freilich gar nichts beiträgt:255 Das Schuldverhältnis könne, so Stoll, als „Organismus“ seine „Erscheinungsform beliebig wechseln“. Es entstehe, „sobald zwischen den Parteien ein Rechtsverhältnis mit Unterlassungs‑ und Handlungspflichten begründet sei“, es ändere „nur seine Erscheinungsform“, wenn es zum Vertragsschluss kommt, ja es könne „etwa im Falle einer Wandlung auch diese Erscheinungsform wieder aufgeben 251 Stoll, JW 1928, 1285; in JW 1933, 34/36 spricht Stoll dann von dem „Augenblick“, in dem jemand „in Verhandlungsabsicht“ an einen anderen „herantritt“ und präzisiert das mit dem Hinweis: „… also ein Vertragsangebot macht oder auch nur zu erkennen gibt, daß er in Vertragsverhandlungen einzutreten wünscht, d. h. zum Eintritt in die Verhandlungen auffordert.“ 252 Planck / ​Siber (1914), Vor §§ 275 ff. I 4; ähnlich Schönwald, Verschulden beim Vertragsschluß (1925), S. 28: „… in allen Vertragsverhandlungen“ liege „die Abschließung eines vertraglichen vorbereitenden Schuldverhältnisses.“ 253 Haupt, Über faktische Vertragsverhältnisse (1941). 254  Oertmann, Recht der Schuldverhältnisse (1910); Enneccerus, Schuldverhältnisse (6.– 8. Aufl. 1912; 1923), § 250 II 2; kritisch auch Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 91: „Unterstellt man die Rechtsgeschäftsnatur des Verhandlungseintritts als richtig, so bleibt unerklärlich, wieso das einseitige Rechtsgeschäft – entgegen der Regel des § 305 – das Schuldverhältnis der Vertragsverhandlungen begründen kann.“ 255 Der Begriff des Schuldverhältnisses als Organismus gehört  – wenn überhaupt  – in die Lehre von der Inhaltsänderung eines Schuldverhältnisses, nicht aber zur Lehre von dessen Begründung. Zutreffend hierzu schon Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/283 ff.

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u. uns in Gestalt eines Auflösungsverhältnisses entgegentreten. Aber immer wechselt nur die Erscheinungsform des Schuldverhältnisses, der schuldrechtliche Organismus bleibt stets der gleiche. Die bisherige äußere Gestalt des Schuldverhältnisses wird beendet, sein Inhalt wird verwandelt, aber nicht das bisherige Rechtsverhältnis vernichtet.“256 Diese Ausführungen referieren die seinerzeit noch immer durchaus präsente, maßgeblich von Savigny begründete Theorie von der organischen Natur der Rechtsverhältnisse,257 geben aber keinen Aufschluss darüber, wann und warum unabhängig von einem Vertrag (§ 305 a. F. BGB, jetzt § 311 Abs. 1) ein (Rechts) Verhältnis zu einem quasideliktischen Schuldverhältnis jenseits des Deliktsrechts wird. Bei Savigny und in der gesamten gemeinrechtlichen Lehre ist dazu auch nichts zu finden. Während die gemeinrechtliche Lehre von der organischen Natur des Rechtsverhältnisses doch zunächst die Begründung dieses Rechtsverhältnisses, im Schuldrecht als Schuldverhältnis aus Vertrag oder Delikt voraussetzt, erklärt Stoll an keiner Stelle, wie ein dritter Begründungstatbestand aus der Natur eines Rechtsverhältnisses folgen könnte, das noch gar nicht existiert. Dies ist aber auch gar nicht seine Intention; denn er hat die Begründung, wie gesehen, bereits zu Beginn seiner Überlegungen mit der Gleichsetzung von „Rechtsverhältnis“ = „Schuldverhältnis“ einfach unterstellt. Die Zirkularität seiner Argumentation wird damit offenkundig: Sein vorvertragliches Schuldverhältnis entsteht, „sobald zwischen den Parteien ein Rechtsverhältnis … begründet ist“. Der metaphysische Exkurs zur „organischen Natur“ und den Metamorphosen der Rechtsverhältnisse ist (anders als bei den Vertretern der historischen Schule) bei Heinrich Stoll, gelinde gesagt, vor allem metaphysischer Hokuspokus, der das offensichtliche logische Begründungsdefizit seines doch ausschließlich logisch konstruierten Schuldverhältnisses letztlich nur verschleiert.258 Man fragt sich, wie diese Theorie einen so enormen Einfluss auf die weitere Rechtsentwicklung nehmen konnte. Die Antwort ist nicht ganz so mystisch, wenn man die Lehre des Freirechts und die ganze Entwicklung seit dem Inkrafttreten des BGB noch einmal in Erinnerung ruft: Maßgeblich ist das gewollte Ergebnis. Es war dann auch immerhin die Autorität des Reichsgerichts, das gerade mit seiner Abneigung gegen die moderne Telekommunikation die Leonhard’schen Restriktionen einfach beiseitegeschoben hatte. Stoll hat für die positiv vorliegen256 Stoll,

LZ 1923, 532/544 f.  Savigny, System I (1840), § 4, S. 7: „Das Rechtsverhältnis aber hat eine organische Natur (…).“ 258 Zutreffend schon Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 26: „Stoll zieht hiermit Gesichtspunkte heran, die doch wohl außerhalb des Problems liegen, und es dürfte bedenklich sein, aus ihnen die rechtliche Begründung für c. i. c. herleiten zu wollen.“; ebenso dann immerhin auch noch Larenz, Entwicklungstendenzen der heutigen Zivilrechtsdogmatik, JZ 1962, 105/109: „Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß … die Haftung für sogen. culpa in contrahendo … konstruktiv, in der Weise der Begriffsjurisprudenz, aus dem als ‚Organismus‘ oder Gefüge verstandenen Strukturbegriff des Schuldverhältnisses abzuleiten wäre.“ 257

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den Judikate des Reichsgerichts lediglich den theoretischen Überbau geliefert, und seine Argumentation war auf den ersten Blick nicht evident unplausibel: Die Beschränkung einer vorvertraglichen Haftung durch einen Vertrag wurde mit dem Gedanken von einem vorvertraglichen Schuldverhältnis theoretisch verabschiedet, ohne dabei den bereits ergangenen Judikaten ihre dogmatische Grundlage zu entziehen. Nur wer auch an der Berechtigung dieser Judikate (jedenfalls in der Begründung mittels c. i. c.), und mithin bereits an der Leonhard’schen Theorie ernsthaft zweifelte, nur der konnte nun auch noch an diese nächste Stufe abstrakter Konstruktion, bei dem ein aus dem Nichts gekürtes Rechtsverhältnis zu einem Schuldverhältnis avanciert, etwas kritischer herantreten. So jemanden gab es allerdings in der Weimarer Republik kaum noch. Publizistisch ausdrücklich kritisch bereits gegen die Konstruktion Leonhards und die ihm folgende Rechtsprechung des Reichsgerichts war im Grundsatz zuletzt nur noch der Gerichtsrat Geppert hervorgetreten. Sein Beitrag zur „Fahrlässigkeit beim Vertragsschluss“,259 so treffend die Argumentation in Anlage und Ausführung auch ist, erscheint aber jedenfalls im Jahr 1928 aus einem vergangenen Jahrzehnt zu stammen. Die Rechtsentwicklung war dem Aufsatz um Jahre voraus; weder die Weinsteinsäure-Entscheidung noch die Theorie Stolls werden überhaupt berücksichtigt, und so ist es nicht verwunderlich, wenn Gepperts kritische Sicht letztlich keinen Einfluss mehr auf die weitere Entwicklung genommen hat. Der Zug der Zeit war über ihn hinweggerollt. Die Existenz einer wieder erstandenen Haftung für culpa in contrahendo stand in der Weimarer Zeit nicht mehr ernsthaft in Frage.260 Zum Verständnis dieser Entwicklung darf dann sicher auch der allgemeine historische Kontext nicht ganz außer Betracht bleiben. Man hatte mittlerweile erfahren, dass ganz andere Grunddaten des Lebens keinen Bestand hatten. Ein Weltkrieg von nie dagewesenen Ausmaßen hatte den europäischen Kontinent zerrüttet, das deutsche Kaiserreich lag (geistig, wirtschaftlich und juristisch) in Trümmern. Antagonistische Weltanschauungen rangen auf der Straße blutig um ihre Verwirklichung. Lieder der Revolution und der Konterrevolution vertrieben die Gedanken an eine beständige und sichere Ordnung. Auf den Straßen herrschte der Terror. Nichts hatte Bestand  – warum die Gesetze und Wertungen einer vergangenen Zeit? „Die wüste Dekade von 1914 bis 1923 hatte allen Halt und alle Tradition weggeschwemmt … Die meisten fanden sich danach als haltlose Zyniker wieder.“261 In einer Phase, in welcher der Glaube an alle Sicherheit und Verbindlichkeit verloren geht, wo mit Notverordnungen regiert wird und auch  Gruchot 69 (1928), 529 ff.  So bleibt allein die Fallgruppenkritik bei Titze, DJZ 1925, 490; ders., Verschulden bei Vertragsschluß, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft (1929), S. 516 ff.; ders., JW 1931, 512, der aber die Konsequenzen seiner Kritik nicht zieht und die Konstruktion der c. i. c. als solche nicht explizit in Frage stellt. 261 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen (dtv 2000), S. 78. 259 260

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das Geld von einem zum anderen Tag keinen Wert mehr hat, in so einer Zeit mag man auch an Rechtsgeschäfte ohne Rechtsgeschäft glauben. Zudem zerbrachen nicht nur alte, für immer heilig gehaltene Werte, war nicht nur politisch und wirtschaftlich alles im Fluss, sondern es gab auch einen Generationenwechsel in der Rechtsgelehrsamkeit und im Richterstand.262 Die letzte Juristengeneration, die ihre Ausbildung noch in der formalen Strenge des gemeinen Rechts erhalten hatte, trat in den Hintergrund, der Glaube an tradierte Wahrheiten und historische Kontinuitäten ging verloren in einer Zeit der Revolutionen. Rechtsgeschichte und Römisches Recht, bis eben noch die Kronfächer an jeder Juristischen Fakultät, gerieten in eine grundlegende Bedeutungskrise,263 von der sie sich bis heute nicht wirklich erholt haben.264 Die Anerkennung und Fortentwicklung der culpa in contrahendo oblag einer neuen politischen Kraft, die aus den Wirren der 1920er Jahre eine neue Ordnung zu entwerfen sich gerade erst anschickte: „Rechtserneuerung“ aus einem neuen mystisch nationalen Gemeinschafts‑ und Ordnungsdenken.265 Heinrich Stoll (1891–1937) war zum Zeitpunkt, da er seine Abstraktionen zur c. i. c. veröffentlichte, ein 32jähriger Privatdozent. Von diesem gedanklichen Fundament aus wurde er zum geistigen Urvater eines revolutionierten neuen Schuldrechts: zunächst in der Vorstellung von Schutzpflichten und einem umfassenden Schutzpflichtverhältnis (1932),266 sodann bei dem Entwurf gebliebenen Gerüst eines Volksgesetzbuches (1936),267 schließlich in der finalen Umsetzung dieses Entwurfes in einer „Schuldrechtsmodernisierung“ (2001)268. Knapp 80 Jahre nach Heinrich Stolls These von der Existenz eines „vorvertraglichen Schuldverhältnisses“ wurde dieses schließlich auch gesetzlich festgeschrieben: Eine lange  Zu Begriff und Rolle der „Generation“ für den historischen Wandel grundlegend: Mannheim, Das Problem der Generation (1928), 157/168: „Das Problem der Generation ist ein ernst zu nehmendes und wichtiges Problem. Bei der Erkenntnis des Aufbaues der sozialen und geistigen Bewegungen ist es einer der unerläßlichen Führer. Seine praktische Bedeutung wird unmittelbar ersichtlich, sobald es sich um das genauere Verständnis der beschleunigten Umwälzungserscheinungen der unmittelbaren Gegenwart handelt.“ 263  Vgl. die Bestandsaufnahme bereits bei Hedemann, Fortschritte des Zivilrechts im XIX Jahrhundert (1910), Vorwort: „Dieses Werk … ist aus der Erkenntnis erwachsen, daß dem modernen bürgerlichen Recht die historische Grundlage verloren gegangen ist … Die romanistische Doktrin, die jahrzehntelang als solche Grundlage gedient hat, droht vor unseren Augen abzusterben (…).“ 264 Zuletzt deutlich: Zimmermann, Europa und das römische Recht, AcP 202 (2002), 243/246: „Das römische Recht hat sich weithin zu einer altertumswissenschaftlichen Spezialdisziplin, die Rechtsgeschichte zu einem Teilgebiet der allgemeinen Geschichte entwickelt. Gleichzeitig hörte die Rechtswissenschaft auf, historische Rechtswissenschaft zu sein.“; ausf. auch Benedict, Savigny ist tot!, JZ 2011, 1073 ff. 265  Sogleich unten § 6 II.2. 266 Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257 ff.; hierzu sogleich unten § 6 I.1. 267  Grundlegend: Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936); zur Würdigung vgl. auch Sessler, Lehre von den Leistungsstörungen (1994); eingehend hierzu unten § 6 I.2., II. 268 Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts v. 26. November 2001; hierzu unten § 8. 262

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Schuldrechtsreform, die mit der abstrakten Aufblähung der c. i. c. ihren zentralen dogmatischen Baustein erhielt. Kurz: Nach Franz Leonhards neuartiger Grundlegung der c. i. c. als „Verschulden beim Vertragsschlusse“ und ihrer Konfirmation, Adelung und Ausdehnung durch ihre Rezeption in der Rechtsprechung des Reichsgerichts hatte Heinrich Stoll mit dem Gedanken von einem vorvertraglichen Schuldverhältnis das abstrakte begriffliche Fundament gelegt, auf dem die ganze weitere Entwicklung weiter aufbauen konnte. Wie porös und brüchig dieses Fundament auch immer war, an Stolls Theorie kam nun keiner mehr vorbei. Seine Lehre wurde weniger kritisiert denn zelebriert.269 An der Existenz eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses wurde fortan kaum noch gezweifelt, auch wenn das Unbehagen, es könne ein quasivertragliches Schuldverhältnis ohne (primäre) Leistungspflichten geben, sich noch eine Weile hielt.270 Alle Skepsis und Zweifel an dieser dogmatischen Konstruktion werden beruhigt, wenn bis heute stattdessen von einer „Sonderverbindung“ gesprochen wird.271 Andreas v. Thur hat sich noch im selben Jahr als eigentlicher Begründer der Lehre in Erinnerung gebracht und die Auffassung, „nach welcher bereits vor dem Vertragsschluß durch den Beginn der Verhandlungen zwischen den Parteien ein Rechtsverhältnis mit ‚vorvertraglichen‘ Verpflichtungen entsteht“, prägnant und gleichsam als Credo der fortan herrschenden Anschauung wie folgt zusammengefasst: „Diese Auffassung beruht auf einer m. E. richtigen Verallgemeinerung von Vorschriften, welche das Gesetz für einige Fälle der culpa in contrahendo aufgestellt hat. So hat nach § 524 I, 600, 694 der Schenker, Verleiher oder Hinterleger den durch Mängel der Sache angerichteten Schaden nicht deswegen zu ersetzen, weil er den Vertrag nicht erfüllt, sondern weil er vor oder bei Abschluß des Vertrags ein Verschulden begangen hat. Ebenso nach § 307 der Kontrahent, welcher bei Abschluß des Vertrags die Unmöglichkeit der Leistung kannte oder kennen musste. Diese Einzelvorschriften des Gesetzes finden ihre gemeinsame Grundlage und ihre Erklärung darin, daß die Parteien schon mit Beginn der Verhandlungen einander nicht mehr als ganz fremde Personen gegenüberstehen, für welche nur das Deliktsrecht gelten würde, sondern in ein Rechtsverhältnis eintreten, 269 Exemplarisch etwa: Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), der den Gehalt der Konstruktion einerseits zwar kritisiert, andererseits aber doch konstatiert (S. 25): Stoll habe die „Lehre von der Haftung für Verschulden bei Vertragsschluß auf den Höhepunkt und zur wissenschaftlichen Vollendung gebracht“; im Grundsatz eher kritisch Oertmann, AcP 121 (1923), 122/127 aber doch mit dem Zusatz: „Ich will gewiß nicht bestreiten, daß das ein sehr beachtenswerter rechtspolitischer Gedanke sei, der vielleicht noch eine große Zukunft hat, jedenfalls der vollen Aufmerksamkeit würdig ist.“; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931): spricht trotz seiner dogmatischen Einwände von einer „großzügig angelegten Gedankenführung“ und einem „erheblichen Fortschritt“. Larenz zählt Stoll bekanntlich zu den „Entdeckern“ (Methodenlehre, 1991, S. 423). 270 Etwa: R. Raiser, AcP 127 (1927), 1/23: „Von einer Konstanz des Schuldverhältnisses kann … keine Rede sein, und es ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil es bringen mag, von einem ‚Schuldverhältnis‘ zu reden (…).“ 271 Dazu sogleich unten 3.c).

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vermöge dessen sie gewisse Rücksichten aufeinander zu nehmen haben. … Der Verstoß gegen solche Pflichten ist nicht als unerlaubte Handlung zu beurteilen, sondern als Verletzung eines bereits bestehenden, wenn auch nicht durch Vertrag begründeten, Rechtsverhältnisses. Daher haften die Parteien nicht wie nach § 826 nur für Vorsatz, sondern auch für Fahrlässigkeit; daher unterliegt der Schadensersatz aus culpa in contrahendo … nicht der kurzen Verjährung; daher richtet sich die Haftung für Verschulden Dritter bei den Vertragsverhandlungen nach § 278 … Diese Behandlung der culpa in contrahendo muß m. E. nicht nur Platz greifen, wenn der Vertrag zum Abschluß kommt, sondern auch wenn er durch das Verschulden der einen Partei scheitert. Denn wenn man annimmt, daß die Parteien schon durch die Verhandlungen in ein Rechtsverhältnis treten, so kann es für die Verletzung der aus diesem Rechtsverhältnis sich ergebenden Pflichten nicht darauf ankommen, ob das Ziel der Verhandlungen erreicht wird oder nicht.“272

Ein neues Schuldverhältnis, in dem nunmehr für jede culpa gehaftet wird, tritt an die Seite / ​Stelle des der deliktischen Haftung: Verschulden bei Vertragsverhandlungen. Sein dogmatischer Grund liegt 1. im „Cultus“ der abstrahierenden Logik einer Gesamtanalogie und 2. in der Erkenntnis vermeintlicher Unlogik, vorvertragliche Pflichten an einen Vertrag binden zu wollen. 3. Probleme: Ein Schuldverhältnis aus Logik? „Für den Schulgebrauch ist es ganz bequem, statt der ausführlichen Darlegung der Verhältnisse oder der praktischen Gründe, denen ein Rechtssatz wirklich seinen Ursprung verdankt, einen Gesichtspunkt auszudenken, dem er sich als logische Consequenz unterordnet, er gewinnt damit einen gewissen Nimbus und prägt sich leichter im Gedächtnis ein (…).“ Rudolf v. Jhering, 1865273

a) Begriffe und Anschauung: Das Wesen der Rechtsverhältnisse „Das Recht nämlich hat kein Daseyn für sich, sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst, von einer besondern Seite angesehen. Wenn sich nun die Wissenschaft des Rechts von diesem ihrem Objecte ablöst, so wird die wissenschaftliche Thätigkeit ihren einseitigen Weg fortgehen können, ohne von einer entsprechenden Anschauung der Rechtsverhältnisse selbst begleitet zu seyn; die Wissenschaft wird alsdann einen hohen Grad formeller Ausbildung erlangen können, und doch alle eigentliche Realität entbehren.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1814274

Das methodologische Hauptproblem der neuen Argumentation kann für alle, die mit Savigny einer historischen Genese der Rechtserkenntnis anhängen, nicht zweifelhaft sein: Ein Rechtsverhältnis ergibt sich aus der Anschauung des jeweiligen (sozialen) Verhältnisses, nicht aber aus logischer Abstraktion. Insoweit  Thur, Schadensersatz bei Dissens, AcP 121 (1923), 359/360 f.  Geist des römischen Rechts III (1865), § 59, S. 303. 274 Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 30. 272 273

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war Savigny mit ganzem Herzen Kantianer, als er aus der „Kritik der reinen Vernunft“ die Quelle aller Erkenntnis und aus Kants Rechtslehre jedenfalls den Rechtsbegriff übernommen hat, der dann ja nicht zufällig genau mit einem Hinweis auf das „Verhältnis“ anhebt.275 Hier lag das philosophische Credo der historischen Rechtsschule: „Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus. … Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“276 Die Quintessenz von beidem findet sich in Savignys grundlegenden Ausführungen im 1. Band seines Systems zum Begriff des Rechtsverhältnisses als der maßgeblichen Rechtsquelle schlechthin: „… das Wesen der Sache … finden wir in dem Rechtsverhältniß, von welchem jedes einzelne Recht nur eine besondere, durch Abstraction ausgeschiedene Seite darstellt, so daß selbst das Urtheil über das einzelne Recht nur insofern wahr und überzeugend seyn kann, als es von der Gesammtanschauung des Rechtsverhältnisses ausgeht.“277

Wir sind hier also an einem ganz wesentlichen Punkt – und zwar nicht nur bei der Begründung der culpa in contrahendo als umfassendem Haftungsinstitut –, sondern einem zentralen Punkt für die Rechtsfindung ganz allgemein. Es geht um eben die grundlegende Fragestellung, der Jhering zeitlebens nachsann: die Frage nach der letzten Rechtsquelle. Ist es die Logik mit ihrer Konstruktion der positiven Rechtssätze, sind es die Rechtsbegriffe, die sich „paaren“ und „vermehren“ und mit denen man „rechnen“ kann, ist es das Rechtsgefühl, ist es der Volksgeist oder ist es die Anschauung der Verhältnisse des wirklichen Lebens? Eben hier zeigt sich nun auch, wie eng im Ausgangspunkt Savigny und Jhering, aber auch die historische und soziologische Rechtsschule beieinander waren. Das Rechtsverhältnis als empirisches soziales Verhältnis war der Ausgangspunkt der historischen Rechtsschule: Nur und erst die Anschauung des konkreten Verhältnisses ermöglicht ein „wahres“ und „überzeugendes“ Urteil über das einzelne subjektive Recht. Es konnte wohl kaum einen schwerwiegenderen Irrtum über das eigentliche Wesen der „historischen Rechtsschule“ geben als den, sie als vergangenheitsbezogenen romantischen Historizismus abzutun und Savigny gar als „Vater der Begriffsjurisprudenz“ zu diskreditieren.278 Das Gegenteil ist 275  Kant, Rechtslehre (1794) § B: „Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, … betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können.“ 276 Kant in seiner Einleitung zur „transzentalen Logik“: Kritik der reinen Vernunft (1881), S. 52. 277  Savigny, System I (1840), § 4, S. 7. 278 Nachhaltig war insoweit das Urteil von Kantorowicz, Was ist uns Savigny?, RuW 1 (1911), 47/78; vgl. auch S. 48: „Savigny hat sich mit Philosophie und Rechtsphilosophie in einem für sein Zeitalter ungewöhnlich geringen Maße befaßt“; und (S. 50) es lag „an seiner unphilosophischen Art“, die „ihm gerade in den großen grundsätzlichen Fragen eine eigne Meinung nicht“

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der Fall. „Historisch“ war ganz und gar kantisch und in der Sprachbedeutung der Zeit, im Sinne von „empirisch“, gemeint: „Die historische Erkenntnis ist cognitio ex datis, die rationale aber cognitio ex principiis.“279 Der angebliche „Quellenkultus“ war eine Folge des historischen Ausgangspunktes, nicht, weil die Quellen in der Vergangenheit lagen, sondern weil in ihnen u. a. auch die Fülle der Anschauung denkbarer Rechtsverhältnisse vermutet wurde.280 Kurz: Der Blick auf die Lebenswirklichkeit des jeweiligen (Rechts)Verhältnisses liefert die notwendige Anschauung, um die jeweiligen Rechte und Pflichten dieses Verhältnisses erkennen zu können. Das ist der methodologische Kern der „historischen“ Rechtsschule, den man sowohl in Savignys Marburger Methodenlehre, seiner Berufsschrift, wie auch im ersten Band seines Systems ausgeführt findet. Dementsprechend findet sich der Idealtypus eines Rechtswissenschaftlers bei ihm wie folgt beschrieben: „Dann wäre der vollendete Theoretiker derjenige, dessen Theorie durch die vollständige, durchgeführte Anschauung des gesammten Rechtsverkehrs belebt würde; alle sittlich religiösen, politischen, staatswirthschaftlichen Beziehungen des wirklichen Lebens müssten ihm dabey vor Augen stehen.“281

Das, was die Freirechtler für die Persönlichkeit des Richters forderten, war für die historische Schule der Idealtypus des Rechtswissenschaftlers. Es ist daher der „Triumph der historischen Forschung, wenn es gelingt, das Erforschte, wie etwas Miterlebtes, zu einfacher unmittelbarer Anschauung zu bringen, und gerade dann haben sich beide Ansichten, die geschichtliche und die praktische, völlig durchdrungen“. Wer ist hier nicht sogleich an Rudolf v. Jhering und seinen „Geist des römischen Rechts“, seinen „Kampf“ und seinen „Zweck im Recht“ erinnert? Überall nimmt das Rechtsverhältnis bei ihm szenarischen Charakter gestattete, dass er den „Anschauungen seines Milieus“ nicht entgehen konnte. Und dieses Milieu war die Romantik, die lehrte: „Die Welt sei kein System, sondern Geschichte … Demgemäß ließ die Romantik neben der geschichtlichen Betrachtung … nur die geschichtsphilosophische Betrachtung der Welt gelten. Die für die Jurisprudenz wichtigeren Zweige der Philosophie: Logik, Ethik, Erkenntnistheorie traten ganz in den Hintergrund; die soziologischen, die rechtsdogmatischen, z. T. auch die politischen Gesichtspunkte lagen den Romantikern vollends fern. Damit haben wir die Erklärung dafür gewonnen, daß Savigny das Recht, statt mit den Augen des Juristen, mit den Augen des Historikers … ansah, und können mit dieser Formel als Schlüssel sowohl die … Grundlehren der historischen Rechtsschule als auch ihr tatsächliches Verhalten erklären.“ Ausf. Benedict, Savigny ist tot, JZ 2011, 1073. 279  Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), S. 836; zutreffend auch Mazzacane, Savigny Methodologie (1993), S. 31: „Alles Wissen von einem objectiv Gegebenen nennt man historisches Wissen.“ 280  Vgl. etwa das Vorwort bei Cohnfeldt, Lehre vom Interesse (1865): „Das Römische Recht ist darin groß, an den Rechtsverhältnissen die juristisch wichtigen Seiten herauszufinden, und in den einzelnen Beziehungen das der Natur der Sache nach Richtige zu treffen. … Nur die vollste Beherrschung des Materials kann uns in den Stand setzen, den Forderungen des Verkehrs ausreichend zu begegnen.“ 281 Savigny, System I (1840), Vorrede, XXI ff.

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und geradezu physische Anschaulichkeit an.282 Nichts erscheint unrichtiger, als nun ausgerechnet auch (den „frühen“) Jhering und seine „naturhistorische Methode“ als Begriffsjurisprudenz zu bezeichnen, nur um dann im Anschluss an die These von Kantorowicz eine „tiefe Zäsur“ zu fortschrittlicher Billigkeitsjurisprudenz und einen Fortschritt in der Rechtsmethodologie konstatieren zu können.283 Es ist genau das, was uns schon der „frühe“ Jhering mitgeteilt hat, auch heute und gerade für das hier interessierende Phänomen anschauungsloser abstrakter Konstruktionen noch von besonderer Bedeutung: „Der Richtung aber auf das Höchste soll nur der sich hier berühmen, der das Kleinste schätzt und achtet, und wer nicht im Kleinsten sucht und forscht, wird auch nie das, was er sucht, finden … Wer sich nicht mit vollem Ernst, mit ganzer Liebe und Hingebung in den Stoff versenkt, wer sich nicht mit seinem ganzen Fühlen und Denken in die Zeit hineinlebt, wird die Geister der Vergangenheit nicht beschwören. Ihm werden nur die Ausgeburten seiner eigenen Phantasie erscheinen.“284

Es ist der Begriff der „naturhistorischen Methode“ selbst, in dem die Verknüpfung von Anschauung und Konstruktion, vom Detail zur Gesamtschau, bereits begrifflich zum Ausdruck gebracht ist. Was bietet uns demgegenüber die Rechtswissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Leonhard bis Stoll: neuerlich den „Cultus des Logischen“. Die Ironie könnte größer kaum sein. Als Ziel der methodologischen Rechtserneuerung war die Anschauung des Lebens gegen den Formalismus der Begriffe gepriesen worden. In der Dogmatik der Lückenfüllung von Staub bis Stoll wird der Rechtsstoff jedoch nicht aus der Anschauung der Verhältnisse, sondern aus Entdeckerdrang, logischer Konstruktion und Rechtsempfinden entnommen: „Die treibende, die veranlassende Kraft aller dieser Versuche ist das Empfinden, daß die Haftung deren theoretische Begründung man versucht, praktisch unentbehrlich sei, die Ueberzeugung, daß es billig sei, in diesem oder jenem Umfange eine Haftung über die gesetzlichen Fälle hinaus zu gewähren.“285 Die Frage nach einer Haftung wird nicht induktiv durch Anschauung und Analyse des jeweiligen Rechtsverhältnisses, nicht aus den Details des Lebens, sondern aus dem Prinzip und durch die aus zwingender Logik gebotene Konstruktion eines abstrakten Gebildes ein für alle Mal unterstellt. Hier liegt ein ganz grundsätzlicher Wandel im Methodenverständnis der Rechtswissenschaft: Man überlässt die Anschauung von den Verhältnissen den Soziologen oder der Rechtsprechung im Einzelfall 282  Besonders deutlich wird seine diesbezügliche Verfahrensweise mitgeteilt in den „Plaudereien eines Romanisten“, in: Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1912), S. 121 ff. 283  Vgl. hierzu nur Larenz, Methodenlehre (1991), S. 24 ff.: „… während er in der ersten Periode seines Schaffens, vor allem im ‚Geist des römischen Rechts‘ und im Einleitungsaufsatz von ‚Jherings Jahrbüchern‘, die formale Begriffs‑ und Konstruktionsjurisprudenz Puchta’s nicht nur bejaht, sondern sogar auf die Spitze treibt (…).“ Zum Problem dieser These bereits oben § 1 II.1. 284  Jhering, Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1/6. 285 Krasser, Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen (1929), S. 45.

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und beschränkt sich auf die logische Verallgemeinerung der in den Judikaten enthaltenen Rechtserkenntnisse. b) Abstraktion: Oder der „Cultus des Logischen“ „Das ist aber allerdings das Missliche dieser Methode, daß sich die Seichtigkeit und Arbeitsscheu in einem ganz andern Maße in ihr versuchen werden, als sie dies bei der receptiven Methode wagen konnten. Sie hat einen so verführerischen Reiz, diese Geister-Beschwörung, und sie erscheint für jeden, der an schwerer Arbeit keinen Gefallen findet, so geeignet, um ohne Studien, Kenntnisse und Anstrengung zur literarischen Production zu gelangen, daß es mich Wunder nehmen sollte, … wenn nicht dieser Zweig der Wissenschaft der Ablagerungsplatz der schlechtesten Literatur werden sollte, wie denn bereits schon jetzt in dieser Beziehung ein vielversprechender Anfang gemacht ist.“ Rudolf v. Jhering, 1857286

Um etwas konkreter zu werden: Jhering hat in seinem „Schuldmoment“ gezeigt, wie der Gedanke des subjektiven Unrechts von den römischen Juristen in den einzelnen Rechtsverhältnissen (Kauf, Miete, Leihe, Auftrag usw.) differenziert – eben entsprechend der Anschauung des jeweiligen Verhältnisses – positiven und ausgewogenen Ausdruck gefunden hat. Wir haben das bereits für den dolus und hier insbesondere auch für die Wertung des Gewährleistungsrechts und des § 463 BGB a. F. etwas genauer zu betrachten versucht:287 Unter dem Gesichtspunkt gegenläufiger Interessen und beiderseitiger Sorgfältigkeit in jedem Austauschvertrag ist das Modell des caveat emptor das idealtypische Ausgangsmodell. Unter Kaufleuten ist dieser Grundsatz bis heute Gesetz (§ 377 HGB), und das Reichsgericht hat diesen Ausgangspunkt noch unter Geltung des BGB deutlich herausgestellt: „Denn der Verkäufer einer individuell bestimmten Ware ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die Ware auf ihre Tauglichkeit für den ihm bekannten Verwendungszweck näher zu prüfen, vielmehr ist diese Prüfung grundsätzlich Sache des Käufers.“288 Die Gewährleistungsrechte, Wandelung und Minderung sind objektive Ausprägungen, um den dolus des Verkäufers zu unterbinden und dem Käufer sein Äquivalenzinteresse zu garantieren: dass eine Ware auch ihren angemessenen Preis hat. Eine Schadensersatzhaftung für Mangelfolgeschäden (§ 463 BGB a. F.) schützt demgegenüber primär das Integritätsinteresse des Käufers, und hier muss es nach der allgemeinen Regel (caveat emptor) grundsätzlich beim dolus bleiben, weil anderenfalls ein Verschuldens-Patt (Culpacompensation) entsteht. Wenn jetzt Leonhard entgegen der bisherigen Anschauung den Verkäufer wegen culpa haften lassen und dem Verkäufer insoweit entsprechende Untersuchungspflichten auferlegen will, so ist das eine interessante These, die nur eine Frage nicht mehr berücksichtigt:  Jhering, Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1/7.  Oben § 2 II.3.b), III.2. 288 Urt. v. 27. Mai 1910 – II 409/09, JW 1910, 748 (Schlingenriss-Fall). 286 287

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Warum diese Untersuchungspflicht den Käufer nicht zumindest ebenso treffen soll. Wenn der Käufer „wurmstichiger Äpfel“ (um bei einem seit Staub immer wieder diskutierten Fallbeispiel zu bleiben)289 später den Schaden an seinen eigenen Äpfeln ersetzt verlangt, weil diese auch Würmer bekommen haben, so mag man hier wegen des dolus-Erfordernisses bei § 463 a. F. BGB eine „Lücke“, eine p. V. oder eine c. i. c. behaupten oder entdecken. Man kommt doch aber nicht an der Überlegung vorbei, dass den Käufer selbst eine culpa trifft, wenn er „kranke Äpfel“ zu „gesunden“ legt. Der Gedanke vom caveat emptor schließt für den Handelskauf immer noch jeden Gewährleistungsanspruch aus (§ 377 HGB).290 Dass mithin den Käufer unter einem beide Seiten gleichermaßen treffenden Verschuldensprinzip notwendig auch eine Untersuchungs‑ und Rügeobliegenheit trifft, dürfte Staub als der „anerkanntesten Autorität im Handelsrecht“291 nur mit entsprechender culpa lata übersehen haben.292 Und wenn nun der nämliche Gedanke jedenfalls für Schadensersatzansprüche beim bürgerlich-rechtlichen Kauf dadurch in § 463 BGB a. F. Ausdruck gefunden hat, dass der Verkäufer für Mangelfolgeschäden nur bei dolus haftet, so trifft dieselbe culpa lata auch Leonhard, wenn man beiden nicht bereits Vorsatz unterstellen möchte, weil sowohl Staub als auch Leonhard anderenfalls nicht hätten konstruieren können, was sie vom Ergebnis her zu konstruieren gedachten. Es bestätigt sich hier erneut, was wir bereits bei Friedrich Mommsen gelernt und bei der Einseitigkeit der Oertmann’schen Untersuchungspflicht des Bestellers als Generalversehen aller folgenden Untersuchungen festgestellt haben: Es ist mit der Billigkeit so ein eigenes Ding. Wer von der Billigkeit des gewünschten Ergebnisses spricht, vernachlässigt nur allzu leicht den Standpunkt der anderen Seite.293 Und eben dies geschieht, wenn man das Verhältnis gar nicht mehr als Ganzes in den Blick nimmt, sondern nur noch logisch und billig vom gefühlten Ergebnis her konstruiert. Denn auch das haben wir bereits gesehen: Das Gefühl wägt nicht ab, sondern deduziert blind aus einem Prinzip (Prinzipiendeduktion).294 289 Staub, Die positiven Vertragsverletzungen (1902), S. 38: „Der Verkäufer schickt dem Käufer wurmstichige Aepfel. Dadurch werden die gesunden Aepfel des Käufers angesteckt und es entsteht ihm ein großer Schade.“ 290 § 442 Abs. 2 BGB nimmt eine Culpacompensation wenigstens bei culpa lata des Käufers an. 291  Dernburg, Ueber das Rücktrittsrecht des Käufers wegen positiver Vertragsverletzung, DJZ 1903, 1/4. 292 Anders übrigens als der BGH in seiner Entscheidung v. 5. Januar 1960, NJW 1960, 720, der hier bei einem Rechtsmangel eine culpa in contrahendo des Käufers (sic!) angenommen hat, wenn er den Verkäufer nicht über Zweifel an der Eigentumslage aufklärt – ein schönes Beispiel für den Gedanken der Culpacompensation und den Unsinn (oder die Willkür) der Annahme einer culpa in contrahendo. 293  F. Mommsen, Haftung bei Vertragsschluss (1879), S. 81 f.: „Was der Billigkeit entsprechend erscheint, wenn man die Sache von dem Standpunkt des einen Contrahenten aus ansieht, erscheint manchmal als unbillig, wenn man sich auf den Standpunkt des anderen Contrahenten stellt.“ 294 Oben § 1 II.2.

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Anschaulich wird das Problem etwa auch an der in der Literatur der Zeit recht inbrünstig diskutierten Frage, ob ein Betrunkener wegen der Nichtigkeit des von ihm geschlossenen Vertrages wegen culpa in contrahendo dem Geschäftspartner zum Schadensersatz verpflichtet sei oder nicht: „Im Gegensatz zum Fall des Geisteskranken empfindet man es als unbillig, auch den Betrunkenen von jeder Haftung freizusprechen.“295 Hier ist es wieder: Die Billigkeit und Suggestivkraft der Prinzipiendeduktion (Betrunkene verdienen keinen Schutz!) verdrängt jede vernünftige Anschauung, weil anderenfalls sofort auch die culpa des Kontrahenten ins Auge springen würde: Oder wie mag man sich ein Geschäft mit einem Geschäftspartner vorstellen, dessen Trunkenheit eine Geschäftsunfähigkeit zur Folge hat?296 Man müsste wohl beide Parteien für geschäftsunfähig erklären!297 Schauen wir unter dieser Perspektive noch auf drei weitere Regelungen, die speziellen Schuldverhältnissen entnommen sind, um als Analogiebasis zu dienen. Hören wir noch einmal v. Thur: „Diese Auffassung beruht auf einer m. E. richtigen Verallgemeinerung von Vorschriften, welche das Gesetz für einige Fälle der culpa in contrahendo aufgestellt hat. So hat nach § 524 I, 600, 694 der Schenker, Verleiher oder Hinterleger den durch Mängel der Sache angerichteten Schaden nicht deswegen zu ersetzen, weil er den Vertrag nicht erfüllt, sondern weil er vor oder bei Abschluß des Vertrags ein Verschulden begangen hat. … Der Verstoß gegen solche Pflichten ist nicht als unerlaubte Handlung zu beurteilen, sondern als Verletzung eines bereits bestehenden, wenn auch nicht durch Vertrag begründeten, Rechtsverhältnisses. Daher haften die Parteien nicht wie nach § 826 nur für Vorsatz, sondern auch für Fahrlässigkeit.“

In der Tat: Der Schenker (§§ 523, 524 Abs. 1) haftet ebenso wie der Verleiher (§ 600) für seinen dolus in contrahendo. Auch hier handelt es sich ebenso wie bei § 463 BGB a. F. um Ausprägungen der oben dargestellten allgemeinen Haftung für dolus: Wer arglistig handelt, haftet immer auf Schadensersatz. Die besondere Erwähnung dieser Haftung neben §§ 826, 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 263 StGB ist wiederum den geringeren Anforderungen an den dolus im Vertragsrecht geschuldet, der auf den Nachweis einer besonderen Motivlage verzichtet: Weder 295  Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 52 m. w. N. zur diesbezüglichen Debatte, die offenbar auf Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 182, zurückgeht: „… aber ansich müssten wir gewiss auch hier einen Anspruch auf das negative Vertragsinteresse für begründet erachten, besonders bei Trunkenheit, da diese in der Regel auf die culpa des Betrunkenen zurückzuführen ist.“; selbst Titze, Verschulden bei Vertragsschluß (1929), S. 516/522 f.: „Allenfalls läßt sich de lege lata im Falle des wegen Trunkenheit nichtigen Vertrages ein Anspruch auf das Vertrauensinteresse gegen den betrunkenen Vertragsgegner rechtfertigen, wodurch wenigstens eine kleine Annäherung erreicht würde an die gerechtere Behandlung, die im englischen Rechte demjenigen zuteil wird, der mit Bewußtlosen und Geistesgestörten kontrahiert (…).“ 296  Ganz anders unter dem Gesichtspunkt eines compensierenden Mitverschuldens bereits schon Bähr, Irrungen im Kontrahieren, JhJb 14 (1875), 393/408; später offensichtlich auch Besinnung bei: Titze, JW 1931, 513. 297  Im Übrigen ein Fall, der sich bereits treffend allgemein beurteilt findet: D. ​50, ​17, ​19 pr.: qui cum alio contrahit, vel est vel debet esse non ignarus conditionis ejus.

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muss eine eigene Bereicherung angestrebt sein, noch muss es dem Geber auf den Eintritt eines Schadens ankommen. Gehaftet wird schlicht für seine Kenntnis des Rechts‑ oder Sachmangels. Wir haben das Problem der Arglist oben ausführlich besprochen: Gerade die Verhältnisse, die im alten Recht nicht als rechtliche Verhältnisse sanktioniert waren (und hierzu zählten auch und vor allem die generösen, d. h. unentgeltlichen Geschäfte), waren für den dolus des scheinbar wohlwollenden Gebers besonders anfällig („Hüte dich vor Danaern, die Geschenke bringen!“).298 Aus diesen Vorschriften nun aber eine allgemeine Haftung für culpa und für entgeltliche Geschäfte abstrahieren zu wollen, ist gelinde gesagt mindestens ignorant und bedarf keiner weiteren Erörterung. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun, nur mit dem Wunsch nach Konstruktion. Schauen wir zuletzt auf die Regelung des § 694 BGB.299 Hier haftet der Hinterleger nun in der Tat auch für jede culpa, wenn dem Verwahrer aufgrund der Beschaffenheit der hinterlegten Sache ein Schaden entsteht. Diese Regelung ist ohne weiteres einleuchtend, wenn man sich auch hier ein unentgeltliches Geschäft denkt: Handelt der Verwahrer altruistisch, so ist es ganz inakzeptabel, ihm vor der Verwahrung eine Untersuchungspflicht aufzubürden: „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“ heißt es bereits für den Beschenkten. Eine altruistische Handlung verliert ihren Wert, wenn sie hinterfragt wird. Das gilt nun erst recht dann, wenn – wie bei der Verwahrung – die Gefährdung nicht den Begünstigten, sondern den Wohltäter selbst trifft: Eine Wohltat mit „Wenn …“ und „Aber …“ verliert ihren Charakter, Wohltat zu sein. Aber nehmen wir selbst den Fall der entgeltlichen Verwahrung. Warum bleibt nach § 694 BGB das Gefährdungsrisiko anders als beim Kauf (§ 463 BGB a. F.) gleichwohl beim Geber der Sache? Auch hier leuchtet die Wertung des § 694 BGB ein: Der Verwahrer hat anders als der Käufer gar kein Interesse an der Sache selbst; er will sie nicht selbst für seine eigenen Zwecke weiterverwenden. Anders als bei einem Erwerb oder einer Gebrauchsüberlassung besteht für ihn daher auch gar keine Veranlassung, die Sache auf ihre Tauglichkeit zu einer etwa vorgesehenen Verwendung oder auf Mängel hin zu untersuchen. Eine entsprechende Untersuchungspflicht würde dem „Wesen des Verhältnisses“ nicht gerecht werden. Und daher haftet der Hinterleger hier bereits für culpa, während der Verkäufer (ebenso wie Schenker und Verleiher) nur für dolus einzustehen hat. Ich denke, das Problem dürfte hinreichend deutlich geworden sein: Die Pflichten eines Rechtsverhältnisses ergeben sich aus der Anschauung des Verhältnisses und nicht aus einer abstrakten Konstruktion eines allgemeinen Prinzips. Das heißt erstens: Ein Schuldverhältnis lässt sich nicht einfach logisch konstruieren. Wenn man das gleichwohl tut, passiert eben das, wovor schon Savigny in seiner 298 Ausf. schon Benedict, Das Versprechen als Verpflichtungsgrund?, RabelsZ 82 (2008), 302 ff. 299  Diese Norm hat schon F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 48, mit herangezogen, um auch für den Verkäufer (§ 463 a. F.) eine Haftung aus culpa zu begründen.

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Berufsschrift eindringlich gewarnt hat: „… die Wissenschaft wird alsdann einen hohen Grad formeller Ausbildung erlangen können, und doch alle eigentliche Realität entbehren.“300 Ein Zweites folgt: Eine Gesamtanalogie lässt sich nicht begründen. Die Sache steht noch so, wie sie zur Jahrhundertwende Melliger zutreffend beschrieben hatte: „Selbst zwischen § 122 und § 179 lassen sich bedeutende Differenzen nicht ableugnen (…).“301 Man kann – wie dies Siber durchaus mit Berechtigung getan hat – eine Rechtsfortbildung durch sachgerechte Einzelanalogie erreichen (etwa § 694 BGB auch auf unbestellt zugesandte Waren anwenden). Denn hier stehen immer die Anschauung und der Vergleich der Verhältnisse im Mittelpunkt. Im Übrigen gilt: Wo die Wertungen des geltenden Rechts geänderten sozialen Verhältnissen nicht mehr entsprechen, weil etwa auch von einem Käufer nicht mehr die Untersuchung hochtechnisierter Gebrauchsgüter erwartet werden kann, dann mag man die Dinge beim Namen nennen und so eine ganz andere Risikoverteilung (im „Verhältnis“) redlich begründen (z. B. mit dem Gedanken einer Produkthaftung, die bereits den Hersteller dazu anhält, ungefährliche Produkte in den Verkehr zu bringen etc.). Die Begründung folgt dann auch hier aus der Anschauung des Verhältnisses und der Modifikation derjenigen Regeln, die man als unbillig erachtet (caveat emptor), nicht aber aus einer abstrakten Konstruktion, die daneben als ‚Entdeckung‘ und zur Begründung gefühlter Ergebnisse etabliert wird. Ein Drittes wird insoweit aus der konkreten Betrachtung der vier Regelungen deutlich: Selbst die vermeintlich logisch zwingende Polemik gegen die Leonhard’sche (Ziel‑)Vertragstheorie ist nicht seriös aufrechtzuhalten. Man kann ja von seiner Theorie, die culpa neuerlich auf den Bereich des dolus auszudehnen, halten, was man will; soweit man eine Gesamtanalogie zu den genannten Vorschriften einmal akzeptiert, hat jedenfalls die Betonung des Vertragsschlusses für die Haftung überhaupt nichts Künstliches und Unlogisches an sich. Denn erstens kommt es in keinem der Fälle überhaupt zu einem Schaden, wenn nicht auch ein Vertrag geschlossen wurde (das wird bereits sprachlich deutlich für die Fallgruppe der „Lösung vom unerwünschten Vertrag“ und der Vorstellung von einem „Vertrag als Schaden“). Und zweitens liegt es in der Natur des dolus, dass er sich auf einen Leistungsaustausch hin entfaltet. D. h. überall dort, wo in einzelnen Rechtsverhältnissen die Arglist bereits spezielle Berücksichtigung gefunden hat, sei es noch ausdrücklich in Gestalt des subjektiven Unrechts (also etwa als dolus: §§ 463 a. F., 523 I, 524 I, 600; oder in Gestalt der culpa, etwa § 694) oder bereits gänzlich objektiviert in Gestalt des „objektiven Unrechts“ (etwa die Sachmängelgewährleistung: §§ 459 ff. a. F., 536, 633 ff.), überall dort ist es geradezu zwangsläufig, dass der Ursprung der Schuld im vorvertraglichen Be300

 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 30. Culpa in contrahendo (1898), S. 78, mit Hinweis auf Protokolle, S. 453.

301 Melliger,

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reich gefunden werden kann. Gleichwohl kennzeichnet der Vertragsschluss eine Zäsur; denn erst mit dem Vertragsschluss wird das gesetzlich definierte Unrecht auch tatsächlich zu Unrecht, weil sich anderenfalls der dolus oder die culpa gar nicht realisiert. Darum darf weiterhin mit Jhering „… bestritten werden, daß ein werdender Vertrag gleichstehe einem gewordenen. Ein werdender Vertrag ist kein Vertrag, eine culpa dabei begangen ist außerkontraktliche culpa, was sich deutlich zeigt, wenn der verhandelte Vertrag schließlich nicht zu Stande kommt. Was bei Verhandlung des Vertrags erklärt oder verschwiegen wird, kann nur wirken, wenn der Vertrag wirklich zum Abschluß kommt, und nur in diesem Falle könnte von kontraktlicher culpa die Rede sein.“302

Bei den Römern wurde dieser Gedanke sehr schön deutlich durch den Zusatz bei einer Stipulation: „dolum malum abesse et abfuturum esse“: Es ist der Vertragsschluss, bei welchem man sich in die Augen sieht und einander der Aufrichtigkeit, die man auch von der anderen Seite erwartet, versichert. Und es wird nun auch klar, warum die Abkehr von seiner culpa in contrahendo für Jhering eine endgültige gewesen ist: „Eine derartige spitzfindige Scheidung der Zeit vor und bei Eingehung des Contractsverhältnisses ist … dem römischen Recht – und das aus gutem Grunde – völlig fremd. Der Verkäufer, der den Käufer durch falsche Vorspiegelungen zum Abschluß des Kaufcontracts bestimmt, haftet wegen seines dolus, obschon derselbe dem Abschluß des Contracts vorangegangen ist, dennoch ex emto, die obligierende Kraft des Contracts erstreckt ihre Wirkungen auf das Stadium der Vorverhandlungen zurück, oder, wie man es auch ausdrücken kann, der Contrahent, der auf Grund dieses vorhergehenden dolus den Vertrag abschließt und sich ihn zu Nutze macht, begeht denselben auch im Moment der Vertragsabschließung.“303

Von der Notwendigkeit einer culpa in contrahendo keine Spur; Jhering hatte den tieferen Sinn der Klarstellung von § 284 I 5 ALR erkannt: Verhinderung juristischer Spitzfindigkeiten! Der dolus tritt regelmäßig im Vorfeld des Vertragsschlusses auf, doch ändert das nichts daran, dass die Klage ihren Grund im Vertragsverhältnis findet, weil sich ohne Vertrag der Schaden nicht realisiert. Und dasselbe gilt dann auch für kontraktliche culpa.

 Jhering, Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), 225/273.  Jhering, Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), 225/273. Eine letzte Verteidigung hat die Bindung der vorvertraglichen Haftung an den Vertragsschluss gefunden bei: Negendanck, Verschulden bei Vertragsschluß (1928); F. Leonhard, Schuldrecht (1929), S. 553 ff., und ganz im Sinne Jherings hat schließlich noch Titze, Verschulden bei Vertragsschluß (1929), S. 516/520 argumentiert: „Es wäre Begriffsspielerei und unjuristische Dialektik, wollte man den negativen Interesseanspruch als einen außerkontraktlichen lediglich deswegen bezeichnen, weil das ihn erzeugende Verschulden schon vor Vertragsschluß begangen worden ist. Mit Recht hat das Reichsgericht (freilich nicht ohne Schwanken) den Satz aufgestellt, daß der Vertragsschluß und die ihm vorausgehenden Verhandlungen ein einheitliches Ganze bilden, das keine Zerlegung der aus diesem Komplex entstandenen Ansprüche in kontraktliche und und außerkontraktliche vertrage (…).“ 302 303

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Es verpflichtet sich jemand zur Leistung einer Sache, von der er weiß oder den Umständen nach annehmen muss, dass sie ihm gestohlen ist oder ihm nicht gehört. Jemand vermietet ein Zimmer, ohne sich darüber vergewissert zu haben, ob der Vermieter die Erlaubnis dazu geben werde usw. In allen Fällen liegt Unvermögen zur Leistung vor, und in allen Fällen von Unvermögen könnte man eine Untersuchungs‑ und Aufklärungspflicht statuieren. Doch das Gesetz hatte aus gutem Grund eine Haftung für Erfolgsunrecht geregelt (§§ 280, 325 a. F.). Die Haftung tritt nicht aufgrund eines schuldhaften Verschweigens der tatsächlichen oder potentiellen Leistungshindernisse ein, sondern unmittelbar aufgrund des Ausbleibens der vertraglich versprochenen Leistung. Das kann man – wie gesagt  – mit allen Leistungsstörungen durchexerzieren. Weder bedarf es der Konstruktion von Anzeige‑ bzw. Aufklärungspflichten noch könnte man auf den Vertragsschluss für die Haftung verzichten. Das gilt natürlich auch und insbesondere für eine Einflussnahme auf die Motive des anderen zum Vertragsschluss: Derjenige, der einen anderen arglistig zu einem Vertrag verleiten will, hat es bis zum Vertragsschluss immer noch in der Hand, die Täuschung zu beenden oder ihr jede Wirkung zu nehmen. Wenn die aktuelle Zivilistik in eben diesem Zusammenhang von einem „Vertrag als Schaden“ oder einem „unerwünschten Vertrag“ spricht, so ist damit genau die Bedeutung des Vertragsschlusses zum Ausdruck gebracht: Ohne Vertrag gar kein Schaden! Bis zum Vertrag steht es jedem der Kontrahenten frei, nicht nur vom Vertragsschluss Abstand zu nehmen,304 sondern natürlich auch seine unredliche Absicht oder Nachlässigkeit in einem rechtmäßigen Verhalten zu korrigieren: „Selbstredend sind die Rechtsverhältnisse der Parteien zueinander nach dem Vertragsschluß ganz andere als vorher.“305 Kurz: Das eben ist das Bedenkliche abstrakter Jurisprudenz. Es schafft sich jeder seine eigene Logik auf der Grundlage seiner eigenen Prämissen zur Lebenswirklichkeit. Ein kohärentes Rechtssystem kann dabei schwerlich herauskommen. Das gilt für die Betonung und Hypostasierung vorvertraglicher Pflichten vor allem deshalb, weil sich diesen Pflichten ohne Vertrag zunächst gar keine korrespondierende Rechtsposition der Gegenseite zuweisen lässt. Der Grundsatz neminem leadere gilt für Vermögensschäden, wie gesehen, nur unter Vorbehalten und Einschränkungen, aber er sagt mit seiner Erfolgsbezogenheit letztlich auch gar nichts darüber, wie jeder sein Verhalten genau zu organisieren und einzurichten habe, um dem Gebot zu entsprechen. Der Unterschied in 304  So jedenfalls die ganz unangefochtene Auffassung jener Zeit; vgl. nur v. Thur, Allgemeiner Teil, S. 490: „Solange der Vertrag nicht geschlossen ist, kann jeder Teil die Verhandlungen abbrechen. Hat der Gegner durch seine Erwartung, daß der Vertrag zustande kommen werde, einen Schaden erlitten, so muß er ihn selbst tragen, da er wissen muß, daß seine Erwartung unsicher ist. Anders nur, wenn jemand Verhandlungen anbahnt in der Absicht, sie abzubrechen und dadurch den Gegner zu schädigen, § 826.“ 305  So, kurz und deutlich, hierzu Geppert, Fahrlässigkeit beim Vertragsschluß, Gruchot 69 (1928), 529/535 f.

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der Rechtsauffassung des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts wird recht deutlich sichtbar an einer Aussage bei Cohnfeldt, wenn er ausführt: „Nicht einmal Obligationen, die ihrer Natur nach die Anwendung einer Fürsorge und Obhut in sich schließen, wie z. B. Depositum und Commodat, haben zu ihrem Gegenstande, daß der Schuldner nicht dolose, nicht culpose handeln soll. Ein Klagerecht ist erst vorhanden, wenn ein dolus oder eine culpa begangen ist.“

Der eigentliche Kern der wissenschaftlichen Aktivitäten seit Staub, Leonhard, v. Thur, Stoll usw. ist demnach leicht ausgemacht: Während die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in Fortführung dessen, was die römische Jurisprudenz auszeichnete und was sich bei Jhering hinreichend deutlich beschrieben findet, bemüht hat, dolus und culpa in den einzelnen Verhältnissen als Erfolgsunrecht zu objektivieren, liegt der Kern der Betätigung bereits im Anfang des 20. Jahrhunderts darin, dolus und culpa wieder in die Kategorie des subjektiven Handlungsunrechts, genannt Pflichtverletzung, als Lückenfüllung zu entdecken. Da nun der Ursprung der Mehrzahl dieser „Pflichten“ notwendig im vorvertraglichen Bereich zu finden ist, müssen sie – logisch! – von der vertraglichen Obligation gelöst und einem eigenständigen neuen Schuldverhältnis zugeordnet werden. Es ist so, als wenn zunächst ein Künstler mit Akribie aus einer groben amorphen Masse eine wohlgeformte Skulptur zu formen sich bemüht hat und nun sein Erbe kommt und es als Kunst ausgibt, die Skulptur wieder zu einer groben amorphen Masse umzuformen. Vielleicht ist es ja in der Jurisprudenz wie in der Kunst: Die einen schätzen ein aus gut begründeten Details sich zusammensetzendes und in sich stimmiges Ganzes, anderen genügt ein amorphes Prinzip, eine „einzige kahle Formel“ als abstrakte Kunst. Freilich, die Wertschätzung der ersteren Position verliert vielleicht allein schon deshalb, weil niemand mehr „das Ganze“ in all seinen bunten Details überblickt und jede weitere Arbeit an dem Werk die Konturen notwendig weiter verwischt. c) Logische Consequenzen: dogmatische Probleme „… es liegt hier die Gefahr sehr nahe, daß man sich durch ein vages Billigkeitsgefühl verleiten lassen kann, Grundsätze zu konstruiren, welche mit dem sonstigen Inhalte unserer Rechtsordnung schwer in Einklang zu bringen sind.“ Justizrath Hesse, 1878306

Die dogmatischen Probleme, die von Idee und Konstruktion eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses ausgingen, haben eine ganze Bibliothek gefüllt. Sie leben gleichwohl bis heute ungelöst fort. Lässt man einmal die ‚kleineren‘ dogmatischen Fragen, die mit der Anerkennung der c. i. c. ohnehin verbunden sind (Etwa: Welche Pflichten greifen wann genau? Ist Verschulden erforderlich? Was genau ist die Rechtsfolge? Wie steht es mit dem Mitverschulden?), dann wirft 306 Zur

Lehre von dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203/276.

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speziell die Vorstellung von einem vorvertraglichen Schuldverhältnis drei grundlegende Fragen auf: 1. Wann genau beginnt es? Ganz allgemein findet man die Erklärung, das vorvertragliche Schuldverhältnis beginne mit dem „Eintritt in Vertragsverhandlungen“.307 Aber wann genau tritt eine Person mit einer anderen in „Vertragsverhandlungen“? Angesichts des mit der Linoleumrollen-Entscheidung beschriebenen Problems einer Haftung auch für „Verkehrssicherung“, sind die Versuche einer Präzisierung ebenso vielfältig wie unfruchtbar geblieben.308 Mit Blick auf den Vertragsschluss lässt sich die Frage auch so formulieren: Wie weit vom Vertragsschluss entfernt beginnt das Verhältnis und wie nah ist es an den Vertrag selbst heranzuführen? Das Spektrum der Möglichkeiten ist im Kern durch die Vorstellung einer Offerte einerseits und der sehr imaginären Vorstellung von einem sehr internen „Entschluss“ zu Vertragsverhandlungen oder genauer: der Möglichkeit von Vertragsverhandlungen andererseits abgesteckt. Jenen Standpunkt haben wir bereits bei v. Thur (1914/18) und Heinrich Stoll (1923) kennengelernt.309 Den radikalen Gegenstandpunkt hat Karl Heldrich (1924) vertreten.310 Sehr treffend und geradezu in ironischer Zuspitzung des Leonhard’schen Ansatzes von der Vorvertraglichkeit der Pflichten weist Heldrich darauf hin, dass die meisten der gesetzlich normierten vorvertraglichen Pflichten, besonders aber alle Erkundigungs‑ und Untersuchungspflichten, erfüllt werden müssten, schon bevor man überhaupt zum Eintritt in die Vertragsverhandlungen auffordert und / ​oder einen Vertragsschluss anbietet. Seiner Ansicht nach entstehen daher die Pflichten spätestens in  Steinberg, Haftung für culpa in contrahendo (1930), S. 93; Dömpke, Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen (1933), S. 45: „Da das vor Vertragsschluß entstehende Schuldverhältnis durch die Vertragsverhandlungen der zukünftigen Vertragsparteien charakterisiert wird, so nimmt es seinen Anfang auch mit deren Beginn.“; Ballerstedt, Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1951), 501/503. 308 Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 93: „durch die Abgabe von Willens‑ oder Wissenserklärungen“; Erman, AcP 139 (1934), 273/287: „… hier können wir einfach vom Inhalt der Pflicht auf ihren Beginn schließen. Umfaßt die Pflicht zur Unterlassung fehlerhaften Verhandelns … auch die Pflicht, den Schein einer Verhandlung zu vermeiden, so beginnt diese Pflicht auch schon von dem Augenblick an, in welchem nach Lage der Sache eine praktisch in Betracht kommende Möglichkeit … der Entstehung des Scheins … gegeben ist.“; später hat man hier mit dem Gedanken des „sozialen Kontakts“ helfen wollen: Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS 103 (1943), 67 ff.: Vertrauensgewährung und „sozialer Kontakt“; Larenz, MDR 1954, 515/518: „Die gesteigerte Sorgfalts‑ und Obhutspflicht beginnt … nicht erst mit der Aufnahme von Vertragsverhandlungen, sondern bereits mit der Anbahnung des geschäftlichen Kontakts durch das Betreten der Räume.“; ausf. zu diesem Problem unten: § 6 II.2., § 7 III.3. 309  So, wie gesehen, ursprünglich v. Thur, Allgemeiner Teil II/1 (1914), S. 488, s. o. III.2.b); im AcP 121 (1923), 360 weicht er dann eher unpräzise auf den „Beginn der Vertragsverhandlungen“ aus. 310  Verschulden beim Vertragsabschluß (1924); Zustimmung bei R. Raiser, AcP 127 (1927), 1/24. 307

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dem Augenblick, in dem man sich überhaupt generell „entschlossen hat, zu einem andern zum Zwecke des Vertragsschlusses in Beziehung zu treten“.311 Damit kehrt sich die vermeintlich zwingende Logik eines vom Vertrag gelösten vorvertraglichen Schuldverhältnisses gegen diejenigen, die sie behauptet haben; denn die Entstehung von vorvertraglichen Pflichten aufgrund der puren Möglichkeit eines geschäftlichen Kontakts enthält offenbar das gleiche unzulässige Hysteron-Proteron, das man gegen die sog. „Zielvertragstheorie“ so überzeugend in Stellung zu bringen vermeinte: „Es kann nicht heute eine Pflicht entstehen, gestern etwas getan zu haben.“312 Auch das Dilemma eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses wird deutlich: Entweder die sog. vorvertraglichen Pflichten lassen sich nicht an konkrete Zeitpunkte der Vertragsanbahnung anbinden; dann kann man sie mit Leonhard ebenso gut beim Vertrag belassen. Oder sie lassen sich eben gar nicht sinnvoll auf den Vertrag beziehen; dann ginge es vielleicht doch wohl um ein deliktsrechtliches Problem, das mit dem Vertrag nur ganz zufällig etwas zu tun hat. Diese Einsicht hat dann mit Blick auf den von Heldrich vorgetragenen Standpunkt insbesondere Rolf Raiser (1927) deutlich ausgesprochen: Bei einer so weit vorverlagerten Entstehung der Pflichten dränge sich der Eindruck auf, als ob sie gegenüber den „in den Deliktsnormen verkörperten allgemeinen Rechtspflichten nicht grundsätzlich verschieden wären“.313 Damit stellte sich schon gleich ein neues Problem: Je weiter man sich mit den vorvertraglichen Pflichten und der Ausdehnung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses vom Vertrag entfernte, desto näher rückte der außervertragliche Bereich der unerlaubten Handlungen. Und so ließ man die Frage nach dem genauen Zeitpunkt der vorvertraglichen Pflichtenentstehung und Pflichtverletzung schlicht fallen und beruhigte sich bei der Vorstellung, dass das „Wesen der vorvertraglichen Pflichten“ halt schlicht darin bestehe, „daß sie nicht schlechtweg jedem beliebigen Menschen gegenüber gelten“.314

311  Heldrich, Verschulden beim Vertragsabschluß (1924), S. 54 ff.; hierzu auch R. Raiser, Schadenshaftung bei verstecktem Dissens, AcP 127 (1927), 1/25: „Im Augenblick des Eingriffs [in die fremde Interessensphäre] musst du diese oder jene Überlegung angestellt haben.“; F. Leonhard, Schuldrecht (1929), S. 553: „Denn wenn sie auch schon mit den Vertragsverhandlungen die Haftung eintreten lassen wollen, so liegt das Verschulden oft selbst schon vor diesem Zeitpunkt, z. B. wenn der Verkäufer vorher versäumt hat, sich über die Beschaffenheit der Ware zu unterrichten.“; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 92 f.: „Demnach müssen die Untersuchungs‑ und Sorgfaltspflichten i. c. schon in dem Zeitpunkte entstehen können, in dem objektiv nach den damals erkenn‑ oder voraussehbaren Umständen mit der Möglichkeit einer (wenn auch individuell noch nicht bestimmten) Verhandlungsbeziehung zu rechnen war.“; ähnlich auch Stoll, JW 1933, 34/36: „Verhandlungsabsicht“; oben III.2.c). 312 So zusammenfassend noch einmal: Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 22; das Problem setzt sich unter dem Dogma einer Vertrauenshaftung fort, hierzu unten § 7 I.2.c). 313  R. Raiser, Schadenshaftung bei verstecktem Dissens, AcP 127 (1927), 1/24. 314 R. Raiser, Schadenshaftung bei verstecktem Dissens, AcP 127 (1927), 1/24.

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Die klassische Frage „Vertrag oder Delikt?“ stand also wieder im Raum. Die Frage nach der Entstehung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses berührte so unmittelbar auch die Frage nach seiner dogmatischen Einordnung: 2. Wie ist es dogmatisch einzuordnen: rechtsgeschäftlich oder deliktisch oder ganz anders? a) Rechtsgeschäftlich? Das Schuldverhältnis ist recht sicher rechtsgeschäftlicher Natur, wenn seine Begründung rechtsgeschäftlich erfolgt. Das hieße aber das Verhältnis wenigstens an eine Offerte zu knüpfen, wie es v. Thur in seinem Lehrbuch (1914) noch tat. Doch wie bereits bei Stoll (1923) gesehen, ist dieser rechtsgeschäftliche Eintritt viel zu eng, um alle die Fälle als Fälle vorvertraglicher Pflichtverletzung erfassen zu können, die man als Fälle vorvertraglicher Pflichtverletzung gerne erfassen wollte. So muss dann entweder eine Vertragsfiktion (Vertrag der Vertragsverhandlungen!),315 die in ein faktisches Vertragsverhältnis mündet,316 konstruiert oder einer einseitigen, die Vertragsverhandlungen einleitenden Erklärung (invitatio ad offerendum) bereits rechtsgeschäftliche Natur beigelegt werden317. Als klassische Alternative zu einem Schuldverhältnis ex voluntate bleibt die Möglichkeit, das vorvertragliche als ein b) gesetzliches Schuldverhältnis, eine „obligatio ex lege“318 zu bezeichnen.319 Bereits Windscheid hatte, wie gesehen, nachdem im gemeinen Recht eine plau315  Ähnlich wie schon Siber, Vertragsfreiheit, JhJb 70 (1921), 223/258 ff. einen „Erhaltungsvertrag“ konstruiert hat, wollen andere einen Vertrag der Vertragsverhandlungen konstruieren, vgl. etwa Kruse, Culpa in contrahendo (1936), S. 14 f.: Es bedarf einer „Offerte zum Verhandeln“ und einer Annahme dieser Verhandlungsofferte. „Richtig kann nur sein, daß, um die Verhandlung in Lauf zu setzen, die Offerte zum Verhandeln und die Annahme dieses Angebots zwar erklärt sein müssen, daß diese Erklärungen jedoch konkludent, allerdings in einer für den Gegner erkennbaren Weise erfolgen können. Eröffnet jemand zum Beispiel ein Warenhaus, so liegt darin eine konkludente Offerte zur Verhandlung – sie ist nicht mit der zugleich darinliegenden Aufforderung zur Abgabe einer Vertragsofferte zu verwechseln (…).“ 316 Grundlegend: Haupt, Faktische Vertragsverhältnisse (1941), S. 9 ff.: „Faktische Vertragsverhältnisse kraft sozialen Kontakts, wie ich die erste Gruppe nennen möchte, liegen vielfach bei den Tatbeständen vor, deren Lösung meist aus dem Gesichtspunkt des sog. Verschuldens beim Vertragsschluß versucht wird (…).“; ebenso Tasche, JherJb 90 (1942), S. 101 ff./120: „zwanglose Weiterführung“ der c. i. c.; später dann etwas eingeschränkt: Larenz, Schuldrecht I (1. Aufl. 1953); ders., Die Begründung von Schuldverhältnissen durch sozialtypisches Verhalten, NJW 1956, 1897 ff.; ders., Sozialtypisches Verhalten als Verpflichtungsgrund, DRiZ 1958, 245 ff. Ausf. zur Geschichte dieser Figur: Lambrecht, Die Lehre vom faktischen Vertragsverhältnis (1994). 317  So wie gesehen Stoll, LZ 1923, 532; ders., JW 1928, 1285. 318 So zuerst für die Haftung auf das negative Interesse in den §§ 122, 179, 307/9: Hammel, Culpa in contrahendo (1912), S. 32: „Die außerkontraktlichen Ansprüche auf das Vertrauensinteresse … sind kraft Rechtsbestimmung unmittelbar an unsere besonderen Tatbestände geknüpft und stehen als selbständige Rechtsfiguren in der Mitte zwischen Delikts‑ und Kontraktsansprüchen.“ 319  Enneccerus / ​Lehmann, Schuldrecht (1930), § 43 III, S. 152 f., ohne weitere Begründung: „Da durch den Eintritt in Vertragsverhandlungen ein gesetzliches Schuldverhältnis entsteht

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sible Begründung für die Haftung auf das „negative Vertragsinteresse“ nicht recht gelingen wollte, ein klassisch positivistisches Fazit gezogen: „Die Entschädigungspflicht des Urhebers der Willenserklärung beruht nicht auf seinem Willen, sondern das Recht legt sie ihm ohne seinen Willen auf. Das Recht ist es, welches will, daß der Empfänger einer Willenserklärung sich darauf muß verlassen können, daß durch sie ein Vertrag zustande gekommen sei.“320 Es liegt auf der Hand, dass mit dem Hinweis auf ein „gesetzliches Schuldverhältnis“ oder eine Haftung, die das „Recht will“, gar nichts über den tieferen Sinn dieser Haftung ausgesagt wird.321 c) Geschäftsähnliche „Sonderverbindung“? So ist auch hier das Dilemma offenkundig: Ein Rechtsgeschäft kommt an sich nicht in Betracht, aber eine besondere Nähebeziehung muss her, weil anderenfalls das Deliktsrecht und seine Umgehung offenkundig wird. So bleibt nichts anderes übrig, die Haftung als (…).“; mit Inbrunst hat dann vor allem Dömpke, Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen (1933), S. 11 ff., die Lösung des Begründungsproblems in der These von einem gesetzlich nicht geregelten gesetzlichen Schuldverhältnis gesehen, im Endeffekt aber doch auch nicht mehr als bereits Stoll vor ihm herausgebracht: „Da während der Vertragsverhandlungen bereits Pflichten zwischen den zukünftigen Vertragsparteien bestehen, also Leistungen zu gewähren sind, stellen die Vertragsverhandlungen ein Schuldverhältnis dar. Indem wir aus dem Gesetz ein Prinzip ableiten, sind wir berechtigt, den allgemeinen Rechtsgedanken im Wege der Rechtsanalogie auf Fälle anzuwenden, in denen das Gesetz die Haftung nicht ausdrücklich geregelt hat.“ (S. 44); ebenso auch Mühlich, Begrenzung und Rechtsnatur (1933), S. 20: Da die Verpflichtungen Folge der Vertragsanbahnung sind und „das Gesetz bzw. das ergänzte Gesetz diese Verpflichtung unter seinen Schutz stellt, so haben wir es bei der vorvertraglichen Beziehung mit einem gesetzlichen Schuldverhältnis, einer Legalobligation zu tun“. Diesen Gedanken übernimmt dann auch der BGH, Urt. v. 20. Juni 1952, BGHZ 6, 330/333: „Die Haftung aus Verschulden bei Vertragsschluß ist eine solche aus einem in Ergänzung des geschriebenen Rechts geschaffenen gesetzlichen Schuldverhältnis, das aus der Aufnahme von Vertragsverhandlungen entspringt und zur verkehrsüblichen Sorgfalt … verpflichtet.“; ebenso dann Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht (1953), § 17 III, S. 78 f. Nach Larenz liegt etwas ganz Neues darin, das „durch die Aufnahme der Vertragsverhandlungen begründete Schuldverhältnis … als ein ‚gesetzliches‘ Schuldverhältnis“ anzusehen. Dies sei das Kennzeichen einer als „neuere Lehre“ bezeichneten Auffassung (im Anschluss an BGHZ 6, 330/333 in: MDR 1954, 515/516); Larenz, Schuldrecht I (4. Aufl. 1960) § 7 II, S. 67: „gesetzliches Verpflichtungsverhältnis“, S. 69: „vertragsähnliches gesetzliches Verpflichtungsverhältnis“. 320 Windscheid, Pandekten II, (ab 6. Aufl.) § 307, Fn. 5. 321 Darauf weist dann zuerst deutlich hin: Ballerstedt, Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1951), 501/505 f.: „Dagegen befriedigt die Erklärung als ‚gesetzliches‘ Schuldverhältnis insofern nicht, als sie rein positivistisch ist. Sie gibt keine Auskunft darüber, was diese objektiv-rechtlich angeordnete Verpflichtung des Verhandlungspartners innerlich rechtfertigt. Dies aber ist die entscheidende Frage: Daß die Verpflichtungswirkung als solche auf dem Gesetz beruht, gilt für die rechtsgeschäftliche Verpflichtung, richtig verstanden, in gleicher Weise.“; ähnlich Stöcker, Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo (1961), S. 52 ff.: „Im übrigen besagt die Zuordnung der c. i. c. zu den gesetzlichen Schuldverhältnissen nicht mehr, als daß der dem Rechtsinstitut zugrunde liegende Sachverhalt eine Rechtsfolgenwillenserklärung vermissen läßt, es darum dem – mindesttatbestandlich aufgefassten – Vertragsbegriff nicht unterfällt.“ (S. 53); Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S. 47: „Die Kennzeichnung der herrschenden Meinung, das Verhandlungsverhältnis sei ein gesetzliches Schuldverhältnis, ist eine Leerformel (…).“

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eine jedenfalls „geschäftsähnliche“ (bzw. quasi-vertragliche) anzusehen.322 Um die vertragliche Nähe einerseits und die deliktsrechtliche Ferne andererseits hervorzuheben, hat Hildebrandt (1931) im Anschluss an Raiser (1927) nachhaltig den Begriff von der „Sonderverbindung“ in die Diskussion eingeführt.323 Dieser Begriff hat sich schnell durchgesetzt,324 ist bis heute fest im Sprachwortschatz des deutschen Schuldrechts verankert und wird gelegentlich gerne da verwendet, wo man sich über die Rechtsnatur der Haftung nicht im Klaren ist oder sich ganz generell auch nicht festlegen will, ob das Ganze nun ein Schuldverhältnis oder welcher Natur auch immer sei.325 Die Idee von einem „Schuldverhältnis“ war ja originär noch fest verbunden mit der dogmatischen Gewissheit, es gäbe dann auch „Gläubiger“ und „Schuldner“ und einklagbare „Leistungspflichten“. Der Schritt zur nächsten Abstraktion in der Vorstellung von einem von jeder Leistungsbeziehung gänzlich gelösten umfassenden „Schutzpflichtverhältnis“ musste erst noch vollzogen werden.326 Bis dahin wurde mit dem Begriff der „Sonderverbindung“ recht unverbindlich das Problem der dogmatischen Einordnung der c. i. c. begrifflich kaschiert, gleichwohl aber zur Genüge ausgedrückt, worauf es im Ergebnis ankommt: „Aus der Delikts‑ sind die Parteien in die Verhandlungs-, die Rechtsgeschäftssphäre eingetreten. Darum haften sie nicht sowohl nach den allgemeinen Delikts-, als nach den genannten besonderen Bestimmungen.“327 322  In diesem Sinne etwa Evans-v. Krbek, Überlegungen, AcP 179 (1979), 85/96 ff., die wiederum bei v. Thur ansetzt und unter „analoger Anwendung der §§ 104 ff., 145 ff.“ ein „rechtsgeschäftsähnliches (‚Schuld‘)-Verhältnis“ behauptet. Den Gedanken des „Quasi-Vertrags“ feiert auch ohne weitere dogmatische Konstruktion vor allem Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 421: „Wir dürfen Maine heute fortschreiben: from status to contract to quasi-contract.“ 323  Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 124; 136. Der Begriff selbst geht auf Stammler, Recht der Schuldverhältnisse (1897), § 2, S. 8, zurück: „Schuldverhältnisse sind rechtliche Sonderverbindungen unter Privaten zu bestimmtem sozialen Zusammenwirken.“; Rümelin, Schadensersatz ohne Verschulden (1910), S. 42 f., übernimmt diesen Begriff dann deutlich in dem Kontext, in dem er heute verwendet wird: zur Abgrenzung vom Deliktsrecht. Rümelin meinte damit aber ebenso wie Stammler gar nichts anderes als die spezielle Haftung in einem schuldvertraglichen Verhältnis. Erst Raiser, AcP 127 (1927), 1/26 hat den Begriff der „Sonderverbindung“ in die Diskussion um die dogmatische Begründung der Haftung für culpa in contrahendo eingeführt. 324 Titze, Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 520: „Sonderbeziehung der Vertragsverhandlungen“; Heinrich Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/288 f. 325  Raiser, AcP 127 (1927), 1/23 wendet sich explizit gegen die von Stoll begründete Vorstellung, es handele sich um ein „Schuldverhältnis“: „Es ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil es bringen mag, von einem ‚Schuldverhältnis‘ zu reden.“; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 124; deutlich dann auch Larenz, Schuldrecht I (1953), § 7, S. 58: Aufgrund der Vertragsverhandlungen wird „zwar kein eigentliches Schuldverhältnis – weil keine Leistungspflicht –, aber doch eine rechtliche Sonderverbindung … begründet“.; nachdem Larenz dann ab der 5. Aufl. (1962) doch ein „Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten“ angenommen hat, bedurfte es auch des Begriffs der „Sonderverbindung“ nicht mehr. 326  Dazu sogleich § 6 I. 327  Zur ursprünglichen Kritik an diesem Begriff: Staudinger / ​Jürgen Schmidt, BGB (12. Aufl. 1981), § 242 Rn 113 ff.; später hat ders. aus dem Begriff sogleich eine ganze „Theorie der Sonder-

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Im Ergebnis wurde mit dem Begriff der „Sonderverbindung“ etwas ganz Besonderes konstruiert: Das zwar nicht gesetzlich geregelte, aber doch gesetzliche und zugleich auch vertragliche oder doch wenigstens vertragsähnliche Schuldverhältnis. Denn darüber herrschte jedenfalls lange Zeit Einigkeit, dass die Haftung eben keine deliktische sein sollte.328 Wenn daher von einem „vertragsähnlichen Rechtsverhältnis“ oder einer „vertraglichen Natur“ oder noch ungenauer von einem „rechtsgeschäftlichen“ oder „vertraglichen“ Schuldverhältnis geredet wurde, so betrifft diese Terminologie in erster Linie329 die Frage nach den Rechtsfolgen und nicht die nach ihrer Begründung.330 Denn dass die vertraglichen Regelungen (§§ 276, 278) anzuwenden seien, war ja gleichsam das Ziel der ganzen Konstruktion in der Kontinuität der Linoleumrollen-Entscheidung. Gleichwohl zeigt die Vorstellung von einem gesetzlichen Schuldverhältnis, das im Gesetz sich gar nicht finden lässt und doch zugleich auch ein vertragliches sein soll, die Konstruiertheit der ganzen Konstruktion.331 Man disputierte allen Ernstes über ein gesetzlich nicht geregeltes gesetzliches Schuldverhältnis vertraglicher Natur. Dass diese Konstruktion auch nach der Methodenlehre der Zeit verbindungen“ zu entwerfen gesucht: „Sonderverbindungen“ – eine Problemskizze, GS Schulz (1987), 341 ff. 328 Zu einer Gegentendenz, den ganzen Bereich der vor‑ bzw. außervertraglichen Haftung wieder in das Deliktsrecht zu integrieren: unten § 7 II. „Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel“. 329 Bei Jhering war das, wie gesehen, noch anders; denn bei ihm ging es wirklich um die Frage der Konstruktion. Mit dem Inkrafttreten des BGB glaubte man freilich zuweilen in der Literatur, auch auf die von den Motiven (I, S. 195; II, S. 179) offengelassene Frage nach der Natur der Haftung eine Antwort geben zu müssen: vgl. etwa Lilie, Schadensersatz bei unwirksamen Verträgen (1898), S. 56 f. 330  Vgl. insoweit nur Ehrlich, Haftung für Verschulden beim Vertragsschluß (1933), 37: „Die nächste Frage, ob es sich um eine deliktische oder kontraktliche Haftung wegen Verschuldens beim Vertragsschluß handelt, wird heute allgemein dahin beantwortet, daß der Anspruch ‚vertraglicher‘ Natur sei.“ Das Problem zieht sich durch bis zu Ballerstedt, AcP 151 (1951), 501/507, wenn dieser selbst die Vertrauenshaftung als besondere rechtsgeschäftliche Haftung deklarieren will: „Wir haben hier ein schuldrechtliches Rechtsgeschäft vor uns, das nicht auf der Verpflichtung durch bindende Willenserklärung beruht (…).“ 331 Die begrifflichen Klimmzüge bei dem Versuch einer Begründung dieser Terminologie werden etwa deutlich bei Steinberg, Haftung für culpa in contrahendo (1930), S. 91: „Wenn im Vorhergehenden gelegentlich gesagt wurde, daß die durch dieses Rechtsverhältnis hervorgerufenen Verpflichtungen eine Legalobligation darstellten, so steht dies nicht im Widerspruch damit, daß hier die Verpflichtungen als vertragsähnliche bezeichnet werden. Als Legalobligationen bezeichnet man die besonderen Beziehungen zwischen Personen, die nicht auf Vertrag beruhen, und sondert hiervon die sich aus Delikten ergebenden Verpflichtungen gewöhnlich ab. Das Rechtsverhältnis der cic. nun beruht nicht auf einem dahingehenden Parteiwillen, sondern auf der Tatsache der Vertragsverhandlungen. Das Rechtsverhältnis ist also kein vertragliches, ebenso wenig aber auch ein deliktisches. Vielmehr sind typisch für dieses Rechtsverhältnis gewisse kraft Gesetzes … an die Tatsache der Anbahnung eines Vertrages geknüpfte Rechtsfolgen. Eine solche Rechtslage aber ist typisch für alle Legalobligationen. Daß dieser Legalobligation dieselben Rechtsfolgen, wie einem Vertrage beigemessen werden, besagt nichts dagegen, daß die Ansprüche aus cic. vertragliche nicht sind.“

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eine Rechtsschöpfung contra legem (§ 305 BGB a. F.) war, fällt daneben schon kaum mehr ins Gewicht. Manche haben den Gedanken von einem Schuldverhältnis sehr ernst genommen und sind dann sogar so weit gegangen, das allgemeine Schema der Pflichten in Schuldverhältnissen auch auf das Schuldverhältnis der culpa in contrahendo zu übertragen. Bei Erman332 etwa sind insoweit die Erklärungspflichten die „Hauptpflichten“, die Erhaltungs‑ bzw. Schutzpflichten hingegen die Nebenpflichten des vorvertraglichen Schuldverhältnisses. Gertrude Kruse hat das dann sogleich dogmatisch „consequent“ weiter durchdekliniert: In der „Rechtfertigung des Vertrauens“ liege die Hauptleistung, die sich in Aufklärungs‑ und Unterlassungspflichten konkretisiere. Die Verletzung dieser Pflichten wird dann unter die allgemeinen Regeln der Leistungsstörung (Unmöglichkeit, Verzug oder positive Vertragsverletzung) subsumiert.333 Das kuriose Ergebnis: Die culpa in contrahendo ist danach doch wieder nur ein besonderer Fall der p. V!? Oder noch besser: Es gibt eine p. V. innerhalb einer c. i. c. (sic!). 3. Wie sind die Konkurrenzen zu bereits bestehenden Regelungen zu lösen? Als erster war es, wie bereits erwähnt,334 Heinrich Titze, der bemerkte, dass die mit dem neuen (‚gesetzlichen‘) Rechtsinstitut aus Treu und Glauben deduzierten Pflichten mit bereits bestehenden gesetzlichen Regelungen ernsthaft konkurrierten und er daher den Grundsatz aufstellte, diejenigen Fälle von der c. i. c. wieder auszunehmen, in denen dieser Gesichtspunkt nur subsidiär zur Haftung führe und in erster Linie eine spezielle gesetzliche Regelung am Platze sei.335 Titze fasst hierunter zu allererst den Ansatz von Leonhard und will alle die Fälle vom Anwendungsbereich der c. i. c. wieder ausschließen, die unter die Grundsätze der Haftung für culpa in solvendo fallen, also insbesondere Fälle der Nicht‑ oder Schlechterfüllung: „Diese Fälle sind aus unserer Lehre deshalb auszuscheiden, weil sie ihren juristischen Ausbau und ihr juristisches Gepräge bereits durch den Begriff des Erfüllungsverschuldens, der culpa in solvendo, gefunden haben. Sie auch noch unter dem Gesichtspunkt einer culpa in contrahendo zu betrachten, muß lediglich verwirrend wirken (…).“336

332 Beiträge

zur Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273 ff.  Culpa in contrahendo (1936), 13 ff. 334  Oben II.2. 335 Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516; JW 1931, 512 ff.; entsprechend hat die c. i. c. bis zuletzt keinen Eingang in sein Schuldrecht gefunden: Titze, Recht der Schuldverhältnisse (1948). Angesichts der intensiven Beschäftigung mit diesem Institut dürfte das schwerlich auf ein Versehen zurückzuführen sein. 336  Titze, Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516/517 f.; zutreffend konstatiert Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 44: „Mit dieser Lehre hat Titze alle die Fälle aus dem Gebiet der c. i. c. ausgeschieden, auf denen einst Leonhard seine Lehre aufbaute.“ 333

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Titze ist es auch, der den Zusammenhang von culpa in contrahendo und allgemeiner Rechtsgeschäftslehre hervorhebt und eine deutliche Grenze zu den Problemen beim Zugang von Willenserklärungen zieht. Es sei eine Verdunkelung des Begriffs, wenn Zugangsvereitelung und c. i. c. miteinander vermengt würden.337 Ebenso hält er die c. i. c. dort nicht für anwendbar, wo sie mit dem Irrtumsrecht kollidiert. So argumentiert er gegen RGZ 95, 58 (Wasserableitungsfall), dass dann, wenn ein wesentlicher Irrtum vorliege, ein Anfechtungsrecht in Betracht komme: Da beide Ansprüche auf demselben Rechtsgrund beruhen, nämlich auf unrichtiger Information, müssten auch die Folgen die gleichen sein, wenn nicht anderenfalls die Anerkennung der Haftung für c. i. c. eine Umgehung der strengen gesetzlichen Bestimmungen über die Grenzen des Anfechtungsrechtes mit sich bringen soll.338 Schließlich kritisiert er die Fälle, bei denen eine Beziehung zwischen Verschulden einerseits und Vertragsverhandlungen andererseits nur aufgrund eines zufälligen äußeren Zusammenhanges bestehe. Er wendet sich insoweit gegen die mit der Linoleumrollen-Entscheidung begründete Auffassung, den § 831 BGB zu umgehen, sei mit dem Institut der c. i. c. ein legitimer Weg. Die Rechtspflicht, fremde Güter oder Personen nicht zu verletzen, bestehe ganz generell und jedem gegenüber, und nicht erst, wenn man sich einem Verhandlungspartner gegenübersieht: „In Wahrheit sind die Sorgfaltspflichten, die hier verletzt werden, keine anderen, als wie sie jedermann gegenüber zu beobachten sind … Sorgfaltspflichten allgemeiner Natur, die etwa auf einer Stufe stehen mit der Verpflichtung, bei Glatteis vor dem Hause zu streuen, um das Publikum vor Körperverletzungen zu bewahren. Es handelt sich hier also überall lediglich um deliktische Haftung.“339

Man mag sich fragen, was so gesehen von der c. i. c. überhaupt legitimen Bestand hatte. Die Antwort ist bitter, aber wahr: Nichts! 337 JW

1931, 512. Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516/519 f.: „Aber gerade um des engen Zusammenhangs willen, in dem die Haftung wegen culpa in contrahendo mit dem Anfechtungsrecht steht, wird man unseren negativen Ersatzanspruch mit dem scharf umrissenen Anfechtungsrecht des BGB. in den notwendigen Einklang zu bringen haben. Nicht selten wird nun der Irrtum, in den der eine Teil infolge der vom anderen Teil verabsäumten Information versetzt worden ist, ein bloßer Irrtum im Motiv sein. Dann erscheint es unzulässig, auf dem Umweg des Ersatzanspruchs ein Anfechtungsrecht einzuführen, das das Gesetz bewußtermaßen abgelehnt hat.“ Dem schließt sich Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S. 53 an: „Anfechtungs‑ sowohl wie Schadensersatzanspruch beruhen auf der Verletzung der Offenbarungspflicht. Beide wollen die Vertragsfolgen vernichten. Soweit es sich also um derartige Fälle falscher Informationen handelt, wird man stets die Schranken der Irrtumsanfechtung auch auf c. i. c. anwenden müssen (…).“ 339 Titze, Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516/517; ebenso mit abweichender Begründung Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 225 f.: „Das Verhandlungsverhältnis (c. i. c.) deckt nur Erklärungspflichten.“; ausf. hierzu auch Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt (1934). 338 Titze,

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d) Flucht: Die culpa in contrahendo als Gewohnheitsrecht „Insgesamt erscheint danach der Bereich ‚zwischen‘ Vertrag und Delikt als ein nach wie vor unerforschtes Terrain, in dem Haftungsfiguren vagabundieren, die sich mangels einer plausiblen materialen Rechtfertigung der dogmatischen Erfassung entziehen. Vor allem wohl daraus erklärt sich, daß man sich auffällig häufig von jeder weiteren Reflexion mit dem Argument dispensiert, positive Forderungsverletzung und culpa in contrahendo seien gewohnheitsrechtlich legitimiert.“ Eduard Picker, 1983340 „Einen ungeregelten Bereich, der durch Gewohnheitsrecht gefüllt würde, gibt es so gut wie nie.“ Peter Krebs / Maximilian Becker, 2012341

Es mag nach allen genannten Problemen etwas verwundern, dass die Auffassung, eine Haftung für c. i. c. sei bereits Gewohnheitsrecht, dogmengeschichtlich genau in den Moment fällt, da die Begründung der Haftung gerade erst beginnt kompliziert  – um nicht zu sagen: unmöglich zu werden. Die Stimmen der letzten Kritiker sind noch nicht verstummt und die ersten neuen Zweifel werden deutlich,342 da erlangt die abstrakte Konstruktion schon den vermeintlichen Status, unanfechtbare opinio iuris zu sein.343 Mit dem Gedanken vom Gewohnheitsrecht beruhigen sich bereits Ende der 1920er Jahre alle diejenigen, die den Glauben an eine rationale Begründung der Haftung offensichtlich aufgegeben haben. Grundlegend und beispielgebend zugleich ist hier Wilhelm Steinberg (1930):344 Wie 340  Positive Forderungsverletzung und culpa in contrahendo – Zur Problematik der Haftungen „zwischen“ Vertrag und Delikt AcP 183 (1983), 369/386. 341 Entstehung und Abänderbarkeit von Gewohnheitsrecht, JuS 2013, 97/98. 342  Fundamentalkritik an der Vorstellung von einem vorvertraglichen Schuldverhältnis liefert Faber, Die Haftung des Vertretenen für das Verschulden des Stellvertreters beim Vertragsschlusse (1926), § 12; den Ausgangspunkt der ganzen Lehre leugnet auch Kammergerichtsrat Geppert, Gruchot 69 (1928), 529 ff., es fehle an einer Lücke; ebenso Bogusch, Die neuere Entwicklung der Lehre von der culpa in contrahendo (1928); kritisch zu Umfang bzw. Grundlage verhalten sich auch Titze (DJZ 1925, 490 ff.; HdW RW, 1929, S. 516 ff.; JW 1931, 512 f.) und Jung, Bürgerliches Recht (1931), S. 724 ff.; letzterer lehnt explizit den Gedanken an ein Gewohnheitsrecht ab: Ein Teil der Fälle seien Fälle der Schlechterfüllung und sohin der positiven Vertragsverletzung (S. 725), und im Übrigen handele es sich tatsächlich „um eine außervertragliche Schadensersatzpflicht wegen fahrlässiger Schädigung eines andern und zwar bloßer Vermögensschädigung, ohne daß ein verletztes Recht oder Rechtsgut herstellbar wäre“. (S. 727). 343  Dagegen aber schon Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 118; Mühlich, Die Grenzen der Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1935), S. 24: Die „Annahme eines Gewohnheitsrechtes … stellt, solange sich nicht eine gleichförmige Uebung mit einheitlicher Begründung und einer klaren Darlegung von Voraussetzungen und Inhalt der Haftung durchgesetzt hat, eine unberechtigte Unterstellung dar.“ 344  Die Haftung für culpa in contrahendo (1930), S. 82 ff.; Andeutungen auf eine gewohnheitsrechtliche Begründung zuvor bei Heldrich, (1924), S. 55: „Aus den zahlreichen vorvertraglichen Pflichten zur Wahrung der gegenerischen Interessen, die vom Gesetz und dem durch die ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts hervorgebrachten Gewohnheitsrecht anerkannt werden, dürfte sich so das allgemeine Prinzip ableiten lassen, daß jeder der sich entschlossen hat, zu einem anderen zum Zwecke des Abschlusses eines Vertrages in Beziehung zu

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viele andere vor345 und nach ihm346 hält auch er zutreffend eine Gesamtanalogie für unzulässig, weil sich aus den differenzierten gesetzlichen Regelungen ein allgemeines Prinzip nicht herleiten lasse. Da er gleichwohl, anders als die grundsätzlichen Kritiker, eine Lücke annehmen und ein Bedürfnis für ihre Schließung anerkennen will, verfällt er auf die geniale Ansicht, diese Ergänzung sei bereits Gewohnheitsrecht geworden. Die Irrtümer bei der Begründung der Lehre hinderten die Ausbildung eines entsprechenden Gewohnheitsrechtes ebenso wenig wie die Kritik an diesem Institut.347 Man kann nun keineswegs behaupten, dass Steinberg seiner These eine überzeugende Theorie vom Gewohnheitsrecht zugrunde legt oder den Gedanken der von ihm behaupteten „Lücke“ überhaupt ernsthaft begründet. Gleichwohl: Von nun an wird es in literarischen Darstellungen opportun, den ganzen Wust dogmatischer und methodologischer Begründungsprobleme kurzerhand mit dem Hinweis auf die „gewohnheitsrechtliche Anerkennung“ der culpa in contrahendo beiseite zu schieben, nur um sich mit dieser verzwickten Frage nicht noch einmal befassen zu müssen und ggf. Zweifel an der Legitimation der neuen c. i. c. aufkommen könnten. Die zugleich beruhigende und eine herrschende Meinung beschwörende Formel von einem gesetzlichen Schuldverhältnis aufgrund gewohnheitsrechtlicher Anerkennung geht von hier aus.348 treten, zur Wahrung der gegenerischen Interessen in gewissem Umfange verpflichtet ist.“; Heck, Schuldrecht (1929), § 41, 4, S. 123 f. 345 S. o. III.1. 346  Vgl. nur Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 23: „Die im Gesetz enthaltenen Bestimmungen von c. i. c. sind innerlich zu verschieden, um den Schluß auf ein zur Lückenausfüllung geeignetes allgemeines Prinzip zuzulassen.“; Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 32 ff.: „Wenn der Gesetzgeber schon gegenüber den von ihm geschaffenen Grundregeln zurückhaltend, ja innerlich ablehnend war, dann können nicht ohne weiteres die von den Vertretern der Rechtsanalogie herangezogenen abstrakt-konkreten Bestimmungen des Gesetzes auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zurückgeführt werden, der im Gesetz keine ausdrückliche Aufnahme gefunden hat.“; Larenz, Schuldrecht I, ab der 5. Aufl. (1962), § 4 V., S. 40 f.: Die Einzelbestimmungen des BGB sind so begrenzt, „daß sie allein die Auffindung des allgemeinen Grundsatzes mittels einer ‚Gesamtanalogie‘ kaum rechtfertigen würden“.; Huber, Gutachten (1981), S. 746: „Ein einheitliches Prinzip, das einer gesetzlichen Gesamtregelung zugrundegelegt werden könnte, läßt sich aus den vielfältigen Erscheinungsformen der Rechtsfigur nicht abstrahieren.“; Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo, (2001), S. 231/234: „ein Sammelsurium von Haftungstatbeständen, die kaum etwas gemeinsam haben, außer, daß das haftungsbegründende Verhalten sich im vorvertraglichen Stadium zuträgt. Die Lehrbücher sprechen in diesem Zusammenhang verharmlosend von ‚Fallgruppen‘.“ 347  Steinberg, Haftung für culpa in contrahendo (1930), S. 89 f.: „Da also die Lehre der cic. Gewohnheitsrecht ist, würden die Einwendungen Gepperts die Lehre auch nicht mehr erschüttern können, auch wenn die Grundlagen der Lehre irrig sind und diese mit dem Gesetz in Widerspruch steht.“ Diesen Satz verbindet Steinberg kurzerhand mit einer Abfuhr an alle, die eine andere Auffassung zur Begründung von Gewohnheitsrecht haben (aaO., Fn. 358). 348 Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933): „Die Lehre von der Haftung ist heute fest begründet und es erübrigt sich, die Begründungen immer wieder nach neuen Gesichtspunkten zu untersuchen und die Ergebnisse sich gegenüber zu stellen. Insb. aber ist es ohne jedes praktische Interesse, nach weiteren Begründungen zu suchen.“; ebenso Mühlich, Begrenzung

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Manche halten es seither für eine „rechtshistorisch-methodologische Finesse“, d. h. ein rechtsdogmatisch zwar bedeutsames, aber leider mittlerweile verlorengegangenes Wissen, die (vermeintlichen) „Analogiegrundlagen“ der culpa in contrahendo vorzuzählen.349 Die eigentliche ‚rechtshistorisch-methodologische Finesse‘ liegt freilich in der Erkenntnis, dass es weder eine Lücke noch eine passende „Analogiegrundlage“ für ein abstraktes Institut mit dem Namen „culpa in contrahendo“ jemals gegeben hat. Dieser Beitrag der Rechtsgeschichte fehlt – oder er ist halt schon lange nicht mehr „zeitgemäß“. Man muss sich das noch einmal auf der Zunge zergehen lassen: Es knüpft sich eine prinzipielle Abstraktion an die andere, von Leonhard bis Stoll, eine wackelige Konstruktion wird im Namen der Billigkeit logisch ‚consequent‘ auf die andere aufgebaut, und in dem Moment, da man nicht mehr weiter weiß und die Haltlosigkeit der ganzen Konstruktion bemerkt, wird das konturenlose Gerippe als ungesetzlich gesetzliches, quasivertragliches Gewohnheitsrecht vorgestellt. Eigentlich ein rechtswissenschaftliches Trauerspiel. Aber Recht ist, woran die maßgebliche Mehrheit in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis glaubt, dass es

und Rechtsnatur (1933), S. 16: „Es erübrigt sich, hier zur Klärung dieses Streites beizutragen, da diese theoretischen Untersuchungen heute ohnehin recht müßig sein dürften (…).“; Stoll, JW 1933, 34/35: Es entspreche „die grundsätzliche Anerkennung einer rechtsgeschäftlichen Haftung für c. i. c. nicht nur gefestigter Lehre, sondern vor allem auch ständiger RGRspr. Insoweit darf heute schon von einem Gewohnheitsrecht gesprochen werden.“ Diese Auffassung ist vor allem deshalb sehr originell, weil Stoll im gleichen Beitrag die Rechtsprechung des Reichsgerichts (hier RGZ 132, 76) kritisiert: „hoffentlich überprüft das RG seine Ausnahme noch einmal!“; Erman, AcP 136 (1934), 273/318: „Mir scheint, daß sich hier die Haftung zwar jetzt nachträglich, nachdem sie nun einmal da ist, zur Not mit dem Gesetz in Einklang bringen läßt, daß wir es aber gerade in diesem Punkt doch dankbar begrüßen müssen, jetzt auch noch die Stütze des Gewohnheitsrechts zur Verfügung zu haben. Das wird bei der heute in Literatur und Rechtsprechung … in allem grundsätzlich gleichmäßigen Bejahung und Begrenzung der Haftung nicht mehr zweifelhaft sein.“; ebenso dann Krauße, Haftung für Culpa in Contrahendo (1937), S. 36 ff., der alle Begründungsansätze verwirft, um die Haftung sodann auf Gewohnheitsrecht zu stützen. Von Anfang an gewohnheitsrechtlich argumentiert: Larenz, Schuldrecht I (1953), § 7 II, S. 59: „… das infolge langjähriger Übung und der Aufnahme in das allgemeine Rechtsbewusstsein heute die Kraft eines Gewohnheitsrechts hat.“; Nirk, FS Möhring I (1965), S. 385/392: „Nachdem der in richterlicher Rechtsfortbildung erarbeitete allgemeine Rechtsgedanke der c. i. c. zur Anerkennung gebracht und die Verselbständigung dieses Rechtsprinzips als eigenständige Haftung gegenüber der Vertragshaftung vollzogen worden war, konnten bei diesem, aus unserer Rechtsordnung nicht mehr wegzudenkendem gesetzlichen Rechtsverhältnis alle dogmatischen Einordnungsversuche mit Recht unterbleiben.“; dagegen zutreffend Picker, p. V. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/386 (vgl. oben Eingangszitat). 349  Dilcher, Vom Beitrag der Rechtsgeschichte zu einer zeitgemäßen Zivilrechtswissenschaft, AcP 184 (1984), 246/255: „In meiner Studienzeit in den 50er Jahren gehörte das Aufzählen der Analogiegrundlagen für die Rechtsfiguren der culpa in contrahendo wie der positiven Vertragsverletzung noch zu dem vom Repetitor vermittelten Grundwissen, während die Examensfrage danach heute eher als rechtshistorisch-methodologische Finesse erscheint. Als methodische Legitimation genügt nun der Begriff Gewohnheitsrecht (…)“.

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recht sei. Und die Wissenschaft beruhigt sich – im Grundsatz bis heute – mit dem Hinweis auf die Weisheit der Rechtsprechung: „Wenn die Frage in der Rechtsprechung seit mehr als zwei Jahrzehnten in bejahendem Sinne entschieden wurde, so dürfte das der beste Beweis dafür sein, daß die Haftung dem Rechtsempfinden entspricht. Insoweit bedarf es demnach keiner weiteren Prüfung.“350

Den einen Aspekt dieser Entwicklung kennen wir schon: „… indem diejenigen, die nicht denken können … sich durchs Fühlen auszuhelfen glauben (…).“351 Ein zweiter wichtiger Punkt tritt hier signifikant in den Vordergrund: Die ganz offene Delegation der Rechtsfindung und Rechtsbegründung an die Rechtsprechung. In der Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts war es noch undenkbar, der Judikative bereits Rechtsquellencharakter zuzusprechen. Theoretisch ambitionierte Praktiker wie Otto Bähr, Friedrich Mommsen oder Ernst Zimmermann beteiligten sich an der Deutung und Fortbildung des Rechts, aber eben primär in den Foren der Literatur. Die Autorität für die Klarstellung dessen, was Recht sei, lag im 19. Jahrhundert bei der Rechtswissenschaft.352 Das änderte sich jetzt, in den 1920er Jahren. Die Freirechtsbewegung hatte ganze Arbeit geleistet. Die Rechtswissenschaft mühte sich nunmehr vorrangig, die Judikate des Reichsgerichts (und später auch die des Bundesgerichtshofs) zu interpretieren und ihnen eine möglichst abstrakte dogmatische Begründung zu geben. Der bekämpfte Gesetzespositivismus wurde zusehends zu einem Rechtsprechungspositivismus, bei dem das verbindlich gilt, was die letzte Instanz in jedem Einzelfall judiziert. Es gab freilich durchaus Bemühungen, sich diesem Trend entgegenzustellen. Dass in mehr als zwanzig Jahren keine plausible Begründung für die Haftung aus culpa in contrahendo gefunden wurde, war das eine, dass aber auch die Konstruktion selbst jede Kontur und Form vermissen ließ, das war das andere Problem. Dieses hatte, wie gesehen, als erster Heinrich Titze bemerkt und durch detaillierte Fallgruppenbildung die Sache einzugrenzen sich bemüht. Dem folgend konstatierte 1936 auch Ernst Rabel, dass die Haftung für culpa in contrahendo weniger des Ausbaus denn der Begrenzung bedürfe.353 Das Jahr 1930 – das Jahr der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung der culpa in contrahendo – kann insoweit als wichtige Zäsur für die weitere Entwicklung gelten: Es gab fortan nicht mehr nur weitere Bemühungen, eine neue abstrakte Begründung der Haftung zu entdecken oder zu konstruieren, sondern durchaus konkretere Bemühungen, diese Haftung wieder einzudämmen:

 Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 17. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), S. 442. 352  Hierzu Vogenauer, An Empire of Light? Learning and Lawmaking in the History of German Law, (2005) 64 Cambridge Law Journal 481–500. 353 Recht des Warenkaufs I (1936), § 24, S. 157. 350

351 Kant,

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§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c.

„Nachdem das Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen seiner Art nach und in seiner Beziehung zur geltenden Rechtsordnung erkannt ist, muß ihm eine feste Begrenzung gegeben werden, die es gestattet, seinen Aufgabenkreis zu bestimmen.“354

Hierbei verließ man sich nicht mehr darauf, dass das Reichsgericht im Einzelfall schon aus dem richtigen Rechtsgefühl heraus den Fall richtig entschieden und sohin erneut eine Lücke im Gesetz aufgewiesen hatte. Im Gegenteil: Der Rückgriff auf das Institut der culpa in contrahendo wurde kritisch hinterfragt. Gleichsam von Heinrich Titze (1929) bis zu Dieter Medicus (1965, 1981 passim) wurde an das ausdifferenzierte Gesetzesrecht erinnert, mit dem die c. i. c. notwendigerweise in Konkurrenz getreten war und man suchte nach einer Zähmung dieses „wandelnden Irrwischs“355: „Ein Rechtsgebilde, das keine gesetzesmäßige Festlegung erfahren hat, ist in seiner Tragweite und seinen Grenzen gegenüber benachbarten Rechtsgebieten naturgemäß flüssig. Es besteht deshalb die Gefahr, daß die ursprünglichen Aufgaben und das ursprüngliche Anwendungsgebiet eines solchen Rechtssatzes allmählich vergessen und verwässert werden. Besonders groß ist diese Gefahr, wenn wie gerade in der Lehre von der c. i. c. in Schrifttum und Rechtsprechung Streit über Rechtsgrund und Rechtsnatur herrscht.“356

Die Details der Eingrenzungsbemühungen gehören in den dogmatischen Teil. An dieser Stelle interessiert nur zweierlei: Zum ersten ist festzuhalten, dass in dem Moment, da die culpa in contrahendo als etabliert angesehen und die ewige unfruchtbare Debatte um ihren Rechtsgrund „ausdiskutiert“ ist, der dogmatische Blickwinkel nun wieder die Ein‑ und Abgrenzung des Instituts, d. h. jetzt erst die Suche nach einer tatsächlich vorhandenen Lücke im Gesetz erfasst.357 354 Mühlich,

Begrenzung und Rechtsnatur (1933), S. 21.  Lieb, Grundfragen der Schuldrechtsreform, AcP 183 (1983), 327/333. 356  Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 42. In diesem Sinne kritisch Ottensmeyer, Die rechtsgeschäftliche Haftung für culpa in contrahendo (1935) und auch schon Mühlich, Begrenzung und Rechtsnatur (1933), S. 22: „Diese [die c. i. c.] ist nicht ins Leben gerufen worden, um bestehende Rechtssätze zu verdrängen, sondern nur deshalb, um in Erscheinung getretene Lücken auszufüllen. Insoweit andere Rechtsinstitute mit ausreichender Regelung der Lebensvorgänge zur Verfügung stehen, ist für die besondere c. i. c.-Haftung kein Raum. Die Bestimmtheit und Bestimmbarkeit ihres Geltungsbereiches ist auch dringend geboten, damit die Sicherheit im Rechtsverkehr gewahrt bleibt. Schrankenlose Anwendung verkehrt leicht den Zweck der Haftung, einen erstrebten ausreichenden Rechtsschutz in sein Gegenteil, indem nämlich der Schutz des einen Teils füglich zu einer unbilligen Schutzlosigkeit des anderen führt.“ 357  Zutreffend bemerkt Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 42: „Die Hauptschuld an der über Gebühr großen und mit dem geltenden Recht unvereinbaren Ausdehnung der Lehre trägt die Verkennung ihrer Subsidiarität. Diese Subsidiarität verbietet, die Lehre da anzuwenden, wo bereits irgendwelche andere Rechtsvorschriften für das gleiche Verhalten eine Haftung festsetzen. Der Beweis der Subsidiarität ergibt sich aus der rechtlichen Begründung der Lehre. Diese wurde durch Ausfüllung der festgestellten Gesetzeslücke im Wege ergänzender Rechtsfindung gefunden. Wenn nun in Einzelfällen bereits andere Rechtsvorschriften eine Haftung anordnen, dann liegt eine Gesetzeslücke überhaupt nicht vor, weil es am Ergänzungsbedürfnis, zumindest aber an der Ergänzungsfähigkeit mangelt. (…) Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts mag das Gesagte veranschaulichen. Es handelt sich um den bekannten sogen. Luisinfall, in dem das Reichsgericht die Haftung für c. i. c. zum ersten Male ausdrücklich anerkannte (…).“ 355

III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis

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Insoweit ist es zweitens ausgesprochen interessant, was die dogmatische Kritik in der Sache zu Tage gefördert hat. Wenn Erich Berger (1935) im Anschluss an Heinrich Titze (1925/1929/1931) an die „ursprünglichen Aufgaben und das ursprüngliche Anwendungsgebiet“ der culpa in contrahendo erinnern will, so sind wir notwendig an die Ursprünge der „Wiederentdeckung“, d. h. an Leonhards ‚Ersatz-p. V.‘ und an die Linoleumrollen-Entscheidung des Reichsgerichts erinnert. Nun sind es aber u. a. gerade diese beiden Fallgruppen, Erfüllungsverschulden (culpa in solvendo) und Deliktshaftung, die von den dogmatischen Kritikern dem Anwendungsbereich der culpa in contrahendo aus guten Gründen wieder entzogen werden sollten. Wenn dem aber so ist, dann wird neuerlich deutlich, dass die moderne culpa in contrahendo zu keinem Zeitpunkt einen originären eigenen Anwendungsbereich besessen hat. Die Postulation eines „Gewohnheitsrechts“ galt sohin von Anfang an einem abstrakten Phantom, von dem man an sich gar nichts Sicheres wusste, außer dass Billigkeit, Rechtsempfinden und logische Konsequenz seine Existenz mit Sicherheit forderten. Verständlich wird diese aus dogmatischer Sicht merkwürdige Entwicklung nur, wenn wir uns noch einmal den methodologischen Schöpfergeist vor Augen führen, der vom Glauben an die Lückenhaftigkeit des Gesetzes und einer geschichtslosen Rechtsschöpfung („objektive Auslegung“) maßgeblich getragen wurde, bei der die Weisheit des Interpreten über der Weisheit des als mangelhaft erkannten Gesetzes steht. Aber vielleicht ist es auch einfach nur Ignoranz: „Das Gesetz verneint eine Haftung nicht, wenn es sie nicht ausspricht; denn das Schweigen des Gesetzes ist zur Auslegung ungeeignet, da es objektiv mehrdeutig ist. Wertvollstes Rechtsgut ginge auf diese Weise für immer verloren. Solche Rechtsauslegung wäre Sünde gegen das gesunde Rechtsempfinden eines Volkes, wie es im Geist des Gesetzbuches, wenn auch unvollständig, zum Ausdruck gekommen ist. So ist es denn kein Wunder, daß die herrschende Lehre gegen diese Gesetzesauslegung Einspruch erhoben hat und sich nicht der schönen Erkenntnis verschließt, daß die Ausfüllung einer Lücke im Geiste der Rechtsordnung eine rechtsschöpferische Tat ist, die da helle Perlen auf Schwarzen Samt hervorzuzaubern weiß, wo lebensfremde Juristerei nur den toten Buchstaben des Gesetzes sieht – oder vermisst.“358

Als wenn man vom Gesetzgeber erwarten müsste, dass er alles das, was er als Recht ablehnt, gleichsam negativ im Gesetz mit aufzulisten hätte. Wozu sich mit Ideen-, Dogmen‑ oder der Gesetzgebungsgeschichte von Rechtsnormen lange aufhalten, wenn doch ohnehin für Gewohnheitsrecht erklärt wurde, was nicht im Gesetz steht. Hören wir demgegenüber aus der Perspektive des potenziellen Gesetzgebers Dieter Medicus, der 50 Jahre später als Gutachter zur Frage des Umfangs einer Kodifikation der culpa in contrahendo im BGB auch wieder eher restriktiv votiert hat: „Eine positive Regelung für diesen Anwendungsfall des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen entfällt also. Aber auch eine negative, die Anwendung des Rechts der Son358 Ottensmeyer,

Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1935), S. 35.

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§ 5 Entdeckungsfieber (1900–1930): Renaissance der c. i. c.

derverbindung bloß ausschließende Anordnung dürfte unnötig sein“, dies ergebe sich „ohnehin e silentio, wenn andere Anwendungsfälle … gesetzlich geregelt sind.“359

Kurz: Gegen eine ergebnisorientierte juristisch kreative „objektive Auslegung“ ist alle Weisheit des Gesetzgebers machtlos. Der Drang nach Originalität und literarischer Produktion wird die Lücken immer zu finden wissen, die mittels Logik und Rechtsgefühl sinn‑ und wortreich auszufüllen sind. Oder was eigentlich hätte sonst Rechtswissenschaft zur Aufgabe? Auch gedachte Lücken sind Lücken, wenn nur genügend andere Gläubige an das Dogma der Lücke glauben.

359 Medicus,

Gutachten (1981), S. 494.

§ 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c. „Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden, gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sey, unwissend oder in durchgängigem Irrthume gewesen wäre?“ Immanuel Kant, 17881 „Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt, und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im Uebrigen von der bisherigen divergiren möge; eine solche Jurisprudenz läßt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen.“ Rudolf v. Jhering, 18572

Das Recht ist sich niemals gleich – oder es bewegt sich in archaischen „Grundformen“. Was ist wahr? Die These von der Universalität des römischen Privatrechts3 oder die These von der ewigen Unzulänglichkeit allen Rechts? Ist die Jhering’sche Evolutionstheorie des Rechts eine zutreffende Beschreibung der Unbeständigkeit der Rechtsdogmatik oder ist sie vielmehr gleichsam eine tief ins Unterbewusstsein gehauchte methodologische Beschwörung, der jeder progressive Jurist, der „juristische Entdeckungen“ zu machen hofft, notwendig Folge leistet? Fortschritt bedeutet dann: Erst wird das vermeintlich geltende Recht restriktiv interpretiert, dann eine Lücke und schließlich eine Entdeckung behauptet. Wie dem auch sei: panta rhei – das 20. Jahrhundert scheint jedenfalls diejenigen Rechtstheoretiker widerlegt zu haben, die davon ausgehen, dass die „Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt“ allesamt bereits „entdeckt“ seien. Alles verändert sich. Niemand entdeckt eine „juristische Entdeckung“ zweimal. Immer wieder erreicht die neue „Entdeckung“ eine neue Qualität. Es gibt demnach keine – oder wenn, dann jedenfalls nur eine verschwindend geringe Anzahl – apriori vorhandener Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute. Selbst die Vergäng1 Kritik

der praktischen Vernunft, Vorrede, S. 14.  Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1/16. 3  Der Gedanke seiner Universalität ist wesentliche Voraussetzung für die Ansicht von einer dauerhaften Bedeutung des römischen Rechts: vgl. nur Theodor Mommsen, Die Bedeutung des römischen Rechts (1852), in: Gesammelte Schriften III, S. 591–600, insb. S. 593 ff.: „Wir lehren somit von praktischen Dingen allerdings hauptsächlich solche, die sich von selbst verstehen.“; Koschaker, Europa und das römische Recht, 1947 (4. Aufl. 1966), insb. S. 352: „Das Privatrecht aber als der konservativste Teil der gesamten Rechtsordnung ist weit krisenfester, weit weniger von sozialen Wandlungen … abhängig, als man gemeiniglich glaubt.“ 2

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§ 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c.

lichkeit der c. i. c. ist mittlerweile nicht mehr zu übersehen. Doch sie soll nicht zurückfallen in das Nichts, aus dem sie emporwuchs, sondern aufgehen in einem noch umfassenderen abstrakten Haftungsinstitut. Die Zivilrechtswissenschaft hat eine neue Dimension induktiver Abstraktion erreicht: die generelle Haftung für Schutzpflichtverletzungen in einem umfassenden Schutzpflichtverhältnis. Wissenschaft ist das, was diejenigen, die an sie glauben, darüber reden, was sie sei. Und so müssen wir uns nicht verwundern, wenn uns eben in dem Moment, da culpa in contrahendo bzw. Verschulden beim Vertragsschluss bis zum Überdruss und ohne neue Erkenntnisse hinauf und hinab dekliniert worden sind, neue Begrifflichkeiten und Konstruktionsformen auf den Markt der Ideen getragen werden. Im Grunde erscheint alles als die Entfaltung eines letzten Prinzips. Oder mit den gewonnenen Erkenntnissen aus der Analyse der Jhering’schen Gefühlsmethodologie können wir auch konstatieren: Die Differenzierung ist schwere Verstandesarbeit, die römischen Juristen haben sie geleistet. Die jüngere Evolution des Rechts erscheint demgegenüber als Abstraktion des Prinzipiellen, und diese ist letztlich die „Consequenz“ des prinzipiell normativ Gefühlten: Jede zu bescheiden gefasste Haftungskonstruktion „zieht die Consequenzen“ nicht, die prinzipiell in ihr angelegt sind. Die ausdifferenzierte Jhering’sche c. i. c.? Zu eng! Die Leonhard’sche c. i. c.? Zu eng! Nun endlich auch die alles vereinigende Stoll’sche c. i. c.? Ebenfalls zu eng! Das Prinzip hinter alledem duldet keine Begrenzung, und es wird verständlich, warum bei der Wiederentdeckung der c. i. c. soviel „Logik“ bemüht wurde: Jede Einschränkung widerspräche dem Prinzip, dass für Schuld zu haften sei – ob vor, bei oder nach Vertragsschluss, ob mit oder ohne Vertrag. Letzteres, die Stufe der vorletzten Abstraktion, beginnt mit der Einsicht, dass es auch auf dieses letzte greifbare Kriterium des Vertrages für eine „consequente“ Deklination des Haftungsprinzips gar nicht ankommt. Die letzte Abstraktion ist schließlich auch die Verdrängung des klassischen Deliktsrechts, die Ausdehnung einer „dritten“ zu einer umfassenden „Haftungsspur“, eine allgemeine actio culpae und der „Abschied vom BGB“. Am Ende der ersten dreißig Jahre Entdeckungsfieber unter Geltung des BGB hatte man immerhin ein neues, ein „vorvertragliches Schuldverhältnis“ und den Glauben daran, dass es auf der Grundlage dieses Verhältnisses nunmehr möglich sei, „… eine Haftung für subjektiv vorwerfbares Verhalten während der V. V. ‚allgemein‘, das heißt für jedes derartige Verhalten, für das Treu und Glauben und das praktische Bedürfnis sie erfordern, anzuerkennen. Es ist ja nun erwiesen, daß während der V. V. nicht nur der Verkäufer dem Käufer zur Anzeige von Mängeln, nicht nur jeder Kontrahent eines Schuldvertrags dem andern zur Erkundigung usw. verpflichtet ist, sondern daß jeder Vertragschließende mit dem Beginn der Verhandlungen zu dem andern in ein Rechtsverhältnis, in eine engere, in eine rechtliche Beziehung eintritt, die ihn verpflichtet, schon während der Verhandlungen auf die Interessen des Gegners Rücksicht zu nehmen.“4 4 Krasser,

Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen (1929), S. 28.

III. Dogmatischer Dammbruch: Das vorvertragliche Schuldverhältnis

393

Da dies „nun erwiesen“ war, bedurfte es nurmehr eines Nachweises, wann genau welche Pflichten in welchem Zeitpunkt und in welchem Schuldverhältnis genau bestehen. Das Problem (oder der besondere Reiz) des durch Heinrich Stoll final gewonnenen abstrakten vorvertraglichen Schuldverhältnisses ist seine konstruierte Leere. Denn der Begriff der Schuld kommt, wie gesehen, von einer Präzisierung der Haftung für culpa, d. h. nicht von einer Haftung für Fahrlässigkeit ganz allgemein, sondern einer Haftung für das Geschuldete, das debitum. Das Entscheidende an einem Schuldverhältnis ist mithin die Bestimmung dessen, was innerhalb des Verhältnisses geschuldet wird, kurz: das jeweilige Pflichtenprogramm! Woher ergibt sich nun aber die jeweilige Schuld in einem Schuldverhältnis? Das ist die zentrale Frage, die mit der Abstraktion eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses aus der Existenz vorvertraglicher Pflichten jedenfalls dann nicht beantwortet ist, wenn man – und das ist ja gerade die These von der „Lücke“ – neue „lückenfüllende“ Pflichten erkennen möchte. Diese Problematik aber war bis dahin ungelöst: „Wie weit diese allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme im einzelnen geht, welches konkrete Verhalten sie im einzelnen erfordert, welchen Umfang und welche nähere inhaltliche Ausgestaltung sie im jeweiligen Falle annimmt, das läßt sich nicht allgemein bestimmen, sondern das muß in Anlehnung an die gesetzlichen Einzelvorschriften nach Treu und Glauben bestimmt werden.“5

Kurz: Die Vorstellung von einem vorvertraglichen Schuldverhältnis bleibt eine leere Hülse, wenn und soweit unklar bleibt, welche Pflichten hier eine diligentia der Parteien erfordern und wenn und soweit unklar bleibt, auf welcher Grundlage die Pflichten postuliert werden, die später eine der Parteien zum Schadensersatz soll verbinden können. Der Gipfelpunkt der Abstraktion ist daher mit der Vorstellung von einem formal konstruierten „Rahmen“ als ‚vorvertragliches Schuldverhältnis‘ noch nicht erreicht. Erst mit der materialen Vorstellung von einer umfassenden, von Versprechen und Vertrag völlig losgelösten Vertrauenshaftung, bei der eine haftungsbegründende Pflichtverletzung immer schon dann deduziert werden kann, wenn Vertrauen gewährt und in Anspruch genommen wurde, wird das Ende aller möglichen Abstraktion erreicht. Mehr geht nicht. Es scheint auf den ersten Blick so, als sei die Geschichte der culpa in contrahendo damit endlich mit vielen wissenschaftlichen Mühen an ihr Ziel („der Weisheit letzter Schluss“) gelangt. In der Sache ist nun aber lediglich an der Stelle der culpa die bona fides zu einer causa obligationis gemacht. Die Haftung selbst verlässt den konstruktiven Rahmen in contrahendo und überdehnt sich zu einer umfassenden Haftung in tangendo, die, wenn man sie ernst nimmt, das gesamte Vertrags‑ und Deliktsrecht konsumiert.

5 Krasser,

Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen (1929), S. 28.

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§ 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c.

I. Noch zwei ‚Entdeckungen‘: Schutzpflichten und Schutzpflichtverhältnis „… und der civilistische Homunculus, d. h. der Begriff, wird produktiv und begattet sich mit andern seinesgleichen und zeugt Junge.“ Rudolf v. Jhering, 18616

Die wohl wichtigste Thematik im Schuldrecht des 20. Jahrhunderts ist die immer neue ‚Entdeckung‘ und systematische Erfassung von Schutzpflichten.7 Im Zentrum des aktuellen Schuldrechts steht die umfassende Haftung für Pflichtverletzung (§ 280 BGB), und wir glauben bis heute, dies sei das Verdienst oder Erbe Staubs. Genau genommen ist das aber nicht richtig. Es ist das Erbe Heinrich Stolls, das mit der Schuldrechtsreform 2002 im BGB festgeschrieben wurde, und zwar in doppelter Hinsicht: 1. Als Ergebnis einer Ausdehnung seines vorvertraglichen Schuldverhältnisses und der damit verbundenen Verabschiedung der positiven Vertragsverletzung. 2. Als Fortführung der 1933 begonnen Verabschiedung des BGB, insbesondere des Stoll’schen Entwurfs zur Neuordnung des Rechts der Leistungsstörungen. Beide Punkte bedürfen der genaueren Betrachtung. Hier geht es zunächst um den ersten8: die Konstruktion eines vom Vertrag weitgehend gelösten umfassenden Schutzpflichtverhältnisses. Heinrich Stoll hat nach 30 Jahren Diskussion um die p. V. und 20 Jahren Fortentwicklung der c. i. c. die Quintessenz der Debatte gezogen, die „Lehre von den positiven Vertragsverletzungen“ verabschiedet und durch eine Lehre von den „Forderungsverletzungen“ ersetzt.9 Man könnte wohl einwenden, Stoll habe nur auf den Lehren Staubs aufgebaut. Doch das trifft weder seine eigene Intention noch das Resultat. Stoll war der Ansicht, es sei „an der Zeit“, von der p. V, die „historisch betrachtet kein Ruhmesblatt der deutschen Rechtswissenschaft“ sei, „nach ihrem dreißigjährigen Bestand endgültig … Abschied zu nehmen“.10 Nur  – und das ist das Originelle an Heinrich Stolls Nekrolog  – es ging nicht einmal mehr darum, die Überflüssigkeit von Staubs „Entdeckung“ vorzutragen, sondern vielmehr darum, eine weitere „Consequenz“ aus den Lehren der culpa in contrahendo zu ziehen: Sie ist immer noch zu eng gefasst! Die zwischen Staubs und F. Leonhards ‚Entdeckungen‘ von Anfang an bestehende Konkur-

 6  Erster Brief eines Unbekannten in: Preußische Gerichtszeitung III (1861), Nr. 41; auch in: Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), S. 7.  7 Vgl. nur Medicus, Probleme um das Schuldverhältnis (1987).  8  Zum zweiten Punkt unten § 6 II.2.  9  Heinrich Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/314 ff. 10 Heinrich Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/260.

I. Noch zwei ‚Entdeckungen‘: Schutzpflichten und Schutzpflichtverhältnis

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renz um die Frage der passenderen neuen Konstruktion für die alte contractliche culpa wird durch die logisch consequente Ausdehnung der culpa in contrahendo und mithin der Vereinigung von p. V. und c. i. c. aufgelöst. Oder um es mit der methodologischen Anschaulichkeit Jherings zu formulieren: Die beiden großen zivilrechtlichen Entdeckungen „begatten“ sich und „zeugen“ in ihrer dogmatischen Verbindung einen neuen „civilistischen Homunculus“. 1. Expansion: Die c. i. c. verschlingt die p. V. „Vom Boden der hier vertretenen Auffassung aus, wonach schon durch die Vertragsverhandlungen Sorgfaltspflichten begründet werden, deren Verletzung ersatzpflichtig macht, ist nur ein kleiner Schritt zu der weiteren Erkenntnis, daß die Haftung nicht davon abhängen kann, ob der Vertragsschluß, der später auf Grund der Verhandlungen erfolgt, gültig oder infolge entgegenstehender juristischer Hindernisse ungültig ist.“ Heinrich Titze, 192911 „Denn was im vorvertraglichen Stadium allgemein anerkannt ist, muß insoweit nach Vertragsschluß ebenso gelten, will man nicht willkürliche, d. h. ungerechte Unterschiede hinnehmen.“ Claus-Wilhelm Canaris, 196512

Wir erinnern uns: Wenn man von einem ‚Verdienst‘ Staubs sprechen möchte, dann ist es das, den bereits im BGB angelegten dogmatischen Wandel der vertraglichen Haftung von der gemeinrechtlichen culpa auf den Gesichtspunkt der naturrechtlichen Pflichtverletzung neuerlich vollzogen zu haben. Die Debatte um die Berechtigung seiner Lehre führte zu einer ausgiebigen Diskussion um die Pflichten in einem Schuldverhältnis. Dies allein ist der Ausgangspunkt, auf den sich Stoll bezieht und den er als Verdienst Staub auch belässt.13 Im Übrigen erhebt Stoll gegen Staubs Lehre denselben Einwand, den wir schon im Rahmen der systematischen Begründungsversuche der c. i. c. kennen gelernt haben: Ein übergreifender Gedanke – das einigende Haftungsprinzip fehlt: „Es ist systematisch verfehlt, die pVV. als dritte Gruppe neben Unmöglichkeit und Verzug zu stellen. Es gibt keinen einheitlichen positiven Grundsatz, der sie den Voraussetzungen oder den Rechtsfolgen nach zusammenfassen oder von den beiden genannten Rechtslagen unterscheiden würde. Weder nach Art der verletzten Pflichten (Unterlassungspflichten, Nebenpflichten), noch nach der Wirkung der Verletzung (positives Handeln), noch nach

11 Titze,

Verschulden bei Vertragsschluß (1929), S. 516/520 f.  Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkung für Dritte“ bei nichtigen Verträgen, JZ 1965, 475/476. 13 Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/286: „Staubs vielumstrittene Lehre hat jedenfalls den einen günstigen Erfolg gehabt, daß unsere Dogmatik durch eingehende Untersuchungen über die Pflichten aus einem Schuldverhältnis, die Arten und Folgen ihrer Verletzung wesentlich bereichert worden ist.“ 12

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§ 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c.

der Wirkung der Verletzung (Begleitschäden, Verletzung von Schutzinteressen) weisen die Tatbestände der pVV. irgendwelche Einheitlichkeit auf (…).“14

Der Begriff sei letztlich nichts anderes als „ein ‚irreführender Sammelname‘ für Dinge, die nichts miteinander gemein haben“, und er sei dazu noch „sprachwidrig, weil bei allen Arten der Interessenverletzung die Handlung sowohl in einem positiven Tun wie in einem Unterlassen bestehen kann und weil nicht bloß aus Verträgen, sondern auch aus gesetzlichen Schuldverhältnissen die Pflichten entstehen können“.15 Machen wir es kurz: Stoll ließ mit seiner Kritik an Staubs Lehre und dem alternativen Gedanken von einem einheitlichen „System der Forderungsverletzungen“16 in der Sache zwei Haftungsinstitute wieder zusammenwachsen, die vor zwanzig Jahren mit Franz Leonhards Lehre vom „Verschulden beim Vertragsschlusse“ eigenständige Wege bei der Lösung der gleichen Sachprobleme eingeschlagen hatten. Es konnte auf die Dauer nicht verborgen bleiben, dass ganz abgesehen von einer Konkurrenz zu den gesetzlich geregelten Rechtsinstituten (Unmöglichkeit, Verzug, Gewährleistungsrechten, Delikt) die gleichen Fälle der Schlecht‑ und Nichtleistung sowohl unter dem Gesichtspunkt der p. V. als auch der culpa in contrahendo gelöst werden konnten.17 Die Konsequenzen, die sich aus dieser Beobachtung ziehen ließen, waren allerdings verschiedene. Einerseits hatte Himmelschein (1932) gerade noch einmal der Lehre Staubs den Boden entzogen (oder doch jedenfalls den Treibsand vor Augen geführt, auf dem sie aufgebaut war),18 und Heinrich Titze hatte drei Jahre zuvor (1929) erneut mit einer sehr umfangreichen Kritik auch die ungelösten Konkurrenzen der c. i. c. aufgezeigt.19 Andererseits hatte eben erst Felix Herholz (1929) auf die Willkürlichkeiten einer zeitlichen und geltungsrechtlichen Verschiebung des Vertragsschlusses aufmerksam gemacht und ein vom Vertragsschluss gänzlich unabhängiges „konstantes Schuldverhältnis als Rahmenbeziehung“ durch Vereinigung von c. i. c. und p. V. konstruiert.20 Der Grundgedanke war dabei na Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/314. von der p. V., AcP 136 (1932), 257/314. 16 Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/315. 17  Vgl. bereits oben § 5 II. Ausf. dazu Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/277 ff.: „Die Untersuchung wird zeigen, daß die Pflichten, die man bei der Lehre von der c. i. c., von der Schlechterfüllung und in einem Teil der Lehre von der Anzeigepflicht erkannte, stets in gewisser Hinsicht gleichgeartet sind, daß sie daher auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Es wird erkannt werden, daß c. i. c., Schlechterfüllung und Anzeigepflicht einander überschneiden: die Haftung aus der c. i. c., aus der Schlechterfüllung wird ihre Grundlage meist in der Verletzung einer Anzeigepflicht haben.“ 18  Himmelschein, Lehre von den positiven Vertragsverletzungen, AcP 135 (1932), 255 ff. 19 Titze, Verschulden bei Vertragsschluß (1929), S. 516 ff. 20  Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257 ff. Die dogmatische Gegenkonzeption, die von einem Wandel der Pflichten bei Vertragsschluss von vorvertraglichen in vertragliche ausgeht (zuerst wohl Oertmann, LZ 1914, 513; ausf. gegen 14

15 Abschied

I. Noch zwei ‚Entdeckungen‘: Schutzpflichten und Schutzpflichtverhältnis

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türlich wieder ein logischer: Wieso sollte sich an der Haftung des Warenhauses etwas ändern, wenn der Kundin die Linoleumrolle nicht bei den Vertragsverhandlungen, sondern bei Lieferung und nachfolgendem Rücktritt vom Kaufvertrag auf den Fuß gefallen wäre: „Die Haftung zu gewähren, wo die Parteien nur erst in ganz loser Beziehung standen, sie aber zu versagen, wo die Beziehung bis zum Vertrage gediehen ist, dieser aber hinterher fortgefallen ist, muß von vorneherein als unmöglich bezeichnet werden.“21 Das Wesen derartiger Abstraktionen ist uns bereits bei Jhering als „Prinzipiendeduktion“ begegnet: „Du ziehst die Consequenzen nicht!“ Die „Consequenz“ eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses ist seine Ausdehnung auch auf Vertragsbeziehungen ohne wirksamen Vertrag, d. h. die Haftung ist an sich ganz unabhängig von der vertraglichen Leistungsbeziehung! Ging es nicht auch schon Jhering um eben solche Fälle? Der Schädigungstatbestand ist ja immer derselbe, warum sollte das Bestehen oder Nichtbestehen eines wirksamen Vertrages hieran etwas ändern? Herholz dehnt mithin das von Heinrich Stoll (1923) postulierte vorvertragliche Schuldverhältnis auf den gesamten Bereich des vertraglichen Kontaktes aus22 und zieht keineswegs die durchaus auch nahe liegende „Consequenz“, die Haftung dann eben als eine ganz allgemeine (deliktische) anzuerkennen. Dieser Gedanke wird mit dem bekannten Hinweis auf § 831 BGB beiseitegeschoben23 und stattdessen der von Stoll ins Spiel gebrachte und durchaus unpassende Gedanke von einem Schuldverhältnis als „Organismus“ weiter ausgebaut: Das Schuldverhältnis entstehe bereits mit den Vertragsverhandlungen und ändere lediglich seine juristische Form, nicht aber seine Qualität als Haftungsgrundlage. Die „Notwendigkeit einer einheitlichen Haftungsbegründung“ für p. V. und c. i. c.24 führt also bereits Herholz zu demselben Gedankengang, der später (und so bis heute) unter dem Namen eines umfassenden „einheitlichen Schutz(pflicht)verhältnisses“ besser bekannt und

Herholz dann Dömpke, Grundlagen und der Umfang der Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen, 1933, S. 47 ff.), hat demgegenüber wahrlich nur wenig dogmatischen Charme. 21 Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/279. 22  Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/285 ff.: „Gelingt der Nachweis, daß ein Schuldverhältnis als Rahmenbeziehung schon bei den Vorverhandlungen besteht, und daß gewisse Pflichten auch während Bestehens des Vertrages nur aus dem gleichgearteten Schuldverhältnis zu entnehmen sind, so ist seine Unabhängigkeit vom Vertrage und damit seine Konstanz dargetan (…).“ 23 Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/259: „Ein so begründeter, gegen den Geschäftsherrn gerichteter Schadensersatzanspruch wird daher stets ein Schlag ins Wasser sein. Ebenso theoretisch ist ein auf § 823 gestützter Anspruch gegen die im allgemeinen vermögenslose Deliktsperson selbst, ganz besonders, wenn der verursachte Schaden groß ist.“ 24  Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130, (1929), 257/276 ff.

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§ 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c.

letztlich auch Gesetz geworden ist25: „ein neben dem Vertrag herlaufendes … ‚vertragsähnliches‘ Rechtsverhältnis“.26 Herholz nennt es ein konstantes Schuldverhältnis als Rahmenbeziehung: „Die Existenz dieser Rahmenbeziehung glauben wir als die gemeinsame Basis jener rechtsgeschäftlich-schuldrechtlichen Pflichten zu erkennen, auf Grund deren Verletzung man in der Lehre von der ‚culpa in contrahendo‘, in einem Teil der Lehre von den ‚positiven Vertragsverletzungen‘, nämlich der Lehre von der ‚Schlechtleistung‘ und in einem Teil der Lehre von der ‚Anzeigepflicht im Schuldrecht‘ Schadensersatz gewähren zu können meint. Von einer anderen Seite betrachtet, ist es die gemeinsame Basis aller Fälle, in denen man nur ein ‚negatives Vertragsinteresse‘ oder ein ‚negatives Interesse‘ gewährt (…).“27

Aber nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Begründung klingt aus heutiger Perspektive bereits bekannt: Auf der Grundlage der §§ 122, 149, 307, 309, 663 BGB kommt Herholz nämlich zu der Ansicht, das Gesetz sanktioniere eine Haftung für die Verletzung des Vertrauens der Gegenpartei.28 Dieser Grundsatz sei ein allgemeiner, der nicht nur für die c. i.c, sondern auch bei positiver Vertragsverletzung und Schlechterfüllung zur Anwendung komme, wenn die sich aus der rechtsgeschäftlich schuldrechtlichen Rahmenbeziehung ergebenden Rechtspflichten verletzt würden. Nach 30 Jahren BGB standen somit die beiden großen vermeintlichen ‚Lückenfüller‘ entweder vor dem dogmatischen „Aus“ (Himmelschein; Titze) oder vor einer abstrakten Vereinigung in umfassenderer Dimension (Herholz). Die Entscheidung Stolls in dieser Frage ist nicht wirklich überraschend; denn galt es doch, sein eben erst als „Organismus“ konstruiertes vorvertragliches Schuldverhältnis weiter auszudehnen. Konnte man dabei sogleich noch den leidigen Streit um die p. V. beenden, so waren zwei dogmatische Fliegen mit einer neuen dogmatischen Konstruktion erschlagen. So ist es einmal mehr bezeichnend für die ganze Entwicklung, dass in einem Moment, da die großen „Entdeckungen“ einerseits in ernste Begründungsschwierigkeiten kamen und andererseits einander den enger werdenden Boden der Legitimation streitig zu machen begannen, eine neue Entdeckung die eben erst erwachte kritische Aufmerksamkeit der gelehrten Jurisprudenz auf etwas Neues lenkte: Stolls Lehre von den Schutzpflichtverletzungen. 25  Den Gedanken der Abstraktion hat bekanntlich aufgegriffen: Canaris, Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkung für Dritte“ bei nichtigen Verträgen. Zugleich ein Beitrag zur Vereinheitlichung der Regeln über die Schutzpflichtverletzungen, JZ 1965, 475 ff.: „Die bisherigen Ausführungen legen es nahe, noch einen Schritt weiter zu gehen (…).“ 26  Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/279. 27 Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/277. 28  Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/294 ff.: „Die Partei, die die Beziehung eröffnet hat, bringt einen Gefahrenkreis mit sich. Sie hat daher die Pflicht, die andere Partei über das Bestehen solcher Gefahren, soweit sie ihr bekannt sind oder bekannt sein müssen, zu unterrichten, damit diese nicht in ihrem prima facie berechtigten Vertrauen getäuscht werde, nicht durch die Eröffnung der Beziehung von der anderen Seite in Gefahren gebracht zu werden.“ (Hervorhebung im Orig.).

I. Noch zwei ‚Entdeckungen‘: Schutzpflichten und Schutzpflichtverhältnis

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Die Grundidee dieser Lehre ist einfach und insoweit auch nachhaltig prägend geworden: Im Zentrum steht die bereits von Herholz vorgenommene unbedingte Trennung der Haftung für das „negative Vertragsinteresse“ von der „Inhalts‑ oder Leistungsbeziehung“; und das heißt nichts anderes als eine endgültige Lösung der diesbezüglichen Haftung vom Vertrag. Bei Karl Larenz heißt das dann knapp 30 Jahre später auch sehr prägnant: „Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflicht“29. Stoll verleiht diesem Gedanken Tiefe, indem er die uns bereits aus der gemeinrechtlichen Diskussion bekannte „Lehre vom Interesse“ mit der herrschenden Vorstellung juristischer Wissenschaftlichkeit, der Interessenjurisprudenz, verbindet und so an die klassische Unterscheidung zwischen positivem und negativem Interesse als Ausgangspunkt anknüpft. Dem jeweiligen Interesse des Gläubigers korrespondiere eine entsprechende Pflicht des Schuldners und so unterscheidet er die das erste (also das Erfüllungsinteresse des Gläubigers) betreffenden Erfüllungs‑ bzw. Leistungspflichten30 und die das zweite (das negative Interesse) betreffenden Schutzpflichten. Der „Schuldinhalt“ für das Erfüllungsinteresse bereitet regelmäßig – und so auch Stoll  – keine großen Kopfzerbrechen: Er wird durch den Vertrag, seine Auslegung und ergänzendes, zumeist dispositives Gesetzesrecht und im Zweifel gem. § 242 BGB bestimmt.31 Spannender wird die Sache bei den Schutzpflichten. Hören wir dazu ausführlich ihren Schöpfer persönlich: „Jedes Schuldverhältnis ist heute ein bonae fidei iudicium. Treu und Glauben ist der beherrschende Grundsatz, der für das Verhalten beider Parteien, des Schuldners wie des Gläubigers maßgebend ist. Das bedeutet, daß nach modernem Recht bei allen Schuldverhältnissen nicht nur die genaue Verwirklichung des positiven Leistungszieles gefordert wird, sondern auch das gesamte Verhalten der Parteien nach Treu und Glauben zu beurteilen ist. Durch das Schuldverhältnis ist unter den Parteien eine Sonderbeziehung geschaffen worden, die von unserm Recht als ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis angesehen wird. Die Sonderbeziehung eröffnet für beide Parteien die Möglichkeit der Einwirkung auf Personen und Sachen der anderen Partei; die Folge der Treu-und Glaubensverpflichtung ist die Pflicht, sich hierbei jeder schädigenden Einwirkung zu enthalten. Diese Treu‑ und Glaubensverpflichtung hat notwendigerweise ein negatives Ziel: sie soll die Gegenpartei vor Schädigungen bewahren, die sich aus der Sonderbeziehung und durch sie ergeben könnten. Sie dient also nicht dem Leistungsinteresse, sondern dem Schutzinteresse des Gläubigers. Wir sprechen von Schutzpflichten.“32

29 Ab

der 5. Aufl. seines Schuldrechts I (1962), § 4 V., S. 38 ff.  Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 287 f., formuliert: „Die Pflichten, die sich aus dem Vertragsinhalt ergeben, haben ein positives Ziel: sie dienen der Verwirklichung des Leistungsinteresses, durch ihre Erfüllung soll der Leistungserfolg erreicht werden. Wir nennen sie Erfüllungspflichten.“ 31  Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/287: „Der Vertragsinhalt kann erst durch die Auslegung von Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte (§ 157) näher bestimmt werden und die gesetzlichen Einzelvorschriften werden durch das Gebot der Beachtung von Treu und Glauben (§ 242) ergänzt.“ 32 Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/288 f. 30

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2. Anvertrauen: Delikt oder Schutzpflichtverletzung? „Eine jede obligatio hat eine Leistung zum Gegenstande, und gerade darin, daß dies oder jenes geleistet werden muß, besteht ihr ganzer Inhalt.“ Johann Christian Hasse, 181533

Was ist nun von alledem zu halten, und was folgt daraus? Zunächst sehen wir spätestens hier bei Stoll den Schritt vollzogen, den wir bereits gelegentlich der Lehre Staubs angesprochen haben: Die Haftung für culpa geht auf in einer aus Treu und Glauben zu deduzierenden Haftung für Pflicht‑ bzw. Forderungsverletzung. Die „Treu‑ und Glaubensverpflichtung“ erhält als Pendant bzw. Surrogat der culpa nun einen neuen Namen: Schutzpflichtverletzung. Diese Haftung entspricht allerdings nicht mehr der gemeinrechtlichen Vorstellung von einer umfassenden Haftung für kontraktliche culpa, sondern sie geht in doppelter Hinsicht darüber hinaus. Erstens wird die Unterscheidung zwischen aquilischer (d. h.: deliktischer) und kontraktlicher culpa im Grundsatz aufgehoben.34 Diese Auflösung hatte sich, wie gesehen, bereits bei der Konstruktion des vorvertraglichen Schuldverhältnisses unter Einbeziehung der Linoleumrollen-Entscheidung des Reichsgerichts angedeutet. Nunmehr geht der Grundsatz des neminem laedere ganz in dem Gedanken der Schutzpflichten auf: „Die Treu‑ und Glaubensverpflichtung … soll die Gegenpartei vor Schädigungen bewahren.“ (Stoll, aaO.). Zweitens – und eben hierin liegt dann auch der Abschied von der p. V. – ist die Haftung für Schutzpflichtverletzungen nicht mehr an einen Vertrag gebunden, sie ist eine umfassende, die aus der Sonderbeziehung des Schuldverhältnisses als Vertrauensverhältnis folgt.35 Diese gänzlich vom Vertrag (der synonym nur noch für die Leistungsbeziehung steht) losgelöste Erweiterung der Haftung hat freilich die alten Probleme nicht gelöst: Wie begründen wir ein Schuldverhältnis ohne Vertrag?36 Wann soll

33 Die

Culpa des Römischen Rechts (1815), § 35, S. 166. nur Hasse, Culpa (1815), S. 166 ff.: „Dahin gehört vor allem auch das Beschädigen oder gar Zerstören einer dem andern schuldigen Sache. Gehört diese Sache dem andern eigenthümlich, und nimmt man auf die Lex Aquilia Rücksicht, so ist die Beschädigung unmittelbar und an sich als Beschädigung rechtswidrig, und es hat dies so wenig mit der Verletzung einer obligatio zu thun, daß es vielmehr als Delict erst eine hervorbringt; sieht man dagegen auf die obligatio, weshalb man die Sache schuldig war, so ist die Beschädigung deshalb rechtswidrig, weil sie vermöge derselben prästirt werden sollte, und es sich von selbst versteht, daß der, welcher alles Mögliche thun muß, was zur Leistung erforderlich ist, nicht etwas thun dürfe, was ihm die Leistung ganz oder zum Theil unmöglich macht (…)“. 35 Es ist daher nicht richtig, wenn man heute (vgl. etwa nur Krebs, Sonderverbindung, 2000, S. 3) diesen Gedanken erst bei Canaris, JZ 1965, 475 ff., finden will. 36  Stoll selbst spricht jetzt offensichtlich von einem „gesetzlichen Schuldverhältnis“, vgl. AcP 136 (1934), 257/314. 34 Hierzu

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dieses Verhältnis beginnen? Neue Probleme kommen hinzu bzw. verschärfen die alten: 1. Wie sind Schutzpflichten von Leistungspflichten abzugrenzen, und warum ist es sinnvoll, das zu tun? Der Rekurs auf die Differenzierung zwischen positivem und negativem Interesse zur Begründung ist aus den bereits oben benannten Gesichtspunkten ebenso wie bei Jhering eine Scheinbegründung. Das Problem wird deutlich etwa bei den Regelungen der Schlechterfüllung. Einen Schadensersatzanspruch für Mangelfolgeschäden (etwa § 463 BGB a. F.) kann man nämlich sowohl als Verletzung einer Schutzpflicht (dolus, culpa) oder aber auch als Verletzung der Leistungspflicht deuten (so heute wieder deutlich § 433 Abs. 1 S. 2: „Der Verkäufer hat dem Käufer die Sache frei von Sach‑ und Rechtsmängeln zu verschaffen.“). Die von F. Leonhard initiierte Vermengung der culpa in solvendo mit der culpa in contrahendo findet hier in der Differenzierung von Leistungs‑ und Schutzpflichten eine neue abstrakte Dimension. Dabei spricht § 242 BGB ja auch nicht ohne Grund von einer „Leistung“, die nach Treu und Glauben zu bewirken sei. Unter dem Gesichtspunkt des Erfolgsunrechts macht es zunächst wenig Sinn, die Nebenpflichten von der Leistungsbeziehung zu trennen; denn um den Leistungsaustausch geht es und nicht um geselligen Kontakt. Das Integritätsinteresse, d. h. das Interesse, nicht an seinen Rechtsgütern Schaden zu nehmen, wurde seit jeher vom Deliktsrecht sanktioniert. Für alle Pflichten, die schließlich die Leistungsbeziehung selbst gar nicht berühren, stellt sich damit die weitergehende Frage: 2. Wie sind Schutzpflichten von den allgemeinen deliktischen Pflichten sinnvoll abzugrenzen? Dieses Problem hängt, wie gesehen, auf das Engste bereits mit der Frage zusammen, wann die Sonderbeziehung beginnen soll. Doch auch ganz unabhängig davon besteht eine notwendige Konkurrenz immer dann, wenn jedenfalls der spezielle Rechtsgüterschutz des § 823 BGB in Rede steht. Dieses Konkurrenzverhältnis wird auch im Schrifttum der Zeit durchaus gesehen, man meint aber bis heute, diese Konkurrenz mit einem Hinweis auf das Wesen der „Sonderbeziehung als Vertrauensverhältnis“ erklären zu können (jetzt und im Folgenden: das Anvertrauensargument):37

37  Der Begriff vom „Anvertrauen“ findet sich  – soweit ich sehe  – zuerst bei Enneccerus  / ​ Lehmann, Schuldrecht (1932), § 27, 6: „Die Verneinung einer Verpflichtung zur übernommenen Leistung schließt aber m. E. nicht aus, dem Erklärenden auf Grund seiner Gestattung, Einladung oder Zusage eine gesetzliche, vertragsähnliche Fürsorgepflicht, namentlich eine Erhaltungspflicht, zugunsten dessen aufzuerlegen, der im Vertrauen auf die Einladung usw. seine Rechtsgüterwelt dem Erklärenden anvertraut hat (§§ 157, 242).“; dann insb. ausgebaut bei Dölle, ZgS, 103 (1943), 67/74: „… weil insoweit die Beteiligten einander … ein besonderes Vertrauen entgegengebracht haben, indem sie die eigenen Rechtsgüter bewusst – zur Erreichung des mit dem sozialen Kontakt verfolgten Zwecks  – dem Einfluß und damit der Obhut und Sorgfalt des andern anvertrauten und in diesem Vertrauen nicht enttäuscht werden dürfen.“; schließlich bei Larenz, Schuldrecht I (ab 5. Aufl. 1962), § 4 V 2, S. 41: „Jeder Teil ist verpflichtet, die ihm

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„Die Schutzinteressen haben nur die negative Bedeutung, die Person und das Vermögen des Gläubigers in ihrem Bestand zu erhalten. Beide werden schon durch die Vorschriften über die unerlaubten Handlungen privatrechtlich geschützt, die allgemeine Rechtspflichten enthalten, die allen Rechtsgenossen im Interesse des Zusammenlebens auferlegt sind. Darüber hinaus erwachsen durch die Eingehung des Schuldverhältnisses beiden Parteien besondere Rechtspflichten gegenüber der Person und dem Vermögen des Gegners. Die Pflichten ergeben sich aus der durch die Sonderbeziehung erst eröffneten besonderen Einwirkungsmöglichkeit in den fremden Rechtskreis und des durch sie begründeten Vertrauensverhältnisses zur Gegenpartei.“38

Dieses Anvertrauensargument ist freilich ein Scheinargument. Denn es läuft – wenn man es tatsächlich ernst nähme – auf die uns bereits bekannte Idee einer exactissima diligentia eines diligentissimus paterfamilias hinaus: Wenn nämlich die einschlägigen Rechtsgüter bereits durch das Deliktsrecht als Konkretisierung des Gebotes: neminem laedere geschützt werden,39 was sollen dann noch besondere Rechtspflichten aufgrund eines besonderen Anvertrauensverhältnisses: „Can one be more diligent than diligent?“40 Das Anvertrauensargument scheint genau das zu behaupten: Es liege „ein besonders schutzwürdiges, daher zu überdeliktischer Sorgfalt verpflichtendes (sic!), fest gefügtes Verpflichtungsverhältnis vor“, betonte etwa Erman.41 Man hat hier später auch von einem „Pflicht-Verstärkungsfaktor“42 gesprochen, der mit einer „Sonderverbindung“ verknüpft sei, und verstellt so lediglich den Blick dafür, dass mittels neuer Schutzpflichten Ergebnisse erzielt werden, die das Deliktsrecht (aus ursprünglich wohl bedachten Gründen)43 nicht kennt: insbesondere nur eingeschränkte Haftung für Dritte (§ 831 BGB) und keine umfassende (Erklärungs‑)Haftung für primäre Vermögensschäden (§§ 823 Abs. 2, 824, 826, 676 a. F. BGB). Der Zusammenhang wird evident, wenn man sich nicht auf die scheinbar so zwingende Logik der Konstruktion von Schutzpflichtverhältnis und Anvertrauensargument beschränkt, sondern letztlich die Haftung ebenso wie die deliktische auf das zugrundeliegende allgemeine Schädigungsverbot zurückführt: So stellte schon Herholz den originellen „Obersatz“ für die Haftung in seinem

anvertrauten Interessen des Verhandlungspartners sorglich zu behandeln (…).“, und dann bei Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 539 f.: „Terminologisch kann man daher hier von ‚Anvertrauenshaftung‘ sprechen.“ 38 Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/298. 39  Ausf. hierzu oben § 3 (Die culpa als causa obligationis?) 40  Zimmermann, Law of Obligations (1992), S. 192 zu Commodatum und Mutuum: Gaius, D. ​13, ​6, ​18 pr. und: „The superlatives … (diligentissimus paterfamilias, exactissima diligentia) are not easy to understand. For normal negligence, we would expect to find a reference to the diligens paterfamilias.“ 41 Erman, Beiträge zur Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/321. 42  Der Begriff stammt von Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/172. 43 Hierzu oben § 3 III. und auch noch unten § 7 II.2.

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konstanten Schuldverhältnis dergestalt auf: „Jede Partei hat bei der Rahmenbeziehung die Pflicht, die Verletzung des ihr bekannten, in den Gefährdungskreis der Rahmenbeziehung getretenen Interessenkreises der anderen Partei zu vermeiden.“44 Und Stoll macht, wie gesehen, das klassische Verbot „neminem laede!“ zum zentralen Fundament seiner „Treu‑ und Glaubenspflichten“, nämlich, „sich … jeder schädigenden Einwirkung zu enthalten“.45 Kurz: Jeder, der an irgendeinem Verkehr teilnimmt, setzt sich dem Risiko einer Schädigung aus. Hier mag man dann nach einer angemessenen Verteilung der Risiken zwischen den Teilnehmern untereinander einerseits und zwischen den Teilnehmern und denen, die einen Verkehr eröffnen andererseits immer mit Recht fragen. Aber das ändert doch nichts daran, dass für Schädigungen im Rahmen dieses Verkehrs ein adäquater Haftungsausgleich historisch, teleologisch und systematisch gesehen nach dem Recht der unerlaubten Handlungen erfolgen sollte und es insoweit keiner neuen haftungsbegründenden „Sonderbeziehung“ mit der lapidaren Begründung bedurfte, man setze sich durch Teilnahme am Verkehr (er sei geschäftlich oder privat) erst einer „besonderen Einwirkungsmöglichkeit“ auf die eigenen Rechtsgüter aus. Im Abstrakten klingt die Theorie von den Schutzpflichten überzeugend und suggestiv, weil in ihr die Überzeugungskraft des Prinzips neminem laedere gewichtig mitschwingt. Das Zufällige und Willkürliche dieser Theorie wird aber immer dann deutlich, wenn ihre Vertreter exemplarisch konkret eine Abgrenzung zum Deliktsrecht zu benennen sich bemühen. Hier scheint dann alles auf eine Rückkehr zur alten Trennung von Delikt und Quasidelikt hinauszulaufen, wonach allein die evidenten, vorsätzlichen unerlaubten Handlungen noch dem originären Deliktsrecht verbleiben: „… nur die spezifischen Gefahren entstammen der Rahmenbeziehung, so die aus der Einrichtung des Geschäfts, die aus dessen feilgebotenen Gegenständen folgenden Gefahren (Explosion in einer Apotheke). Auch der Käufer bringt mit sich einen spezifischen Gefahrenkreis. Er kann die ihm gezeigten Porzellanwaren fallen lassen, durch unvorsichtiges Stolpern eine aufgestapelte Warenmenge niederreißen, beim Verlassen des Ladens mit den gekauften Warenpaketen eine Türscheibe eindrücken usw. Dagegen entstammt es keiner spezifischen, aus der Rahmenbeziehung folgenden Gefahr, wenn der Verkäufer plötzlich über den Ladentisch hinweg dem Käufer eine Ohrfeige gibt.“46

 Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/297. von der p. V., AcP 136 (1932), 257/288 f. 46  Herholz, Das Schuldverhältnis als konstante Rahmenbeziehung, AcP 130 (1929), 257/296; zum Problem im Weiteren unten II.2.c) (Lehre vom „sozialen Kontakt“) und § 7 II (Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel). 44

45 Abschied

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3. Totale c. i. c.: Treu und Glauben und die herrschende Moral „Oder römisch gesprochen, es gibt actiones empti, venditi, locati conducti etc., welche bonae fidei sind, nicht aber eine actio bonae fidei schlechthin.“ August Thon, 189347 „Gut ist das BGB. nur an einer einzigen Stelle, nämlich da, wo es mit seiner abstrakten Kasuistik Halt macht und lediglich einen Wegweiser hinstellt. Er trägt die Aufschrift: Eingang zum freien Rechtsmeer der Verkehrsbedürfnisse. Es ist der § 242. Dieser ‚königliche‘ Paragraph, der auch die §§ 157, 138, 226, 826 schon in sich birgt, erwies sich in der Folge als der archimedische Punkt, von dem aus die alte juristische Welt aus den Angeln gehoben wurde.“ Ernst Fuchs, 192648

Das Problem eines abstrakten vorvertraglichen Schuldverhältnisses ist, wie gesagt, zunächst seine Leere. Die Vorstellung von einem vorvertraglichen oder auch umfassenden Schutzpflichtverhältnis bleibt eine leere Hülse, wenn und soweit unklar bleibt, welche Pflichten hier eine diligentia der Parteien erfordern und auf welcher Grundlage diese Pflichten postuliert werden, die später eine der Parteien zum Schadensersatz soll verbinden können. Das Kriterium der Schuld – culpa – war, solange es den Gedanken der Verschuldung mit enthielt, immerhin ein Zurechnungskriterium, das seine Basis im Tatsächlichen noch nicht gänzlich aufgegeben hatte. Mit der Substitution der culpa durch Schutzpflichten aus „Treu und Glauben“ wurde das anders: Die bona fides trägt, wie wir bereits für das römische Recht gesehen haben, die Tendenz in sich, ein rein normatives Kriterium für den Einzelfall zu sein. Doch war in seinem Ursprung der fides‑ Begriff noch deutlich mit dem gegebenen Wort, d. h. mit einem expliziten Leistungsversprechen, der Erfüllung einer Vertragsabrede fest verknüpft.49 Indem nun aber die konkret vertragsbezogene Rolle der bona fides aufgegeben und zu einer quasideliktischen Generalklausel umgestaltet wurde, konnte es nicht ausbleiben, dass § 242 BGB als unerschöpflicher Generator von Schutzpflichten eine ganz neue dogmatische Rolle mit zu übernehmen begann:50 Die Eröffnung freier Rechtsschöpfung.

 Haftpflicht des Offerenten bei Widerruf seiner Offerte, AcP 80 (1893), 63/69. der Freirechtslehre zum deutschen und ausländischen Rechtsdenken, Justiz 1 (1926), 349. 49  Oben § 2 II.2. 50 Zur Entwicklung des § 242 BGB: K. Schneider, Treu und Glauben im Recht der Schuldverträge (1902); Wendt, Die exceptio doli im heutigen Recht, AcP 100 (1906), 1; Henle, Treu und Glauben im Rechtsverkehr (1912); K. Schneider, Zur Verständigung über den Begriff von Treu und Glauben, AbR 1925, 269 ff.; Hamburger, Treu und Glauben im Verkehr (1930); Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen, 1950 (insb. S. 13–36); Betti, Der Grundsatz von Treu und Glauben in rechtsgeschichtlicher und ‑vergleichender Betrachtung (1954), S. 7 ff.; zusammenfassend HKK / ​Duve / ​Haferkamp, § 242 BGB. 47

48 Verhältnis

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a) Der Konsens der „Anständigen“ oder: Das Geheimnis freier Rechtsfindung „Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige Überlegung entscheiden muss, was für ihn das Gute ist, d. h. das System der Ziele, die zu verfolgen für ihn vernünftig ist, so muss eine Gruppe von Menschen ein für alle Mal entscheiden, was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser hypothetischen Situation gleicher Freiheit treffen würden, bestimmt die Prinzipien der Gerechtigkeit.“ John Rawls, 197151

Woran aber erkennt der Jurist, was rechtens ist bzw. was Recht sein soll, wenn die Rechtsquellen abstrakt und leer sind? Erinnern wir uns noch einmal an Kant: „Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er wohl angeben: aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen (…).“52 In dem Moment, da selbst das, „was Rechtens sei (quid sit iuris)“ vom Juristen nicht mehr klar angegeben werden kann, weil ihn auch das positive Recht auf eine freie Rechtsschöpfung aus „Treu und Glauben“ verweist und er mithin jenseits greifbarer Rechtsquellen nach dem Recht suchen muss, braucht es nicht verwundern, dass er sich eines Mittels bedient, das in der Philosophie seit langem ein probates Mittel der Rechtsetzung gewesen ist: des Vertragsmodells. Was würden vernünftige Menschen miteinander vereinbaren? Von Thomas Hobbes (1588–1679) bis zum „Schleier des Nichtwissens“ bei John Rawls (1921–2002) gibt es die eine oder andere Modifikation, aber letztlich dient die fiktive Vertragssituation dazu, die jeweils eigene Auffassung von einer gerechten Welt mittels eines fairen Vertrages von angeblich fairen, vernünftigen, aufgeklärten, anständigen, uneigennützigen … usw. Vertragspartnern (einem „Karneval des Kontrafaktischen“) als Recht vorzustellen. Natürlich, es gehört seit der Antike zur festen Überzeugung, dass der Konsens ein normatives Richtigkeitskriterium sei (volenti non fit iniuria). Doch bezog sich dieser Gedanke auf den realen Konsens real betroffener Vertragspartner. Der hypothetisch-spekulative Kontraktualismus hatte demgegenüber seine Hochzeit erst im Vernunftrechtsdenken der frühen Neuzeit für die Begründung von Staat und Recht (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant).53 Nach den eingehenden

51 Theory of Justice (1971), S. 12 f.: „Just as each person must decide by rational reflection what constitutes his good, that is, the system of ends which it is rational for him to pursue, so a group of persons must decide once and for all what is to count among them as just and unjust. The choice which rational men would make in this hypothetical situation of equal liberty, (…), determines the principles of justice.“ 52  Metaphysik der Sitten: Rechtslehre (1797), § B. 53 Eingehend Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages (2009).

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Kritiken insbesondere von Hume, Bentham und Hegel an der unhistorischen Vorstellung, mittels einer offensichtlichen Fiktion, Recht und Rechtsinstitutionen begründen zu wollen,54 spielte dieser Ansatz in der Philosophie des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) keine ernsthafte Rolle mehr.55 Auch in der Jurisprudenz konnte unter dem Einfluss der historischen Rechtsschule rein spekulatives Begründungsdenken nicht leicht Fuß fassen, auch wenn in der Idee eines „Volksgeistes“ die Fiktion einer volonté générale sicher mitschwingt (bis heute wird die Bedeutung der sog. „Volksgeist-Lehre“ für das Rechtsdenken der historischen Schule teils über‑ bzw. als flache Floskel überwiegend unterschätzt), mit einem spekulativen moralischen Kontraktualismus hat der „Volksgeist“ des 19. Jahrhunderts jedenfalls nichts zu tun. Neben und mit dem Rekurs auf das Rechtsgefühl fand der vertragstheoretische Ansatz erst wieder zu Beginn des 20. Jahrhunderts viel Sympathie in der Rechtswissenschaft und wurde dabei zuweilen recht unkritisch herangezogen.56 In der Formel vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ zur Umschreibung der „guten Sitten“ hat sich dieser kontraktualistische Argumentationstopos bis heute erhalten.57 Das sittliche Gefühl des „anständigen“ Teils des Volkes wird in einer

54  Vgl. insb. Hume, Of the Original Contract (1748): social institutions and social movements generally need a justificatory story, „a speculative system of principles“ (40). 55  Hierzu nur J. W.  Gough, The Social Contract. A critical study of its developement, (2nd ed. 1957); seither ist eine gewisse Konjunktur vertragstheoretischer Begründungsmuster zu verzeichnen: David Gauthier, Morals by Agreement (1986); T. M.  Scanlon, Contractualism and Utilitarianism, in: Senn / ​Williams, Utilitarianism and beyond (1982), p 103–128; ders., What we owe to each other (2000); Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Untersuchung (2000); ders., Moralischer Kontraktualismus, Zeitschrift für philosophische Forschung, 56 (2002), 1–21; Anton Leist (Hrsg.), Moral als Vertrag? Beiträge zum moralischen Kontraktualismus (2002); und insb. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages (2009); ders., Vertragstheorien (2016). 56 G. Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung (1925), S. 58 ff.: „Zeugung konkreten Rechts durch vertraglich sich vergemeinschaftende Individuen.“; auch heute wird der Kontraktualismus in der Rechtstheorie eher kritisch gesehen, vgl. nur: Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit (2000), S. 97 ff. 57  Unter Geltung des BGB seit Urt.  v.  11. 04. ​1901,  RGZ  48, 114/124 (zu § 826 „illoyale Schädigung“) ständige Rspr.; ausf. hierzu Arzt, Die Ansicht aller billig und gerecht Denkenden (1962); Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl (1976); zutreffend formuliert Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln (1971), S. 22: „Das ‚Gefühl‘ aller ‚Denkenden‘ befriedigt Rationalisten wie Irrationalisten und ist geeignet, die Einheit von Gefühl und Verstand in der Vernunft zu beschwören. ‚Billig‘ und ‚gerecht‘ vereinigen die Antinomie von ‚ius strictum‘ und ‚ius aequum‘ in einer höheren Gerechtigkeit, die dennoch im Anstandsgefühl dem Menschen als solchem und nicht nur dem Fachjuristen zugänglich sein soll. Und das Wort ‚alle‘ schafft eine kollektive Wertungseinheit, von der Andersdenkende ausgeschlossen sind mit dem Stigma, ‚unbillig‘ und ‚ungerecht‘ zu denken. Darin eben besteht die wesentliche Funktion der Formel, daß sie partiell gültige Werturteile generalisiert und sie mit dem Scheine höherer Berechtigung versieht.“

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assoziativen Formel mit „Billigkeit“ und „Gerechtigkeit“ normativ verknüpft und füllt mit zunehmender Gemeinschaftsrhetorik die inhaltliche Leere von „Treu und Glauben“ spätestens seit 1933 vollständig aus. Im Vorwort zur 8. Auflage (1934) ihres Kommentars formulieren die herausgebenden Reichsgerichtsräte: „Das Streben nach Neugestaltung unseres Rechtes, das jetzt das gesamte Volk durchzieht, stellte die Bearbeiter der neuen Auflage des Kommentars besonders eindrucksvoll vor die Aufgabe, das Eigene und Wesentliche des Deutschtums auch im Bürgerlichen Gesetzbuch zu erkennen und für die Rechtsprechung klarzulegen. Hinter dem gesetzten Recht steht immer das Rechtsgefühl des Volkes als Rechtsquelle, und aus ihm ist deshalb die Auslegung auch des Gesetzes zu schöpfen. Dieses Rechtsgefühl kann sich ändern und wird beeinflußt durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Gliederung eines Volkes. Jetzt erobert der Gemeinschaftsgedanke wieder mehr und mehr auch das Privatrecht, ein neues Gemeinschaftsleben ist im Werden begriffen. (…) Und auf diesem Gemeinschaftsgefühl ist erwachsen der Grundsatz von Treu und Glauben im Verkehr und der Geltung der guten Sitten in ihm, die der Ausdruck sind von dem, was ‚alle billig und gerecht Denkenden‘ für den Verkehr als maßgebend ansehen (…). “58

Es ist zwar wenig passend (denn die „guten Sitten“ sind ein empirisches, „Treu und Glauben“ ein rein normatives Kriterium),59 aber gleichwohl nicht überraschend, dass nun auch die Formel von „Treu und Glauben“ in dieser Hinsicht vertragstheoretisch aufgeladen wurde. Während also Franz Leonhard, wie gesehen, alle potenziellen Gegner seiner Ansicht noch lediglich rhetorisch gleichsam negativ von vornherein als „Banausen“ entlarvt hatte, stützt nun Walter Erman seine Rechtserkenntnisse zur culpa in contrahendo bereits normativ ernsthaft und positiv gewendet auf das fiktive Urteil aller „Anständigen“: „Was ist der wesentliche Inhalt der c. i.c? Es handelt sich um eine Erscheinung des freien Rechtsverkehrs, um ein der fast unbeschränkten Entschlussfreiheit der Subjekte des Rechtsverkehrs unterstehendes Gebiet. Dieser Rechtsverkehr soll sich möglichst nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte abwickeln, also nach dem, was anständige Durchschnittsmenschen sich unter Beachtung anständiger schon gewordener 58  In diesem Sinne dann auch Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/274 ff. 59 Bei der „Sitte“ ist es geradezu zwingend, auf die empirische Perspektive der in der Gesellschaft gelebten Moralvorstellungen abzustellen, weil es sich hier streng genommen um ein rein tatsächliches Kriterium handelt. Im Grunde zutreffend (auch wenn er nicht streng zwischen Sitte und Moral unterscheidet) bezeichnet schon Lotmar (Der unmoralische Vertrag, 1896) die Frage nach der Sittenwidrigkeit als „quaestio facti“ (S. 159) und muss insoweit feststellen, dass über diese Frage noch nie Beweis erhoben wurde: „Bei hundert faktischen Fragen, die für die Prozessentscheidung keineswegs wichtiger sind als die der Moralität eines Vertrags, zieht der Richter Experten herbei, um sich Aufschlüsse zu verschaffen. Schuster und Schneider, Schreiber und Maler, Weinhändler und Chemiker, Architekten und Ärzte erscheinen als Sachverständige vor Gericht, um Gutachten abzugeben. Bisher hat man nicht davon gehört, dass in Fragen der Moral vom Gericht Experten vernommen worden seien. (…) Man scheint aber die Moral für eine allbekannte und einfache Sache zu halten.“ (S. 179 f.). Demgegenüber ist die Formel von „Treu und Glauben“ von vornherein stärker normativ konnotiert.

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Verkehrssitten zur Regel setzen würden, wenn sie alles im voraus bedächten. Also können wir zunächst einmal ohne Rücksicht auf die lex lata von der Frage ausgehen: Was würden sich wohl anständige Durchschnittsparteien ausbedingen und zusagen, wenn sie von vornherein eine Regelung für anzubahnende Vertragsverhandlungen träfen, und dabei auch imstande wären, die wesentlichen Fragen zu überblicken?“60

Das ist ein wichtiger prozeduraler Gedanke! Die Anwendung der Vertragsfiktion auf ein vorvertragliches Vertragsverhältnis, das ganz explizit mit dem Anspruch konstruiert wurde, auf jeden realen Vertrag verzichten zu wollen, ist freilich besonders originell. „Anständige Durchschnittsmenschen“ werden an die Stelle der vermutlich unanständigen real agierenden Parteien gesetzt; die abstrakten „Treu‑ und Glaubenspflichten“ werden aus der Fiktion der allein „anständigen“ Vernunft des „anständigen“ Juristen (Rechtswissenschaftler oder Richter) gekürt. Das Spektrum dessen, was man sich dabei unter „anständigen Durchschnittsmenschen“ vorzustellen hat, erscheint freilich gerade für die „Anständigkeit“ ab 1933 ausgesprochen zwiespältig. Die „Anständigkeit“ derer, die das Land verließen oder in den Widerstand gingen, ist wohl eher eine „Anständigkeit“, die retrospektiv die wünschenswerte „Anständigkeit“ keineswegs der deutschen „Durchschnittsmenschen“ bezeichnet. Eine ganz andere „Anständigkeit“ hatte dann auch zweifelsohne der Reichsführer SS Heinrich Himmler im Sinn, als er am 4. Oktober 1943 vor SS-Obergruppenführern in Posen ausführte: „Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen zusammenliegen, wenn 500 daliegen, oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen, anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.“61

Kurz: Der Begriff der „Anständigkeit“ ist kaum als moralische, erst recht nicht als juristische Kategorie hilfreich; denn „anständig“ sind immer diejenigen, die der moralischen Auffassung desjenigen entsprechen, der diesen Begriff verwendet.62 Doch bleiben wir zunächst bei der Dogmatik der c. i. c.: Die Sache wird in dem Moment spannend, in welchem die Ergebnisse dieser hypothetischen Überlegung „Anständiger“ präsentiert werden. Bei Erman läuft es auf eine Formel hinaus:  Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/274. Militärgerichtshof Nürnberg, Dokument 1919; zitiert bei Walther Hofer, Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945 (1957), S. 114. 62  Zur Begriffsgeschichte: Horst Volker Krumrey, Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden. Eine soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands‑ und Manierenbücher von 1870–1970 (1984); Karl-Heinz Göttert, Zeiten und Sitten. Eine Geschichte des Anstands (2009); zur gegenwärtigen Konjunktur dieses bis vor Kurzem aus der Mode gekommenen Begriffs: Sybil Gräfin Schönfeldt, Anstand (2008); Peter Altenberg, Über die Anständigkeit (2016); Axel Hacke, Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen (2017), S. 1: „Denn es schwappt ja seit einer Weile nicht nur eine Woge von Anstandslosigkeit um die Welt, sondern ein ganzer Ozean tobt (…).“ 60

61 Internationaler

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„Was so anständige Verhandlungsgegner sich zusagen würden, wenn sie von vornherein alles bedächten, ließe sich auf folgende Formel bringen: Jeder Verhandelnde ist zwar frei in seiner Entschließung über Abschluß oder Nichtabschluß, ist aber dem Verhandlungsgegner gegenüber verpflichtet – in jeweils nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte näher zu bestimmender Weise – entweder ernstlich ohne unzulässige Beeinflussung des gegnerischen Willens auf ein gültiges, erfüllbares Geschäft des normalen oder vom Gegner oder einem selbst erklärten Inhaltes abzuzielen, oder, sei es von vornherein, sei es, sobald man das gekennzeichnete Ziel nicht mehr verfolgen kann oder will, den Gegner nicht (mehr) hinzuhalten.“63

Darauf also würden sich „anständige Durchschnittsparteien“ nach „Treu und Glauben“ verständigen: Dass alles vorvertragliche Verhalten nach „Treu und Glauben“ näher zu bestimmen sei. „Wir werden mehrfach ausdrücklich auf diesen Auslegungsgesichtspunkt zurückgreifen“64 (sic!). Alles muss seine anständige Ordnung haben und insoweit geht es bei der culpa in contrahendo um nichts Geringeres als eine „Verpflichtung zur Unterlassung inkorrekten Verhaltens“65. Jhering hätte hinsichtlich der Justiziabilität dieser handgreiflichen Rechtsforderung sicherlich energischen Einspruch erhoben.66 Schaut man einmal auf die Erläuterungen Ermans, dann wird schnell deutlich, dass in der Sache mit „inkorrektem Verhalten“ die Evidenz des dolus gemeint ist: Das offenbaren bereits die vornehmlich, von Erman so bezeichneten „Hauptpflichten“ des vorvertraglichen Schuldverhältnisses: „Abzielen“ und „Hinhalten“ sind Begriffe, die sich schwerlich als bloß fahrlässige Verhaltensweisen charakterisieren lassen. Ebenso dürfte ein „fahrlässiges – Hinarbeiten (sic!) auf ein ungültiges Geschäft“67 eine contradictio in adiecto sein. Damit wird hier neuerlich deutlich, wie schwer es ist, eine klare Abgrenzung zur allgemeinen deliktischen Vorsatzhaftung (der actio doli) des § 826 BGB zu formulieren  – geschweige denn, überhaupt plausibel zu begründen.68 Die Unterbindung „inkorrekten Verhaltens“ läuft so im Grunde doch auf das bereits benannte Problem hinaus: Beseitigung der Arglist im Verkehr.69 Inhaltlich sind wir gleichwohl an einem neuralgischen Punkt der ganzen Abstraktionsbewegung seit Franz Leonhard angelangt: Die Rechtswissenschaft war 63 Erman,

Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/276.  Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/279: „Diese Generalklausel kann, wie im Vertragsrecht der § 242 BGB durch keine noch so ins einzelne gehende schärfere Begriffsbestimmung ersetzt werden. Sie bildet vor allem, wie im Vertragsrecht, erst den rechten Auslegungsmaßstab für die übrigen Voraussetzungen unserer Formelpflicht (…)“. 65  Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/277. 66 Zur Erinnerung: Es war ja nicht zuletzt der Gedanke der praktischen Anwendbarkeit von Rechtssätzen, die ihn u. a. schon von seiner c. i. c. hat Abstand nehmen lassen; die ihn dann aber mit seiner Abwendung von Logik und Prinzipienkultus immer begleitet hat (vgl. oben § 2 und § 4 III.3.b.). Davon ist hier keine Rede mehr. 67  Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139, 1934, 273/301. 68  Zu diesem Zentralproblem der ganzen Konstruktion bereits oben, insb. § 3 III. 69 Oben § 2 II.; und abschließend unten § 7 III.3. 64

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einst angetreten, die Grenzen zwischen dem, was rechtlich korrekt und dem, was rechtlich inkorrekt sei, möglichst klar und eindeutig zu formulieren. Darin hat sich die Jurisprudenz immer von der Philosophie, das Recht immer von der Moral unterschieden. Und hier lag denn auch die Abneigung nicht nur bei Jhering, eine Haftung schlichtweg auf dem Gedanken der bona fides zu konstruieren. Natürlich spielte, wie gesehen, auch im römischen Recht der Gedanke des „guten Glaubens“, des Vertrauens auf eine rechtsgeschäftliche Erklärung immer eine wesentliche Rolle in der Evolution des Vertragsrechts und der (Vertrags‑) Gerechtigkeit. Doch eben immer nur eine, und zwar eine durchaus beschränkte bei der Ausdifferenzierung der Beschreibung „objektiven Unrechts“. Und so ist die Begründung einer ganz allgemeinen Haftung (für „unkorrektes Verhalten“) auf der Grundlage von „Treu und Glauben“ weniger falsch als nichtssagend: „Das ausschliessliche und alleinige Zurückgehen auf die bona fides kommt … einem Verzicht auf die juristische Konstruktion gleich.“70 Der „Verzicht auf die juristische Konstruktion“ heißt hier: Verzicht auf die Formulierung eines konkreten Haftungstatbestandes überhaupt. Melliger hat die Sache aber nicht nur auf eine einfache Formel gebracht, sondern auch die dahinterstehende Rechtsauffassung deutlich begründet: „Selbstverständlich soll die bona fides den ganzen Rechtsverkehr beherrschen und demnach auch jedes einzelne Rechtsinstitut; aber gerade daraus ergiebt sich, daß wir jene als juristisches Prinzip nicht verwerten können; denn worin würden sich die einzelnen Rechtsinstitute unter dieser Voraussetzung von einander unterscheiden? Gewiss hat die bona fides im ausservertraglichen Gebiet ebenso gut ein Heimatrecht wie im vertraglichen, und doch wird niemand behaupten, daß die juristische Grundlage dort wie hier die nämliche sei. Nicht einmal gegen die Moral hätten wir eine scharfe Abgrenzung; denn auch dort, ja noch mehr als auf dem Gebiete des Rechts, wird alles von der bona fides beherrscht und geleitet.“71

Während Leonhard in diesem Sinne immerhin noch mehr oder weniger deutlich auf die Trennung von Recht und Moral hingewiesen hatte,72 wurde nun  – zu Beginn der 1930er Jahre – für einen sehr wichtigen Bereich diese Trennung aufgehoben und die Postulation von Schutzpflichten der individuellen moralischen Überzeugung des Zeitgeistes im Judiz des entscheidenden Richters anheimgestellt.

 Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 144.  Melliger, Culpa in contrahendo (1898), 143 f. 72 Vgl. oben: § 5 II.2. 70 71

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b) Flexibilität und Willkür: Licht und Schatten der Generalklausel „Denn nachdem das 19. Jahrhundert vorüber ist, dieses Zeitalter der Halbheit und des Kompromisses, gehen wir einem 20. entgegen, das, wenn nicht alle Zeichen trügen, in Kunst und Wissenschaft und Religion ein Jahrhundert des Gefühls und des Willens sein wird (…); aus den Trümmern der Dogmatik wird, zum Entsetzen aller Unklaren, der Stolz der Zukunft steigen, die Freie Rechtsschöpfung.“ Hermann Kantorowicz, 190673

Wir müssen uns das noch einmal deutlich vor Augen führen: In 20 Jahren wurde methodologisch und dogmatisch nichts Geringeres vollführt, als ein neues Haftungsrecht neben dem Vertrags‑ und Deliktsrecht konstruiert, bei dem allein die Moralvorstellung des Richters Pflichten aus Treu und Glauben deduzieren konnte: Voluntarismus, Finalismus und Rechtsgefühl in eine Scheindogmatik gehüllt. Man mag das positiv, etwa als Flexibilisierung werten. Man kann dieser Erscheinung aber auch sehr skeptisch gegenüberstehen. Die jeweilige Position wird dabei maßgeblich von zweierlei geprägt sein: Erstens von der jeweiligen Auffassung zur generellen Aufgabe der Rechtswissenschaft und zweitens von der Haltung, die man dem geltenden Recht einerseits und der herrschenden bzw. jeweils judizierten Moral andererseits gegenüber einnimmt: „Wer starre Rechtsnorm und Generalklausel mit einander vergleicht, mag die Klausel charakterlos schelten. Sie wandelt sich mit den Lebensanschauungen der jeweiligen Gegenwart; sie ist so eine zweischneidige Waffe; ihr Wert hängt von dem Werte der hinter ihr stehenden Gegenwart, sie kann dem Gesetz Gutes wie Schlechtes bringen, trägt im konservativen Staate konservative, im liberalistischen liberalistische Züge, sie folgt hemmungslos oder nur leicht dem Zeitgeiste, je nachdem der Richterstand diesem unterliegt.“74

Die Motive, Rechtsfindung eher aus einer Generalklausel als aus den ausdifferenzierten Regelungen des Gesetzes zu befürworten, können so ganz unterschiedlicher Natur sein. Ging es einzelnen Vertretern der Freirechtsschule noch vermeintlich um einen Kampf um die Rechtswissenschaft, weil sie nach dem Ideal des englischen Richterrechts eine ehrliche Begründung des Urteils einer scheindogmatischen Konstruktion vorzogen, so erhielt die Generalklausel spätestens ab 1933 in der deutschen Zivilrechtswissenschaft eine eindeutig politische Dimension. Justus Wilhelm Hedemann hatte noch in eben diesem Jahr mit seiner kleinen Schrift „Die Flucht in die Generalklauseln“ die Entwicklung des bedenklich zugenommenen Gebrauchs von Generalklauseln beschrieben, analysiert und in der Tendenz als eine „Gefahr für Recht und Staat“ bezeichnet. Diese Schrift brachte aber nur noch die Grundhaltung einer absterbenden Epoche zum Ausdruck und stand damit in ihrer Grundstimmung im klaren Gegensatz zur neuen juristischen Bewegung der Zeit, deren erklärtes Ziel es war, das Bürgerliche  Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 23. Vom alten zum neuen Schuldrecht (1938), S. 43.

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74 Lange,

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Recht im neuen (national‑)sozialistischen Geiste „gleichzuschalten“.75 Die Zivilrechtswissenschaft wurde mit dem erklärten Ziel der „Rechtserneuerung“ in einem bisher ungeahnten Maße radikal politisch.76 Nie zuvor wurde der stille Zusammenhang von Recht und Politik so laut propagiert und freirechtlicher Finalismus so willensstark gefeiert. Um die Implementierung der neuen nationalsozialistischen Wertordnung, die in „Führerwillen“, „Parteiprogramm“ und „gesundem Volksempfinden“ als den neuen übergesetzlichen Rechtsquellen zum Ausdruck kam, wurde neuerlich ein kurzes, weil im Ergebnis wenig kontroverses methodologisches Gespräch um Gesetzesbindung und Richtermacht geführt.77 Fazit und Richtung der Rechtserneuerung waren dabei kaum zweifelhaft: 75  Fischer, Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938), S. 1: „… auf dem Wege über die Generalklauseln das gesetzte Recht ‚gleichzuschalten‘ …“; zu den methodologischen Vordenkern zählen insb. Schmitt, Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, JW 1933, 2793 (LS 4); ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), S. 59; ders., Nationalsozialismus und Rechtsstaat, JW 1934, 713/717: „Das gesamte deutsche Recht, einschließlich der weitergeltenden, positiv nicht aufgehobenen Bestimmungen, muß ausschließlich und allein vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht sein. (…) Jede Auslegung muß eine Auslegung im nationalsozialistischen Sinne sein. (…) Alle unbestimmten Rechtsbegriffe, alle sog. Generalklauseln sind unbedingt und vorbehaltlos im nationalsozialistischen Sinne anzuwenden.“; Lange, Generalklauseln und neues Recht, JW 1933, 2858; ders., Liberalismus, Nationalsozialismus und Bürgerliches Recht (1933); ders., Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 40 ff.; ders., Nationalsozialismus und bürgerliches Recht (1935), S. 931 ff.; ders., Lage und Aufgabe der deutschen Privatrechtswissenschaft (1937); Dölle, Das Bürgerliche Recht im nationalsozialistischen Deutschen Staat, Schmollers Jhb 57 (1933), 649 ff.; Stoll, Die nationale Revolution und das bürgerliche Recht, DJZ 1933, 1229; ders., Das bürgerliche Recht in der Zeiten Wende (1933); ders., Juristische Methode (1934), S. 83/96 f.; Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935); Hubernagel, Nationalsozialistische Rechtsauffassung und Generalklauseln, in: Hans Frank, Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung (1935), S. 970 ff.; Schlegelberger, Ein Volk erlebt sein Recht (1936); ders., Abschied vom BGB (1937), S. 7: „Es kann … keinem Zweifel unterliegen, daß nunmehr jede Norm des geltenden Rechts unter Berücksichtigung der in dem Parteiprogramm anerkannten Sittenordnung und Weltanschauung auszulegen und anzuwenden ist (…).“;Wieacker, Stand der Rechtserneuerung, DRW 2 (1937), 3/23 ff.; Larenz, Über Gegenstand und Methode völkischen Rechtsdenkens (1938), S. 20. 76  Zu kurz greift hier Heller, Die Zivilrechtsgesetzgebung im Dritten Reich (2015), wenn er die Frage der Veränderung des bürgerlichen Rechts allein an der Gesetzgebungstätigkeit in der NS-Zeit bemessen will und insoweit vernachlässigt, was im Grunde schon Rüthers (Die unendliche Auslegung) dargelegt hat, dass eine Umdeutung des bürgerlichen Rechts ganz wesentlich durch die dritte Gewalt und die Verwendung von Generalklauseln erfolgt ist. 77 Die Debatte flammte 1933 neuerlich kurz auf und war innerhalb der nächsten zwei Jahre im Grunde wieder beendet; neben den zuvor genannten: Freisler, Recht, Richter und Gesetz, Deutsche Justiz 1933, 694 ff.; ders., Richter, Recht und Gesetz, Deutsche Justiz 1934, 1333; ders., Recht und Gesetzgeber, Deutsche Justiz 1936, 153 ff.; Gürtner, Richter und Rechtsanwalt im neuen Staat, Deutsche Justiz 1934, 369 ff.; Binder, Bemerkungen zum Methodenstreit in der Privatrechtswissenschaft, ZHR 100 (1934), 4 ff.; Bull, Die Bindung an das Gesetz, AcP 139 (1934), 337 ff.; Kisch, Der deutsche Richter, ZAkDR 1934, 9 ff.; Lühr, Darf der Richter gegen das Gesetz entscheiden?, DRZ 1934, 33 ff.; Wunderlich, Der königliche Richter und das Gesetz, DJZ 1934, 10 ff.; Schwister, Gesetz und Richteramt, DJZ 1934, 1430; Ostwald, Richterkönigtum, Führergrundsatz und Rechtsgestaltung, DJZ 1934, 440 ff.; Eichhorn, Bindung des Richters an

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„Die Vorschriften des BGB bestehen noch, aber sie erhalten durch die ‚zentrale Rechtsidee‘ der siegreichen Bewegung eine neue Zielsetzung.“78

Dass es gerade die unbestimmten Rechtsbegriffe und Generalklauseln bis heute sind, vermittels derer alte oder neue Einsichten in das Wesen des richtigen Rechts aus der transzendentalen Ebene der wertenden Ideen und Weltanschauungen auf den Boden positiven Rechts gestellt werden können, wurde nun erstmals in seiner vollen Tragweite erkannt. Die vorhergehende Methodendebatte und die richterlichen Bemühungen im Umgang mit der Wirtschaftskrise der Weimarer Zeit (insbesondere in der Aufwertungsrechtsprechung) hatten die Brauchbarkeit von Generalklauseln für finalistische Rechtsfindung hinreichend bewusstgemacht. Was nun als Aufgabe anstand, war die Umwertung einer ursprünglich freiheitlichen Zivilrechtskodifikation. Und auch Hedemann schloss sich dieser neuen Bewegung an.79 Das zentrale Problem der neuen Methodenlehre bestand dabei darin, dem Richter einerseits die Freiheit der Umdeutung des alten Rechts zu belassen, ihn andererseits doch wieder streng an das neue Recht zu binden. Insbesondere Heinrich Lange hat die entsprechende Instrumentalisierbarkeit der Generalklauseln zum Zwecke einer politischen Umbildung des Rechts sehr passend charakterisiert: „Solange den Generalklauseln im neuen Staate das vom gestürzten errichtete, vielfach veraltete Gebäude fester Regeln gegenübersteht, so lange muß der neue Staat mit den Generalklauseln neben dem Gesetz wie gegen dieses, seinen Rechtsanschauungen Raum und Wirkung verschaffen. Hat er jedoch sein Recht selbst als Gesetz geformt, so wird er ebenso wie der alte Staat seine schützende Hand über das Gesetz halten, um offenen oder heimlichen Angriffen über die Generalklauseln zu begegnen.“80

Entscheidend war also allein die Bindung an die neue Welt‑ und Rechtsanschauung eines nationalen Sozialismus: „Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere im Parteiprogramm und in den Äußerungen des Führers ihren Ausdruck findet.“81 das Gesetz und neuzeitliche Rechtsfindung, DRiZ 1935, 321 ff.; Franzen, Gesetz und Richter, eine Abgrenzung nach den Grundsätzen des nationalsozialistischen Staates (1935); Schroer, Der königliche Richter, DRiZ 1935, 2 ff.; Tigges, Die Stellung des Richters im modernen Staat (1935). 78  Stoll, Die nationale Revolution und das bürgerliche Recht, DJZ 1933, 1229. 79 Vgl. nur: Hedemann, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1935); ders., Bürgerliches Recht im Dritten Reich (1938); ders., Die Erneuerung des Bürgerlichen Rechts (1938); ders., Vom Bürger zum Volksgenossen (1939/40); ders., Das Volksgesetzbuch der Deutschen (1941); ders., Das Volksgesetzbuch als Fundament großdeutschen Rechtslebens (1942). Zur Entwicklung auch: Mohnhaupt, Justus Wilhelm Hedemann (1989), 107/140 ff.; Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit (2004). 80 Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 44. 81  Deutlich formuliert zunächst in LS 2 über die „Stellung und Aufgaben des Richters“, im Auftrag des Reichsministers Hans Frank formuliert von Dahm, Eckardt, Höhn, Ritterbusch, Siebert, DRW 1 (1936), 123; ebenso dann in den Grundregeln, die im Entwurf des Volksgesetz-

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Diese Doktrin plausibel zu vermitteln, verblieb als Aufgabe einer neuen (einheitlichen) Rechtsphilosophie und Methodenlehre.82 Der darin zu Tage tretende oder geistig manifestierte Grundgedanke der Rechtserneuerung war freilich, bei allem Rekurs auf „Deutsche Kulturgeschichte“, „Deutsche Metaphysik“83 und „Deutschen Idealismus“ (ganz eigentlich: Neuhegelianismus)84, im Grunde buches vorangestellt sind: Der Richter „spricht Recht nach freier Überzeugung und nach der von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragenen Rechtsauslegung.“ 82  Dölle, Das deutsche bürgerliche Recht im nationalsozialistischen Staat, Schmollers Jhb 57 (1933), 649 ff.; ders., Vom alten zum neuen Schuldrecht, DJZ 1934, 1017 ff.; ders., Die Neugestaltung des Deutschen Bürgerlichen Rechts, ZAkDR 1937, 359 ff.; Emge, Die Aufgaben einer neuen Rechtsphilosophie, JW 1933, 2104 ff.; ders., Über die Beziehungen der nationalsozialistischen Bewegung zu Rechtswissenschaft und Recht, DR 1934, 34 ff.; v. Heydebrand und der Lasa, Deutsche Rechtserneuerung aus dem Geiste des Nationalsozialismus (1933); Merk, Deutsche Rechtserneuerung, Süddeutsche Monatshefte 31 (1933/34), S. 258 ff.; Binder, Bemerkungen zum Methodenstreite in der Rechtswissenschaft, ZHR 100 (1934), 4 ff.; Schönfeld, Rechtsphilosophie, Jurisprudenz und Rechtswissenschaft (1934); ders., Zur geschichtlichen und weltanschaulichen Grundlegung des Rechts, DRW 4 (1939), S. 201 ff.; Larenz, Rechts‑ und Staatsphilosophie der Gegenwart (1931); ders., Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (1934); ders., Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, AcP 143 (1937), 257 ff.; ders., Die Aufgabe der Rechtsphilosophie, ZDK 4 (1937), 209 ff.; Kahle, Die Notwendigkeit einer einheitlichen rechtsphilosophischen Erziehung für den juristischen Nachwuchs Deutschlands, DR 1934, 99 ff.; Erik Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate (1934); ders., Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, ARSP 28 (1934/35), 348 ff.; Michaelis, Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens (1935); Jung, Deutsche Rechtsphilosophie (1935); Busse, Zur Aufgabe der heutigen Rechtswissenschaft, DRW 1 (1936), 289 ff.; Dietze, Naturrecht in der Gegenwart (1936); Eichler, Wandlungen im System des Privatrechts, DRW 1 (1936), 262 ff.; Heck, Rechtserneuerung und juristische Methodenlehre, 1936; Schlegelberger, Abschied vom BGB (1937); Dikow, Die Neugestaltung des Deutschen Bürgerlichen Rechts (1937); Hedemann (Hrsg.), Zur Erneuerung des bürgerlichen Rechts (1938); Boehmer, Das Schrifttum zur Erneuerung des bürgerlichen Rechts, DRW 4 (1939), 77 ff.; Siebert, Zur Rechtserneuerung im Schuldrecht, DR 1941, 1930 ff. 83 Sehr bezeichnend für den neuen „objektiven Idealismus“ Schönfeld, AcP 133 (1931), 358/359: „Ja, gibt es denn etwas höheres als die Wirklichkeit des Staates und ist sie nicht sein Sinn und seine Idee und heißt Metaphysik auf Deutsch nicht Wirklichkeitslehre?“ 84 Der Hegelianismus, der um die Jahrhundertwende mit Wilhelm Dilteys Buch über den jungen Hegel (Die Jugendgeschichte Hegels, 1905) in Gestalt eines „Neuhegelianismus“ eine wirkmächtige philosophische Strömung in Ergänzung und Opposition zum Neukantianismus wurde (Windelband: „die Erneuerung des Hegelianismus“, 1910), wirkte besonders stark auf die nationalsozialistische Rechtsphilosophie. Wichtige Vertreter des Neuhegelianismus waren neben Berolzheimer und Kohler etwa Julius Binder (1870–1939), Carl August Emge (1886–1970), Karl Larenz (1903–1993), Gerhard Dulckeit (1904–1954). Das kann und muss hier nicht in allen Facetten nachgezeichnet werden; vgl. nur Josef Kohler, Neuhegelianismus, Archiv f. Rechts‑ und Wirtschaftsphilosophie 1 (1907/08), 227–354; ders., Vom Positivismus zum Neuhegelianismus, Archiv f. Rechts‑ und Wirtschaftsphilosophie 3 (1909/10), 167–172; Fritz Berolzheimer, Das Programm des Neuhegelianismus, Archiv für Rechts‑ Wirtschaftsphilosophie 7 (1913/14), 507–552; Emge, Vernunft und Wirklichkeit bei Hegel (1925); ders., Hegels Logik und die Gegenwart (1927); ders., Geistiger Mensch und Nationalsozialismus. Ein Interview für die Gebildeten unter seinen Gegnern (1931); ders., Die Aufgaben einer neuen Rechtsphilosophie, JW 1933, 2104 ff.; Walter Schönfeld, Rechtsphilosophie, Jurisprudenz und Rechtswissenschaft (1934); ders., Zur geschichtlichen und weltanschaulichen Grundlegung des Rechts, DRW 4 (1939), S. 201 ff.; Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechts-

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ebenso schlicht wie das Programm der NSDAP zur gesellschaftlichen Erneuerung Deutschlands: „Der Nationalsozialismus hat in Deutschland eine neue, die spezifisch deutsche Rechtsidee zur Geltung gebracht. Nicht zum mindesten darin liegt seine weltgeschichtliche Bedeutung.“85 „Gemeinnutz vor Eigennutz“ war die sowohl philosophische als auch ideologische Generalklausel der Rechtserneuerung. Und es war die Hülse der gerade zum umfassenden Schutzpflichtverhältnis abstrahierten culpa in contrahendo, die diese „spezifisch deutsche Rechtsidee“ auf rechtsdogmatischer Ebene in geltende Rechtwirklichkeit umzusetzen in der Lage war: Eine privatrechtliche Sonderverbindung in Gemeinschaft und Treue!86 Es wird nunmehr nicht nur verständlich, warum Karl Larenz später ausgerechnet an diesem Institut die Methodologie einer gesetzesübersteigenden „Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip“ vorstellt.87 Erklärlich wird vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund freilich auch das in seiner Methodenlehre (vorsichtshalber?) nicht explizit mitgeteilte Prinzip hinter dieser „über den Plan des Gesetzes hinaus“ gehenden Rechtsfortbildung. „Rechtsethische Prinzipien sind richtunggebende Maßstäbe rechtlicher Normierung, die vermöge ihrer eigenen Überzeugungskraft rechtliche Entscheidungen zu ‚rechtfertigen‘ vermögen (…) sie können als besondere Ausprägungen, Spezifikationen der Rechtsidee verstanden werden (…).“88

Und es liegt nahe, gerade in der spezifischen deutschen Rechts‑ und Ideengeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den wesentlichen Grund dafür zu erblicken, dass die culpa in contrahendo auch im weiteren Verlauf eine bephilosophie (1934); zu letzterem Engisch, AcP 140 (1935), 105: „Ihm (Larenz) erscheint – auch wenn er es selbst so nicht sagt – die nationalsozialistische Rechtsreform recht eigentlich als die Erfüllung der Hegelschen Rechts‑ und Staatsphilosophie. Den westlichen Aufklärungsideen und dem Positivismus, die bis in die jüngste Vergangenheit unser Rechts‑ und Staatsleben ‚überfremdet‘ haben, stellt die Gegenwart wieder die urdeutsche Auffassung vom Recht als einer im Völkisch-Sittlichen wurzelnden konkreten Gemeinschaftsordnung entgegen.“ Bezeichnend ist auch die ideelle Dominanz in der neuhegelianisch umgewidmeten philosophischen Zeitschrift „Logos“ in „Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie“, die von 1935 bis 1944 erschien: die als „Ausdruck des kulturphilosophischen Wollens unserer Zeit … jener großen Bewegung dienen (soll), die heute unser Volk geht, und die wir zutiefst als eine geistige Bewegung begreifen“; denn „echte Kultur ist immer Ausdruck eines schöpferischen Gemeingeistes (…)“. (Zur Einführung von den Hrsg. Glockner und Larenz). Kritische Auseinandersetzung mit dieser neuen „Bewegung“ aus der Perspektive der seinerzeit führenden zivilrechtlichen Methodologie bei Heck, Die Interessenjurisprudenz und ihre neuen Gegner, AcP 142 (1936), 129 ff.; ders., Rechtserneuerung und Juristische Methodenlehre (1936); ders., Rechtsphilosophie und Interessenjurisprudenz, AcP 143 (1937), 129 ff.; versöhnlicher Stoll, Begriff und Konstruktion (1931); ders, Juristische Methode (1934). 85  Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (1934), S. 38; ein erstes Fazit bei Siebert, Wandlungen im bürgerlichen Recht seit 1933, DR 1944, 5 ff. 86  Ausf. sogleich und unten § 6 II.2. 87  Larenz, Methodenlehre (1960), S. 314 ff.; in der 6. Aufl. (1991), S. 421 ff. 88 Larenz, Methodenlehre (1960/1991), S. 314/421.

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sondere Spezifikation der „spezifisch deutschen Rechtsidee“ geworden und bis heute geblieben ist. c) Sozialethik und Recht: Der totale Staat „Der neue Geist entscheidet bedingungslos über den Inhalt der Gesetzesergänzung; mag es sich um ‚ungewollte‘ oder ‚gewollte Gesetzeslücken‘ handeln. Infolgedessen wandelt sich – selbst ohne Änderung des Gesetzes – grundlegend das gesamte Recht.“ Heinz Hildebrandt, 193589

Man mag ja von der ganzen Entwicklung, die nun begann, halten, was immer man will, eines wurde jedenfalls durch den Schulterschluss von freirechtlicher Methodologie und nationalsozialistischer Ideologie sehr deutlich: Die sozialphilosophische Grundhaltung hinter dem Gebrauch von Generalklauseln; jene normativen Gründe hinter den Gründen, die bis heute hinter dogmatischen Konstruktionen oder der Floskel „Treu und Glauben“ häufig verborgen werden. Die neue Jurisprudenz sprach deutlich aus, worum es ging: Gemeinnutz statt Eigennutz! „Ohne daß darum der Wortlaut der Generalklauseln umgestaltet zu werden braucht, erhalten sie nach einer siegreichen Revolution auch für den Positivisten einen völlig veränderten Sinn. Sie dienen jetzt der neuen Lebenswertung ebenso offen, wie sie der früheren treu gedient hatten; ‚Treu und Glauben‘, ‚die guten Sitten‘ fordern im nationalsozialistischen Staate mehr und anderes als im liberalistischen: die Eingliederung des einzelnen in die Gemeinschaft, die Unterordnung des einzelnen unter das Ganze verschärfen und vertiefen die Pflichten gegen den anderen wie die Gemeinschaft. Die Sätze: ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘, ‚Gemeinnutz vor Eigennutz‘ werden so zur Richtschnur für die Generalklauseln; an ihnen richten sich diese aus, aus ihnen heraus gestalten sie den Bau des neuen Rechtes. So erhält selbst die Generalklausel der Generalklauseln, der Satz: ‚Suum cuique‘ einen neuen Sinn. Dem Individualismus bedeutet er: ‚Meum mihi‘, dem Gemeinschaftssinn sagt er ‚Nostrum nobis‘.“90

„Vom Individualismus des personalen ‚Ich‘ zum Sozialismus des nationalen ‚Wir‘“ ist die prägende Devise der Zeit.91 Eine radikale Umwertung der Werte: 89 Rechtsfindung

im neuen deutschen Staate (1935), S. 100. Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 44. 91  Neben Lange die Wandlung vom Individualismus zum Kollektivismus bei der Interpretation der dogmatischen Grundbegriffe betonend insb. auch Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (1934), S. 40; ders., Rechtsperson und subjektives Recht (1935), S. 225 f. (passim): Es gehe darum, ein vom öffentlichen Recht abgesondertes Privatrecht zu überwinden, mit der Konsequenz: „daß nicht das Person-Sein überhaupt, sondern das konkrete Glied-Sein maßgebend sein müsse …, daß es ein Privatrecht als abgesondertes Recht der Einzelpersonen nicht mehr geben kann, sondern daß alles Recht als Gemeinschaftsrecht angesehen werden muss“.; Bull, Gemeinnutz und „geltendes“ Recht, DR 1935, 179 ff.; Siebert, Die Volksgemeinschaft im bürgerlichen Recht, in: Hans Frank, Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetz (1935), S. 955 ff.; Heinrich Stoll, Gemeinschaftsgedanke und Schuldvertrag, DJZ 1936, 414 ff.; ders., Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 7: „Die nationalsozialistische Rechtsanschauung muß verlangen, daß der Gemeinschaftsgedanke beherrschend wird; sie wird 90 Lange,

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Die „Individualität“ wird als „Glied“ der „Volksgemeinschaft“ zum „Volksgenossen“; die juristische Kategorie „Person“ verliert ihre Personalität im „Rechtsgenossen“, und „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist“.92 Es gibt keine Bürger mehr, nur noch „Deutsche“ und „Artfremde“. Alle Deutschen sind Bestandteil einer höheren völkischen Idee: der deutschen Nation. „Man kann das System auf eine kurze Formel bringen: Jeder wächst aus dem Volk, jeder lebt in dem Volke, jeder stirbt mit dem Volke.“93 Das Blut bestimmt über das Recht. So wie in der neuen kollektivistischen Ideologie die Würde und Individualität des Einzelnen in der Gesamtheit der Gemeinschaft verloren (bzw. euphemistisch gewendet: auf‑) geht, verliert auch das auf der individuellen Würde jedes Einzelnen konzipierte „subjektive Recht“ notwendig seine Dignität.94 Der Einzelne ist eingestellt in eine objektive Ordnung: „Der Volksgenosse ist als Rechtsgenosse nicht Träger ‚subjektiver Rechte‘, sondern er steht in bestimmten Rechtsstellungen und damit im Recht.“95 Im Rechte stehen heißt dann eben nicht, „in Beziehung zu anderen Individuen stehen, sondern heißt, in der Ordnung eines Volkslebens seine bestimmte Stelle, seine Funktion, seine Gliedstellung haben (…). Daß diese Gliedstellung dann auch Beziehungen zu anderen Volksgenossen umfaßt, daß sich aus ihr Pflichten nicht nur gegenüber der Gesamtgemeinschaft, sondern auch gegenüber bestimmten anderen Genossen ergeben, ist eine Folge wiederum der Gemeinschaftsordnung. Denn die Gemeinschaft … umfaßt das Verhältnis der Genossen zu den Genossen (…).“96 Dass sich unter diesem Gesichtspunkt im Zivilrecht eine besondere Faszination für das ausbilden musste, was gerade erst dogmatisch als Sonderverbindung dem Repertoire juristischer Konstruktionen hinzugefügt worden war, liegt auf der Hand: Es geht um eine Haftung, die nicht auf individueller Selbstbestimmung (ex voluntate), sondern auf gemeinschaftlicher Verbundenheit (ex lege) beruht. Hier eben liegt dann das neue normative Prinzip, das der Haftung für culpa in contrahendo mit einer ganz neuen Zielrichtung vindiziert wird: Haftung für individualistische Rücksichtslosigkeit gegenüber der Volksgemeinschaft, die daher das Schuldverhältnis vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gemeinschaftsaufgabe betrachten (…).“; ausf. S. 23 f.: „Die Gemeinschaftsethik fordert von jedem Volksgenossen sozialistische Lebenshaltung (…).“; Schlegelberger, Abschied vom BGB (1937), S. 8: „Dem Dritten Reich ist die Aufgabe zugefallen, hier grundsätzlich Wandel zu schaffen und den Grundsatz des BGB: Freiheit von der Gemeinschaft durch den Grundsatz: Freiheit in der Gemeinschaft abzulösen (…).“; Walz, Der Gegensatz von öffentlichem und privatem Recht – Eine Frage des nationalsozialistischen Rechtsaufbaus, ZAkDR 1938, 581 ff.; Freisler, Gemeinnutz vor Eigennutz als volksgenössische Rechtspflicht, DGWR 1940, 169 ff.; Hallstein, Von der Sozialisierung des Privatrechts, ZgS 102 (1942), 530 ff. 92  Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht (1935), S. 241. 93  Hans Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte (3. Aufl. 1943), S. 335 f. 94 Ausf. hierzu Klippel, Subjektives Recht und germanisch-deutscher Rechtsgedanke (1995), S.  31–54 m. w. N. 95  Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht (1935), S. 225/260. 96 Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht (1935), S. 225/240.

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in der Person des geschädigten Vertrags-, Volks‑ bzw. Rechtsgenossen missachtet wurde. Es gehört nicht mehr zur Autonomie des Einzelnen, seine Interessen auch selbst wahrzunehmen; es wird zur Pflicht, die Interessen der Gemeinschaft im anderen zu wahren.97 Wenn später die Haftung kraft Sonderverbindung auch als „Korrelat“ der Privatautonomie bezeichnet worden ist oder die Postulation von Aufklärungspflichten mit Gleichheits-, Kooperations-, Gerechtigkeits‑ und / ​oder wohlfahrtstaatlichen Überlegungen zu begründen gesucht wurde, so kann man getrost den eben hier zuerst deutlich angesprochenen Konflikt zwischen Freiheit (Liberalismus) und Gemeinschaft (Sozialismus) mit denken. Es ist diese sozialphilosophische Grundebene, die Vorstellung von einer den Individualismus überwinden wollenden sozialen Gerechtigkeit in der Vergemeinschaftung gegensätzlicher Interessen, die hinter der dogmatischen Konstruktion und Anwendung der culpa in contrahendo bis heute eine zentrale Rolle spielt. Das originäre rechtsethische Prinzip dieses Gedankens findet sich in Punkt 25 des Parteiprogramms der NSDAP von 1920 formuliert: „Gemeinnutz vor Eigennutz“. Wichtig ist an dieser Stelle aber noch ein zweiter Gedanke, der mit dem erstgenannten naturgemäß sehr eng verknüpft ist: Das Potenzial der culpa in contrahendo zu einem umfassenden totalitären Haftungsinstitut! Es geht insoweit um ein klassisches Problem der Rechtstheorie, das, wie gesehen, bereits Franz Leonhard bemerkt hat, nun aber, 20 Jahre später, in aller Deutlichkeit hervortritt: Die Aufhebung der Trennung von Recht und Moral, die mit der Bekämpfung liberaler Grundpositionen immer einhergeht: „Wie Staat und Gemeinschaft, so waren unter dem Liberalismus auch Recht, Sitte und Sittlichkeit getrennt. Dem nüchternen Positivisten erschien nur die Gewalt des Staates als Zwang; der Individualist, der sich dieser Macht widerwillig unterwarf, mußte den Gemeinschaftszwang leugnen, der ihm als unzulässiger Eingriff in den Freiheitskreis des einzelnen erschien, Freiheitsberaubung war. (…) In einem Volke, in dem der einzelne für sich lebte, konnte er sich dem Zwange der Sitte noch entziehen; in einem Volke, in dem der einzelne erst als Mitglied der Gemeinschaft seinen Wert erhält, kann er das nicht mehr. Der neue Staat hat darum seine Lebensordnung nicht nur als Gesetzesordnung aufgebaut, er umfasst vielmehr Sitte, Sittlichkeit und Recht, versucht diese zu verschmelzen (…)“.98 97  Deutlich zu dieser Konsequenz bei der Uminterpretation des Privatrechts aus dem Gemeinschaftsgedanken: Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht (1935), S. 225/250: „… aber die Pflicht, etwa den Kaufpreis zu zahlen, ist nicht so sehr eine von der Gemeinschaft übertragene Aufgabe, als eine der Gemeinschaft und dem anderen Volksgenossen gegenüber (beides darf nicht auseinander gedacht werden) übernommene Schuld (…).“; ders., Die Aufgabe der Rechtsphilosophie, ZDK 4 (1937), 209/235: „Nachdem die Idee des Gemeinschaftsrechts als das Rechtsprinzip unseres Volkes in unseren Tagen erneut in die Wirklichkeit getreten ist und als Wahrheit des Rechts von uns begriffen ist, haben wir alle rechtlichen Institutionen unserer Zeit aus dieser Idee zu verstehen.“ 98  Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 46; in diesem Sinne auch Schnorr v. Carolsfeld, Die Notwendigkeit neuer Begriffsbildung im bürgerlichen Recht, DJZ 1935, 1475/1477: „Es gibt heute kein Recht mehr, das nicht infolge der ganzheitlichen Bezogenheit

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Dass für diesen Zweck gerade das Haftungsinstitut der culpa in contrahendo eine hervorragende Rechtsform darbot, ist nicht verborgen geblieben. Walter Erman und überhaupt die ganze Rechtstheorie jener Zeit war sich der Möglichkeit, mittels „Treu und Glauben“ das Recht und die Volksgenossen moralisch „richtig“ stellen zu können, durchaus bewusst: „Wie wichtig der Gesichtspunkt von Treu und Glauben in diesem Sinne aber gerade heute ist, das zeigt z. B.die Entscheidung des LG Breslau vom 17. 10. 33, abgedruckt in der Deutschen Justiz 1933, Heft 53, S. 856. In der Anmerkung zu der Entscheidung heißt es mit Recht, es zeige sich hier, wie auch ohne Änderung des geltenden Rechts, die geläuterte Moral der herrschenden Anschauung unmittelbare rechtliche Folgen auslöst.“99

In der Tat hatte das LG Breslau in der zitierten Entscheidung deutlich klargestellt, dass es „im nationalen Gemeinschaftsstaate“ eine Trennung von Recht und individueller Moral nicht mehr gibt, und damit das in praktische Anwendung umgesetzt, was eine gewisse Führerpersönlichkeit der Zeit gerade mit Emphase vorgetragen hatte: „Der totale Staat werde keinen Unterschied zwischen Recht und Moral dulden.“100 Die vollständige Auflösung dieser Trennung, d. h. die Vergesellschaftung des Privaten, kennzeichnet in seinem Kern das, was wir auch Totalitarismus101 nennen: öffentlich-rechtlich (im alten Sinne) durchdrungen wäre.“; d. h. es gibt nichts ‚Privates‘, alles ist ‚Öffentlich‘.  99  Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/280. 100 Zitiert bei Hueck, Der Treuegedanke (1947), S. 7; deutlich auch Carl Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, JW 1933, 225: zwischen juristisch und politisch, juristisch und weltanschaulich, juristisch und moralisch sei eine Trennung nicht möglich vorzunehmen; bereits ders., Die Wendung zum totalen Staat, Europäische Revue 7 (1931), 241 ff.; auch in: ders., Positionen und Begriffe (1940), 146 ff.; ausführliche Grundlegung gegenüber dem liberalen Minimalstaat: Ernst Forsthoff, Der totale Staat (1933): „Hier soll versucht werden, aus dem Sinn der Geschichte, aus den Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts und den Ereignissen der neuesten Zeit heraus das Ziel der nationalsozialistischen Revolution in dem totalen Staat zu fixieren.“ (S. 4); Binder, Der autoritäre Staat, Logos 22 (1933), 126 ff. mit der Klarstellung: „Jedes politische System ist unhaltbar, das irgendwie den Individualismus zur Voraussetzung hat (…).“; Hans Frank, Nationalsozialismus im Recht, ZAkDR 1934, 8 ff.; E. R.  Huber, Die Totalität des völkischen Staates, Die Tat (1934), 30 ff.; ders., Einheit und Gliederung des völkischen Rechts – Ein Beitrag zur Überwindung des Gegensatzes von öffentlichem und privatem Recht, ZgS 98 (1938), 310 ff.; Höhn, Rechtsgemeinschaft und Volksgemeinschaft (1935); Michaelis, Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens (1935), S. 9/59: „Mit der Überwindung der Trennung von Recht, Sitte und Sittlichkeit wird auch das Gesetz als Rechtsquell wieder hineingestellt in den Zusammenhang der Lebensäußerungen des Volkes (…).“; Eugen Kempermann, Recht und Sittlichkeit, ARSP 36 (1943), 655 ff.; Karl Larenz, Sittlichkeit und Recht, in: Reich und Recht in der deutschen Philosophie (1943), S. 169 ff.: „Keiner der genannten Gründe, die für die Erhaltung und immer schärfere Betonung der begrifflichen Selbständigkeit des Rechts gegenüber der Sittlichkeit mitgesprochen haben mögen, kann heute für uns noch maßgebend sein.“ (S. 179). 101  Grundlegend Hanna Arendt, The Origins of Totalitarism (1951): „To organise the infinite plurality and differentiation of human beings as if all humanity were just one individual.“ (deutsch: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 12. Aufl. 2008); Ian Ward, Introduction to Critical Legal Theory (2004), p. 67: „Totalitarianism is the antithesis of individualism.“; vgl. auch die Beiträge bei Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert: eine Bi-

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„Es mag sein, daß im liberalistischen Staate mit der dort vorgenommenen Unterscheidung von Recht und Moral die Verpflichtung eines Vertragschließenden gegenüber dem andern enger gefaßt worden … wäre. Im nationalen Gemeinschaftsstaate, der als obersten Grundsatz auch im Wirtschaftsleben den Satz ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ lehrt, ist dagegen der Pflichtbegriff im Zusammenhange mit der Gleichstellung von Recht und Moral schärfer geworden. Eine gegen sich selbst rücksichtslose Offenbarung aller derjenigen Umstände, auf die der Vertragsgegner Wert legen muß, und eine Erörterung aller derjenigen Umstände, die für den Vertragsgegner nur irgendwie von Bedeutung sein können, ist sittliche wie rechtliche Pflicht der in der gleichen Volksgemeinschaft verbundenen Menschen, die zum Abschluß eines Rechtsgeschäfts einander gegenüber treten.“102

Hier wird nun gleich beides deutlich angesprochen: Das Wesen der Sonderverbindung in seiner Beziehung zum Gemeinschaftsgedanken und das Potenzial der culpa in contrahendo als totalitärem Haftungsinstitut. Die c. i. c. ist in diesem Sinne totalitär, weil und soweit die rechtliche Haftung an eine doktrinär herrschende Moral, das Private an das gesellschaftliche Ganze geknüpft ist und diese Moral sogleich haftungsrechtlich durchschlägt. Das Besondere dieser Moral, die mit der Vergemeinschaftung des Privaten einhergeht, ist, wie es Hanna Arendt herausgestellt hat, die „Tötung des Individuums“ in seiner Verantwortung für sich selbst und seine Handlungen („kill the juridical in man“).103 Mit der Verabschiedung der Individualität und der persönlichen Verantwortung in einem Gemeinwesen erhält dann auch der Begriff der culpa eine besondere, gleichsam heroische Note. Der Vorwurf individueller Schuld setzt ja gerade Freiheit und Individualität voraus, und so ist aus dem Kontext einer Moral totalitärer Gemeinschaft immer derjenige in culpa, der sich ihr entzieht, der eigene Freiheit und Individualität bewahren will. Nun muss man ja den Gemeinschaftsgedanken keineswegs per se verteufeln. Von Aristoteles’ „zoon politikon“ bis zur modernen Liberalismuskritik bei bekennenden oder sympathisierenden Sozialisten, Kommunisten oder Kommunitaristen104 spielt der Gemeinschaftsgedanke natürlich eine wichtige Rolle als

lanz der internationalen Forschung (1996); Hans Maier (Hrsg.): Totalitarismus und Politische Religionen (1996–2003). Auf die unterschiedlichen Definitionsversuche und begrifflichen Abgrenzungsbemühungen (zu einer „nur“ autoritären Diktatur o. ä.) soll hier nicht näher eingegangen werden; entscheidend für die hier übernommene Verwendung des Begriffes ist die totale Beschränkung der individuellen Freiheit in einer von der Gemeinschaft rechtlich sanktionierten Moral. 102  LG Breslau, Urt. v. 17. Oktober 1933, Deutsche Justiz 1933, S. 856. 103  Arendt, The Origins of Totalitarism (1951): After „murder of the moral person and annihilation of the juridical person, the destruction of the individuality is almost always successful.“ (vol. 2, pp. 91 s.). 104  Hierzu etwa nur: MacIntyre, After Virtue (1985); ders., Whose Justice? Which Rationality? (1988); Taylor, Sources of the Self (1989); Etzioni, The Spirit of Community: Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda (1995); Sandel, Democracys Discontent: America in Search of a Public Philosophy (1996); Kaiser, Der Kommunitarismus und seine Rezeption in Deutschland (2007).

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sozialphilosophische Alternative und Korrektiv zu einem nur am individuellen Nutzen orientierten gesellschaftlichen Egoismus. Wichtig ist hier aber zunächst zweierlei: 1. Wieder geht es um die Verabsolutierung eines Prinzips und einer Deduktion der Rechte aus diesem Prinzip (eine neuerliche Bestätigung von Jherings Einsicht: „Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Principien angerichtet haben und unter unseren Augen noch täglich anrichten …“  – dabei konnte Jhering diesen „Unfug“ noch gar nicht aus der Geschichte kennen …). 2. Der mit dem Gemeinschaftsgedanken verbundene Verzicht auf Individualismus und Selbstverantwortung hat nichts mit culpa (auch nicht in contrahendo) zu tun, sondern widerspricht der Möglichkeit ihrer Anwendung. (Der Versuch einer juristischen Aufarbeitung nach 1945 hat das Problem offenkundig werden lassen: Ein am Prinzip individueller Verantwortlichkeit ausgerichtetes liberales Rechtssystem kann „Kollektivschuld“ nicht leicht fassen.) Ein dritter Punkt ist wichtig: Dass die „geläuterte Moral“ jener „herrschenden Anschauung“ vermutlich nicht mehr in jedem Fall der heutigen entspricht, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir uns mit diesem Institut so schwertun: Es bringt eine normative Verbundenheit der Parteien als sozial(istisch)es Korrelat in ein im Grundsatz liberal(istisch)es Vertragsrecht, bei dem jeder Teil grundsätzlich seine individuellen Interessen verfolgen können soll. Eine Auflösung dieses sozialphilosophischen Konflikts ist nicht einmal im Einzelfall möglich: Entweder das Recht akzeptiert die Autonomie des Einzelnen oder es unterdrückt sie. Und das gilt dann auch (bis zur Grenze der Arglist) für den Vertragsschluss. Insoweit bleibt es dabei, dass wir uns bis heute mit dem Haftungsinstitut der culpa in contrahendo auf einem sehr schmalen Grat zwischen Recht und der jeweils herrschenden (bzw. im Einzelfall judizierten) Sozialmoral (des Richters) bewegen.105 Das heißt nicht, dass jeder Gebrauch durch den Richter in diesem Sinne immer ein Gebrauch zur Umsetzung individueller Moralvorstellungen im konkreten Einzelfall sein muss. Wir haben das bereits bei der Wiederentdeckungs-Judikatur gesehen: Die Anwendung der culpa in contrahendo durch das Reichsgericht basierte nicht evident auf einer bewussten politischen oder ideologischen Haltung oder (jedenfalls nicht evident) der Durchsetzung persönlicher Moralvorstellungen, sondern vor allem auf dem Phänomen, das Hedemann sehr treffend als „Bequemlichkeit“ und „Verweichlichung“ umschrieben hatte: „Der Einzelsatz ist hart und spröde, die Kombination und das Gegeneinander mehrerer Einzelsätze ist noch schwieriger und zeitraubender. Wie leicht tut es sich da bei der ‚Lösung‘ eines Falles mit Treu und Glauben (…).“ Wie leicht lässt sich heute eine Aufklärungspflicht ex post postulieren und damit der ganze Fall erledigen. Diese

105 Hierzu

ausf. unten § 9 (Einzelfallgerechtigkeit).

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Leichtigkeit entsprach der Leonhard’schen Konstruktion, die das Reichsgericht sehr willig übernommen hatte. So kann man die frühen Fälle des Reichsgerichts durchmustern: Regelmäßig steht die culpa in contrahendo in Konkurrenz zur ausdifferenzierten Dogmatik, und das Reichsgericht wollte sich entweder nicht anders behelfen oder wusste es tatsächlich nicht besser.106 Nun macht es aus methodologischer Sicht allerdings einen wichtigen Unterschied, ob man die Wertung des Gesetzes nur in einer neuen, einfacher zu handhabenden Form zur Anwendung bringt oder ob die Form endlich genutzt wird, um gegen die Wertung des Gesetzes eigene Moralvorstellungen durchzusetzen. Eben letzteres ist die neue Qualität beim Gebrauch der culpa in contrahendo, die sie in der nationalsozialistischen „Rechtserneuerung“ erreichte. Man kann insoweit auch von einer gesetzeskonformen und einer gesetzesderogierenden Konkurrenz dieses Haftungsinstituts sprechen. Die Eigenart, totalitäres Haftungsinstitut zu sein, tritt nur bei letzterer deutlich hervor. Aber wie auch ein Automobil seine Eigenart, fahren zu können, nicht deshalb verliert, weil es in diesem Sinne zuweilen nicht gebraucht wird, so verliert auch nicht die culpa in contrahendo ihre dogmatische Fähigkeit, kurzer Hand Moral zu Recht werden zu lassen. Die Möglichkeit, in diesem Sinne verwendet zu werden, war – darauf hatte, wie gesehen, Franz Leonhard sogleich hingewiesen – seit ihrer Wiederentdeckung immer schon latent vorhanden, aber erst eine von Grund auf antiliberale Bewegung hat den totalitären Charakter der culpa in contrahendo unverblümt und mit weltanschaulichem Elan ganz entfaltet. Man mag sich nun damit beruhigen, dass sich heute, obwohl dieses Institut tatsächlich geltendes Recht geworden ist, die herrschende Moral kaum neuerlich auf das Dogma „Gemeinnutz vor Eigennutz“ festlegen ließe. Das ist wohl wahr. Doch liegt ja eben hier auch der Grund für die Ambivalenzen, die bei den Stellungnahmen zu diesem Institut oder bei seiner Anwendung oder Nichtanwendung in der Rechtsprechung immer auszumachen sind: Der schlicht normative Gebrauch gegen jedes tatsächlich oder vermeintlich eigennützige Verhalten, d. h. das – sozialphilosophisch gesprochen – antiliberale Dogma ist der Dogmatik der culpa in contrahendo bis heute immanent. Das hat sich insbesondere nicht dadurch geändert, dass an die Stelle der culpa schließlich die fides selbst als Pseudotatbestand gesetzt wurde. Wohl eher das Gegenteil ist der Fall. Wir tragen hier das Erbe einer methodologischen Entwicklung, vor der neben und nach Justus Hedemann (1933: „Flucht in die Generalklausel“) zuletzt nur noch Phillip Heck (1936/37) gewarnt hatte107 und von der Alfred Hueck (1947) resümierend meinte: 106  In diesem Sinne hat auch Bucher, Schweizerisches Obligationenrecht I (1988), § 17 I, S. 279, eine seltsame Eigendynamik dergestalt bemerkt, dass eine Berufung auf culpa in contrahendo „sogar dann noch erfolgt, wenn dazu (im Bereich gesetzlicher Sondernormen) kein Anlass besteht“. 107 Heck, Rechtserneuerung und Juristische Methodenlehre (1936); ders., Rechtsphilosophie

II. Noch eine ‚Entdeckung‘: Vertrauenshaftung

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„Es ist kein Zweifel, daß unter dem Schwall von Phrasen die Schärfe und Klarheit der Rechtsbegriffe gelitten hat.“108

II. Noch eine ‚Entdeckung‘: Vertrauenshaftung „… und sodann konnte der Gesetzgeber unmöglich den bloßen guten Glauben des Käufers zum Grunde nehmen, um dem Verkäufer, der ja nicht minder in gutem Glauben sein kann, die Verpflichtung zum Schadensersatz aufzubürden. … Das legislative Motiv unserer Klage kann also nicht, wie es zufolge jener Idee geschehen müsste, in der bona fides des Käufers gesucht … werden.“ Rudolf v. Jhering, 1861109

Für Jhering war die Sache noch schnell abgehandelt: Es kann die bona fides keine brauchbare causa obligationis sein. Er hat sich stattdessen auf die culpa konzentriert, doch die war auch keine. Sollte er in beidem geirrt haben? Die Dogmengeschichte jedenfalls scheint ihn in doppelter Hinsicht widerlegt zu haben. Um die erneute Entwicklung gegen Jhering zu verstehen, ist es wichtig, sich die geänderte Situation noch einmal vor Augen zu halten: Jhering war mit konkreten Konsequenzen des geltenden Rechts (Konsequenzen des Willensdogmas) nicht einverstanden und suchte nach einem billigen Ausgleich und einer entsprechenden Begründung. Zu Beginn der vierten Dekade des 20. Jahrhunderts (d. h. gut 70 Jahre später) gab es jede Menge vermeintlichen Ausgleich in Gestalt von aus Treu und Glauben oder aus sonstigen Rechtsquellen deduzierten Pflichtverletzungen, aber immer noch keine tragfähige und überzeugende Begründung, weder für den Vorgang dieser Rechtsschöpfungen noch überhaupt für ihre sachliche Berechtigung. Die Rechtsgelehrten verhielten sich in Bezug auf die Spezies Pflichtverletzungen wie Ornithologen in Bezug auf Vögel in einem noch unbekannten Terrain: Man entdeckt, registriert, klassifiziert und systematisiert. Exemplarisch und zugleich am Ende dieser Entwicklung stehen die Ausführungen bei Hans Dölle, der in seiner Schrift über „außergesetzliche Schuldpflichten“ die herrschende Auffassung zu den Pflichten wie ein unabweisliches Naturphänomen bespricht:

und Interessenjurisprudenz, AcP 143 (1937), 129 ff.: „normative Verwertung“ von „Allgemeinbegriffen“ und allgemein-abstrakter „Formeln“ (S. 159 ff.); „rechtsphilosophische Begriffsjurisprudenz“ (S. 182 ff.); dagegen, die neue Richtung verteidigend Larenz, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, AcP 143 (1937), 257 ff, mit dem Fazit: man dürfe nicht meinen, „jemand sei schon deshalb ein ‚Begriffsjurist‘, weil er sich nicht zur ‚Interessenjurisprudenz‘ i. S. Hecks … bekennt.“ (S. 281). 108  Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 1. 109 Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/33 f.

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„In der Menge der sehr verschiedenartigen Pflichten, deren Quelle und Entstehungstatbestand noch zu suchen sind, fallen drei Gruppen durch ihre Häufigkeit ihres Vorkommens und durch das Gewicht ihrer praktischen Bedeutung auf: die Schutz-, Fürsorge-, Erhaltungspflichten; die Anzeige-, Aufklärungs-, Mitteilungspflichten; und die Pflichten, kraft deren für eine in Anspruch genommene oder empfangene Leistung eine Vergütung erbracht werden muß.“110

Eine bunte Vielzahl von Pflichten bildete eine spezielle Population in der Zivilrechtsdogmatik, die sich offensichtlich ob ihrer Fruchtbarkeit stetig vermehrten. Niemand bezweifelte ihre Existenz. Vor allem stellte niemand mehr ernsthaft die Frage nach ihrer Existenzberechtigung. Die Rechtswissenschaft behandelte ihre eigenen Ideen und dogmatischen Konstruktionen wie Natur gegebene Phänome, die es nun genauer zu erforschen galt. Die Dinge waren nun einmal da und dann wird sich auch noch eine Begründung finden lassen: 1. Für die Konstruktion eines – wie auch immer benannten (rechtsgeschäftlichen, quasirechtsgeschäftlichen, gesetzlichen)  – vorvertraglichen Schuldverhältnisses. Wie gesehen war eine Gesamtanalogie aus der Vielzahl der gesetzlich geregelten Fälle jedenfalls für alle, die genauer hinsahen, schwer möglich. Ein allgemeines vereinigendes Prinzip war nicht leicht auszumachen, und so wurden dann auch eher neutrale Bezeichnungen für dieses Verhältnis verwendet: „Sonderverbindung“, „Sonderbeziehung“; „Nähebeziehung“, „faktische Vertragsbeziehungen“, die allerdings gar nichts weiter vermochten als eine scheinbare Begründung dafür zu liefern, warum diese Beziehungen nicht dem allgemeinen Deliktsrecht unterfallen sollten. 2. War mit einem Schuldverhältnis selbst auch noch nicht viel gewonnen, wenn es um die Feststellung konkreter Schutzpflichten ging. Pflichten aus Treu und Glauben zu gewinnen, hatte nach wie vor etwas Mystisches. Über beide Probleme sollte nun der Gesichtspunkt des Vertrauens hinweghelfen. Die Haftung aus Treu und Glauben legte es nahe: Die bona fides ist die Basis eben nicht nur der Vertragsverhältnisse, sondern auch des vom Vertrag gelösten Schutzpflichtverhältnisses. Und so verschaffte erstens der Gedanke eines Vertrauensverhältnisses die Lösung bei der Begründung eines Schuldverhältnisses jenseits der eindeutigen Regelung des § 305 BGB a. F. Nicht das Schuldverhältnis begründet ein Vertrauensverhältnis, sondern umgekehrt: Das Vertrauensverhältnis begründet das Schuldverhältnis. Und so wurde zweitens der Gesichtspunkt des Vertrauens auch zur Basis für die Begründung neuer und alter Schutzpflichten: Vertrauen zu enttäuschen ist eine Verletzung des Vertrauensverhältnisses und macht haftbar im Rahmen des Schuldverhältnisses. Die Vertrauenshaftung konnte so also beides erklären: Den (bisher unergründlichen) Grund der Son-

110 Dölle,

Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS 103 (1943), 67.

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derbeziehung (Vertrauen) und den (bisher unergründlichen) Grund der Haftung (enttäuschtes Vertrauen). Wie gesagt: Die Situation war 70 Jahre nach Jherings Entdeckung der culpa in contrahendo eine völlig andere. Sowohl das Schuldverhältnis als auch die Pflichten waren schon da und mussten nicht erst plausibel gemacht werden. Anderenfalls wäre vielleicht den meisten zusammen mit Jhering aufgefallen, dass keineswegs alle Rechtsverhältnisse Vertrauensverhältnisse sind111 und dass die Beteiligten durchaus und regelmäßig beide im guten Glauben – und zwar auch im guten Glauben an unterschiedliche Dinge  – handeln.112 Aber wie gesehen: Die Zivilrechtsdogmatik der Zeit gewinnt ihre Erkenntnisse nicht mehr aus der Anschauung der konkreten Rechtsverhältnisse und beteiligten Interessen, sondern aus Logik und Abstraktion. Die Begriffe und Denkansätze waren nun einmal da und brauchten nur noch zusammengefügt und weiter verallgemeinert zu werden. Phillip Heck hatte diese neue Form begriffsschwerer Methodologie, die aus vermeintlich rechtsethischer Notwendigkeit Normen abstrahiert, als „rechtsphilosophische Begriffsjurisprudenz“ bezeichnet. Das ist vielleicht ein passenderer Ausdruck für das, was fortan zuweilen auch als sog. „Wertungsjurisprudenz“ auf das engste mit der Methodenlehre von Karl Larenz verbunden ist.113

111 Zur unterschiedlichen Ausprägung des Vertrauens in den verschiedenen Rechtsverhältnissen unter dem Gesichtspunkt der culpa-Haftung bereits Jhering selbst in seiner Revisionsschrift: Schuldmoment im römischen Recht (1867), S. 52 ff.; eine tiefer gehende Analyse dann erstmals bei Rumpf, Wirtschaftsrechtliche Vertrauensgeschäfte, AcP 119 (1921), 1 ff.; deutlich auch Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947); Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen (1950), S. 10: „Dadurch, daß die Eigenschaft eines Vertrauensverhältnisses allen möglichen schuldrechtlichen Beziehungen zuerkannt wird, entsteht die Gefahr der Verallgemeinerung, wodurch der Vertrauensgedanke in seiner Wirkung abgeschwächt wird.“; S. 13: „Von einer solchen [Vertrauensbeziehung] kann insb. im vorvertraglichen Abschnitt – wenigstens im Regelfall – nicht gesprochen werden. Will man die vorkontraktliche Berührung unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensverhältnisses erfassen, so muß mindestens darüber Klarheit bestehen, daß es strukturell grundverschieden ist von jenen Vertrauensverhältnissen, wie sie sich im Dienstvertrags‑ oder Gesellschaftsrecht entwickeln (…).“; Christian v. Bar hat die Paradoxie später auch recht treffend begrifflich aufgespießt: „Vertrauenshaftung ohne Vertrauen“, ZGR 1983, 476 ff. 112  Selbst noch Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/311 f. betont, dass der Gesichtspunkt einer „Vertrauenserweckung“ der c. i. c. nicht „begriffswesentlich“ sei. „Anscheinserweckung und Vertrauenstäuschung“ gehörten vielmehr „zur adäquaten Verursachung des entstandenen Schadens, weitere Bedeutung kommt ihnen bei genauer Betrachtung für die juristische Bestimmung der Haftungsvoraussetzungen nicht zu.“ 113  Hierzu nur Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz (2001); Hüpers, Karl Larenz (2010), insb. S. 375 ff.; und S. 320 ff. zur Auseinandersetzung zwischen Heck und Larenz.

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1. Zarte Anfänge: Das Vertrauensverhältnis „Der Gedanke, daß das Gebot der Vertragstreue und Vertrauensrechtfertigung in der das gesamte Schuldrecht beherrschenden Formel „Treu und Glauben“ ausgeprägt ist, hat dazu Veranlassung gegeben, das Schuldverhältnis allgemein als ein Vertrauensverhältnis anzusehen. … Im Hinblick auf diese Auffassung ist die Vorstellung eines Vertrauensverhältnisses zu einer überaus weitverbreiteten Gedankenform des Vertragsrechts geworden.“ Hermann Eichler, 1950114

Es ist das Wesen eines vertraglichen Schuldverhältnisses, das Wesen des wechselseitigen Versprechens, dass die Parteien einander mehr oder weniger Vertrauen entgegenbringen. Ist das gegenseitige Misstrauen oder auch nur das Misstrauen einer Seite in die Verlässlichkeit der anderen zu groß, gibt es keinen Vertrag. Hier lag der Ursprung des Konsensualvertrages und der Ursprung von „Treu und Glauben“:115 „Quid enim tam congruum fidei humanae, quam ea quae inter eos placuerunt servare?“ („Was entspricht der menschlichen Treue mehr als zu halten, worüber man sich untereinander geeinigt hat?“). Und hier lag wie gesehen auch der Ursprung der ganzen Debatte um das Rechtsgeschäft und die Haftung für culpa in contrahendo, weil und soweit unter dem Willensdogma die ethische Begründung für die Geltung einer Willenserklärung, für das gegebene Wort auch zu haften, etwas aus dem Blick geraten war. Und hierin liegt bis heute die Bedeutung für die Wirksamkeit einer Willenserklärung, wenn sie dem anderen Teile zugegangen ist: „Man haftet im Worte, das der Gegner in Händen hält.“116 Dass also das Vertrauen für das Recht und die Beurteilung von Rechtsverhältnissen eine grundlegende Bedeutung besitzt, war ein selbstverständliches Erbe in der Rechtswissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts.117 Heinrich

114 Die

Rechtslehre vom Vertrauen (1950), S. 9. insb. Okko Behrends, Treu und Glauben (1984), S. 255 ff. 116  Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I (1899), § 66, S. 275 im Anschluss an Siegel, Das Versprechen als Verpflichtungsgrund (1873), S. 22 f.: „Dem Worte wird eine sinnliche Bedeutung und Macht beigelegt, so daß es wie ein gegebenes Objekt erscheint. Damit entsteht eine selbständige Verpflichtung zum Worthalten, eine Gebundenheit an das Versprechen, die von der weiteren Verpflichtung, das Versprochene zu erfüllen, zu unterscheiden ist und ihren eigenen Weg gehen kann.“ 117  Windscheid stellte in der Auseinandersetzung um die Willens‑ und Erklärungstheorie schon in der 6. Aufl. seiner Pandekten den allgemeinen Grundsatz auf, „daß jeder Vertragschließende einstehen muß für die nachteiligen Folgen des durch seine Erklärung in dem Gegner erweckten Vertrauens für den Erwerb eines Forderungsrechts aus dem Vertrag, insofern dieser Erwerb durch einen Grund ausgeschlossen wird, den der Gegner nicht kennt und nicht zu kennen verpflichtet ist“. (Pandekten II, § 307 Fn. 5); zur Beziehung zwischen dem Vertrauensgedanken und der Vertragstreue auch Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I (1899), § 100, S. 420 ff.: „Die Gestaltung unseres Verkehrslebens erheischt zahlreiche Geschäfte, bei denen Schuldbegründung und Leistungsvollzug auseinanderfallen. Sie beruhen sämmtlich auf 115 Hierzu

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Stolls abstrakte Loslösung des Schuldverhältnisses vom Rechtsgeschäft mit der Gleichsetzung von Vertrauensverhältnis = Schuldverhältnis war freilich eine neue Qualität.118 Der Vertrag war dogmatisch fortan nur mehr ein Sonderfall der „Sonderbeziehung“ in einem Heer möglicher „Vertrauensverhältnisse“. Und wir haben mittlerweile eine Ahnung davon, dass die neue Pflichtenbeziehung als „Sonderverbindung“ weniger aus der Anschauung realer rechtsgeschäftlicher Kommunikation induziert, als aus einem höheren Gedanken, dem der Gemeinschaft, deduziert wurde. Um nun auch die Entwicklung des Vertrauensgedankens als Haftungsgrundlage zu verstehen, ist es allerdings sinnvoll, sich noch einmal die Entwicklung der bonae fidei iudicia im römischen Recht vor Augen zu halten: Es ging darum, den dolus aus dem Verkehr zu verbannen. Das führte u. a. dazu, dass bisher unklagbare Versprechen klagbar wurden. Denn die bona fides bezog sich ganz eigentlich und originär auf den Gesichtspunkt des „Wort – Haltens“; denn es war das Vertrauen in das Versprechen der einen Seite, das einen dolus und eine Täuschung der anderen Seite möglich machte, wenn diese sich nicht mehr an ein einmal gegebenes Versprechen festhalten lassen wollte. Wir können nun für das moderne Recht eine parallele Entwicklung ausmachen. Nur geht es jetzt weniger um den vertrauensrechtlichen Schutz von Versprechen, um den Schutz dessen, was man als „Wort“ in Händen hält, es geht vielmehr um den Schutz von Erwartungen durch einen erweiterten Schutz des Vertrauens in allgemeine Erklärungen.

dem Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Versprechenden: daß er die dargeliehene Summe zurückzahlen, die versprochene Arbeit richtig leisten, für die übernommene Bürgschaft einstehen, den ausgemachten Kaufpreis pünktlich zahlen werde und dergl.“; Alberti, Mitteilungspflicht, AcP 118 (1920), 141/144 f.: „Das Unterlassen der Mitteilung über Leistungsverhinderung oder Leistungsgefährdung kann in jedem Rechtsverhältnis erheblich sein, in welchem einem irgendwie Verpflichteten ein Vertrauen entgegengebracht wird.“; den ausführlichen Nachweis des Vertrauens in einzelnen Rechtsgeschäften sucht dann insb. Rumpf, Vertrauensgeschäfte, AcP 119 (1921), 1 ff. 118  Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/288: „Durch das Schuldverhältnis ist unter den Parteien eine Sonderbeziehung geschaffen worden, die von unserm Recht als ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis angesehen wird.“

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a) RGZ 27, 118 – ein Initialjudiz: Gründerkrise, dolus praesumtus und bona fides „Wagener … ist ein Mann, dessen Taten ich nicht alle vertreten will, der aber höchstens das getan hat, was hunderte und aberhunderte in allen Ehren stehende Männer auch getan haben.“ Reichskanzler Otto v. Bismarck, 1873119 „Aber der Fall Wagener hatte Bismarcks preußische Ministerkollegen so schockiert, daß im Jahr darauf den preußischen Staatsbeamten die Beteiligung an der Gründung und Verwaltung von Aktiengesellschaften gesetzlich verboten wurde.“ Karl Erich Born, 2001120

Das geltende Recht kommt für die Regelfälle gut hin. Dann aber gibt es einen Grenzfall, in dem der Schalk des dolus mit Händen zu greifen, aber aufgrund seiner internen Beschaffenheit nur schwer zu behaupten, jedenfalls auch nicht leicht zu beweisen ist. Hier wird nun durch neue dogmatische Konstruktionen nach Abhilfe gesucht. Wenn von so einer Entscheidung ein neuer dogmatischer Gedanke ausgeht, kann man eine solche Entscheidung nicht einfach nur ein Präjudiz, sondern auch ein Initialjudiz nennen. So ein Initialjudiz für die Vertrauenshaftung war die Entscheidung des Reichsgerichts vom 31. Januar 1891, RGZ 27, 118 (Dortmunder Union-Fall): Der Kläger handelte mit Wertpapieren in erheblichem Ausmaß. Die beklagte Bank besorgte den Kauf und Verkauf. Am 8. September 1883 schrieb sie dem Kläger einen Brief, der über das „freundliche Gesicht“, welches die Börse zurzeit zeige, sowie dessen Ursache berichtete und sogleich zum Kauf von Dortmunder Union-Stamm-Prioritäten ermunterte: „Ein sehr lebhaftes Geschäft zu steigenden Kursen entwickelt sich in Dortmunder UnionStamm-Prioritäten. Wenn auch die verbreiteten guten Dividendengerüchte vorerst noch thatsächlicher Begründung entbehren, so bricht doch die Überzeugung durch, daß der Kurs im Verhältnis zur Lage der Verhältnisse zurückgeblieben ist, und dürfte eine weitere Steigerung bevorstehen.“

Der Kläger kaufte, und der Kurs brach ein. Es ging also einmal mehr um das heikle Feld der Wertpapierspekulation mit negativem Ausgang für den Käufer. Das Reichsgericht hatte hier in ständiger Rechtsprechung eine Haftung der Bank für fehlerhaften Rat und Empfehlung zum Kauf von Wertpapieren ausgesprochen. Denn der „Rat kann nicht etwa abgelöst von dem Kommissionsverhältnisse zwischen den Parteien als selbständige Rechtshandlung … sondern muß im Zusammenhange mit dem Kommissionsverhältnisse und nach dessen Regeln beurteilt werden“. Die Bank hatte also „bei der Erteilung des Rates mit 119  Otto v. Bismarck, Die gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe), 1924–1935, Bd. 8, S. 68. 120  Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Handbuch der preussischen Geschichte. Bd. III: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens (2001), S. 90.

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der Diligenz eines ordentlichen Kaufmannes zu handeln (…)“.121 Das war allgemeine Auffassung bereits im römischen Recht, wenn man die Kommission als besondere Form des Mandats interpretierte.122 Der Dortmunder Union-Fall lag nun aber deshalb besonders, weil der Kläger aufgrund der Empfehlung der Beklagten nicht nur bei ihr, sondern auch für 60.000 Mark bei einer anderen Bank geordert hatte und auch den diesbezüglichen Schaden ersetzt verlangte. Dieser Schaden stand nun aber ersichtlich nicht im „Kommissionsverhältnis“ zur Beklagten, und die diesbezügliche Klage hätte daher nach der bisherigen Rechtsprechung abgewiesen werden müssen, wenn ihr nicht bei der Kaufempfehlung ein dolus nachzuweisen war. Der Fall war nun aber gerade auch in diesem Punkt besonders gelagert: Der Beklagten waren die tatsächlich desolaten Verhältnisse der Dortmunder Union nämlich mit ziemlicher Sicherheit bereits im Zeitpunkt der Kaufempfehlung bekannt. Zwei ihrer Direktoren saßen im Aufsichtsrat der Union. Den Rest kann man sich sehr leicht zusammenreimen, weil es dem üblichen Gang manipulierter Börsengeschäfte von denjenigen, die wir heute neudeutsch Insider nennen, entspricht. „Es ist das Zeitalter des Kapitalismus …“123 und spätestens nach dem Gründerkrach und der Krise ab 1873, der Aufdeckung mehrerer Wirtschaftsskandale, unter anderem auch im preußischen Landtag namentlich durch Eduard Lasker (1829–1884), war die breite Öffentlichkeit für den dolus, der in der Finanz‑ und Unternehmenspraxis herrschte, sensibilisiert.124 Guy de Maupassant (1850–1893) hatte in seinem „Bel-Ami“ (1885) die Gebaren der Eingeweihten in die Finanzspekulation, das Zusammenspiel von Bankiers, Politik, Börse und Presse hinreichend deutlich beschrieben: Gerüchte und Behauptungen werden wirksam gestreut, und die vielen strebsamen Uneingeweihten zahlen den Profit, den die wenigen Eingeweihten machen.125 Nur wird man die Kenntnis und die 121  Urt. v. 15. Juni 1887  – I 120/87, RGZ 19, 97/100 (Westsizilianische Eisenbahnaktien) m. w. N. 122 Instruktiv hierzu und zur Abgrenzung bereits Jhering, Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), 225/344 ff.: „Für die Haftung des Beklagten ist es, wie später erhellen wird, von wesentlichem Einfluß, ob derselbe die Actien dem Kläger verkauft oder sie für ihn von Goldschmidt gekauft hat; der dolus des Verkäufers wird mit einem anderen Maßstabe gemessen, als der des Stellvertreters.“ 123  Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (1958), S. 410. 124  Laskers mehrstündige Reden vor dem Abgeordnetenhaus (Reden des Lasker gegen Wagener und über das Eisenbahnconcessionswesen in Preußen am 7. Februar und 15. Februar 1873), ein Großangriff auf das kapitalistische Gründertum der Bismarck-Zeit, kam innerhalb von 2 Wochen in 4 Auflagen heraus und erschütterte sowohl die Öffentlichkeit als auch die Ministerien: Der Handelsminister musste den Hut nehmen und Herrmann Wagener, ein enger Vertrauter und Mitarbeiter Bismarcks ersuchte um Pensionierung. Zum Problem: Rudolph Meyer, Politische Gründer und die Corruption in Deutschland (1877); Otto Glagau, Der Börsen‑ und Gründungsschwindel in Berlin (1876). Zu Lasker: Laufs, Eduard Lasker. Ein Leben für den Rechtsstaat (1993). 125  Hierzu auch Jhering, Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit (1867), 225/256: „Daß die Actien in den ersten Tagen nach ihrer Emission einen hohen Coursstand erreichten, beweist nur, daß

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Zusammenhänge nicht immer aufdecken und beweisen können. So war es auch in unserem Fall. Und hier wird der Zusammenhang mit und die Bedeutung der culpa lata als dolus praesumtus126 noch einmal sehr anschaulich. Der Kläger argumentierte eben genau so: Es enthalte ein „bedenkliches Verkennen“ der ungünstigen Verhältnisse und ein „grobes Versehen“, wenn die Beklagte, deren Direktion „in Börsensachen als maßgebende Sachverständige zu betrachten sei“, auf Grund eigener Überzeugung dem Kläger ein Steigen des Kurses in Aussicht gestellt habe. In der Tat: eine Direktion, die zum Kauf von Anteilen an ihrem Unternehmen auffordert und den heiklen Stand desselben nicht erkannt haben will, hat offenbar (wenigstens) mit culpa lata ihre Geschäfte geführt oder eben mit culpa lata zum Kauf der Aktien geraten. Ein klassischer Fall für den Disput um die Ausdehnung der actio doli auf culpa lata (später und heute also § 826 BGB). Das Reichsgericht konnte nun aber nicht leicht für culpa lata haften lassen. Der 3. Senat hatte sich gerade kurz zuvor der herrschenden Auffassung in der gemeinrechtlichen Literatur angeschlossen und die Gleichstellung der culpa lata mit dem dolus abgelehnt.127 Diese Entscheidung konnte nun nicht grundsätzlich revidiert werden. Die Beklagte sollte aber angesichts ihrer offensichtlichen Manipulation auch nicht einfach davonkommen, und so tritt eine neue Haftungskonstruktion in die Dogmengeschichte außervertraglicher Haftung: Das Vertrauensverhältnis als quasi-vertragliches Rechtsverhältnis. Ausgangspunkt der Argumentation ist dabei die zwischen dem Kläger und der Beklagten bestehende Geschäftsverbindung, diese erzeuge ein besonderes „… Vertrauensverhältnis, in welchem die Wahrung von Treue und Glauben in erhöhtem Maße und in weiterem Umfange, als im Verkehre zwischen einander fremd gegenüberstehenden Personen zur notwendigen Übung wird. Nicht nur der Abschluß und die Erfüllung der einzelnen Geschäfte, sondern die ganze Geschäftsverbindung wird von Treue und Glauben beherrscht, und dadurch kommt es, daß Handlungen, welche, abgesehen von dieser Verbindung der Handelnden, als rechtlich indifferente Thatsachen erscheinen, einen rechtlichen Inhalt gewinnen können.“128

Das Reichsgericht ist im Verlaufe der Argumentation ersichtlich bemüht, den Gedanken von einer Haftung kraft Vertrauensverhältnisses doch wieder auf ein dieselbe Ursache, welche die rasche Füllung der Subscribtionslisten bewirkte, die Unkenntniß des größern Publikums über den wahren Sachverhalt, noch einige Zeit anhielt. Vorteilhaft wäre das Geschäft nur dann für den Kläger gewesen, wenn Beklagter ihn in den wahren Sachverhalt eingeweiht und es ihm dadurch ermöglicht hätte, gleich ihm die rasch zu pflückenden Früchte eines auf Täuschung des Publikums berechneten Unternehmens zu theilen (…).“; vgl. auch Rumpf, Vertrauensgeschäfte, AcP 119 (1921), 1/100 ff. zu den „trüben Machenschaften“ bei der Wertpapierkommission. 126 Hierzu bereits oben § 2 II.3.a). 127  Urt. v. 11. Mai 1888 – III 81/88, RGZ 21, 162 (Hausschwamm-Fall). 128  Urt. v. 31. Januar 1891 – 254/90, RGZ 27, 118/121 (Dortmunder Union-Stamm-Prioritäten).

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Vertragsverhältnis zu bringen. Bei diesem Bemühen wird endlich im Ergebnis eine Geschäftsverbindung einem entgeltlichen Vertrag gleichgesetzt.129 Indem das Reichsgericht letztlich aufgrund einer Ratserteilung sowohl ein „Vertrauensverhältnis“ als auch ein „vertragsmäßiges Verhältnis“ (S. 124) annimmt, legt es dann freilich den Grundstein für zwei parallele dogmatische Entwicklungen mit identischem Haftungsziel: den Grundstein für eine Haftung kraft vorvertraglichen Vertrauensverhältnisses auf der einen Seite und den Grundstein für die Entwicklung der Doktrin von einem selbständigen Beratungs‑ bzw. Auskunftsvertrag, der durch die bloße Erteilung eines Rates oder einer Auskunft zustande kommen soll, auf der anderen Seite. b) Vom vertraglichen zum vorvertraglichen Vertrauensverhältnis „In der Rechtsprechung ist, obwohl im Bürgerlichen Gesetzbuch eine allgemeine Bestimmung darüber fehlt, anerkannt, daß schon bloße Vertragsverhandlungen – selbst dann, wenn sie nicht zum Vertragsschluß führen, – ein vertragsähnliches Vertrauensverhältnis unter den Beteiligten erzeugen, das diese zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verpflichtet.“ RGZ 162, 129/156130

Hier interessiert zunächst nur der erste Gedanke. Dieser war, ebenso wie der zur Entscheidung stehende Sachverhalt, für die Auskunftshaftung der Bankiers völlig singulär. Schon in der nächsten Grundsatzentscheidung spielten weder die Geschäftsverbindung noch das Vertrauensverhältnis eine Rolle. Die Argumentation konzentrierte sich nun wieder vollständig am Vertragsgedanken: „Die Vorteile, die für den Bankier aus den Geschäftsabschlüssen entstehen, bilden zugleich das Entgelt für die Dienste, die er den Kunden bei den Vorbereitungen

129  Ausführliche Beschreibung einer „Geschäftsverbindung“ als quasi-vertragliches Rechtsverhältnis: „Gerade in einer derartigen Geschäftsverbindung wie der vorliegenden gewinnt der erwähnte Rechtsgedanke besondere Wichtigkeit. Thatsächliche Vorgänge werden nicht nur, insoweit sie Abschluß und Erfüllung von Geschäften betreffen, zu rechtlich wirksamen, sondern es erstreckt sich dies auch auf gewisse zur Vorbereitung von Rechtsgeschäften vorgenommene Handlungen, insb. auf Empfehlungen und Auskunftserteilungen. Der Bereich, innerhalb dessen die Kontrahenten des einzelnen Geschäftes sich unter rechtlich realisierbarem Präjudize Vertrauen schenken dürfen, wird erweitert. Vorgänge, welche unter Fremden an sich indifferent sein würden, werden wie Rechtsgeschäfte bzw. als solche behandelt. Der Geschäftsfreund empfängt die Mitteilung des Geschäftsfreundes in der Überzeugung, daß diesen bei Erteilung derselben kein Verschulden trifft, bzw. daß er für ein begangenes Versehen haftbar ist, und der andere Geschäftsfreund weiß, daß der erstere seine Mitteilung in diesem Sinne auffasst, und daß er sie in Treue und Glauben so auffassen darf. Der Geschäftsfreund wird dadurch nicht verpflichtet, eine Auskunft zu geben; giebt er sie aber, so unterwirft er sich damit der bestehenden Auffassung. Gleiche Bedeutung und Wirkung, welche die §§ 220, 221 A. L. R. I. 13 der gewährten Bezahlung oder Belohnung zuschreiben, kommt der zwischen den betreffenden Personen bestehenden Geschäftsverbindung zu.“ 130 Urt. v. 14. März 1939 – III 128/37.

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zu den Geschäften leistet.“131 Bereits frühzeitig wurde also diese Haftung als eine besondere Berufshaftung „kraft besonderer Fachkunde“132 eingestuft. Hält man sich des Weiteren vor Augen, dass auch die im Dortmunder Unions-Fall zentrale Insider-Problematik bis heute ein eigenständiges Problem darstellt, dürfte deutlich werden, dass der reichsgerichtliche Exkurs zu Geschäftsverbindung und Vertrauensverhältnis dem Wesen des konkreten Verhältnisses selbst nicht gerecht wurde. Gleichwohl: Der Gedanke von einem haftungsbegründenden Vertrauensverhältnis ohne Vertrag war nun einmal höchstrichterlich ausgesprochen, und das hat, wie wir in ähnlichem Zusammenhang mit der Linoleumrollen-Entscheidung gesehen haben, seine eigene Dynamik entfaltet. Die Vorstellung von einem irgendwie mit einem Vertrag verknüpften, aber doch auch wiederum bereits schon ohne ihn bestehenden Vertrauensverhältnisses, in dem wie für vertragliche culpa gehaftet wird, war eine wichtige Basis für den ersten von Franz Leonhard vorbereiteten Schritt bei der Wiederbelebung der culpa in contrahendo. Das Reichsgericht begründete in dem grundlegenden Luisinlicht-Fall vom 26. April 1912 (JW 1912, 743) kaum zufällig die Annahme einer Aufklärungspflicht des Verkäufers unter anderem mit dem Hinweis auf das Bestehen eines Vertrages als Vertrauensverhältnis.133 Spätestens nachdem der V. Senat des Reichsgerichts dann drei Jahre später eine entsprechende vorvertragliche Haftung mit dem Hinweis auf das Fehlen eines entsprechenden Vertrauensverhältnisses abgelehnt hatte,134 war die Bedeutung des Vertrauens für die einschlägige Haftung offenkundig. Da nun einmal jeder Vertrag als bona fides negotium ein Vertrauensverhältnis begründet, konnte endlich der VII. Zivilsenat die Quintessenz der bisherigen Entwicklung ziehen und klarstellen: „Kommt es zum gültigen Vertragsabschluß, so muß jeder Teil darauf vertrauen können, daß seine Vertragsinteressen nicht gegen Treu und Glauben von dem anderen Teile missachtet worden sind oder demnächst missachtet werden. Sieht er sich in diesem Vertrauen durch schuldhaftes Verhalten des anderen Teiles getäuscht, so kann ihm ein Anspruch auf Ersatz des dadurch verursachten Schadens nicht versagt werden.“135 131 Urt. v. 24. September 1898, RGZ 42, 125/129: „Wenn das Recht den Satz ausgebildet hat, daß für Rat und Empfehlung an und für sich nicht gehaftet wird, so wird dabei unterstellt, daß zwischen den Parteien etwas anderes als Rat oder Empfehlung nicht vorgefallen ist. (…) Besteht zwischen den Parteien ein anderweitiges Rechtsverhältnis, und steht der Rat oder die Empfehlung mit diesem Rechtsverhältnisse in Beziehung, so kann weder jene Regel, noch diese Ausnahme weiter in Frage kommen. Es handelt sich dann nur um die Anwendung der Rechtssätze, die für jenes anderweitige Verhältnis gelten.“; in diesem Sinne dann auch die Literatur: Die Haftung ergebe sich ganz ungekünstelt „nur bei der Auffassung der Ratserteilung des Bankiers in Ausübung dieser seiner handelsgewerblichen Tätigkeit als eines die Haftung nach § 676 ohne weiteres begründenden Vertrages“. Rumpf, Vertrauensgeschäfte, AcP 119 (1921), 1/123 m. w. N. 132  Rumpf, Vertrauensgeschäfte, AcP 119 (1921), 1/123. 133  Die Kläger hätten die rechtliche Pflicht gehabt, den Beklagten von den Verwarnungen der Konkurrenz Kenntnis zu geben, umso mehr, als der Vertrag ein Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien begründet habe. 134  Urt. v. 6. Oktober 1915, JW 1916, 116 (Mieter-Fall). 135 Urt. v. 24. September 1918, RGZ 95, 58 (Wasserableitungsfall).

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Damit kündigt sich bereits der Wandel von einer Haftung für culpa zu einer Haftung für bona fides an. Der Schritt von einer Verschuldens‑ zu einer Vertrauenshaftung wird hier jedenfalls bereits sprachlich vollzogen. Neben das Verschulden (culpa, § 276 BGB) tritt der Gedanke der Vertrauensenttäuschung (bona fides, § 242 BGB). Nachdem dann im Gefolge der Weinsteinsäure-Entscheidung die Haftung gänzlich vom Vertrag gelöst wurde, bekam der Gedanke von einem Vertrauensverhältnis als pflichtenbegründende Sonderverbindung seine ganz eigenständige Bedeutung. Der VI. Zivilsenat hat den damit gewonnenen Standpunkt des Reichsgerichts in seiner Entscheidung vom 1. März 1928 (RGZ 120, 249 – Büdnerei-Fall) schließlich so formuliert: „Es ist, obwohl im Bürgerlichen Gesetzbuch eine ausdrückliche allgemeine Bestimmung hierüber fehlt (vgl. z. B.§§ 122, 179, 307, 309), in der Rechtsprechung, insbesondere auch der des Reichsgerichts, anerkannt, daß schon bloße Vertragsverhandlungen, selbst dann, wenn sie nicht zum Vertragsschluß führen, ein vertragsähnliches Vertrauensverhältnis unter den Beteiligten erzeugen, das sie zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verpflichtet.“136

2. Von der culpa in contrahendo zur fides in tangendo „Es ist nicht unnötig, hier einige Worte über die Bedeutung der Rechtsbegriffe überhaupt zu sagen. Ohne Zweifel hat die hinter uns liegende Zeit die Bedeutung abstrakt-allgemeiner Begriffe ungemein überschätzt. Sie war bestrebt, im Interesse der Übersichtlichkeit und ‚Berechenbarkeit‘ der Rechtsnormen und Entscheidungen ganz verschiedenartige Lebensverhältnisse und Rechtsgebilde unter möglichst weit gefaßte und daher möglichst inhaltsarme, formale Allgemeinbegriffe zu pressen (…).“ Karl Larenz, 1935137

Der Gedanke einer „Vertrauenshaftung“ auch ohne Vertrag bekam sein abschließendes theoretisches Fundament in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nachdem er sich mit dem permanenten Hinweis auf Treu und Glauben und der Vorstellung einer c. i. c. als „vertragsähnliches Vertrauensverhältnis“ in der Rechtsprechung des Reichsgerichts angekündigt, das „Vertrauen“ bei Felix Herholz (1929) und Heinrich Stoll (1932) sodann die zentrale Grundlage für das von ihnen konstruierte umfassende Schutzpflichtverhältnis erhalten hatte, war das „Vertrauen“ als endgültige Konstruktionsgrundlage einer umfassenden Haftung salonfähig geworden. Man sprach nun weniger von einer Haftung kraft „Treu und Glauben“ – dieser Hinweis war für die Ideologie der Zeit bereits zu römisch, 136 Urt. v. 1. März 1928, RGZ 120, 249/251 (Büdnerei-Fall); von hier an ständige Rspr. des Reichsgerichts, vgl. zuletzt noch Urt. v. 14. März 1939, RGZ 162, 129/156 (Reichspost-Fall). Das war aber keineswegs eine Standardformel. Manche Senate blieben schlicht bei der Kurzform einer vorvertraglichen Verschuldenshaftung, etwa Urt. v. 22. Juni 1936, RGZ 151, 357/358: „In Rechtsprechung und Rechtslehre ist anerkannt, daß Verschulden bei Vertragsverhandlungen die Grundlage für einen Schadensersatzanspruch bilden kann.“ 137 Rechtsperson und subjektives Recht (1935), S. 225/226.

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und er galt aus dogmatischer Sicht seit Melliger immer noch als „Verzicht auf jede Konstruktion“138 – nein, man sprach jetzt zunehmend von „Treue und Vertrauen“139 und einer Haftung aufgrund der Enttäuschung von berechtigtem Vertrauen. Das meinte zwar grundsätzlich dasselbe,140 klang aber doch anders, vor allem zeitgemäß und modern. Man kann es auch auf eine kurze Formel bringen: Die bona fides war welschen, Treue und Vertrauen waren deutschen Ursprungs. Die lateinische fides bekam einen technisch-individualistischen Beigeschmack, während die urgermanische treuwa mit der „Glutwärme“ germanischer Verbundenheit assoziiert wurde: „… dem römischen Begriff der fides haftet der eisige Hauch leidenschaftslos – kühler Überlegung an, welche die bösen Triebe

138  Melliger, Culpa in contrahendo (1898), S. 144; so geht etwa Dömpke, Grundlagen und Umfang der Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen (1933), auf diese Auffassung gar nicht ein, sondern bemerkt lediglich in einer Fußnote (S. 13, Fn. 44): „Das ausschließliche Zurückführen der Haftung auf Treu und Glauben muß als ein vollständiger Verzicht auf die jur. Konstruktion angesehen werden, so daß sich die nährere Erörterung dieser Lehren erübrigt.“; Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 24: „Die Begründung der Haftung lediglich aus Treu und Glauben ist völlig unzureichend und enthält eine unzulässige petitio principii. Denn die Anwendung dieses Grundsatzes setzt ein bereits bestehendes Schuldverhältnis voraus (…).“ 139 Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 43; als „Aufmacher“ sogleich bei Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), S. 15: „Vertrauen und Glauben … haben den völkischen Führerstaat geschaffen; das Vertrauen in die Sendung der deutschen Rasse und der Glaube an den Genius ihres Führers. Vertrauen und Glauben aber müssen auch das Volk mit seinem Recht verbinden.“; RGRK (9. Aufl.) Vorbem. § 241: „Das Schuldverhältnis … ist nicht als ein bloßes Gegenüber und Gegeneinander von Gläubiger und Schuldner zu betrachten, sondern als ein Verhältnis der Gemeinschaft, in dem beide als in Treue und Vertrauen verbundene Rechtsgenossen stehen (…).“; zu alledem auch Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 4: „Eins der beliebtesten Schlagworte der hinter uns liegenden Zeit war neben ‚Gemeinschaft‘ und ‚Ehre‘ der Begriff der ‚Treue‘ und der ‚Treupflicht‘. Man wies sehr gern hin auf die Bedeutung der Treue in der deutschen Rechtsgeschichte, beginnend mit der Treue im altdeutschen Gefolgschaftsverhältnis und in der Vasallität (…).“ 140 Deutlich wird das beim eigentlichen Vater der Vertrauenshaftung: Hubert Naendrup, Rechtsscheinsforschungen, Bd. 1: Begriff des Rechtsscheins und Aufgabe der Rechtsscheinsforschungen (1910), S. 2–7: „Zuerst erkannte ich, daß der Erwerb von Fahrnisrechten vom Nichtberechtigten ein Ausfluß des Rechtsscheinprinzips sei … von dem ganzen Schutze des guten Glaubens fielen dann die verhüllenden Schleier … Das Rechtsscheinsprinzip erwies sich als der Grund für … den Schutz des guten Glaubens. In dem hiermit angedeuteten Bereiche handelt es sich um einen Rechtserwerb, der sich vollzieht, weil ein schutzwürdiges, d. h. nicht grobfahrlässiges Vertrauen auf einen Schein … geschützt werden soll … M. a.W. das Vertrauen auf den Schein soll dem Vertrauenden nicht zum Schaden gereichen. Der Schaden soll vielmehr regelmäßig auf denjenigen abgewälzt werden, durch dessen Willen, Fahrlässigkeit oder Veranlassung der Schein entstanden oder bestehen geblieben ist.“ Ähnlich zuvor schon Wellspacher, Vertrauen (1906), S. 115: „Wer im Vertrauen auf einen äusseren Tatbestand rechtsgeschäftlich handelt, der zufolge Gesetzes oder Verkehrsauffassung die Erscheinungsform eines bestimmten Rechts, Rechtsverhältnisses oder eines andern rechtlich relevanten Momentes bildet, ist in seinem Vertrauen geschützt, wenn jener Tatbestand mit Zutun desjenigen zustandegekommen ist, dem der Vertrauensschutz zum Nachteil gereicht.“

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hemmt im Hinblick auf die anderenfalls drohende Minderung des öffentlichen Ansehens.“141 Die „Treue“ passt zum „Führerprinzip“ und zur geforderten „Gemeinschaft“, und beides ist hinreichend „volkstümlich“: Es gibt jede Menge Erzählungen, Dichtungen, Dramen, Singspiele, in denen bereits im 19., vor allem aber Anfang des 20. Jahrhunderts die besondere „deutsche Treue“ beschworen wird.142 Der neue, die identitätsstiftende „deutsche Treue“ verherrlichende nationale „Volks-“ und Zeitgeist143 trifft sich hier mit populären Begriffen der Soziologie („Führer“144 und „Volksgemeinschaft“145) und der sozial-politischen Strömung der Zeit: nationaler Sozialismus und Zentralismus gegen Liberalismus und Pluralismus der Weimarer Republik. Dieser, der zentrale sozialphilosophische Konflikt zwischen Kollektivismus und Liberalismus, wird bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der historischen Rechtsschule als Konflikt zwischen Germanisten und Romanisten ausgetragen.146 Freiheit und Individualismus gelten als Kennzeichen des römischen Rechtsdenkens und über dieses

 Walter Merk, Die Treue im älteren deutschen Recht, DR 4 (1934), S. 526; auch Claudius Frhr. von Schwerin, Freiheit und Gebundenheit im germanischen Staat (1933), S. 18 f.: „Es ist hier nicht der Ort, dem tiefen Sinn der germanischen Treue nachzuspüren. Wer ihr die perfidia fragend gegenüberstellt, von der uns die Antike berichtet, der mag des Wunderns sich entschlagen …; er wird nie verstehen, diese germanische Treue in ihrer Gefühlsbetontheit und Gefühlsverbundenheit, in dem, was sie hinaushebt über den Treubegriff einer formgläubigen Zeit.“; zu alledem Karl Kroeschell, Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte, Studi Medievali X 1 (1970), 465 ff.; ders., Führer, Gefolgschaft und Treue (1995), S. 55 ff. 142 Felix Dahn, Deutsche Treue (1875); Albert Freybe, Züge germanischer Sitte Bd. 1: Das Leben in der Treue (2. Aufl. 1889); zusammenfassend: Gustav Roethe, Deutsche Treue in Dichtung und Sage (1923); Albert Emil Brachvogel, Deutsche Treue und andere Meistererzählungen deutscher Geschichte (1933). 143  Hierzu in Hegel’scher Tradition den Geist der Zeit nunmehr als völkischen Geist beschwörend: Larenz, Volksgeist und Recht (1935). 144 Ein Begriff der Zeit, als Alternative zum Herrscher, insb. traditioneller Prägung (des gerade abgedankten Monarchen) zur Identifizierung charismatischer Herrschaft bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), S. 122 f., 140 ff.; Oppenheimer, System der Soziologie Bd. 1 (1922), S. 369; Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (2. Aufl. 1925). 145  Als begriffliche Alternative zum Begriff der „Nation“ (der stärker mit dem Staat assoziiert war) wurde der Begriff der „Volksgemeinschaft“ vor allem durch den Gegensatz von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ (Ferdinand Tönnies) in der Weimarer Republik sehr populär; er betonte die Distanz zur aktuellen Regierung und war darüber hinaus politisch noch nicht festgelegt, weil er sowohl konservative, kommunistische, sozialistische oder nationale Bestrebungen mit abdeckte. Für den Nationalsozialismus wurde er zentral; er assoziierte soziale Gemeinschaft, politische Einheit, Überwindung der Klassen und nationalen Wiederaufstieg nach dem verlorenen 1. Weltkrieg. 146 Hierzu ausf. schon Landau, Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht (1989), S. 11 ff.; die historische Genese des Konflikts zwischen Germanisten und Romanisten beschreibt eingehend Luig, Römische und germanische Rechtsanschauung, individualistische und soziale Ordnung (1995), S. 95 ff. 141

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vermittelt (bis heute) als Prägemarke des originären BGB. Die Germanisten entdeckten als kollektive Alternative den spezifisch germanischen Geist in „Treue“ und „nationalem Sozialismus“.147 Mit der nationalen „völkischen Bewegung“ werden „Gemeinschaft“ und „Treue“ zu den Eckpfeilern auch der „Rechtserneuerung“. Die Losung war entsprechend deutlich formuliert, originär bereits in Nr. 19 des Parteiprogramms der NSDAP von 1920 („Wir fordern Ersatz für das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemeinrecht.“) und dann in den Schriften der dem neuen nationalsozialistischen Geist verpflichteten politisierten Rechtswissenschaft der Zeit: „Der Kampf um die Erneuerung des deutschen Rechts wird vom Nationalsozialismus unter dem Leitsatze: Für deutsches gegen römisches Recht geführt.“148

a) Neue Sozialethik und neue Begriffe: Treue und Vertrauenshaftung „Es ist das Schuldverhältnis als ‚Organismus‘, das Pflichten begründet und Berechtigungen gewährt, ohne je ganz in der Summe einzelner Pflichten und Rechte zerlegt werden zu können. (…) Alle einzelnen Pflichten und Berechtigungen aber, die sich aus diesem Rechtsverhältnis ergeben, werden beherrscht von dem Schuldverhältnis als Ganzes bestimmenden Gedanken der wechselseitigen Treuverpflichtung der an ihm Beteiligten (…).“ Karl Larenz, 1935149

Das hatte durchaus Tradition: Otto v. Gierke (1841–1921) ist wegen seiner scharfen Polemik gegen das BGB („… eine abstrakte Schablone, romanistisch, individualistisch, verknöchert in todter Dogmatik.“150) bekannt und insoweit bis auf den heutigen Tag immer wieder mit Freude zitiert worden. Nur hat man später geflissentlich das nationale Pathos fortgelassen, mit dem die Kritik bei ihm immer verknüpft gewesen war: „Ein neues Privatrecht“, so sagt Gierke, könne, wenn es nicht deutsch (sondern römisch) sei, „auch nicht sozial sein“. Daher werde und könne der „Kampf für ein deutsches Recht … nicht ruhen, solange es ein deutsches Volk gibt. Hat das Corpus juris das deutsche Recht nicht zu ertöten vermocht, so wird auch ein bürgerliches Gesetzbuch es nicht tödtlich verwunden können.“151

147  Max Wundt, Die Treue als Kern deutscher Weltanschauung (1924, 2. Auf. 1925, 3. Aufl. 1937). 148 Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und bürgerliches Recht (1933), Vorwort; ausführlicher dann ders., Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 7 ff.; Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), S. 18 ff. Früh in diesem Sinne schon Wagemann, Schafft deutsches Recht! (1921); ders., Deutsche Rechtsvergangenheit als Wegweiser in eine deutsche Zukunft (1922); zu alledem auch Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 22 (2000), 325/338 ff. 149 Rechtsperson und subjektives Recht (1935), S. 225/252. 150  Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 16. 151  Gierke, Deutsches Privatrecht I (1895), Vorwort VI; ausf. zu Gierkes Kampf gegen das BGB: Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 22 (2000), 325/326 ff.

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Und so wurden mit der Autorität kämpferischer germanistischer Gelehrsamkeit die deutsche Rechtstradition und das deutsche Rechtsempfinden gegen Pandektismus, Begriffsjurisprudenz und den römischen Individualismus des BGB ins Feld geführt. Das Vertrauen hatte insoweit (oder doch wenigstens scheinbar) eine erfreulich reine deutsche Genealogie vorzuweisen: In Anlehnung an die grundlegenden Arbeiten zum Rechtsschein von Hubert Naendrup152 geht dessen Schüler Unterhinninghofen (1924) davon aus, dass das Vertrauen auf den Schein des Rechts immer zu schützen sei. Dementsprechend ergebe sich auch die Haftung für c. i. c. „aus dem das ganze private und öffentliche Recht durchziehenden Prinzip des Rechtsscheins“.153 Heinz Hildebrandt (1931) führt die Sache dann noch etwas allgemeiner aus, weil ja schwerlich schon jede Erklärung und schon gar nicht ein Schweigen der Gegenseite einen Rechtsscheintatbestand abgeben kann.154 Die von ihm begründete Lehre von der Erklärungshaftung ist daher nicht Rechtsschein-, sondern sie ist etwas allgemeiner Anscheins‑ oder eben „Vertrauenshaftung“:155 „Warum haftet der eine Teil? Weil er den Anschein der Ernstlichkeit (§ 122), der Kongruenz von Wille und Erklärung (§ 122), der Vertretungsmacht (§ 179 II / ​III), der Leistungsmöglichkeit (§§ 307/9), der Mangelfreiheit (§§ 463; 523/4 I, 1624 II; 600; 443, 476, 540, 647), des geringen Risikos (§§ 16 ff. VVG.) oder der Ungefährlichkeit (§ 694) durch sein (positives) Tun oder rechtlich missbilligtes (negatives) Schweigen erregt oder unterhalten, dadurch den Gegner beirrt und geschädigt oder doch gefährdet hat. M. a.W.: Die eine Partei haftet, weil sie der anderen Unrichtiges (ausdrücklich oder stillschweigend) angegeben oder Richtiges (rechtspflichtwidrig) verschwiegen (positive oder negative ‚Erklärungsverletzung‘) und dadurch ihr Vertrauen getäuscht hat.“156  Naendrup, Rechtsscheinsforschungen (1910), S. 1: „Der Rechtschein ist von großer Bedeutung für das alte deutsche Recht. Für die Wissenschaft unseres heutigen Rechts ist er vielleicht das wichtigste Problem. In der deutschen Rechtsgeschichte und in der modernen deutschen Rechtsdogmatik ist seit einer Reihe von Jahren schon mancher auf einzelne seiner Seiten gestoßen. Im vollen Umfange hat ihn noch keiner behandelt.“ 153 Unterhinninghofen, Die Haftung für culpa in contrahendo (1924), § 5. In diesem Sinne dann auch für die §§ 122, 307: Esser, Schuldrecht (1960), § 10, 1c, S. 32; ab der 5. Aufl. (1962) auch Larenz, Schuldrecht I, § 4 V. S. 40: „Der in diesem Zusammenhang [c. i. c.] häufig genannte § 122 beruht in Wahrheit auf einem anderen Rechtsgedanken … eine vom Verschulden unabhängige Vertrauens‑ oder Anscheinshaftung.“ 154  Bereits Naendrup, Rechtsscheinsforschungen (1910), S. 4 hatte betont, dass nur der Schein „auf einen vom Gesetz im allgemeinen als zuverlässig anerkannten Schein, sei es auf den Schein einer Rechtsübertragung, sei es auf den Schein eines eigenen Rechtes geschützt werden soll“. 155  Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 134: „Die Erklärungshaftung ist Wissenserklärungs‑ = Vertrauenshaftung“. 156  Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 131 f.; ebenso dann auch Kruse, Culpa in contrahendo (1936), S. 13: „Jede einzelne der besprochenen Vorschriften gewährt dem Verhandlungsgegner einen Anspruch gegen die andere Partei, sich so zu verhalten, daß er im Vertrauen auf die Erklärungen seine Entscheidung auf sie aufbauen kann. In jedem Fall ist es das Vertrauen des Verhandlungsgegners, das vom Gesetz geschützt wird. Man kann diese Erkenntnis dahin verallgemeinern: die Verhandlungspflichten dienen einem Zukünftigen, nämlich dem Schutz 152

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Das lange gesuchte und lange geleugnete allgemeine Prinzip hinter den gesetzlichen Regelungen der culpa in contrahendo ist endlich ausgemacht: Enttäuschtes Vertrauen! Der bereits von Windscheid wahrgenommene „Zug nach Gleichstellung des bona fide als Wirklichkeit angenommenen Scheins mit der Wirklichkeit“157 hat endlich bei Heinz Hildebrandt seine abstrakte Realisierung gefunden: Die „Entdeckung“ der „Erklärungshaftung“ als Vertrauenshaftung (1931). Der Rest ist eine allmähliche Rezeptionsgeschichte in Gestalt der bereits bei Jhering kennen gelernten Prinzipiendeduktion: „Du ziehst die Consequenzen nicht!“ Das einigende Haftungsband ist nicht mehr die culpa, sondern die deutschrechtliche Version der bona fides: das Vertrauen. Bereits 4 Jahre später (1935) bezeichnet Hildebrandt die von ihm nun ausdrücklich so genannte „Vertrauenshaftung bei Geschäftsverhandlungen“ als Gewohnheitsrecht.158 Heinrich Lehmann begründet die Haftung bei einem nicht zustande gekommenen oder unwirksamen Vertrag nunmehr in deutlicher Anlehnung an den Gesichtspunkt der Vertrauenshaftung (1933): Eine solche Verpflichtung lasse sich „nicht aus einem Verschulden vor oder bei Vertragsschluß herleiten, sondern nur daraus, daß der Antragende durch sein Angebot das berechtigte Vertrauen auf das Zustandekommen des Vertragsschlusses erwecke … und sich deshalb mit seinem eigenen Verhalten nicht in Widerspruch setzen dürfe, ohne dem Gegner den Vertrauensschaden zu ersetzen. Die positivrechtliche Anerkennung einer derartigen Erklärungshaftung könne in § 122 BGB. gefunden werden.“159 Auf der gleichen Basis sieht er eine Haftung auch bei bloßen Gefälligkeitsverträgen begründet: „Wer durch seine Erklärung in einem anderen das berechtigte Vertrauen auf die Erfüllung gewisser Fürsorgepflichten erwecke, dürfe dieses Vertrauen nicht enttäuschen.“160 Otto Junge (1936) greift die Gedanken auf und begründet die Haftung für Erklärungen ganz allgemein als eine „Forderung des Vertrauensschutzes“:161 „Der Verkehr kann sich nur auf Vertrauen, nicht auf Mißtrauen aufbauen“, lautet das Dogma seiner von Heinrich Lehmann betreuten Dissertation, in der er der

vor Folgen, die auf Grund des Vertrauens einer Partei gegenüber den Erklärungen der anderen Partei entstehen. (…) Die Rechtfertigung des Vertrauens des Gegners ist also die Basis aller Verhandlungspflichten; sie ist letzten Endes die Leistung, die alle erörterten Vorschriften dem Erklärenden auferlegen.“ 157 Windscheid, Pandekten I, § 75, S. 323, Fn. 1a. 158  Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), S. 88. 159  Lehmann, Allgemeiner Teil des BGB (4. Aufl. 1933), § 33 II 2b, S. 229. 160 Enneccerus / ​Lehmann, Schuldrecht (1932), § 27, 6, zugleich mit dem Anvertrauensargument: „Die Verneinung einer Verpflichtung zur übernommenen Leistung schließt aber m. E. nicht aus, dem Erklärenden auf Grund seiner Gestattung, Einladung oder Zusage eine gesetzliche, vertragsähnliche Fürsorgepflicht, namentlich eine Erhaltungspflicht, zugunsten dessen aufzuerlegen, der im Vertrauen auf die Einladung usw. seine Rechtsgüterwelt dem Erklärenden anvertraut hat (§§ 157, 242).“ 161 Junge, Die Erklärungshaftung (1936), S. 18 ff.

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culpa in contrahendo in konsequenter Weiterentwicklung der Hildebrandt’schen Erklärungshaftung kraft Vertrauens eine neue Fallgruppe endgültig erschließt: Abbruch von Vertragsverhandlungen: „Wird das begründete Vertrauen auf den Bestand einer Zusage später durch den Versprechenden enttäuscht, so fordern Treu und Glauben, daß der Erklärungsempfänger, der durch die Zusage zu berechtigten Vertrauenshandlungen veranlaßt wurde, … daß ihm von dem Erklärenden der Vertrauensschaden ersetzt werde.“162

Für eine „wirksame Vertrauenshaftung“ genüge dabei der „einfache Causalzusammenhang“ zwischen Vertrauen und Vertrauenshandlung. Zur dogmatischen Begründung wird dabei – das klingt aus heutiger Sicht ebenso bekannt – u. a. auch auf § 1298 BGB, wonach der Rücktritt vom Verlöbnis beim Mangel eines wichtigen Grundes zum Ersatz des Vertrauensschadens verpflichtet, abgestellt: „Dieser Schadensersatz stellt nicht, wie die Vertreter der ‚Vertragstheorie‘ meinen, eine Haftung aus der Verletzung des ‚Verlöbnisvertrages‘, sondern einen echten Fall der Erklärungshaftung dar (…).“163 Und so wird hier bei Junge bereits das Erfordernis von einem „triftigen Grund“ zu einem flexiblen Elementarsatz dieser vorvertraglichen Erklärungshaftung. Der „Abbruch von Verhandlungen“ steht nicht mehr einfach jedem der prospektiven Vertragspartner frei, wie dies nur zwei Jahre zuvor noch Erman lehrte. Freiheit zählt nicht mehr viel, wenn es um die Gemeinschaft geht: „Denn eine Partei muss sich darauf verlassen können, daß die andere bei ihrem Wort stehen bleibt und nicht ohne triftigen Grund von den Verhandlungen abspringt. Gerade die Vertragsverhandlungen müssen nach den heute steigenden Anforderungen an die Redlichkeit des Verkehrs unter vollstem beiderseitigem Vertrauen stattfinden können. Die Vertragspartner stehen sich nach heutiger Ansicht nicht mehr als Vertragsgegner, sondern als Vertragsgenossen gegenüber, die aufeinander Rücksicht zu nehmen haben. Wer daher von begonnenen Vertragsverhandlungen ohne einen objektiv vernünftigen und triftigen Grund zurücktritt, muß dem andern Teil nach dem Grundsatz der Erklärungshaftung den Vertrauensschaden ersetzen.“164

162 Junge, aaO.; angedeutet bereits bei Mühlich, Begrenzung und Rechtsnatur (1933), S. 25 f.; Tammena, Die Haftung aus nicht zum Abschluß gekommenen Vertragsverhandlungen (1933), a. A. aber noch explizit Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 136 (1934), 289 f.: „Während man dem Verhandeln einen ganz bestimmten Inhalt geben muß, ist die Art des Abbrechens, wenn sie nur in der nach Lage des Falles zu erfordernden Deutlichkeit erfolgt, gleichgültig. Insb. kann der Verhandlungsabbruch auch unter unwahren Angaben erfolgen: denn nicht Unwahrheit ist Pflichtverletzung, sondern nur unwahres Verhandeln (…)“. Auch das Reichsgericht hatte in seiner Entscheidung vom 24. Februar 1931, RGZ 132, 26 eine Haftung für die Abstandnahme vom Vertragsschluss noch unter dem Gesichtspunkt fehlenden Verschuldens abgelehnt. 163  Junge, Die Erklärungshaftung (1936), 20 f.; ebenso später: Canaris, Das Verlöbnis als „gesetzliches Rechtsverhältnis“, AcP 165 (1965), 1 ff. 164 Junge, Die Erklärungshaftung (1936), S. 32 f.

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b) Ideologie und Consequenz: Gemeinschaft, Treue und gegenseitige Rücksichtnahme „Es ist die Tragik der Gesetzgeber des BGB gewesen, daß sie eine absterbende wirtschaftliche und soziale Epoche, die liberal-individualistische, in Regeln gefaßt haben in einem Zeitpunkt, in dem für das aufmerksame Ohr ihre Totenglocken schon zu läuten begonnen hatten (…). Auch jetzt stehen wir an den Toren eines neuen, völkisch-sozialen Zeitalters. So muß der Blick des VGB in die Zukunft gerichtet sein, es muß als Kodifikation das Ganze des volksgenössischen Lebens mit den neuen Pflicht‑ und Gemeinschaftsgedanken durchtränken (…).“ Heinrich Lehmann, 1942165

Den allgemeinen Zusammenhang von politischem Programm, Rechtserneuerung, Gemeinschaftsideologie, Treue und Vertrauen, einer allgemeinen Haftung für Schutzpflichtverletzung und eine hierauf gerichtete notwendige Reform des bürgerlichen Schuldrechts ist unter Federführung und einmal mehr von Heinrich Stoll in einer „Denkschrift“, die 1935 dem „Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz und Erneuerung der Rechtsordnung“ und Präsidenten der zu diesem Zweck bereits 1933 gegründeten „Akademie für Deutsches Recht“, Hans Frank (1900–1946), übergeben wurde, sehr deutlich formuliert: „Die nationalsozialistische Rechtsanschauung muß verlangen, daß der Gemeinschaftsgedanke beherrschend wird; sie wird daher das Schuldverhältnis vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gemeinschaftsaufgabe betrachten (…). Es genügt jedoch nicht, sich die Gemeinschaftsbedeutung des Schuldverhältnisses zu vergegenwärtigen, wenn das auch den Ausgangspunkt bilden muß. Es müssen aus dem Gemeinschaftsgedanken die rechtspolitischen Folgerungen für die Regelung des Schuldverhältnisses gezogen werden, und es ergeben sich aus ihm die Anforderungen an das Verhalten der einzelnen Volksgenossen.“166

Der Text, der explizit als Reformvorschlag für das „durch Lehrmeinungen und dogmatische Formulierungen so wirr gewordene“167 Recht der Leistungsstörungen im BGB gedacht war, enthielt im Anhang einen Gesetzesentwurf, der später in die Materialien zur Schaffung eines, das BGB insgesamt abzulösenden, Volksgesetzbuches eingegangen ist.168 Dieser „Gesetzentwurf“ sah insoweit in 165  Vom Werden des Volksgesetzbuchs, DR 1942, 1492; auch in: Schubert (Hrsg.), Volksgesetzbuch (1988), S. 649 f. 166 Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 7. 167  Vorwort von Hedemann, in: Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. III; vgl. auch die Motive in der Einleitung: „Die Aufgabe“, S. 1–5. 168 Aufgenommen bei Schubert (Hrsg.), Volksgesetzbuch (1988), S. 270 ff.; zu diesem Projekt vgl. die Ausführungen des Vorsitzenden der von Hans Frank eingesetzten Kommission: Hedemann, Das Volksgesetzbuch der Deutschen (1941); ders., Das Volksgesetzbuch als Fundament großdeutschen Rechtslebens (1942), und Lehmann, Vom Werden des Volksgesetzbuchs, DR 1942, 1492 ff.; daneben Beschreibung und Bewertung bei: Hattenhauer, Das NS-Volksgesetzbuch (1983), S. 255 ff.; Brüggemeier, Oberstes Gesetz ist das Wohl des deutschen Volkes, JZ 1990, 24 ff.; Stolleis, Volksgesetzbuch (1998), Sp. 990–992.

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§ 2 eine Neufassung des § 242 BGB dergestalt vor, dass der neue Text den Erkenntnisstand zur zentralen Bedeutung der umfassend gewachsenen c. i. c. als Schutzpflichtverhältnis auch und gerade im Rahmen der „Rechtserneuerung“ sehr sinnhaft und komprimiert wiedergibt: „§ 2 (BGB 242) Vertrauensverhältnis und Schutzpflicht. (1) Schuldner und Gläubiger stehen vom Beginn der Vertragsverhandlungen bis zur Beendigung des Schuldverhältnisses in einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis (Treupflicht). (2) (…) (3) Schuldner und Gläubiger müssen in wechselseitiger Rücksichtnahme dafür sorgen, daß keiner den andern durch sein Wirken schädigt.“169

Treue, Vertrauen und gegenseitige Rücksichtnahme sind die aus dem Gemeinschaftsgedanken folgenden Verhaltensanforderungen an die Rechts‑ und Volksgenossen, welche die legitime Grundlage für ein neben und unabhängig von Vertrag und Leistungspflichten bestehendes umfassendes Schutzpflichtverhältnis bilden: „… die Gemeinschaft, die Gläubiger und Schuldner eines Vertrages untereinander bilden, wird mit dem Treuegedanken erfaßt. Doch darf der Treuegedanke nicht etwa als Ergänzung oder gar im Gegensatz zum Gemeinschaftsgedanken gedacht werden, vielmehr ist er nur eine besondere Anwendung …; denn auch die Treupflicht folgt aus dem Gemeinschaftsgedanken. Der Vorrang des Gemeinschaftsgedankens in der heutigen Rechtsidee verlangt, daß aus dem Gegeneinander der Parteien … ein Neben‑ und Miteinander wird.“170 „Der einzelne muß bei der Verfolgung seiner eigenen Ziele in dem Gegner den Rechtsgenossen sehen; die Parteien begründen in dem Schuldverhältnis ein Vertrauensverhältnis, das sie gegenseitig zu gebührender Rücksichtnahme verpflichtet.“171 „Die Treupflicht der Parteien untereinander rechtfertigt die in der heutigen Praxis anerkannten Rechtsgebilde der Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen und der sog. Positiven Vertragsverletzungen. Er zeigt uns die große rechtspolitische Bedeutung des Begriffs des Schuldverhältnisses als eines Organismus oder Rechtsgrundverhältnisses und führt in der Systematik zu der grundlegenden Unterscheidung zwischen den Schutzpflichten, die beiden Parteien obliegen, und den Leistungspflichten des Schuldners.“172

Wie stark tatsächlich der seinerzeit herrschende „Geist“ der Zeit eine verschärfte Haftung individualistischer Nachlässigkeit gefordert hat, bedarf hier keiner neuerlichen Erörterung – sein Einfluss ist unzweifelhaft.173 Der Gedanke „Ge169 Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 129 f.; Schubert (Hrsg.), Volksgesetzbuch (1988), S. 271. 170  Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 10 (Hervorhebung im Original). 171 Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 10. 172  Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 10. 173  Vgl. neben den bereits oben (§ 6 I.3.b und c) Genannten nur etwa noch: Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und bürgerliches Recht (1933), S. 3: „Der Umsturz dieses Jahres

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meinnutz vor Eigennutz“ und die verschärfte Postulation von Rücksichtnahmepflichten sind  – ganz unabhängig von einer mit ihr verbundenen völkischen Ideologie – immer Ausdruck einer weniger auf Freiheit denn auf Gemeinschaft orientierten Rechts‑ und Sozialethik.174 In diesem Zusammenhang liegt die Ursache dafür, dass uns Vieles aus der Diskussion jener Zeit auch heute noch durchaus bekannt vorkommt. Hier, in der Zeit von 1933 an, etabliert sich der Zeitgeist für das Rechtsdenken im und über das bürgerliche Recht bis zur „Schuldrechtsmodernisierung“ 2002 und darüber hinaus: Die Kritik gilt dem Liberalismus und Materialismus im römischen Recht, der Begriffsjurisprudenz der Pandektistik und dem Positivismus des BGB, dem der notwendige „Tropfen socialistischen Oeles“ (v. Gierke) fehle und das die Rechtssicherheit des individuellen Rechts vor die Gerechtigkeit der Gemeinschaft gestellt habe.175 Die ist echte Revolution; er änderte nicht nur die Staatsführung, sondern setzte auch an die Stelle der liberalistischen eine neue Staatsgesinnung. Diese fußt auf dem Pflicht‑ und Gemeinschaftsgedanken … ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ ist der Kampfruf der neuen Staatsgesinnung.“; ders., Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 34: „Der Nationalsozialismus hat an die Stelle der liberalistischen Lebensbetrachtung eine neue Lebenswertung gesetzt, hat dem Pflicht‑ und Gemeinschaftsgedanken gegen den übersteigerten Individualismus und Materialismus zum Siege verholfen. Der Einzelne ist nicht schon um seiner selbst willen von Wert, er ist dienendes Glied der Gemeinschaft und erhält als solches seinen Wert und seine Stellung in der Gesamtheit. An die Stelle des Kampfes tritt ein sinnvolles Zusammenarbeiten der einzelnen Glieder der Volksgemeinschaft … das Ganze steht über dem Einzelnen: ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘; ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘.“; Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), insb. S. 31 ff.: „Also kurz: immer gilt  – auch im Recht  – Gemeinnutz vor Eigennutz (…).“; S. 47: „Alle Rechtserkenntnisquellen stehen unter dem Grundsatz des unbedingten Vorrangs der politischen Führung. D. h.: es gibt im deutschen Staat der Gegenwart kein Recht, das nicht mindestens vorläufig mit den Richtigkeitsurteilen der politischen Führung vereinbar ist.“; Stoll, Gemeinschaftsgedanke und Schuldvertrag, DJZ 41 (1936), 414 ff.; Manigk, Neubau des Privatrechts (1938); ders., Das rechtswirksame Verhalten (1939); Fischer, Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938), S. 75 ff.: „Wir haben heute die Einsicht wiedergewonnen, daß der Mensch nicht nur ein Individuum, sondern vor allem und zunächst Glied der Gemeinschaft des Volkes, der Familie und seines Standes ist, und daß er durch diese Gemeinschaften mit den anderen Rechtsgenossen in vorgegebenen Bindungen steht. Und nicht nur kraft seines Willens, sondern schon durch seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, entstehen ihm Rechte, aber auch Pflichten; der Gemeinschaft aber auch ihren Mitgliedern gegenüber (…).“ (S. 78). 174 Auf den Zusammenhang von culpa in contrahendo und „grundlegender Sozialphilosophie“ hatte bereits Brock, Lehre vom negativen Interesse (1902), S. 1/201 kurz aufmerksam gemacht; er wurde dann später angedeutet von Thiele, Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649/652: „rechtsethisches Prinzip“, wonach „die Selbstverantwortung des einzelnen durch die Verantwortung des anderen für den Partner einer Sonderverbindung ergänzt“ wird, S. 657: es gehe um eine „verfeinerte Verkehrsmoral“; dieser Gedanke ist dann insb. aufgenommen und ausgebaut von: Frotz, Verkehrsschutz im Vertretungsrecht (1972); Hartwieg, JuS 1973, 733/737; zum Problem beim ‚Kampf um das BGB‘ dann insb. Ernst Wolf, Kein Abschied vom BGB, ZRP 1982, 1 ff.; ders., Das BGB, eine unverzichtbare Grundlage des Rechtsstaats, ZRP 1983, 241 ff. 175  Vgl. nur Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und Bürgerliches Recht (1933), Vorwort: „Der Kampf um die Erneuerung des deutschen Rechts wird vom Nationalsozialismus unter dem Leitsatze: Für deutsches gegen römisches Recht geführt.“; ders., Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 7: „Nüchterne Klarheit und Folgerichtigkeit, Härte und Kälte, Diesseitigkeit und Eigennutz, Individualismus und Materialismus haben Rom zur Weltherr-

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begrifflichen „Abstraktionen“ des BGB „ertöten noch den letzten Rest von Blut und Fleisch“.176 Die methodologische Kritik der Freirechtsschule verbindet sich mit einer sozialphilosophischen Kritik an der tragenden liberalen Grundkonzeption des BGB. Dieser Zusammenhang von blutleerer Begriffsjurisprudenz und blutsaugendem Liberalismus wird in der programmatischen Heidelberger-Rede zum „Abschied vom BGB“ bei Franz Schlegelberger eindringlich in einer PiranhaMetapher vorgestellt: „In den Tropengewässern gibt es kleine, mehr als die großen Ungeheuer gefürchtete Raubfische, die Piranhas, die jedes in ihren Machtbereich kommende Lebewesen, Mensch, Ochse oder Pferd, mit unheimlicher Geschwindigkeit in wenigen Minuten buchstäblich skelettieren. Wenn man sich in der Begriffswelt des BGB. umsieht, kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, daß hier Piranhas am blutvollen Leben ganze Arbeit geleistet haben.“177

Das „Leben“ muss wieder Einzug halten in das Rechtsdenken. Und das neue „Leben“ fließt in den Adern neuer lebendiger und gefühlsbetonter, aber darum doch nicht weniger abstrakter Begriffe: „Gemeinschaft“, „Treue“, „Vertrauen“. Es ist gleichsam eine neuerliche Ironie in der Dogmengeschichte der c. i. c., dass sich ausgerechnet die methodologische Kritik an begrifflicher Abstraktion mit einem Lobpreis dieser, an begrifflicher Abstraktheit kaum mehr zu überbietenden Konstruktion verbindet. Einmal mehr muss das Gespenst von einer lebensfremden Begriffsjurisprudenz herhalten, um ein neues begriffliches Gespinst als wissenschaftliche Errungenschaft und „Entdeckung“ zu etablieren.

schaft geführt, spiegeln sich im römischen Recht. Am klarsten zeigt sich das im römischen Schuldrecht (…).“; Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), S. 16 ff.; unter ausdrücklichem Bezug auf Gierke: Schlegelberger, Abschied vom BGB (1937), S. 10 ff.: „Ebenso wie die Überwindung des Individualismus durch den Gemeinschaftsgedanken verlangt auch die Umwertung der Lebensgüter eine grundsätzliche Neuordnung des Rechts. (…) Das BGB ist ein Gesetzbuch der Konstruktionen und der Abstraktionen. Es versucht, ‚mit den Mitteln einer künstlichen Technik und folgerichtigen Systematik den Reichtum des Lebens in eine Anzahl erschöpfender Formeln zu bannen‘ und verfällt damit dem Doktrinarismus und der Schablone. Das BGB arbeitet viel zu sehr mit lebensfremden Begriffen. (…) Begriffe dürfen aber nur aus dem Leben selbst gewonnen werden. Andernfalls entsteht die gar nicht zu überschätzende Gefahr, daß Lebensvorgänge in Begriffe gepreßt werden, in die sie nach gesundem Volksempfinden einfach nicht hineinpassen und daß an die Stelle einer dem Volk verständlichen Rechtspflege jene berüchtigte Begriffsjurisprudenz tritt (…).“; zu alledem auch Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 22 (2000), 325/339 ff. 176 Schlegelberger, Abschied vom BGB (1937), S. 12; hierzu Dölle, Die Neugestaltung des Deutschen Bürgerlichen Rechts (1937). 177  Schlegelberger, Abschied vom BGB (1937), S. 12; deutlich dann S. 15: „Die Überschätzung der Technik und der Kultus der Begriffe hat die Verfasser des BGB. zu einer Mißachtung des Lebens geführt, die denen, die für das Rechtsleben des deutschen Volkes der Gegenwart verantwortlich sind, keine Wahl läßt. Das BGB. ist ein Werk der Vergangenheit, das beschleunigter Ablösung bedarf.“

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An die Stelle subjektiver Rechte in „wohlgeordneter Freiheit“ rückt im Schuldrecht namentlich der Gedanke von Pflichten in einer sonderverbindlichen Gemeinschaft: „Die Beteiligten stehen einander nicht fremd als Vertragsgegner, sondern verbunden als Vertragsgenossen gegenüber, die im gemeinsamen Zusammenwirken das gemeinschaftlich gesetzte Ziel verwirklichen. Die Einheit des Schuldverhältnisses steht darum im Vordergrunde, das ‚Schuldverhältnis als Organismus‘ ist mehr als die Summe von Einzelansprüchen; aus ihm fließen vielmehr die einzelnen Ansprüche. Diese beschränken sich nicht auf die vom Gesetz aufgezählten; sie ergeben sich aus der Lage des einzelnen Falles heraus, bestimmen sich allein nach Treu und Glauben. Der Gerechtigkeitsgedanke muß auch hier über den Rechtssicherheitsgedanken siegen. … Unter dieser Betrachtungsweise muß aber auch die legalisierte Rücksichtslosigkeit der §§ 320 ff. einer pflichtbewußten Zusammenarbeit weichen. Gläubiger und Schuldner sind so nicht mehr Herr und Knecht, sind gleichwertige Genossen.“178

Wer hätte heute wohl mit folgender Forderung ernsthafte Probleme: „ (…) daß jeder, der mit einem anderen in Verhandlungen eintritt, oder auch der ihn einlädt, sich mit ihm geschäftlich einzulassen, nicht seinen Eigennutz rücksichtslos durchsetzen, nicht nur seinen Vorteil suchen darf. Ihn trifft vielmehr eine erhöhte Verantwortung. Von ihm wird eine billige Rücksichtnahme auf den Vertragspartner verlangt. Er muß ihm rechtzeitig alle Umstände mitteilen, wie er auch unrichtige Angaben unterlassen muß.“179 Diese Forderung ist entsprechend dem Stoll’schen Entwurf zur Reform des Leistungsstörungsrechts – wenn ich recht sehe – heute, ein Menschenalter später, nach der „Schuldrechtsmodernisierung“ (2002) endlich geltendes „bürgerliches“ (sic!) Recht (§§ 241 S. 2, 311 II, III BGB). Gleichwohl: Sie ist aus dem neuen Geist (national‑)sozialistischer Besinnung heraus

178 Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 70; vgl. etwa auch Mühlich, Begrenzung und Rechtsnatur (1933), S. 14, mit dem aus heutiger Sicht durchaus bekannten Hinweis auf den Wandel in der Rechtsanschauung gegenüber einem liberalen BGB: „Unser geschriebenes Recht stellt das Wirken der Einzelpersönlichkeit in den Vordergrund. Um ihrem Wirken einen möglichst großen Spielraum zu gewähren, hält es, so gut es geht, mit Vorschriften zurück, die diese Entfaltung hemmen. Die neuere Zeit hingegen richtet ihr Hauptinteresse auf die Gemeinschaft. Sie nach allen Richtungen hin zu schützen, erscheint ihr oberstes Gebot. (…) Die unumschränkte Willensbetätigung des Einzelnen ist schließlich dem pflichtmäßigen Dienste am großen Ganzen gewichen.“; das entspricht der Auffassung der Zeit: vgl. Stoll, Vertrag und Unrecht (1936), S. 15: „Durch die Begründung eines Schuldverhältnisses werden die Parteien zu gegenseitiger Treue verpflichtet. Aus ihrem Gegeneinander nach alter Auffassung muß heute ein Neben‑ und Miteinander werden. Jeder muß bei Verfolgung seiner eigenen Ziele in dem Gegner den Volksgenossen sehen. Das Schuldverhältnis wird zum Vertrauensverhältnis.“; RGRK, 9. Aufl.Vorbem. § 241: „Das Schuldverhältnis … ist nicht als ein bloßes Gegenüber und Gegeneinander von Gläubiger und Schuldner zu betrachten, sondern als ein Verhältnis der Gemeinschaft, in dem beide als in Treue und Vertrauen verbundene Rechtsgenossen stehen zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles im Sinne und zum Nutzen eines höheren Ganzen, … Gläubiger und Schuldner sollen aufeinander Rücksicht nehmen, die sie sich als Glieder der Volksgemeinschaft schuldig sind.“ 179 Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 43.

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formuliert und entspringt der nunmehr endlich entdeckten „wirklichen Rechtsgrundlage“ der culpa in contrahendo: „Die Haftung ergibt sich nur aus den Grundsätzen des im Volke lebendigen und herrschenden unmittelbaren Rechts ‚Gemeinnutz vor Eigennutz‘ und den Grundbedingungen unseres völkischen Lebens ‚Treue und Vertrauen‘. Aus diesen Grundsätzen, die geltendes Recht darstellen, entsteht ein ‚Pflichten‑ und Gemeinschaftsverhältnis kraft Rechtens‘, aus dem der Anspruch wegen des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen fließt.“180

So leicht kann Rechtsfindung sein, wenn nur das oberste Prinzip klar vorgegeben ist: Der Rest ist Prinzipiendeduktion und Rechtsgefühl in jedem Einzelfall. Ist es insoweit wirklich ein Zufall, wenn Heinz Hildebrandt, der gerade erst die culpa in contrahendo als allgemeine Erklärungs‑ und Vertrauenshaftung vorgestellt hatte, zugleich über die „Rechtsfindung im neuen deutschen Staate“ sinniert und insoweit „das in der Gemeinschaft herrschende rassisch bedingte Richtigkeitsempfinden“ als „Rechtsurquelle“ bezeichnet?181 Auf die Rechtsfindung im Rahmen der von ihm abstrahierten allgemeinen Vertrauenshaftung gewendet heißt das dann: „Ob und welche Haftung beim Verschulden während der Vertragsverhandlungen eintritt, bestimmt sich in erster Linie nach dem ‚Werturteil der artgleichen politischen Führung, in der sich die rassisch bedingten Grundwertungen des Volkes kristallisieren‘.“182

Die maßgebliche Grundwertung der Zeit stand in Punkt 24 des Programms der NSDAP: „Gemeinnutz vor Eigennutz“. Dieser Grundsatz stellte nach der neuen Rechtsquellenlehre „geltendes Recht“ dar.183

180  Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 5, 40 ff. Dieses „Pflichten‑ und Gemeinschaftsverhältnis“ besagt, „daß der einzelne Volksgenosse nicht schon um seiner selbst willen von Wert, sondern daß er ein dienendes Glied der Volksgemeinschaft ist und erst als solches seinen Wert und seine Stellung in der Gesamtheit erhält. An die Stelle des Kampfes aller gegen alle im Volke tritt ein sinnvolles Zusammenarbeiten der einzelnen Glieder der Volksgemeinschaft.“; noch weiter formuliert Fischer, Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938), S. 70 f.: „Die heute gestellte Aufgabe einer Rechtserneuerung bedeutet in weitem Umfang die Aufgabe einer Systemerneuerung (…) Und daher ist es gerade bei diesen Neubildungen des Rechts besonders gefährlich, den neuen Wein in alte Schläuche zu fassen. … Wir haben uns für die heutige Zeit der Rechtsrevolution für die allgemeine Ueberzeugung als dritte Rechtsquelle entschieden.“ Hierzu noch unten II.3. 181  Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), S. 82 ff. 182 Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 41, unter Bezugnahme auf Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), S. 79 f.; das entspricht der offiziellen Doktrin, die Hans Frank (Nationalsozialismus im Recht, ZAkDR 1934, 8) dem Rechtsbegriff insgesamt zugewiesen hatte: „Im nationalsozialistischen Staate kann das Recht immer nur ein Mittel sein zur Erhaltung, Sicherstellung und Förderung der rassisch-völkischen Gemeinschaft. Die Einzelpersönlichkeit kann vom Recht nur noch unter dem Gesichtspunkt seines Wertes für die völkische Gemeinschaft gewertet werden.“ 183  Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 41: „Er ist Staatsgrundgesetz und als solches ein unmittelbar zur Anwendung zu bringender Rechtssatz (…).“; zum Problem allgemein auch Rüthers, Die unendliche Auslegung (2005), S. 132 ff.

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Nun könnte es wohl damit sein Bewenden haben. Dem liberalen BGB wurde mittels culpa in contrahendo und in ihrer Ausdehnung zu Schutzpflichtverhältnis und Vertrauenshaftung der erforderliche Tropfen gemeinnutzorientierten „socialistischen“ Öles beigefügt. Es greift aber wohl zu kurz, die Entwicklung der Vertrauenshaftung allein auf den nationalsozialistischen Willen zur „Rechtserneuerung“ zurückzuführen und zu behaupten, auf dem Gemeinschaftsprinzip allein beruhe bereits die ganze ‚Entdeckung‘ und Entfaltung der Vertrauenshaftung. Neben der sozialphilosophischen ist zuletzt noch die rechtsdogmatische Basis der Entwicklung zu betrachten. Denn neben dem in der Gemeinschaftsrhetorik zum Ausdruck kommenden seinerzeit herrschenden sozialethischen, ist auch das dogmatische Prinzip der Haftungskonstruktion bis heute nicht nur (scheinbar) politisch unverdächtig, sondern auch sehr suggestiv: Gewonnen wird es wiederum aus dem Rechtsgefühl und scheinbar zwingender Logik: c) Dogmatik und Consequenz: Vertrauen und Haftung bei „sozialem Kontakt“ „So zeigen sich, um nur das Wesentlichste hervorzuheben, in der gegenwärtigen deutschen Rechtsentwicklung deutlich Strebungen, aus dem Appell zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft die Forderung nach einem verstärkten Zusammenschluß der Einzelnen und einer erhöhten Rücksichtnahme aufeinander abzuleiten (…).“ Hans Dölle, 1943184

Die endgültigen dogmatischen „Consequenzen“ der bisherigen Entwicklung hat schließlich Hans Dölle (1943) im Anschluss an Günther Haupt (1941) gezogen. Während sich an der Ostfront der Untergang des tausendjährigen Reiches abzeichnete, meinte Dölle seinen Beitrag zur „Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft“ noch dadurch leisten zu können, dass er im Einklang „mit dem Geist und den Entwicklungstendenzen“ seiner Zeit die Haftung für das, was bisher unter dem beschränkten „Gesichtspunkt der culpa in contrahendo“ judiziert wurde, nunmehr nicht nur vom Vertrag, sondern auch von den Vertragsverhandlungen löste und auf jeden „sozialen Kontakt“185 und das mit ihm einhergehende Vertrauen ausdehnte.186 Der Gemeinschaftsgedanke und das 184 Außergesetzliche

Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/79 f.  Den Begriff übernimmt er von Haupt, Über faktische Vertragsverhältnisse (1941), S. 9: „Faktische Vertragsverhältnisse kraft sozialen Kontakts, wie ich die erste Gruppe nennen möchte, liegen vielfach bei den Tatbeständen vor, deren Lösung meist aus dem Gesichtspunkt des sog. Verschuldens beim Vertragsschluß versucht wird (…).“ Zur sachlichen Nähe der beiden Konzeptionen Barth, Der soziale Kontakt als Haftungsgrund (1947). 186 Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/79 f.: „Es zeigt sich also: die heute fast allgemein anerkannten konkreten Erhaltungspflichten sind von uns auf einen anderen als den bisher für sie geltendgemachten Rechtsgrund zurückgeführt worden. Da aber dieser Rechtsgrund von viel größerer Allgemeinheit ist als der früher angenommene, ergibt sich, daß auch in zahlreichen weiteren Fällen Erhaltungspflichten anerkannt werden müssen. Diese Konsequenz zu ziehen, wird … manchen schwer fallen, zumal da sie unter anderem in Widerspruch tritt zu dem in unserer Rechtsprechung anerkannten Satz, nach dem jedem, der in 185

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Rechtsgefühl forderten seiner Ansicht nach nämlich „ein akuteres Einstehen des Schädigers … weil insoweit die Beteiligten einander … ein besonderes Vertrauen entgegengebracht haben, indem sie die eigenen Rechtsgüter bewusst – zur Erreichung des mit dem sozialen Kontakt verfolgten Zwecks – dem Einfluß und damit der Obhut und Sorgfalt des andern anvertrauten und in diesem Vertrauen nicht enttäuscht werden dürfen“.187 Spätestens seit Heinrich Stoll seine Schutzpflichten auf das besondere Vertrauensverhältnis der Sonderbeziehung gestützt und dieses mit der besonderen „Einwirkungsmöglichkeit“ auf die gegenseitigen Rechtsgüter begründet hatte, war dies eine gängige dogmatische Begründung für die Haftung aus culpa in contrahendo: das bereits bekannte „Anvertrauensargument“.188 Nicht die subtilen Fragen, ob es sich letztlich um ein rechtsgeschäftliches, ein quasirechtsgeschäftliches oder ein gewohnheitsrechtlich begründetes Schuldverhältnis handelte, waren entscheidend, sondern dass es überhaupt eine besondere, Pflichten begründende Sonderbeziehung gab. Der zeitliche Beginn dieses „Anvertrauensverhältnisses“ hatte mit dem Gesichtspunkt der „Vertragsverhandlungen“ seit jeher für dogmatische Schwierigkeiten gesorgt. Und so hat Dölle dieses Kriterium endlich ganz verabschiedet. Denn natürlich: Nicht nur bei Vertragsverhandlungen setzt man sich der Gefahr aus, in seinen Rechtsgütern verletzt oder in seinem Vertrauen enttäuscht zu werden, sondern bei jedem „sozialen Vertrauenskontakt“189. Es ist daher ganz folgerichtig, wenn Dölle sich der insbesondere schon von Titze (1929) geübten Kritik anschließt und die unterschiedlichen Ergebnisse und Begründungen, die das Reichsgericht im Linoleumrollenfall (RGZ 78, 239) auf der einen und im Galeriefall (JW 1913, 23) auf der anderen Seite zum Ausgangspunkt seiner ganzen Argumentation wählt: „Das sind Absurditäten, die den Beteiligten ebenso fern liegen, wie dem immanenten Sinn unserer Rechtsordnung.“190 Wir erinnern uns: Im Galeriefall hatte das Reichsgericht eine Haftung seinem Hause einen Verkehr eröffnet, nur die allgemeine Pflicht obliegt, für die Sicherheit der eingelassenen Personen zu sorgen, eine Pflicht, deren Verletzung lediglich eine Verantwortlichkeit aus unerlaubter Handlung begründet, während sie nach der hier vertretenen Auffassung eine konkrete Erhaltungspflicht darstellt. Allein die Folgerung ist unvermeidlich, und sie scheint mir auch, sofern der Haftung die richtigen Grenzen gezogen werden, mit dem Geist und den Entwicklungstendenzen unserer Rechtsordnung in Einklang (…).“ 187 Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/74; während also Haupt (Über faktische Vertragsverhältnisse, 1941, S. 9 ff.) im Grundgedanken die noch von Siber vorgetragene Vertragsfiktion in die Postulation eines faktischen Vertragsverhältnisses umbenannte („Faktische Vertragsverhältnisse kraft sozialen Kontakts, wie ich die erste Gruppe nennen möchte, liegen vielfach bei den Tatbeständen vor, deren Lösung meist aus dem Gesichtspunkt des sog. Verschuldens beim Vertragsschluß versucht wird. “), hat dann Dölle die Erhaltungspflichten wieder explizit auf den Gedanken vom Anvertrauen konstruiert. 188  Oben § 6 I.2. 189  Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/87. 190 Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/68 f.

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mit dem schlichten Hinweis abgelehnt, dass es, anders als im Linoleumrollenfall, noch nicht zu Vertragsverhandlungen gekommen sei. Die „Consequenz“, die das Rechtsgefühl Dölle eingibt, ist nun allerdings bei ihm – anders als etwa bei Titze – keineswegs eine Rückbesinnung auf das allgemeine Deliktsrecht. Im Gegenteil: Bereits in guter Tradition der dogmengeschichtlichen Expansion unseres Haftungsinstituts erfolgt erneut eine Ausweitung der Haftung. Zwei logisch zwingend zu stellende Fragen weisen dabei den normativ unausweichlichen Weg: „Ist es statthaft, ein schuldhaftes Verhalten, das zwar anlässlich einer solchen Gelegenheit beobachtet worden ist, das sich aber gar nicht auf den künftigen Vertragsschluß, sondern auf andere Dinge bezieht, die mit dem Vertragsinhalt nichts zu tun haben, als ein ‚Verschulden beim Vertragsschluß‘ rechtlich besonders zu qualifizieren …? Und das andere Bedenken: Verdient nicht ein sozialer Kontakt anderer Art als der zum Zweck eines Vertragsschlusses zustande gekommene auch den besonderen Schutz, den die herrschende Lehre diesem durch Anerkennung von Erhaltungspflichten aus dem Gesichtspunkt eines Verschulden beim Vertragsschluß zubilligen will?“191

Die Antwort, die Dölle gibt, kennen wir schon: „… daß es in Wahrheit gar nicht der die Berührung der Parteien herbeiführende Zweck des Vertragsschlusses ist, der uns zur Annahme von Erhaltungspflichten drängt, sondern ein anderes Spezifikum des statthabenden sozialen Kontaktes.“192 Und dieses „Spezifikum“ liegt nun gerade darin, dass „die Beteiligten einander … ein besonderes Vertrauen entgegengebracht haben … und in diesem Vertrauen nicht enttäuscht werden dürfen“. Dölle verallgemeinert so den von Hildebrandt noch auf die Erklärungshaftung beschränkten Gedanken einer „Vertrauenshaftung“ auch auf die Erhaltungs‑ bzw. Schutzpflichten. Das Ergebnis ist jetzt eine umfassende Haftung für gewährtes und enttäuschtes Vertrauen unabhängig von den betroffenen Rechtsgütern. Endlich ist ein probates Mittel gefunden, alle Schäden zu ersetzen, indem alle Pflichten auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen sind: Vertrauen nicht zu enttäuschen! Dölle führt das sogleich noch für die besonders wichtigen Aufklärungspflichten193 vor. Das maßgeblich Neue dieser Vertrauenshaftung wird von Dölle explizit klargestellt: 191 Dölle,

Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/72 f.  Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/73. 193  Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/86 ff.: „So sind letztlich auch die sogenannten konkreten Aufklärungspflichten auf den Rechtsgrund des entgegengebrachten besonderen Vertrauens zurückzuführen (…).“ (Hervorhebungen bei Dölle). Dieses Thema wird freilich nicht eingehend besprochen, die dogmatische Nutzlosigkeit der Vertrauenshaftung allerdings zugestanden; denn es sei „nicht überflüssig, zu betonen, daß man sich nicht der Illusion hingeben darf, mit den hier erreichten Erkenntnissen sei irgend etwas für die Bestimmung der Grenzen und des Umfanges derjenigen konkreten Aufklärungspflichten gewonnen, die im Gesetz nicht ausdrücklich normiert sind“. (S. 89). Aber immerhin: „Nur das sei noch bemerkt, daß … ein strenger Maßstab für die Pflicht zur Aufklärung allein den Prinzipien einer Volksgemeinschaft gerecht wird, in der die Verbundenheit ihrer Glieder das Rechtsgeschäft nicht als Vehikel des Eigennutzes, sondern als geeignetes Mittel zur sachgemäßen Gestaltung des 192

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„Hier wird also ein ‚Vertrauensverhältnis‘ nicht, wie es meist und mit Recht geschieht … als Folge des Schuldverhältnisses, sondern als sein Grund angenommen.“194

Das Vertrauen allein also ist es, aus dem die Pflichten entstehen. Das ist die neue Qualität der culpa in contrahendo: die bona fides als causa obligationis. Eine eigenständige „dritte Haftungsspur“ zwischen Vertrag und Delikt: „Vertrauenshaftung“. Gehaftet wird nicht mehr für culpa, sondern für enttäuschtes Vertrauen: „Denn wenn man festgestellt hat, daß für eine Reihe von Fällen, die man bisher aus dem Gesichtspunkt der culpa in contrahendo zu behandeln pflegte, die konkrete Verantwortlichkeit wegen des entgegengebrachten Vertrauens … den wahren Rechtsgrund abgibt, so muß dieser Rechtsgrund sich auch gegenüber einer Rechtsprechung durchsetzen, die sich mangels zutreffender Erkenntnis der eigentlichen Zusammenhänge mit der Annahme einer allgemeinen Sorgfaltspflicht begnügt hat.“195

Das Schöne bei Dölle ist die schnörkellose Schlichtheit seiner Argumentation. So betont er durchaus das Novum seiner Haftungsthese und auch die Notwendigkeit einer Begründung. Mit letzterem (der Begründung) gibt er sich dann aber gar nicht lange ab: Die bloße Behauptung einer „Lücke“ genügt ihm bereits, um seine Haftungskonstruktion als „Rechtsfindung“ auszugeben. Dem nahe liegenden Einwand, dass Schädigungen aufgrund „sozialen Kontaktes“ mittels des „wohlgeordneten“ Rechtsgüterschutzes im Recht der unerlaubten Handlungen durchaus bedacht sind und seine Haftung aufgrund enttäuschten Vertrauens vielleicht gar nichts anderes ist als das Gebot des neminem laedere in anderer Formulierung, hält Dölle entgegen: Es sei „damit aber nicht ausgemacht, daß diese Tatbestände nicht trotzdem … eine Sonderbehandlung verdienen, und zwar deswegen, weil sie eben nicht vom Typ desjenigen zufälligen oder unerwünschten Zusammenpralls ‚Dritter‘ sind, für den recht eigentlich das Deliktsrecht bestimmt ist“.196 Diese Argumentation ist nicht einfach nur lustig („unerwünschter Zusammenprall Dritter“ als genuines Deliktsrecht), sondern eine notwendige Konsequenz des Anvertrauensarguments: Der Anwendungsbereich des Deliktsrechts wird Gemeinschaftslebens erscheinen läßt.“; im Übrigen hierzu auch: Dölle, Die Neugestaltung des Deutschen Bürgerlichen Rechts, ZAkDR 1937, 359 ff. 194  Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/74 Fn. 1; dass hier nur die Auffassung des Reichsgerichts seit RGZ 120, 249 (Büdnerei-Fall) wiedergegeben wird (siehe oben II.1.b), mag auf sich beruhen. Jedenfalls in der Literatur wurde die Sache, soweit ich sehe, in der Tat zuerst von Dölle so deutlich formuliert und wurde erst von hier aus zur allgemeinen Auffassung über die Natur des vorvertraglichen Schuldverhältnisses; noch einmal das Novum betonend Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen (1950), S. 11: „Der Nachdruck liegt darauf, daß es allein das Vertrauensverhältnis ist, das den Beteiligten bei dem Eintritt in die Vertragsverhandlungen Mitteilungs-, Aufklärungs‑ und Erhaltungspflichten verschiedener Art auferlegt … Das aus Treu und Glauben abgeleitete Vertrauensverhältnis ersetzt die in dem fraglichen Zeitpunkt noch fehlende Vertragsbeziehung.“ 195  Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/83. 196 Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/82.

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(wir haben das bereits bei Felix Herholz gesehen) begrifflich eingeschränkt, um die These einer Lücke behaupten zu können. Das ist so, als wenn ein Glaser zunächst Scheiben einwirft, um sodann die ‚berechtigte‘ Forderung nach neuen zu erheben: Eine ungeschlossene Lücke! Wir können diese Methode auch als Schrumpfungsargumentation und mit Blick auf die dogmatische Konstruktion der „dritten Haftungsspur“ auch als Schrumpfungsargument I bezeichnen: Das Deliktsrecht schrumpft auf Fälle des „unerwünschten Zusammenpralls“, um der Legitimation der neuen deutschen Vertrauenshaftung nicht im Wege zu stehen. Als wenn je eine Schädigung „erwünscht“ wäre!? Und wer sind eigentlich die „Dritten“?197 3. Konsequenter Systembruch: Die c. i. c. als „dritte Haftungsspur“ „Wir sind Zeugen eines großen Versuchs von historischem Ausmaß, der zweifellos eine neue Epoche der Rechtsentwicklung einleiten wird, des Versuchs, sich von der Grundlage des römischen Rechts zu befreien und neue Wege zu wandeln, um ein modernes, universalistisches bürgerliches Recht zu schaffen. Die große soziale Werkstätte, in der man an der Verwirklichung dieses Zieles arbeitet, ist Deutschland.“ Lüben Dikow , 1937198

Soweit ich sehe, hat bisher niemand endlich auch Dölle zu Ende gedacht, die letzten Konsequenzen seiner Thesen gezogen und das Deliktsrecht gänzlich abgeschafft: Oder ist nicht endlich auch der „unerwünschte Zusammenprall“ selbst eine besondere Form von „sozialem Kontakt“ und geht nicht jeder jeden Morgen in dem Vertrauen aus dem Haus, bei den anstehenden sozialen Kontakten nicht durch den „Zusammenprall“ mit „Dritten“ geschädigt und mithin in diesem, seinem Vertrauen enttäuscht zu werden? Der eigentliche „Zusammenprall“ liegt hier auf der rechtsdogmatischen Ebene; es ist der Zusammenprall von Vertrauenshaftung und Deliktsrecht, der dann einige Jahre später endlich auch geistig ausgetragen wurde, als sich das ernste wissenschaftliche Bemühen regte, die ganzen vorvertraglichen und vertraglichen Schutzpflichten vielleicht doch wieder dem Deliktsrecht zuzuschlagen. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel wurde so zu einem echten Höhepunkt in der zivilrechtlichen Debatte des 20. Jahrhunderts.199 Dass es zu diesem Konflikt überhaupt kommen konnte, hat seine Ursache vielleicht doch nicht nur in zufällig gezogenen dogmatischen Konsequenzen 197  Ein paar Jahre später (Juristische Entdeckungen, 1958) konkretisiert Dölle diese Vorstellung vor dem 42. DJT so: „Mir scheint …, daß Deliktsregeln nur dort angemessen sind, wo ein Konflikt zwischen Personen stattfindet, … die als Fremde aneinander geraten.“ Das passt noch immer in die abstrakte Denklogik der Zeit: Das Deliktsrecht für das Verhältnis von Deutschen und Peregrinen; die Sonderverbindung hingegen für die im echten Vertrauensverhältnis gebundenen Volksgenossen. 198  Die Neugestaltung des Deutschen Bürgerlichen Rechts (1937), S. 9. 199 Hierzu unten § 7 II.

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einer einmal seit Franz Leonhard eingeschlagenen und immer weiter vollzogenen Ausdehnung der culpa in contrahendo. Der mit den Thesen Dölles zum Abschluss gelangte haftungsrechtliche Abstraktionsprozess hatte sich von Anfang an in der Tat vor allem durch eine Negation des Deliktsrechts ausgezeichnet200 und schließlich ein eigenes umfassendes Haftungsrecht neben den §§ 823 BGB hervorgebracht. Das entsprach vielleicht nicht nur zufällig der in Nr. 19 des Programms der NSDAP niedergelegten Forderung nach einem „Ersatz für das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemein-Recht“, soweit man mit „römischem Recht“ in der auf Otto v. Gierke aufbauenden Kritik die wesentlichen Grundlagen des geltenden „bürgerlichen“ Rechts und mithin das angefeindete BGB selbst meinte. Wie viel Anteil an dieser Entwicklung nun die Ideologie und wie viel Anteil „consequent“ lückenfüllendes dogmatisches Abstraktionsstreben hatte, mag an dieser Stelle unentschieden bleiben. Beides hat auf jeden Fall zusammengewirkt. Rekapitulieren wir nur noch einmal die Daten: Das auf „Gemeinnutz vor Eigennutz“ fundierte Programm der NSDAP wurde am 14. Februar 1920 im Münchener Hofbräuhaus verkündet; alle maßgeblichen Erweiterungen und Ausbauten der Haftung für c. i. c. nach Franz Leonhards „Wiederentdeckung“ stammen aus den folgenden Jahren: Die Weinsteinsäure-Entscheidung (1922), Stolls zusammenfassende Konstruktion der drei Fallgruppen (1923); die Vereinigung der erweiterten c. i. c. mit der p. V. in einem einheitlichen Schutzpflichtverhältnis durch Herholz (1929) und Stoll (1932); die nahezu zeitgleiche Begründung der Erklärungs‑ als Vertrauenshaftung durch Hildebrandt (1931), die Fixierung des Schutz‑ und Treupflichten begründenden Vertrauensverhältnisses im Entwurf zur Reform der Leistungsstörungen und für die „Vertrags‑ und Haftungsordnung“ des Volksgesetzbuches (1936/1942) und schließlich die Durchbrechung jedes rechtlich-systematischen Rahmens der Haftung durch Dölles „sozialen Vertrauenskontakt“ (1943). Man mag ja die Auffassung vertreten, dass die Wechselwirkung zwischen allgemeiner gesellschaftlicher Grundstimmung und juristischer Konstruktion überwiegend im Unterbewusstsein und nicht reflektiert verläuft. Wie gesehen, war aber die bewusste Verknüpfung von sozialphilosophischer Gemeinschaftsidee und Dogmatik der Sonderverbindung zu einer „dritten Haftungsspur“ in den rechtstheoretischen Schriften der Zeit ausreichend vorbereitet und jedenfalls zuletzt (d. h. spätestens ab 1933) immer gedacht als eine ganz gezielte „Verdrängung“ der aus dem römischen Recht überkommenen liberalen Haftungsregimes; einer Verdrängung des klassischen, auf der bekämpften individualistischen Rechtsphilosophie basierenden Vertrags‑ und Deliktsrechts. Ob hier bewusst gearbeitet oder der ‚juristische Weltgeist‘ still im rechtshegelianischen Juristengeist gewirkt hat, ob man die Sache nun als „Rahmenverhältnis“, „Schutzpflichtverhältnis“, „fak200 Bereits

oben § 3.

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§ 6 Abstraktionsfieber (1930–1945): Barock der c. i. c.

tisches Vertragsverhältnis“, „Gefälligkeitsverhältnis“, „Vertrauensverhältnis“ oder weiterhin als culpa in contrahendo bezeichnete – Hans-Detlev Fischer, ein offensichtlich begabter Schüler von Karl Larenz in Kiel, hat immerhin die systemtragende – oder besser: systemsprengende Rolle dieser Haftungskonstruktion für die „Rechtserneuerung“ sehr klar formuliert: „Die Tatsache, daß nach geltendem Recht vorvertragliche Pflichten zwischen den Rechtsgenossen anzuerkennen sind, die nicht durch Vereinbarung, sondern durch den objektiven Tatbestand der Anbahnung von Vertragsverhandlungen entstehen, bedeutet einen entscheidenden Bruch unseres schuldrechtlichen Systems. Wir haben schon dargelegt, daß sich die Lehre von der c. i. c. aus dem Gesetz nicht rechtfertigen läßt und müssen weitergehend sagen, daß sie eine Rechtsbildung contra legem, gegen das System des Gesetzes ist. Denn mit der Anerkennung eines Rechtsverhältnisses der Vertragsverhandlungen ist die Zweiteilung des Systems in Delikt und Vertrag zerbrochen zugunsten eines mehrstufigen Aufbaus. Das bedeutet aber nicht eine Korrektur, sondern einen Bruch des Systems, denn die Zweiteilung ist nicht aus rechtstechnischen, sondern aus grundlegenden weltanschaulichen Einsichten entstanden. Und zwar ist sie die folgerichtige und allein mögliche Folge des individualistischen Denkens, das die Zeit des römischen Rechts ebenso beherrschte wie die Zeit der Aufklärung, und das im Liberalismus des vergangenen Jahrhunderts seine Blüte und Vollendung erlebte. … Auf dieser geistigen Grundlage beruht auch das System unseres Schuldrechts. Auch hier ist die Vorstellung des freien Individuums, das zu anderen Individuen keine vorgegebene Bindung hat, maßgebend. Der Einzelne hat nur die (negative) Verpflichtung, die Freiheit der Anderen nicht zu behelligen, ihr Leben und ihre Güter nicht zu verletzen. Dies ist das normale Verhältnis der Einzelnen zueinander; die Deliktssphäre ist die Normalsphäre des Schuldrechts. Positive Pflichten des Einzelnen, Pflichten zum Handeln, zum Tätigwerden können allein durch den Willen dieser Einzelnen entstehen. … So ergibt sich also mit Notwendigkeit die Zweiteilung des Schuldrechts in Delikt und Vertrag. Zwischenstufen sind mit dem System nicht vereinbar; das System fordert ein Entweder-Oder. … Wir haben das heute in voller Klarheit erkannt und haben die Vorstellung des Einzelnen, der frei und ungebunden anderen Einzelnen in Abwehrstellung gegenübersteht, von Grund aus überwunden. Wir haben heute die Einsicht wiedergewonnen, daß der Mensch nicht nur ein Individuum, sondern vor allem und zunächst Glied der Gemeinschaft des Volkes, der Familie und seines Standes ist, und daß er durch diese Gemeinschaften mit den anderen Rechtsgenossen in vorgegebenen Bindungen steht. Und nicht nur kraft seines Willens, sondern schon durch seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, entstehen ihm Rechte, aber auch Pflichten. Damit haben wir wieder eine weltanschauliche Grundhaltung gefunden, die der Wirklichkeit entspricht. Und damit entsteht auch die Möglichkeit, ein Rechtssystem und insbesondere ein schuldrechtliches System zu schaffen, das der Wirklichkeit des Lebens entspricht. Denn mit dem individualistischen Denken ist auch die Herrschaft des Willens des Einzelnen zusammengebrochen, und damit wird der Weg frei, die Zweiteilung des Systems in Delikt und Vertrag durch einen anderen Aufbau zu ersetzen. Dabei ist es nicht das Ziel, Ausnahmen irgendwelcher Art oder Menge anzuerkennen: Damit wäre nicht geholfen, und der Grundsatz der Zweiteilung bliebe bestehen. Vielmehr müssen wir die systemgerechte Möglichkeit anerkennen, daß zwischen Vertrag und Delikt Rechtsverhältnisse, Sonderbeziehungen zwischen zwei Rechtsgenossen entstehen; Zwischenstufen zwischen Vertrag und Delikt.“201

201 Fischer,

Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938), S. 75 ff.

II. Noch eine ‚Entdeckung‘: Vertrauenshaftung

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Damit waren das gesellschaftspolitische Dogma und die zivilrechtsdogmatische Entwicklung passgenau auf den Punkt gebracht. Mit dem contra legem entwickelten Haftungsinstitut der c. i. c. war der vom damaligen Ministerialdirektor im Reichsjustizministerium Franz Schlegelberger geforderte „Abschied vom BGB“202 in der Sache vollzogen: Gemeinschaft und Treuepflicht verdrängen das liberale Vertrags‑ und Deliktsrecht des BGB, genossenschaftlich-sozialistisches Rechtsdenken etabliert sich rechtserneuernd als umfassend ausgedehnte und die alten Haftungsinstitute verdrängende neue Haftungsspur. Ob ein anderer begabter Schüler von Karl Larenz dann später bewusst oder unbewusst dieses Erbe angetreten oder Bekanntes lediglich neu „entdeckt“ hat, braucht hier nicht entschieden zu werden. Sicher ist, dass nach 1945 auf der systemsprengenden „dritten Haftungsspur“ kräftig weitergefahren und der „Abschied vom BGB“ mit der „Schuldrechtsmodernisierung“ 2002 tatsächlich gesetzlich festgeschrieben worden ist. Der tiefere Grund wurde freilich sehr viel früher gelegt als man bis heute allgemein annimmt: „Die heute gestellte Aufgabe einer Rechtserneuerung bedeutet in weitem Umfang die Aufgabe einer Systemerneuerung; es gilt nicht nur Einzelregelungen des derzeitigen Rechtszustandes zu verbessern, sondern mit dem Rechtssystem der vergangenen Zeit überhaupt zu brechen und ein der neuen Weltanschauung entsprechendes Rechtssystem zu begründen und auszubauen. Dafür aber ist es von entscheidender Bedeutung, die Ansätze, die sich in der Rechtsentwicklung für eine Umwälzung des geltenden Systems bereits gebildet haben – und gerade die Lehre von der c. i. c. bedeutet hier einen entscheidenden Vorstoß –, nicht dadurch zu ersticken, daß man sich mit den rechtstechnischen Mitteln der Vergangenheit – Auslegung, Analogie etc. – bemüht, sie in das alte System einzuspannen und ihnen damit ihren Wert als Vorposten einer neuen Entwicklung zu nehmen. Gerade die Entwicklung der Lehre von der c. i. c. läßt deutlich einen grundsätzlichen Wandel des Rechtsempfindens spürbar werden; ihr Grundgedanke, die Verpflichtung zu erhöhter Sorgfalt nicht nur dem Vertragsgegner, sondern jedem gegenüber, der auf unsere Rücksicht und Anständigkeit angewiesen ist, bedeutet eine Abkehr von dem individualistischen Gedanken der unverbundenen und ‚freien‘ Einzelnen überhaupt. Und daher ist es gerade bei diesen Neubildungen des Rechts besonders gefährlich, den neuen Wein in alte Schläuche zu fassen. […] Wir … haben uns für die heutige Zeit der Rechtsrevolution für die allgemeine Ueberzeugung als dritte Rechtsquelle entschieden.“203

202

 Schlegelberger, Abschied vom BGB (1937). Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938), S. 70 f.

203 Fischer,

§ 7 Restauration (1945–2000): Konsolidierung in Kontinuität „Eins ist aber gewiß. Je mehr das alte Rechtssystem zusammenbricht, um so freier wird die Rechtswissenschaft und um so größer die Aufgabe. (…) Auch die deutsche Rechtswissenschaft steht, wenn sie ihrer Stunde gerecht zu werden weiß, nicht am Ende, sondern vor einem neuen Anfang.“ Karl Michaelis, 19351 „Wir müssen neu beginnen, ganz von vorn beginnen mit dem Aufbau der Rechtsgrundlagen, der Rechtssetzung, der Justiz, der Verwaltung. Es gibt nichts, das einfach fortgesetzt werden könnte.“ Karl S. Bader, 19462

Für die Zivilrechtswissenschaft und insbesondere für die Geschichte der culpa in contrahendo gab es keine „Stunde Null“.3 Die Literatur machte nach 1945 genau dort weiter, wo Fischer und Dölle aufgehört hatten, und auch der Bundesgerichtshof nahm die Lehre der culpa in contrahendo ohne Zögern auf und baute sie in ihrem Anwendungsbereich weiter aus.4 Die ablehnende sozialphi1 Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts, in: Larenz u. a. (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft (1935), S. 9/61. 2  Geleitwort zur Neuherausgabe der Deutschen Rechts-Zeitschrift, DRZ 1 (1946), 1. 3 Von einer Kontinuität mit freilich befangenem Eigenurteil geht aus Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952/1967); daneben differenzierte Stellungnahmen etwa bei Perels, Die Restauration der Rechtslehre nach 1945, KJ 17 (1984), 359–379; die Beiträge in: Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik (1994); zurückhaltend Rückert, Abbau und Aufbau der Rechtswissenschaft nach 1945, NJW 1995, 1252 ff.: „Zur Rechtswissenschaft nach 1945 dürften kaum mehr als die Stichworte ‚Naturrechtsrenaissancen‘ und ‚Restauration‘ geläufig sein (…).“; erste Versuche einer generellen Orientierung: W. Wolf, Zivilrechtswissenschaft ohne Larenz. Die Positionierung des Privatrechts zwischen 1945 und 1953, KritV 80 (1997), 400; Rückert / ​HKK (2003), Vor § 1 Rn. 91; Maren Bedau, Entnazifizierung des Zivilrechts (2004); Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘ (2007) und die Beiträge in Eva Schumann (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren: Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit (2008). 4  Der BGH ging deutlich und insb. in zwei Fallgruppen sogleich über die Rechtsprechung des Reichsgerichts hinaus und setzte im Grunde die rechtstheoretische Hypertrophie der vorangegangenen Jahre praktisch um: Abbruch von und Schädigung bei Vertragsverhandlungen; vgl. nur: Urt. v. 20. Juni 1952 – V ZR 34/51, BGHZ 6, 330–335 (Schrottplatzpachtfall); Urt. v. 3. Juli 1952 – III ZR 342/51, LM Nr 2 zu § 254 (C) BGB (Gefälligkeitsfahrt); Urt. v. 21. November 1952 – V ZR 158/51, LM Nr 1 zu § 463 BGB (Hausbockfall); 16. März 1954 – I ZR 255/ 52, LM Nr 3 zu § 276 (Fa) BGB=MDR 1954, 346–348 (Bestellungenfall); Urt. v. 17. September 1954 – V ZR 32/53, BGHZ 14, 313–319 (Haftung für Ehegatten aus c. i. c.); Urt. v. 14. Juni 1957 – VIII ZR 73/56, LM Nr 1 zu § 307 BGB = WM 1957, 981–984 (Aufklärungspflicht über einheimische

II. Noch eine ‚Entdeckung‘: Vertrauenshaftung

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losophisch-methodologische Vorstellung von einem auf „formaler Freiheitsethik“ und „Begriffsjurisprudenz“ basierenden BGB wurde ebenso als Dogma weitergetragen wie die Vorstellung von einer dritten Haftungsspur zwischen Delikt und Vertrag bei „vorkontraktlicher Berührung“5. Doch ist, was die Haftungsbegründung und den Haftungsrahmen anlangt, nach Herholz, Stoll, Hildebrandt, Fischer und Dölle prinzipiell Neues nicht mehr entdeckt worden. Die nationale und sozialistische Gemeinschaftsrhetorik mäßigte sich in einer Materialisierung-des-Privatrechts-These, und der Weg zur „modernen Vertrauenshaftung“ wurde zum herausragenden Schaustück eines dogmatischen Positivismus, der bis heute für Viele als Inbegriff der außerordentlichen Wissenschaftlichkeit der deutschen Zivilrechtsdogmatik für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend wurde. Ausbau und Konsolidierung der Lehre erfolgten an den beiden eröffneten dogmatischen Fronten: 1. In Auseinandersetzung mit dem Deliktsrecht, d. h. der Konkurrenz von Sonderverbindungs‑ und Anvertrauensargumentation mit dem klassischen deliktischen Rechtsgüterschutz einerseits (Sonderverbindungsthese vs. Deliktsrecht), und 2. dem Bemühen, der Vertrauenshaftung auch neben dem originären Bereich der Rechtsgeschäftslehre einen eigenständigen Platz zuzuweisen (Vertrags‑ vs. allgemeine Erklärungshaftung) andererseits. Devisengesetzgebung); Urt. v. 13 Juni 1957 – II ZR 133/56, WM 1957, 1027–1030 (Haftung für Angaben bei Abschluss eines Gesellschaftsvertrages); Urt. v. 21. Mai 1957 – VIII ZR 202/56, LM Nr. 11 zu § 31 BGB = NJW 1957, 1186–1186 (Haftung eines Vereins für Hilfsperson); Urt. v. 25. März 1958 – VIII ZR 48/57, MDR 1958, 422–423 (Verkäufer haftet als Fachmann für Rat und Empfehlung) etc. … Nur vereinzelt blieben Senate in Entscheidungen restriktiv, etwa: Urt. v. 2. Mai 1956 – I ZR 255/52, NJW 1956, 1275–1275 (weder c. i. c. noch WGG bei Scheitern von Vertragsverhandlungen); Urt. v. 19. November 1956 – II ZR 217/55, NJW 1957, 140 (keine Aufklärungspflicht über einzelne Abschlussbestimmungen von Allgemeinen Versicherungsbedingungen). Vgl. auch die Darstellung der Rechtsprechung in den ersten Jahren insb. bei Nirk, FS Möhring I (1965), S. 385 ff. 5  So die hübsche Neuformulierung bei Eichler, Die Lehre vom Vertrauen (1950), S. 13. Vgl. aus den ersten Jahren insb. die Darstellungen bei Barth, Der soziale Kontakt als Haftungsgrund (1947); Esser, Schuldrecht (1949), § 10, 1a; Hassel, Die „culpa in contrahendo“ mit Rücksicht auf die Entwicklung der neueren reichsgerichtlichen Rechtsprechung (1949); Ballerstedt, AcP 151 (1951), 501; Eckardt, Außervertragliche Schutzpflichten (1951); Nirk, Die Lehre von der culpa in contrahendo (1951); Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht (1953), S. 80, 125 f.; die von Blomeyer betreute Arbeit von Baumert, Tatbestand und Haftungsmaßstab bei der culpa in contrahendo (1955); Larenz, MDR 1954, 515 ff.; ab der 5. Aufl. seines Schuldrechts (1962): „Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflicht aus geschäftlichem Kontakt“ (§ 4 V., S. 38 ff.); Engelmann, Veranlassungshaftung aus Verhalten bei Vertragsschluß (1955); Enneccerus / ​Lehmann, Schuldrecht (1958), § 27 VI, S. 120; § 43 IV, S. 192; Soergel / ​Siebert, BGB (9. Aufl. 1959), § 242 Rn. 101 ff.; Staudinger / ​Weber, BGB (11. Aufl. 1961), § 242, Rn. 417 ff.; Thiele, Leistungsstörung und Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649/652 ff.; Lenz, Das Vertrauensschutzprinzip (1968); Craushaar, Der Einfluß des Vertrauens auf die Privatrechtsbildung (1969), S. 31: „außervertragliche Pflichten aus culpa in contrahendo und sozialem Kontakt (…)“.

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§ 7 Restauration (1945–2000): Konsolidierung in Kontinuität

In der Chronologie zeigen sich zunächst bescheidene Bemühungen, die Weite der Theorie, die Dölle vorgetragen hatte, einzugrenzen. Die geradezu bruchlose Anknüpfung erfolgte dabei auf der Basis einer unterschiedlichen Interpretation der Reichweite dessen, was Dölles „sozialer Kontakt“ nun alles umfassen kann oder soll. So hat Larenz (1954) das Kriterium für zu weit angesehen und es auf „geschäftlichen Kontakt“ zu präzisieren gesucht.6 Genau umgekehrt argumentierte Baumert (1955). Er meinte durchaus zu Recht, Dölle habe ohnehin nur den geschäftlichen Kontakt im Sinn gehabt, das aber sei zu eng; denn gehaftet werden müsse natürlich auch für „freundschaftlichen Kontakt“.7 Nach der Prämisse vom „Anvertrauensargument“ ist diese Position, wie gesehen,8 nur „consequent“. Die Lehre von Larenz hat sich freilich zunächst durchgesetzt.9 Anderenfalls wäre die unendliche Weite dieser außervertraglichen Haftung und die Konsumtion des Deliktsrechts wohl auch unübersehbar.10

 Larenz, Culpa in contrahendo, MDR 1954, 515 ff. wendet sich vor allem gegen eine Ausdehnung der Vertrauenshaftung in das Deliktsrecht: Nicht jeder beliebige soziale Kontakt komme in Betracht. „Es muß sich vielmehr um einen Kontakt auf der Ebene des Geschäftsverkehrs handeln, der mindestens die Möglichkeit in sich schließt, zu einem Geschäftsabschluß zu führen.“ (S. 518). Der Aufnahme von Vertragsverhandlungen sei daher „die Aufnahme eines ‚geschäftlichen Kontakts‘ gleichzustellen.“ Larenz übersieht feilich, dass Dölle ja selbst Verkehrsunfälle weiterhin als „unerwünschten Zusammenprall“ deutend dem Deliktsrecht belassen will; zutreffend insoweit schon Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 143.  7 Baumert, Tatbestand und Haftungsmaßstab der culpa in contrahendo (1955), S. 25: „Gerade zu einem Freunde wird man oft besonders großes Vertrauen haben …“; in diesem Sinne bereits Enneccerus / ​Lehmann, Schuldverhältnisse (1932), § 27, 6, in der 15. Bearb. (1958), S. 120; Blomeyer, Schuldrecht (4. Aufl. 1969), § 17 III 1 b, S. 72, § 22, 2, S. 114; Thiele, Leistungsstörung und Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649/652 ff.; Esser / ​Schmidt, Schuldrecht AT (5. Aufl. 1976), § 29 I 1, S. 91 (unter unrichtigem Hinweis auf Dölle): „Einer sozialstaatlich organisierten Gesellschaft ist es versagt, die Beziehungen ihrer einzelnen Mitglieder zueinander lediglich oder auch nur vorrangig nach den Verhältnissen des Warenaustauschs abzubilden.“  8  Oben § 6 I.2.  9 Der BGH hat die Auffassung von Larenz mit Urt. v. 26. September 1961 – VI ZR 92/61, NJW 1962, 31 (Bananenschalen-Fall) rezipiert; vgl. aus der frühen Literatur neben Larenz (Schuldrecht ab 5. Aufl.) dann vor allem Canaris, Verschuldensfähigkeit und c. i. c., NJW 1964, 1987; ders., Ansprüche bei nichtigen Verträgen, JZ 1965, 475/476; Lackum, Neuordnung von „culpa in contrahendo“ und „positiver Vertragsverletzung“ (1970), S. 114 f.; Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 538, sucht zu präzisieren: „Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr“; Posch, Haftung des Kaufhausunternehmers für c. i. c., ZfRV 1974, 165/171; Fikentscher, Schuldrecht (6. Aufl. 1976), § 20 I: „Die Formel vom sozialen Kontakt ist zu weit“; Staudinger  / ​ Löwisch, BGB (12. Aufl. 1979), Vorbem. §§ 275–283, Rn. 43. 10  So ausdrücklich BGH, NJW 1974, 1501/1504: Der Verzicht auf das Kriterium „rechtsgeschäftlich“ würde „die im geltenden Haftungssystem bewußt gezogene Grenze zwischen vertraglichem und deliktischem Bereich weitgehend aufheben, ohne sie durch einen rechtlich und wirtschaftlich praktikableren Maßstab zu ersetzen.“ Ausf. zu diesem Konkurrenzproblem unten (§ 7 II. Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel).  6

I. Der Weg zur „modernen“ Vertrauenshaftung

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I. Der Weg zur „modernen“ Vertrauenshaftung „Hat man bis jetzt den Willen und damit das Interesse des Erklärenden überschätzt, so droht nach einem tiefen Lebensgesetz jetzt das andere Extrem: die Überschätzung des Vertrauens (…).“ Arthur Mayer-Hayoz, 194811

1. Die bleibende Faszination in das „Vertrauen“ als Haftungsgrund „So gerät die kritische Betrachtung in die Versuchung, für willkürliche Bildung eines vorübergehenden Machtmißbrauchs zu halten, was tiefere Ursachen hat.“ Walter Hallstein, 194612

Spannender als die gleichwohl bis heute nicht abgeschlossene Debatte um den genauen Beginn und die genaue Reichweite dieser haftungsrechtlichen Sonderverbindung13 ist denn auch die weitere Entwicklung der systemsprengenden Haftungsbegründung zwischen Vertrag und Delikt, d. h. die Konsolidierung der Vertrauenshaftung selbst. Wir werden die bis heute anhaltende Faszination für das Vertrauensprinzip und die aus diesem deduzierte Vertrauenshaftung schwerlich verstehen, wenn wir uns nicht zwei Dimensionen vor Augen führen, die mit diesem Prinzip unauflöslich verknüpft werden: eine empirisch-phänomenologische und eine normativ-materiale. a) Ubiquität: Die empirisch-phänomenologische Seite des Vertrauens „Die Haftung aus Vertrauen hat etwas Unabgeschlossenes, Zufälliges und daher Unbefriedigendes an sich. … In Wahrheit fundiert der Vertrauensgedanke das gesamte Recht, das gesamte Sich-einlassen auf andere Menschen (…).“ Niklas Luhmann, 196814

Betrachtet man zunächst und allein die empirisch-phänomenologische Seite des Vertrauens, d. h. das Vertrauen als soziologisches und psychologisches Phänomen, dann ist die Faszination für dieses Prinzip leicht ausgemacht: Vertrauen ist 1. positiv konnotiert und 2. überall im individuellen Verhalten und sozialen Kontakt präsent. Kurz, es ist ubiquitär.15 11 Das

Vertrauensprinzip beim Vertragsabschluß (1948), S. 89.  Wiederherstellung des Privatrechts, SJZ 1946, 1/3. 13  Hierzu etwa nur: Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981); Krebs, Sonderverbindung (2000) jeweils m. w. N.; diese Debatte hat mit der „dunklen“ Regelung des § 311 Abs. 2 Nr. 3 („ähnliche geschäftliche Kontakte“) neue Nahrung erhalten; im Detail hierzu unten § 7 II.3.b). 14 Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (2. Aufl. 1973), S. 37. 15  Zur aktuellen Inflation des Begriffes ausf. schon Luhmann, Vertrauen (1968/2014); aus jüngerer Zeit etwa nur: Almut Brückerhoff, Vertrauen. Versuch einer phänomenologisch-idiographischen Näherung an ein Konstrukt (1982); Martin Endress, Vertrauen (2002); Martin 12

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§ 7 Restauration (1945–2000): Konsolidierung in Kontinuität

Freilich, bei einem etwas kritischeren Blick will einem gerade aufgrund dieser phänomenologischen Omnipräsenz der tiefere Kern einer auf Vertrauen konstruierten Haftung nicht leicht einleuchten: Darauf hatte ja bereits Jhering hingewiesen, als er die bona fides als Haftungsgrund mit nur kurzer Bemerkung ablehnte.16 Eine Rechtswissenschaft, der noch ein Gespür für justiziable Rechtssätze verblieben ist, konnte Jhering in dieser Ablehnung, wie gesehen, nur folgen. Die nationale und sozialistische „Rechtserneuerung“ hingegen zeigte sich aufgeschlossen für eine Rechtsfindung aus ideologisch aufgeladenen abstrakten Prinzipien (Gemeinschaft, Vertrauen, Gefolgschaft). Eine sachlich-kritische Reflexion der Ergebnisse dieser vermeintlich dogmatischen Entwicklung konnte nicht ausbleiben. Für die moderne Debatte spricht immerhin Karl Larenz den Ubiquitätseinwand als erster (1954) deutlich gegen Dölle aus: „Der Fußgänger, der die Straße in dem Augenblick überquert, in dem ihm das Lichtzeichen den Übergang freigibt, vertraut in diesem Augenblick darauf, daß der herannahende Kraftfahrer rechtzeitig stoppen werde. Er setzt sich in diesem Vertrauen durch das Überqueren der Straße dem Einfluß des anderen aus. Gegenseitiges Vertrauen ist eben ein allgemeines Prinzip des menschlichen Verkehrs, das aber doch nur in Verbindung mit anderen Momenten eine über die deliktische Verantwortlichkeit hinausgehende Schadenshaftung nach den Grundsätzen der Vertragshaftung zu rechtfertigen vermag.“17

Jeder glaubt, hofft, vertraut auf irgendetwas in seinem Leben und bei seinen Handlungen. Richtet sich das Vertrauen normativ darauf, nicht an Rechtsgütern, Rechten und Interessen geschädigt zu werden, dann hängt doch wieder alles von der Definition der Rechtsgüter, Rechte und Interessen ab, auf die man berechtigt vertrauen darf. Die Wissenschaft vom Haftungsrecht ist so mit dem „Vertrauen“

Hartmann, Die Praxis des Vertrauens (2011); Franz Petermann, Psychologie des Vertrauens (2012); Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne (2013): „’Vertrauen’ – kaum ein Begriff hat in den letzten Jahren eine so rasante Aufmerksamkeits‑ und Erregungskonjunktur zu verzeichnen. (…) Vertrauensfragen pflastern unseren Weg und lauern an jeder Ecke. Alle führen das V-Wort im Mund: Banken und Versicherungen werben ebenso um Vertrauen wie Handwerksbetriebe, Industrieunternehmen und Dienstleister. Abgeordnete und Politiker wollen sich damit schmücken, Freunde, Liebespartner und Familienmitglieder erheben darauf Anspruch. Ärzte und Rechtsanwälte empfehlen sich als vertrauenswürdig, und Meinungsforscher fragen regelmäßig nach, ob und wie viel Vertrauen wir in Institutionen, Branchen und Marken setzen (…).“ 16  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/33 f.: „… und sodann konnte der Gesetzgeber unmöglich den bloßen guten Glauben des Käufers zum Grunde nehmen, um dem Verkäufer, der ja nicht minder in gutem Glauben sein kann, die Verpflichtung zum Schadensersatz aufzubürden. … Das legislative Motiv unserer Klage kann also nicht, wie es zufolge jener Idee geschehen müsste, in der bona fides des Käufers gesucht … werden.“ 17  Larenz, Culpa in contrahendo, MDR 1954, 517; dem folgt auch Baumert, Tatbestand und Haftungsmaßstab der culpa in contrahendo (1955), S. 27 ff.: „Das ‚Vertrauen‘ des Handelnden allein dürfte als Rechtfertigungsgrund doch kaum ausreichen (…)“.

I. Der Weg zur „modernen“ Vertrauenshaftung

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keinen Schritt weiter, sondern im Grunde wieder bei Ulpian und dem Hinweis auf das Gebot des neminem laedere.18 Dölle hat die Vertrauenshaftung mit seiner Lehre vom „sozialen Kontakt“ in unübersehbarer Weise auf den originären Bereich der „unerlaubten Handlungen“ ausgedehnt. Und es ist wichtig, daran zu erinnern, dass es beim Deliktsrecht nicht um irgendeine formale juristische Kategorie geht, sondern, wie gesehen, ganz material um die Ausdefinierung von Rechtspositionen, auf deren Schutz jedermann berechtigt vertrauen darf.19 Demgegenüber war die konkrete Ausgestaltung des berechtigten Vertrauens auf ein gegebenes Wort spätestens seit den bonae fidei iudicia des römischen Rechts die originäre Domäne des Vertrags‑ und Schuldrechts, seit es sich vom Deliktsrecht „objektiv“ emanzipierte. Und wir haben gesehen, dass in diesem Bereich die bona fides und die culpa seit jeher ein gemeinsames Ziel verfolgten: Vertrauen als berechtigtes gegen den dolus im Rechtsverkehr zu schützen. So muss es auch nicht überraschen, wenn Dölle selbst darauf hingewiesen hat, dass mit seinen Ausführungen gar nichts Konkretes geleistet ist: Es sei nämlich „nicht überflüssig, zu betonen, daß man sich nicht der Illusion hingeben darf, mit den hier erreichten Erkenntnissen sei irgend etwas für die Bestimmung der Grenzen und des Umfanges derjenigen konkreten Aufklärungspflichten gewonnen, die im Gesetz nicht ausdrücklich normiert sind“.20 D. h. ausgerechnet für den (vermeintlich originären) Bereich, in dem die culpa in contrahendo seit Franz Leonhard als Lückenfüller angetreten war, bringt der Gedanke des Vertrauens – als empirisches Phänomen – überhaupt nichts. Das ist bis heute so geblieben und lässt sich auch nicht ändern: Die Hilflosigkeit liegt hier in der Natur des Kriteriums selbst begründet. Wissenschaftstheoretisch findet sich in der Faszination für das Vertrauensprinzip also gar nichts anderes als das, was wir bereits im Hinblick auf die Faszination für das Willensprinzip und das Verschuldensprinzip kennen gelernt haben: Die Hypostasierung eines Prinzips, aus dem dann die dogmatische Konstruktion und die Ergebnisse mit „Consequenz“ deduziert werden. Aus dem Spektrum der für die Beantwortung einer normativen Frage relevanten Prinzipien wird eines herausgehoben und als das Maßgebliche zur Lösung des Problems vorgestellt. Herbert Marcuse nannte dieses durchaus menschliche Phänomen in anderem Kontext recht passend „Eindimensionalität“,21 Luhmann nannte es „Reduktion von Komplexität“, Jhering analysierte es als das sich kundtuende Rechtsgefühl, und wir haben den methodologischen Kern dieses Vorganges letztlich als Prinzipiendeduktion benannt22.

 Zur Ausdifferenzierung dieses Grundsatzes in der Zivilrechtsgeschichte bereits oben § 3. § 2 II. und § 3. 20  Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/88 f. 21  Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1967). 22 Oben § 1 II.2.d). 18

19 Oben

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Allein dieser eindimensionale Umgang mit dem Vertrauensprinzip könnte so schwerlich hinreichen, die anhaltende Faszination für dieses Haftungskonstrukt zu erklären. Zu offensichtlich wird in dem rechtsgeschäftlichen Haftungsdreieck (Wille, Verschulden, Vertrauen) nun die dritte und letzte noch mögliche Position bezogen, die zu beziehen sich die Wissenschaft des gemeinen Rechts noch immer bewusst gescheut hatte. Neben Prinzipien-geleitetem Entdeckerdrang waren dogmengeschichtlich drei Aspekte relevant, die zusammenkommen mussten, um das Vertrauen als haftungsbegründendes Prinzip ernsthaft zu etablieren: 1. Die Faszination für ein neues archimedisches Prinzip der Welterklärung bei Wissenschaftlern wie Hubert Naendrup. 2. Die anhaltende Suche nach einem einheitlichen Prinzip für das vorvertragliche Schuldverhältnis, das endlich Heinz Hildebrandt in dem aufgrund seiner Ubiquität überall nachzuweisenden Vertrauen auch nachweisen konnte. 3. Eine politische Grundstimmung, die in ihrer geistigen Rhetorik für „Treue und Gefolgschaft“ dem Gemeinschaftsgedanken im Vertrauensprinzip eine abstrakte rechtsdogmatische Gestalt gegeben hat. Damit sind wir bei der zweiten, der normativ-materialen Dimension des Vertrauensprinzips. Denn dieser Gemeinschaftsgedanke ist der Vertrauenshaftung als rechtspolitisches Element bis heute inhärent. Aufgrund der völlig wertungsfreien empirisch-phänomenologischen Dimension des Vertrauens liegt notwendig die Bestimmung dessen, worauf man berechtigt vertrauen darf, in der Wertung desjenigen, der sein Votum zu dieser Frage abgibt. Das methodologische Problem ist nicht weiter neu; denn es bestand auch bei der Konstruktion einer Haftung mittels „Treu und Glauben“, nur hat sich eben bis heute die Auffassung gehalten, dass § 242 BGB nicht an sich eine causa obligationis ist. Das Neue am Vertrauensprinzip war demgegenüber die Überwindung rechtstheoretischer Vorbehalte durch die Verknüpfung des Vertrauensgedankens mit dem sozialethischen Prinzip der vergangenen Zeit: „Gemeinnutz vor Eigennutz“. b) Materialisierungsthese: Die Normativität des Vertrauens „Jhering selbst schwankt noch unentschlossen zwischen dem ‚Nutzen‘ des Individuums und dem Nutzen der Gesellschaft, deren unausweichlichen Konflikt er in einem Zeitalter des Wirtschaftsliberalismus nicht klar zu sehen scheint. Später wird sich die Waage zugunsten der kollektiven Mächte neigen, und es wird das Recht bestimmt werden als Nutzen der Gesellschaft, einer siegreichen Gesellschaftsklasse des Volkes (‚Recht ist, was dem Volke nützt‘) … Es ist Jherings Verantwortung (sic!), diese Revolution der europäischen Rechtskultur ohne klares Bewußtsein von ihrer Tragweite eingeleitet zu haben (…).“ Franz Wieacker, 1942/195223

Man hätte erwarten können, dass mit einer Distanzierung von der (national‑) sozialistischen Vergangenheit und der nun grundgesetzlich neuerlich klar voll23 Privatrechtsgeschichte

der Neuzeit (1952), S. 267.

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zogenen Besinnung auf Freiheit und personale Individualität auch eine Abwendung von der Hypostasierung einer Zwangsvergemeinschaftung in „Treue“ und „Vertrauen“ hätte erfolgen sollen. An klaren Worten in diese Richtung hat es auch durchaus nicht gefehlt.24 Doch in der überwiegenden Tendenz gab es keine liberale Besinnung. Das Gegenteil ist ersichtlich der Fall: Wenn zivilrechtliche Schriftsteller auch in der neuen Bonner Republik philosophisch wurden, dann ging es thematisch immer noch gegen Begriffsjurisprudenz, Positivismus, Pandektismus, Wirtschaftsliberalismus und den fehlenden „Tropfen socialistischen Oeles“ in einem von Anfang an veralteten BGB.25 Die Debatte zu Reichweite und Begrenzung der Privatautonomie, dem liberalen Grundprinzip des BGB, füllt in gleichsam nahtloser Anknüpfung an die genossenschaftlichen Erkenntnisse der zivilrechtlichen Erneuerungsliteratur mittlerweile eine eigene Bibliothek.26 24 Scharfe

Analyse und klare Programmatik bei Friedrich August v. Hayek, The Road to Serfdom (1944, dt. „Der Weg zur Knechtschaft“, 1945; 3. Aufl. 1952); in diesem Sinne deutlich Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts, SJZ 1946, 1/5: „Allein wir bleiben dabei, daß die Rettung des Menschen aus dem orgiastischen Abenteuer der Vermassung nur durch scharfe Anspannung seiner individuellen Verantwortung möglich ist. Eine bittere, lebensgefährliche Erfahrung hat uns gelehrt, daß die Übernahme der Moral in öffentliche Verwaltung die Preisgabe der Moral bedeutet hat: denn der Verwalter öffentlicher Interessen fühlt sich der moralischen Verbindlichkeit durch das (wahre oder vermeintliche) Gemeinschaftsinteresse überhoben, das ihm anvertraut ist. (…) und wir werden auch bei der Liquidation der Vergangenheit alles in unserer Macht Liegende tun, die Verantwortung als eine exakt zu bestimmende, aber auch unerbittlich zu vollziehende Einzelverantwortung zu verwirklichen, um auch auf dem Felde des Rechts einem unexakten Denken in Sammelbegriffen entgegenzuwirken.“; und für das Schuldrecht etwa: Hueck, Der Treuegedanke (1947): „Wohin die übermäßige Verwendung des Gemeinschafts‑ und Treuebegriffes führen kann, mag ein Beispiel zeigen. Man hat in den letzten Jahren vielfach behauptet, zwischen Schuldner und Gläubiger bestehe nicht etwa, wie ‚liberalistisch-individualistisches‘ Denken angenommen habe, ein Interessengegensatz, sondern bei richtiger Auffassung liege ein Gemeinschaftsverhältnis vor, das demgemäß von beiderseitigem Vertrauen und von gegenseitiger Treue beherrscht werde. … Daß das absurd ist, liegt auf der Hand. … Wenn jemand in einem Laden ein Buch kauft, wenn er seine Uhr reparieren läßt, wenn er für eine Stunde ein Ruderboot mietet, wenn er sich rasieren läßt, so schließt er schuldrechtliche Verträge ab, aber kein unbefangen Denkender wird annehmen, daß er dadurch mit seinem Vertragspartner eine Gemeinschaft eingehe und besondere Treuepflichten begründe (…).“ 25 Grundlegend die aus germanisch-genossenschaftlicher Sicht vorgetragene Kritik bei Gierke, Die sociale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 13. Zur Kontinuität dieser Kritik anlässlich der 50-Jahr-Feier des BGB vgl. nur Dölle, Festrede (1950), S. 34: „Das Gesetz darf nicht mehr nur ein Gesetz für das Individuum, sondern muß wesentlich Sozialrecht im Sinne Gierkes sein.“ 26 Aus den ersten 30 Jahren etwa nur: F. v. Hippel, Vorbedingungen einer Wiedergesundung des Rechtsdenkens (1947); ders., Zum Aufbau und Sinnwandel unseres Privatrechts (1957); L. Raiser, Der Gleichheitsgrundsatz im Privatrecht, ZHR 111 (1948), 75 ff.; ders., Wirtschaftsverfassung als Rechtsproblem, in: FS Gierke (1950), S. 181 ff.; ders., Vertragsfreiheit heute, JZ 1958, 1 ff.; ders., Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit (1960), S. 101 ff.; Dölle, Festrede (1950), 14 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1952), S. 253 ff. (vertieft noch in der 2. Aufl. 1967); ders., Sozialmodell (1953); ders., Das bürgerliche Recht im Wandel der Gesellschaftsordnungen (1960), S. 1 ff.; Larenz, Entwicklungstendenzen der heutigen Zivilrechtsdogmatik, JZ 1962, 105 ff.; Bartholomeyczik, Äquivalenzprinzip, AcP 166 (1966), 30 ff.; Hans Brox, Fragen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, JZ 1966, 761; Wieacker, Pandektenwissenschaft und

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Dass nun die gleichen Thesen am Anfang einer vermeintlich neuen Entwicklung standen27 und jedenfalls die Grundeinschätzung zum BGB keine wesentlich andere wurde, als sie noch einige Jahre zuvor vertreten worden war, muss nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass die gleichen Leute sie vortrugen. So rekapituliert etwa Hans Dölle28 öffentlich zur BGB-Jubiläumsfeier 1950 noch einmal die gleichen Aussagen, die ihn nur 13 Jahre zuvor zum Beifall für Schlegelbergers „Abschied vom BGB“29 bewogen hatten30: Mit Recht sei behauptet worden, das BGB habe nicht das Tor zum 20. Jahrhundert geöffnet, sondern das 19. Jahrhundert abgeschlossen. „Das will sagen: unsere Kodifikation sei nicht vorwärts gerichtet gewesen, sondern habe sich damit begnügt, den Zustand zu fixieren, der zur Zeit seiner Schaffung tatsächlich bestanden habe und ideologisch von der Mehrheit oder jedenfalls von dem politisch und wirtschaftlich ausschlaggebenden Teil der Bevölkerung vertreten worden sei.“31

Kurz: Es handele sich um eine Kodifikation des liberalen Großbürgertums mit konservativen Ingredienzien und sehr wenigen Ansätzen sozialen Strebens. Logik und Abstraktion gäben den Ton an. Das einzige, was das Buch brauchbar halte, sei die aus der Besinnung auf die wirtschaftlichen und sozialen Zwecke industrielle Revolution (1968); ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung (1974); Viehweg, Ideologie und Rechtsdogmatik (1969), 83 ff.; Hans Merz, Privatautonomie heute – Grundsatz und Rechtswirklichkeit (1970); Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970); L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts (1971); Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens (1974); Weitnauer, Der Schutz des Schwächeren im Zivilrecht (1975); Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung (1978). 27  Methodologisch und inhaltlich, vgl. etwa: W. Köhler, Die Generalklauseln im Neuaufbau des deutschen Bürgerlichen Rechts, SJZ 1946, 165; Mallmann, 50 Jahre BGB, DRZ 1 (1946), 52. 28  Seit 1946 Ordinarius in Tübingen und Direktor des Max-Planck-Instituts für Ausländisches und Internationales Privatrecht. Daneben findet sich etwa auch Heinrich Lange (1900– 1977) ab 1951 bis zu seiner Emeritierung (1967) wieder als Professor in Saarbrücken und Würzburg. 1952 erscheint die erste Auflage seines Lehrbuchs zum BGB AT (bis zur 17. Aufl. 1980; danach fortgeführt von Helmut Köhler); rechtsprogrammatische Einsichten weichen betonter Sachlichkeit; es gilt: „Das bürgerliche Recht ist um der Beständigkeit und politischen Neutralität des Stoffes willen der Liebling der Rechtswissenschaft gewesen.“ (BGB AT, S. 4); „Auf dem Gebiet des Vermögensrechts blieb das materielle Recht im wesentlichen unangetastet.“ (BGB AT, S. 25); zu Lange: W. Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht (1998): „Nipperdey, Felgentraeger, Schmidt-Rimpler, Lehmann, Kunkel, Hueck, Blomeyer, Boehmer, Nikisch, Hedemann, Ulmer und Lange prägten mitunter bis in die 70er Jahre die Entwicklung der bundesrepublikanischen Rechtswissenschaft und die Ausbildung mehrerer Juristengenerationen. Ob dieser personellen Kontinuität auch eine inhaltliche entsprach, ist weitgehend unerforscht (…).“ (S. 4). 29  Schlegelberger, Abschied vom BGB (1937), S. 15: „Das BGB. ist ein Werk der Vergangenheit, das beschleunigter Ablösung bedarf.“; ebenso, wie gesehen, die gesamte Zivilrechtslehre der Zeit; vgl. nur Lehmann, Vom Werden des Volksgesetzbuchs, DR 1942, 1492: „Es ist die Tragik der Gesetzgeber des BGB gewesen, daß sie eine absterbende wirtschaftliche und soziale Epoche, die liberal-individualistische, in Regeln gefaßt haben in einem Zeitpunkt, in dem für das aufmerksame Ohr ihre Totenglocken schon zu läuten begonnen hatten (…).“ Dieser Konsens trägt sich fort bis zur sog. „Schuldrechtsmodernisierung“ 2002 (hierzu unten § 8). 30  Dölle, Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, ZAkDR 1937, 359. 31 Dölle, Festrede (1950), S. 15.

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des Rechts erwachsene Interpretation desselben, soll heißen: die Rechtsfortbildungen, die Dölle dann auch prägend als „Juristische Entdeckungen“ bezeichnet hat.32 Das entspricht bei aller Differenziertheit der Meinungskundgaben dem Grundtenor der gerade vergangenen Zeit. Es gab niemanden, der sich von dieser seit Jahren stetig wiederholten Auffassung der inhaltlichen und sprachlichen Antiquiertheit des BGB kritisch distanziert hätte. Der Blick in die neue Zukunft beginnt mit demselben Blick auf die Mängel des der Vergangenheit zugehörigen BGB: Die Verirrungen einer völkischen Gemeinschaftspolemik seien zwar glücklich überwunden, das alte BGB noch erhalten, aber leider doch immer noch mit seinen alten Mängeln, die nur Dank einer agilen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft trefflich ausgeglichen wurden. Die Zivilrechtswissenschaft habe in Kontinuität hieran anzuknüpfen: „So ist uns das BGB, das gute alte, viel verlästerte und doch so lebenskräftige, erhalten geblieben, und unser Geburtstagsglückwunsch braucht kein Nachruf zu sein. (…) Wir wünschen ihm Glück, daß es die schwere Zeit so gut überstanden hat, aber auch uns, die wir dankbar sein müssen, in all unserem Elend und unserer Rechtsnot wenigstens dieses große Zeugnis deutschen und europäischen Rechtsgeistes noch zu besitzen. Wir schließen dabei vor seinen Mängeln nicht die Augen. Es ist nicht mehr jung und es paßt nicht mehr in allem zu uns. Aber jung und zeitgemäß war es eigentlich auch schon vor 50 Jahren nicht. Es ist, wie Stoll einmal treffend gesagt hat, ‚zu spät gekommen, um Ausdruck eines selbstbewußten Liberalismus zu sein, zu früh, um eine neue soziale Ideenwelt zu verwirklichen.‘ Vieles von dem, was die Kritiker seit einem halben Jahrhundert bemängeln, ist tatsächlich tadelnswert. Trotzdem hat sich das BGB im ganzen durchaus bewährt. Es hat der deutschen Rechtspraxis, voran dem Reichsgericht, jahrzehntelang eine vortreffliche Grundlage für ihr Wirken geboten und sie kaum je daran gehindert, vernünftige, den sich wandelnden Lebensverhältnissen gerecht werdende Entscheidungen zu finden. So können auch wir es gut noch eine Weile in dem alten gewaltigen Bau aushalten. Die Reformpläne sollen nicht begraben sein; es ist viel Brauchbares darunter, auch – die Gerechtigkeit gebietet es zu sagen – unter den Vorarbeiten zum Volksgesetzbuch. Aber es eilt nicht damit. Es gibt dringendere Aufgaben. Warten wir, bis uns wieder ein Gesetzgeber beschieden ist, der den edlen Sinn, die unbedingte Festigkeit und die kenntnisreiche Umsicht hat, die den Schöpfern des BGB zu eigen waren.“33

Das Beste am BGB war also der Umstand, dass es die deutsche Rechtspraxis „kaum je daran gehindert“ hat, „vernünftige Entscheidungen“ zu finden (sic!). Wir erinnern uns an den Lobpreis der Generalklauseln schon bei Ernst Fuchs und dann in der Phase der nationalen und sozialistischen Rechtserneuerung.34  So Titel und Inhalt des Festvortrages zum 42. DJT: Dölle, Juristische Entdeckungen (1957).  Mallmann, 50 Jahre BGB, DRZ 1 (1946), S. 52. Walter Mallmann (1908–1982) war erster Redakteur zunächst der DRZ und dann der Juristenzeitung, galt als unbelastet und eher „zeitkritisch-liberal“, seine eigentliche Profession lag im öffentlichen Recht (Professuren in Frankfurt / ​M und Gießen); vgl. zum Lebensweg die Würdigung von Gerhardt, JZ 1978, 451, sowie die Nachrufe von Strauch, NJW 1983, 1532 und Kübler, JZ 1983, 220. 34  Oben § 6 I.3. (Totale c. i. c.: Treu und Glauben und die herrschende Moral). Ebenso Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 287: Die Rechtsprechung habe „mit stillem und überlegtem Mut gegen die Absicht und Erwartung des positivistischen Gesetzgebers die General32

33

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Die Kontinuität dieser Sicht bis zur 100-Jahr-Feier des ewig gestrigen BGB (eine große Feier ist entsprechend ausgeblieben) und als ideengeschichtliche Metapher zur Begründung der sog. „Schuldrechtsmodernisierung“35 ist dann vor allem von und durch Franz Wieacker in seiner „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ nachhaltig als kulturgeschichtlich begründetes Dogma fixiert worden.36 Überhaupt hat sich vornehmlich Wieacker um eine dauerhafte Deutung des BGB als „spätgeborenes Kind der Pandektenwissenschaft“37 in der Betonung eines diesem zugrunde liegenden überholten „Sozialmodells“ auch nach 1945 bemüht.38 Dieses beruhe, so seine gleichsam als Konglomerat der germanistisch-konservativen und marxistisch-progressiven Kritiken am BGB von Gierke39 und Menger40 vorgetragene These, „auf der Usurpation einer einzigen Klasse der Wirtschaftsgesellschaft: es machte das ‚besitzende Bürgertum‘ zum vornehmlichen Repräsentanten der nationalen Rechtsordnungen, und konnte das nur auf Kosten anderer Klassen und Berufsstände tun“.41 Es bedarf hier keiner ausführlichen Auseinandersetzung mit der relativen Schlichtheit der Kritik zu den Defiziten des BGB – sie hat früh42 und insbesonklauseln mit einer neuen materialen Rechts‑ und Wirtschaftsethik zu erfüllen begonnen …“; daselbst: es „wäre die segensreiche Evolution des bürgerlichen Rechts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung unseres Jahrhunderts ohne die Generalklauseln kaum möglich gewesen.“; ausf. dann aaO. § 26, S. 308 f. 35  Hierzu unten § 8. 36  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1. Aufl. 1952, 2. Aufl. 1967), §§ 22 ff. und insb. §§ 27 ff.: „Das Privatrecht in der Krise des Positivismus“; überwiegend kritische Bestandsaufnahme mit dem Fazit: „Mit all diesen Hemmnissen und inneren Brüchen konnte das Gesetz, wie eine Glocke mit ungleichmäßigem Guß, kein neues Zeitalter einläuten.“ (1952, S. 291). 37 Wieacker, Sozialmodell (1953), S. 15. 38  Wieacker, Sozialmodell (1953); ders., Das bürgerliche Recht im Wandel der Gesellschaftsordnungen (1960), 1 ff.; ders., Pandektenwissenschaft und industrielle Revolution (1968); ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung (1974). 39  Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht (1889), und: ders., Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889); vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 267 ff.: „Folgerichtig spricht … Otto v. Gierke die Entscheidung für das Kollektiv und gegen das Individuum bereits deutlicher aus (…).“ 40  Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen (1890, 3. verb. Aufl. 1904); hierzu Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 269 ff.: „Wenden wir uns dagegen zu der jüngsten Kritik der Pandektenwissenschaft, der sozialistischen, so ist die Entscheidung für die Gesellschaft gefallen (…).“ 41  Wieacker, Sozialmodell (1953), S. 10; zutreffend bemerkt Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 22 (2000), 325/346: „Die Vorstellung, mit dem BGB habe sich das besitzende Bürgertum sein Gesetzbuch gemacht, um die Interessen der übrigen Bevölkerung zu unterdrücken, liegt sowohl auf der Linie der sozialistischen Kritik als auch der Hinweise Gierkes auf den Manchester-Liberalismus.“ 42  Vgl. bereits die ausgewogene Stellungnahme zu den Kritiken gegen den Entwurf bei Planck, Zur Kritik, AcP 75 (1889), 327/406: „Das bürgerliche Gesetzbuch aber darf niemals das Interesse der einen oder anderen Klasse vorzugsweise berücksichtigen, sondern muß unter Abwägung aller in Frage kommenden Interessen die dem Wohl des Ganzen am besten entsprechende Bestimmung treffen (…).“; zum Postulat des „sozialen Rechts“: Hedemann, Fortschritte des Zivilrechts im XIX Jahrhundert (1910), S. 79 ff.: „Verdienst des 19. Jahrhunderts“

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dere in jüngerer Zeit durchaus Widerspruch und Relativierung erfahren.43 Wie gesehen, ging die aufgeklärte Zivilrechtswissenschaft spätestens zu Zeiten des preußischen ALR von der Funktion des Rechts aus, Freiräume für die sittliche Entfaltung „vernünftiger Wesen“ zu schaffen. Dass hier dem einen oder anderen das „Bildungsbürgertum“ (und nicht das Proletariat, die deutsche Volksgemeinschaft, der „Kollektivmensch“, der unaufgeklärte Verbraucher o. ä.) als Idealtypus dieses „vernünftigen Wesens“ erschienen ist,44 braucht ebenso wenig bezweifelt wie näher untersucht werden.45 Die anthropologischen Alternativen sind durchaus begrenzt, prägt doch seit jeher das dem Recht zugrunde liegende Menschenbild nicht nur das Recht (natura enim iuris explicanda nobis est, eaque ab hominis repentenda natura, considerandae leges quibus civitates regi debeant)46, sondern durch seine Ordnungsfunktion letztlich auch wieder den Menschen. Entscheidend für dieses liberale Konzept ist freilich nicht der Zusammenhang mit einer wie auch immer definierten soziobiologischen Rasse oder sozioökonomischen Klasse, sondern seit Kant schlicht der fundamentale Gedanke der nur autonom zu denkenden „Persönlichkeit“. Walter Hallstein hat in seinem Plädoyer für die „Wiederherstellung des Privatrechts“ (1946) zutreffend auf den grundlegenden Zusammenhang von Persönlichkeit und Gemeinschaft hingewiesen und klargestellt, dass die Erneuerung von Gesellschaft und Privatrecht nur in

(sic!); dann geradezu die Formel wendend argumentiert Heinrich Lehmann, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches (1922), S. 22: „Immerhin hat das Gesetz auch dem Gedanken des sozialen Ausgleichs, des Schutzes des wirtschaftlich Schwächeren Rechnung getragen; es ist, wie man gesagt hat, mit einem ‚Tropfen sozialen Öls‘ gesalbt.“ (wortgleich in der 5. Aufl. 1947, S. 21); den Zusammenhang von Persönlichkeit und sozialem Ganzen neuerlich betonend: Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts, SJZ 1946, 1 ff. 43  Vgl. etwa: Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht (1983); Knieper, Gesetz und Geschichte (1996); Dieter Reuter, Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, AcP 189 (1989); ders., Freiheitsethik und Privatrecht (1994), 349 ff.; Horn, Ein Jahrhundert Bürgerliches Gesetzbuch, NJW 2000, 40 ff.; Stürner, Der hundertste Geburtstag des BGB – nationale Kodifikation im Greisenalter?, JZ 1996, 741 ff.; Behrends, Das Privatrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs (2000); Hofer, Freiheit ohne Grenzen? (2001); Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (2001); Zimmermann, Schuldrechtsmodernisierung? (2001); Thiessen, JbjZivRWiss (2003), S. 29 ff.; relativierend auch Lurger, JbjZivRWiss (2003), S. 9, 16 f.; zusammenfassend Rückert / ​HKK (2003), Vor § 1 Rn. 93 ff.: „Nicht nur unter gebildeten Juristen wurde die süffisante Prägung von Franz Wieacker geradezu sprichwörtlich … eine bemerkenswert dezidierte große Geschichtserzählung zum BGB in seiner Gesellschaft, die immer noch treu nacherzählt wird, obwohl man wissen müßte, daß sie den fragwürdigen Liberalismusattacken der Jahre nach 1933 entstammt (…).“ 44  Zum Begriff: Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1 (1993), S. 382 ff. 45  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 274: Das „gebildete Bürgertum“ strebte „bewußt das seinem Menschenbild zukommende Privatrecht an“. 46  Cicero, De legibus I, 17 („Das Wesen des Rechts nämlich ist zu entfalten, und dies ist vom Wesen des Menschen abzuleiten.“). Vgl. zuletzt auch Bydlinski, Das Menschenbild des ABGB (1999); K. H. Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension, ARSP 93 (2007), 493.

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einer neuerlichen Wertschätzung der Individualität als autonomer Persönlichkeit liegen könne: „Der Nationalsozialismus (…) verrät sich in einer unwiderleglichen Weise durch den Satz: ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘. Es ist mehr als ein bitteres Bonmot, wenn man auf die Frage antwortet: wie kann eine Gesamtheit von lauter Nichtsen etwas anderes sein als ein Nichts? (…) Wollen wir die Persönlichkeit wiederherstellen, so heißt das, das Privatrecht erneuern. Denn das Privatrecht ist der Ausdruck der Persönlichkeit als Rechtsinstitution: die Person anerkennen heißt rechtlich, ihr eine Sphäre eigener Verantwortung zuweisen.“47

Mit der demgegenüber immer wieder vorgetragenen These vom fehlenden „socialistischen Oele“48 (das bei und seit Wieacker etwas vorsichtiger „soziales Öl“ genannt wird)49 und der Diskreditierung der kantischen Rechtsphilosophie als „formale Freiheitsethik“ wird deutlich, dass sich hier die alte Kritik an der liberalen Grundkonzeption des BGB und der Abneigung gegen eine „wohlgeordnete Freiheit“ ganz wie ehedem Bahn bricht.50 Und so muss es nicht verwundern, wenn ebenso wie Dölle auch Wieacker in der späteren Fortbildung des bürgerlichen Rechts (insbesondere von 1920–1945) die große Leistung der Privatrechtswissenschaft erblickt, namentlich: ein neues Sozialmodell geschaffen zu haben, indem die „formale Freiheitsethik“ in eine „materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt“ worden und die Rechtswissenschaft so zumeist ganz unbewusst „zu den ethischen Grundlagen des älteren europäischen Gemein‑ und Naturrechts“ zurückgekehrt sei.51 Die für diese Umwälzungen notwendige Interpretation aus dem Geiste einer „sozialen Verantwortungsethik“ schaue wesentlich auf die Sozialfunktionen der Rechtsverhältnisse, die nach Maßgabe vorgegebener oder vertraglich übernommener Verantwortung ausgeübt werde.52 Wenn man in diesem Sinne bis heute von einer Materialisierung des Privatrechts53 spricht, so meint man damit nicht nur ganz allgemein eine Abwendung von einer vermeintlich „formalen Freiheitsethik“, die dem BGB als Geburtsfehler anhafte, sondern auch ganz explizit die Errungenschaft der Vertrauens-

47 Hallstein,

Wiederherstellung des Privatrechts, SJZ 1946, 1/3.  Prägend: Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 13: „… unser Privatrecht muß ein Tropfen socialistischen Oeles durchsickern!“ 49 Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 280; ders., Sozialmodell (1953), S. 17. 50  Zutreffend resümiert Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 22 (2000), 325/347: „Es ist nicht schwer, in der Charakterisiserung des alten BGB die Linien der herkömmlichen Kritik (Klassencharakter des Gesetzbuches, Egoismus, Individualismus, mangelnde soziale Ausrichtung) nun in einer geistesgeschichtlich anspruchsvoller verpackten Weise wiederzufinden.“ 51  Wieacker, Sozialmodell (1953), S. 18. 52 Wieacker, Sozialmodell (1953), S. 20. 53  Hierzu ganz generell auch die Beschreibungen bei G.-P.Callies, Prozedurales Recht (1999); Canaris, Materialisierung, AcP 200 (2000), 273/276 ff.; M. Auer, Materialisierung (2005), S. 22 ff.; HKK / ​Haferkamp, § 242 Rn. 21 ff. 48

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haftung gleichsam als ausdefinierte Krone der Jhering’schen „Entdeckung“54. Das nationale Pathos wird ab 1945 nicht mehr bemüht  – die Betonung einer sozial-kollektivistischen Grundauffassung gegenüber der liberal-individualistischen ist geblieben. Und Jhering wird gleichsam als Kronzeuge bemüht, der „als erster nach dem Sinn des Rechts in einer zukünftigen sozialistischen Welt gefragt“ habe.55 Diese ideologische Eingemeindung in den sozial-revolutionären Geist des 20. Jahrhunderts passte 1942, und sie passte auch wieder (oder: immer noch) nach 1945: Denn „… sehen wir genau zu, so sind das noch dieselben beiden Welten, die um den Rechtswahrer der Gegenwart kämpfen“.56 c) Sozial(istisch)e Kontinuität: Vom Gemeinschaftserlebnis zur „Materialisierung“ „Mehr als je hat heute das Privatrecht den Beruf, den Schwachen gegen den Starken, das Wohl der Gesammtheit gegen die Selbstsucht der Einzelnen zu schützen.“ Otto v. Gierke, 188957

Es ist wichtig, den hier zu Tage tretenden sozialphilosophischen Grundkonflikt genauer ins Auge zu fassen: Wenn bis heute von „Rücksichtnahme“, „Solidarität“, „Kooperation“, „verbundenen Rechtsgenossen“ oder ganz allgemein von der „sozialen Dimension des Privatrechts“  – kurz: von Materialisierung 54  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 309; ders., Sozialmodell (1953), S. 20, nennt namentlich die Theorie Stolls vom „Schuldverhältnis als Organismus“, der bis hierher verfolgte Gedankengang und die Aussagen Stolls sind also mitgedacht: „So bildet … der Begriff des schuldrechtlichen Organismus die theoretische Grundlage für die Erfassung des vertraglichen Schuldverhältnisses als eines gegenseitigen Vertrauensverhältnisses, in dem sich die beiden Parteien nicht als zwei Feinde gegenüberstehen, sondern … zusammenzuwirken haben …“ (Lehre von den Leistungsstörungen, 1936, S. 126); Dölle, Juristische Entdeckungen (1958), 1/9: „Ihering hat mit seiner Entdeckung der sog. Culpa in contrahendo eine überaus weittragende Entwicklung eingeleitet und uns den Weg zu einer gerechten und vernünftigen Beurteilung zahlreicher sozialer Gegebenheiten gebahnt (…)“; bei Larenz, Methodenlehre (1960), werden dann Stoll und das Vertrauensprinzip miteinander verknüpft und insoweit präzisiert: „Auch die Verbindung des Gedankens einer Haftung für culpa in contrahendo mit dem Vertrauensprinzip und mit der Lehre von den Schutzpflichten war eine ‚juristische Entdeckung‘, mit der weit über die im Gesetz enthaltenen Ansatzpunkte hinaus die Möglichkeit zu einer Fortbildung des Rechts gewonnen wurde.“; grundlegend für die neuere Debatte dürfte hier schließlich sein: Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/173 („Sozialbindung der Selbstgestaltungsmacht“); Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 442 Fn. 16, nimmt den Gedanken auf und verknüpft ihn mit dem der Vertrauenshaftung als „Korrelat der Privatautonomie“; vgl. auch 2. FS Larenz (1983), wo Canaris für die Haftung kraft „Sonderverbindung“ von „den gesteigerten Geboten für den Verkehr zwischen verbundenen Rechtsgenossen“ spricht (S. 34); zuletzt ders., Materialisierung, AcP 200 (2000), 273/276 ff. (allgemein)/304 ff. (speziell zur c. i. c.). 55  Wieacker, Rudolf von Jhering. Eine Erinnerung zu seinem 50. Todestage (1942), S. 6; wortgleich 24 Jahre später in der nahezu unveränderten 2. Aufl. (nur einige begrifflich notwendige Glättungen: aus dem „Rechtswahrer“ wurde etwa wieder ein „Jurist“ u. ä.) zum 150. Geburtstag (1968). 56  Wieacker, Rudolf von Jhering (1942), S. 6. 57 Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), S. 29.

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gesprochen wird, so steht dieses Gespräch tatsächlich in einer ungebrochenen Tradition von Beginn des 20. Jahrhunderts an. Die bereits um die Jahrhundertwende (1900) einsetzende Zivilisationskritik58 war eine Individualismuskritik, eine Kritik an persönlicher Raffgier, d. h. an einem in der Gesellschaft Platz greifenden Materialismus (im vulgär-philosophischen Sinn) und insoweit eine offenbar erforderliche Gegenreaktion zum radikalen Wirtschaftsliberalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der auch (vor allem in marxistischer Tradition) als „Kapitalismus“ bezeichnet wurde.59 So hat etwa Fritz Berolzheimer (1868–1920), Mitbegründer und neben Josef Kohler maßgeblicher Herausgeber des Archivs für Rechts‑ und Wirtschaftsphilosophie (seit 1907), den ethischen Grundgegensatz der Zeit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Einleitung zu seiner Analyse des sittlichen Verfalls der Gesellschaft als Gegensatz zwischen dem nationalen Gemeinschaftsgedanken in den Befreiungskriegen gegenüber dem materialistischen Individualismus seiner Zeit gekennzeichnet: „Ein Jahrhundert nur trennt uns von der Zeit der großen Befreiungskämpfe – aber eine Welt liegt zwischen damals und heute: dort eiserne Tüchtigkeit, hier gleißender Mammonsdienst; dort der altpreußische Imperativ der Pflicht, der jeden Einzelnen mit seinem ganzen Wollen und Können in den Dienst der erhabenen Idee stellt; hier amerikanisiertes egozentrisches Ringen um Macht und Mögen, dem alle Umwelt nur als Mittel gilt zu eigener Förderung.“60

Nach „Gründerboom“ und „Gründerkrach“ in der Kaiserzeit ging es um die Suche nach neuen Werten: „Hinaus aufs Land!“, „Jugendbewegung“ und andere „Gemeinschaftserlebnisse“ stehen exemplarisch für ein gemeinschaftliches Streben zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ferdinand Tönnies (1855–1936) prägte den einflussreichen Begriff der „Volksgemeinschaft“ und wirkte ab 1900 mit seiner Differenzierung zwischen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ zunehmend auf die Intellektuellen des Kaiserreiches und dann vor allem der Weimarer Republik. Die 2. Auflage seines Hauptwerkes „Gemeinschaft und Gesellschaft“ erschien erst 1912, dann aber in zahlreichen Neuauflagen in kurzer Folge und wurde ein geisteswissenschaftlicher „Bestseller“ der Weimarer Republik.61 Die 58 Vgl. nur Simmel, Philosophie des Geldes (1900); Berolzheimer, Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts (1914). 59  Über den Begriff des „Kapitals“ wird ein an Gewinnmaximierung orientierter Typus von Mensch, der Kapitalist, von diesem ausgehend eine herrschende „Klasse“ und schließlich die von dieser geprägte und organisierte Gesellschaft als „Kapitalismus“ charakterisiert: „(…) also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft.“ (Marx, Das Kapital III, 1894, 52. Kap.). Differenzierte sozio-ökonomische Beschreibungen dann insb. bei Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus (1902) und Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904); Biermann, Die Anschauungen des ökonomischen Individiualismus (1905). 60  Berolzheimer, Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts (1914), S. 1. 61  Die 1. Aufl. trug noch den bezeichnenden Zusatztitel: „Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen“.

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„Volksgemeinschaft“ war als Gegenbegriff zur von sozialen Konflikten zersplitterten Gesellschaft für alle politischen Seiten (egal ob „national“, „sozialistisch“, „kommunistisch“ oder „konservativ“) positiv belegt: Gemeinwohl gegen Sonderinteressen, Einheit gegen Pluralität, Verbundenheit gegen Individualismus. Die Gemeinschaftsrhetorik wurde praktisch gelebt in der Jugendbewegung: „Wandervogel“, „Landvolkbewegung“, „Jungkonservative“, „Nationalrevolutionäre“, „Jungdeutscher Orden“ usw.  – eine lebendige „Volksgemeinschaft“ war das Ideal jeder künftigen Gesellschaft der in wachsenden Städten und kapitalistischen Märkten aufwachsenden Jugend nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches.62 Nach den gesellschaftlichen und ökonomischen Wirren der Weimarer Republik war schließlich der Nationalsozialismus der Gipfel aller denkbaren „Gemeinschaftserlebnisse“, das Dogma „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“ quasi Religionsersatz. Nach 1945 formierte sich die gescheiterte Sehnsucht nach sozialistischer Gemeinschaft neu. Im Osten Deutschlands wurde statt der nationalen die marxistisch / ​leninistische Variante des Sozialismus zur Staatsdoktrin, aber auch im Westen kanalisierte sich der progressive Kollektivismus in einer Betonung sozialer Gleichheit. Der politisch entfesselte national-germanische Sozialdarwinismus war praktisch besiegt, die Doktrin vom „Recht des Stärkeren“ hatte kapituliert. Der Tropfen „sozial(istisch)en Oeles“ konnte nun tatsächlich ausschließlich dem „Schutz des Schwächeren“ gewidmet sein. Tiefenpsychologisch ist diese Wendung durchaus spannend: Die völkischnaturalistische Ideologie der Stärke war gescheitert,63 das germanische Gemein62 Auf die mit dieser Entwicklung verbundenen Pathologien reagiert etwa schon Plessner, Die Grenzen der Gemeinschaft (1928); zur Vorgeschichte Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (1956). 63 Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 347 spricht recht sinnig von einer „Ethik des Tierreichs, wo die Art um ihr Dasein kämpft, und … einem Rechtsbild, dem sich die Geschichte darstellt wie dem Zoologen die Überwältigung der Hausratte durch die stärkere Wanderratte (…).“ In der Tat war der Sozialdarwinismus eine der herrschenden Geistesströmungen seit der Mitte des 19. Jh. (nicht nur in Deutschland). Wenn Wieacker in diesem Kontext („Naturalismus in der Rechtswissenschaft“, aaO., S. 332 ff./334 f.) Jhering als zentralen Vertreter (derer, die „besonders rasch auf Zeitstimmungen reagierten“) dieser Denkrichtung vorführt („Wir hörten schon in Jherings ‚Kampf ums Recht‘ Darwins Struggle for Life anklingen“), dann wird deutlich, warum er (Wieacker) Nietzsche und Jhering als geistige Vordenker dieser „Revolution der europäischen Rechtskultur“ verantwortlich benennen möchte (vgl. Privatrechtsgeschichte, 1952, S. 267, oben Eingangszitat bei b); ausf. Wieacker, Rudolf v. Jhering (1942), S. 39 ff.; ders., Jhering und der „Darwinismus“ (1973), S. 33 ff. Dieses Bemühen, einen renommierten Rechtsgelehrten für die sozialdarwinistische Seite der NS-Ideologie zu benennen, bedarf der Relativierung, die hier freilich nur angedeutet werden kann: Der Entwicklungsgedanke ist spätestens mit der christlichen Heilslehre ideengeschichtlich im kulturellen Denken Europas verankert und im Zuge der Aufklärung auch ein allgemeines säkularisiertes Gedankentheorem der Geisteswissenschaften, also älter als Darwins Evolutionsbiologie. Jhering entwickelt seinen evolutionstheoretisch und als Universalrechtsgeschichte konzipierten „Geist des römischen Rechts“ (1. Bd. 1852) ohne Kenntnis der noch nicht veröffentlichten Darwin’schen Schrift (1859; dt. zuerst 1860) und steht ganz in der durch

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schaftsbewusstsein bis ins Mark erschüttert: die „deutsche Volksgemeinschaft“ hatte sich nicht in der verheißenen Weise als die stärkste Rassengemeinschaft im Kampf der Völker (um „Blut und Boden“) erwiesen. Ob und inwieweit Deutschland überhaupt wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen werden würde, war keineswegs klar und musste aus dem Geist der gelebten sozialdarwinistischen Ideologie heraus als ein Akt des Erbarmens gegenüber dem unterlegenen Schwächeren erscheinen.64 Kurz: Stärke war keine sinnvolle Kategorie mehr im deutschsprachigen sozialpolitischen Diskurs der neuen Republik.65 Eine geradezu existenzialistische Sympathie für die Schwäche (das schwache Volk, die schwächere Klasse, die schwächere Vertragspartei etc.) verband sich von nun an unter dem behaglichen Dach der noch bis eben abgelehnten materialistisch orientierten westlich-liberalen Wertordnung mit der marxistischen Ideologie der Unterdrückung und dem emphatischen Plädoyer für materiale Gleichheit. Übertragen auf die privatrechtstheoretische Entwicklung lässt sich die Kontinuität sozial(istisch)er Ölung des Rechts auch kurz so formulieren: Otto v. Gierke war gestern, Anton Menger gehören Gegenwart und Zukunft66: „Sein (Mengers) verletztes Rechtsgefühl erkennt, daß die abstrakte privatrechtliche Gestaltungsfreiheit, d. h. Gestaltungschance, bei wirtschaftlich ungleicher Ausgangsstellung die Aufklärung tradierten Vorstellung, von einem Fortschritt in der Geschichte; kurz: Jherings Geschichtsphilosophie ist (wenn überhaupt) von Hegel geprägt (den er im Geist auch öfter zitiert) nicht aber von Darwin oder Spencer. Nietzsches gegen den Fortschrittsglauben gewendeter Nihilismus, sein „Wille zur Macht“ oder die „Genealogie der Moral“ (erschien 1887) hat Jhering vermutlich gar nicht gelesen, jedenfalls haben sie ihn schon zeitlich nicht mehr prägen können. Insb. geht es bei Jherings „Kampf ums Recht“ um die Entfaltung der Gerechtigkeitsidee und seine Bewahrung im Streiten für sein Recht, nicht um die Grundlegung einer sozialdarwinistischen Theorie des Rechts des Stärkeren. 64  Henry Morgenthau: „Es ist von allergrößter Bedeutung, daß alle Deutschen erkennen, daß Deutschland diesmal eine besiegte Nation ist.“; zur gesamtpolitischen Situation Tony Judt, Geschichte Europas (2006), S. 124 ff.: „Die unmögliche Lösung“; auf dem Konstanzer Juristentag im Juni 1947 bekannte man sich zu einem Recht „das für alle, Sieger und Besiegte, gelte und für die ganze Welt“. 65 Wieacker etwa geht sogar soweit, die Selbsthilfe-Theorie Jherings (Entstehung des Rechts aus der Gewalt: Geist I, §§ 8 ff.) als „sozialdarwinistisch“ rundheraus abzulehnen (vgl. dens., Römische Rechtsgeschichte, 1988, S. 251 f.). Diese Haltung ist paradigmatisch für die historisch arbeitende Geisteswissenschaft in der 2. Hälfte des 20. Jh.: Gewalt, alles Physische und Biologische werden als historische Entwicklungsfaktoren geradezu kategorisch ausblendet. Die Notwendigkeit, selbst Grimms Märchen gewaltfrei und tierfreundlich zu erzählen (etwa: „Grimms Neue Märchen 2.0“), ist da nur ein merkwürdiges Nebenprodukt dieser neuen Art der „kinderfreundlichen“ Geschichtserzählungen. 66  Angedeuteter Abschied von Gierke als geistigem Vordenker eines sozialen Privatrechts bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 269: Sein Lebenswerk „scheint veraltet“, er ist, unter Bezugnahme auf Nietzsche, „wie einige andere bedeutende deutsche Denker, ‚von gestern und morgen‘; er hat ‚noch kein Heute‘.“; und im Anschluss an E. Wolf (Große Rechtsdenker): „viel mehr“ Vorläufer als Epigone. In der Kritik von Menger wird hingegen die „Schicksalsfrage des bürgerlichen Rechts“ erkannt: „Wenn die vom klassischen Liberalismus postulierte natürliche Harmonie der Betätigungsfreiheit entweder unmöglich oder zerstört ist, muß die privatrechtliche Gleichheitschance zur Waffe des Starken gegen den Schwachen werden.“ (Wieacker, aaO., S. 270).

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das Individuum mit der geringeren Chance auf die Dauer in Unfreiheit bringt, wie denn überhaupt das Privatrecht nach dem Verlust der orientierenden Rechtsidee zum Mittel der Klassenherrschaft, also auch der Ausbeutung der wirtschaftlich schwächeren Klasse werden kann.“67

Der „Verlust der orientierenden Rechtsidee“ ist in dieser Lesart bereits mit der abstrakten „Neutralität“ des „Positivismus“ und seinen „Entartungen“ in einer dem Leben abgewandten „Begriffsjurisprudenz“ und einem der Wirklichkeit entfremdeten „Gesetzespositivismus“ eingetreten. So wie der BGB-Gesetzgeber „die Bildung einer proletarischen Front im Volkskörper noch nicht gesehen“ habe,68 so wurde – spinnen wir den Gedanken metaphysischer „Wirklichkeitsferne“ weiter – von den meisten Anhängern der völkischen Bewegung die eigene Schwäche allenfalls 1945 mit dem Untergang des „tausendjährigen Reiches“ wahrgenommen. Welt und Weltanschauung lagen in Trümmern. Die weniger geistreichen Führer und Anhänger dieser sozial-nationalen Herrschaftsideologie sind konsequent an dieser ihrer Schwäche zerbrochen. Nur ein wichtiger Teil der zwar grundsätzlich weltanschaulich korrumpierten, gleichwohl doch weiterhin persönlich und institutionell einflussreichen akademischen Eliten konnte sich immer noch oder neu als intellektuelle Avantgarde einer gleichsam historisch notwendigen sozialen Entwicklung deuten: Der Hegelianismus verband rechte und linke Geistesströmungen nicht nur in der Epigramm gewordenen Gewissheit, dass die Vernunft sich in der Geschichte verwirkliche, sondern vor allem auch darin, dass es eine Wirklichkeit jenseits dessen gibt, was es als „Positivismus“ zu bekämpfen und zu überwinden galt.69 Vereinfacht könnte man auch sagen: Die von der Wirklichkeit der Geschichte besiegten Rechtshegelianer waren geschichtsphilosophisch immer noch Hegelianer genug anzuerkennen, dass sich offenbar der von Marx und Engels geprägte stärkere Linkshegelianismus als Emanation des „Weltgeistes“ verwirklichte und also diesem die Zukunft und weitere Entfaltung gehöre. Es war dann ja auch nicht zufällig diese geistige Strömung, die das intellektuelle Klima in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur in Gestalt der „Frankfurter Schule“ und „Studentenrevolte“ und auch nicht nur in der Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat.70 67  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 270; auch: „Er (Menger) argumentiert mit einer Wirklichkeitsanalyse, welche die wahre soziale Funktion des scheinbar abstrakten und neutralen Privatrechts … schonungslos enthüllt“; seine „Analyse“ sei „nach dem Stand seiner Zeit unwiderleglich und heute nicht veraltet.“ 68  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 290. 69 Umfassende Nachweise hierzu bereits oben § 6 I.3.b). Eine allgemeine Wirkung auf das Rechtsdenken der Zeit konnte nicht ausbleiben, doch insb. in dem Werk Wieackers haben die Zentralthesen des Neuhegelianismus (Überwindung des Positivismus; wahre Erkenntnis schließt eine Epoche ab: „… die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“) die philosophische Strömung selbst hat überlebt und ihre nachhaltigste Manifestation auf die Deutung der deutschen Privatrechtsgeschichte gefunden. 70 Ausf. Darstellung der wirkmächtigen sozialistischen und kommunistischen Ideologien im

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In der Kontinuität jedenfalls des hiermit verbundenen allseitigen sozialistischen Strebens liegt in der Tat die wesentliche „Kontinuität“ in der Privatrechtsentwicklung des 20. Jahrhunderts, wie sie Franz Wieacker in der 2. Auflage seiner Privatrechtsgeschichte (1967) als „bleibenden gemeinsamen Zug“ trotz aller ideologischen und weltanschaulichen Brüche zwischen Kaiserreich, Weimarer und Bonner Republik ausgemacht hat: „die Entwicklung vom bürgerlichliberalen zum sozialen Rechtsstaat“.71 Stritt man während der NS-Zeit durchaus über die Frage, wieweit im Privatrechtsverkehr die „Rücksicht“ gegenüber „schwächeren Rechtsgenossen“ zu treiben sei,72 so kam die neuerliche sozial(istisch)e Privatrechtserneuerung Europa der Nachkriegszeit: Judt, Geschichte Europas (2006); auch Helga Schultz, Europäischer Sozialismus – Immer anders (2014). 71  Privatrechtsgeschichte (2. Aufl. 1968), S. 539; kritisch Rückert, Apologie, Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531/555 ff. Wieacker trägt aber im Grund wirklich nur eine These für das Privatrecht vor, die spätestens in der Weimarer Republik gängig und unbestritten war; so sprach insb. Heinrich Lehmann schon 1919 von einem „Sozialisierungsgedanken“ und einer „durch das Vordringen der Sozialisierungsidee bewirkten Umformung unseres Denkens“ (Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1919, 2. Aufl. 1922, S. 10 f.: „Für das allgemeine Privatrecht beschränkt sich die Sozialisierung auf die Durchführung des Gemeinschaftsgedankens, die Zurückdrängung der egoistischen Einzelinteressen zugunsten der Gesamtheit und zugunsten des wirtschaftlich Schwächeren.“; ders., AT, 5. Aufl. 1947, S. 8). Das ist nicht wirklich überraschend, war doch eine sozialistische Revolution nach dem Vorbild der kurz zuvor erfolgten Oktoberrevolution in Russland in Deutschland knapp gescheitert; jedenfalls aber kommunistische und sozialdemokratische Ideen nicht nur weit verbreitet, sondern zumal letztere in der Anfangsphase der Weimarer Republik prägend. Im Übrigen muss man ganz klar sehen, dass die wesentliche „Sozialisierung“ im Arbeitsrecht vor sich ging, das aus dem Dienstvertragsrecht der §§ 611 BGB heraus sich als „Arbeitnehmerschutzrecht“ zwischen Privat‑ und Sozialrecht völlig neu konstituierte. Zu alledem insb. K. W.  Nörr, Zwischen den Mühlsteinen (1988): „sozialpolitischer Konsens“ (S. 12); Dilcher, AcP 184 (1984), S. 246/266 schließt sich Wieacker uneingeschränkt an: „Das Verständnis unserer Rechtsordnung als einer sozialstaatlichen, auch im Bereich des Zivilrechts, drang über Rechtsprechung und Lehre in das bürgerliche Recht ein, lange ehe das Grundgesetz dem einen verfassungsrechtlichen Ausdruck gab.“ Als offene Frage formuliert Rückert, NJW 1995, 1251/1259: „Ist nicht über feindliche Fraktionen hinweg tatsächlich eine große Kontinuität im ‚Jahrhundert des Sozialismus‘ (Hayek) seit ca. 1880 zu beobachten?“ 72 Dezidiert ablehnend etwa LG Dresden, JW 1933, 2782; Witten, DRZ 1934, 116; Bull, Die Bindung an das Gesetz, AcP 139 (1934), 337/342: „Der nationalsozialistische Staat kennt keinen allgemeinen ungeschriebenen Grundsatz eines Schuldnerschutzes über die bestehenden Schuldnerschutzvorschriften hinaus. Im besonderen ist nicht einmal ein politischer Wille, der auf einen unbedingten Schutz des Schwächeren gerichtet wäre, Bestandteil der nationalsozialistischen Einstellung.“ Bedingtheit und Problem werden deutlich bei Heinrich Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 11 einerseits: „Darüber hinaus verlangt die sozialistische Gestaltung des Schuldrechts einen Schutz des Schwachen in seinen lebenswichtigen Belangen. Es geht nicht an, wirtschaftlich schwächere oder weniger erfahrene Volksgenossen unbilligen Auswirkungen der Vertragsfreiheit zu überlassen.“; andererseits: „Indessen erfordert gerade das Gemeinwohl eine vorsichtige Abwägung bei der Einräumung des richterlichen Gestaltungsrechtes und bei der Anwendung zwingender Vorschriften im Privatrecht. Eine Weltanschauung, die der kämpferischen Persönlichkeit und dem Führergedanken wieder die ihnen gebührende Stellung verschafft hat, kann nicht daran denken, dem einzelnen die Verantwortung für sein eigenes Schicksal abzunehmen und in der verweichlichenden Art des Wohlfahrtsstaates jedem zur Seite

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nach 1945 weithin ohne Orientierung auf „Gemeinwohlinteressen“ aus73 und fokussierte (gleichsam individual-sozialistisch) fast ausschließlich auf den Schutz des Schwächeren im Privatrecht. So trägt nun ausgerechnet einmal mehr Heinrich Lange die neue Idee vom „Schwächeren“ in die Grundlehren des BGB: „Die Vertragsteile kennen ihre Verhältnisse und Ziele am besten. Das gilt jedoch nur solange, wie die Vertragsteile in der Lage sind, ihre Bedingungen mit gleichen Kräften auszuhandeln. Wo dieses Gleichgewicht nicht gegeben ist, vor allem beim wirtschaftlich oder sozial schwachen Gegner, müssen Gesetz und Richter eingreifen. Dieser Eingriff erscheint heute nicht mehr als unwillkommener Eingriff, sondern als eine notwendige Ergänzung der Vertragsfreiheit.“74

Von Otto v. Gierke (1889) und Anton Menger (1890) über Heinrich Lange (1947) bis zur ‚Entdeckung‘ der „Vertragsparität“ aus dem Geist der Vertragsfreiheit in der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts75 (1993) – in diesem immer noch grundlegend sozial(istisch)en Interventionismus liegt die sozialethische Kontinuität der Privatrechtsentwicklung des 20. Jahrhunderts, aber auch in der ewigen Debatte um die Frage, wann und wie weit dieser soziale „Eingriff“ in die Vertragsfreiheit „willkommen“ oder „unwillkommen“ sei. Die rechtswissenschaftliche Diskussion hat sich in der zweiten und dritten Generation ihrer Teilnehmer in einer vermeintlich geistesgeschichtlich autonomen „privatrechtlichen Dogmatik“ nahezu vollständig von ihren ideengeschichtlichen Wurzeln und der maßgeblichen sozialphilosophischen Debatte ab‑ bzw. aufgelöst. Der Geist ging verloren, die dogmatische Form blieb: Die culpa in contrahendo wurde in der Gestalt der Vertrauenshaftung die zentrale dogmatische Hülse für sozialethisch gefühlte Korrekturen zugunsten der schwächeren Partei, ein „Korrelat der Privatautonomie“ in einer im Grunde weiterhin zu stehen und für jeden fürsorglich zu handeln. Eine Rechtsordnung, die die Bedeutung der persönlichen Tatkraft für die Ordnung des Wirtschaftslebens erkannt hat und die den Lebenswillen des einzelnen bewußt zur Erreichung immer höherer Leistungen in der Gemeinschaft einsetzt, wird auch vor Mitteln nicht scheuen, die notwendig sind, die Einzelleistung anzuspornen und der tatkräftigen Persönlichkeit Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Das rechtspolitische Mittel hierzu ist die schuldrechtliche Vertragsfreiheit (…).“ 73  Vgl. etwa das Fazit bei Heinrich Stoll, Leistungsstörungen (1936), S. 12: „Von der privaten Tatkraft muß die Beachtung des Gemeinwohls als des obersten Zieles stets verlangt werden und ihre Ausartungen müssen mit Entschiedenheit unterdrückt werden; aber sie darf nicht in einem Netz zwingender Vorschriften erstickt und durch die ständige Gefahr der Anrufung richterlicher Vertragsgestaltung gelähmt werden. Daher kann im Privatrecht dem Schutzgedanken durch Einführung zwingender Vorschriften und Erweiterung des richterlichen Gestaltungsrechts nur bei lebenswichtigen Rechtsverhältnissen oder zur Schlichtung von Streitfragen bei außergewöhnlichen Verhältnissen Rechnung getragen werden.“ 74 Heinrich Lange, BGB. Allgemeiner Teil (1947), S. 211. 75  BVerfG, Beschluss v. 19. 10. ​1993 – 1 BvR 567/89 (BVerfGE 89, 214), Leitsatz: „Die Zivilgerichte müssen – insbesondere bei der Konkretisierung und Anwendung von Generalklauseln wie § 138 und § 242 – die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG beachten. Daraus ergibt sich ihre Pflicht zur Inhaltskontrolle von Verträgen, die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind.“

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liberalen Privatrechtsordnung. Nur vor diesem Hintergrund ist es dann überhaupt verständlich, warum spätere Rechtshistoriker sich so sehr darum bemüht haben, Jhering auch mit einem gleichsam politisch fortschrittlichen Prädikat in Verbindung zu bringen. Mit Jhering selbst und seiner culpa in contrahendo hat das freilich nichts zu tun.76 „Wir verdanken den Amerikanern eine große Bereicherung der Sprache durch den bezeichnenden Ausdruck weasel-word. So wie das kleine Raubtier, das auch wir Wiesel nennen, angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussaugen kann, ohne daß man dies nachher der leeren Schale anmerkt, so sind die Wiesel-Wörter jene, die, wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben. Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort sozial. Was es eigentlich heißt, weiß niemand (…).“77

Hayek formuliert hier die gleiche Einsicht, wie sie bereits Planck (1889) gegenüber der Kritik von Gierke formuliert hatte: „Die Worte ‚social‘, ‚socialpolitisch‘, ‚socialrechtlich‘ sind in neuerer Zeit Schlagworte geworden, welche in verschiedenem Sinne gebraucht werden (…).“78 Bereits 1919 sieht Hedemann alle Debatten „überklungen durch das Wort sozial“ und hierin „eine Niederdrückung des Individuums unter die Regel, unter das Schema, unter einen unabänderlichen Gemeinschaftswillen.“79 Der Begriff selbst wird bei ihm zu einer merkwürdigen Paradoxie: „Heute ist es sozial, das Individuum gegen das Soziale zu schützen.“80 Man hat sich angewöhnt, diese Kontinuität in der Suche nach immer mehr „Schutz“ des Individuums als „Materialisierung“ des Privatrechts zu bezeichnen. 2. Wissenschaftliche Askese: Epoche des dogmatischen Positivismus „Die Fortbildung des bürgerlichen Rechts nach 1900 scheint in der Lebendigkeit und Elastizität, die vor allem der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in etwas geringerem Maße auch der Zivilrechtswissenschaft eigentümlich war, dem herrschenden Gesetzespositivismus ein günstiges Zeugnis auszustellen. In Wahrheit war es ein Zeichen für die fortwirkende geistige Kraft der Pandektenwissenschaft und … der ethischen und intellektuellen Gesundheit des deutschen Ziviljuristen (…).“ Franz Wieacker, 195281

Es geht mit Gedanken und Begriffen wie mit dem menschlichen Gedächtnis: Es gibt ein Vergessen, das einerseits reinigend und vitalisierend ist, andererseits das 76  „Fasse ich alles zusammen, was ich bisher gesagt habe, so möchte ich diesen Ausruf (Wehe dem Kläger, wohl dem Beklagten!) überhaupt als Parole unserer modernen Jurisprudenz und Praxis bezeichnen (…) der Schuldner nicht der Gläubiger ist es, der die Sympathie erregt: lieber hundert Gläubigern eclatantes Unrecht thun, als möglicher Weise einen Schuldner zu streng behandeln.“ (Jhering, Kampf ums Recht, S. 89). 77  Hayek, Wissenschaft und Sozialismus (1976); in: Gesammelte Schriften, Abt. A, Bd. 7 (2004), S. 61 f. 78 Zur Kritik des Entwurfes, AcP 75, (1889), 327/405. 79  Hedemann, Das bürgerliche Recht und die neue Zeit (1919), S. 15/12. 80  Hedemann, Grundzüge des Wirtschaftsrechts (1922), S. 31. 81 Privatrechtsgeschichte (1952), S. 306.

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Phänomen von vermeintlich neuen (Wieder‑) „Entdeckungen“ mit sich bringt. So ging es, wie wir schon ahnen, mit der bis heute assoziierten „Vaterschaft“ für die Vertrauenshaftung. Sie wird gleichsam neu der staunenden Rechtswissenschaft präsentiert, ohne dass die geistes‑ und dogmengeschichtlichen Wurzeln präsent wären. Das wiederum ist freilich nicht unbedingt Folge einer bewusst gesteuerten Anamnese, sondern weist neben der hierin zum Ausdruck kommenden mangelnden historischen Reflexionskraft der jüngeren Zivilrechtswissenschaft vor allem auf ein rechtstheoretisches Grundthema, das sich in der Frage formulieren lässt, ob es eine „reine“ Rechtswissenschaft, d. h. eine „reine Rechtslehre“, die ohne Rekurs auf historische, philosophische und sozialwissenschaftliche (insbesondere soziologische und ökonomische) Grundannahmen auskommt, geben kann. Oder anders gefragt: Gibt es im Diskurs über Recht tatsächlich eine Argumentation, die eine „autonom“ juristische ist, eine „autonom“ juristische überhaupt sein kann? In noch weiter zugespitzter Form lautet die Frage dann so: Gibt es eine Rechtswissenschaft, die gleichsam weltanschaulich voraussetzungslos und so verstanden unpolitisch sein könnte? Hier nun liegt ein zentraler Streitpunkt über den Kern der Jurisprudenz als Wissenschaft seit dem Beginn einer ernsten Reflexion über diesen Gegenstand.82 Hier liegt ein wesentlicher Grundkonflikt, der im „Kampf um die Rechtswissenschaft“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst in der Methodendebatte der Freirechtsbewegung begann und dann in den rechtstheoretischen Disputen der Weimarer Zeit: im Staats‑ und Verfassungsrecht namentlich pointiert zwischen Carl Schmitt (1888–1985) auf der einen und Hans Kelsen (1881–1973) auf der anderen Seite,83 und im Privatrecht zwischen dem jungen Karl Larenz 82  Ein ausf. Nachweis ist hier nicht möglich, eine kleine Auswahl an Literatur mag genügen: Nach Feuerbach, Ueber Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft (1804); Julius v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848); Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868); stellte sich die Frage insb. mit Blick auf die Sozialwissenschaften (Soziologie und Ökonomie) neu: Erdmann, Über die Stellung der Rechtswissenschaft vor dem Richterstuhl der Laien und der Schwesterwissenschaften (1875); Kuhlenbeck, Die Rechtswissenschaft in ihren Beziehungen zu anderen Wissenschaften (1905); Nussbaum, Über Aufgaben und Wesen der Jurisprudenz, ZSozialW 9, 1 ff.; Bozi, Im Kampf um ein erfahrungswissenschaftliches Recht (1917); Walter Jellinek, Schöpferische Rechtswissenschaft (1928); Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft (2 Bd. 1932/6); Jerusalem, Kritik der Rechtswissenschaft (1948); Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: Kaufmann / ​Hassemer (Hrsg.) Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (1977), S. 174 ff.; Diederichsen, Die Eigenständigkeit der Jurisprudenz (1978), 283 ff.; Mayer-Maly, Anmerkungen zu einer Theorie der wirklichen Jurisprudenz, JBl. 1984, 6 ff.; Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders., Recht – Moral – Ideologie (1981), S. 48 ff.; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (8. Aufl. 2015) m. w. N. 83  Schmitt steht dabei für einen juristischen Universalismus, der die Rechtswissenschaft nicht nur explizit in die Politik, sondern die Soziologie, die Geschichtswissenschaften und Theologie einbindet. Zur Jurisprudenz als Rechtswissenschaft äußert er sich insb. in zwei Monographien: „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“ (1934) und: „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“ (1950). Die geistige Breite seines Zugangs zum Recht macht sein

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(1903–1993) einerseits und dem Nestor der Zivilrechtswissenschaft Phillip Heck (1853–1943) andererseits ausgetragen wurde.84 Die Vertreter einer „reinen“ (Kelsen) bzw. „philosophiefreien“ (Heck) Rechtswissenschaft waren der geistesgeschichtlichen Auflehnung gegen das, was bereits vor 1933 als „Positivismus“ in allen Teilen der Geisteswissenschaften bekämpft wurde, unterlegen. Und hierin wiederum scheint nach einem allgemeinen Gesetz geschichtlicher Pendelbewegungen nun auch der wesentliche Grund dafür zu liegen, dass nach jener Phase radikal-politisierter und ideologisch materialisierter Zivilrechtswissenschaft neuerlich ein überwiegend entpolitisierter rechtswissenschaftlicher Positivismus beginnt, dessen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dafür steht, dass der Begriff „Zivilrechtsdogmatik“ nicht nur positiv konnotiert, sondern gleichsam zum Inbegriff zivilrechtlicher Wissenschaftlichkeit überhaupt geworden ist. Die metaphysischen „Rechtserneuerer“ von gestern wurden die „Zivilrechtsdogmatiker“ von heute. Diese neue Phase des Positivismus zu einer Zeit, in der eine Renaissance des Naturrechtsdenkens eingeläutet war und auf anderer Ebene „Rückwege zur materialen Gerechtigkeit“85 gesucht wurden,86 mag erstaunen, ist aber doch relativ leicht dadurch erklärt, dass das Bürgerliche Recht seinem Gegenstande nach als am wenigsten, wenn nicht gar als überhaupt nicht korrumpiert galt.87 Nach außen hin bedurfte es hier keiner Berufung auf überpositives Recht zur Läuterung von Fehlentwicklungen, sondern man konnte, unter Fortlassung „begrifflicher Übertreibungen jüngerer Vertreter der Zivilrechtswissenschaft“88, ganz nüchtern an die dogmatischen Diskurse seit Inkrafttreten des BGB anknüpfen. Denken ganz unabhängig von seiner nationalsozialistischen Verstrickung dauerhaft zu einer intellektuellen Herausforderung. Demgegenüber hat sich Kelsen, der manchen als „Jurist des 20. Jahrhunderts“ (Horst Dreier) gilt, entsprechend der wissenschaftstheoretischen Grundhaltung der „Wiener Schule“ um die Rechtswissenschaft als einer reinen „Normwissenschaft“ bemüht, aus der alles andere (Politik, Philosophie, Soziologie usw.) herauszuhalten sei. Der Klassiker hierzu: Reine Rechtslehre (1934, 2. Aufl. 1960). Ausf.: Friedrich, Der Methoden‑ und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, AöR 102 (1977), 160 ff.; Wolfgang März, Der Richtungs‑ und Methodenstreit der Staatsrechtslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus (1994), S. 75 ff. 84 Hierzu bereits oben § 6 I.3.c). Larenz, Rechts‑ und Staatsphilosophie der Gegenwart, 1931 (2. Aufl. 1935); ders., Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (1934); dagegen: Heck, Die Interessenjurisprudenz und ihre neuen Gegner, AcP 142 (1936), 129 ff.; ders., Rechtserneuerung und Juristische Methodenlehre (1936); ders., Rechtsphilosophie und Interessenjurisprudenz, AcP 143 (1937), 129 ff.; dagegen wiederum Larenz, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, AcP 143 (1937), 257 ff. 85  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 348 ff. 86 Zur „Naturrechtsrenaissance“ zuletzt nur Hasso Hofmann, Rechtsphilosophie nach 1945 (2012), S. 10–25. 87  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 306 Fn. 1: „Es war vielleicht mehr Glück als Verdienst der Privatrechtswissenschaft, daß ihr besonders verderbliche Irrwege und brutale Verleugnungen des Rechtsgedankens ihrem Gegenstande nach ferner blieben als anderen Rechtsgebieten (…).“ 88 Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 306 Fn. 1.

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Die „Reformvorschläge auf dem Gebiet des Privatrechts seit 1933“ und die diese begleitenden „sachlich diskutablen Erörterungen“ waren – so die wenig kritische Selbstdeutung  – bei aller zum Teil vielleicht nicht immer ganz angemessenen ideologischen Rhetorik doch im Grunde Ausdruck einer „natürlichen Selbstbewegung und Selbstkritik einer Rechtswissenschaft, die auch sonst in diesem Jahrzehnt nicht hätte stehen bleiben können“.89 Wichtiger noch scheint freilich ein zweiter Gesichtspunkt: Alle gegen ein zu römisches und zu individualistisches BGB gerichtete zivilrechtliche Neuerungsbewegung war ja von vornherein antipositivistisch. Argumentiert wurde, wie gesehen, seit 1910 weniger dogmatisch und gesetzesstreng als emotional gesetzesderogierend aus dem vermeintlich „natürlichen“, dem „allgemeinen“ oder dem „gesunden“ Rechtsempfinden und zuletzt (1933–1945) den überragenden politischen Leitbegriffen der Zeit.90 Kurz: Das Zivilrecht hatte gerade eine radikale nichtpositivistische Phase hinter sich, von einer „Naturrechtsrenaissance“ nach 1945 konnte da gar keine Rede sein.91 Es war die Sehnsucht nach dem verlorengegangenen positiven Recht, die eine neue Ära des Positivismus in der Zivilrechtswissenschaft einläutete. Wenn man aus privatrechtsgeschichtlicher Perspektive mit Wieacker die wissenschaftliche Phase der Pandektistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „wissenschaftlichen Positivismus“ und den Zeitraum unmittelbar nach Inkrafttreten des BGB als „Gesetzespositivismus“ kennzeichnen möchte, dann erscheint zur Verdeutlichung der betonten Kontinuität der dogmatischen Arbeit am BGB, die nun (nach 1945) wieder einsetzte, die Kennzeichnung der insoweit folgenden Epoche der Zivilrechtswissenschaft keineswegs als „Zusammenbruch und Überwindung“92, sondern als dogmatischer Positivismus am treffendsten. Die kurze Phase eines gesellschaftstheoretisch überhöhten rechtshegelianischen Naturalismus war vorbei, die unpolitische, rein systematische Arbeit am positiv geltenden Recht gab nun neuerlichen Sinn und Halt. So wie in Deutschland ganz generell eine Phase politischer Ernüchterung zu einem Rückzug auf das Unpolitische erfolgte, so in der Wissenschaft eine Rückkehr zu einem betont 89 Wieacker,

Privatrechtsgeschichte (1952), S. 306 Fn. 1. den in der nationalsozialistischen Staats‑ und Rechtsphilosophie verbreiteten „Mißbrauch“ der Idee des Naturrechts eindringlich Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (1937); methodologisch entsprach die offizielle Rechtsideologie des Nationalsozialismus, soweit es um die Umgestaltung des geltenden liberalen Rechts ging, ohnehin eher der Vorstellung von ewigen überpositiven Werten (insb. der sozialdarwinistischen Doktrin vom „Recht des Stärkeren“), d. h. eher einem naturrechtlichen Denken als einem Rechtspositivismus; vgl. hierzu auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, in: ders., Beiträge zur Juristischen Hermeneutik (1984); Ulfrid Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik (1994), S. 145/147. 91  Instruktiv: Friedrich Darmstaedter, Von den Anfängen des modernen Naturrechts im Gebiet der Zivilistik (1956). 92 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1952), S. 15 f., 306 ff. 90 Gegen

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unpolitischen Positivismus, der in „Zivilrechtsdogmatik“ und dogmatischer „Methodenlehre“ erstarrte. Vom wissenschaftlichen unterscheidet sich der dogmatische Positivismus durch den Verzicht auf jede historische Betrachtung (man möchte schon meinen, auch jede wissenschaftstheoretische Begründung der eigenen Methode überhaupt)93 und vom Gesetzespositivismus dadurch, dass das Gesetz allenthalben zwar noch erster Bezugspunkt für die dogmatischen Erörterungen, aber keineswegs mehr die alleinige Rechtsquelle ist; dies auch schon gar nicht mehr sein kann, weil und insoweit die vielen immer wieder positiv konnotierten Rechtsfortbildungen, Rechtsfiguren und Rechtsprinzipien einen wesentlich real existierenden Ausgangspunkt der rechtsdogmatischen Erörterung abbilden und so das „geltende Privatrecht“ – wie bis zur Schuldrechtsreform (2002) immer wieder betont wird – aus dem Gesetz „gar nicht mehr abzulesen“ sei. Der dogmatische Positivismus erscheint durch diesen Umstand und in Rezeption der Methodendebatte zu Beginn des Jahrhunderts methodologisch befreit. Man induziert frei aus und zugleich doch auch befreit von dem Gesetz und findet seine Dogmen als letzte Quellen der juristischen Konstruktion in einem Quellenpluralismus: der Analyse von Lehrmeinungen, dem eigenen „verfeinerten Rechtsempfinden“, vor allem aber der Rezeption und Ausdeutung von Aussprüchen der Judikatur: ein Phänomen, das uns gerade für den Umgang mit und für die Begründung der culpa in contrahendo bereits kennzeichnend geworden ist.94 Die culpa in contrahendo bedarf in diesem zivilrechtsdogmatischen Haushalt keinerlei tiefergehender Begründung mehr: Man findet sie in der ersten Schuldrechtsvorlesung, in Lehrbüchern, in Kommentaren, in der Rechtsprechung und schließlich genügt ein Hinweis auf gesetzgeberische Andeutungen95. Es gibt eine 93 Die zum Standardwerk avancierte „Methodenlehre“ von Karl Larenz (1. Aufl. 1960) ist sowohl Fundament als auch Ausdruck der wissenschaftstheoretischen Armut des dogmatischen Positivismus. So wie die Freirechtslehre den Gesetzespositivismus, so hat dann Josef Esser, indem er die Grundgedanken derselben neuerlich und ausf. vortrug, für einen Moment auch den insoweit methodologisch beschränkten dogmatischen Positivismus erstaunen lassen („Grundsatz und Norm“ 1956 und „Vorverständnis und Methodenwahl“ 1970). Gleichwohl führte das nicht zu einer Grundsatzdiskussion, wie sie in den Sozialwissenschaften zu Beginn des 20. Jh. im sog. „Positivismus-“ bzw. „Werturteilsstreit“ geführt worden war und die zu einer echten Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz hätte werden können. Doch die Erkenntnis, dass auch in der Jurisprudenz Grundsätze und Vorverständnisse die Rechtsfindung leiten, gehört dann in die Charakterisierung der Zeit als dogmatischer Positivismus; denn auch unreflektierte Grundsätze (Prinzipien) und Vorverständnisse sind Dogmen: Die Rationalität juristischer Argumentationen nimmt in individuell gewählten Präferenzen ihren Ausgangspunkt und vermeidet vor allem eines, Sachverhalte und Entscheidungen auf klare Begriffe zu bringen. Erst die „Juristische Begründungslehre“ von Koch / ​Rüßmann (1982) und insb. die „Theorie der juristischen Argumentation“ von Robert Alexy (8. Aufl. 2015) weisen über den dogmatischen Positivismus hinaus und suchen die juristische Argumentation wieder an den wissenschaftstheoretischen Diskurs anzuschließen. 94  Vgl. bereits oben § 5 II.2., III.3.  95 Exemplarisch H. Messer, Schadensersatzansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhand-

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vorvertragliche Haftung, weil eine literarische Aussage der nächsten als positive dogmatische Quelle und mithin als hinreichende Begründung dient. Das zentrale Dogma wird dann frühzeitig immer wieder neu vorgetragen: Die culpa in contrahendo gehöre zum „eisernen Bestande unseres Schuldrechts“96 und sei ein „aus unserer Rechtsordnung nicht mehr wegzudenkendes gesetzliches Rechtsverhältnis“97, das „als Rechtsinstitut … heute nicht mehr umstritten“98 sei … etc. Es liegt eine tiefere Einsicht in dem Umstand, dass die immer wieder hervorgehobenen Rechtsfortbildungen im Bürgerlichen Recht in erster Linie der „Lebendigkeit und Elastizität“ der Rechtsprechung und weniger der Rechtswissenschaft zugesprochen worden sind.99 Dabei scheint es nicht allzu fernliegend, in dieser (deutlich übertriebenen) Selbstbescheidung (die ja für die beiden zentralen zivilrechtlichen „Entdeckungen“ p. V. und c. i. c. sowie das daraus konstruierte systemsprengende umfassende Schutzpflichtverhältnis erkennbar unrichtig ist) eine Reaktion der Verdrängung der gerade überwundenen eigenen Rechtsgestaltungseuphorie zu erkennen. Aber das mag als Phänomen auf sich beruhen.100 Die neue deutsche „Zivilrechtsdogmatik“ ist nun in der Tat überwiegend rezeptiv und nur noch eingeschränkt kreativ. Es geht vornehmlich um die Sammlung und systematische Deutung der Judikatur. Über Geist und inhaltliche Herkunft der „Dogmen“101 wird nicht weiter räsoniert, sie werden ohne tiefergehende historische oder philosophische Kritik gesetzt, gefunden, entdeckt. Kurz: Der faktische Rechtsquellencharakter unreflektierter Dogmen ist ein zentrales Kennzeichen dessen, was in Abgrenzung zum wissenschaftlichen lungen (1990), S. 743: „Seit der Gesetzgeber in § 11 Nr. 7 AGBG das Institut einer Haftung für Schäden aus der Verletzung von Pflichten bei den Vertragsverhandlungen voraussetzt, sind Bemühungen um seine dogmatische Rechtfertigung überflüssig geworden.“  96  Larenz, Methodenlehre (1. Aufl. 1960), S. 317.  97 Nirk, FS Möhring I (1965), S. 392.  98  Schopp, Haftung aus culpa in contrahendo, RPfl 1966, 292; ebenso schon Larenz, aaO.: ein „heute nicht mehr angezweifeltes Institut“.  99 Deutlich neben Wieacker etwa Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher (sic!) Rechtsfortbildung (1965); dem im Grundsatz folgend: Nirk, C. i.c. – eine richterliche Rechtsfortbildung – in der Rechtsprechung des BGH, FS Möhring I (1965); ders., C. i.c. – eine geglückte richterliche Rechtsfortbildung – quo vadis?, FS Möhring II (1975). 100 Ab den 1970er Jahren wird die Zivilrechtswissenschaft in diesem Punkt wieder etwas selbstbewusster: vgl. etwa Larenz, Methodenlehre (3. Aufl. 1975), S. 217: „In der Tat beruht die Entwicklung oder Weiterentwicklung einer ganzen Reihe von Rechtsbegriffen und Entscheidungsmaximen, die heute zum ‚festen Bestand‘ des geltenden Rechts gehören, auf dem Zusammenwirken von Rechtsprechung und Rechtsdogmatik.“; und speziell zur c. i. c. heißt es dann, dass die Rechtsprechung „der Lehre gefolgt“ sei, „womit zugleich die hohe Bedeutung der Dogmatik … für die Rechtsfortbildung deutlich“ werde (4. Aufl. 1979, S. 413). 101  Der Begriff „Dogma“ ist hier durchaus in seiner originären und neutralen Bedeutung (als Lehr‑ bzw. Glaubenssatz) zu nehmen. Man spricht zwar von einer „Dogmatik“, vermeidet aber wegen der pejorativen Konnotation des Begriffs die eigenen dogmatischen Ausgangspunkte tatsächlich auch als Dogmen zu bezeichnen. Die Dogmen der Zivilrechtsdogmatik sind die nicht weiter hinterfragten Prinzipien und Rechtsgrundsätze, die mehr oder weniger reflektiert zum Ausgangspunkt der eigenen Deduktionen genommen oder gemacht werden.

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und zum reinen Gesetzespositivismus hier und im Folgenden als dogmatischer Positivismus bezeichnet wird. Die Existenz der culpa in contrahendo wird ebenso zum unbezweifelbaren Dogma wie die Existenz der positiven Vertragsverletzung oder andere Entdeckungen und Rechtsfortbildungen, an deren dogmatischer Notwendigkeit und Existenz niemand mehr ernsthaft zweifelt. So wird auch der Prozess der „Materialisierung“ (ebenfalls ein Dogma des dogmatischen Positivismus) in der zivilrechtsdogmatischen Diskussion nicht als ein grundlegendes sozialphilosophisches oder philosophiegeschichtliches Phänomen erfasst,102 sondern, wenn nicht lediglich als letztbegründendes Schlagwort, als abstrakte begriffliche Klammer für eine gehäufte Erscheinung dogmatischer Rechtsfiguren gedeutet, die in das herkömmliche dogmatische System des Bürgerlichen Rechts (nämlich das freiheitliche) nicht passen und für die eine neue dogmatische Erklärung zu suchen sei. Die gleichsam (und scheinbar) ideologiebefreite „Vertrauenshaftung“, wie sie nun von Kurt Ballerstedt und dann insbesondere von Claus Wilhelm Canaris in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt wird, kann in diesem Sinne als vorzügliche Frucht des soeben skizzierten dogmatischen Positivismus gelten. Wenn nur genügend Rechtsgelehrte an diese Lehre glauben und auch und vor allem die Rechtsprechung diesen Glauben rezipiert und realisiert, stabilisiert sich das Dogma, und es entfaltet sich die daraus deduzierte Dogmatik als reine Rechtslehre. a) Rehabilitierung des „Vertrauens“ als dogmatische Kategorie „Den Behauptungen, das Vertrauensprinzip oder dem Vertrauensprinzip entsprechende Lösungen des Interessenkonflikts beim Vertragsschluss seien Errungenschaften kollektivistischer Rechtsauffassung, fehlt sowohl die rechtsgeschichtliche Grundlage wie auch die einwandfreie rechtsphilosophische Erklärung.“ Arthur Meier-Hayoz, 1948103

Das Spektrum der möglichen sozialphilosophischen Standpunkte ist überschaubar. Die Extreme werden sprachlich durch die Ismen gekennzeichnet: Liberalismus  – Kommunismus oder Individualismus  – Sozialismus sind hier die einschlägigen Antinomien immer schon gewesen. Dass es insoweit auch noch nach 1945 eine – und das vor allem ist wichtig: positiv bewertete – Verknüpfung des Vertrauensprinzips mit dem Gemeinschaftsgedanken gegeben hat und das Ver102  Anders jetzt aber M. Auer, Materialisierung (2005), die den Prozess der „Materialisierung“ als Ausdruck des Wertungsgegensatzes „zwischen Individualismus und Kollektivismus“ begreift, und überhaupt mit dieser ihrer Schrift endlich das, was hier dogmatischer Positivismus genannt wird, überwinden will: Es gehe ganz generell um die „Einsicht, daß rechtliche und rechtspolitische Wertungen … untrennbar miteinander verwoben sind, daß also eine positivistische Sichtweise, die versucht, den Vorgang der Rechtsentstehung auf ein geschlossenes System rein rechtlicher Grundwertungen zurückzuführen, an dessen Wertungsstruktur vorbeigeht.“ (S. 220). 103 Das Vertrauensprinzip beim Vertragsabschluß (1948), S. 77, Fn. 3.

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trauensprinzip zu einer zivilrechtsdogmatisch überhöhten Kategorie aufsteigen konnte, ist sicherlich nicht zuletzt der bis heute lesenswerten Schrift von Arthur Meier-Hayoz über „Das Vertrauensprinzip beim Vertragsabschluss“ (1948) zu danken, in der er den Zusammenhang von „Vertrauensprinzip“ mit einer (national‑) sozialistischen Sozialethik aufzulösen und das „Vertrauen“ als (reine) dogmatische Kategorie des Vertragsrechts sachlich zu rehabilitieren sucht. Die Schrift steht so methodologisch gleichsam als Bindeglied zwischen dem vergangenen politischen Naturalismus und dem neuen dogmatischen Positivismus. Ausgehend von der gemeinrechtlichen Diskussion um die Probleme rechtsgeschäftlicher Kommunikation104 entwickelt Meier-Hayoz seine These vom Vorzug des Vertrauensprinzips gegenüber allen konkurrierenden Prinzipien beim Vertragsschluss (er nennt insoweit: Erklärungsprinzip, Willensprinzip und Deutungsprinzip). Schaut man hier etwas genauer hin und erkennt, dass weder das Erklärungsprinzip noch das Deutungsprinzip eine eigenständige, vom Vertrauensprinzip zu lösende Bedeutung haben, dann wird auch das eigentliche Thema seiner Schrift deutlich: die Konkurrenz von Willensprinzip (als Repräsentant von Liberalismus und Freiheit) und Vertrauensprinzip (als Repräsentant von Sozialismus und Gemeinschaft).105 Die gemeinrechtliche Debatte um die Grundlagen des Rechtsgeschäfts war nach Meier-Hayoz eine „begriffsjuristische“, Willensdogma und Erklärungsdogma ihre Konsequenzen.106 Die maßgeblichen „Voraussetzungen des neuen Vertrauensprinzips“ liegen demgegenüber bei ihm klar in einer Besinnung auf die sozialphilosophischen Zusammenhänge: „Der Subjektivismus als Lehre von der schrankenlosen Freiheit des Einzelnen erwies sich als verhängnisvoller Irrtum. Die These der liberalen Wirtschaftstheoretiker, daß das Zusammenspiel der freien, ungebundenen Wirtschaftssubjekte von selbst zum Ausgleich und zur Ordnung führe, wurde durch die Wirklichkeit widerlegt. Der Hochzüchtung des menschlichen Egoismus folgten die bekannten Zerfallserscheinungen eines allzu zügellosen Liberalismus. Der subjektivistische Geist hatte den Gemeinschaftssinn zerstört und alle Bande menschlicher Gemeinschaften gelockert. Die ‚Zermahlung der Gesellschaft in den Sandhaufen der Individuen‘107 war das Ergebnis der verhängnisvollen Ueberbetonung subjektiver Freiheit.“108

Gegen die Egoismen des Liberalismus setzt Meier-Hayoz nun  – bei Vermeidung der klassischen sozialphilosophischen Gegenbegriffe  – den Oberbegriff „Solidarismus“ und meint damit „alle jene Bestrebungen …, die sich in mehr  Vgl. oben § 4 II.  Letztlich zutreffend Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 119, selbst: „So ergibt sich als eigentliche Kernfrage die Wahl zwischen Willensprinzip und Vertrauensprinzip.“ 106  Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 75: „Thronfolger des Willens wurde die Erklärung. Mit ähnlicher Starrheit zog man aus der Ueberbetonung des äusseren Tatbestandes die Folgerungen für Auslegungs‑ und Willensmängellehre. Dem formallogischen Willensdogma folgte nun ein nicht weniger formal konstruiertes Erklärungsdogma (…).“ 107  Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (1942), S. 24. 108 Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 76. 104 105

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oder weniger radikaler Weise vom Subjektivismus distanzierten und die Gemeinschaftsbezogenheit und die Gemeinschaftsverbundenheit des Menschen betonten“. Hierunter fällt dann offensichtlich auch jene gerade überwundene national-sozialistische Reaktion gegen den Individualismus, die „in höchst extremer Form … die Interessenvertretung der Gesamtheit auf ihr Programm schrieb“. Doch  – und das ist der entscheidende Punkt für den historischen und philosophischen Nachweis einer unbelasteten Verwendung des „neuen Vertrauensprinzips“: „Die kollektivistischen Lehren sind – was das Privatrecht im allgemeinen und ganz besonders die Rechtsgeschäftslehre betrifft – nicht von nachhaltiger Wirkung gewesen. In der Hauptsache zeigte sich gerade im Gebiete des allgemeinen Teiles des Privatrechts eine Tendenz zu einem massvollen ‚die Mitte halten‘ zwischen individualistischen und kollektivistischen Bestrebungen. Das ist nicht verwunderlich. Denn das Privatrecht muss – um überhaupt bestehen zu können – eine individualistische Grundanschauung voraussetzen, und den Interessen der Gesamtheit dient es dann am besten, wenn es nicht kollektivistisch, sondern sozial und solidaristisch ausgestaltet ist.“109

Es bedarf hier keiner Erörterung, ob Meier-Hayoz nicht letztlich selber begriffsjuristisch argumentiert, indem er mit dem Begriff „kollektivistisch“ das ablehnt, was er mit „sozial“ und „solidaristisch“ gleichwohl befürwortet.110 Wie gesehen, ist jedenfalls der normative Gedanke von einer „erhöhten Verantwortung“ und „billigen Rücksichtnahme auf den Vertragspartner“111 ohne Bezug auf die Idee einer „Gemeinschaft“ und ihrem Vorrang vor der Freiheit des Individuums gar nicht sinnvoll zu denken. Begriffsjuristisch wird Meier-Hayoz aber ganz sicher, wenn er einerseits bemerkt, dass ein Privatrecht „eine individualistische Grundanschauung“ notwendig voraussetzt, dann aber Willensprinzip und Vertrauensprinzip nicht als wenigstens gleichwertige Prinzipien des Vertragsrechts nebeneinander akzeptieren will, sondern, seiner eigenen Entweder-Oder-Konzeption konsequent folgend, beide Prinzipien begrifflich so eigenwillig fasst, dass die

 Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 77. stellt er mit dem Solidarismus auf einen Gedanken der Individualethik ab, nämlich ein „menschliches Verhalten, das – ohne rein altruistisch zu sein – Eigeninteresse und Fremdinteresse kombiniert. Der Einzelne nimmt Opfer auf sich, die nicht unbedingt erbracht werden müssten; er nimmt Rücksicht auf die andern im Bewusstsein der Verbundenheit mit den Mitmenschen und des Aufeinanderangewiesenseins.“ (Meier-Hayoz, aaO., S. 77 Fn. 2). Der Unterschied, den die begriffliche Gegenüberstellung von kollektivistisch und solidaristisch offenbar im Auge hat, liegt darin, ob die Solidarität eine erzwungene (kollektivistisch) oder eine auf freier Handlung beruhende (solidaristisch) ist. Das Spiel mit Begriffen wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass es Meier-Hayoz ja letztlich auch darum geht, den Solidarismus mit Rechtskraft auszustatten. Ob ich dann aber eine Rücksichtnahmepflicht aufgrund einer kollektivistischen oder einer solidaristischen Doktrin postuliere, macht m. E. keinen ernstzunehmenden Unterschied; denn so oder so ist die Solidarität zur Rechtspflicht erhoben, und damit erzwungen. 111 Kinze, Verschulden bei den Vertragsverhandlungen (1936), S. 43. 109

110 Letztlich

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Beurteilung zwischen dem, was das „ethisch richtige“ bzw. das „ethisch falsche“ Prinzip sei, nicht mehr schwer fällt: „In einer Gesellschaftsordnung, deren Ethos letzten Endes auf christlicher Grundlage ruht, muss das Willensprinzip als ethisch falsche Lösung bezeichnet werden. In der einseitigen Interessenwahrung des Erklärenden zeigt sich der Geist des Subjektivismus, die Verherrlichung der ungebundenen, ungehemmten, durch keine persönliche Verantwortung beschränkte Freiheit.“

Demgegenüber steht das Vertrauensprinzip für die „ethisch richtige Lösung“, denn: „Das Vertrauensprinzip ist Ausdruck jener Auffassung, die persönliche Freiheit und persönliche Verantwortung in gleicher Weise betont, die der Schranken bewusst bleibt, welche der Individualfreiheit des Menschen durch seine Gemeinschaftsbezogenheit gesetzt sind.“112

Das Problem dürfte deutlich geworden sein: Die persönliche Vorstellung von einer „richtigen“ Individual‑ und Sozialethik wird bereits unter dem Begriff „Vertrauensprinzip“ gefasst. Diese individuelle Definition ist zudem noch so stark, dass sie sogleich zu einer Verkehrung der Begrifflichkeiten führt; denn eben diese Freiheitsethik, die Meier-Hayoz dem Vertrauensprinzip vindizieren will, ist die Ethik, die bei Kant und ihm folgend Savigny den Kern des später so genannten Willensdogmas ausgemacht hat.113 Wie Meier-Hayoz den Begriff des Vertrauens mit dem der Freiheit zusammenbringt, bleibt ein Rätsel und hat seine Ursache offensichtlich darin, dass er das Vertrauensprinzip – ohne jeden Nachweis  – nun doch wiederum auf Kant zurückführen will („entscheidende Wendung durch Kant“).114 Wie zweifelhaft diese begriffsethische Läuterung des „Vertrauensprinzips“ auch sei – sie war nun einmal erfolgt. Man wird Meier-Hayoz auch ohne weiteres darin beipflichten können, dass es zumal in der deutschen Rechtsgeschäftslehre immer Stimmen gegeben hat, die sich bemühten, „zwischen der Skylla des Individualismus und der Charybdis des Kollektivismus den rechten Weg zu finden“. Ich möchte sogar behaupten, dass dieser Weg der „Mitte“ für den Weg der Privatrechtsgeschichte seit seiner Ausbildung im römischen Recht kennzeichnend gewesen ist.115 Wichtig ist nur zu sehen: Bei der Betrachtung der Vertrauenshaftung handeln wir eben nicht mehr von der Rechtsgeschäftslehre, bei der es per se um einen ausgewogenen Ausgleich von Wille und Vertrauen geht, sondern wir handeln hier bereits von einer außervertraglichen Haftung, die schon in ihrem 112 Meier-Hayoz,

Vertrauensprinzip (1948), S. 120.  Vgl. oben § 1 I., § 3 II., § 4 II.1. 114  Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 70; offenbar hat Meier-Hayoz auch Kant gar nicht gelesen, da er sich insoweit lediglich auf Alfred Manigk als Sekundärquelle bezieht. 115  Vgl. die Darstellung zum „rechtsgeschäftlichen Haftungsdreieck“ oben: § 4 II.; in diesem Sinne auch Franz Bydlinski, Die Suche nach der Mitte als Daueraufgabe der Privatrechtswissenschaft, AcP 204 (2004), 309 ff. 113

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Namen die Einseitigkeit der Haftungsbegründung verdeutlicht. Wenn man auch hier mit Meier-Hayoz ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Verantwortung als Vertrauensprinzip ausgeben und verstehen würde, so wäre daran – außer dass es sich um eine wenig sinnvolle Begriffsverwirrung handelt – wenig auszusetzen. Die Sache liegt aber allenfalls in der Dialektik des Neuhegelianismus so, dass mit Vertrauensschutz und Solidarismus zugleich auch die Verwirklichung „persönlicher Freiheit“ und „persönlicher Verantwortung“ assoziiert würde. Für Ersteres (persönliche Freiheit) steht in der Rechtsgeschäftslehre aber immer noch der Gedanke der Privatautonomie im Willensprinzip und für Letzteres (persönliche Verantwortung) das Verschuldensprinzip; d. h. die beiden anderen Elemente des „rechtsgeschäftlichen Haftungsdreiecks“: neben dem Vertrauen (fides) eben der Wille (voluntas) und die Schuld (culpa). So bleibt trotz aller darüberhinausgehenden Bemühungen für das Vertrauensprinzip nur zweierlei: die klassische bona fides und die damit verknüpfte individualethische Komponente einer Rücksicht auf den Anderen und die damit einhergehenden sozialethischen Prinzipien von Gemeinschaft und Solidarität. Das ist bereits sehr viel und in jedem Fall auch genug für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Vertrauensprinzip. Wenn Meier-Hayoz dem Vertrauensprinzip gleichwohl auch noch Freiheit und Verantwortung beilegen will, so ist das offensichtlich doch der gerade erst überstandenen jüngeren Privatrechtsgeschichte und einer Gefahr geschuldet, vor der er zwar warnt, der er aber auf diese Weise doch schon selbst erliegt: „Auf eine gewisse, das Vertrauensprinzip begleitende Gefahr muss jedoch hingewiesen werden: Auf die Gefahr der Ueberbetonung des Vertrauenselementes. Hat man bis jetzt den Willen und damit das Interesse des Erklärenden überschätzt, so droht nach einem tiefen Lebensgesetz jetzt das andere Extrem: die Überschätzung des Vertrauens, d. h. des Interesses des Erklärungsempfängers. Manigk116 bemerkt dazu sehr richtig …: ‚Ein Sozialismus zum alleinigen Schutz des Erklärungsempfängers wird wiederum zum Individualismus.‘ Auch wenn dem Vertrauensschutz das unbedingte Primat zuerkannt wird, so muss doch die starke Wechselwirkung zwischen Wille einerseits und Vertrauen andererseits anerkannt werden. Das Vertrauen an und für sich ist noch nicht schutzwürdig; nur das berechtigte Vertrauen verdient Schutz.“117

Damit schließt sich der Kreis, und wir sind wieder bei der Frage nach dem Schutz eines Vertrauens, das berechtigt ist. Und es muss auch nicht verwundern, wenn es bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage letztlich doch immer wieder zu einer „Überschätzung des Vertrauens“ gekommen ist. Das ist das methodologische Problem der Prinzipiendeduktion, vor der wiederum, wie gesehen, bereits Jhering gewarnt hat. Meier-Hayoz sieht den Vorrang des Vertrauens116 Neubau

128.

des Privatrechts (1938), S. 129; ders., Das rechtswirksame Verhalten (1939), S. 95,

117  Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 89; ähnlich schon Simonius, Vertrauensprinzip (1942), S. 244: „Nun darf kein Grundsatz überspannt werden (…).“

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prinzips noch grundsätzlich in der Rechtsgeschäftslehre!118 Was wird man nun von einer Haftungstheorie erwarten können, die sich ganz bewusst von dieser (der Rechtsgeschäftslehre) abzugrenzen sucht, indem sie das Vertrauensprinzip zum alleinigen Verpflichtungsgrund erhebt und „den Begriff des Rechtsgeschäfts um eine zweite Grundform“ erweitern will, bei der die Verpflichtung nicht auf einer Willenserklärung, sondern allein auf Vertrauen beruhen soll: einer „Verpflichtung durch Gewährung in Anspruch genommenen Vertrauens“119? b) Vertrauen und Enttäuschung: Fruchtbare Rechtsfortbildung „… daß in Wahrheit (…) die Beteiligten einander … ein besonderes Vertrauen entgegengebracht haben … und in diesem Vertrauen nicht enttäuscht werden dürfen.“ Hans Dölle, 1943120

Insoweit gilt Kurt Ballerstedt vielleicht nicht zu Unrecht als „Vater der modernen Vertrauenshaftung“121. Er ist der „Vater“ der „Vertrauenshaftung“ der Epoche des dogmatischen Positivismus, indem er die Aussagen, die andere vor ihm bereits zum Gegenstand geäußert, und das Haftungsprinzip, das andere bereits vorgestellt hatten, bereits völlig verinnerlicht und dann gleichsam wie selbstverständlich zum Ausgangspunkt seiner rein dogmatischen (d. h. von jeder 118  Dies zu betonen hat (evident in Abgrenzung zu Tendenzen in der deutschen Rechtslehre) in der Schweiz immerhin durchaus Tradition, vgl. etwa: Simonius, Vertrauensprinzip in der Vertragslehre (1942), S. 235 f.: „Dem Vertrauensprinzip wird von Doktrin und Praxis gegenwärtig wohl nirgends deutlicher eine beherrschende Stellung zugewiesen, als in der Schweiz. Man darf deshalb mit gutem Gewissen das Vertrauensprinzip als den eigentlichen Exponenten unserer modernen Vertragslehre bezeichnen.“; Kramer, Berner Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Bd VI (Das Obligationenrecht, 1986), Allgemeine Einleitung, Rn. 150: wonach „das Vertrauensprinzip integrierender Bestandteil der (eben nicht allein voluntaristisch orientierten) schweizer Rechtsgeschäftslehre ist“; Fehlmann, Vertrauenshaftung  – Vertrauen als alleinige Haftungsgrundlage (2002), S. 61: „In der Schweiz ist das Vertrauensprinzip Bestandteil der Rechtsgeschäftslehre.“ Dieser Standpunkt wurde erst Mitte der 1990er Jahre grundlegend erschüttert, als das schweizerische Bundesgericht auch eine jenseits der Vertragshaftung liegende reine Vertrauenshaftung nach deutschem Vorbild übernommen (Urt. v. 21. 6. ​1994, BGE 120 II, 331 – Swissair –, Urt. v. 10. Oktober 1995, BGE 121 III, 350 – Widersprüchliches Verhalten) und insb. Loser, Vertrauenshaftung (2006) die Berechtigung dieser Eigenständigkeit umfangreich zu begründen versucht hat 119  Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1951), 501/507. 120  Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/73. 121 Hans Stoll, FS Flume I (1978), S. 752; die vertrauenstheoretische Begründung der c. i. c. wird regelmäßig auf Ballerstedt zurückgeführt, vgl. nur Nirk, FS Möhring I (1965), S. 393 Fn. 32: „Ballerstedt war es vornehmlich, der … die Verpflichtung kraft Inanspruchnahme des gewährten Vertrauens richtungsweisend erläutert hat.“; Frotz, GS Gschnitzer (1969), 163/168; Canaris, Vertrauenshaftung (1971), Vorwort VII; Larenz, FS Ballerstedt (1975), S. 397; Harke, AcP 205 (2005), 87 Fn. 59: „Begründer dieser Lehre ist Ballerstedt …“; ders.: HKK / ​Harke, § 311, Rn. 22. Doch ist das, wie gesehen, dogmengeschichtlich etwas zu kurz gegriffen und in gewisser Weise ein Euphemismus, der die eigentliche Genese dieses Prinzips kaschiert. Soweit man freilich mit „modern“ jeden Verzicht auf inhaltliche Überlegungen und also eine Frucht des „dogmatischen Positivismus“ meint, so mag dieser Gründungsmythos durchgehen.

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historischen und sozial‑ bzw. individualethischen Rückbindung befreiten) Überlegungen gemacht hat: Das Gerede von einem „gesetzlichen Schuldverhältnis“ der Vertragsverhandlungen sei „rein positivistisch“ und leer.122 Die innerliche Rechtfertigung für dieses Schuldverhältnis liege allein im Vertrauen, das bei den Vertragsverhandlungen gewährt und in Anspruch genommen werde. Das, was also Dölle nur eine Fußnote wert war („nicht das Schuldverhältnis erzeugt das Vertrauen, sondern umgekehrt“), wird bei Ballerstedt in Auseinandersetzung mit der im Grunde längst überholten „Eintrittstheorie“ Heinrich Stolls noch einmal ausführlich erörtert: „Die einseitige Erklärung: ‚ich bin zu Verhandlungen über den Verkauf des Grundstücks bereit‘, würde für sich allein offensichtlich keine Wirkungen hervorbringen können, wenn der andere Teil nicht oder nur zum Schein darauf einginge, wenn es also auf seiner Seite aus irgendeinem Grunde an dem Vertrauen in die Ernstlichkeit der Verhandlungsbereitschaft fehlt (…). Erst dieses Vertrauen auf die erklärte Absicht macht den Eintritt in Verhandlungen zu einem rechtlichen Verhältnis.“123

Die reichsgerichtliche Formel vom „vertragsähnlichen Vertrauensverhältnis“ erweise sich so auch „ohne Zuhilfenahme eines Gewohnheitsrechts als brauchbar“.124 Darin also findet Ballerstedt noch einmal zusammengefasst die dogmatische Quintessenz der Vertrauenshaftung: An die Stelle der nichts sagenden Begründungsversuche vom gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen tritt (wie bereits bei Hildebrandt 20 Jahre zuvor) ein rein vertrauenstheoretisch begründetes Schuldverhältnis, bei dem für „Gewährung und Inanspruchnahme von Vertrauen“ gehaftet wird. Wichtig ist neben dieser neuerlichen Vorstellung der Vertrauenshaftung ein zweiter Punkt: Während Dölle mit seinem „sozialen Kontakt“ vor allem eine Ausdehnung der vorvertraglichen Haftung in den originären Bereich des Deliktsrechts vorgenommen hatte (Gedanke der Anvertrauenshaftung), indem er hierbei letzteren auf den „unerwünschten Zusammenprall“ zusammenschrumpfen ließ (Schrumpfungsargument I), sucht Ballerstedt nunmehr für den Bereich der Erklärungshaftung eine „systematische Unterscheidung“ zum Vertragsrecht dadurch zu begründen, dass er diesem (dem Vertragsrecht resp. der Rechtsgeschäftslehre) das Vertrauensprinzip endlich gänzlich entzieht und das Rechtsgeschäft kraft Willenserklärung wieder ausschließlich mit dem Willensprinzip (Willensdogma) begründet sehen will (Schrumpfungsargument II). Der Anwendungsbereich der beiden klassischen Bereiche des Delikts‑ und Vertragsrechts wird dogmatisch eingeschränkt (geschrumpft) und so der Platz für eine dritte Haftungsspur geschaffen: die reine Vertrauenshaftung.  Vgl. schon oben § 5 III.3.c).  Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501/506. 124 Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501/507. 122 123

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Dass auch eine Willenserklärung Vertrauen beim Empfänger bewirkt und dass überhaupt „die Vertrauenswerbung auch sonst vielfach in Gestalt von Willenskundgebungen vor sich geht“, sei, so Ballerstedt, „kein Einwand gegen die systematische Unterscheidung der beiden Grundformen von Verpflichtungsgeschäften“. Dies zeige bereits ein Blick auf die §§ 122, 307 BGB; denn „die Ersetzung der gemeinrechtlichen Lehre von der Nichtigkeit mangelbehafteter Willenserklärungen durch die Anfechtbarkeit im Sinne des BGB enthält im Keim bereits die Anerkennung der Unterscheidung zwischen Willenserklärung und Vertrauenswerbung“.125 Ballerstedt behauptet also neben dem Rechtsgeschäft eine eigenständige zweite Form von „Verpflichtungsgeschäft“ mit der Begründung, eine Haftung aus § 122 BGB sei eigentlich gar keine Haftung für die abgegebene Willenserklärung, sondern für die besondere Form der „Vertrauenswerbung“. Eine ebenso überraschende wie einfältige These: Denn, wie gesehen, hat gerade die Suche nach einem Kompromiss zwischen Wille (Schutz der Autonomie) und Erklärung (Schutz des Vertrauens) zur Anfechtungsregelung und mithin zu § 122 BGB geführt.126 Es gibt keine sinnvolle „Unterscheidung zwischen Willenserklärung und Vertrauenswerbung“, weil die Erklärung selbst um Vertrauen „wirbt“ und mithin den eigentlichen Vertrauenstatbestand darstellt. Das Problem wird später bei Canaris besonders deutlich, wenn dieser die Rechtsfolgenanordnung des § 122 BGB kurzerhand vom begründenden Erklärungstatbestand ablöst: § 119 BGB sei eine Regelung des Rechtsgeschäfts, § 122 BGB demgegenüber ein Tatbestand der Vertrauenshaftung.127 Hier wird offensichtlich Zusammengehörendes im Interesse systematisch auf die Spitze getriebener Neu-Dogmatik recht willkürlich auseinander genommen.128 Wenn Ballerstedt daneben diese seine „systematische Unterscheidung“ noch ergänzend mit dem „Hinweis darauf, daß es bei der Vertrauenshaftung entscheidend auf das tatsächlich gewährte Vertrauen und auf das Vertrauendürfen ankommt“129 stützen will, dann sehen wir hierin nur die Eindimensionalität der Haftung bestätigt, die sich aus dem Namen ergibt und vor der Meier-Hayoz gewarnt hatte. Dass dann in der Tat die Konstruktion einer Haftung „kraft Inanspruchnahme des Vertrauens“ neben einer solchen „kraft Willenserklärung“

125 Ballerstedt,

Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501/507 Fn. 18.  Vgl. oben § 4 II.1.; wenn man daher eine Haftung für eine Willenserklärung als rechtsgeschäftliche Haftung ansehen möchte, dann kann doch die Beschränkung dieser Haftung vom Erfüllungs‑ auf das Vertrauensinteresse schwerlich eine andere Sichtweise begründen; zutreffend daher schon Flume, Das Rechtsgeschäft, AcP 161 (1962), 52/63; ders., Allgemeiner Teil II (1. Aufl. 1965), § 10, 4; (4. Aufl. 1991, S. 129: „Die Haftung nach § 307 ist wie nach § 122 rechtsgeschäftlicher Art.“). 127  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 419 ff.; hierzu sogleich unten c). 128  Zu alledem auch Singer, Selbstbestimmung (1995), S. 58 ff. m. w. N. 129 Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501/508. 126

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eine besondere „Fruchtbarkeit“130 erweist, weil die ganzen ausdifferenzierten Regelungen „über Willensmängel, Form, Wirksamwerden, Genehmigung und auch die Vorschriften über Stellvertretung nicht oder jedenfalls nicht unmittelbar anwendbar sind“, werden wir Ballerstedt gerne zugeben. Seine „Fruchtbarkeit“ für die Rechtsfortbildung hatte die Vertrauenshaftung ja schon bei der „Entdeckung“ der Haftung für „Abbruch von Vertragsverhandlungen“ unter Beweis gestellt.131 Und auch für Ballerstedt ist es mit dem so aus dem komplexeren Zusammenhang des Rechtsgeschäfts herausgelösten Vertrauensdogma nicht mehr schwierig, sowohl den Vertretenen als auch den Vertreter für culpa in contrahendo haften zu lassen: „Beruhen die Pflichten aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis auf einer Vertrauensbeziehung, so kommt es für die Frage, ob dem Dritten der Vertretene oder der Vertreter für seine Verletzung dieser Pflichten haftet, offensichtlich darauf an, wem der Dritte sein Verhandlungsvertrauen in der Erwartung schenken darf, in diesem Vertrauen Rechtsschutz zu genießen.“132

Wozu noch einen Diskurs führen über die Gründe, die zu der ausdifferenzierten Regelung der §§ 164 ff. geführt haben? Enttäuschtes Vertrauen rechtfertigt nun jede Haftung. Das Anschauungsmaterial jedenfalls, aus einem realen oder vermeintlichen Vertrauenstatbestand eine Vertrauenshaftung leicht zu deduzieren, ist in der Rechtsprechung Legion: Ob jemand auf einen Vertragsschluss vertrauen durfte, weil er mit dem potenziellen Vertragspartner bereits im Schützengraben gelegen hat, jemand im Winter darauf vertraute, dass vor einer Diskothek der Schnee beräumt sei oder ein anderer darauf, dass ein Anlageberater, weil er Mathematiklehrer oder Polizist ist, die richtige Anlage empfiehlt (…), überall wird zuweilen relativ willkürlich133 auf Vertrauenstatbestände abgestellt, die sich in jedem Sachverhalt zur Genüge als Haftungsgrundlage benennen und nutzen lassen: „Durch die Vertrauenshaftung tritt nicht nur all das ins rechtliche Blickfeld, was von den Privaten mit einem Rechtsgeschäftswillen geäussert wird, sondern überhaupt ihre ganze Beziehungsgeschichte wird rechtlich relevant.“134 In der Tat: sehr „fruchtbar“ das Ganze. Diese Dogmatik erweist sich dann natürlich vor allem deshalb als sehr fruchtbar, weil ex post mit der Behauptung, vertraut zu haben, Rechtsfolgen deduziert werden können, die das geltende Recht bisher nicht kannte:

 Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501/508.  Junge, Erklärungshaftung (1936), 18 ff.; hierzu oben § 6 II.2.a). 132 Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501/508. 133  Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), S. 85 spricht von „abenteuerlich vagen Umschreibungen“. 134 Druey, Vertrauenshaftung – eine Revolution? (2004), S. 367. 130 131

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c) Hysteron Proteron: Die Logik der Konstruktion „In der Logik heißt hysteron proteron ein Schluß‑ oder Beweisfehler, bei dem die natürliche Ordnung verkehrt, d. h. aus dem zu Folgernden gefolgert oder aus dem zu Beweisenden bewiesen wird.“ Meyers Konversationslexikon , 1895135

Zunächst hat Wolfgang Thiele (1967) das Bedenkliche für die Rechtssicherheit hervorgehoben, das eine Vertrauenshaftung mit sich bringt, die eine Haftung an das Kriterium des Vertrauens als „psychologische Realität“ knüpfen will: „Wenn sinnvoll von Pflichten gesprochen werden soll, muß der Pflichtige doch wohl wissen oder zumindest erkennen können, wie er sich zu verhalten hat. Das Rechtsgebot muß objektiv erkennbar sein, und zwar ex ante.“136 An diesen Gedankengang hat dann auch Gerhard Frotz (1969)137 angeknüpft, das eigentliche dogmatische Problem zugespitzt präzisiert und aufgezeigt, dass es schwerlich angeht, vom enttäuschten Vertrauen her ex post Pflichtverletzungen zu konstruieren und so die Logik der Vertrauenshaftung auf den Punkt gebracht: „Es ist meines Erachtens rechtsdogmatisch ausgeschlossen, mit der Ursächlichkeit eines Verhaltens für einen Schaden eine durch das Verhalten verletzte, diesem also vorgelagerte Schutzpflicht zu begründen. Wer so vorgeht, baut die Haftungsdogmatik bei culpa in contrahendo ganz offenbar vom missbilligten Erfolg her auf, indem er rückwirkend Pflichten konstruiert.“138

Das hysteron-proteron, das man seinerzeit gegen die „Zielvertragstheorie“ vorgebracht hatte: „Es kann nicht heute eine Pflicht entstehen, gestern etwas getan zu haben“,139 kehrt hier wieder und offenbart, dass das vorvertragliche Schuld-

135 Fünfte,

gänzlich neubearbeitete Auflage, 9. Band „Hübbe-Schleiden bis Kausler“.  Thiele, Leistungsstörung und Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649/652. 137  Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/168: „In Wirklichlichkeit handelt es sich hier um eine jener Formeln, die bei oberflächlicher Betrachtung leicht in die Irre leiten (…).“ 138 Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/170; ähnlich zuvor schon Thiele, Leistungsstörung und Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649/651 f., für das Kriterium des Vertrauens als „psychologische Realität“: „Wenn sinnvoll von Pflichten gesprochen werden soll, muß der Pflichtige doch wohl wissen oder zumindest erkennen können, wie er sich zu verhalten hat. Das Rechtsgebot muß objektiv erkennbar sein, und zwar ex ante.“; von hier geht dann der Gedanke eines „typisierten Vertrauenstatbestandes“ bzw. „redlicher Verhaltenserwartung“ aus. Deutlich spricht dann auch v. Bar, Vertrauenshaftung ohne Vertrauen, ZGR 1983, 476/500 von einem „gedanklichen Zirkel“: „Vertrauen darf man, weil eine Anspruchsgrundlage besteht, diese aber entsteht, weil man vertraut.“ 139 Vgl. bereits oben: § 5 II.3., III.2.c); Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 22; zum Problem zutreffend auch Stöcker, Die Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo (1961), S. 33; gleichwohl werden die Einwände gegen F. Leonhard bis heute weiter erzählt; aus dem neueren Schrifttum exemplarisch nur Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S. 44: „Leonhards Konstruktion erwies sich deshalb als anfechtbar, weil sie das Bestehen vorvertraglicher Pflichten von dem späteren Vertragsschluß abhängig machte. Ein solches späteres Ereignis kann aber nicht zur Rechtsbedingung für schon vorher wirkende Pflichten erhoben 136

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verhältnis, das einst aus vermeintlich zwingender Logik konstruiert wurde, niemals wirklich logisch war, weil und soweit die vermeintlichen Pflichten nicht deduziert, sondern vom gewünschten / ​gefühlten Ergebnis her ex post konstruiert werden: Das ist die Weisheit des methodologischen Finalismus, der uns bereits ganz grundlegend im Voluntarismus des Freirechts begegnet ist140 und der in der Vertrauenshaftung nun endlich seine dogmatisch einfachste Form erreicht. Franz Leonhard selbst war es, der auf dieses dogmatische Problem schon seinerzeit gegen seine Kritiker dauerhaft hingewiesen hatte.141 Vergeblich. Aber auch die Erweiterung der Haftung wird nun deutlich: Während es bei Jhering und Leonhard noch auf einen Vertragsschluss als Haftungsbasis, nämlich in der Tat als (wenigstens) „typisiertem Vertrauenstatbestand“, ankam, genügt jetzt die Behauptung irgendeines Vertrauenstatbestandes. Der von Thiele ausgehende Hinweis, zur Lösung dieses dogmatischen Problems auf ein vermeintlich „typisiertes Vertrauen“ oder eine „allgemeine Redlichkeitserwartung“142 abzustellen, kann hier nicht weiterhelfen, weil das Vertrauen der anderen Seite ja bereits positiv-rechtlich „typisiert“ ist und daher kaum „unredlich“ sein kann: Der eine vertraut auf eine bloße Zusage, ein Augenzwinkern, ein Kopfnicken oder irgendwas, der andere geht davon aus, dass eine Verbindlichkeit erst bei Vertragsschluss entsteht; der eine vertraut auf die Wirksamkeit einer Schriftformabrede, der andere darauf, dass sie ohne Belang ist … usw. Auch dieses Problem normativer Widersprüchlichkeit ist uns bereits als Grundübel der ursprünglichen dogmatischen Konstruktion begegnet,143 und wir können in dieser neuen dogmatischen Einkleidung (der Widersprüchlichkeit von normativ „typisiertem Vertrauen“) deutlich Jherings Einsicht in die Unmöglichkeit erkennen, die Haftung auf der schlichten Basis der bona fides zu konstruieren.144 Daran sollte kein Zweifel bestehen: Die bona fides ist noch viel weniger eine causa obligationis als die culpa. Darüber kann auch der Gedanke von einer Objektivierung der Vertrauenstatbestände nicht hinweghelfen. Es ist gerade die Aufgabe des Gesetzgebers, die Rechtspositionen möglichst klar zu definieren, auf die man

werden; es können nämlich nur bestehende Pflichten verletzt werden, nicht aber solche, von denen die Beteiligten mangels eines Vertragsschlusses noch gar nichts wissen.“ 140  Oben § 5 I. 141  F. Leonhard, Schuldrecht (1929), S. 553 ff. 142 Thiele, Leistungsstörung und Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649/652: „Nicht das, was der Partner wirklich erwartet, begründet die Verhaltenspflicht, sondern das, was er, was jeder Rechtsgenosse in dieser ‚Partnerrolle‘ und unter diesen Umständen erwarten darf. Es dürfte kaum schaden, aber es führt auch nicht viel weiter, wenn man insoweit von einem objektiven, typisierten „Vertrauenstatbestand“ spricht. Auch damit würde ja nichts anderes ausgesagt, als daß die Partner einer Sonderbeziehung einander als redliche Rechtsgenossen gegenüberzutreten haben und aufeinander besondere Rücksicht nehmen müssen.“ 143  Oben § 1 II.3.b). 144  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/33 f.: „… und sodann konnte der Gesetzgeber unmöglich den bloßen guten Glauben … zum Grunde nehmen (…).“

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redlich vertrauen darf, d. h. „typisierte Vertrauenstatbestände“ und insoweit „berechtigte Redlichkeitserwartungen“ ex ante zu formulieren. In dieser dogmatischen Verknüpfung wird nun immerhin die praktische Rolle der culpa (in contrahendo) noch einmal deutlich: Sie ist 1. Instrument der Billigkeit, 2. Instrument der Rechtsfortbildung. Und diese doppelte Rolle der culpa in contrahendo setzt es gleichsam voraus, dass mit ihr Vertrauen geschützt wird, das im positiven Recht nicht oder noch nicht typisiert ist. Einerseits geht es um eine „materiale“ Billigkeit im Einzelfall und andererseits um Möglichkeiten genereller „fruchtbarer“ Rechtsfortbildungen contra legem. Dann haftet also, um das konkrete dogmatische Beispiel von Ballerstedt noch einmal aufzugreifen, ganz unabhängig von der rechtlichen Wertung des vermeintlich geltenden Vertretungsrechts (§§ 164 ff. BGB), entweder der Vertretene oder der Vertreter oder ggf. auch beide oder keiner. Diese dogmatische „Fruchtbarkeit“ betrifft dann jede Konstellation mit „Dritten“, die im Prozess der Vertragsanbahnung involviert sind.145 Es haftet derjenige, der im Einzelfall am besten haften soll (im Regelfall derjenige, der einen Schaden vermeintlich am besten kompensieren kann); der Geschädigte hat (ex post) natürlich gerade der (noch) solventen Partei am meisten (normatives) Vertrauen entgegen gebracht. Niklas Luhmann hat das dogmatische Grundproblem der Vertrauenshaftung dann auch bereits (1968) treffend analysiert und zusammengefasst: „Die Figuren der Rechtsdogmatik, die sich ausschließlich auf Vertrauen berufen, sind teils durch Nachkonstruktion älterer Rechtsgedanken entstanden, teils handelt es sich um Spätankömmlinge in einer schon konsolidierten Rechtssphäre, die sich gegen die vorhandenen Begriffe und Prinzipien mit einem neuen, ethisch fundierten Argument, eben ‚Vertrauensschutz‘ durchsetzen mußten. Daher muß die Rechtsordnung sich in der Anwendung des Vertrauensprinzips Selbstbeschränkungen auferlegen, um nicht besser ausformulierte konstruktive Errungenschaften zu gefährden. Oder es kommt zu undisziplinierten Auswüchsen: zu überflüssigen Parallelkonstruktionen, zu undifferenzierten Begründungen und vor allem zu einem Unterlaufen der Gewaltenteilung durch die Justiz beim Schutz des Vertrauens auf gesetzwidrig geschaffene Tatbestände.“146

Eben das, wovor Luhmann noch gewarnt hatte, ist mit der Vertrauenshaftung des dogmatischen Positivismus eingetreten: Ein konsistentes privatrechtliches Haftungssystem gibt es nicht mehr. Das Vertrauen ist innerhalb der Haftungskonstruktion strukturell notwendig immer ein empirisch-psychologisches Phänomen und insoweit „nicht mehr als ein notwendiges Element des haftungsbegründenden Kausalzusammenhangs: Einen Vertrauensschaden kann eben nur erleiden, wer irgendwie vertraut

145 Ein generelles Problem bei der Einschaltung von Marktmediatären. Die Details gehören in den Dogmatischen Teil; einstweilen nur Benedict, Die rechtliche Einordnung des Anlagevermittlers, AcP 204 (2004), 697; ders., Die Haftung des Anlagevermittlers, ZIP 2005, 2129. 146 Luhmann, Vertrauen (1968), S. 37.

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hat.“147 Wir haben das bei der Betrachtung der actio doli ausgiebig erörtert: Erklärungshaftung gründet im Ausgangspunkt immer auf einer Selbstschädigung desjenigen, der auf eine Erklärung vertraut hat. Das eigentliche Haftungsdogma der Vertrauenshaftung ist mithin allein der Schaden, der ex post zum Anlass genommen wird, eine Pflichtverletzung als Nachweis für die Haftung zu postulieren. Es geht mithin nicht eigentlich um Vertrauensschutz, sondern um eine Neubewertung und Distribution von Schäden bzw. vorvertraglichen Kommunikationsrisiken im Einzelfall. Logisch gesehen ist die Haftung ein hysteron-proteron. Aus der Perspektive materialer Gerechtigkeit aber ist sie die gewünschte sozial(istisch)e Umverteilung mit Mitteln des Privatrechts im Einzelfall. Auf ein in sich konsistentes System von Rechtssätzen kommt es hierbei nicht an. Denn wir erinnern uns: Genau diese Kombination (systemsprengende Dogmatik + sozialistische Gerechtigkeit) entsprach dem Ziel der Zeit, der diese Haftungskonstruktion entstammte: Die Abschaffung des (liberalen) BGB.148 Die These von der Verknüpfung der Haftung für culpa in contrahendo mit dem Vertrauensprinzip hat in der deutschen Zivilrechtsdogmatik spätestens mit dem Aufsatz von Ballerstedt verbreitete Aufnahme gefunden.149 Tatsächlich wird man freilich sagen dürfen, dass Ballerstedt nach dem 2. Weltkrieg die bereits zuvor begründete Vorstellung von einer Vertrauenshaftung lediglich weiter getragen und in dieser Kontinuität lediglich weitere dogmatische Konsequenzen aus dem bereits von anderen konstruierten Haftungsprinzip gezogen hat.150 Vor allem aber ein Name ist mit Gedanken und Fruchtbarkeit der Vertrauenshaftung als „dritter Haftungsspur“ unauflöslich verbunden: Claus-Wilhelm Canaris.

147  Medicus, Probleme um das Schuldverhältnis (1987), S. 21; ebenso schon Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/422. 148 Oben § 6 II.3. 149  Vgl. etwa Soergel / ​R.  Schmidt, 9. Aufl. (1959), vor § 275 Rn. 5: „Zutreffend ist mit Ballerstedt die Haftung für culpa in contrahendo durch Gewährung in Anspruch genommenen Vertrauens zu begründen.“; Staudinger / ​Weber, 11. Aufl. (1961), § 242 Anm. 417; Canaris, JZ 1965, 475/476; Medicus, JuS 1965, 209/213: „Die Haftung für culpa in contrahendo ist … das Korrelat des vom Partner gewährten Vertrauens.“; Nirk, FS Möhring I (1965), S. 385/393: „… durch diese besonderen Vertrauenspflichten … entsteht bei schuldhafter Verletzung des in Anspruch genommenen besonderen Vertrauens ein Schadenersatzanspruch.“; auch Larenz räumt später dem Vertrauensgedanken einen Platz ein: (Schuldrecht I, ab 5. Aufl. 1962, § 4 V, S. 39); ebenso Müller-Graff, Die Geschäftsverbindung als Schutzpflichtverhältnis, JZ 1976, 153/155. 150  Das wird deutlich etwa auch bei Eichler, Rechtslehre vom Vertrauen (1950), S. 13, wenn dieser schon zuvor und d. h. ganz unabhängig von Ballerstedt formuliert: „Was die hier nicht vorzutragende Lehre der culpa in contrahendo angeht, so trägt sie der Rechtsgrundgedanke, daß derjenige, der eine rechtlich bedeutsame Handlung vornimmt, wozu auch die Eröffnung einer Vertragsverhandlung gehört, sich so zu verhalten hat, daß die auf diesen Akt Vertrauenden nicht getäuscht oder geschädigt werden.“

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3. Dogmatischer Höhepunkt: Vertrauenshaftung mit System „Die heute gestellte Aufgabe einer Rechtserneuerung bedeutet in weitem Umfang die Aufgabe einer Systemerneuerung; es gilt nicht nur Einzelregelungen des derzeitigen Rechtszustandes zu verbessern, sondern mit dem Rechtssystem der vergangenen Zeit überhaupt zu brechen und ein der neuen Weltanschauung entsprechendes Rechtssystem zu begründen und auszubauen.“ Hans-Detlev Fischer , 1938151

In zwei grundlegenden Aufsätzen aus dem Jahre 1965 hatte Canaris noch einmal zwei uns bereits bekannte Gedanken in Erinnerung gerufen und so das Fundament für sein weiteres dogmatisches Großprojekt gelegt: 1. dass im Rahmen eines umfassenden Schutzpflichtverhältnisses die positive Vertragsverletzung ‚consequent‘ von der culpa in contrahendo verschlungen werden muss152 und 2., dass das Verlöbnis kein Vertrag sei, sondern die §§ 1298 f. BGB positiver Ausdruck einer vorvertraglichen Vertrauenshaftung sein müssten.153 Für den weiteren grundsätzlichen Zusammenhang interessiert nur seine Grundschrift zur „Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht“ von 1971. Diese Schrift ist vor allem deshalb ein Phänomen, weil sie einerseits bereits im Vorwort klarstellt, dass „Fälle, in denen die Vertrauenshaftung lediglich zu Schadensersatzansprüchen führt“, explizit von der Abhandlung ausgeklammert und einer späteren Untersuchung vorbehalten werden, andererseits aber doch der Anspruch erhoben wird, das „Gesamtsystem der Vertrauenshaftung“ abzubilden.154 Der Rang, der dieser Schrift auch für Fragen der culpa in contrahendo zukommt, ist insoweit durchaus zwiespältig zu beurteilen. Einerseits könnte man versucht sein, trotz der gegenteiligen Klarstellungen durch den Verfasser die Begründung der culpa in contrahendo als Vertrauenshaftung nun endlich für

151 Gefälligkeitsfahrt

und vorvertragliche Haftung (1938), S. 70 f. Ansprüche bei nichtigen Verträgen, JZ 1965, 475/476: „Denn was im vorvertraglichen Stadium allgemein anerkannt ist, muß insoweit nach Vertragsschluß ebenso gelten, will man nicht willkürliche, d. h. ungerechte Unterschiede hinnehmen.“ Mit der „Heranziehung der c. i. c.“ sei „nicht nur im Ergebnis, sondern auch in der Konstruktion der richtige Weg vorgezeichnet. Es gilt nur, die für dieses Institut gewonnenen Erkenntnisse folgerichtig zu Ende zu denken …“. Wie diese Erkenntnisse bei Herholz und Stoll zu Ende gedacht worden sind, haben wir bereits gesehen (oben § 6 I.1.). Wenn sicher ist, dass bereits vor Vertragsschluss „ein besonderes Vertrauensverhältnis“ eine Sonderverbindung statuiert, so „muß dies erst recht nach Vertragsschluß“ der Fall sein. Mit dem übergreifenden „Vertrauensprinzip“ kann dann die Lösung auch aller weiterer Fälle nicht mehr schwerfallen: „Finden schon die Schutzpflichten zwischen den Parteien selbst ihre Grundlage nicht in den Willenserklärungen, sondern in dem davon unabhängigen Vertrauensverhältnis, so muß dies ebenso für die Schutzpflichten gegenüber Dritten gelten.“ (JZ 1965, 475/478). 153  Canaris, Das Verlöbnis als „gesetzliches“ Rechtsverhältnis, AcP 165 (1965), 1 ff.; hierzu bereits oben § 6 II.2.a). 154 Canaris, Vertrauenshaftung (1971), Vorwort VIII. 152 Canaris,

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grundlegend nachgewiesen zu erachten – in der Tat ein Dogma, dem nahezu die gesamte Zivilrechtsdogmatik seither anhängt.155 Man könnte aber auch andererseits mit guten Gründen die Meinung vertreten, die dogmatische Grundschrift der Vertrauenshaftung sei für die Theorie der culpa in contrahendo im Grunde genommen gar nicht weiterführend. Canaris selbst scheint von beiden Standpunkten auszugehen, wenn er bemerkt, dass er sich allein der praktisch wichtigsten „Frage nach der Rechtsfolge“ widme, demgegenüber seien „die dann noch verbleibenden speziellen Probleme der Schadensersatzhaftung … heute wohl nur noch zu einem verhältnismäßig kleinen Teil ungeklärt“.156 Sicher also ist, dass schon für Canaris die Zugehörigkeit der culpa in contrahendo zur Vertrauenshaftung nicht in Zweifel stand. Ja, im Gegenteil: Eine Vertrauenshaftung gab es nur, weil es eine Haftung aus c. i. c. gab. Haftung und Haftungsbegründung für diese standen für Canaris nicht mehr in Zweifel. Denn in der Tat: Die Grundfragen waren, wie gesehen, bereits zu Zeiten des Reichsgerichts bis zum Überdruss ausdiskutiert und hatten mit der „Flucht“ in die These vom „gesetzlichen Schuldverhältnis aus Gewohnheitsrecht“ einen wenig hilfreichen Abschluss gefunden, bis Heinz Hildebrandt (1931) mit der Synonymität von culpa in contrahendo und Vertrauenshaftung den fortan geltenden Standard abbildete und diese (negative) Vertrauenshaftung nun seinerseits bereits 1935 als Gewohnheitsrecht bezeichnet hatte.157 Mitte der 1930er Jahre wurde eine gesetzliche Regelung der c. i. c. bereits für unpro-

155 Exemplarisch für diese Auffassung etwa nur Hartwieg, JuS 1973, 733/737: „die neuere, vor allem von Canaris entwickelte Auffassung von der Rechtsnatur der culpa in contrahendo (…)“; Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S. 84: „… denn insbesondere aufgrund der überzeugenden Untersuchung von Canaris kann es als feststehend erachtet werden, daß die ‚Vertrauenshaftung‘ ein selbständiges Rechtsinstitut neben der Rechtsgeschäftslehre darstellt.“; Krebs, Sonderverbindung (2000), S. 183 ff., der insb. behauptet, Canaris habe das „Institut“ der „Anvertrauenshaftung“ entwickelt; Grundmann, Schadensersatzanspruch aus Vertrag, AcP 204 (2004), 569/575: Fortentwicklung der c. i. c. zur Vertrauenshaftung durch Canaris; Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), S. 66: „Galionsfigur der Vertrauenshaftung“. 156 (Vorwort IX); das entsprach offenbar der damaligen Sicht auch seines akademischen Lehrers: Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildung (1964); doch teilten schon in den 1960er Jahren keineswegs alle diese Einschätzung: a. A. etwa Boehmer, Einführung in das bürgerliche Recht (1965), der zur culpa in contrahendo bemerkt: „Ihre Entwicklung und wissenschaftliche Systematisierung ist erst allmählich in jahrzehntelanger Arbeit von der Rechtslehre und Rechtsprechung geleistet worden und noch immer im Fluß.“ (S. 267); Nirk, der angesichts der wenig einheitlichen Handhabung der c. i. c. in der Instanz‑ und höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits 1965 (FS Möhring I) kritisch fragt: „c. i. c. quo vadis“? (S.  387 ff.); Medicus, Grenzen der Haftung für culpa in contrahendo, JuS 1965, 209. 157 Hildebrandt, Rechtsfindung im neuen deutschen Staate (1935), S. 88: „Ergänzungsrecht entwickelte die  – inzwischen im Kerngedanken wohl zu Gewohnheitsrecht erstarkte  – Vertrauenshaftung (§ 249) bei Geschäftsverhandlungen für schuldhaft unrichtige (positive oder negative) Wissenserklärungen; kurz die (Wissens‑) Erklärungshaftung.“

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blematisch erachtet.158 Und, wie gesehen, hatte Heinrich Stoll ja schon 1936 einen grundlegenden Entwurf zur Reform der Leistungsstörungen vorgelegt, der im Grunde den Stand bis heute abbildet.159 Spätestens seit den Darstellungen von Dölle (1943) und Ballerstedt (1951) schien das keiner weiteren Erörterung mehr zu bedürfen.160 Die Haftung aus culpa in contrahendo hatte bereits ihren festen Platz in Rechtsprechung und Literatur161 und so hat diese Haftungsfigur in der „Vertrauenshaftung“ bei Canaris auch nur Erwähnung, aber keine eingehende Untersuchung mehr erfahren.162 a) Rechtsscheinhaftung: culpa in contrahendo + positives Interesse „Der Rechtschein ist von großer Bedeutung für das alte deutsche Recht. Für die Wissenschaft unseres heutigen Rechts ist er vielleicht das wichtigste Problem. In der deutschen Rechtsgeschichte und in der modernen deutschen Rechtsdogmatik ist seit einer Reihe von Jahren schon mancher auf einzelne seiner Seiten gestoßen. Im vollen Umfange hat ihn noch keiner behandelt.“ Hubert Naendrup, 1910163

Unter diesem Blickwinkel eröffnet sich nun aber auch der dogmengeschichtliche Kerngehalt von Canaris’ Schrift zur Vertrauenshaftung: Er liegt in nichts Geringerem als einer weiteren Expansion der culpa in contrahendo, der in Gestalt einer nun auch explizit auf das positive Interesse gerichteten Rechtsschein‑ bzw. Vertrauenshaftung weitere Bereiche der Rechtsgeschäftslehre er-

158 Tammena, Haftung aus nicht zum Abschluß gekommenen Vertragsverhandlungen (1934), S. 62: „Die Frage ist für eine endgültige Regelung reif.“ 159  Oben § 6 II.2. 160 Deutlich spricht dies auch Nirk, Die Lehre von der culpa in contrahendo (1951), in seiner Rechtfertigung des Untersuchungsgegenstandes aus: „… weil es seit Anfang der dreißiger Jahre an einer eingehenden Darstellung des Problems und an Abhandlungen über die Entwicklung und den heutigen Stand der Lehre von der Haftung für Verschulden bei Vertragsschluß … nicht mehr fehlt und die Evolution des Problems seit dieser Zeit im wesentlichen als abgeschlossen angesprochen werden darf.“ (S. 3 f.). 161 Kennzeichnend etwa: Nirk, FS Möhring I (1965), S. 392: die c. i. c. sei ein „aus unserer Rechtsordnung nicht mehr wegzudenkendes gesetzliches Rechtsverhältnis“; Schopp, Die Haftung aus culpa in contrahendo, Rpfl 1966, 292: „Als Rechtsinstitut ist die culpa in contrahendo heute nicht mehr umstritten (…).“ 162 Vgl. insoweit das Vorwort, S. VII: „Seit Ballerstedt und Coing die ‚Vertrauenshaftung‘ in den Rang eines eigenständigen Rechtsinstituts erhoben haben …“ und die Aussage seines Lehrers Karl Larenz vier Jahre später: „Die Haftung für ‚culpa in contrahendo‘ scheint einigermaßen ausdiskutiert zu sein … Auch über den inneren Grund … und damit über die Rechtfertigung ist man sich seit der Arbeit von Ballerstedt im Jahre 1951 weitgehend einig: Man erblickt ihn in dem besonderen Vertrauen, das der Verhandlungspartner dem anderen entgegenbringt (…).“ (FS Ballerstedt, 1975, S. 397.) Und doch widmet sich Larenz in seinem Aufsatz bereits der grundlegenden Kritik, die Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163 ff. an der vertrauenstheoretischen Begründung der culpa in contrahendo geübt hat. 163 Begriff des Rechtscheins und Aufgabe der Rechtscheinsforschung (1910), S. 1.

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schlossen werden.164 Die Sache wird deutlich, wenn man auf die schließlich im „Allgemeinen Teil“ dieser Konzeption so genannten „allgemeinen Merkmale der Vertrauenshaftung“ und insoweit insbesondere auf den haftungsbegründenden Vertrauenstatbestand schaut: Es geht um die verschiedenen Formen von Erklärungen (öffentliche Register und dann insbesondere: mündliche, schriftliche, konkludente Willenserklärungen)165 und sohin um eine weiter ausgedehnte Erklärungshaftung ohne bzw. jenseits eines wirksamen Vertrages. Dass hier die „Frage nach der Rechtsfolge“ – also einmal mehr die Differenzierung zwischen positivem und negativem Interesse – als das Wichtigste angesehen und zum Ausgangspunkt der ganzen Systematik (Differenzierung zwischen negativer und positiver Vertrauenshaftung) gemacht wird, ist so gesehen schon fast zwingend: Die Vertrauenshaftung von 1971 ist also die erste umfassende Schrift zu positiven Rechtsfolgen (Haftung auf das Erfüllungsinteresse) einer culpa in contrahendo. Man kann den dogmengeschichtlichen Schritt, der hier vollzogen wurde, auch anders formulieren: Meier-Hayoz hatte das Vertrauensprinzips im Vertragsrecht besonders hervorgehoben, Canaris pflückt es dort nun endgültig heraus, um auf ihm im Anschluss an Ballerstedt eine eigenständige Haftungsspur zu konstruieren. Wie ein zu stark gewachsener Bienenschwarm sich um eine neue Königin sammelt, um einen neuen Staat zu gründen, so sammelt auch Canaris aus allen Teilen des Zivilrechts einen vermeintlich „systemlosen Wildwuchs vertrauensrechtlicher Haftungstatbestände“166, um diesem (dem „Wildwuchs“) mit dem Gedanken der Vertrauenshaftung eine neue dogmatische Heimstadt zuzuweisen. Hatte man seit Franz Leonhard noch nach Pflichten gesucht, deren Ursprung sich im vorvertraglichen Bereich nachweisen ließen, um damit eine allgemeine culpa in contrahendo begründen zu können, so suchte Canaris nunmehr – da jener Prozess offenbar erfolgreich abgeschlossen war – nach weiteren Normen, bei denen sich ein Vertrauen im Tatbestand und eine Haftung in der Rechtsfolge aufweisen ließ. Dass er insoweit aufgrund der Ubiquität des Vertrauens im Rechtsgeschäft und bei jedem sonstigen rechtlich relevanten Ver164  Dass wohl gegenüber der Vertrauenshaftung die culpa in contrahendo „das übergeordnete Rechtsinstitut“ sein könne, vermutet Nirk, FS Möhring I (1965), S. 385/393. So sucht Krebs, Sonderverbindung (2000), S. 183 ff. ganz vergeblich der Frage nachzugehen, ob denn die Rechtsscheinhaftung, die Erklärungshaftung oder die Anvertrauenshaftung einen Rechtsgrund für eine Sonderverbindung abgeben, während doch der allen Fallgruppen der Vertrauenshaftung gemeinsame Rechtsgrund bei Dölle oder Ballerstedt nachzulesen ist: Das Vertrauensverhältnis erzeugt das Schuldverhältnis! 165  Vgl. Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 492, wo er im Anschluss an Wellspacher, Vertrauen auf äußere Tatbestände (1906), S. 22 ff, 58 ff. zwischen „künstlichen“ und „natürlichen äußeren Tatbeständen“ unterscheidet: „Als ‚künstliche äußere Tatbestände‘ kommen für die Vertrauenshaftung das Vereins-, das Güterrechts‑ und das Handelsregister in Betracht. Daneben stehen als ‚natürliche äußere Tatbestände‘ mündliche Erklärungen, Urkunden und konkludentes Verhalten.“; ich denke es ist nicht fehlerhaft, „Urkunden“ an dieser Stelle und in diesem Kontext nicht als strengen juristischen Begriff, sondern schlicht als schriftliche Erklärung zu fassen. 166 Canaris, Vertrauenshaftung (1971), Vorwort VII.

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halten die „ungeheure Fülle des zu bewältigenden Materials“ als Hauptproblem empfinden musste, wird ebenso wenig überraschen wie die Notwendigkeit einer überzeugenden Ein‑ bzw. Abgrenzung dessen, was fortan der Vertrauenshaftung zugezählt werden durfte. Dass etwa ausgerechnet die Urnormen einer Haftung für enttäuschtes Vertrauen, nämlich die Ausprägungen der actio doli (also § 823 II BGB i. V. m. § 263 oder § 266 StGB und § 826 BGB), weiterhin dem Deliktsrecht belassen bleiben sollten, entspricht einer bereits bekannten Tradition und ist sicherlich Ausdruck der „ungeheuren Fülle“ der in Betracht zu ziehenden Haftungstatbestände, aber auch dafür, dass weder das Fundament der Haftung noch das System wirklich solide gerichtet ist. Denn man kann doch schwerlich behaupten, dass das Vertrauen ausgerechnet bei diesen Haftungstatbeständen (des Betrugs und der Untreue) „nur eine ergänzende Hilfsfunktion für den Eintritt der Rechtsfolge erfüllt“ oder „nur eines unter mehreren Elementen“ sei.167 Und dass diese Haftung weiterhin „Deliktshaftung“ sein soll, weil „das Schwergewicht“ auf dem „deliktischen Unrecht“ liege,168 ist schon nur noch tautologisch. Immerhin wird damit das prinzipiell gefühlte und dogmatisch angestrebte System hinter dieser ganzen Systematik recht deutlich: 1. dem Deliktsrecht das Verschulden, 2. dem Vertragsrecht der Wille und 3. für die „dritte Haftungsspur“ das Vertrauen. Für diese 3. „Haftungsspur“ musste dogmatisch nur ein wenig mehr Platz geschaffen werden: b) Schrumpfungsmethodologie: Positive Vertrauenshaftung vs. Rechtsgeschäft „Diese  – sehr verbreitete  – besondere Art von Begriffsjuristen kann erfahrungsgemäß alles konstruieren, was sie konstruieren will. Sie paßt in ihr ‚System‘ alles hinein, sei es auch, indem sie nach der sagenhaften Methode des Prokrustes abhackt, was zu lang, und auseinanderzerrt, was zu kurz ist.“ Ernst Fuchs, 1929169

Jeder mag selber beurteilen, was überhaupt im Ergebnis damit gewonnen ist, die Haftung kraft Anscheinsvollmacht, beim Blankettmissbrauch oder Formmangel usw. nicht als rechtsgeschäftliche, sondern als Vertrauenshaftung zu bezeichnen. Wichtig ist, dass Canaris mit diesem dogmatischen Kraftakt ganz notwendig das oben so bezeichnete Schrumpfungsargument II von Ballerstedt sehr viel ausführlicher begründen musste. Und dabei begegnet uns methodologisch gerade das Phänomen, das Meier-Hayoz noch für die gemeinrechtliche Diskussion kritisiert hatte: „Um mit der begriffsjuristischen Methode zu andern Resultaten zu kommen, musste man also den Begriff des Rechtsgeschäfts … anders fassen.“170 Dieses 167 So

aber Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 2 f.  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 3. 169  Was will die Freirechtsschule (1929), S. 6. 170 Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 75. 168

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begriffliche Zurechtschrumpfen kennen wir bereits exemplarisch von Dölles auf den „unerwünschten Zusammenprall Dritter“ geschrumpfter Definition des Deliktsrechts (Schrumpfungsargument I).171 Auf Ballerstedt und nun vor allem Canaris gewendet heißt das: Um Platz für eine eigenständige Legitimation einer „positiven Vertrauenshaftung“ auch neben der Rechtsgeschäftslehre zu schaffen, musste der Begriff des Rechtsgeschäfts passend geschrumpft werden. Ballerstedt hatte es sich noch einfach gemacht und die Vertrauenshaftung schlicht als „Rechtsgeschäft“ bezeichnete.172 Canaris geht einen Schritt weiter, indem er den „Geltungsgrund für die Verbindlichkeit des Rechtsgeschäfts“ nunmehr isoliert auf das „Prinzip der Privatautonomie“ zurückführt: Das Rechtsgeschäft sei „seiner Natur nach ‚Geltungserklärung‘“ und so sei es „eine bare Selbstverständlichkeit“, dass das (mangelfreie) Rechtsgeschäft „gilt“ [weil es gewollt ist]. Die Verbindlichkeit „folgt“ also „schon aus dem Begriff“. „Die Selbstbestimmung der Person durch rechtliche Selbstgestaltung läßt sich daher gar nicht anders denken als in der Form der Selbstbindung.“173 Auch wenn Canaris den Begriff „Willen“ vermeidet, in der Sache vollzieht sich bei ihm notwendig die Wiederkehr des „Willensdogmas“ in der Rechtsgeschäftslehre; denn – und hier liegt der definitorische Reduktionismus seiner begriffstheoretischen Argumentation  – beim Rechtsgeschäft spielten seiner Meinung nach „Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes … in keinem Fall eine Rolle“.174 Auf eine einfache Formel gebracht: Das Rechtsgeschäft basiert auf dem Gedanken der Privatautonomie (Willen, Selbstbestimmung, Selbstbindung), für die Vertrauenshaftung verbleibt als Grundlage das Vertrauen. Hier ist die Haftung „ex lege“, dort „ex voluntate“, weshalb seiner Ansicht nach, ebenso wie bei Ballerstedt, etwa § 122 BGB kein rechtsgeschäftlicher Tatbestand, sondern ein Tatbestand der Vertrauenshaftung sein soll.175 Aber wie bereits gesagt: Die willkürliche Trennung von Tatbestand (§ 119 gehöre zum Rechtsgeschäft) und Rechtsfolgenanordnung (§ 122 gehöre zur Vertrauenshaftung) lässt die Zweifel am Sinn der ganzen Theorie noch einmal deutlich werden.176

171 Oben

§ 6 II.2.c). schon Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 39: „Überdies bedeutet die Korrektur des klassischen Rechtsgeschäftsbegriffs nur eine Scheinbegründung für die Vertragshaftung, indem der Zugang zur gesetzestreuen und orthodoxen (Vertrags)Lösung kurzerhand durch die erweiterte Begriffsdefinition der Vertragshaftungsprämisse eröffnet wird.“ 173  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 413. 174  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 414. 175 Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 423. 176  Das Problem wird deutlich, wenn beides in einer Norm zusammengefasst wird, wie dies in Art. 23 schw. OR der Fall ist: „Hat der Theil, welcher den Vertrag nicht gegen sich gelten läßt, seinen Irrthum der eigenen Fahrlässigkeit zuzuschreiben, so wird er zum Schadensersatze verpflichtet, es sei denn, daß der andere Theil den Irrthum gekannt habe oder hätte kennen sollen.“ Was überwiegt denn hier: die Selbstbestimmung oder die Verpflichtung zum Schadensersatz? Von „Vertrauen“ ist hier gleich gar nicht explizit die Rede. Deutlich formulierte zur culpa in 172 Ähnlich

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c) Vertrauensmethodologie: Eine „Wiesel-Theorie“ „quid enim tam congruum fidei humanae, quam ea quae inter eos placuerunt servare?“ (Denn was entspricht der menschlichen Treue mehr als zu halten, worüber man sich untereinander geeinigt hat?) Ulpian D. ​2, ​14, ​1 pr.

Es ist bei allem Begründungsaufwand, den Canaris dogmatisch scharfsinnig vorzutragen sucht, um der Vertrauenshaftung einen eigenständigen systematischen Platz neben der Rechtsgeschäftslehre zuzuweisen, schwerlich überzeugend, wenn eine solche Vertrauenshaftung, die doch in erster Linie Erklärungshaftung ist, ausgerechnet die Erklärungstatbestände ausklammern möchte, die nun in der Tat seit jeher Vertrauen auf ihre Geltung für sich in Anspruch genommen haben: Versprechen und Vertrag!177 Ob im römischen Recht, in der alttestamentlichen oder dann insbesondere der christlichen Tradition – es war kulturübergreifend von Anfang an der Gedanke der „fides“, der „Treue“, das Stehen zu und das Vertrauen auf ein gegebenes Wort, einen geschlossenen Bund, das Festhalten an einem Versprechen, kurz: die Versprechens‑ und Vertragstreue, die im Kampf um die Klagbarkeit der nuda pacta zur rechtsverbindlichen Formfreiheit des Versprechens und zur vernunftrechtlichen Begründung des Willensdogmas als Basis für den Konsensualvertrag führte.178 Freiheit und Vertrauen waren hier als essentiale Geltungsgründe des Vertragsschlusses immer und notwendig zusammen gedacht: „In diesen Fällen (Konsensualvertrag) nennt man die Leistung dessen, der sie künftig zu erbringen hat, Einhaltung des Versprechens oder Treue, da man ihm Vertrauen entgegenbringt, und das Nichterbringen der Leistung, wenn willentlich, Verletzung der Treupflicht.“179 contrahendo auch schon Heck, Schuldrecht (1929), § 41. 4, S. 123: „Die Geschichte und die Einzelheiten der Lehre gehören in den Allgemeinen Teil, in die Erörterung der Rechtsgeschäfte.“ 177  Zum Zusammenhang von Versprechen, dolus und bona fides bei der historischen Entwicklung des Vertragsrechts aus dem Delikt bereits oben § 2 II.2.; auch Zimmermann, Das römischkanonische ius commune, JZ 1992, 8/12: „Im Vertragsrecht geht es ja ganz wesentlich um den Schutz berechtigter Erwartungen, die durch bindende Versprechen geweckt worden sind (…).“ 178 Neben den Ausführungen oben § 2 II.2. vgl. noch: Behrends, Treu und Glauben. Zu den christlichen Grundlagen der Willenstheorie im heutigen Vertragsrecht (1984), S. 255 ff.; Harold J. Berman, The Religious Sources of General Contract Law: An Historical Perspective, Journal of Law and Religion 4 (1984), 103–124; Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen (1959); Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte: Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert (1998); aber auch Siegel, Das Versprechen als Verpflichtungsgrund, 1873; Hofmann, Die Entstehungsgründe der Obligationen (1874), S. 66 f.: dass „das Vertrauen (fides) der Grund des Vertragsschutzes“ sei; ebenso die aktuelle rechtsphilosophische Literatur: Charles Fried, Contract as Promise: a theory of contractual obligation (1981); Patrick Selim Atiyah, Promises, Morals, and Law (1991); Andreas Großmann, Versprechen und Vertrag: zu Ansatz und Problem neuzeitlichen Rechtsdenkens (1995); Bernd Lahno, Versprechen: Überlegungen zu einer künstlichen Tugend (1995); Richard Schenk (Hrsg.), Kontinuität der Person: zum Versprechen und Vertrauen (1998). 179 Thomas Hobbes, Leviathan, XIV.

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„In der Figur des Vertrages konkretisiert sich die über Jahrhunderte hinweg kultivierte Einsicht, daß der Mensch als ens sociale auf Kooperation angewiesen ist. Diese aber setzt Vertrauen auf das Wort des anderen voraus, weil sonst jegliche Planung, wie sie entwickeltes menschliches Zusammenleben erfordert, ausgeschlossen ist.“180 Es ist eine „anthropologische Vorgegebenheit … sich in seinem Existenzkampf in Familie, Gesellschaft und Staat zu organisieren und – in diesen sozialen Kontexten – auf das Versprechen anderer vertrauen zu können. Dieses Bedürfnis entspricht der hohen Bedeutung der fides in der römischen Sozialethik und im römischen Recht. Fides bedeutet die Pflicht zum Worthalten, auch gegenüber Fremden oder Abhängigen.181 Mit diesem Begriff des römischen Rechts wurde das Bedürfnis nach Verlässlichkeit und dem darauf aufbauenden Vertrauen immer wieder von Juristen und Philosophen umschrieben.“182

Canaris ist nun offenbar der erste Rechtsdenker des Abendlandes, der im Interesse dogmatischer Konstruktion (oder systemsprengender „zivilrechtlicher Entdeckungen“) den Vertrag ohne Vertragstreue vorzustellen keine Bedenken trägt. Manche sind ihm in diesem systematischen Rigorismus gefolgt.183 Andere nicht.184 Man mag das ja auch dogmatisch spannend finden, muss aber doch sehr schnell begreifen, dass dies nur auf der Basis einer Auffassung von Rechts Dietmar Willoweit, Rudolf Stammlers Abhandlung „Recht und Willkür“ und ihre Konsequenzen für den Rechtsbegriff, in: Perspektiven der Philosophie 23 (1997), 181/188, auch mit einer sinnigen inhaltlichen Ableitung der Prinzipien: „pacta sunt servanda“ und „neminem laedere“ aus dem Rechtsbegriff. 181  Kaser, Römisches Privatrecht (1992), § 3 III 3 c; § 13 I 2b. 182 Horn, Person und Kontinuität, Versprechen und Vertrauen: die Perspektive des Zivilrechts, in: Richard Schenk (Hrsg.) Kontinuität der Person. Zum Versprechen und Vertrauen (1998), S. 35/65 f. 183 So meint auch Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/394 ff.: „Geltungsgrund des Vertrages ist die in Selbstbestimmung getroffene Bindung. Als causa einer Leistung reicht der Vertrag demgemäß nur so weit, wie die Partei selbst dies bestimmt hat. Inhalt und Umfang der durch die rechtsgeschäftliche Bindung gedeckten Leistungsverpflichtung richten sich mithin ausschließlich nach ihrer autonomen Entscheidung. … Das selbstbestimmte Leistungsversprechen, das die rechtsgeschäftliche Bindung begründet, und der willensunabhängige Haftungsgrund, der ebenso wie bei jeder anderen Schadenshaftung auch bei der im Rahmen einer Sonderverbindung die Einstandspflicht auslöst, schließen sich als Haftungsgrund jeweils aus. Das gilt schon logisch-begrifflich. Und es gilt folglich uneingeschränkt in allen denkbaren Fällen. Beide Rechtsgründe können sich daher nicht auch nur teilweise als causa der unterschiedlichen Verpflichtungen überschneiden.“; Lobinger, Rechtsgeschäftliche Verpflichtung und autonome Bindung (1999), hat diesen Gedanken dann in seiner Dissertationsschrift weiter ausgeführt. Dogmatisch sind wir mit dieser „klaren Aufteilung zwischen den eigentlich rechtsgeschäftlichen und den auf Schadensersatz gerichteten Pflichten“ (Picker, aaO.) wieder bei der rigoros durchgeführten simplen Dichotomie der Haftung ex voluntate und ex lege, bzw. bei Jhering: Willensdogma einerseits und culpa in contrahendo andererseits! Nur muss man klar sehen, dass für das Vertragsrecht gar kein eigenständiger Regelungsbereich mehr verbleibt, wenn „der rechtsgeschäftlichen Bindung … jede auf Schadensersatz gerichtete Haftung“ als „aliud gegenüberzustellen“ und eine „vertragliche Schadensersatzhaftung“ eine unsinnige „Perplexität“ sein soll (so Picker, aaO., S. 397 f.). 184  Das mit dieser These verbundene Problem hat insb. Köndgen aufzuzeigen und in jedem denkbaren vertrauenserheischenden Erklärungstatbestand doch auch eine „Selbstbindung ohne Vertrag“ nachzuweisen gesucht. Hierzu unten III.1.b). 180

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wissenschaft Beifall finden kann, die im Kern ahistorisch und rein normativ konstruierend die Lebenswirklichkeit von sich auszuschließen geneigt ist. Hierfür hatte sich der Begriff dogmatischer Positivismus empfohlen, dessen praktische Umsetzung hier gar nichts anderes ist als tatsächlich Begriffsjurisprudenz. Wie immer man zu der Vertrauenshaftung im Allgemeinen oder auch im Detail stehen mag, mit dieser Theorie wird jedenfalls eine über Jahrhunderte gewachsene Vertragstheorie und Rechtsgeschäftslehre in einer Weise negiert, dass sie (d. h. die so konstruierte Vertrauenshaftung) in ihrer Berechtigung kaum plausibel erscheinen lässt. Im Anschluss an die Metapher vom weasel-word185 liegt es nahe einzusehen, dass es auch Wiesel-Theorien gibt. Theorien also, die ihre eigene Nahrung und Existenz von anderen Theorien beziehen und von diesen nichts als eine entmaterialisierte Hülse übriglassen. Die Vertrauenshaftung ist eine solche weasel theory; denn die Rechtsgeschäftslehre verliert daneben alle eigenständige Bedeutung. Juristisch spannend wird es doch immer dann, wenn ein Vertrag nicht eingehalten, ein Versprechen gebrochen wird. Hier schließt sich dann auch der Kreis zur „Materialisierungsthese“: Eine auf diese Weise entlehrte Rechtsgeschäftsleere bedarf natürlich dringend der Vertrauenshaftung als materialem „Korrelat“. Einmal mehr erleben wir den „Unfug“, den Prinzipien nicht nur in der Geschichte anrichten können: Den Unfug übersteigerter rechtswissenschaftlicher Dogmatik im Kultus des Logischen. Besonders ambivalent argumentiert Canaris denn auch gegen eben diejenigen im Schrifttum, die, anders als er selbst, nicht von dogmatischen Strukturüberlegungen, sondern der historischen Entwicklung ausgehend, die Diskussion um den Geltungsgrund eines Rechtsgeschäfts zwischen Willens‑ und Vertrauenstheorie kennen und insoweit durchaus einen differenzierten Standpunkt nicht nur für einen gut vertretbaren halten, sondern ihn auch entschieden vertreten.186 Dass das Vertrauen insoweit im Rechtsgeschäftsverkehr insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit eine wichtige Rolle spiele, sei – so Canaris – natürlich nicht zu bestreiten, nur sei es „… kein Spezifikum gerade der Geltung von Rechtsgeschäften; denn in diesem Sinne muß man sich z. B. auch ‚darauf verlassen können‘, daß man bei schuldhafter Verletzung seiner  Oben § 6 III.1.b).  Namentlich etwa: Simonius, Vertrauensprinzip in der Vertragslehre (1942), S. 1: „Im Mittelpunkt der Lehre von den Verträgen … steht die Frage nach der Entstehung und dem Umfang der Bindung, die der Vertrag herbeiführt. Für die Antwort ist zunächst ein Grundsatz bestimmend, den wir das Vertrauensprinzip zu nennen pflegen. … Man darf deshalb mit gutem Gewissen das Vertrauensprinzip als den eigentlichen Exponenten unserer modernen Vertragslehre bezeichnen.“; Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip (1948), S. 67 ff.; Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen (1950), S. 8: „die rechtsethische Sinndeutung des Vertrauensprinzipes, auf das vor allem der Imperativ der Vertragstreue zurückgeht“; Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts (1967), S. 131 ff.; Craushaar, Der Einfluß des Vertrauens auf die Privatrechtsbildung (1969), S. 35 ff.; zu alledem auch Singer, Selbstbestimmung (1995), S. 54 ff. 185

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Rechtsgüter regelmäßig Schadensersatz verlangen kann, daß man bei der gesetzlichen Erbfolge  – nicht weniger als bei der testamentarischen (!)  – gegenüber unrechtmäßigen Prätendenten geschützt ist, daß einem das Eigentum nicht gestohlen werden darf, daß man vor Körperverletzungen einigermaßen sicher ist, daß der Staat Gerichte und gegebenenfalls Zwangsmittel zur Durchsetzung berechtigter Ansprüche zur Verfügung stellt usw. usw. Mit anderen Worten: es geht hier um nichts anderes als um die generelle Sicherungs‑ und Ordnungsfunktion, die dem Recht ganz allgemein zueigen ist. Daß diese in engem Zusammenhang mit dem Gedanken des Vertrauens‑ und Verkehrsschutzes steht, ist zwar richtig, doch müsste man so gesehen folgerichtig bei nahezu jeder rechtlichen Regelung den „Geltungsgrund“ im Vertrauensprinzip erblicken, wodurch dieses jeden unterscheidenden Wert verlöre.“187

Dem ist an sich nichts mehr hinzuzufügen. Die Kritik hat sich in diesem Sinne bekanntlich gegen die Ubiquität der Vertrauenshaftung selbst gewandt.188 Johannes Köndgen bringt das Problem im Anschluss an Luhmann189 auf den Punkt: Vertrauen ist ein „ubiquitäres sozialpsychologisches und soziales Phänomen. Die Alltagssprache reflektiert diese Ubiquität von Vertrauen: Man vertraut einem Freunde; man setzt Vertrauen in die Wahlversprechen der Regierung und man vertraut auf die Pünktlichkeit der Eisenbahn; Sparer vertrauen in die Binnenstabilität der Währung, und Familien planen ihren Sonntagsausflug im Vertrauen auf gutes Wetter. Dass eine solch vielseitige Verwendbarkeit den Begriff Vertrauen nicht gerade zum technischen Rechtsbegriff prädestiniert, versteht sich.“190 187 Canaris,

Vertrauenshaftung (1971), S. 415.  Zur Kritik an der Vertrauenshaftung bereits Stöcker, Die Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo (1961), S. 64 ff.; neben und nach Frotz, GS Gschnitzer (1969), 163/168 ff. dann insb.: Flume, Rechtsgeschäft (3. Aufl. 1979, unverändert 4. Aufl.), § 10, 5, S. 132: „Es gibt kein ‚eigenständiges Rechtsinstitut‘ der Vertrauenshaftung.“; Hans Stoll, FS Flume I (1978), S. 753; Schanze, Ius Commune VII (1978), 326/357; Hohloch, Vertrauenshaftung, NJW 1979, 2369; Bohrer, Dispositionsgarant (1980), Vorwort: „Zur negativen Vertrauenshaftung fehlt der Tatbestand“, Kritik insb. S. 267 ff.; Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 97 ff.; v. Bar, Vertrauenshaftung ohne Vertrauen, ZGR 1983, 476/490 ff.; Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/418 ff.; Hopt, Nichtvertragliche Haftung außerhalb von Schadens‑ und Bereicherungsausgleich, AcP 183 (1983), 608, 639 ff.; Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 41 ff.; Medicus, Probleme um das Schuldverhältnis (1987), S. 20 ff.; Gernhuber, Das Schuldverhältnis (1989), § 8 I 6 = S. 177–179; Loges, Die Begründung neuer Erklärungspflichten (1991), insb. S.  70 ff.; Emmerich, Recht der Leistungsstörungen, 4. Aufl. (1997), S. 39; Fleischer; Informationsasymmetrie (2001), S. 420 ff.; ders., Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 243/254 ff.; Harke, Das neue Sachmängelrecht, AcP 205 (2005), 67/87 resümiert lapidar: „Längst ist erkannt, daß die Haftung für vorvertragliches Verschulden entgegen einer im 20. Jahrhundert verbreiteten Ansicht nicht Teil einer zwischen Vertrag und Delikt zu ortenden Vertrauenshaftung ist.“; Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), S. 50 ff. 189 Vertrauen (2. Aufl. 1973), S. 37: Die Kategorie Vertrauenshaftung habe „etwas Unabgeschlossenes, Zufälliges und daher Unbefriedigendes an sich. … In Wahrheit fundiert der Vertrauensgedanke das gesamte Recht, das gesamte Sicheinlassen auf andere Menschen, so wie umgekehrt Vertrauenserweise nur auf Grund einer Risikominderung durch das Recht zustandekommen können.“ 190  Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 115; zur phänomenologischen Ubiquität bereits oben § 7 I.1.a); zuletzt Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), S. 86 ff. 188

I. Der Weg zur „modernen“ Vertrauenshaftung

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Es entbehrt insoweit nicht einer gewissen Ironie, wenn der angebliche ‚Vater‘ „der modernen Vertrauenshaftung“, (d. h. Ballerstedt) selbst – freilich bei anderer Gelegenheit – ganz in diesem Sinne die Meinung vertreten hat, „Vertrauen“ sei als „Element einer juristischen Systematik“ unbrauchbar.191 Nach alledem bleibt nur mit Frotz (1969) festzustellen, dass „… die These der herrschenden Meinung, die gesteigerte Verantwortung in contrahendo rechtfertige sich aus dem Vertrauensgedanken, meines Wissens niemals überzeugend begründet worden“ ist.192

Dem ist wohl so. Wir können das Phänomen jetzt allerdings etwas präziser formulieren: Das „Vertrauen“ kann als allgemeines empirisches Phänomen nicht begründen, was es begründen soll, und der Hinweis, es müsse sich um berechtigtes Vertrauen handeln, verdeutlicht, dass die entscheidende normative Wertung der Vertrauenshaftung offensichtlich gar nicht im Begriff des „Vertrauens“ zu finden ist. Canaris hat zwar einerseits klargestellt, dass es nur dort Sinn macht, von einer „Vertrauenshaftung“ zu sprechen, „wo das Vertrauen für den Eintritt der Rechtsfolge überhaupt eine Rolle spielt“.193 Andererseits lässt sich dies aber von vornherein für jeden Haftungstatbestand nachweisen. So sieht auch Picker in dem Mangel eines „eigenständigen Haftungsgrundes“ zu Recht ein „vitales Problem“, das „sich bei näherem Zusehen vollends als unlösbar“ erweist.194 Und in der Tat liegt hier das Dilemma einer Vertrauenshaftung als „dritter Haftungsspur“ auf offener Hand: Entweder ist das „Vertrauen“ als empirisches Phänomen für die Haftung beachtlich, dann gilt das auch für die deliktische und vertragliche, d. h. für alle drei unterschiedenen Haftungsformen, und es verliert seine differenzierende Kraft. Oder es kommt auf die Berechtigung des Vertrauens an, dann geht es wie bisher und überall um die Frage der Differenzierung von berechtigten und 191 Ballerstedt, DRZ 1950, 141/143: „Die Begriffe Macht, Interesse, Vertrauen eignen sich vorzüglich zu einer Beschreibung von Sachverhalten (…), als Elemente einer juristischen Systematik sind sie unbrauchbar.“ 192 Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/170; diese Aussage mit einschließend wird dann auch nicht müde, die „Undurchdachtheit“ dieser Theorie zu betonen: Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/385: es fehle an einer Lehre, die einer „Sonderhaftung ‚zwischen‘ Vertrag und Delikt eine überzeugende und anerkannte rechtliche Legitimierung gäbe“, S. 387: „Problematik der Sonderhaftung kraft Sonderverbindung bislang nicht wirklich gelöst“, und als Fazit S. 429: es sei „offensichtlich, wie wenig das Kernproblem der materialen Begründung der Haftungen ‚zwischen‘ Vertrag und Delikt gelöst ist.“ Zuletzt eingehend Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), S. 50 ff., mit dem Fazit: Es sei „bis heute keinem Vertreter einer Vertrauenshaftungslehre … gelungen, zu erklären, warum Vertrauen in jedweder Form dazu geeignet ist, die Verhältnisse, in denen ein Rücksichtnahmeschuldverhältnis entstehen soll, von den Beziehungen zu trennen, in denen ein solches nicht entsteht“. 193  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 1. 194  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/421 ff.: „Alle Bemühungen, mit der Figur einer ‚gesetzlichen Vertrauenshaftung‘ eine dritte Haftungsform neben Vertrag und Delikt zu begründen, scheitern folglich an dem einfachen, aber zwingenden Schluß, daß ein und dasselbe Moment, das allen drei Haftungsformen als integrierendes Element gemein ist, nicht zugleich das Spezifikum nur einer dieser Haftungen sein kann.“

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widerrechtlichen Handlungen, dann aber ist der Begriff „Vertrauenshaftung“ einfach irreführend. So muss es nicht verwundern, wenn das ganze System der „Vertrauenshaftung“ bei Canaris seine Begründung letztlich primär negativ, d. h. insbesondere in dem Nachweis erhält, eine Haftung ex lege und eben nicht ex voluntate zu sein. Abgesehen davon, dass diese Differenzierung ohnehin wenig hergibt, weil jede Haftung ex voluntate letztlich doch auch eine Haftung ex lege ist,195 sind wir dann mit unserer Weisheit wieder dort angelangt, wo Ballerstedt vermeinte, den Zirkel des Nihilismus zur Haftungsbegründung der culpa in contrahendo endlich aufgebrochen zu haben: bei der „Leerformel“ von der obligatio ex lege, bei einem bloßen Postulat und der Behauptung es gebe ein neues „gesetzliches Schuldverhältnis“.196 Gleichwohl: Die Anhänger einer Vertrauenshaftung als „dritter Haftungsspur“ haben sich regelmäßig auf die Lehren von Ballerstedt und Canaris bezogen. Das ist so in Zeiten des dogmatischen Positivismus: Der Titel eines dicken Buches zählt mehr als sein Inhalt. Insbesondere die späteren Schriften von Canaris selbst wird man freilich schon nur noch als Verteidigungsschriften zu

195  Das, was gewollt ist, muss rechtlich anerkannt sein, um rechtlich wirksam zu sein; vgl. hierzu schon die Motive zum BGB: „Das Wesen des Rechtsgeschäfts wird darin gefunden, daß ein auf die Hervorbringung rechtlicher Wirkungen gerichteter Wille sich betätigt, und daß der Spruch der Rechtsordnung in Anerkennung dieses Willens die gewollte rechtliche Gestaltung in der Rechtswelt verwirklicht.“ (Mugdan, I, S. 421); ebenso auch BVerfGE 89, 214/225: „Die Privatautonomie ist notwendigerweise begrenzt und bedarf der rechtlichen Ausgestaltung. (…) Nach ihrem Regelungsgegenstand ist die Privatautonomie notwendigerweise auf staatliche Durchsetzung angewiesen. Ihre Gewährleistung denkt die justizielle Realisierung gleichsam mit und begründet daher die Pflicht des Gesetzgebers, rechtsgeschäftliche Gestaltungsmittel zur Verfügung zu stellen, die als rechtsverbindlich zu behandeln sind und auch im Streitfall durchsetzbare Rechtspositionen begründen.“ 196  Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1951), 501/505 f.: „Dagegen befriedigt die Erklärung als ‚gesetzliches‘ Schuldverhältnis insofern nicht, als sie rein positivistisch ist. Sie gibt keine Auskunft darüber, was diese objektiv-rechtlich angeordnete Verpflichtung des Verhandlungspartners innerlich rechtfertigt. Dies aber ist die entscheidende Frage: Daß die Verpflichtungswirkung als solche auf dem Gesetz beruht, gilt für die rechtsgeschäftliche Verpflichtung, richtig verstanden, in gleicher Weise.“; ähnlich Stöcker, Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo (1961), S. 52 ff.: „Im übrigen besagt die Zuordnung der c. i. c. zu den gesetzlichen Schuldverhältnissen nicht mehr, als daß der dem Rechtsinstitut zugrunde liegende Sachverhalt eine Rechtsfolgenwillenserklärung vermissen läßt, es darum dem  – mindesttatbestandlich aufgefassten  – Vertragsbegriff nicht unterfällt. … Weil die Haftung für c. i. c. auf Vertrag nicht beruhen könne, müsse es sich um eine gesetzliche Verpflichtung handeln. Damit will das ‚gesetzliche Schuldverhältnis‘ also nur den für das Tatbestandssystem typischen Mangel, das Wesen des nichtvertraglichen Rechts mit einem Negativum identifizieren zu müssen, kaschieren. Denn auch die an eine Vertragsvereinbarung geknüpfte Rechtsfolge tritt ein kraft Gesetzes.“ (S.  53 m. w. N.); Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S. 47: „die Kennzeichnung der herrschenden Meinung, das Verhandlungsverhältnis sei ein gesetzliches Schuldverhältnis, ist eine Leerformel.“; zuletzt auch Druey, Vertrauenshaftung – eine Revolution? (2004), S. 352: „Resignation“ und „juristisches Faulbett“; zur Ursache dieser „Leerformel“ bereits oben § 5 III.3.c).

I. Der Weg zur „modernen“ Vertrauenshaftung

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deuten haben,197 nicht aber als die angekündigte Grundschrift zur „negativen“ Vertrauenshaftung. Die Abhandlungen hierzu bleiben punktuell. Canaris konstatiert in dieser Hinsicht noch 1986, dass sich die culpa in contrahendo „mehr und mehr zu einer Generalklausel des Vertrauensschutzes entwickelt habe“, deren „Konturen kaum noch zu erkennen“ seien und deren dogmatische Erfassung und Aufarbeitung noch am Anfang stehe (sic!).198 Damit aber hat er die 197 Hervorzuheben sind: Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 27 ff., 105 ff. (dazu noch gleich unten II.2.); ders., Bewegliches System und Vertrauensschutz (1986), S. 103/105 f.; Ansatz zu einer Systematisierung aber: ders., Die Vertrauenshaftung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (2000), S. 129–197. Eine eher zweifelhafte Begründung der „negativen Vertrauenshaftung“ findet sich dann bei Bohrer, Die Haftung des Dispositionsgaranten (1980), der bereits im Vorwort klarstellt: „Seit der Geltung des BGB wird … der Bezug der Iheringschen culpa in contrahendo zur Rechtsgeschäftslehre … verkannt.“ (zu dieser Schrift noch unten III.1.). Breidenbach, Informationspflichten (1989), S. 47 ff. beruft sich lediglich auf den Vertrauensgedanken, wie er „von Canaris überzeugend nachgewiesen“ und „daß dem hier nichts hinzuzufügen“ sei. Mit eher differenzierter Sicht auf die vertrauenstheoretischen Thesen: Singer, Selbstbestimmung (1995), der zwar die Dominanz der Selbstbestimmung für das Rechtsgeschäft gegenüber konkurrierenden Prinzipien wie Vertrauens‑ und Verkehrsschutz, Äquivalenz‑ und Vertragsgerechtigkeit hervorhebt, aber immerhin: die konkurrierenden Prinzipien erhalten ihren Platz. So wird recht deutlich, dass die konkurrierenden Prinzipien in unterschiedlichen Rechtsverhältnissen und Rechtsbereichen durchaus unterschiedliches Gewicht haben können: Es wird etwa ganz notwendig das Handels‑ und Wertpapierrecht stärker von Verkehrs‑ und Vertrauensschutzgesichtspunkten beherrscht sein als das bürgerliche Recht. Schließlich kommt in der letzten – jedenfalls für einen wichtigen Teilbereich der culpa in contrahendo – grundlegenden Schrift von Hans-Christoph Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997), der Gedanke einer „Vertrauenshaftung“ nicht einmal mehr als Stichwort vor. Gleichwohl bleibt die Rezeption der „Vertrauenshaftung“ zwar bestritten, aber ungehemmt; Nicole Reese, Vertrauenshaftung und Risikoverteilung (2006); Peter Loser, Die Vertrauenshaftung im schweizerischen Schuldrecht (2006); geradezu frenetisch Manuel A. Carneiro da Frada, Die Zukunft der Vertrauenshaftung oder Plädoyer für eine reine Vertrauenshaftung, in: FS Canaris (2007), S. 99–113: „nicht nur eine dritte, sondern sogar eine ‚vierte‘ Spur des Haftungsrechts“; insb. die Übernahme der Haftungsbegründung durch das schweizerische Bundesgericht (seit der Swissair-Entscheidung: BGE 120 II, 331 ff.) geht offenbar auf den leichtfertigen Hinweis von E. A.  Kramer im Berner Kommentar (Rn. 150 zur allg. Einleitung ins OR) zurück, die „deutsche Privatrechtstheorie“ kenne ein „eigenständiges Rechtsinstitut der Vertrauenshaftung“ und hat eine umfangreiche literarische Kontroverse um die Berechtigung dieser „Rezeption“ in der Schweiz ausgelöst, hierzu etwa: Hans Peter Walter, Die Vertrauenshaftung: Unkraut oder Blume im Garten des Rechts, ZSR 2001, 79–100; Corinne Widmer, Vertrauenshaftung  – Von der Gefährlichkeit des Überflüssigen, ZSR 2001, 101–106; Bruno Schmidlin, Die Vertrauenshaftung im vertraglichen Kontakt. Neue Wege in der Schweizerischen Rechtsprechung, in: FS Franz Bydlinski (2002), S. 415–428 und zuletzt explizit Wolfgang Wiegand, Die Canaris-Rezeption in der Schweiz, in: FS Canaris (2007), S. 881–896. 198  Canaris, Bewegliches System und Vertrauensschutz (1986), S. 107: „(…) methodologisch stehen wir hier noch weitgehend am Anfang.“; ebenso schon Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369; aufschlussreich ist auch der Schlusssatz bei Florian, Zivilrechtliche Entdecker (2001), S. 377/405 f.: „Gefragt, ob er die ‚Vertrauenshaftung‘ genauso noch einmal schreiben würde, antwortete Canaris: Ja, das würde er in der Tat tun. Optimal wäre natürlich, noch einen dritten Abschnitt im ‚Besonderen Teil‘ hinzuzufügen, in dem das ganze Spektrum der schadensersatzrechtlichen Vertrauenshaftung aufgenommen werden könnte.“ Das Buch würde sicher mindestens doppelt so dick werden.

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als geltendes Recht wie selbstverständlich vorausgesetzte Grundlage seiner Vertrauenshaftung noch selbst wieder in Frage gestellt. Kurz: Canaris hat sich niemals grundlegend und systematisch mit dem Institut der culpa in contrahendo befasst. Die Vertrauenshaftung als ein Substitut oder Synonym für eine Haftung aus culpa in contrahendo oder als „neue“ großartige zivilrechtliche „Entdeckung“ wurde gleichwohl zu einem unumstößlichen Dogma des dogmatischen Positivismus in der Zivilrechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; denn: „(…) insbesondere aufgrund der überzeugenden Untersuchung von Canaris, kann es als feststehend erachtet werden, daß ‚die Vertrauenshaftung‘ ein selbständiges Rechtsinstitut neben der Rechtsgeschäftslehre darstellt.“199

II. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel „Ob begrifflich die Haftung für culpa in contrahendo auf einen Eingriff in den fremden Rechtskreis, mithin auf eine unerlaubte Handlung oder auf die Verletzung einer rechtsgeschäftlichen Pflicht zurückzuführen sei, ist eine Konstruktionsfrage, deren Lösung der Wissenschaft überlassen werden darf.“ Motive zum BGB, 1888200

Wir erinnern uns: Die Geburt der „Schutzpflichten“ war von vornherein mit einem grundlegenden Problem behaftet, nämlich ihrer Abgrenzung gegenüber den allgemein und ohnehin geltenden deliktischen Pflichten. Das Konkurrenzproblem wurde bereits früh gesehen, und der Versuch einer Begründung hat über das Anvertrauensargument aus dem Wesen der „Sonderbeziehung als Ver199 So exemplarisch Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S. 84. Ein entsprechender Glaube ist weit verbreitet. Ob es „nur“ darum geht, etwa mit Hilfe des Effizienzprinzips „Bewußtsein für Grund und Grenzen einer juristischen Vertrauenshaftung zu schärfen“ (Eidenmüller, Vertrauensmechanismus und Vertrauenshaftung, ARSP Beiheft 74, 2000, S. 117/138), im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung den Vorschlag zu unterbreiten, die „inzwischen sehr gefestigte“ Vertrauenshaftung zu kodifizieren (Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht, 2001, S. 305/319) oder den noch nicht gefundenen tieferen Grund dieser dritten Haftungsspur zu ergründen (Druey, Vertrauenshaftung – eine Revolution?, 2004, S. 355: „… Konturen eines von weiter her kommenden und nicht völlig sichtbaren Rechtsgedankens“, S. 366: „… tiefer als der Tag gedacht“) – immer sind die Untersuchungen von dem Dogma getragen, dass es Canaris „in seiner Arbeit über die Vertrauenshaftung gelungen“ sei, „ein System der Vertrauenshaftung nachzuweisen“ (Reese, Vertrauenshaftung und Risikoverteilung, 2006, S. 39). 200  Motive I, S. 195; ebenso Motive II, S. 745: „In verschiedenen Fällen giebt ferner der Entwurf wegen dolus oder culpa in contrahendo dem Beschädigten gegen den anderen Theil einen Anspruch auf Schadensersatz (vgl. § 97 Abs. 3, 4, § 99 Abs. 2, 3, §§ 101, 345, 347, 385, 443, § 444 Abs. 1, § 622). Ob es sich jedoch in solchen Fällen, namentlich in den Fällen, in welchen trotz der Nichtigkeit des Vertrages der Ersatz des negativen Interesses verlangt werden kann, um eine Haftung aus Delikt handelt oder um eine Haftung wegen Verletzung rechtsgeschäftlicher Pflichten, hat der Entwurf nicht entschieden, sondern die Lösung dieser Frage der Wissenschaft und Praxis überlassen.“

II. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel

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trauensbeziehung“201 zur „Lehre vom sozialen Kontakt“202 geführt. Aber so wie die Geschichte der culpa in contrahendo sich als Geschichte der Wiederentdeckungen und immer weiteren Abstraktion offenbart, so stellt sich auch die Geschichte der kritischen Auseinandersetzung mit diesen „Entdeckungen“ als eine ewige Wiederkehr der gleichen Einwände dar, die schließlich in einer abstrakten Gegenposition einmündeten. Ende der 1970er Jahre war die culpa in contrahendo in Gestalt der Vertrauenshaftung im „geistigen Haushalt“ der Zivilrechtsdogmatik angekommen. Und doch, die Einwände formierten sich neu: Jeder sei bereits ganz allgemein verpflichtet, andere nicht in ihren subjektiven Rechten zu verletzen. Wozu dann noch ein „Pflicht-Verstärkungsfaktor“203, genannt „Sonderverbindung“? Eine „überdeliktische Sorgfalt“ erscheine als dogmatischer Unsinn, weil man mehr als sorgfältig nicht sein könne, und überhaupt – auch darauf wurde schon hingewiesen  –, der Rekurs auf das Handlungsunrecht bedürfte einer besonderen Begründung, wenn im System aus guten Gründen für Erfolgsunrecht gehaftet wird. Für jeden, der die Dinge zu Ende oder wenigstens weiter gedacht hat, war zu erkennen, dass eine so definierte Sonderbeziehung die Regelungen des Deliktsrechts konsumiert: Jede Teilnahme am Verkehr ist „sozialer Kontakt“ und jeder vertraut bei jedem „sozialen Kontakt“ darauf, an seinen Rechtsgütern nicht geschädigt zu werden. Jede Grenzziehung (etwa: „unerwünschter Zusammenprall“) erscheint sofort willkürlich. Die dogmatische Etablierung der Vertrauenshaftung konnte in diesem Punkt nicht weiterhelfen; denn die Hypostasierung des Vertrauens als Verpflichtungsgrund ging ja gleichsam aus dem Glauben an eine Sonderverbindung und sohin letztlich auch aus dem Anvertrauensargument hervor. Der geringe Erklärungswert dieser neuerlichen Abstraktion blieb nicht unbemerkt: „Ferner vermögen Argumentationen aus dem Vertrauensgedanken nicht zu erklären, warum in contrahendo das ‚Vertrauen‘ stärker zu schützen ist als im normalen außervertraglichen Leben, das ebenfalls recht enge Kontakte und ausgeprägtes Vertrauen kennt.“204

Wenn aber das Vertrauen als „Pflicht-Verstärkungsfaktor“ nicht taugt, weil und soweit Vertrauen nicht über die generelle und allgemeine Erwartung, nicht geschädigt zu werden, hinaus geht, dann könnte das daran liegen, dass es schon als Pflichtentstehungsfaktor im Deliktsrecht (neminem laedere) verbraucht ist.205 201 Oben

§ 6 I 2.  Oben § 6 II 2. 203  Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/172. 204 Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/171; dem schließt sich ausdrücklich an Larenz, FS Ballerstedt (1975), 397/403. 205  Zur Bedeutung des Vertrauens bei der Begründung von Verkehrspflichten: v. Bar, Entwicklung und rechtsstaatliche Bedeutung der Verkehrs(sicherungs)pflichten, JZ 1979, 332 ff.; ders., Verkehrspflichten (1980), S. 117; ders., Vertragliche Schadensersatzpflichten ohne Vertrag?, JuS 1982, 637/644; gründlich analysiert den Zusammenhang zwischen „objektivem Vertrauensschutz“ und allgemein zu erwartender Sorgfalt: Thiemann, Culpa in contrahendo – ein 202

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Eine allgemeine „Redlichkeitserwartung“ ist eben auch die ethische Basis des Deliktsrechts. Und eine Haftung für dolus im Geschäftsverkehr steht, wie gesehen, seit über 2000 Jahren nicht mehr in Zweifel. Die ganze ausdifferenzierte Haftung des Vertragsrechts ist erst aus diesem Gedanken des subjektiven Unrechts Stück für Stück entwickelt worden. Nun war es, wie gesehen, auch schon zu Zeiten der Rechtsprechung des Reichsgerichts manchen aufgefallen, dass die behauptete Haftung für culpa in contrahendo deutlich zu weit ging.206 Die Sicht der Kritik wurde jetzt, ab Mitte der 1970er Jahre, aber vornehmlich aus einer deliktsrechtsdogmatischen Perspektive interessant: culpa in contrahendo und Vertrauenshaftung wurden als „Vehikel“ erkannt, die dogmatischen Beschränkungen des Deliktsrechts zu umgehen. Das war nicht verwunderlich. Hatte doch Heinrich Stoll zuerst seine Konstruktion eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses und sodann auch seine umfassende Haftung für Schutzpflichtverletzung im Grunde und in dieser Weite aus der Linoleumrollen-Entscheidung des Reichsgerichts abstrahiert und insoweit ein neues quasi-rechtsgeschäftliches Pendant zum geltenden Deliktsrecht kreiert. Überhaupt lässt sich die ganze folgende Debatte darum, ob die Haftung nun eine rechtsgeschäftliche oder eine deliktische sei, nur aus streng dogmatischer Perspektive begreifen, weil an die mit der jeweiligen Antwort verbundene systematische Zuordnung konkrete dogmatische Folgerungen geknüpft sind. Wenn daher von einem „vertragsähnlichen Rechtsverhältnis“ gesprochen wurde, so ging es in der modernen dogmatischen Auseinandersetzung namentlich darum, die vermeintlichen Härten des Deliktsrechts (also vor allem 1. das Problem der Beweislast, insbesondere die Exkulpationsmöglichkeit des § 831 BGB, sowie 2. die grundsätzlich auf den dolus – §§ 823 II, 826 BGB – beschränkte Haftung für primäre Vermögensschäden und zuletzt 3. sogar die Verjährung) auszuschalten. Dass also die vertraglichen Regelungen (§§ 276, 278 BGB) anzuwenden seien, war aus dieser Perspektive das dogmatische Ziel der ganzen Konstruktion seit der Linoleumrollen-Entscheidung. Und darüber herrschte dann ja auch Einigkeit, dass die Haftung aus culpa in contrahendo aus dieser rechtsfolgenorientierten Zielrichtung eben keine deliktische sein sollte. D. h. es ging insoweit immer um ein neues Haftungsverhältnis, weil das geltende Deliktsrecht als zu eng angesehen wurde. Das gleiche Ziel konnte nun freilich auch dadurch erreicht werden, dass die Probleme dort gelöst würden, wo sie offensichtlich auftraten: im Deliktsrecht selbst.207 Beitrag zum Deliktsrecht (1984), S. 55 ff.: „Die Feststellung, daß eine Pflichtverstärkung gegenüber dem Deliktsrecht mittels des Vertrauensgedankens nicht möglich ist, ergibt sich zwangsläufig aus einem objektiv und typisiert verstandenen Vertrauensbegriff (…).“ 206  Namentlich insb. Titze (1929, 1931) und Berger (1935) oben § 5 III.3. c), d). 207  Das hat bereits Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 55 bemerkt: „Zur gesetzlichen Regelung und Erfassung der Fälle schuldhaften Verhaltens bei den Vertragsverhandlungen lassen

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1. Renaissance des Deliktsrechts a) Risikogesellschaft und Verkehrspflichten „Das BGB hatte eine Regelung gegeben, die in stärkerem Maße abschließend sein wollte. Gleichwohl haben wir auch in Deutschland erlebt, daß Wissenschaft und Praxis das 1900 in Kraft getretene Gesetzesrecht sehr rasch fortentwickelt und tiefgreifend umgestaltet haben. Rückblickender Besinnung erscheinen Ausmaß und Tragweite der Wandlung immer wieder erstaunlich (…).“ Ernst v. Caemmerer, 1960208

Auch das deutsche Deliktsrecht war spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr das Deliktsrecht, das es noch zu Beginn des Jahrhunderts gewesen war.209 Es gab eine enorme Ausweitung der deliktischen Haftung. Dabei interessiert hier weniger die Etablierung neuer absolut geschützter Rechtspositionen wie das „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ oder das „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“. Bei allen möglichen Zweifeln, die vor allem dem zweiten dieser beiden Rechtskreationen gelten, war eine derartige Fortbildung des Deliktsrechts jedenfalls bewusst offen mit dem Gedanken des Schutzes auch eines „sonstigen Rechts“ in § 823 I BGB angelegt.210 Für die Praxis und auch für den vorliegenden Zusammenhang sehr viel spannender war der enorme Ausbau einer verhaltensorientierten Rechtswidrigkeit neben der originär am Erfolgsunrecht orientierten Grundkonzeption des BGB.211

sich zwei Wege einschlagen. Entweder die Deliktshaftung wird derart ausgebaut, daß auch die Verletzung relativer Rechtsgüter schlechthin haftbar macht, oder aber es wird ein gesetzlicher Sondertatbestand geschaffen, der den aus dem Schuldverhältnis der Vertragsverhandlungen erwachsenden Pflichten Rechnung trägt.“; vgl. noch Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 27: „Wenn nämlich die Fälle der Erhaltungspflichten zu Recht als deliktische Sachverhalte analysiert werden, vollzieht sich folgerichtig die Korrektur der als mangelhaft empfundenen Rechtsfolgen in dem Regelungsbereich, auf den die Analyse schon hinweist: im Deliktsrecht.“ 208 Wandlungen des Deliktsrechts, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages II (1960), S. 49/51. 209  Vgl. schon die Bestandsaufnahmen bei: Enneccerus / ​Lehmann, Schuldrecht (ab 13. Aufl. 1950), § 229: „Kaum ein Gebiet des Privatrechts hat seit dem Inkrafttreten des BGB eine so eingreifende Weiterbildung erfahren und so viele Angriffe gegen die Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit seiner Regelung erlitten, wie das der Vorschriften des BGB über die unerlaubte Handlung und ihre Folgen (…).“; dann insb.: v. Caemmerer, FS 100 Jahre DJT II (1960), S. 49 ff.; Deutsch, Entwicklungstendenzen des Schadensrechts in Rechtsprechung und Wissenschaft, JuS 1967, 152; v. Bar, Entwicklung, JZ 1979, 332 ff.; ders., Verkehrspflichten (1980), S. 6 ff.; ders., Gutachten (1981), S. 1712 ff.; ders., Entwicklung und Entwicklungstendenzen im Recht der Verkehrs(sicherungs)pflichten, JuS 1988, 169 ff.; Dilcher, Vom Beitrag der Rechtsgeschichte zur Zivilrechtswissenschaft, AcP 184 (1984), 246/262 ff.; Jansen, Struktur des Haftungsrechts (2003), S. 466 ff. jeweils m. w. N. 210 Vgl. zum Problem bereits Urt. v. 25. Juni 1890, RGZ 28, 238/242: „Die Beklagten sollen die Klägerin in ihren berechtigten Ansprüchen auf Achtung ihrer Persönlichkeit, ihres Geschäftsbetriebes und der Freiheit ihrer gewerblichen Bethätigung gekränkt haben.“ 211 Hierzu bereits oben § 3 II.3. (Iniuria und subjektives Recht).

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Die alte, in § 823 I BGB kodifizierte lex Aquilia  hat  – so könnte man sagen  – unter Geltung des BGB einen neuerlichen usus modernus erlebt. Auch im Deliktsrecht erhielt ja die culpa mit dem Begriff der Pflichtverletzung nur einen neuen Namen: Die culpa levissima von einst wurde die Verkehrspflicht von heute.212 Die im 19. Jahrhundert erkennbare Tendenz, die aquilische Haftung auf unmittelbare Verletzungen subjektiver Rechte einzuschränken, wurde spätestens unter Geltung des BGB zu eng.213 Der sog. „technische Fortschritt“ und die mit der weiteren Industrialisierung und Technologisierung einsetzende Bedeutung der Gefahrsteuerung wurde bereits zur Zeit der BGB-Gesetzgebung mit dem Gedanken der Substitution des Verschuldens‑ durch das Veranlassungsprinzip, der Verschuldens‑ durch die Gefährdungshaftung in Ansätzen mitdiskutiert.214 Auch der Gedanke von Verkehrssicherungspflichten (nicht nur bei der Gastwirthaftung) war bereits bekannt.215 Und wir haben auch schon gesehen, dass insbesondere durch Siber dieser Gedanke auf die culpa in contrahendo übertragen worden war.216 Die Entwicklung von Schutzpflichen auf der einen und Verkehrspflichten auf der anderen Seite lief dogmatisch weitgehend parallel. Sie basierte auf den gleichen sozialen Entwicklungen und Bedürfnissen. Aber erst und vor allem der Bundesgerichtshof baute die Haftung verhaltensbezogener Rechtswidrigkeit mit dem Instrument der Verkehrs(sicherungs)pflicht wirklich nachhaltig aus. In seiner ausführlichen Grundsatzentscheidung vom 4. März 212   Deutlich MünchKomm / ​Wagner (2009), § 823 Rn. 50: „In der Praxis des Deliktsrechts dominiert das Fahrlässigkeitsdelikt. Kernstück der Haftungsbgründung ist dann die Feststellung, dass der Täter die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Die Pflichten, deren Verletzung sanktioniert wird, werden von der modernen Dogmatik als Verkehrspflichten bezeichnet.“ Zur praktischen und dogmengeschichtlichen Entwicklung insb. Hofacker, Die Verkehrssicherungspflicht (1929); Fraenkel, Tatbestand und Zurechnung bei § 823 Abs. 1 BGB (1979); v. Bar, Entwicklung, JZ 1979, 332 ff; ders., Verkehrspflichten (1980); Zeuner, Historische Linien in der Entwicklung (1983), S. 196 ff.; Zimmermann / ​Verse, Die Reaktion des Reichsgerichts (2000), S. 319 ff.; Voss, Die Verkehrspflichten. Eine dogmatisch-historische Legitimierung (2007); Schiemann, Die Entwicklung der Verkehrspflichten im Zwanzigsten Jahrhundert (2009), S.  447 ff.; HKK / ​Schiemann (2013), §§ 823 ff., Rn. 96 ff. 213 Die Frage, ob die mittelbare Haftung auf der Basis von Verkehrspflichten bereits im gemeinen Recht anerkannt oder diese Entwicklung erst durch das Reichsgericht nach Inkrafttreten des BGB „illegitim“ (Esser, JZ 1953, 129/132), als „Wildwuchs“ (Deutsch, Entwicklungstendenzen, JuS 1967, 152/157), als „Richterrecht reinsten Wassers“ (Kötz, Deliktsrecht, 1976, Vorwort) oder kurz: „contra legem“ (v. Bar, Verkehrspflichten, 1980, S. 25) entwickelt worden ist, bedarf hier keiner ausführlichen Diskussion (vgl. hierzu nur MünchKomm / ​Wagner, § 823 Rn. 50 ff.; HKK / ​Schiemann, §§ 823 ff. Rn. 96 f. jeweils m. w. N.). Dass der dynamische Aufschwung der Verkehrspflichten ganz eigentlich im 20. Jahrhundert beginnt (als grundlegend gelten: Urt. v. 30. Oktober 1902, RGZ 52, 373; Urt. v. 23. Februar 1903, RGZ 54, 53) ist unstreitig. 214 Hierzu etwa Benöhr, Zur außervertraglichen Haftung im gemeinen Recht, in: FS Kaser (1976), S. 689/694 ff. 215  Vgl. nur Urt. v. 19. Juni 1914, RGZ 85, 185. St. Rspr.: Die Haftung des Gastwirts ist aus dem Gesichtspunkt der Verkehrseröffnung stets anerkannt worden (JW 1905, 45; JW 1911, 360; RGZ 87, 128). Vgl. im Übrigen die weiteren Verweise in RGZ 52, 373, sowie Bilstein, Das deliktische Schadensersatzrecht der lex Aquilia in der Rechtsprechung des Reichsgerichts (1994). 216 Siber, Die schuldrechtliche Vertragsfreiheit, JhJb 70 (1921), 223/ 258 ff.

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1957 stellte der Große Senat in Zivilsachen seine Grundmotivation zur Expansion der deliktischen Haftung klar: „Erst mit der technischen Entwicklung des Verkehrs und der Steigerung der Verkehrsgefahren zeichneten sich jene Probleme ab, die sich aus dem modernen Massenbetrieb für die Rechtsordnung ergeben. Der Gesetzgeber wurde vor die Notwendigkeit gestellt, durch immer mehr ins einzelne gehende Rechtsvorschriften (Verkehrs‑ und Betriebsordnungen) die Pflichten der Verkehrsteilnehmer so zu regeln, daß die Gefahrenmöglichkeiten auf ein möglichst geringes Maß herabgesetzt wurden. Gleichzeitig wurden die Gesetzesbestimmungen über die Gefährdungshaftung ausgebaut, um die aus dem modernen Verkehr zwangsläufig sich ergebenden Gefahren und Risiken in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung sozial angemessen zu verteilen.“217

Die Gefährdungshaftung durch Verhaltenssteuerung weiter auszubauen, überließ der BGH aber eben nicht allein dem Gesetzgeber. Vielmehr hat er zur „sozial angemessenen“ Verteilung der Risiken und Gefahren der postmodernen Welt das Deliktsrecht mit einer Unmenge Verhaltenspflichten bereichert, mit denen das Haftungsrisiko sozial und wirtschaftlich adäquat neu zugerechnet wird. Der Haftungsgrund liegt dabei auch hier im Gedanken der Gefährdung: Wer im Verkehr eine Gefahrenquelle hervorruft oder unterhält, hat alle nach Lage der Dinge erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutze anderer Personen und Sachen zu treffen.218 Die Sache hat also schon lange nichts mehr mit „unerwünschtem Zusammenprall Dritter“ jenseits eines sozialen Kontakts zu tun; im Gegenteil: Die Realisierung von Risiken und Gefahren beim sozialen Kontakt ist in einer „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) gleichsam ubiquitär: „Ein nur einigermaßen vollständiger Überblick über das tatsächliche Anwendungsfeld der Verkehrspflichten kann heute schon von niemandem mehr gegeben werden. Schwerpunktmäßig sind sie immer in solchen Lebenssituationen anzutreffen, in denen die Dichte des sozialen Kontaktes (sic.!) oder eine latente Schadensneigung von Menschen oder Sachen besonders groß sind.“219

Der dogmengeschichtliche „Zusammenprall“ zwischen Deliktsrecht und culpa in contrahendo, von Verkehrs‑ und von Schutzpflichten musste notwendig in diesem Moment erfolgen, da beide Haftungsregimes mittlerweile so angewachsen und zu heimlichen Generalklauseln des Haftungsrechts aufgebläht waren, dass ein dogmengeschichtlicher Kontakt sich gar nicht mehr übersehen ließ. Nun fochten die jeweiligen Protagonisten in einem „wissenschaftlichen Gespräch“220 freundlich den Streit aus, der (freilich noch unter ganz anderen bescheidenen Vorzeichen) bereits von den Motiven zum BGB dem akademischen Diskurs anheimgestellt war: Wohin gehört die Haftung für culpa in contrahendo? Man  Urt. v. 4. März 1957 – GSZ 1/56, BGHZ 24, 21/25 f. Rspr., vgl. nur BGHZ 5, 378/380; 14, 83/85; 34, 206/209. 219  v. Bar, Gutachten (1981), S. 1715. 220  v. Bar, Entwicklung und Entwicklungstendenzen im Recht der Verkehrs(sicherungs) pflichten, JuS 1988, 169/171. 217

218 St.

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kann die Frage allerdings auch etwas weiter, namentlich so fassen: Wer ist der wahre Erbe der culpa levissima? Das absonderlich vom Vertrag gelöste und doch zugleich erweiterte Vertragsrecht (im Folgenden: sonderverbindliche Theorie) oder das auf alle Lebensrisiken und Lebensgüter ausgedehnte Deliktsrecht (im Folgenden: deliktsrechtliche Theorie). Auf der einen Seite wurde die Pflichtverletzung seit Staub für das Schuldrecht hoch‑ und runterdekliniert und so schließlich die Kategorie der von Leistungspflichten gänzlich unabhängigen Schutzpflichten um den Vertrag herum gruppiert: Culpa in contrahendo und positive Vertragsverletzung wurden von Felix Herholz (1929) und Heinrich Stoll (1932) sowie schließlich erweitert um den „Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter“ (VSD) und die culpa post contractum finitum (c. p.c. f.) von Claus-Wilhelm Canaris (1965) in einem Anvertrauensverhältnis als „Rahmenbeziehung“, einem „organischen Schuldverhältnis“ bzw. einem „einheitlichen Schutzpflichtverhältnis“ zusammengefasst. Auf der anderen Seite steht die dogmatisch etwas weniger konstruierte, aber quantitativ in nichts nachstehende Entwicklung von Pflichten „verkehrsgemäßen Verhaltens“221 im Deliktsrecht. Hier galt es zunächst, auch über die Fälle von Ingerenz hinaus, Unterlassungen und Gefährdungen (d. h. mittelbare Schädigungen) mit der Kategorie der Verkehrs(sicherungs)pflichten haftungsrechtlich zu erfassen.222 Doch entwickelte sich im Zuge der dynamischen Entfaltung dieser Pflichten (dem „wohl wichtigsten Katalysator unseres Deliktsrechts“223) zugleich eine recht imperiale Ansicht, nun auch die Haftung für reine Vermögensschäden auf diese Weise deliktsrechtlich zu legitimieren: Neben die vor allem rechtsvergleichend inspirierte generelle Kritik am Fehlen einer großen deliktsrechtlichen Generalklausel224 trat das pragmatische Plädoyer, § 823 Abs. 2 BGB an ihrer statt so zu konstruieren, dass man „Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens“ als „Schutzgesetze“ i. S. jener Vorschrift ansehen wollte.225 221 Ebbeke, Verpflichtungen aus unerlaubten Handlungen im Unterschied von rechtsgeschäftlichen und gesetzlichen Verpflichtungen, JhJb 71 (1922), 346/357: Der Vertrag könne keinen Grund für die Haftung aus c. i. c. abgeben, aber „auch wenn keine Vertragspflichten bestehen, gilt die allgemeine Regel, daß bei geschäftlichem Handeln ein verkehrsgemäßes Verhalten zu betätigen ist“. 222  Zu dieser Entwicklung vgl. nur Windscheid, Pandekten II (1906), § 455, 2: „… eine Unterlassung verpflichtet nur insofern, als das Thun durch eine vorhergehende oder begleitende Thätigkeit geboten war.“ Und bereits Kipp ergänzt: „Im BGB. ist nur zu verlangen, daß die Unterlassung schuldhaft erfolgt, was zwar eine Rechtspflicht zum Handeln, aber nicht notwendig eine solche voraussetzt, welche durch eine vorhergehende oder begleitende Thätigkeit begründet war.“ 223  v. Bar, Gutachten (1981), S. 1714. 224  Vgl. neben den in der nächsten Fn. Genannten nur: Enneccerus / ​Lehmann, Schuldrecht (ab 13. Aufl. 1950), § 229 II. 225  Etwa: Deutsch, Entwicklungstendenzen, JuS 1967, 152/157; ders. Haftungsrecht I, 1976, S. 130 (und offenbar unverändert 2. Aufl., 1996, Rn. 106); Mertens, Deliktsrecht und Sonderprivatrecht – Zur Rechtsfortbildung des deliktischen Schutzes von Vermögensinteressen, AcP 178

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b) Die „deliktsrechtliche Theorie“ formiert sich „Ein Blick auf die landesrechtlichen Kodifikationen und die Rechtsvergleichung zeigt, daß es sowohl in den zur Zeit der Schaffung des BGB geltenden Landesrechten wie auch in den ausländischen Rechten den Begriff eines Verschuldens bei Vertragsverhandlungen nicht gibt. Stets ist die Deliktshaftung soweit gefasst, daß hierunter auch die Fälle der c. i. c. fallen (…).“ Erich Berger, 1935226

Es war nun keineswegs so, dass die Konkurrenz zwischen Vertrags‑ und Deliktsrecht ein neues Problem gewesen wäre und nicht schon zu Lebzeiten Staubs, Leonhards, Stolls usw. bestanden hätte.227 Bereits 1903 bemerkt Theodor Kipp: „Staub hat folgende Beispiele: Der Verkäufer schickt wurmstichige Äpfel, welche diejenigen des Käufers anstecken (S. 38), er liefert Leuchtstoff, der im Laden des Käufers durch Explosion großen Schaden anrichtet (S. 31). … Jedenfalls … ist festzuhalten, daß es sich hier um eine deliktische, nicht vertragsmässige Haftung handelt, eine Haftung also, die z. B. von der Gültigkeit des Vertrages ganz unabhängig ist (…).“228

Verletzungen des Integritätsinteresses lassen sich immer (auch im Zuge von Vertragsverhältnissen) als wenigstens mittelbare Verletzungen deliktsrechtlich begründen. Dogmatisch ist, wie gesehen, das Vertragsrecht aus dem Deliktsrecht zur Eigenständigkeit erst erwachsen229 und – wir erinnern uns: insbesondere die Fälle, die Jhering mittels seiner neuen Konstruktion zu lösen gedachte, wollten andere, namentlich etwa Friedrich Mommsen mittels einer erweiterten Deliktshaftung (culpa lata anstelle des dolus) erreichen. Die sachliche und dogmatische Nähe der beiden klassischen Haftungsbegründungen ist der culpa in contrahendo also gleichsam in die Wiege ihrer ‚Entdeckung‘ gelegt und wurde im Prozess ihrer immer weiter vollzogenen Ausdehnung zu Schutzpflichtverhältnis und Vertrauenshaftung notwendig mit tradiert. Nur: „Das Deliktsrecht“ hatte seinerzeit keine progressive wissenschaftliche Lobby. Mommsen unterlag Jhering, dessen fulminantes Plädoyer gegen eine Ausdehnung der actio doli („Wohin würde es führen, wenn …“) aus guten Gründen nachhaltig gewirkt hatte.230 Die ursprüngliche Berufung auf die Regelungen des Deliktsrechts und das originäre Bewusstsein um die Zurückhaltung

(1978), 227 ff.; K. Huber, Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens (1978), S. 359/377; Vollmer, Der deliktsrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit, JA 1979, 84 ff.; v. Bar, Verkehrspflichten (1980), S. 204 ff.; ders., Gutachten (1981) S. 1720; Schlechtriem, Gutachten (1981), S. 1604; Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 130 ff. 226  Die Grenzen der Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1935), S. 55. 227 Oben § 5 III.3.c). 228  Kipp, Das Reichsgericht und die positiven Vertragsverletzungen, DJZ 1903, 253/256. 229  Oben § 2 II. 230 Oben § 3 III.1.

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des Gesetzgebers waren es ja gewesen, die in den ersten 10 Jahren des BGB noch jeden Gedanken an eine Ausdehnung des Haftungsrechts hinderten. Nur Heinrich Dernburg hatte in den beiden ersten Auflagen seines „Bürgerlichen Rechts“ die Auffassung vertreten, eine Haftung für culpa in contrahendo ergebe sich aus dem Deliktsrecht.231 Wenn man später in der Dogmengeschichte der culpa in contrahendo im Anschluss an Hildebrandt geringschätzig von einer „Deliktstheorie“232 gesprochen hat, dann meinte man damit eben jene ablehnende Haltung gegenüber jedweder außervertraglichen Haftung, die den Wertungen der §§ 823 ff. BGB widersprach. Und so ist es aus dogmengeschichtlicher Perspektive nicht verwunderlich, wenn die Wissenschaft zur Umgehung der deliktsrechtlichen Restriktionen zunächst auf das Vertrags‑ bzw. das allgemeine Schuldrecht ausgewichen ist, unter dem dogmatischen Mantel der Verhaltenshaftung Schadensersatzansprüche für benannte Rechtsgutsverletzungen und reine Vermögensschäden (d. h. insbesondere Mangelfolgeschäden abweichend von § 463 BGB a. F. auch bei Fahrlässigkeit) neu zu etablieren suchte (Staub, Leonhard) und sich diese Vorstellung bis heute in der Lehre von den Schutzpflichten (Stoll) nachhaltig etabliert hat. Wer etwas auf sich hielt, der entdeckte neue (quasi-gesetzliche) Pflichten im (vertraglichen) Schuldrecht, das nahm die progressive Zivilrechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gefangen. Mit der zunehmenden Komplexität der haftungsbegründenden Pflichten auch im Deliktsrecht änderte sich die Sache. Es gab nun auch Zivilrechtsdogmatiker, die sich vorrangig bis ausschließlich dieser Materie widmeten. Man nennt das Spezialisierung. Die großen Zivilisten des 19. Jahrhunderts waren – wohl nicht alle durchgängig Universalgelehrte – aber doch Generalisten des Zivilrechts. Man kannte seinen Corpus Iuris Civilis, daneben die römische und deutsche Rechtsgeschichte sowie die wichtigsten philosophischen Grundpositionen und ging gar zuweilen lieber (Jhering) auf einen Kongress der Biologen als zu einem Deutschen Juristentag. Mit dem Inkrafttreten des BGB und vollends in der Epoche des dogmatischen Positivismus wurde das anders: Man wurde Dogmatiker mit Schwerpunkt in einem Teilgebiet des Zivilrechts, der Rechtsgeschäftslehre, dem Leistungsstörungsrecht, dem Sachen-, Familien-, Erb‑ oder eben dem Deliktsrecht. Was dabei in spezieller Betrachtung des letzteren notwendig auffallen 231  Dernburg, Bürgerliches Recht I (1902), § 130, S. 391; soweit ich sehe, daneben nur noch: Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 3 (Schuldrecht, 1917), S. 902; schon sehr mühsam Ebbeke, JhJb 71 (1922), 346/356 („In allen diesen Fällen handelt es sich um Schadensersatz aus unerlaubter Handlung …“) mit dem Versuch, die Geltung des Grundsatzes von „Treu und Glauben“ auch außerhalb des Vertragsrechts zur allgemeinen (deliktischen) Anwendung zu bringen (S. 357 f.); rechtstheoretisch konsequent daher de lege ferenda eine Neuordnung des Deliktsrechts anmahnend zuerst Berger, Die Grenzen der Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1935), S. 55 ff. 232 Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 52 ff.

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musste (freilich auch wenn man kein Spezialist war), das war die im deutschen Recht von allen anderen Rechtsordnungen abweichende differenzierte Gestaltung der deliktischen Haftungstatbestände. Es gab hier offenbar keine große haftungsrechtliche Generalklausel.233 Dass es hierfür gute Gründe gab, haben wir bereits gesehen – dass dies nicht viel zählt, wenn es gilt, dogmatisch Neues zu entdecken, freilich auch. So konnte der „Zusammenprall“ der großen Theorien nicht ausbleiben. Einmal mehr hieß die Debatte: Haftung für jede Fahrlässigkeit (allgemeine culpa) oder ‚nur‘ in contrahendo? Lediglich die Begrifflichkeiten hatten sich etwas geändert: sonderverbindliche Schutzpflichten hier und allgemeine Verkehrspflichten dort. Der Disput ist in seinem sachlichen und dogmatischen Kern der gleiche geblieben. 2. High noon: Schutzpflichten oder Verkehrspflichten? „Im übrigen halte ich … daran fest, daß alle pseudo‑ oder quasivertraglichen Schutzpflichten – ganz gleich, ob man sie aus einem Vertrag, einem vertragsähnlichen Vertrauensverhältnis oder aus sozialem Kontakt ableitet – strukturell sich überhaupt nicht von den deliktsrechtlichen Verkehrspflichten unterscheiden (…). Die Leugnung des wahren Charakters solcher Pflichten mit Rücksicht auf ihre konstruktive Einbettung in irgendwelche ‚Sonderverbindungen‘ ist kein Ruhmesblatt der deutschen Zivilrechtsdogmatik.“ Hans Stoll, 1976234

a) Die culpa in contrahendo in der Krise: Wider den „vagabundierenden Irrwisch“! „Der Kundige wird den Zustand der Hypertrophie im deutschen Vertragsrecht erkennen. Und er wird den Ursprung dieser pathologischen Entwicklung auf den Moment zurückdatieren, da das deutsche Schuldrecht die Verletzung von bereits nach § 823 Abs. 1 BGB deliktisch geschützten Rechtsgütern der Zuständigkeit des Vertragsrechts überwies (…).“ Johannes Köndgen, 1981235

Den Stein des Anstoßes gab die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Auch der Rechtswissenschaftler ist ein sinnliches Wesen und bedarf für das, was er konstruiert, der praktischen Anschauung seiner Folgen. Das Reichsgericht hatte 233  Vgl. bereits Heldrich, Verschulden beim Vertragsabschluß (1924), S. 40 f.: „Die Erfassung des vorvertraglichen Verschuldens nach Deliktsgrundsätzen ist heutzuage nicht unpraktisch geworden. Er kommt noch für alle diejenigen Rechte in Betracht, die einen umfassenden Begriff der unerlaubten Handlung ausgebildet haben (…).“; bei den Protagonisten der deliktsrechtlichen Theorie zuerst Berger, Die Grenzen der Haftung (1935), S. 55; sodann Nirk, Rechtsvergleichendes zur Haftung für culpa in contrahendo, RabelsZ, 18 (1953), 310 ff.; v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts, FS DJT (1960), S. 56 ff. 234  Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel, AcP 176 (1976), 146/151, Fn. 21. 235 Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 418.

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sich seit der Linoleumrollen-Entscheidung nicht wieder dazu hinreißen lassen, die culpa in contrahendo zur Umgehung des § 831 BGB zu instrumentalisieren. Als dann aber der Bundesgerichtshof in kurzer Folge bei entsprechenden Unfällen in Einkaufshäusern und vor Wurstläden doch wieder auf den Gedanken der Haftung kraft Sonderverbindung zurückgegriffen hatte,236 fiel es endlich wie Schuppen von den Augen, dass mit der Konstruktion einer quasi vertraglichen Vertragsanbahnung der Bereich „genuinen Deliktsrechts“ betreten wurde237: Spätestens nach der Gemüseblatt-Entscheidung (erst sechs Jahre nach dem Schadensereignis wurde Klage erhoben) war schwerlich noch jemandem begreiflich zu machen, wieso ein Haftungsanspruch mit der culpa in contrahendo 27 Jahre länger durchsetzbar sein sollte als ein inhaltlich identischer Anspruch aus Delikt und wie es ferner einem Warenhausinhaber nach so langer Zeit noch gelingen sollte, den Schadenshergang zu klären und sich ggf. zu exculpieren. Mit einem Mal stand das ganze Begründungsdilemma rund um die Sonderverbindung, die man culpa in contrahendo nannte, deutlich vor Augen: Um einen eigenständigen Bereich für ein Schuldverhältnis zwischen Vertrag und Delikt solide begründen zu können, wäre es erforderlich, einen qualitativen Unterschied zu benennen, der es verdiente, als ein Spezifikum gegenüber dem Deliktsrecht bezeichnet zu werden. An diesbezüglichen dogmatischen Versuchen hatte es, wie gesehen,238 schon in der Vergangenheit nicht gemangelt. Ihnen allen fehlte nur jede innere Überzeugungskraft. Vor allem aber: Ob man ein Schuldverhältnis aus Gesetzesanalogie konstruieren, ein ungesetzliches aber gleichwohl gesetzliches, nicht vertragliches aber gleichwohl vertragsähnliches Schuldverhältnis aus Gewohnheitsrecht postulieren oder auf den Anvertrauensgedanken beim sozialen Kontakt zurückgreifen wollte – immer wurde dogmatisch die LinoleumrollenEntscheidung und so auch die konstruktiv gar nicht zu überspielende Umgehung des Deliktsrechts mitgeschleppt. Ernst v. Caemmerer hat dann zu Recht darauf hingewiesen, dass alle Konstruktionsversuche gar nicht überzeugen können, weil die Wurzel des Übels doch nur in der unzureichenden Haftung für Hilfspersonen bei den allgemeinen deliktischen Verkehrspflichten liege.239 Wie gesehen, 236 Urt. v. 26. September 1961  – VI ZR 92/61, NJW 1962, 31 (Bananenschale); v. 25. Juni 1968 – VI ZR 143/67, VersR 1968, 993 (Wurstpelle); 28. Januar 1976 – VIII ZR 246/74, BGHZ 66, 51 = NJW 1976, 712 (Gemüseblatt). 237 Noch unkritisch gemeint bei Esser / ​Schmidt, Schuldrecht I/2 (5. Aufl. 1976), § 29 II, S. 96: „genuin deliktische Verletzungen“. 238  Oben § 5 III.3., § 6 I.2. 239 v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts (1960), S. 49/58; in diesem Sinne zuvor schon: Titze, DJZ 1925, 490 f.; ders., Verschulden bei Vertragsschluß (1929), S. 516/517; Cabjolsky, Verschulden beim Vertragsschluß (1933), S.  43 ff.; ausf. Berger, Die Grenzen der Haftung (1935), S. 56 ff.; auch bei Nirk, Rechtsvergleichendes zur c. i. c., RabelsZ 18 (1953), 310 ff./350 ff. „Lückenbüßer der unzulänglichen deliktischen Haftung“; W. Lorenz, AcP 156 (1957), 381/406: „So zeigen die ‚faktischen Vertragsverhältnisse kraft sozialen Kontakts‘ … nicht mehr als die soziale Unzulänglichkeit des § 831.“

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wird diese rein dogmatische Sicht der tatsächlichen Komplexität der dogmengeschichtlichen Entwicklung nicht ganz gerecht. Gleichwohl: Soweit ich sehe, gab es in den 1970er Jahren niemanden, der diese These ernsthaft bezweifelte. Die vorvertragliche Sonderverbindung war  – was jedenfalls den Bereich der Schutz‑ bzw. Erhaltungspflichten anlangte – lediglich aus „optischen“ Gründen statuiert, um zur Anwendung des § 278 BGB zu gelangen.240 Man sprach von einer „vollen Deliktshaftung mit Einstandspflicht aus § 278 BGB“241 oder einer „Deliktshaftung nach vertraglichen Grundsätzen“242. Der § 831 BGB sollte denn auch tatsächlich reformiert werden. Das Bundesjustizministerium veröffentlichte im Januar 1967 den „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften“,

240 In

dieser Hinsicht und aus rechtsvergleichender Perspektive bereits Nirk, Die Lehre von der culpa in contrahendo (1951), S. 144 ff.: „Eine Betrachtung der Tatbestände, welche die Lehre vom sozialen Kontakt erfassen will, läßt uns erkennen, daß sie phänomenologisch dem Deliktsbereich angehören.“ Diese Ansicht wurde nun herrschend: Hans Stoll, Die Beweislastverteilung bei positiven Vertragsverletzungen (1967), S. 517/527 ff.: „Die Schutzpflichten aus sozialem Kontakt wurden in Deutschland aus dem Vertragsrecht entwickelt, um gewisse Schwächen des Deliktsrechts zu überwinden.“; ders., Haftungsverlagerung, AcP 176 (1976), 145/150 f., Fn. 21 (vgl. Eingangszitat); ders., FS Caemmerer (1978), S. 435/437: „klare Deliktsfälle“; Larenz, FS Ballerstedt (1975), S. 400 ff.: „Man sollte daher, wenn künftig der § 831 dem § 278 BGB angeglichen wird, erwägen, die Fälle der Verletzung von Erhaltungspflichten aus dem Bereich der Haftung für culpa in contrahendo (und ebenso aus dem der ‚positiven Vertragsverletzungen‘ wieder herauszunehmen und in den Bereich zu verweisen, in den sie ihrer sachlichen Struktur nach gehören: in den des Deliktsrechts.“; Nirk, FS Möhring II (1975), S. 71/77: „phänomenologisch dem Deliktsrecht zugehörende Tatbestände“; Fikentscher, Schuldrecht (6. Aufl. 1976), § 102 V 6; Kreuzer, Anmerkung zum Gemüseblattfall, JZ 1976, 778/780; Hohloch, JuS 1977, 302/305: „Identität der vertraglichen Sorgfaltspflicht mit der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht“; U. Huber, AcP 177 (1977), 281/319 f.; ders., FS Caemmerer (1978), S. 865 f.; Mertens, Deliktsrecht und Sonderprivatrecht, AcP 178 (1978), 227/237 f.: „Auch der Jurist kann sich nicht mit dauerhaftem Erfolg über den Satz von Friedrich Engels hinwegsetzen, daß eine Schuhbürste noch lange keine Milchdrüsen bekommt, wenn man sie unter den Begriff des Säugetiers bringt.“; Westhelle, Nichterfüllung und positive Vertragsverletzung (1978), S. 110 ff.; Schwark, AcP 179 (1979), 57/59; ders., JZ 1980, 741/745; v. Bar, Verkehrspflichten (1980), S. 247/312 ff.; Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 332: Diese Fälle gehören „strukturell auf die Achse des Eingriffsschutzes, der in allgemeiner Form durch die Verschuldens‑ und Gefährdungstatbestände des Deliktsrechts gewährleistet wird.“; Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 84: „C. i.c. hat in der großen Mehrzahl der Fälle mit einer Versprechenshaftung kaum etwas zu tun, sondern ist ein illegitimes Kind des deliktischen culpa-Prinzips.“, S. 418: „pathologische Entwicklung“ (siehe Eingangszitat); Lehmann, Vertragsanbahnung durch Werbung (1981), S. 311: „deliktsrechtliche Komponente der Haftung für c. i. c.“; im Ergebnis wohl auch Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/393 ff., mit seiner „strengen Zweiteilung in rechtsgeschäftliche Leistungs‑ und gesetzliche Wiedergutmachungspflicht“: „In Wahrheit ist die rechtsgeschäftliche Bindung für die Schadenshaftung bei Verletzung der Integritätsinteressen des Partners nicht einmal auch nur mittelbar von Bedeutung.“; Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 14 ff. 241  Esser, Grundsatz und Norm (1956/1990), S. 164 Fn. 102. 242  Kreuzer, Anmerkungen zum Gemüseblatt-Fall, JZ 1976, 778; Lehmann, Vertragsanbahnung durch Werbung (1981), S. 311.

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der u. a. auch eine entsprechende Neufassung des § 831 BGB enthielt.243 Zu einer Reform kam es allerdings nicht. Die Rechtsprechung hatte längst durch eine Ausweitung der Geschäftsherrenhaftung mittels weitreichender Aufsichts‑ und Organisationspflichten und die Verschärfung der Anforderungen an den Entlastungsbeweis das zentrale Problem des § 831 weitestgehend entschärft. Manche meinten sogar, die vertragsartige Umgehung mittels § 278 BGB sei mittlerweile für die Gerichtspraxis „nahezu bedeutungslos“.244 Doch das war noch vor der Gemüseblatt-Entscheidung des BGH. Als dann 1981 die Gutachten zur Reform des Schuldrechts vorgelegt wurden, herrschte wieder Einigkeit, dass der Unterschied zwischen § 278 und 831 BGB das wichtigste Motiv gewesen sei, vom Deliktsrecht in das Recht der Sonderverbindungen auszuweichen.245 Damit wurde aber endlich eines klar: „Die Sonderverbindung hat so nicht mehr als eine zeitlich begrenzte Vehikel-Funktion zur Erzielung der Rechtsfolgen, die über den aktuellen (deliktischen) Gesetzesplan hinausgehen. Eine solche

243 Zu einer entsprechenden Reform des § 831 bereits Berger, Grenzen der Haftung (1935), S. 56 ff.; vgl. auch: Helm, Rechtsfortbildung und Reform bei der Haftung für Verrichtungsgehilfen, AcP 166 (1966), 389 ff.; Seiler, Die deliktische Gehilfenhaftung in historischer Sicht, JZ 1967, 525 ff.; E. Schmidt, Zur Dogmatik des § 278, AcP 170 (1970), 502 ff.; v. Caemmerer, Reformprobleme der Haftung für Hilfspersonen, ZfRV 1973, 241 ff.; Niethammer, Entwicklung der Haftung für Gehilfenhandeln (1973); Staudinger / ​Schäfer, BGB (10./11. Aufl. 1975), Vorbem. § 823 Rn. 20, 138 ff.; MünchKomm / ​Mertens, BGB III/2 (1980), § 831 Rn. 70. 244 Kreuzer, Culpa in contrahendo und Verkehrspflichten (1971), S. 280 ff. 245  Medicus, Gutachten (1981), S. 479/491: „Der Unterschied zwischen § 278 und § 831 BGB ist wohl seit RGZ 78, 239 das wichtigste Motiv dafür gewesen, vom Deliktsrecht in das Recht der Sonderverbindung auszuweichen.“, und mit dem Fazit: „Für die Begründung von Handlungspflichten zum Schutz fremder Rechtsgüter bedarf es des Rückgriffs auf das Recht der Sonderverbindung heute sicher nicht mehr. Denn die Entwicklung von Verkehrs(sicherungs) pflichten hat schon bisher im Rahmen von § 823 I BGB einen weiten, kaum mehr übersehbaren Umfang erreicht.“; U. Huber, Gutachten (1981), S. 647/667: „Die Schwierigkeiten des geltenden Rechts sind in erster Linie im Deliktsrecht begründet (…).“; S. 737 (zur Lehre von den Schutzpflichten allgemein): „Das Ziel dieser Lehre besteht bekanntlich darin, für eine Rechtsprechung die dogmatische Begründung nachzuliefern, die ihrerseits versucht, bestimmte, wirklich oder auch nur vermeintlich bestehende Defekte des Deliktsrechts zu kompensieren.“; S. 743 (zur c. i. c.): „Zunächst dient die Rechtsfigur der culpa in contrahendo dazu, die Regeln der Vertragshaftung, etwa § 278 BGB, in Fällen anzuwenden, die eigentlich ins Deliktsrecht gehören.“; Schlechtriem, Gutachten (1981), S. 1591/1616: Mit der Beseitigung der Konkurrenz der §§ 278, 831 würde „nicht nur die ungerechte, weil schwer berechenbare Gehilfenhaftung je nachdem, ob sich im konkreten Fall eine vertragliche oder vertragsähnliche Konstruktion zugunsten des Geschädigten ersinnen läßt, sondern vor allem auch das treibende Motiv für die Ausuferung der vertraglichen Haftung und die Erfindung immer gewagterer Konstruktionen zur Annahme vertraglicher Beziehungen zwischen Schädiger und Geschädigtem“ ausgeräumt.; v. Bar. Gutachten (1981), S. 1681/1706: „Es dürfte heute Einigkeit darüber bestehen, daß § 831 BGB eine verfehlte Bestimmung, ein ‚ständiges Ärgernis der Praxis‘ ist. Die Vorschrift hat die Phantasie von Generationen von Juristen angeregt, über Umgehungsmöglichkeiten nachzusinnen.“; ders., aaO (S. 1762) hat folgende Neufassung vorgeschlagen: „Wer einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, hat für den Schaden einzustehen, den der andere einem Dritten in Ausführung der Verrichtung widerrechtlich zufügt (…).“

II. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel

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Funktion reicht indessen zur Begründung einer Sonderverbindung nicht aus.“246 Die logische „Consequenz“ dieser Erkenntnis ist für die Existenzberechtigung eines „vorvertraglichen Schuldverhältnisses“ gleichsam verheerend: „Ob eine Sonderverbindung nach Art des § 278 BGB vorliegt oder nicht, kann nicht davon abhängen, ob der Gesetzgeber die deliktische Gehilfenhaftung in der gewünschten Weise ausgestaltet. Entweder entsteht mit der Aufnahme eines für die culpa in contrahendo erforderlichen Kontakts eine Sonderverbindung … oder es entsteht keine (…).“247

Die Vorstellung von einer funktionsgleichen Sonderverbindung neben dem Deliktsrecht kam spätestens mit der Vorstellung von einem vertragsähnlichen Deliktsrecht in arge Rechtfertigungsprobleme. Hans Stoll wiederholte in diesem Disput – nun freilich mit umgekehrter Intention – die Bemerkung, die bereits Heinrich Stoll gegenüber der p. V. verwendet hatte. Doch während der Vater mit dem „Abschied von der p. V.“ die eigene Theorie von den „Schutzpflichten“ entfaltete, kritisierte der Sohn 44 Jahre später mit denselben Worten gerade das Ergebnis jener Bemühungen: Das sei „kein Ruhmesblatt der deutschen Zivilrechtsdogmatik“.248 Die Skepsis für diesen Bereich erfasste nun auch den überaus forschen Gebrauch, den die Rechtsprechung im Übrigen (d. h. beim Schutz primärer Vermögensschäden) von der culpa in contrahendo machte. Bereits 1965 hatte Rudolf Nirk angesichts der greifbaren Inkonsistenzen bei der Anwendung dieses Haftungsinstituts in der Rechtsprechung sowohl der Instanzgerichte als auch des Bundesgerichtshofs Zweifel an der These von einer „geglückten richterlichen Rechtsfortbildung“ (Larenz) geltend gemacht.249 10 Jahre später konstatiert er die wachsende Gefahr einer immer weitergehenden „Ausuferung“ und fragte besorgt: quo vadis?250 Als Fazit aus seiner eingehenden Analyse von 20 Jahren BGH-Rechtsprechung resümiert der seit 1963 am höchsten deutschen Zivilgericht zugelassene und daselbst praktizierende Rechtsanwalt ein „Unbehagen …, weil sich in diesem Bereich eine ausgeprägte Billigkeitsrechtsprechung ‚angesiedelt‘ hat, die letztlich zwar eine verfeinerte Einzelfallgerechtigkeit erreicht, als 246 Thiemann,

Culpa in contrahendo (1984), S. 26. Culpa in contrahendo (1984), S. 26. 248  Hans Stoll, Haftungsverlagerung, AcP 176 (1976), 145/151, Fn. 21.; Heinrich Stoll, Abschied von der p. V., AcP 136 (1932), 257/260: „kein Ruhmesblatt der deutschen Rechtswissenschaft“. 249  Nirk, FS Möhring I (1965), S. 387 mit dem Befund: „Während die Durchschnittszahl der ‚erfolgreichen‘ Revisionen bei 40 % liegt, beträgt sie bei der c. i. c. etwa 65 %.“ (Fn. 11). 250 Nirk, FS Möhring I (1965), S. 386 ff.; ders., FS Möhring II (1975), S. 71/98 f: „Es erschien 1951 erforderlich, eine Begründung dafür zu geben, warum (nochmals) eine Untersuchung über die c. i. c. vorgelegt wird. Daß es 15 Jahre später nützlich sein könnte, eine Betrachtung darüber anzustellen, ob die c. i. c. als eine ‚geglückte richterliche Rechtsfortbildung‘ bezeichnet werden kann (darf), wäre damals geradezu unvorstellbar gewesen. Daß aber weitere 10 Jahre später angesichts der ‚Ausuferung‘ dieses Rechtsinstituts immer mehr die Frage ernsthaft gestellt werden muß, Culpa in contrahendo – quo vadis?, bereitet Sorge.“ 247 Thiemann,

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Konsequenz wiederum jedoch zu einer Rechtsunsicherheit führt, weil die Rechtsüberzeugung des jeweiligen (anonymen) Richters schwer prognostizierbar ist“.251 Der BGH selbst spricht im Urteil vom 10. Juli 1970 von der „Gefahr einer uferlosen Ausweitung der Schadensersatzpflicht wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen.“252 Und so ist es kein Wunder, wenn sich auch in der Literatur eine zunehmend ablehnende Haltung gegen das „übermäßig wuchernde“ (Medicus) Institut der culpa in contrahendo insgesamt ausbreitete.253 Die Warenhaus-Fälle hatten es an den Tag gebracht: Die c. i. c. war zu einem bequemen Allzweckinstrument avanciert, „das in jedem Einzelfall ohne Bindung an die Wertungen des Gesetzes eine (beliebige) Billigkeitsentscheidung ermöglicht“.254 Und auch das bereits von Hedemann benannte justizsoziologische Phänomen wurde klar benannt und prognostiziert: dass sich die Judikatur „schwerlich allein aufgrund dogmatischer Bedenken wieder davon trennen“ werde.255

 Nirk, FS Möhring II (1975), S. 99. 1970, 1840/41; ebenso schon zuvor OLG München, NJW 1968, 651: „Es läßt sich nicht leugnen, daß die Lehre von der Haftung aus culpa in contrahendo die Gefahr einer uferlosen Ausdehnung in sich birgt.“ 253  Vgl. etwa Dieter Medicus, Grenzen der Haftung für c. i. c., JuS 1965, 209 ff. (Zitat S. 214); ähnlich warnt Herschel, Rechte und Pflichten vor Arbeitsaufnahme, RdA 1965, 191/192, vor der „sehr bequemen und gängigen Formel von der culpa in contrahendo“; Hartwieg, Culpa in contrahendo als Korrektiv für ‚ungerechte‘ Verträge, JuS 1973, 733/737: „Die erleichterten Voraussetzungen und die ausschließliche Orientierung unserer Konstruktion an Billigkeitserwägungen machen sie zu einem ebenso handlichen wie ergebnissicheren Instrument der Rechtsprechung. Die Judikatur wird sich schwerlich allein aufgrund dogmatischer Bedenken wieder davon trennen.“; Liebs, Fahrlässige Täuschung, AcP 174 (1974), 26/50: Eignung der konturlosen c. i. c. zur Kadijustiz!; Hans Stoll, FS Caemmerer (1978), S. 435/436: „Gefahr einer vagen Billigkeitsrechtsprechung“; dem schließt sich Medicus, Gutachten (1981), S. 486, mit seinem Votum gegen eine „große Generalklausel“ bei der Kodifikation der culpa in contrahendo an: „Sie würde allenfalls die ohnehin schon bestehende Gefahr einer vagen Billigkeitsrechtsprechung … noch verstärken.“; Schmitz, Dritthaftung aus culpa in contrahendo (1980), S. 39: „Billigkeitsrechtsprechung contra legem“; Lieb, Grundfragen der Schuldrechtsreform, AcP 183 (1983), 327/333, nennt die culpa in contrahendo einen „vagabundierenden Irrwisch“; Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 105: „Die Sanktionierung der culpa in contrahendo bedeutet eine echte Rechtsfortbildung contra legem, denn es verhält sich nicht so, als seien die fraglichen Fälle im Gesetz überhaupt nicht geregelt (…).“; diese Kritik ist zwar auch später nicht ganz abgerissen, aber doch nur noch vereinzelt vorgetragen worden, etwa Hans Stoll, Schädigung durch Vertragsschluß (1999), S. 361/367. 254  MünchKomm / ​Emmerich (1979), Vor § 275 Rn. 86; ders., Recht der Leistungsstörungen (1978), § 2 IV., S. 13 und § 5 A III 2, S. 35: „Im heutigen Schrifttum stößt vor allem die unkontrollierte Ausdehnung der Haftung für c. i. c. auf immer neue Fälle auf zunehmende Kritik. In der Tat beschwört die gegenwärtige Praxis unverkennbar die Gefahr herauf, daß das Rechtsinstitut der c. i. c. zu einem bequemen Allzweckinstrument degeneriert, das in jedem Einzelfall weitgehend beliebige Billigkeitsentscheidungen ohne jede Bindung an die Wertungen des Gesetzes erlaubt.“; in diesem Sinne auch Gottwald, Haftung für culpa in contrahendo, JuS 1982, 876. 255  Hartwieg, Culpa in contrahendo als Korrektiv für „ungerechte“ Verträge, JuS 1973, 733/737. 251

252 NJW

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Wenn die Existenzberechtigung seit ihrer Wiederentdeckung durch Franz Leonhard einmal wirklich ernsthaft in Frage stand, dann war es jetzt, gegen Ende der 1970er Jahre, da die Reform des Schuldrechts auf der Agenda der Zivilrechtswissenschaft stand und die offensichtliche Konstruiertheit der vorvertraglichen Haftung kaum jemandem noch verborgen sein konnte. Eduard Picker sprach unter Einbeziehung der p. V. dramaturgisch zugespitzt gar von „einer Art Jüngsten Gerichts, das über Tod und Leben der beiden traditionellen Figuren“ entscheide.256 Doch gab es (nun umgekehrt bei den Spezialisten des Allgemeinen Schuldrechts) keine einheitliche Position und Auffassung dazu, ob die culpa in contrahendo ganz abgeschafft oder nur – in der Tradition Heinrich Titzes – hinsichtlich einzelner Fallgruppen in ihrem Anwendungsbereich zurückgefahren werden sollte.257 Als zuständiger Gutachter für die culpa in contrahendo favorisierte Dieter Medicus noch ganz auf der Linie des klassischen BGB-Gesetzgebers eine differenzierte und eher restriktive Regelung.258 Ein deutliches Votum gegen die Kodifizierung des Instituts sprach demgegenüber Ulrich Huber, der zuständige Gutachter für das Leistungsstörungsrecht, aus259: „Die Tatsache, daß die Rechtsprechung es gelegentlich aus Nachsicht zuläßt, in einer Seitenpforte durch die Mauer der Vertragstreue zu schlüpfen, ist für den Gesetzgeber kein Grund, hier gleich eine Bresche zu schlagen.“260 Und „[ü]berhaupt gehört der Begriff der culpa in contrahendo zu den dogmatischen Figuren, die mehr versprechen als sie halten … Ein einheitliches Prinzip, das einer gesetzlichen Gesamtregelung zugrundegelegt werden könnte, läßt sich aus den vielfältigen Erscheinungsformen der Rechtsfigur nicht abstrahieren.“261

Bei ernsthafter und differenzierter Durchsicht bestätigten sich so neuerlich die Erkenntnisse früherer Untersuchungen: Der culpa in contrahendo fehlt der Haftungsgrund. Aber es fehlten offenbar auch der Mut und die Kraft, das Institut einmal wirklich radikal in Frage zu stellen. Der stärkste Druck auf den Gedanken einer haftungsrechtlichen Sonderverbindung mit entsprechenden Schutzpflichten ging von den Spezialisten

256 Picker,

p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/372.  In letzterem Sinne etwa Larenz, FS Ballerstedt (1975); Hans Stoll, FS Cammerer (1978). 258  Medicus, Gutachten I (1981), S. 479 ff. 259 U. Huber, Gutachten I (1981), S. 647/667: „Der Entwurf hat auf eine Regelung der culpa in contrahendo bewußt verzichtet. (…) Bei der Rechtsfigur der culpa in contrahendo handelt es sich um einen Sammelbegriff für Rechtsprobleme ganz unterschiedlicher Struktur, die sich einem einheitlichen gesetzgeberischen Zugriff entziehen. Hält man bestimmte dieser Probleme für regelungsbedürftig, so gehört die Regelung nicht ins allgemeine leistungsstörungsrecht (…)“; ebenso dann S. 742–746). Seine Ablehnung hat Huber auch auf „die Lehre von den sog. Schutzpflichten“ und den „Vertrag mit Schutzwirkungen für Dritte“ übertragen und von einer Rezeption in seinen Entwurf „ganz bewußt“ abgesehen (Gutachten I, S. 667). 260  U. Huber, Gutachten I (1981), S. 743. 261 U. Huber, Gutachten I (1981), S. 746. 257

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des Deliktsrechts aus. Angesichts dieser „Hypertrophie des Vertragsrechts“262 befürchteten manche eine „allmähliche Verdrängung des allgemeinen Deliktsrechts und damit eine grundsätzliche sachliche und dogmatische Verfälschung der Haftungssysteme“.263 Nicht nur, dass die culpa in contrahendo ganz dreist im Bereich „genuinen Deliktsrechts“ wildere, ihre Konstruktion galt offensichtlich auch dem Ersatz primärer Vermögensschäden, den das deutsche Deliktsrecht bisher versagte. Wer einmal klaut, dem glaubt man nicht … und so war es vor allem in rechtsvergleichender Perspektive gar nicht mehr abwegig anzunehmen, dass sich auch insoweit „unter dem Deckmantel der vorvertraglichen Sonderverbindung weitreichendes außergesetzliches Deliktsrecht entwickelt“ haben könnte.264 Dieses war an seine „genuine“ Heimstätte zurückzuführen. Wir kennen das schon: Wo eine actio culpae vorhanden ist, da bedarf es keiner speziellen culpa in contrahendo.265 Kurz: Der Grundtenor der ‚fortschrittlichen‘ deliktsrechtlichen Theorie lautete: Zurück zur großen deliktsrechtlichen Generalklausel! Den dogmengeschichtlichen Besitzanspruch auf das ganze außervertragliche Haftungsrecht hat dann Christian v. Bar in seinem Gutachten zur Schuldrechtsreform noch einmal deutlich formuliert und diesen sogleich mit einem Fehdehandschuh an die Adresse der sonderverbindlichen Theoretiker verbunden: „Die Vehikel, derer man sich bediente, um diese Vorschrift [§ 278 BGB] anwendbar erscheinen zu lassen, waren die culpa in contrahendo, der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, weite Bereiche der positiven Vertragsverletzung sowie die sogenannte culpa post pactum perfectum, die ‚nachwirkenden‘ Vertragspflichten. Man ist sich heute wohl weitgehend darüber einig, daß diese Rechtsfiguren jedenfalls dort, wo es um den Bestandsschutz der im § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechte und Rechtsgüter geht, Ausprägungen eines gesetzlichen, nicht eines rechtsgeschäftlich begründeten (= vertraglichen) Schuldverhältnisses sind, das aus der Inanspruchnahme und Gewährung eines besonderen Vertrauens entsteht. In der Sache geht es in diesem sogenannten Schutzpflichtverhältnis um genuines Deliktsrecht. Konstruktiv war man jedoch genötigt, hier ein selbständiges gesetzliches Schuldverhältnis irgendwo zwischen Vertrag und Delikt in das BGB hineinzuinterpretieren und es als die Regelungsheimstatt angeblich vertragsähnlicher Beziehungen den Vorschriften über die Erfüllungsgehilfenhaftung im Vertragsrecht zu unterwerfen. Bereits seit geraumer Zeit bemerken wir allerdings einen außerordentlichen Bedeutungsschwund der genannten Institute im Rahmen der Verletzung von Erhaltungsinteressen (…).“266

Die Sache war deutlich genug: Die zuletzt von Canaris noch einmal aus der Logik der culpa in contrahendo als einheitliches Schutzpflichtverhältnis konstruierte Sonderverbindung betraf „genuines Deliktsrecht“ und war ein „Vehikel“ mit 262  Kreuzer, Anmerkungen zum Gemüseblatt-Fall, JZ 1976, 778; Schlechtriem, Gutachten II (1981), S. 1600: „Hypertrophie des allgemeinen Vertragsrechts“. 263 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/392 f. 264  Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 27. 265  Oben § 3 I. 266 v. Bar, Gutachten II (1981), S. 1716 f.

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„außerordentlichem Bedeutungsschwund“. Eine Reaktion hierauf konnte nicht ausbleiben. Seine ganze wissenschaftliche Arbeit von mehr als 15 Jahren galt der Idee einer aus der culpa in contrahendo zu konstruierenden „dritten Haftungsspur“; die Idee einer haftungsbegründenden Sonderverbindung war der Eckpfeiler sowohl des „einheitlichen Schutzpflichtverhältnisses“ als auch der ganzen Vertrauenshaftung.267 Ein wissenschaftliches Lebenswerk drohte als Makulatur in der dogmatischen Formlosigkeit einer großen deliktischen Generalklausel zu versinken. Wir müssen uns diese – schon geradezu existenzielle – Situation deutlich vor Augen führen, weil anderenfalls die notwendig heftige Reaktion nicht leicht verständlich wird. v. Bar hat das Problem wohl wenigstens geahnt und insoweit die Hand gereicht, um die Vertrauenshaftung in das Deliktsrecht zu integrieren. Aber es war nicht das Vertrauen als empirisches Phänomen, an dem Canaris hing, sondern die dogmatische Konstruktion einer eigenständigen Haftung jenseits von Vertrag und Delikt. Hier sieht er und sehen mit ihm viele andere seinen rechtswissenschaftlichen Ruhm, der ihn aus dem Kreis der vielen allzu vielen anderen Zivilrechtsdogmatiker als einen der seltenen „Zivilrechtlichen Entdecker“ heraushebt.268 Also wurde aus der Bewahrung der Vertrauenshaftung als dritter Haftungsspur wissenschaftlicher Ernst: b) Der Gegenschlag: Wider die deliktische Generalklausel „Wir haben schon dargelegt, daß sich die Lehre von der c. i. c. aus dem Gesetz nicht rechtfertigen läßt und müssen weitergehend sagen, daß sie eine Rechtsbildung contra legem, gegen das System des Gesetzes ist. Denn mit der Anerkennung eines Rechtsverhältnisses der Vertragsverhandlungen ist die Zweiteilung des Systems in Delikt und Vertrag zerbrochen zugunsten eines mehrstufigen Aufbaus. Das bedeutet aber nicht eine Korrektur, sondern einen Bruch des Systems (…).“ Hans Detlef Fischer, 1938269

Wäre die Sache nicht wissenschaftsbiographisch so grundlegend existenziell, wäre zu erwarten gewesen, die Bedenklichkeiten der Anvertrauenshaftung zuzugeben und sich auf die Haftung für primäre Vermögensschäden und die Erklärungshaftung in einem sonderverbindlichen Bereich – man nenne ihn „Vertrags‑ bzw. Vertrauenshaftung“270 – zu konzentrieren. So hatte es immerhin der Großvater und eigentliche Schöpfer der Vertrauenshaftung, Heinz Hildebrandt 267  Vgl. die frühen Schriften von Canaris: Geschäfts‑ und Verschuldensfähigkeit bei Haftung aus „culpa in contrahendo“, Gefährdung und Aufopferung, NJW 1964, 1987–1993; Das Verlöbnis als „gesetzliches“ Rechtsverhältnis, AcP 165 (1965), 1–31; Ansprüche wegen „positiver Vertragsverletzung“ und „Schutzwirkung für Dritte“ bei nichtigen Verträgen, JZ 1965, 475–482; Die Produzentenhaftpflicht in dogmatischer und rechtspolitischer Sicht, JZ 1968, 494–507. 268 Ulrich Florian, Claus-Wilhelm Canaris – Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, in: Hoeren (Hrsg.), Zivilrechtliche Entdecker (2001), S. 377 ff. 269  Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938), S. 75: hierzu oben § 6 II.3. 270 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/33.

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(1931), zugegeben. Die Sache war nun aber dogmatisch existenziell: Dass die Sonderverbindung ausgerechnet die Erhaltungspflichten nicht enthalten sollte, legte die Axt an die gesamte Konstruktion vom umfassenden Schutzpflichtverhältnis zwischen Vertrag und Delikt. Und so nahm Canaris den Fehdehandschuh der deliktsrechtlichen Theoretiker auf, stellte sich mit guten und erneuerten Gründen auf den Standpunkt der gemeinrechtlichen Deliktstheorie271 und die immer wieder von ihm beschworene lex lata des deutschen Rechts, um seinen Gegnern nun seinerseits nicht nur eine „geist‑ und fantasielose Flucht in die ‚große‘ deliktsrechtliche Generalklausel“272, sondern zugleich auch eine Pervertierung, „Zerstörung“273 und „Verwirrung“274 vorzuwerfen, die von einer allgemeinen deliktsrechtlichen Generalklausel ausgehen würde: „Die Orientierung an der geschriebenen Norm trägt nämlich dem Bemühen des Gesetzes um tatbestandliche Klarheit und Erkennbarkeit der Haftungsvoraussetzungen Rechnung und verhindert zugleich, daß § 823 II BGB durch die Entwicklung allgemeiner Verhaltenspflichten im Wege freier richterlicher Rechtsfortbildung zu jener allgemeinen deliktsrechtlichen Generalklausel pervertiert wird, die die Verfasser des BGB verworfen haben.“275

Der argumentative Schlachtplan gegen die deliktsrechtliche Theorie ist folgerichtig konzipiert und mit einer beeindruckenden apodiktischen Kampfkraft vorgetragen: Das zuletzt „vielgeschmähte Deliktsrecht des BGB“ wird in seinen Grundwertungen und als „heute noch überzeugendes Lösungsmodell“ rehabilitiert und jeder diese Wertung untergrabenden Rechtsfortbildung eine kategorische Absage erteilt. Das gelte sowohl für Bestrebungen, die Haftung auf der Basis des § 826 BGB normativ und in Richtung auf die Fahrlässigkeit zu erweitern,276 sodann aber vor allem für die Hauptthese der deliktsrechtlichen Theorie, § 823 Abs. 2 BGB ganz allgemein dem richterrechtlichen Judiz bei der Postulation von Verkehrspflichten zu öffnen. Dabei bemüht sich Canaris, für die zur Fortbildung geradezu einladende „blankettartige Norm“ des § 823 Abs. 2 271 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/35–39; hierzu bereits ausf. oben § 3 III.; vielleicht etwas zu forsch im Interesse seiner eigenen Interpretation Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/470 ff.: „Tatsächlich herrscht denn auch, wenn ich recht sehe, über diesen Sinn der von den Gesetzesverfassern verfolgten Haftungsbegrenzung zumindest im prinzipiellen kein Streit. Er stellt recht eigentlich gar kein Diskussionsthema dar, ist vielmehr – ebenso wie die grundsätzliche Einigkeit über die im Deliktsrecht zu harmonisierenden gegenläufigen Werte – eine mehr oder minder reflexionslose Grundüberzeugung.“ (S. 473). 272  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/39. 273  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/46: Explizit gegen Kötz, Deliktsrecht (2. Aufl. 1979), S. 84: „Daß in § 823 II BGB ein ‚verborgener Schatz‘ liegt, der ‚durch die Einbeziehung des Richterrechts gehoben werden könnte‘ trifft demnach nicht zu und stellt nichts anderes dar als einen versteckten Appell zur Zerstörung des differenzierenden Systems der §§ 823 ff. BGB in Richtung auf eine allgemeine deliktsrechtliche Generalklausel.“ 274  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/79. 275  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/45. 276 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/39.

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BGB „einigermaßen klare Konturen“ zu gewinnen, „wenn das Deliktsrecht nicht aus dem Gleichgewicht geraten soll“.277 Das diesbezügliche Ergebnis muss weder in seiner Strenge noch in seiner negativen Intention, „solche Normen auszuscheiden, die von vornherein nicht als Schutzgesetze in Betracht kommen“278, überraschen: Bei der Bestimmung dessen, was ein Schutzgesetz i. S. d. § 823 II BGB sein darf, sei bei „reinen Vermögensschäden grundsätzlich vom Leitbild des Strafgesetzes auszugehen; denn nur dieses bietet nach Unrechtsgehalt und tatbestandlicher Präzision eine hinreichende Gewähr gegen die Gefahr einer Systemsprengung und die Aushöhlung der durch die §§ 823 I, 826 BGB vorgegebenen deliktsrechtlichen Grundentscheidungen.“279

Dass hiermit ein Standpunkt markiert ist, der in „diametralem Gegensatz zu einer im Schrifttum vordringenden neueren Ansicht“280 steht, spricht Canaris selbst aus. Doch begnügt er sich nicht damit, für die Anwendung des § 823 Abs. 2 BGB klare Pflöcke gegen eine Ausdehnung auf vermögenschützende Verkehrspflichten eingeschlagen zu haben. Auch die Verkehrspflichten selbst werden wieder in § 823 Abs. 1 BGB dogmatisch loziert. Alles andere wäre eine „Entleerung dieser Vorschrift, die dann auf unmittelbare Eingriffe beschränkt“ und ganz „unsinnigerweise an die Spitze“ des Deliktsrechts gestellt wäre:281 „Man sollte der Rechtsprechung daher nicht aufzureden versuchen, sie habe mit der Entwicklung der Verkehrspflichten das gesetzliche System des Deliktsrechts in mehr oder weniger revolutionärer Weise durchbrochen und es sei daher nur folgerichtig, das Zerstörungswerk durch die Verpflanzung der Verkehrspflichten nach § 823 II BGB und die Anerkennung von frei entwickelten Verkehrspflichten zum Schutze reiner Vermögensinteressen zu vollenden.“282

Alles in Allem führe die „neue Lehre mithin nicht zu einer klareren Ordnung des Deliktsrechts, sondern im Gegenteil zu äußerst unerfreulichen Abgrenzungsschwierigkeiten und leistet daher nicht, was gute Dogmatik zu leisten hat“.283 Nachdem Canaris so ein streng an wirtschaftlicher Freiheit und Rechtssicherheit ausgerichtetes Deliktsrecht aus dem Geist des historischen BGB-Gesetzgebers (gleichsam neoliberal) rekonstruiert hat, kann er daran gehen, die deliktsrechtlichen Rechtsvergleicher auch über die deutsche lex lata und die Existenz von Schutzpflichten zu belehren, die nun offenkundig nicht zum „genuinen Deliktsrecht“ gehören. „Angesichts solcher Polemik“ empfiehlt er einen Blick ins Gesetz, um dann mit dem Hinweis auf § 618 I BGB, wonach der Dienst-

277 Canaris,

2. FS Larenz (1983), S. 30/48.  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/76. 279  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/58. 280 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/77. 281  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/78. 282  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/79. 283 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/79. 278

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berechtigte den Dienstverpflichteten grundsätzlich „gegen Gefahr für Leben und Gesundheit“ zu schützen hat, klarzustellen: „Gegenüber einer derartigen Vorgabe der lex lata gehen Hinweise auf angebliche Lehren der Rechtsvergleichung ebenso ins Leere wie die Behauptung des ‚wahren‘ Charakters einer bestimmten Pflicht. Ohnehin ist methodologisch und rechtsquellentheoretisch ganz dunkel, wie die Rechtsvergleichung es anstellt, die Dogmatik einer bestimmten nationalen Rechtsordnung etwas über den ‚wahren‘ Charakter von Pflichten zu ‚lehren‘. Denn daß die meisten oder auch alle ausländischen Rechtsordnungen die einschlägigen Probleme deliktsrechtlich lösen, kann doch wohl nicht im Ernst bedeuten, daß dies die allein ‚richtige‘ Lösung ist.“284

Es ist nicht recht klar, ob Canaris ernsthaft meint, mit dem Hinweis auf eine einzige Vorschrift, noch dazu einer aus dem speziellen Bereich des Dienstvertrages mit dem besonderen Gedanken der Fürsorgepflicht des Dienstherrn / ​Arbeitgebers (§ 618 BGB), bereits eine ganze Theorie sonderverbindlicher Schutzpflichten für das deutsche Recht als lex lata nachgewiesen und eine grundsätzliche Strukturüberlegung zum Verhältnis von Vertrags‑ und Deliktsrecht widerlegt zu haben, oder ob er weitere Hinweise auf Vorschriften des BGB (wir kennen schon die Debatte um die zweifelhafte Verallgemeinerung der §§ 463 a. F., 523, 524, 600 BGB und § 694 BGB etc.)285 für überflüssig bzw. nicht passend erachtet oder er eine erneute Debatte um die Unmöglichkeit einer Gesamtanalogie und mithin die Zweifelhaftigkeit der ganzen sonderverbindlichen Konstruktion, die nun wahrlich „methodologisch und rechtsquellentheoretisch ganz dunkel“ ist, gar nicht erst aufzuregen sucht. Das bedarf hier keiner Spekulation. Canaris hat sich ja offenbar nie ernsthaft die zweifelhaften dogmengeschichtlichen Wurzeln der culpa in contrahendo (bzw. der von ihm so genannten negativen Vertrauenshaftung) vergegenwärtigt. Für ihn gehört die c. i. c. bereits unumstößlich zur deutschen lex lata – eine allgemeine auf primäre Vermögensschäden orientierte Deliktshaftung hingegen nicht. Methodologisch ist das also weder haltbar noch ist es neu: Das Deliktsrecht wird argumentativ zurecht geschrumpft, um Platz für eine Lücke und die gewünschte „dritte Haftungsspur“ zu schaffen. Mit der lex lata hat das nicht viel zu tun. Viel spannender als dieses Musterbeispiel des dogmatischen Positivismus (mit einer einzigen Norm wird ein fundamentaler Systembruch wie selbstverständlich zur lex lata erklärt) ist denn auch freilich die inhaltliche Seite der Argumentation, die sich doch gegen Canaris selbst wendet und in der Sache sehr viel mehr sprengt als nur das gut begründete Deliktsrecht.

284

 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/86. § 5 III.1.

285 Oben

II. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel

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c) Bumerang-Effekt: Wer im Glashaus sitzt … „Die Orientierung an der geschriebenen Norm trägt nämlich dem Bemühen des Gesetzes um tatbestandliche Klarheit und Erkennbarkeit der Haftungsvoraussetzungen Rechnung und verhindert zugleich, daß § 823 II BGB durch die Entwicklung allgemeiner Verhaltenspflichten im Wege freier richterlicher Rechtsfortbildung zu jener allgemeinen deliktsrechtlichen Generalklausel pervertiert wird, die die Verfasser des BGB verworfen haben.“ Claus-Wilhelm Canaris, 1983286

Das Problem der Argumentation ist mit Händen zu greifen: Das Deliktsrecht wird mit dem Hinweis auf Handlungs‑ und Wirtschaftsfreiheit verteidigt (S. 35 ff.), während die Parteien in einer „Sonderverbindung“ bereits sprachlich zu „verbundenen Rechtsgenossen“ (S. 34) zwangskorporiert werden. Die sozialphilosophischen Grundpositionen finden so im Streit um die haftungsrechtliche Generalklausel ihren dogmatischen Klassenkampf: Liberalismus im Deliktsrecht und Sozialismus im Recht der Sonderverbindung. Diese Art einer strengen dichotomischen Systembildung ist uns schon als Grundlage der Vertrauenshaftung in Abgrenzung zur Rechtsgeschäftslehre begegnet: Auch im Vertragsrecht herrschen ja (grundsätzlich jedenfalls) Selbstbestimmung und Privatautonomie, während die Haftung kraft Sonderverbindung (Vertrauenshaftung) das rechtsethische „Korrelat“ hierzu abgeben soll. Mit dieser Art definitorischer Macht, Rechtsethik gleichsam in ein dogmatisches System zu bringen, bräuchte man dann kein Problem haben, wenn es sich tatsächlich um ein sachlich abgestimmtes System handelte. Dem ist aber doch ersichtlich nicht so, weil Canaris das liberale Vertrags‑ und Deliktsrecht vordergründig zwar vehement verteidigt, aber in der Sache doch nur beschwört, um Platz für das soziale Öl (s)einer „dritten Haftungsspur“ zu schaffen und mit dieser dann genau die Haftung zu befürworten, die für die klassischen beiden Haftungsbereiche gerade erst mit Nachdruck abgelehnt wurde. Nehmen wir Canaris ernst, dann muss seine Argumentation gegen eine große deliktsrechtliche Generalklausel ebenso für jede andere haftungsrechtliche Generalklausel gelten. Wenn er letztlich sogar einräumt, dass der Unterschied zwischen sonderverbindlicher und deliktischer Haftung „kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller“287 sei, dann ist es schwerlich akzeptabel, das Vertrags‑ und Deliktsrecht auf liberalen Prämissen gründen zu wollen, die sonderverbindliche Haftung aber als Korrelat hierzu auf soziale. Denn es leuchtet schlichtweg nicht ein, dass es im Vertrags‑ und Deliktsrecht nun einmal „zur freien Entfaltung der Persönlichkeit wie zum Wettbewerb“ gehören soll, „daß der eine Bürger

286

 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/45. 2. FS Larenz (1983), S. 30/90.

287 Canaris,

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Vermögensinteressen des anderen beeinträchtigen darf – und zwar häufig sogar vorsätzlich“288 (sic!) nicht aber im Recht der „Sonderverbindung“. Es leuchtet nicht ein, warum die Frage: „Warum … sich denn jemand Einschränkung seiner Handlungsfreiheit auferlegen oder gar Vermögenseinbußen hinnehmen [soll], nur um genau die gleichen Interessen anderer Bürger zu schonen!?“289 zwar für das Delikts‑ und Vertragsrecht, nicht aber das Recht der „Sonderverbindung“ Relevanz besitzen soll. Es leuchtet nicht ein, dass das Deliktsrecht vom Gedanken strengster Rechtssicherheit beherrscht sein soll, während mit der culpa in contrahendo die konturenlose Billigkeit im Einzelfall zelebriert werden darf. Wo bleibt hier die „tatbestandliche Präzision“? Man kann doch schwerlich behaupten, dass der Gedanke vom gewährten und in Anspruch genommenen Vertrauen „eine hinreichende Gewähr gegen die Gefahr einer Systemsprengung und die Aushöhlung der durch die §§ 823 I, 826 BGB vorgegebenen deliktsrechtlichen Grundentscheidungen“290 böte. Wo bleibt hier die „tatbestandliche Klarheit und Erkennbarkeit der Haftungsvoraussetzungen“, die verhindern, dass die culpa in contrahendo „durch die Entwicklung allgemeiner Verhaltenspflichten im Wege freier richterlicher Rechtsfortbildung zu jener allgemeinen deliktsrechtlichen Generalklausel pervertiert wird, die die Verfasser des BGB verworfen haben“.291 Kein Wort zu den „unerfreulichen Abgrenzungsschwierigkeiten“, die von der culpa in contrahendo seit jeher ausgehen und die mithin schwerlich das leistet, „was gute Dogmatik zu leisten hat“.292 Wir erinnern uns: Es ist geradezu die Geburtsidee der sonderverbindlichen Theorie, die Rechtssicherheit klar definierter subjektiver Rechte mit der ‚Gerechtigkeit‘ von Schutzpflichten im Einzelfall zu überwinden. Nur zur Erinnerung: „Die Beteiligten stehen einander nicht fremd als Vertragsgegner, sondern verbunden als Vertragsgenossen gegenüber, die im gemeinsamen Zusammenwirken das gemeinschaftlich gesetzte Ziel verwirklichen. Die Einheit des Schuldverhältnisses steht darum im Vordergrunde, das ‚Schuldverhältnis als Organismus‘ ist mehr als die Summe von Einzelansprüchen; aus ihm fließen vielmehr die einzelnen Ansprüche. Diese beschränken sich nicht auf die vom Gesetz aufgezählten; sie ergeben sich aus der Lage des einzelnen Falles heraus, bestimmen sich allein nach Treu und Glauben. Der Gerechtigkeitsgedanke muß auch hier über den Rechtssicherheitsgedanken siegen.“293

 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/37. 2. FS Larenz (1983), S. 30/37. 290  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/58. 291  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/45. 292 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/79; dabei hat sich Canaris noch kurz zuvor mit den Abgrenzungsproblemen der culpa in contrahendo befasst (Leistungsstörungen beim Unternehmenskauf, ZGR 1982, 397 ff.). 293 Heinrich Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht (1934), S. 70. 288

289 Canaris,

II. Der Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel

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Kurz: Es leuchtet nicht ein, warum die von Canaris völlig zu Recht betonte Wertung des Deliktsrechts294 nun ausgerechnet für die culpa in contrahendo nicht gelten soll; warum also im Deliktsrecht eine absolute Rechtsfortbildungssperre ausgemacht wird, während die immer weiter mit logischer Konsequenz gleichsam aus dem Nichts und contra legem aufgeblähte Konstruktion einer systemsprengenden allgemeinen Haftung für culpa in contrahendo als „gelungene Rechtsfortbildung“ und „Entdeckung“ gefeiert und als unumstößliche lex lata behauptet werden darf. Dass sich die von Canaris vorgetragene Wertung des Deliktsrechts gerade auf den geschäftlichen Bereich erstreckt, wird man nicht dadurch aus der Welt reden können, dass man die ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellenden Kontrahenten mit dem Eintritt in rechtsgeschäftlichen Kontakt plötzlich zu sonderverbindlich „verbundenen Rechtsgenossen“295 macht, die nun doch zur gemeinschaftlichen Fürsorge der gegenseitigen Interessen verpflichtet sein sollen. Diese Verknüpfung von Sonderverbindung und Gemeinnutz (vor Eigennutz) kennen wir bereits. Neu ist nur der bereichsabhängige Wandel der sozialphilosophischen Grundprämissen: Egoismus und Liberalismus für das Delikts‑ und Vertragsrecht  – Solidarismus und Sozialismus für die sonderverbindliche dritte Haftungsspur. Man muss sich für ein wirklich konsistentes Zivilrechtssystem („an dem der Zivilrechtsdogmatiker seine Freude hat“) einmal entscheiden, welche rechtsethischen Grundprämissen als Dogmen für die Rechtsdogmatik tatsächlich fundamental sein sollen. Bis dahin hängt nicht allzu viel daran, ob die haftungsrechtlichen „Consequenzen“ in Schutz‑ oder Verkehrspflichten, im Delikts‑ oder im Vertragsrecht zum Ausdruck kommen. Schwierig wird es nur, wenn verschiedene dogmatische Konstruktionen für ein und denselben Sachverhalt in eine unauflösliche Konkurrenz miteinander treten, weil die eine dogmatische Figur die individuelle Freiheit, die andere hingegen die gemeinschaftliche Verbundenheit der Privatrechtssubjekte zum Ausgangspunkt der jeweiligen Rechtsfolge nimmt. Eine solche Lehre führt nun wirklich nicht „zu einer klaren Ordnung“ des Haftungsrechts, „sondern im Gegenteil zu äußerst unerfreulichen Abgrenzungsschwierigkeiten und leistet daher nicht, was gute Dogmatik zu leisten hat“.296 Spätestens bei der Betrachtung des § 826 BGB hätte es eigentlich auch Canaris auffallen müssen, dass die culpa in contrahendo gar nichts anderes ist als eine Ausdehnung dieser Vorschrift auf den Bereich einer allgemeinen Haftung für jede Fahrlässigkeit. Aber Canaris rügt gleichwohl in der „psychologisch konzipierten Unterscheidung zwischen bedingtem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit“ beim Tatrichter bereits „ein bedenklich hohes Maß an praktisch unüber Oben § 3 II.3., III.  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/34. 296 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/79. 294 295

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prüfbarem Urteilspielraum“ und in den Tendenzen zu einer „Normativierung in Richtung auf die grobe Fahrlässigkeit“ bereits eine illegitime Rechtsfortbildung; denn: „Das Merkmal des Vorsatzes in § 826 BGB bildet eine tatbestandliche Schranke, die mit den Mitteln legitimer Rechtsfortbildung nicht zu überwinden ist.“297 Wie gut nur, dass die culpa in contrahendo bereits gewohnheitsrechtlich anerkannt sein soll, so braucht man sich mit den ubiquitären Bedenklichkeiten der eigenen sonderverbindlichen Fahrlässigkeitshaftung nicht weiter zu beschäftigen, obwohl hier ein sehr viel tiefer greifender Bruch mit Wertung und Systematik des Gesetzes vorgenommen wurde: „Es geht eben, wie noch einmal betont sei, nicht um den ‚wahren‘ Charakter der fraglichen Pflichten und um die ausschließliche Zuständigkeit des einen oder anderen Rechtsgebiets, sondern lediglich um den Schwerpunkt nach der jeweiligen lex lata.“298

Mit anderen Worten: Die culpa in contrahendo ist nun einmal da; sie ist der Eckpfeiler der sonderverbindlichen Theorie der Vertrauenshaftung und da geht es nicht an, „daß die Einführung eines deliktischen Schutzes gegen fahrlässige Vermögensschädigungen das Institut der culpa in contrahendo insoweit überflüssig machen würde“.299 Das zentrale Argument gegen die deliktsrechtliche Theorie ist also genau besehen ein relativ dünnes rechtspositivistisches Dogma: Die culpa in contrahendo zählt zur deutschen lex lata, nicht aber eine umfassende deliktische actio culpae. Daher ist nicht das Deliktsrecht der „genuine“ Ort für eine weitere Rechtsfortbildung des Haftungsrechts, sondern allein die sonderverbindliche culpa in contrahendo, die man auch seit Hildebrandt (1931/35) Vertrauenshaftung nennt: „Man sollte daher den hierin liegenden Ansatz für die Rechtsfortbildung kräftig nutzen. Insbesondere ist es hohe Zeit, die Auskunftshaftung grundsätzlich in die Vertrauenshaftung einzubeziehen und in Anlehnung an die culpa in contrahendo zu lösen.“300

Soweit ich sehe, haben die Ausführungen von Canaris keine ernsthafte Erwiderung mehr erfahren. Im Gegenteil: Man kann seinen Aufsatz bis heute zu den einflussreichsten Aufsätzen des dogmatischen Positivismus der deutschen Zivilrechtsdogmatik des 20. Jahrhunderts zählen. Als dann noch nahezu zeitgleich Gerhard Dilcher und Eduard Picker vor der Versammlung der Deutschen Zivilrechtslehrer neuerlich die systemsprengende Zeitlichkeit der sozialethischen Entwicklung301 (Materialisierungsthese als Begründung einer dritten Haftungsspur; Rechtsfortbildung als Ausdruck lebendiger Geschichtlichkeit des Rechts)  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/39. 2. FS Larenz (1983), S. 30/90. 299  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/90. 300  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/93. 301 Dilcher, Vom Beitrag der Rechtsgeschichte zur Zivilrechtswissenschaft, AcP 184 (1984), 246/262 ff.: „Plädoyer für eine Neuaufnahme der Überlegungen … wieweit die Dogmatik unserer Kodifikation die Rechtslage noch in ihrem System zu fassen vermag – oder wieweit die Rechtsentwicklung diese Systematik überwachsen oder gesprengt hat.“; mit der von Wieacker 297

298 Canaris,

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hervorgehoben und dem Streben nach einer großen deliktsrechtlichen Generalklausel ihrerseits eine klare Absage erteilt und insoweit ein deutliches und ausführliches Votum für culpa in contrahendo und p. V. eingelegt hatten,302 war der Stimmungsumschwung gegen die deliktsrechtliche und für die sonderverbindliche Theorie in der deutschen Zivilrechtswissenschaft besiegelt. Der schwierige und kontroverse Themenkomplex „Deliktsrecht vs. (quasivertragliches) Schuldrecht“ wurde im weiteren Verlauf der Schuldrechtsreform ausgeklammert. Die 1984 eingesetzte Kommission erhielt mit der Konzentration auf das Leistungsstörungsrecht einen eher bescheidenen Bearbeitungsrahmen, der dann notwendig allein die sonderverbindliche Theorie in die weitere Betrachtung mit einbezog. Seither ist es um die Theorie einer deliktsrechtlichen Generalklausel eher still geworden.303 Die sonderverbindliche Theorie vom „einheitlichen Schutzpflichtverhältnis“ hat sich trotz einiger Gegenstimmen304 dogmatisch und praktisch etabliert.305 Mit der gesetzlichen Verankerung der Schutzpflichten in § 241 Abs. 2 BGB n. F. und der Vertrauenshaftung in § 311 Abs. 2, 3 BGB n. F. im Rahmen der dann doch noch als „Schuldrechtsmodernisierung“ vollführten „Schuldrechtsreform“ hat Canaris schließlich sein rechtswissenschaftliches Vermächtnis der deutschen lex lata endgültig aufgeprägt und sein Lebenswerk volltradierten Erkenntnis: „ (…), daß die hochliberalen Wertungen von Person und Willensmacht je länger je mehr von sozialethischen Werten durchschossen und … konterkariert wurden“. 302  Picker, Positive Forderungsverletzung und culpa in contrahendo – Zur Problematik der Haftungen „zwischen“ Vertrag und Delikt, AcP 183 (1983), 369 ff.; hierzu sogleich unten 3.a). 303  Betont wurde freilich immer noch die dogmatische Nähe von Verkehrspflichten und Schutzgesetzen, vgl. Deutsch, Unerlaubte Handlungen und Schadensersatz (1987), Rn. 272; v. Bar, JuS, 1988, 170 ff.; umfassend zu dem Problem Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), mit Bespr. v. Bar, AcP 192 (1992), 441. Gänzlich unbeeindruckt Bälz, Zum Strukturwandel des Systems zivilrechtlicher Haftung (1991), insb. S. 48 ff., der mit allen bestehenden Verkehrs‑ und Schutzpflichten „eine in sich geschlossene, aus § 823 Abs. 2 BGB zu entwickelnde deliktsrechtliche ‚Sorgehaftung‘ bilden“ will. Dass jedenfalls die Fälle benannter Rechtsgutsverletzungen weiterhin ins Deliktsrecht gehören, wurde zuletzt betont von Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001) S. 231/237: „Kaum jemand bestreitet mehr, daß wir es bei diesen Integritätsverletzungen in contrahendo mit funktionalem Deliktsrecht zu tun haben.“ (ohne Hinweis auf Canaris u. a.). 304 Stöcker, Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo (1961), S. 39: „gekünstelte Konstruktion“; Medicus, JuS 1986, 665/668 ff.; kontinuierlich: ders., Bürgerliches Recht (19. Aufl. 2002), Rn. 203; Gernhuber, Das Schuldverhältnis (1989), § 2 IV 4; Huber, AcP 177 (1977), 296; Larenz, Schuldrecht I, 14. Aufl., 1987, § 9 I b = S. 119 f.; Staudinger / ​Löwisch, BGB (13. Aufl. 1995), Vor §§ 275 ff., Rn 26 („unnötig, … wenn ein Schuldverhältnis tatsächlich besteht“); ebenso noch BGHZ 63, 382, 387, wonach die Haftung aus c. i. c. von der Haftung aus Vertrag gleichsam „überholt“ wird; noch offen gelassen von BGH, NJW 2000, 69 (Steuerberater); unklar Paßmann, Schutzpflichtverletzungen (2010): Schutzpflichten entstehen kraft Vertrages bzw. aus § 242 BGB, aber die Dichotomie von Vertrags‑ und Deliktsrecht sei abzulehnen, weil die Schutzpflichten zum Deliktsrecht gehören. 305 Thiele, Leistungsstörung und Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649/654 ff.; v. Lackum, Neuordnung von „culpa in contrahendo“ und „positiver Vertragsverletzung“ (1970); Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schtzpflichten (1981), insb. S. 211 ff.; vgl. im Übrigen die Nachweise bei Canaris, Vertrauenshaftung BGH (2000), S. 129 ff., Fn. 207.

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endet. Und siehe da: Mittlerweile glauben selbst langjährige Kritiker, dass es sich „bei den Verkehrspflichten um einen genuinen Anwendungsbereich auch der c. i. c. handelt“ (sic!); die Auffassung, dass „die betreffenden Fälle in Wirklichkeit ins Deliktsrecht gehören“, sei „heute durch die gesetzliche Regelung … überholt“.306 An die Stelle des dogmatischen tritt neuerlich also wieder ein reiner Gesetzespositivismus. 3. Unreflektierte Dogmen: Sonderverbindung als Haftungsbeschränkung? „Verlegen wir aber die Entstehung der Pflichten weiter zurück über die Einwirkungshandlung hinaus, … so könnte es scheinen, als ob diese Pflichten von den in den Deliktsnormen verkörperten allgemeinen Rechts‑ oder Verkehrspflichten nicht grundsätzlich verschieden wären. Das Wesen der vorvertraglichen Pflichten ist aber, daß sie nicht schlechtweg, nicht jedem beliebigen Menschen gegenüber gelten, …, daß sie vielmehr von vornherein jeweils auf den einen bestimmten Gegner bezogen sind.“ Rolf Raiser, 1927307

Es bleibt nach allem Gesagten zweifelhaft, ob der Sieg der sonderverbindlichen Theorie tatsächlich als Erfolg zivilrechtlicher Jurisprudenz zu werten ist oder ob er nicht vielmehr nur einen Pyrrhussieg bei einem der allzu vielen rechtsdogmatischen Scheingefechte darstellt:308 de lana caprina rixari … Denn der Streit um die passende dogmatische Lozierung der vermögenschützenden Schutz‑ bzw. Verkehrspflichten ist das eine, die praktische Brauchbarkeit der juristischen Konstruktion das andere. Die Sonderverbindung dürfte insoweit die Entdeckung von haftungsbegründenden Schutzpflichten ebenso wenig fördern oder begrenzen, wie es die Lozierung „vermögensschützender Verkehrspflichten“ bei § 823 Abs. 2 BGB tun würde. Und so kann man der deliktsrechtlichen Theorie freilich emphatisch entgegen halten, dass sie neben sonstigen dogmatischen Unpässlichkeiten vor allem „mit der Absage des BGB an eine ‚große‘ deliktsrechtliche Generalklausel und an einen umfassenden deliktsrechtlichen Vermögensschutz unvereinbar“ ist,309 dass eine „große“ Generalklausel „bekanntlich … Probleme 306  MünchKomm / ​Emmerich (5. Aufl. 2007), § 311 Rn. 60; ebenso Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), S. 119 f.: „Mit der Schuldrechtsreform hat eine Regelung in das BGB Einzug gefunden, die das Rücksichtnahmeschuldverhältnis … eindeutig in den Zusammenhang des vertraglichen und nicht des deliktischen Schuldverhältnisses stellt. … Schon aus diesem Grund ist das Konzept der deliktischen Ansätze abzulehnen.“ 307  Schadenshaftung bei verstecktem Dissens, AcP 127 (1927), 1/24. 308  Zutreffend konstatierte schon v. Bar (JuS 1988, 169/172): „… so weit, wie manche meinen, ist das hier gern bemühte ‚gesetzliche‘ Schuldverhältnis aus der Gewährung und Inanspruchnahme von Vertrauen von einem deliktsrechtlichen Verkehrspflichtenkonzept nun wirklich nicht entfernt.“ Insb. Bälz, Strukturwandel des Systems zivilrechtlicher Haftung (1991), S. 49, scheint die Ausführungen von Canaris als „überholten Systematisierungsversuch“ anzusehen. Zu den praktisch relevanten Fragen wie Gehilfenhaftung, Beweislastumkehr und Verjährung vgl. insb. Medicus, Die culpa in contrahendo zwischen Vertrag und Delikt, FS Keller (1989), S. 205 ff. 309 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/83.

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der Haftungseingrenzung“ aufwirft und ihr die „Tendenz zu einer einseitigen Bevorzugung des Geschädigten innewohnt, während das System des BGB stärker auf die Interessen des potentiellen Schädigers Bedacht nimmt und dadurch einen ausgewogeneren Kompromiß darstellt“.310 Aber diese Argumentation fällt, wie gesehen, auf die Protagonisten einer sonderverbindlichen Generalklausel zurück. Oder was hätte insoweit diese Theorie jener voraus?311 a) Pseudo-naturrechtliche Hypothesen: Die Rückkehr des neminem laedere „Inter officia absoluta, seu quorumlibet erga quoslibet primum locum obtinet: ne quis alterum laedat. Est quippe hoc officium omnium latissimum, omnes homines ut tales, complexum.“ Samuel Pufendorf, 1673312

Einen Versuch, die dogmatische Vorzugswürdigkeit der sonderverbindlichen Theorie ernsthaft darzulegen, hat insbesondere Eduard Picker in seinem umfangreichen Referat zum Schicksal der sonderverbindlichen Haftungsinstitute unternommen: „Der entscheidende Unterschied beider Haftungsformen“ sei, so Picker, „in Wahrheit“ in der Art und Weise begründet, „wie der Haftungsgläubiger festgelegt wird: Das eine Mal erfolgt diese Festlegung mit der Fixierung bestimmter haftungsbegründender Rechtspositionen. Das andere Mal wird sie bereits durch die Sonderverbindung erreicht.“ Das klingt auf den ersten Blick bereits bekannt; denn die Argumentation läuft in die gleiche Richtung, die ihr Rolf Raiser (1927) mit dem Begriff der „Sonderverbindung“ überhaupt erst gewiesen hatte.313 Es geht also neuerlich um die Frage, wann genau ein Schaden auf „sozialem Kontakt“ sonderverbundener Rechtsgenossen oder einem „unerwünschten Zusammenprall Dritter“ beruht (um bei der zuletzt von Dölle präzisierten Dogmatik zu bleiben). Die Grundthese bei Picker ist also keineswegs neu. Neu aber ist, dass er es als erster unternimmt, diese sonderverbindliche Konstruktion zur Umgehung des Deliktsrechts wirklich ernsthaft als legitim vorzustellen. Vor ihm wurde sie lediglich en passant mit der Einführung des Begriffs „Sonderverbindung“ postuliert. Picker stellt insoweit zur Rettung der sonderverbindlichen Theorie zwei Kernthesen auf: 310  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/35; vgl. die nämliche Argumentation bei Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/495: „Abwehr freier richterrechtlicher Haftungsgestaltung“. 311 Dass die beschränkte deliktsrechtliche Fahrlässigkeitshaftung für Vermögensschäden eine generelle Grundentscheidung darstellt, betont auch Medicus, FS Keller (1989), S. 205/210, der zugleich davor warnt, „die culpa in contrahendo zu einer Generalklausel von schwer begrenzbarem, ja geradezu systemsprengenden Umfang auszuweiten“. Mit ausdrücklichem Bezug auf Canaris argumentiert dann auch nahezu wortgleich Loges, Die Begründung neuer Erklärungspflichten (1991), S. 35. 312 De Officio (1673), lib. I., cap. VI, § 2 (Unter den absoluten Pflichten oder den Pflichten eines jeden gegen jeden ist folgende Pflicht die wichtigste: Niemand soll dem anderen Schaden zufügen. Das ist die umfassendste aller Pflichten, die alle Menschen als solche trifft.). 313 Hierzu bereits oben § 5 III.3.c).

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Als erstes postuliert er den Grundsatz neminem laedere als offenbar positiv geltenden Haftungsgrund. Daher gehe es gar nicht mehr darum, „durch die Suche nach besonderen ‚positiven‘ Haftungsgründen die Einstandspflicht zu legitimieren. Angesichts des elementaren Gerechtigkeits‑ und Vernunftspostulats, daß grundsätzlich jede rechtswidrig-schuldhafte Schadenszufügung die Pflicht zur Wiedergutmachung auslöst, ist im Gegenteil deren eventuelle Durchbrechung und also der fallweise Nichteintritt der an sich gebotenen Haftung plausibel zu machen!“314 So bedarf mithin „nicht die Haftung als der Normalfall, sondern bedarf die Nichthaftung als der Ausnahmefall der besonderen Legitimierung“.315 Der dogmatische Ansatz all derjenigen, die von einer haftungsrechtlichen Generalklausel ausgehen, ist damit auch für das deutsche Recht nicht nur zum Arbeitsprinzip, sondern zu einem positivrechtlich geltenden Vernunftrechtsprinzip erhoben. Picker geht es offenbar gar nicht darum, die viel beklagte „Haftungshypertrophie“ einzuschränken, sondern mit dem Gedanken vom „wahren“ Unterschied zwischen deliktischer und sonderverbindlicher Haftung zugunsten der letzteren neu zu beleben. Beim Gedanken der Haftungsbegrenzung setzt dann die zweite und insoweit entscheidende These vom Sinn der Sonderverbindung an: Um das Ziel einer Haftungsbegrenzung zu realisieren, arbeite nämlich das „geltende Recht“ mit der „Methode, den Kreis der möglichen Anspruchsberechtigten von vornherein zu fixieren“. Insoweit liege der tiefere „Grund der restriktiven Deliktsrechtsgestaltung“ in dem Ziel, „die Zahl der potentiellen Gläubiger zu beschränken“. Demgegenüber sei dieses Ziel bei einer sonderverbindlichen Haftung bereits durch die Sonderverbindung, d. h. in der „Individualität und Vereinzelung der Beziehung“316 selbst geleistet, es „liege auf der Hand, daß dies eine höchst sinnvolle Methode der Haftungsbeschränkung darstellt“.317 Abgesehen von dem Umstand, dass dieser Begründungsansatz nicht wirklich neu ist, sondern, wie gesehen, der Verwendung des Begriffs „Sonderverbindung“ bereits als Geburtssiegel zur vermeintlichen Rechtfertigung gegenüber dem Deliktsrecht mitgegeben ist,318 so erscheint doch in der Tat die Picker’sche Neufassung der Sonderverbindungs-Theorie besonders originell, weil jede neu postulierte Haftung kraft Sonderverbindung (Phänomen der „Haftungshypertrophie“) eigentlich nur Ausdruck einer Haftungsbeschränkung sein soll. Picker glaubt offensichtlich mit dieser Differenzierung nicht nur den Konflikt „Haftung vs. Handlungsfreiheit“ für die sonderverbindliche Haftung entschärft, sondern zugleich auch das Recht dem Ideal der Gerechtigkeit ein wichtiges Stück  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/465.  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/474. 316 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/481. 317  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/477. 318  Vgl. oben § III.3.c), insb. R. Raiser, Schadenshaftung bei verstecktem Dissens, AcP 127 (1927), 1/23 f. 314 315

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angenähert zu haben. Denn der „Verwirklichung des idealen Rechtspostulats [d. i. neminem laedere] stehen bei Existenz einer rechtlichen Sonderverbindung auch nicht die sonst zu beachtenden rechtspolitischen und rechtspraktischen Bedenken entgegen. Denn die Individualität und Vereinzelung der Beziehung erlaubt die Anerkennung eines lückenlosen Integritätsschutzes ohne Gefährdung der Handlungsfreiheit, weil sie die außerhalb einer solchen Beziehung drohende Potenzierung der Gläubigerzahl und die mangelnde Offenkundigkeit der geschützten Rechtssphäre ausschließt.“319 Mit der Haftung für c. i. c. gelingt demnach also die haftungsrechtliche Quadratur des Kreises: lückenloser Integritätsschutzes ohne Gefährdung der Handlungsfreiheit (sic!). Die Theorie Pickers ist neuerlich ein Meisterstück des dogmatischen Positivismus, der seine Dogmen gleichsam abstrakt aus dem Raum vorhandener theoretischer Postulate greift. Nicht das Recht folgt aus der Anschauung der tatsächlichen Verhältnisse, sondern die Verhältnisse werden intelligent vom Recht kreiert. Aber abgesehen von dieser bedenklichen Methodologie: Beide aufgestellten Thesen sind offensichtlich sowohl ahistorisch als auch in der Sache nicht haltbar. Weder gibt es einen Nachweis dafür, dass „in Wahrheit“ (sic!) das Gebot des neminem laedere mehr als ein praeceptum iuris, nämlich geltendes Recht sei (warum nicht das suum cuique oder das honeste vivere?) noch wird ein Beleg dafür angeführt, dass es die historisch gewachsene Aufgabe von Rechtswissenschaft und Gesetzgebung sei, diese allgemein geltende Haftung zu begrenzen. Die Rechtsgeschichte jedenfalls lehrt das ganze Gegenteil: Die Entwicklung verläuft von einem überschaubaren Katalog einzelner sehr konkret beschränkter actiones zu einer permanenten Ausdehnung der Haftung in immer allgemeineren Haftungstatbeständen. Und selbst die vernunftrechtlichen Entwürfe seit Pufendorf, von denen Picker offenbar ausgeht, suchen, wie gesehen,320 nicht die Haftung „einzuschränken“, sondern auf das, was ein „Schaden“ (bzw. später „Besitzrecht“, schließlich „subjektives Recht“) überhaupt sei, zu konkretisieren, und damit das allgemeine Prinzip des neminem laede überhaupt erst justiziabel zu machen. In Wirklichkeit ist denn auch die Konstruiertheit dieser Differenzierung ebenso wenig zu übersehen, wie es seinerzeit bereits die Einführung des Begriffs der Sonderverbindung (zur Vermeidung des Begriffs „Schuldverhältnis“) gewesen ist. Nach allem bereits Gesagten mögen an dieser Stelle zwei Bemerkungen genügen: Zunächst erliegt auch Picker dem von Jhering beschriebenen Phänomen der Faszination für „Principien“. Mit der These einer ohnehin immer schon bestehenden Haftung wird auch hier das immanente Problem des neminem laedere für den Bereich der primären Vermögensschäden leicht übergangen. Wie gesehen, steht hier nicht allein das Problem einer Begrenzung der Haftung in einer grund319

 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/484. oben § 3 II.1.c).

320 Ausf.

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sätzlich auf Freiheit basierenden dynamischen Wirtschaftsordnung. Der Begriff der Schädigung selbst gerät an seine Grenzen, weil es sich bei gescheiterten Vermögensdispositionen letzthin immer um Selbstschädigungen (eigene fahrlässig vollzogene Dispositionen des Geschädigten) handelt. D. h. die Zurechnung eines Vermögensverlustes und die Bestimmung eines entsprechenden Ersatzverpflichteten ist etwas komplizierter als es nach vermeintlich „spontanem Rechtsempfinden“, „dem elementaren Gerechtigkeitsurteil wie nach der ersten Reaktion der Vernunft“321, vielleicht den Anschein haben mag. Es geht hier also immer noch um die Suche nach einer plausiblen Haftungsbegründung in der klassischen Grenzziehung von Selbst‑ und Fremdbestimmung (Problem „Freiheit“) bzw. Selbst‑ und Fremdverschulden (Problem „culpa“) und nicht bereits um die Begrenzung einer immer schon bestehenden Haftung. Kurz: Warum ein anderer eher für eigene Dispositionen oder Unaufmerksamkeiten soll haften müssen, lässt sich aus dem Grundsatz neminem laedere nicht deduzieren. Daraus folgt ein Zweites: Die Zahl potenzieller Gläubiger ergibt sich – auch und gerade wenn man den Grundsatz des neminem leadere ernst nimmt – aus der Art der Schädigung, der Art des schädigenden sozialen Kontaktes und der insoweit betroffenen Personen. D. h. es geht doch wohl auch hier um eine Frage des Kausalzusammenhangs und der Möglichkeit einer Schadenszurechnung und nicht um eine dogmatische Einordnung der Haftung. Picker versucht denn auch gar nicht erst zu erklären, warum die Zahl der Gläubiger bei einer Lozierung der „vermögensschützenden Verkehrspflichten“ im Deliktsrecht „schlechthin unübersehbar“ ansteigen sollte, im Rahmen einer Sonderverbindung hingegen nicht. Ob eine Erklärungshaftung jenseits der klassischen Rechtsgeschäftslehre und der klassischen Haftungstatbestände „Versprechen“ und „Vertrag“ im Rahmen einer c. i. c.-Vertrauenshaftung oder einer erweiterten dolus-Haftung (§ 826 BGB) bzw. Verkehrspflichten-Haftung (§ 823 I bzw. II) dogmatisch loziert wird, ändert gar nichts am Kreis potenzieller Gläubiger oder Schuldner für ein und denselben konkreten Lebenssachverhalt. Und das Gleiche gilt für die Konstellationen der so genannten Anvertrauenshaftung: Wenn etwa die Haftung für den Zusammensturz eines Konzertsaales in Frage steht, dann wird über die Konstruktion einer Sonderverbindung zwischen Veranstalter und Geschädigten schwerlich eine Haftungsbeschränkung weder begehrt noch erreicht. Im Gegenteil: Wer die Entwicklung für Haftung aus „Sonderverbindung“ vor Augen hat, weiß, dass es seit dem Linoleumrollen-Fall und zu keiner Zeit um eine Beschränkung der Haftung, sondern immer um eine Ausdehnung derselben gegangen ist, weil man die deliktische Haftung für zu eng angesehen hat. Mit einer Lehre von den „Schutzpflichten“ liegt es ohnehin schon sprachlich voll im Trend, dass schließlich über „das Verbot der aktiven Schädigung“ mit der „Pflicht zum

321 Picker,

p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/466.

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aktiven Schutz der Gegenseite“322 selbst über die allgemeine Basis des neminem laedere haftungsrechtlich Neuland betreten wird. Dass insoweit die sonderverbindliche Theorie eher geeignet ist, die Zahl der potenziell haftbar zu machenden Schuldner nicht zu begrenzen, sondern „fruchtbar“ (wie es schon Ballerstedt wusste) zu erweitern, belegt auch ein näherer Blick auf die Rechtsprechung in diesem Bereich: b) Pseudo-psychologische Sonderverbindung: Der „hypothetische Kontakt“ „… hier können wir einfach vom Inhalt der Pflicht auf ihren Beginn schließen. Umfaßt die Pflicht … auch die Pflicht, den Schein einer Verhandlung zu vermeiden, so beginnt diese Pflicht auch schon von dem Augenblick an, in welchem nach Lage der Sache eine praktisch in Betracht kommende Möglichkeit … der Entstehung des Scheins … gegeben ist.“ Walter Erman,1934323

Das einzig in der Sache vorgetragene und angeblich haftungsbegrenzende Kriterium, das ebenso zweifelhaft wie unscheinbar die sonderverbindliche Theorie von einer allgemeinen deliktsrechtlichen Haftung trennen und als vorzugswürdig vorstellen soll, ist der Gedanke eines „geschäftlichen Kontakts“.324 Damit ist dann – so geht offenbar seit Dölle / ​Larenz325 der Glaube – die unübersehbare Weite der deliktischen Haftung vermieden.326 Aber bezweifelt ist damit allenfalls 322 Vgl.

nur Krebs, Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 504 f.  Beiträge zur Haftung für Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/287. 324  Bereits oben § 6 II.2.c); noch 1980 konstatiert Bohrer (Dispositionsgarant, S. 151): es sei heute „nach wie vor ungeklärt, zu welchem Zeitpunkt die besonderen vorvertraglichen Verpflichtungen entstehen, maW: woran (Umstände / ​Verhalten) die Haftung für cic anknüpft (Haftungsgrund), aber auch, welche Verpflichtungen bestehen (…)“. Zur geringen Praktikabilität selbst des „geschäftlichen Kontakts“ als Ein‑ und Abgrenzungskriterium: v. Bar, Verkehrspflichten (1980), S. 313; Bohrer, Haftung des Dispositionsgaranten (1980), S. 252 f.; Köndgen, Selbstbindung (1981), S. 98; Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 72 ff. auch mit Hinweis auf eine Entscheidung des OLG München (VersR 1955, 44), das eine Haftung für culpa in contrahendo – die Klägerin war über eine unbeleuchtete zweistufige, gländerlose Treppe gefallen – verneinte, weil der Landwirt, der in seinem Privathaus gelegentlich landwirtschaftliche Produkte verkaufte, dieses nicht gewerblich tat. Dann komme nur eine Haftung aus unerlaubter Handlung in Betracht. Auch diese wurde abgelehnt, die Beleuchtung der Treppe sei eine auf dem Land nicht zu erwartende „Galanterie“. 325  Dazu, dass Dölle mit seinem „sozialen Kontakt“ auch nur den „geschäftlichen Kontakt“ im Auge hatte, bereits oben § 6 II.2.c). 326  Larenz, Culpa in contrahendo, MDR 1954, 515/518 befürchtet: „… daß eine uferlose Ausdehnung der vertragsartigen Haftung einträte …, wenn man diese Haftung nicht auf die geschäftliche Sphäre beschränkt.“; ebenso Canaris, VersR 1965, 114/116: „Ein unverhältnismäßig großer Teil, wenn nicht geradezu die Masse der Fälle, würde auf diese Weise der Vertragshaftung zugeschlagen.“; zutreffend bemerkt Thiemann, Culpa in contrahendo (1984), S. 35: „Entscheidend ist, ob es mit diesen Theorien gelungen ist, die Entstehung konkreter Erhaltungs‑ und Obhutspflichten überzeugend zu begründen. Für die Beantwortung dieser Frage gibt die Beschreibung der Tatbestände nichts her, soweit diese nur die Grenzen der spezifischen Haftung umschreiben.“ 323

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eine Haftung für Gefälligkeiten des gesellschaftlichen Kontakts.327 Das passt, wie gesehen, bereits weder zur Logik des Anvertrauensarguments, mit dem die sonderverbindliche Haftung begründet wird, noch entspricht es der Rechtswirklichkeit.328 Die geringe Eingrenzung, die mit der Lehre vom „geschäftlichen Kontakt“ für die Praxis erreicht wird, erhellt sich bereits aus der Bemerkung Jherings zum Phänomen der Gefälligkeit und Wohltätigkeit für den Rechtsverkehr: Denn dass sich auf diesen Gedanken „das System des Verkehrs nicht bauen läßt, ist so einleuchtend, daß darüber kein Wort verloren zu werden braucht“.329 D. h. Freundschaftsdienste und Gefälligkeiten kommen bereits aufgrund ihrer sozialen Beschaffenheit äußerst selten vor Gericht. Davon ging, wie gesehen, auch schon der Zentralparagraph der „Erklärungshaftung“ (§ 675 Abs. 2 BGB) aus: Für unentgeltliche Erklärungen (Rat, Empfehlung) wird grundsätzlich nicht gehaftet. Die vielbemühte und betonte Aussage, es genüge eben noch nicht jeder „soziale“, sondern es müsse „geschäftlicher Kontakt“ vorliegen, dürfte so gesehen allein deshalb ein Scheinkriterium sein, weil es, wenn es zu einem signifikanten Vermögensschaden kommt, im Zweifel ein „geschäftlicher Kontakt“ gewesen sein wird, der den kausalen Anknüpfungspunkt für die Haftung

327  Canaris, FS Larenz (1983), S. 30/84: „Umgekehrt sollte man z. B. den Anlageberater, der einem Bekannten unentgeltlich einen ‚freundschaftlichen‘ Tip gibt, nicht für einen fahrlässigen Fehler haften lassen, da es hier an einem Handeln im rechtsgeschäftlichen Bereich fehlt und ein bloßes Gefälligkeitsverhältnis vorliegt.“ 328  Bei der Haftung in den sog. Obhutsfällen (Anvertrauenshaftung) ist die Grenze zwischen Gefälligkeit und Geschäft selten leicht zu ziehen: BGH, Urt. v. 20. Mai 1964 – VIII ZR 242/62, LM Nr. 39 zu § 278 (Mietbrandfall: Vermieter haftet auch, wenn er Wohnung gefälligkeitshalber überlässt); BGH, Urt. v. 2. Dezember 1976 – VII ZR 302/75, NJW 1977, 376 (Yachtfall: Werftinhaber haftet auch, wenn er eine Yacht aus Gefälligkeit vor dem Untergang bewahrt); auch bei der Haftung des Anlageberaters geht es aufgrund der modernen Vertriebsstruktur gerade um die Haftung von Freunden und Bekannten, hierzu Benedict, Haftung des Anlagevermittlers, ZIP 2005, 2129 ff.; wenig geschäftlich waren etwa auch: KG, JW 1929, 3024 (Ringtausch); BGH, Urt. v. 3. Juli 1952 – III ZR 342/51, LM Nr 2 zu § 254 (C) BGB (Gefälligkeitsfahrt); 21. Mai 1957 – VIII ZR 202/56, LM Nr 11 zu § 31 BGB = NJW 1957, 1186 (Haftung für nicht rechtsfähigen Verein); für diejenigen in der Literatur, die auch bei Gefälligkeiten haften lassen wollen, gilt das ohnehin: vgl. etwa Lehmann, BGB AT (9. Aufl. 1955), S. 128 f.: sozialer Kontakt in der Straßenbahn; ebenso Krebs, Sonderverbindung (2000), S. 235 ff.; Gehrlein, Vertragliche Haftung bei Gefälligkeiten, VersR 2000, S. 415 ff. (weitere Nachweise bereits oben § 6 II.2.c). Schließlich soll nun doch – wie überraschend – die Haftung aus „Gefälligkeit“ Ausdruck in § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB n. F. gefunden haben: Canaris selbst (Die Reform, JZ 2001, 499/520) erklärt zu der offensichtlich bewusst „dunkel“ gehaltenen Vorschrift: „Zu denken ist etwa an Gefälligkeitsverhältnisse mit rechtsgeschäftsähnlichem Charakter ohne primäre Leistungspflicht (…).“ Und zuletzt findet sich die Originalität neuer Begriffsschöpfungen praktisch darin, „dass der Anwendungsbereich der §§ 311 Abs. 2 und Abs. 3 BGB in Zukunft weiter zu fassen sein wird. In Betracht kommt vor allem die Einbeziehung der Gefälligkeitsverhältnisse, Gefahrgemeinschaften und andere Fälle nicht-rechtsgeschäftlichen Kontakts.“ (Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung, 2007, S. 236). 329 Jhering, Zweck im Recht I (3. Aufl. 1893), S. 100.

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des „Schädigers“ liefert.330 Bekanntlich ist es herrschende Doktrin, dass die Abgrenzung zwischen bloßer Gefälligkeit und (rechts)geschäftlicher Bindung vor allem an der durch die wirtschaftliche Bedeutung geprägten Interessenlage vorgenommen wird.331 Für die vorvertragliche Haftung wird man da schwerlich anderes annehmen wollen. Ist also der Schaden groß (sodass es sich überhaupt zu prozessieren lohnt), so war es auch das Interesse des Geschädigten; sein Kontakt war mithin ein „geschäftlicher“ und vertraut hat er natürlich sowieso. Hier wird mithin nur noch einmal bestätigt, was auch Dölle in der Sache bereits ausgesprochen hat: Bei primären Vermögensschäden wird man einen geschäftlichen Kontakt im Zweifel immer annehmen oder konstruieren können.332 D. h. jedenfalls für primäre Vermögensschäden (d. h. Fälle der Erklärungshaftung) ist die Differenzierung weder eingrenzend noch weiterführend, weil niemand bei diesen Fällen mit entsprechendem Vermögensschaden dogmatische Schwierigkeiten haben wird, einen geschäftlichen Kontakt zu begründen.333 Der von den Vertretern der deliktsrechtlichen Theorie befürwortete Gedanke einer „Berufshaftung“ erscheint demgegenüber sogar eher restriktiv und den Kern des Problems überhaupt erst sachgerecht zu benennen.334 330  Kritisch gegenüber diesem Kriterium bereits: Medicus, Probleme um das Schuldverhältnis (1987), S. 22 ff.; entsprechend will Krebs, Sonderverbindung (2000), S. 635 eine Gefälligkeit im Ergebnis immer dann als haftungsrechtlich relevante „Sonderverbindung“ werten, wenn „vom Deliktsrecht nicht geschützte Vermögensgüter gefährdet werden“. 331 Medicus, Bürgerliches Recht (19. Aufl. 2002), Rn. 365 ff. m. N. 332  Vgl. zum Meinungsstand bzgl. einer Haftung bei Gefälligkeiten in ‚Analogie‘ zur c. i. c. nur Palandt / ​Heinrichs, 61. Aufl., Vor § 241, Rn. 10; Krebs, Sonderverbindung (2000), insb. S.  236 ff. 333  So bereits Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS (1943), S. 86 ff. mit dem Fazit: „Echte konkrete Aufklärungspflichten finden ihren Rechtsgrund zwar auch – wie die konkreten Erhaltungspflichten – in einem besonderen sozialen Vertrauenskontakt, aber im Gegensatz zu diesen entspringen sie nur einem Vertrauenskontakt rechtsgeschäftlicher Intention.“; ebenso dann auch Baumert (1955), S. 78: „Die Schutzpflicht am Vermögen hat ihren Grund in dem gewollten Kontakt spezieller Güter. Ohne Vertragsverhandlungen ist dieser Kontakt kaum denkbar (…).“; Thiemann, Culpa in contrahendo (1981), S. 134: „… der ohnehin für die Legitimation konkreter Pflichten unergiebige Streit zwischen Lehre vom sozialen und Lehre vom rechtsgeschäftlichen Kontakt [fällt] im Bereich der vermögenschützenden Pflichten weg (…).“; ähnlich Rieble, Kodifikation der culpa in contrahendo (2002), S. 137/141: „Erst nach Aufnahme konkreter Vertragsverhandlungen kann es ein Vertrauen auf einen sicher erscheinenden Vertragsschluß geben. Insbesondere die gegenstandsbezogenen Informationspflichten setzen einen bestimmbaren konkreten Vertragsinhalt voraus.“ 334  Vgl. aber auch zur Parallelität der Konzeptionen den Entwurf eines § 828 bei v. Bar, Gutachten (1981), S. 1761 f.: Auf Schadensersatz soll demnach haften, wer vorsätzlich oder fahrlässig „einer bestimmten Person in Vermögensangelegenheiten eine unwahre Auskunft oder eine fehlerhafte Empfehlung erteilt oder diese trotz neuer Erkenntnisse nicht berichtigt, obwohl er infolge seiner beruflichen Tätigkeit eine besondere Vertrauensstellung genießt und dieses Vertrauen von dem Empfänger in Anspruch genommen werden darf (…)“. Beispielhaft zur Haftung von nebenberuflich tätigen Anlagevermittlern, die, entsprechend der Vertriebsstruktur, regelmäßig im Freundes‑ und Bekanntenkreis Empfehlungen aussprechen Benedict, Haftung des Anlagevermittlers, ZIP 2005, 2129–2139.

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Den vermeintlich „eingrenzenden“ Wert des Kriteriums vom „geschäftlichen Kontakt“ hat dann freilich der Bundesgerichtshof eindrucksvoll für Fälle benannter Rechtsgutsverletzungen im Studienrat-Fall unter Beweis gestellt335 und eine Haftung sogar ohne jeden „sozialen Kontakt“ schlicht auf der Basis eines richterlich vermuteten (An‑)Vertrauens konstruiert, das bereits für eine Haftung bei bloß „hypothetischem Kontakt“ genügen soll: Der geschädigte Studienrat war gegen 22.00 Uhr im Eingangsbereich einer Diskothek auf winterlich glattem Bürgersteig zu Schaden gekommen. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB schied nach Ansicht des BGH aus, weil die einschlägige Ortssatzung eine Streupflicht nur zwischen 7.00 und 18.00 Uhr anordnete. Aber auch ein klassischer Anspruch aus c. i. c. (Vertragsanbahnung) kam nicht in Betracht, weil der Studienrat nicht einmal behauptete (und aus versicherungsrechtlichen Gründen vermutlich auch nicht behaupten konnte),336 dass er die Diskothek gerade aufsuchen wollte. Da ihn dennoch der Studienrat dauerte, die Diskothekenbesitzerin hingegen nicht, hatte der den Fall entscheidende Senat des höchsten deutschen Zivilgerichts Gelegenheit, sein grundlegendes Wissen über die „berechtigten Vertrauenserwartungen der Straßenpassanten … gerade zur Winterzeit“ zu offenbaren. Über die vielleicht auch berechtigten Erwartungen der Streupflichtigen, die im Vertrauen auf die Regelung der diesbezüglichen Ortssatzung womöglich auch ein nächtliches Streuen nicht als Pflicht empfanden, wird kein Wort verloren. Stattdessen wird die Vertrauenshaftung mittels einer erweiterten c. i.c-Vertragsanbahnungs-Argumentation damit untermauert, „daß die Beklagte über den in der Ortssatzung festgelegten allgemeinen Winterdienst hinaus als Inhaberin der um 22 Uhr noch geöffneten Diskothek ihren Gästen auch noch zu dieser Tageszeit im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren einen von Schnee und Glatteis freien Zugang zu ihrem Lokal zu verschaffen habe“. Der Hinweis auf die Haftung aus c. i. c. wird hier also bereits durch den Hinweis auf die „Vertrauenserwartungen“ ebenso substituiert, wie dogmatische Begrenzungsbemühungen um die Vertragsanbahnung und den „geschäftlichen Kontakt“ ad absurdum geführt werden. Die Entscheidung ‚bestätigt‘ damit nachdrücklich die zentrale sonderverbindliche These, „… daß es in Wahrheit gar nicht der Vertrag als solcher ist, der die gesteigerte Schutzbedürftigkeit und ‑würdigkeit des anderen Teils hervorruft, sondern die damit einhergehende – und schon vorher beginnende – ‚Sonderverbindung‘ und die aus dieser resultierende gesteigerte Einwirkungsmöglichkeit auf die Rechtsgüter des anderen Teils“.337 Das ist dann sozusagen der soziale Kontakt ohne Kontakt. In das Mysteriöse und Dunkle des § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB n. F. („ähnliche geschäftliche Kontakte“) kommt mit dieser Entscheidung ein helles Licht: Nicht erst der Kontakt selbst, 335 BGH,

Urt. v. 27. Januar 1987 – VI ZR 114/86, NJW 1987, 2671 (Studienrat-Fall).  Das war wohl nicht naiver Ehrlichkeit, sondern dem Umstand geschuldet, dass anderenfalls eine Anerkennung als Arbeitsunfall schwierig geworden wäre. 337 Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/88. 336

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sondern bereits die Möglichkeit des Kontakts führt zu einer sonderverbindlichen Haftung. Die Vorstellung von einem „vorbereitenden Anbahnungsverhältnis“, von dem die Regierungsbegründung so tiefsinnig spricht,338 und die manche für „Blödsinn“ (Rieble) halten, findet sich längst in der Rechtsprechung des BGH mit dem (aus hier vertretender Sicht) geradezu zynischen Hinweis auf die damit verbundene Rechtssicherheit (sic!) verknüpft: „Eine andere Betrachtung würde auch zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit mit kaum zu lösenden Beweisproblemen führen. So könnte ein unentschlossener Straßenpassant, der seinen Willen zum Aufsuchen einer Gaststätte auf hinreichend großer Grundstücksfläche bis zur Eingangstür mehrfach ändert, für die jeweils zurückgelegten Wegstrecken abwechselnd in den Kreis der geschützten Personen aufzunehmen und aus diesem auszuschließen sein.“339

Was der BGH bereits im Wurstpelle-Fall judizierte340, wird nunmehr consequent zu Ende gedacht und deutlich ausgesprochen: Bereits der Weg zum möglichen Geschäftspartner ist von der Sonderverbindung erfasst und aufgrund des entgegengebrachten Vertrauens von Gefahren frei zu halten. Deutlicher kann man die Grenze zum Deliktsrecht nicht nur nicht einreißen, sondern über dasselbe auch hinauskommen: Allein die Möglichkeit des Kontakts verbindet sonderverbindlich – „fürwahr ein Spiegelbild des geltenden privaten Haftpflichtrechts, an dem der Zivilrechtsdogmatiker seine Freude hat“:341 Die Verknüpfung von „geschäftlichem Kontakt“ mit der bloßen Möglichkeit eines solchen Kontakts findet sich freilich nicht erst beim BGH zum ersten Mal ausgesprochen. Auch der BGH zieht nur die „Consequenzen“ des dahinterstehenden Prinzips. Hier wird Dölle endlich konsequent zu Ende gedacht, der ohne naturrechtliche Postulationen ehrlich darauf hingewiesen hatte, dass mit seiner Lehre die Haftung gegenüber dem geltenden Deliktsrecht eben nicht eingeschränkt, sondern definitiv erweitert wird: „Es zeigt sich also: die heute fast allgemein anerkannten konkreten Erhaltungspflichten sind von uns auf einen anderen als den bisher für sie geltendgemachten Rechtsgrund zurückgeführt worden. Da aber dieser Rechtsgrund von viel größerer Allgemeinheit ist als der früher angenommene, ergibt sich, daß auch in zahlreichen weiteren Fällen Erhaltungspflichten anerkannt werden müssen. Diese Konsequenz zu ziehen, wird … manchen schwer fallen, zumal da sie unter anderem in Widerspruch tritt zu dem in unserer Rechtsprechung anerkannten Satz, nach dem jedem, der in seinem Hause einen Verkehr eröffnet, nur die allgemeine Pflicht obliegt, für die Sicherheit der eingelassenen Personen zu sorgen, eine Pflicht, deren Verletzung lediglich eine Verantwortlichkeit aus unerlaubter Handlung begründet (…).“342 338  BT-Drucks. 14/6040, S. 163: „Kontakte, bei denen z. B. noch kein Vertrag angebahnt, ein solcher aber vorbereitet werden soll“. 339 BGH, Urt. v. 27. Januar 1987 – VI ZR 114/86, NJW 1987, 2671 (Studienrat-Fall). 340  BGH, Urt. v. 25. Juni 1968 – VI ZR 143/67, VersR 1968, 993 (Wurstpelle vor dem Laden). 341  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/43. 342 Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/79 f.

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Die Konstruktion einer „Sonderverbindung“ verlagert also die Verantwortlichkeit gleichsam vom Haus auf die Straße. Das vermeintlich Private wird öffentlich! Das ist die sozialethische Seite der Haftungshypertrophie: Die Verantwortlichkeit für den Anderen im zu eng empfundenen liberalen Deliktsrecht wird durch die Sonderverbindung der Rechtsgenossen beliebig erweitert. Mit Haftungsbeschränkung einer immer schon vorhandenen Haftung hat das nichts zu tun. In dogmatischer Hinsicht war das Problem von Pflichten aufgrund eines hypothetischen Kontaktes bereits Gegenstand der Stoll-Heldrich-Debatte und mithin ein Geburtsproblem des aus Logik konstruierten vorvertraglichen Schuldverhältnisses.343 Und dieses Problem wurde im dogmatischen Positivismus des vergangenen Jahrhunderts bei der Bestimmung dessen, was „geschäftlicher Kontakt“ sein könnte und sollte, noch einmal zu allen denkbaren Motivationslagen diskutiert: Kommt auch der Zufallsbesucher, der Schutz vor dem Regen sucht, oder der Ladendieb in den Genuss der vorvertraglichen Sonderverbindung? Es könnte ja sein, dass dieser (der Dieb) sich anders – d. h. zur Ehrlichkeit besinnt, oder jener (der Obdachsuchende) durch die Verlockungen und ausgeklügelten Verkaufsmethoden doch sogleich noch seine Kauflust entdeckt.344 Die Nähe zwischen sozialem und geschäftlichem Kontakt ist in einer Konsumgesellschaft offensichtlich problematisch. Das Problem und insbesondere die Art und Weise, wie mit ihm abstrakt und frei assoziierend umgegangen wurde, ist es freilich auch: Als wenn ein Ladendieb einen Schadensersatzanspruch gegen ein Warenhaus mit dem Hinweis auf seine mangelnde Kaufabsicht beginnen oder ein zu Schaden gekommener Voyeur in der Unterwäscheabteilung seine tieferen Neigungen zu „sozialem Kontakt“ ausplaudern würde. Subjektive Tatbestände sind, auch das kennen wir nun zur Genüge, nicht leicht justiziabel. In der Sache zutreffend (aber offenbar doch auch etwas blauäugig) hat schon Dieter Medicus auf die (vermeintlich) geringe praktische Bedeutung dieser Kontroverse hingewiesen: „Die Ausnahmen dürften sich im Ersatzprozeß überhaupt bloß erkennen lassen, wenn der schlecht informierte Verletzte ihre Voraussetzungen ausplaudert.“345

Aufgrund dieser faktischen Bedenklichkeiten hatte freilich bereits Karl Larenz die Sonderverbindung vorsorglich auf den nur „möglichen Kunden“ ausgedehnt.346 Andere haben den Faden einer rein „psychologisch“ vermittelten  Hierzu oben § 5 III.3.c). etwa Herschel, Ladendiebstahl und Verschulden bei Vertragsanbahnung, DB 1976, 2451; ausdrücklich offengelassen von BGHZ 66, 51/55 (Gemüseblatt-Fall); dagegen noch etwa MünchKomm / ​Roth (1979), § 242 Rn 194; Lehmann, Vertragsanbahnung durch Werbung (1981), S. 313 f.; dafür Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S.  125 ff. 345  Medicus, Gutachten I (1981), S. 479/490. 346 Larenz, Culpa in contrahendo, MDR 1954, 515/518. 343

344 Vgl.

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Sonderverbindung dann weiter gesponnen: Es sei nämlich bisher „nie ernsthaft erwogen“, ob potenzielle Kunden „gegen den vom Kaufhaus angestrebten ‚psychologischen Effekt‘, ungeahnte Kaufbedürfnisse zu wecken, wirklich gewappnet“ seien.347 Die insoweit erforderlichen Spekulationen haben den Gedanken einer Sonderverbindung aus bloßer „Wahrscheinlichkeit“ plausibel vertieft. Der Gedankengang des BGH im Studienrat-Fall ist also keineswegs ein abstruser Einzelfall, sondern die höchstrichterlich ausgesprochene „Consequenz“ der in der Vertrauenshaftung angelegten überaus „fruchtbaren“ Dynamik eines dogmatischen Positivismus, dem es nicht um Eingrenzung, sondern potenzielle Ausdehnung der Haftung geht. Aber auch die eigentlich tragenden Gründe hinter den Gründen der Studienrats-Entscheidung werden jetzt vielleicht verständlich: Der Studienrat, schwankend von Wein und zwischen Pflicht und Lust, wird nicht von der Hoffnung auf einen gestreuten Gehweg, sondern vom flimmernden Neonlicht und sündhafter Disko-Musik auf die falsche und d. h. rutschige Bahn gelenkt. Wahrlich ein verwerflicher Vorgang, der eine Sonderverbindung nebst Schutzpflichtverletzung nach sich ziehen muss. Beweis braucht über die tatsächlichen Wünsche, Vorstellungen und Gesinnungen nicht mehr erhoben werden; denn es genügt bereits die Möglichkeit des für verwerflich befundenen geschäftlichen Kontakts. Damit kann dann auch jede Unfallversicherung gut leben. Man könnte auch anders formulieren: Für eine aus dem Vertrauensprinzip deduzierte Sonderverbindung bedarf es eben nicht einmal mehr eines „sozialen Kontaktes“. Wozu noch Befunde zur Lebenswirklichkeit erheben und sich hierbei auf dogmatisch unlösbare Spitzfindigkeiten einlassen, wenn doch spekulativ potenzielles Vertrauen enttäuscht wurde?348 Hier mag man nun abschließend einwenden, die „einfallslose“ deliktsrechtliche Theorie habe ja nicht einmal so ein einfallsreiches (Schein‑)Kriterium. Aber ist dieser Zustand nicht redlicher als die Suggestion einer Dogmatik, die „der Idee der Verhältnisse“ selber nicht gerecht wird? Während ihr hier mit dem Wandel der Vertrauensverhältnisse im Verlaufe der Jahreszeiten jede Spekulation über Vertrauenstatbestände ein weites Feld normativer Kreativität eröffnet ist, dürfte der Rechtsprechung umgekehrt bei einer Anwendung des § 823 Abs. 2 BGB vielleicht noch mahnend vor Augen stehen, dass sie in der Sache nicht nur originär legislative Funktionen ausübt, die einer guten Begründung bedürften,349 sondern es im konkreten Fall auch nicht leicht angehen kann, sowohl 347 Frost,

„Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S. 125 ff.   So explizit HKK / ​Harke, § 311, Rn. 31: „Auslöser der Haftung für culpa in contrahendo ist allein die Inanspruchnahme potentiellen Vertrauens (…).“ 349 Bezeichnend hierfür Deutsch, Unerlaubte Handlungen und Schadensersatz (1987), Rn. 272: „Überspitzt könne man sagen, daß die Verkehrspflicht ein vom Richter nach dem Unfall anerkanntes ungesetzliches Schutzgesetz darstellt.“ Für eine ex post behauptete „Schutzpflicht“ gilt nichts anderes. 348

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das Bestehen als auch zugleich das Nichtbestehen einer Streupflicht aus ein und derselben Haftungsgrundlage deduzieren zu müssen. Endlich würde jedenfalls auch deutlich, dass die Rechtsprechung mit einer Derogation von bestehenden Schutzgesetzen sogar ganz offen in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Gemeinplätzen tritt und sich damit neue dogmatische und verfassungsrechtliche Probleme der Rechtsstaatlichkeit auftun.350 Kurz: Die sonderverbindliche Theorie führt keineswegs zu einer „Einschränkung“ der Haftung, sondern ist, aufgrund ihres ubiquitären, d. h. ins Spekulative ausufernden Haftungstatbestandes „Vertrauen“ die weniger kontrollierbare Haftungstheorie. Die Rechtsprechung wird  – das zeigt nicht nur eine Analyse der Judikate, sondern entspricht einem allgemeinen justizsoziologischen Phänomen, das bereits Hedemann bei seiner Analyse zur „Flucht in die Generalklausel“ treffend diagnostizierte – von den ihr eingeräumten „bequemen“ Freiräumen im Zweifel auch immer bequemen Gebrauch machen. Damit aber wird auch deutlich, dass die sonderverbindliche Theorie vom BGH nicht notwendig deshalb den Vorzug erhalten hat, weil sie vielleicht der deliktsrechtlichen Theorie dogmatisch und / ​oder inhaltlich (weil sie die Zahl potenzieller Haftungsfälle reduzierte) überlegen wäre, sondern allein deshalb, weil eine so gestrickte Generalklausel, mit ihren geringeren Begründungsschwierigkeiten, der richterlichen Unabhängigkeit und Flexibilität deutlich entgegen kommt.351 So oder so: Das „wissenschaftliche Gespräch“ um die Schutzpflichten ist letztlich nichts anderes als ein akademischer Wettlauf um die haftungsrechtliche Generalklausel, bei dem die Theorie mit einem sonderverbindlich und einem deliktsrechtlich konstruierten Hasen im Rennen ist. Gewinnen kann keiner, weil die Rechtsprechung mit einem ergebnisorientierten Rechtsgefühl im Einzelfall immer schon im Ziel sitzt und die im dogmatischen Positivismus verhaftete Literatur sich lediglich darüber streitet, wer der entfesselten Judikatur die abstraktere Theorie als Krone aufsetzen darf.

350 Zu der Problematik, ob und inwieweit denn Gerichte Verkehrspflichten auch entgegen bestehender Schutzgesetze annehmen dürfen, vgl. etwa nur v. Bar, JuS 1988, 169/172 ff. 351  In der Sache bleibt der Bruch der Gewaltenteilung auch bei Anwendung der Vertrauenshaftung bestehen, er wird dogmatisch nur leichter kaschiert. Dabei hätte das vom BGH befürwortete Ergebnis auch ohne dogmatische Klimmzüge ggf. durch teleologische Auslegung der Ortssatzung begründet werden können: Die Beschränkung der Streupflicht auf die Tageszeit ist dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschuldet; denn das Streuen auch zur Nachtzeit ist für den Normalfall (der schlafenden Pflichtigen) unzumutbar (und damit unverhältnismäßig i. e. S.). Diese Beschränkung ist nun aber vielleicht etwas zu weit geraten, weil die Streupflicht für bestimmte Anlieger (gewerblich Nachtaktive wie die Bekl.) gerade nicht in diesem Sinne unzumutbar ist. Der ganze Fall hätte mithin bei § 823 Abs. 2 BGB belassen und auch dort gelöst werden können. Der Fall verdeutlicht damit in der Tat auch die unmittelbare Nähe (um nicht zu sagen: grundsätzliche Identität) von Schutzpflichten, Verkehrspflichten und Schutzgesetzen.

III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur

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III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur „Ein übergreifender, sämtliche Fälle der c. i. c. gleichermaßen umfassender Erklärungsansatz ist … nicht in Sicht.“ Volker Emmerich, 1987352

Der „Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel“ wurde also von der sonderverbindlichen Theorie gewonnen. Die Rechtsprechung hat das Konzept aus besagten Gründen zum Teil sehr willig angenommen und der Gesetzgeber der sog. „Schuldrechtsmodernisierung“ hat knapp 20 Jahre später diesen dogmatischen Sieg im Gesetz festgeschrieben: Canaris selbst hatte die Schriftleitung übernommen. Die sozial(istisch)e culpa in contrahendo ist in Gestalt einer (An‑) Vertrauenshaftung nun tatsächlich als lex lata für jedermann zu erkennen (§ 311 Abs. 2, 3 BGB n. F.) und die Haftung (nur) für culpa in eligendo (§ 831 BGB) gehört dafür weiterhin zum Kernbestand des an der wirtschaftlichen Freiheit orientierten liberal(istisch)en Deliktsrechts. So macht man das! Suum cuique: Jedem das Seine, und Ordnung muss sein! Doch die Zweifel, ob die c. i. c. genau besehen nicht eher zu einer dogmatischen Unordnung führt, sind freilich geblieben. Wenn auch viel konzeptioneller Ehrgeiz auf viel Papier verwendet wurde, die Lehre von der vorvertraglichen Haftung hat das substantiell nicht einen Gedanken weiter vorangebracht oder auch nur von dem skeptischen Befund befreit, der gerade noch gegen dieses Haftungsinstitut vorgebracht worden war. Den Großteil der Jurisprudenz hat der Kampf der beiden großen Haftungstheorien ohnehin nicht weiter ernsthaft tangiert. Die einen beruhigten sich schon vor der Schuldrechtmodernisierung mit dem banalen gesetzespositivistischen Hinweis, dass dieses Institut vom Gesetzgeber (im AGBG353 en passant)354 bereits anerkannt sei.355 Die anderen spürten zwar das Ungenügende der gesamten Bewegung, sahen sich aber auch nicht in der Lage, jenseits einer mehr oder weniger umfassenden Fallgruppendiskussion in die Begründungsdebatte ernsthaft einzugreifen:

 Gegenwärtiger Stand der Lehre von der culpa in contrahendo, JURA 1987, 561/567. zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz)“ v. 9. 12. ​1976. 354  § 11 Nr. 7 AGBG bestimmte die Unwirksamkeit eines Ausschlusses der Haftung für grobe Fahrlässigkeit in AGB und erstreckte den Regelungsbereich auch auf vorvertragliches Verhalten („dies gilt auch für Schäden aus der Verletzung von Pflichten bei den Vertragsverhandlungen“). 355 „Seit der Gesetzgeber in § 11 Nr. 7 AGBG das Institut einer Haftung für Schäden aus der Verletzung von Pflichten bei den Vertragsverhandlungen voraussetzt, sind Bemühungen um seine dogmatische Rechtfertigung überflüssig geworden.“ So etwa H. Messer, Schadensersatzansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1990), S. 743. 352

353 „Gesetz

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„Die Beschreibung der c. i. c. als gesetzliches Schuldverhältnis und der Hinweis auf ihre gesetzliche oder gewohnheitsrechtliche Anerkennung ersetzen eine dogmatische Begründung nicht.“356

Neben der allfälligen dogmatischen Diskussion um die Reichweite der c. i. c. im Einzelfall und die Konkurrenz dieses Haftungsinstituts mit bereits bestehenden gesetzlichen Regelungen und Wertungen lässt sich für die wenigen Versuche, der c. i. c. einen überzeugenden Halt zu geben, jedenfalls eines konstatieren: Die Unhaltbarkeit des bloßen Vertrauens als Haftungsgrund. 1. Ohne Begründung: Misstrauen in das „Vertrauen“ „Auch die Verbindung des Gedankens einer Haftung für culpa in contrahendo mit dem Vertrauensschutzprinzip und mit der Lehre von den Schutzpflichten war eine ‚juristische Entdeckung‘, mit der weit über die im Gesetz enthaltenen Ansatzpunkte hinaus die Möglichkeit zu einer Fortbildung des Rechts gewonnen wurde. Die Rechtsprechung ist hierin der Lehre gefolgt, womit zugleich die hohe Bedeutung der Dogmatik … für die Rechtsfortbildung deutlich wird.“ Larenz / ​Canaris, 1979–1995357

Bereits 1980 zieht Michael Bohrer eine ebenso nüchterne wie weitgehend zutreffende Bilanz: Untersuche man die Entwicklung genauer, so werde deutlich, „daß sich die Lehre von der cic in den letzten vierzig Jahren zu keinem Zeitpunkt konsolidiert“ habe. Dölles und Ballerstedts Thesen von der Vertrauenshaftung stellten „eine bis heute unbewältigte Herausforderung der scheinbar gefestigten Lehre dar; man begnügte sich mit der Widerlegung einer Lehre vom sozialen Kontakt“. Das „heutige Unbehagen“ habe seine Ursache nicht darin, „daß Literatur und Rechtsprechung in den letzten 10 Jahren ‚die zögernd und schrittweise zur Anerkennung gelangten Anspruchsvoraussetzungen der Rechtsfigur des Verschuldens beim Vertragsschluß verlassen‘358“ hätten, „sondern daß diese Anspruchsvoraussetzungen in Wirklichkeit nie klar gefasst waren“.359 Soweit so richtig. Nur: Auch Bohrers Beitrag zur „Lehre von der negativen Vertrauenshaftung“ (so der seine Motivation und Position kenntlich machende Untertitel der Schrift vom „Dispositionsgaranten“) hat an diesem Befund leider gar nichts Grundlegendes geändert:

 Soergel / ​Wiedemann, BGB, 11. Aufl. (1987), Vor § 275 Rn. 50.  Larenz / ​Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 243. 358 Nirk, FS Möhring II (1975), S. 74. 359  Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 201; diese Klarstellung entspricht dem Fazit, das bereits Stöcker, Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo (1961), S. 75, knapp 20 Jahre zuvor bereits gezogen hat: „Wir kommen damit zu dem Ergebnis: Es ist bislang keiner der zur Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo vertretenen Meinungen gelungen, den Standpunkt des Rechtsinstituts zu den anderen obligatorischen Schuldentstehungsgründen systematisch in befriedigender Weise zu erklären.“ 356 357

III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur

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a) Endlich: Eine Grundschrift zur negativen Vertrauenshaftung? „Im übrigen ist die These der herrschenden Meinung, die gesteigerte Verantwortung in contrahendo rechtfertige sich aus dem Vertrauensgedanken, … niemals überzeugend begründet worden.“ Gerhard Frotz, 1969360

Bohrer ist, soweit ich sehe, bisher der einzige gewesen, der sich nach Hildebrandt, Dölle und Ballerstedt ernsthaft bemüht hat, „die gesteigerte Verantwortung in contrahendo allein aus dem Vertrauensgedanken“ heraus zu begründen. Man kann nun allerdings nicht behaupten, dass Bohrers Beitrag die Skepsis beseitigt hätte, die jene hinterlassen haben. Im Gegenteil, er hat die Zweifel an einer vertrauenstheoretischen Begründung eher noch verstärkt: „Zur negativen Vertrauenshaftung fehlt der Tatbestand“361  – und zwar auch nach dieser vermeintlich gründlichen Schrift der „Grundlagenforschung“. Zielsetzung und Vorverständnis der Untersuchung werden bereits im Vorwort deutlich, wenn hier ohne weiteres Rudolf v. Jhering zum eigentlichen Vater der Vertrauenshaftung gekürt und unterstellt wird, dieser habe mit seiner „missverständlich mit culpa in contrahendo“ bezeichneten Lehre „eine verschuldenslose Haftung“ begründet, bei der „das enttäuschte Vertrauen“ die „einzige Haftungsvoraussetzung“ gewesen sei. Das Ergebnis wird in die Geschichte hineingelesen. Und so muss es nicht verwundern, dass Bohrer auch den weiteren Verlauf der Entwicklung (insbesondere werden die Bemühungen, den Beginn des vorvertraglichen Schuldverhältnisses begrifflich zu fassen, als Bemühungen um den Geltungsgrund der Haftung gedeutet) bis zur vermeintlichen ‚Wiederentdeckung‘ der Vertrauenshaftung durch Ballerstedt als unzureichende Irrwege darstellt. Demgegenüber betrachtet er es tatsächlich als eigene Leistung, „induktiv von den gesicherten Fallgestaltungen einer cic-Haftung“ darauf zu schließen, „daß es unmittelbar die konkrete Vertrauensbeziehung“ sei, „die das gesetzliche Schuldverhältnis entstehen“ lasse, um dann „in dem mit culpa in contrahendo bezeichneten gesetzlichen Schuldverhältnis einen umfassenden Ausdruck des Prinzips des Vertrauensschutzes zu sehen“.362 Kurz: Bohrer sucht von den Ergebnissen her noch einmal den Stand der Rechtsentwicklung zu begründen, von dem Canaris bereits 10 Jahre zuvor ganz selbstverständlich ausgegangen war: Die culpa in contrahendo als unzweifelhafter Eckpfeiler der Vertrauenshaftung überhaupt. Neu bei Bohrer ist neben den Begrifflichkeiten, die er einzuführen sucht (Vertrauen=„Verhaltenserwartung“; cic=„Haftung des Dispositionsgaranten“363),  Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/170. Dispositionsgarant (1980), Vorwort, S. XV. 362  Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 266. 363  Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 299: „Anstelle des missverständlichen und missverstandenen ‚culpa in contrahendo‘ und das irreführende ‚Verschulden bei Vertragsschluß‘ wird 360

361 Bohrer,

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vor allem der Umstand, dass er das, was Frotz noch als das eigentliche Skandalon der Vertrauenshaftung ausgemacht hatte, nämlich die ex post-Konstruktion von Haftungstatbeständen, nunmehr als Selbstverständlichkeit und gleichsam als Originalität dieser Haftung vorträgt: „Der konkrete Inhalt der Verhaltenserwartung des Vertrauenden beschreibt die ‚Pflichten‘ des Dispositionsgaranten, die für ihn ex lege allein deshalb entstehen, weil und soweit ihm das Vertrauen der anderen Seite in einem spezifischen Risikobereich zurechenbar ist.“ In dieser Zurechnung liege „der Ansatz zur nachträglichen Ermittlung von Bestand und Inhalt der Vertrauensbeziehung: Der Geschädigte wird damit praktisch mit jeder aus den Vertrauensumständen ableitbaren Behauptung seines Vertrauens gehört, sofern die so behauptete Erwartung kausal zur Fehldisposition geführt haben kann.“364 (sic!)

Deutlicher kann man das Wesen von einer „Vertrauenshaftung ohne Tatbestand“ in der Tat nicht formulieren. Entscheidend ist demnach gar nicht das Vertrauen – das ist Rhetorik mit einem positiv besetzten und allgemeine Zustimmung erheischenden Begriff – entscheidend ist die ex post vorgenommene Distribution der Risiken des jeweils im Einzelfall zu beurteilenden (geschäftlichen) Kontakts; kurz: die Distribution eines Schadens ex post. Genau hier liegt die „Fruchtbarkeit“, von der ja schon Ballerstedt gesprochen hatte, und die Faszination dieser Generalklausel für die Rechtsprechung: Mit dem Hinweis auf allfälliges enttäuschtes Vertrauen bedarf es keiner weiteren rationalen Erklärung mehr darüber, warum im konkreten Einzelfall der Schaden der einen Seite der anderen zugerechnet wird. Und jeder Versuch, der culpa in contrahendo einen konkreten Tatbestand zu verleihen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt, weil er dem Wesen dieser negativen Vertrauenshaftung offenbar widerspricht: „Da die Haftung des Dispositionsgaranten konzeptionell auf ‚Vertrauensstörung‘ und damit auf ‚pathologische‘ Fälle angelegt ist, scheiden Versuche, den jeweiligen Inhalt der Erwartungen ex ante aufzuzeigen von vorneherein aus.“365

Die Unlogik der gesamten Konstruktion, das hysteron-proteron ist also offenbar das eigentliche haftungsrechtliche Prinzip der culpa in contrahendo: Judiziert wird ohne Tatbestand ex post. Finalismus und Voluntarismus kaschiert in einem pseudodogmatisch konstruierten „civilistischen Homunculus“.

also die Haftung des Dispositionsgaranten als (eine) Grundfigur des negativen Vertrauensschutzes gesetzt.“ 364  Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 301 f. 365 Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 301.

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b) Antithetik: Selbstbindung ohne Vertrag? „Sind die denkbaren vernünftigen Ansichten über den Gegenstand vollständig erschöpft, nun gut, wer will es einem armen Schriftsteller, der trotzdem eine neue Ansicht aufstellen muß, zur Last legen, daß er zu einer unsinnigen hat greifen müssen?“ Rudolf v. Jhering, 1866366

Diesen tieferen methodologischen Zusammenhang von Freirechtslehre und dogmatischer Scheinkonstruktion haben freilich nicht alle akzeptieren wollen und so hat es demgegenüber Bemühungen gegeben, der culpa in contrahendo in rechtsvergleichender Anlehnung an US-amerikanische Entwicklungen zu promissory estoppel wenigstens für einen Teil der Fallgruppen (fehlende Perfektion und unwirksamer Vertrag) einen subsumtionsfähigen Tatbestand in Gestalt eines Haftungs‑ bzw. Leistungsversprechens nachzuweisen367 und / ​oder die Haftung in Anschauung sozialer und beruflicher Rollen zu begründen und zu präzisieren368. Insbesondere Johannes Köndgen hat beide Ansätze unter dem Dach einer eigenständigen Theorie vom „Quasi-Vertrag“ zusammenzufassen gesucht, die er „Selbstbindung ohne Vertrag“ genannt hat. Die ganze Schrift atmet den Geist des US-amerikanischen legal realism auf seinem Weg zum critical legal study movement und transponiert in der Sache die These vom amerikanischen death of contract auf das deutsche Privatrecht: „Tod des Vertrages? Es lebe der Quasivertrag!“369 366  Sechster Brief eines Unbekannten, Preußische Gerichtszeitung, 1866, 309 ff., auch in: Jhering, Scherz und Ernst (1884), S. 111; eine ähnliche Analyse trägt etwa Posner, Frontiers of Legal Theory (2001), für die amerikanische Entwicklung vor. 367  Grundlegend hierzu der Gedanke bei Zweigert, Seriositätsindizien, JZ 1964, 349 ff., der offensichtlich den Ansatz von Kessler / ​Fine, Culpa in Contrahendo, 77 Harv. L. Rev. 401 (1964), genau umkehrt: Während diese dem US-amerikanischen Privatrecht die Errungenschaft der culpa in contrahendo andienen wollten, glaubte man hierzulande, den Gedanken von promissory estoppel für die vorvertragliche Haftung importieren zu müssen: Kühne, Der Vertrauensgedanke im Schuldvertragsrecht, RabelsZ 36 (1972), 261 ff.; Kessler, Der Schutz des Vertrauens bei Vertragsverhandlungen (1978), 873 ff.; aufgenommen dann bei Hans Stoll, Vertrauensschutz bei einseitigen Leistungsversprechen, FS Flume I (1978), 741 ff.; Hohloch, Vertrauenshaftung  – Beginn einer Konkretisierung?, NJW 1979, 2369 ff.; hierzu dann Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), insb. S. 82 ff., der freilich noch deutlich über diese Form der „Selbstbindung“ hinaus und auch jede Form von Wissenserklärung als möglichen Bindungstatbestand ansehen will (vgl. S. 104 ff.). Die Details gehören in den dogmatischen Teil; vgl. einstweilen zum Problem Benedict, Consideration, RabelsZ 89 (2005), 1 ff.; ders., Das Versprechen als Verpflichtungsgrund? RabelsZ 82 (2008), 337 ff. jeweils m. w. N. 368  In diese Richtung schon Michaelis, Beiträge zur Gliederung und Weiterbildung des Schadensrechts (1943), S. 187 ff.; W. Lorenz, Das Problem der Haftung für primäre Vermögensschäden (1973), S. 575 ff.; Hopt, Berufshaftung und Berufsrecht (1979), S. 237 ff.; ders., Nichtvertragliche Haftung außerhalb von Schadens‑ und Bereicherungsausgleich, AcP 183 (1983), 608; und auch hier: Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 192 ff, 352 ff. 369  Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 118 ff. mit dem Fazit: „Wir dürfen Maine heute fortschreiben: from status to contract to quasi-contract. Tod des Vertrages? Es lebe der Vertrag.“ Grundlegend für das US-amerikanische Vertragsrecht Gilmore, The Death of Con-

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Canaris, der demgegenüber noch an eine autonome und vitale Existenz des deutschen Vertragsrechts neben der unbezähmbaren culpa in contrahendo glaubt, hat es insoweit vom vermeintlich festen dogmatischen Boden der deutschen lex lata aus nicht schwer, seinerseits die recht unfassbare Vorstellung von einer „Selbstbindung ohne Vertrag“ als eine „in sich widersprüchliche Kategorie“ kurz beiseite zu schieben: „Denn entweder stellt die Rechtsordnung den Parteien ein Instrument der Selbstbindung zur Verfügung – dann ist die Bindung rechtsgeschäftlicher und gegebenenfalls eben vertraglicher Natur; oder die Rechtsordnung bindet ihrerseits – dann handelt es sich nicht um Selbstbindung, sondern um Bindung kraft Gesetzes. Tertium non datur; an diesem rechtsquellentheoretischen Befund können die schönsten soziologischen und rollentheoretischen Beschreibungen nichts ändern, da ihre Umsetzung auf die juristische und insbesondere auf die positiv-rechtliche Ebene nicht gelingen kann.“370

Dass nun ausgerechnet der Verfechter einer „dritten Haftungsspur“ mit dem Einwand „tertium non datur“ argumentiert, mag man ebenso originell finden, wie der gegen Köndgen apodiktisch postulierte dogmatische Rechtsquellendualismus willkürlich und unhistorisch ist. Immerhin sind die schuldrechtlichen Kategorien „Quasivertrag“ und „Quasidelikt“ sehr viel älter als die Vorstellung von einer „Vertrauenshaftung“ als „dritter Haftungsspur“. Von diesen Bedenken abgesehen, wird man Canaris in der Sache und in seiner Kritik an Köndgen gleichwohl rundum zustimmen können. Nur lässt sich auch leicht einsehen, dass sich gerade bei der Bestimmung dessen, was genau das maßgebliche „Instrument der Selbstbindung“ sei oder ggf. sein sollte, Selbstbestimmung und Vertrauensschutz nicht isoliert, sondern als notwendig verbunden zu betrachten sind, und dass sich eben hier, bei der Suche nach dem maßgeblichen zur Haftung verbindenden Erklärungstatbestand, der jenseits des Vertrages als Verpflichtungsgrund liegen könnte, die Theorie von einer vertrauenstheoretischen Erklärungshaftung und die Theorie von einer Selbstbindung ohne Vertrag ganz notwendig berühren. Dogmengeschichtlich ist das Problem, um das es geht, relativ leicht ausgemacht: Über den Formal-, den Real‑ und schließlich den ohne besondere äußere Wirksamkeitsattribute verpflichtenden Konsensualvertrag hinaus stellt sich die Frage, ob bereits das „nackte“ Versprechen, jede Wissenserklärung oder etwa gar nahezu jedes beliebige Verhalten bereits ein Verpflichtungsgrund sein kann. Wenn man heute von einem „Willen“, einer „Selbstbestimmung“ oder „Selbstbindung“ spricht, dann nimmt man den jeweiligen Begriff wie eine fixe unabänderliche Größe, als wenn nicht der „Wille“ selbst, d. h. als soziales bzw. psychologisches Phänomen, ein schwankendes Stück Rohr im Wind wäre. Die tract (1974); die parallele Entwicklung für das deutsche Recht konstatiert schon Norbert Tosch, Entwicklung und Auflösung der Lehre vom Vertrag (1980); Sympathie für den Quasi-Contract findet sich bereits bei Esser, Grundsatz und Norm (1956–1990), S. 232 f. 370  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/93 f.; zustimmend Singer, Selbstbestimmung (1995), S.  89 f.

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Stärke und Ernsthaftigkeit einer Selbstbestimmung bestimmt sich doch immer auch danach, welche Widerstände zu seiner Realisierung überwunden werden. Wenn wir heute von einer rechtsgeschäftlichen Formvorschrift und einer mit dieser verbundenen Besonnenheit bei der Eingehung eines Rechtsgeschäfts reden, dann betrifft das eben originär dieses Phänomen: Ein Wille sich zu binden, ist nicht gleich und sofort ein rechtsgeschäftlich bindender Wille. Er ist von Erwägungen, Wünschen und bloßen Absichtsbekundungen strikt zu unterscheiden. D. h. die Ernsthaftigkeit und tatsächliche Festigkeit eines Vorsatzes lässt sich nur in der nach außen sich kundgebenden Handlung bemessen. Eben hierin liegt der Grund dafür, dass Savigny Wille und Erklärung als ganz selbstverständlich miteinander verbunden, als natürliche Einheit, und Jhering Wille und Form als „Zwillingsschwestern“ angesehen hat:371 An ihren Taten sollt  – und an ihren Handlungen allein könnt ihr sie erkennen; denn „ein Wille ohne Form wäre gleich dem Lichtenbergschen Messer ohne Klinge, dem der Stiel fehlt“.372 Die Details gehören in den dogmatischen Teil zum Vertragsschluss. Hier gilt es nur, die dogmengeschichtliche Grundtendenz festzuhalten: Der insoweit historisch zu beobachtende Abbau der juristisch klar definierten Form, d. h. der zunehmende Verzicht auf ein Kriterium für die Seriosität eines rechtsgeschäftlichen Wollens, ist so auch immer ein zunehmender Verzicht auf den Willen selbst und umgekehrt. Die Dogmengeschichte lässt sich so letztlich immer auch als eine Geschichte des Abschieds vom Willen aus dem Vertragsrecht lesen: Es ist zunächst die formale Erklärung, die den rechtsgeschäftlichen Willen signifikant von anderen Erklärungen abhebt. Die feierliche Erklärungsform wird ergänzt durch den realen Vollzug im Realvertrag, um sich schließlich im Konsens des Konsensualvertrages zu vergeistigen. Die damit verbundenen Probleme haben wir in Gestalt des Willensdogmas kennengelernt. Konsens und Wille sind Interna und mit ihrer zunehmenden Unsichtbarkeit wird das Wollen zunehmend normativ zugerechnet: Ob man das Problem dann unter dem Namen „Vertragsfiktion“, „faktischer Vertrag“, „Haftung aus sozialem Kontakt“, „Vertrauenshaftung“, „Haftung des Dispositionsgaranten“, „Selbstbindung ohne Vertrag“, „QuasiVertrag“ oder – was hier vorgezogen wird – weiterhin unter dem Namen culpa in contrahendo (bzw. mit Blick auf die Erklärungshandlung selbst: culpa in declarando)373 bespricht, ändert hieran wenig. Der Name verrät allenfalls etwas über die gedankliche Grundstruktur der jeweiligen Theorie, nichts aber über ihre Richtigkeit und praktische Brauchbarkeit. In jedem Fall führt der Abschied von Wille und Form beim Rechtsgeschäft zu der beklagten „Hypertrophie“ eines Vertragsrechts ohne Vertrag. Mit „Selbstbestimmung“ und „Selbstbindung“ hat das regelmäßig nichts zu tun. 371 Savigny,

System III (1840), § 134; Jhering, Geist des römischen Rechts II/2 (1880), S. 471.  Jhering, Geist des Römischen Rechts II/2 (1880), S. 473. 373  Zutreffende Präzisierung schon bei Manigk, Das Wesen des Vertragsschlusses, JhJb 75 (1925), 127/139; R. Raiser, Schadenshaftung bei verstecktem Dissens, AcP 127 (1927), 1/26. 372

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Was insoweit den zweiten Teil der oben zitierten Aussage anlangt („tertium non datur“), so trifft Canaris hier also in der Tat den Schwachpunkt in Köndgens Lehre.374 Freilich ist dieser Befund bereits aufgrund des methodologischen Ausgangspunktes der Arbeit wenig überraschend: Wer von positiv-rechtlichem Systembau wenig, von richterlicher Freiheit im Einzelfall hingegen sehr viel hält, der wird schwerlich eine handgreifliche Theorie in begrifflicher Klarheit herausbringen. Als es dann 20 Jahre später darum ging, die Sache tatsächlich juristisch dingfest zu machen – sprich: in Worte zu fassen – hat Köndgen deutlich darauf hingewiesen, dass seine Theorie nicht als Beitrag zu einer „handhabbaren Normierung“ misszuverstehen sei. Man mag sich fragen: Wie sollte sie dann zu verstehen sein? Freilich hat bereits Jhering diese Form des sinnfreien juristischen Theoretisierens als „Zoologie“ bezeichnet: „Eine juristische Schrift, welche die praktische Anwendbarkeit der ganzen Materie grundsätzlich ignoriert – Konstruktion einer kunstvollen Uhr, welche nicht aufs Gehen berechnet ist!“375 Die Sache wird nicht dadurch besser, dass Köndgen den Einwand erhebt, dass dies ebenso für die „Vertrauenshaftung“ gelte: „Bei allen Unterschieden im Einzelnen gleichen sich beide Konstruktionen darin, dass sie jeweils neue und hochgeneralisierte Zurechnungsgründe jenseits von Vertrag und Delikt entwickeln und diese in einer Vielzahl von Haftungsphänomenen lokalisieren.“376 Die Sicherheit, mit der Canaris Gegenteiliges behauptet, ist nur dadurch erklärlich, dass die Vertrauenshaftung mit dem ubiquitären und willkürlich einsetzbaren Kriterium „Vertrauen“ in der Rechtspraxis längst willig rezipiert wurde und er sich bis dato offensichtlich nie ernsthaft und selbstkritisch mit den Bedenklichkeiten dieser Theorie für die Praxis befasst hat. Culpa in contrahendo und Rechtsscheinhaftung sind im Grundsatz aber doch zwei verschiedene Dinge. Bei dieser (der Rechtsscheinhaftung) geht es im Kern um die Zurechnung objektiv erfüllter Haftungstatbestände des positiven Rechts, bei jener (der modernen c. i. c.) hin374  Kritisch im Grundsätzlichen auch Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/420: Dem Vertrauensgedanken fehle jede Spezifität und Abgrenzungskraft, daran könne auch „der Versuch einer soziologischen Deutung“ nichts ändern. „Denn auch die Festlegung von ‚Rollen‘ und ‚Rollenerwartungen‘ stößt wieder auf das Problem, daß in einem Bereich, der schlechthin ‚das Leben‘ umfasst, und der deshalb durch unendliche Vielfalt und gleitende Übergänge gekennzeichnet ist, scharfe, mit gravierenden rechtlichen Folgen verbundene Zäsuren nicht gesetzt werden können.“ 375  Jhering, Scherz und Ernst (1884), S. 9: „Von einem Schriftsteller über die Materie, den ich auf diesen Mangel seiner Schrift aufmerksam machte, erhielt ich die Antwort: die praktische Seite der Frage habe er grundsätzlich von seinen Untersuchungen ausgeschlossen, er habe sich nur an die wissenschaftliche gehalten … Eben darin liegt das Übel, daß die Jurisprudenz zu einer Zoologie hinaufgeschraubt wird, während sie doch die Kunst ist, mit dem civilistischen Zugvieh zu pflügen.“ 376  Vgl. Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 231/233: Die „von der Doktrin entwickelten Rechtsfiguren der ‚Vertrauenshaftung‘ oder der ‚Selbstbindung ohne Vertrag‘“ entzögen sich „jeglichen Normierungsversuchen.“ Eine andere Auffassung zur Vertrauenshaftung hat Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S. 305/319 vertreten: die c. i. c. sei zwar nicht, aber die Vertrauenshaftung mittlerweile offenbar durchaus kodifizierbar.

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gegen um eine Zurechnung von Schäden ohne Tatbestand  – ja im Gegenteil: sogar um den Schutz des Vertrauens gegen die positiv gesetzten Vertrauenstatbestände des Gesetzes. In der immer weiter geführten abstrakten Theoriebildung liegt, wie gesehen, durchaus das Problem einer Wissenschaft, „deren Auge von Principien umflort ist“ (Jhering). Da kann es dann auch schon mal passieren, dass aneinander vorbeigeredet wird, weil der eine dieses und der andere etwas ganz anderes vor Augen hat. Dabei hatte doch Köndgen durchaus einen Beitrag zur Präzisierung dessen, was bei Canaris „negative Vertrauenshaftung“ heißt, leisten wollen. Wenn nun aber beide über die geringe juristische Brauchbarkeit der Ergebnisse gar nicht uneins sind, dann müssen wir uns über den offensichtlich unfassbaren Zustand der culpa in contrahendo bei Befürwortern einer Vertrauenshaftung nicht verwundern; sei sie nun rein dogmatisch oder in bunter empirischer Vielfalt sozio-psychologisch und rechtsvergleichend begründet.377 Wie immer man letztlich zu Richtigkeit und Brauchbarkeit seiner Ergebnisse stehen mag – das Spektrum dessen, was als Vertrauenstatbestand jenseits eines Vertrages überhaupt denkbar ist, wurde von Köndgen immerhin ausgelotet. Wenn der Gedanke von einer auf Vertrauen basierenden Haftung nicht nur als systematische Kategorie, d. h. als Sammelbecken für von der Rechtsprechung hinterlassene Denkwürdigkeiten, irgendeine Berechtigung haben sollte, dann kommt man an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit denkbaren alternativen Vertrauenstatbeständen (etwa dem Versprechen als Verpflichtungsgrund) nicht leicht vorbei. Dabei wäre dann allerdings zu zeigen, dass es auch hier nicht sonderlich hilfreich ist, von einer Vertragstheorie (als Willensdogma) auszugehen, die so von niemandem und seit 100 Jahren lediglich von denjenigen vertreten wird, die am vermeintlich geltenden Recht Kritik üben, um so zunächst Platz, d. h. eine Lücke für ihre eigenen dogmatischen „Entdeckungen“ schaffen zu wollen. Eine nur mit Blick auf die eigenwillige Interpretation der lex lata und die Brauchbarkeit der Ergebnisse ausgerichtete Kritik an Köndgens Theorie fällt jedenfalls einmal mehr auf den Kritiker selbst zurück. Bereits ein Blick auf die „Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit gemäß § 242 BGB“378 verdeutlicht die Parallelität der praktischen Unbrauchbarkeit, weil die schönsten „beweglichen Systeme“ nichts daran ändern können, dass auch eine in sich widersprüchliche Rechtsethik nicht leicht in positives Recht umzusetzen ist.379 377 Das gleiche Problem teilt der ebenfalls nicht rechtsdogmatisch, sondern sozio-psychologisch orientierte Ansatz bei Druey, Vertrauenshaftung  – eine Revolution? (2004), der das Vertrauens‑ als komplexes „Kommunikationsverhältnis“ begründet sehen will. Doch wird auch hier nicht deutlich, inwieweit sich die rechtsgeschäftliche von einer davon getrennten eigenständigen nur vertrauensrechtlich relevanten Kommunikation unterscheiden soll. 378  Vertrauenshaftung (1971), S. 273 ff. 379 Zutreffend bemerkt bereits Stöcker, Die Rechtsgrundlage der culpa in contrahendo (1961), S. 46, gegen Wilburg („bewegliches System“) und Siebert (Faktische Vertragsverhältnisse: „elastisches System“): „In Wahrheit wird hier das rational bestimmbare Entweder-Oder des Systems ausgeschaltet zugunsten von letztlich im Rechtsgefühl fundierten Ähnlichkeitsschlüssen.“

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Das Ergebnis der Schuldrechtsmodernisierung spricht insoweit Bände. Oder warum ist die Umsetzung der culpa in contrahendo auf eine juristisch handhabbare Ebene nicht gelungen? Mit Ulrich Huber mag man den Grund für das Scheitern aller angestrengten Sprechakte zu diesem vorvertraglichen Haftungsinstitut in eben dem Grund erblicken, dem der „frühe“ Ludwig Wittgenstein knapp in der Formel Ausdruck verliehen hat: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“380

c) Anti-ethik: Gemeinschaft oder Freiheit? „Man hat in den letzten Jahren vielfach behauptet, zwischen Schuldner und Gläubiger bestehe nicht etwa, wie ‚liberalistisch-individualistisches‘ Denken angenommen habe, ein Interessengegensatz, sondern bei richtiger Auffassung liege ein Gemeinschaftsverhältnis vor, das demgemäß von beiderseitigem Vertrauen und von gegenseitiger Treue beherrscht werde. … Daß das absurd ist, liegt auf der Hand.“ Alfred Hueck, 1947381

Kurz: Auch wenn Canaris gegen Rechtsvergleichung und konkurrierende Theorieansätze einen Sieg errang, die eigene Theorie von einer (negativen) Vertrauenshaftung hat das inhaltlich nicht gestärkt. Zwar hat die Rechtsprechung aus besagten Gründen von den Freiheiten dieser voraussetzungslosen Konstruktion „kräftig“ Gebrauch gemacht.382 Denjenigen, die genauer hinsahen, konnte gleichwohl nicht verborgen bleiben, dass es sich hier in doppelter Hinsicht um eine voraussetzungslose Haftung handelt: ohne Begründung und ohne Tatbestand.383 Und manchen, die über den Rand bloßer dogmatischer Abgrenzungsfragen hinaussahen, entdeckten, dass sich die von Canaris vorgebrachten liberalen Einwände gegen eine deliktsrechtliche Generalklausel in der Sache ebenso gegen eine vertrauenstheoretisch begründete „dritte Haftungsspur“ wenden: Es gehe nicht an, so opponierte bereits Oskar Hartwieg in seinem Beitrag zur Frage nach einer rechtsethischen Begründung der vorvertraglichen Haftung, „das liberale – auf Eigenverantwortung eines jeden Geschäftspartners basierende  – Vertragssystem des BGB mit einfachen Billigkeitserwägungen vom Tisch zu wischen“.384 Die mittels c. i. c. vorgenommene „rechtliche Sanktionierung 380  U. Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31/37. Das Originalzitat findet sich bei Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (1921), Satz 7. 381 Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 5. 382  Vgl. nur die (keineswegs vollständige) Bilanz bei Canaris, Die Vertrauenshaftung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (2000), S. 129–197. 383 Nachweise bereits oben § 7 I.3. und II.2.; zusammenfassend Hartwieg, Die c. i. c. als Korrektiv für „ungerechte“ Verträge, JuS 1973, 733/737: „Die erleichterten Voraussetzungen und die ausschließliche Orientierung … an Billigkeitserwägungen machen sie (die c. i. c.) zu einem ebenso handlichen wie ergebnissicheren Instrument der Rechtsprechung. Die Judikatur wird sich schwerlich allein aufgrund dogmatischer Bedenken wieder davon trennen.“ 384  Hartwieg, Die c. i. c. als Korrektiv für „ungerechte“ Verträge, JuS 1973, 733 f., ebenso S. 737: Die culpa in contrahendo bedürfe dringender Eingrenzung, „wenn nicht ein großer

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von Verhaltenserwartungen“ bedeute demgegenüber „den Abbau individueller Freiheit zugunsten von Kooperation, Bindung, Kollektivierung (oder welchen Begriff auch immer man hier wählen will)385. Mit dem Schutz von Vertrauen wird derjenige, der Vertrauen veranlasst hat, verpflichtet, sich den Erwartungen seines Gegenübers entsprechend zu verhalten, und er wird damit in seiner eigenen Handlungsfreiheit eingeschränkt. Auf der anderen Seite wird das Vermögen des Vertrauenden in einem Maße geschützt, welches dem ‚klassischen‘ Deliktsrecht des BGB unbekannt ist. „Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit und insbesondere zum Wettbewerb in einer Marktwirtschaft gehört nun aber auch, daß der eine Bürger Vermögensinteressen des anderen beeinträchtigen darf – und zwar häufig sogar vorsätzlich.“386 Die freiheitsrechtlichen Überlegungen weisen freilich weiter und bringen die Überlegungen zu freiheitseinschränkenden Haftungsinstituten auf einen grundlegenden normativen Punkt; denn gerade in diesem Spannungsverhältnis von Freiheit auf der einen und Vermögensschutz auf der anderen Seite findet „sich ein neuer Aspekt dafür, warum die Begründung des Vertrauensschutzes eine solch zentrale Bedeutung einnimmt: Wenn mit diesem eine Einschränkung von Freiheit verbunden ist und allein schon aus Art. 2 I des Grundgesetzes von einer Vermutung für die Freiheit ausgegangen werden darf, bedarf jede solche Einschränkung der Legitimierung.“387 Damit ist der vermeintlich lediglich rechtsdogmatische Konflikt zum Platz und zur Reichweite eines „neuen“ Haftungsinstituts wieder auf eine rechtsphilosophische Ebene gehoben; eine Ebene, auf der sich die zentralen zivilrechtlichen Grundentscheidungen mit der politischen Dimension des Rechts berühren. Und es ist dann ja auch sicherlich kein Zufall, wenn mit dem Verlust der Teil des gesetzgeberischen Instrumentariums zur Verwirklichung der Privatautonomie bloßen Billigkeitserwägungen geopfert werden soll“. Hartwieg erkennt auch zutreffend den sozialphilosophischen Kern des Konflikts: es zeige sich, „daß hier soziale und liberale Denkweisen aufeinanderstoßen“ (S. 737). 385 Zur Gemeinschaftsbezogenheit der Sonderverbindung bereits ausf. oben § 6; deutlich wird die Sache etwa auch bei Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1980), S. 67: „Das Verhandlungsverhältnis ist als Sonderverbindung zu qualifizieren und läßt sich zusammenfassend wie folgt kennzeichnen: – an die Stelle des abwehrbereiten ‚Nebeneinanders‘ tritt ein ‚Miteinander‘, das auf die Überprüfung der beidseitigen Angebote gerichtet ist, – dieser übereinstimmende Wille und Zweck verknüpft die Interessen der Beteiligten miteinander …“; genau umgekehrt hatte die Sache seinerzeit noch Hueck, Der Treuegedanke (1947), S. 5 beschrieben: „Wohin die übermäßige Verwendung des Gemeinschafts‑ und Treuebegriffes führen kann, mag ein Beispiel zeigen. … Wenn jemand in einem Laden ein Buch kauft, wenn er seine Uhr reparieren läßt, wenn er für eine Stunde ein Ruderboot mietet, wenn er sich rasieren läßt, so schließt er schuldrechtliche Verträge ab, aber kein unbefangen Denkender wird annehmen, daß er dadurch mit seinem Vertragspartner eine Gemeinschaft eingehe und besondere Treuepflichten begründe (…).“ 386  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/37. 387  Loges, Die Begründung neuer Erklärungspflichten und der Gedanke des Vertrauensschutzes (1991), S 35.

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Klarheit in der Zivilrechtsdogmatik ein gesteigertes Interesse an dem Verhältnis der „Grundrechte“ zum „Privatrecht“ einsetzte388: Wer die Interpretationshoheit über die Freiheitsrechte und ihren Einfluss auf das Privatrecht besitzt, der besitzt offenbar auch die Deutungsmacht über die grundlegenden Entwicklungen des Zivilrechts. Berücksichtigt man, dass die Abwägung zwischen den Polen Freiheit und „Vermögensschutz durch Erwartungsschutz“ nicht abstrakt, sondern eben nur im Detail vorgenommen werden kann und eben hier die ganze Differenziertheit und Komplexität des Vermögensrechts (d. h. nicht nur der ersten drei Bücher des BGB) liegt, dann wendet sich der Blick doch auch endlich wieder der Dogmatik des Zivilrechts als Ganzem zu. Damit tritt aus methodologischer Sicht die Spannung zwischen einer historisch gewachsenen und ausdifferenzierten Zivilrechtsdogmatik auf der einen und der abstrakten Deduktion aus grundrechtlich verankerten Rechtsprinzipien auf der anderen Seite deutlich hervor. Für die hier interessierende Entwicklung des Haftungsrechts ist insoweit zweierlei interessant: Die Rückkehr 1. der Freiheit und 2. des Verschuldens als Begründungstopoi. 2. Dogmatischer Liberalismus: Rückkehr der „Freiheit“? „Der Gedanke, daß der Mensch frei sei, ist schwieriger zu finden gewesen, als der, daß die Erde sich um die Sonne bewege, für ersteren läßt sich kein Copernikus nennen! Nicht als ob die Geschichte seinen Namen vergessen hätte; die großen moralischen Entdeckungen sind keinem einzelnen Geiste beschieden, sondern die langsam reifende Frucht des Ringens und Denkens ganzer Nationen.“ Rudolf v. Jhering, 1852389

Wir haben die Bedeutung der politischen Philosophie für unser Thema bereits des Öfteren angesprochen. Besonders prägnant wurde der Einfluss im Zusammenhang mit der Entwicklung der Vertrauenshaftung in den 1930er Jahren. Der Gedanke des Gemeinnutzes verband die Vertragsparteien in einer Sonderver388  Hierzu nur: Laufke, Vertragsfreiheit und Grundgesetz (1956), 145 ff.; Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem (1974); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), S.  201 ff.; Hermes, Grundrechtsschutz durch Privatrecht auf neuer Grundlage?, NJW 1990, 1764 ff.; Hillgruber, Grundrechtsschutz im Vertragsrecht, AcP 191 (1991), 69 ff.; MüllerFreienfels, „Vorrang des Verfassungsrechts“ und „Vorrang des Privatrechts“ (1991), S. 423 ff.; Diederichsen, Die Rangverhältnisse zwischen den Grundrechten und dem Privatrecht (1995), S.  39 ff.; Singer, Vertragsfreiheit, Grundrechte und der Schutz des Menschen vor sich selbst, JZ 1995, 1133 ff.; Oldiges, Neue Aspekte der Grundrechtsgeltung im Privatrecht (1996), S. 281 ff.; Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996), 1 ff.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht  – Eine Zwischenbilanz (1999); Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grundrechte (1999), S. 485 ff.; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999); Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz (2001); Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001); Th. Simon, „Grundrechtstotalitarismus“ oder „Selbstbehauptung des Zivilrechts“? AcP 204 (2004), 264 ff. 389 Geist des römischen Rechts I (1878), S. 103.

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bindung, die manche als faktisches Vertragsverhältnis390 oder einer Haftung aus „sozialem Kontakt“ konstruieren wollten und andere bis heute in einem Vertrauensverhältnis begründet sehen391. Nach 1945 war es nicht mehr opportun (auch nicht ab 1968), sozialistische Positionen mit eben der Formel vom „Gemeinnutz“ zu untermauern. Gleichwohl blieb, wie gesehen, die Vorstellung von einer „Erneuerung des Privatrechts“ in einem neuen „Sozialmodell“ mit der gleichen Polemik gegen den Pandektismus, die Begriffsjurisprudenz und die „formale Freiheitsethik“ des BGB weiter am Leben („Materialisierungsthese“).392 Der Kampf um oder gegen ein liberales Privatrecht und dessen dogmatische Ausprägung im Gedanken der „Privatautonomie“ durchzieht die metadogmatische Literatur des Zivilrechts und beeinflusst bewusst oder unbewusst auch die dogmatische Auffassung zur Reichweite konkurrierender Rechtsinstitute. Die ‚Entdeckung‘ des Kräfteungleichgewichts beim Vertragsschluss führte zur Ausbildung von Sonderprivatrechten neben dem BGB.393 Ab Mitte der 1970er Jahre etabliert sich das Verbraucherprivatrecht – eine Rückkehr des Statusrechts im Namen der (Markt‑)Freiheit.394 Die Korrektur vertraglicher Vereinbarungen mit Rücksicht auf typologisch verallgemeinerte kognitive oder ökonomische Defizite einer Seite, Informationspflichten und Widerrufsrechte als die zentralen „Verbraucherschutzinstrumente“ sind funktionell gesehen nur spezielle Ausprägungen dessen, was in der culpa in contrahendo an

390  Zur Grundlegung des Gedankens aus der c. i. c. („zwanglose Weiterführung“) oben § 5 III.3.c); insb. Haupt, Über faktische Vertragsverhältnisse (1941); Tasche, JherJb 90 (1942), S. 101 ff./120; eingeschränkt neben der c. i. c. fortgeführt: Larenz, Schuldrecht I (1. Aufl. 1953); ders., Die Begründung von Schuldverhältnissen durch sozialtypisches Verhalten, NJW 1956, 1897 ff.; ders., Sozialtypisches Verhalten als Verpflichtungsgrund, DRiZ 1958, 245 ff. 391 Oben § 7 I.2. u. 3. 392  Oben § 7 I.1. 393  Früh bereits das Arbeitsrecht als Arbeitnehmerschutzrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der BGB-Gesetzgeber glaubte noch, im Dienstvertragsrecht (§§ 611 BGB) alles Wesentliche geregelt zu haben. Otto v. Gierke und Anton Menger haben dem widersprochen. Hier, in der Ausgestaltung des Dienstvertragsrechts, lag ein wesentlicher Teil ihrer social(istisch)en Kritik am alten BGB. 394 Hierzu etwa die Beiträge in: Erwin Dichtl (Hrsg.), Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft (1975); Schmude, Verbraucherschutz und Vertragsfreiheit (1975); Reich / ​Tonner / ​ Wegener, Verbraucher und Recht (1976); K. Simitis, Verbraucherschutz. Schlagwort oder Rechtsprinzip? (1976); Norbert Reich, Markt und Recht (1977); Udo Reifner, Das Recht des Konsumentenkredits  – Soziale Zivilrechtsauslegung im Verbraucherschutz (1977); Reinhard Damm, Verbraucherrechtliche Sondergesetzgebung und Privatrechtssystem, JZ 1978, 173; Eike v. Hippel, Verbraucherschutz durch Richterrecht  – Möglichkeit und Grenzen, DRiZ 1979, 208; Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem (1981); Dauner-Lieb, Verbraucherschutz (1983); Westermann, Verbraucherschutz, in: Gutachten III (1983); Kemper, Verbraucherschutzinstrumente (1994); Reich, Europäisches Verbraucherrecht (1996); Dreher, Der Verbraucher, JZ 1997, 167; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 23 ff.; Henrich, Verbraucherschutz (1999); Heiderhoff, Verbrauchervertragsrecht (2004); um‑ und zusammenfassend Marina Tamm, Verbraucherschutzrecht (2011).

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„socialem Oele“ schon immer angelegt war.395 Neu ist die Quantität. 1981 prägt Dieter Medicus für diese Fallgruppe den Begriff vom „Schutz vor unerwünschten Verträgen“.396 a) Freiheit: oder die Unmöglichkeit fehlerfreier Selbstbestimmung „… da nur eine hinreichend informierte Partei faktisch frei entscheiden kann.“ Claus Wilhelm Canaris (1997)397

„Freiheit“ war einst die Metapher für den Vertrags-schluss, und „Freiheit“ ist nun auch die Metapher für die Vertrags-auflösung. Das ist im Grundsatz durchaus systemkonform, weil auch die klassischen Lösungsrechte des „Willensdogmas“ (Anfechtungsrecht bei Irrtum und Täuschung) „Consequenzen“ der „Freiheit“ gewesen sind: Rechtsfolgen sollten nur an autonome Entscheidungen geknüpft sein. Die ganze Debatte um den „wesentlichen Irrtum“ im gemeinen Recht ging um die Reichweite der Freiheit gegenüber Vertrauens‑ und Verkehrsschutz. Gleichwohl darf es in der Gesamtschau schon überraschen, dass sich Jhering mit seiner „Entdeckung“ originär gegen eben diese „Consequenzen“ einer allzu leichten Vertragsauflösung aufgrund des Willens‑ bzw. Freiheitsprinzips gewandt hatte, während die c. i. c. heute gerade hier ihr überragendes Anwendungsgebiet findet.398 Spätestens an dieser Stelle (der Auflösung wirksam geschlossener Verträge) musste daher eine vertrauenstheoretische Begründung der vorvertraglichen Haftung in ernsthafte Probleme geraten: Einmal schützt sie das Vertrauen in das gegebene Wort (§§ 122, 179, 307 a. F.), während nunmehr das Vertrauen in den Irrtum höher geachtet werden soll. In der Debatte um die  Vgl. etwa: Liebs, Fahrlässige Täuschung und Formularvertrag, AcP 174 (1974), S. 26 ff.; Rolf Sack, Unlauterer Wettbewerb und Folgeverträge: die Auswirkungen unlauteren Wettbewerbs auf Vertragsabschlüsse (1974); Rolf Schumacher, Vertragsaufhebung wegen fahrlässiger Irreführung unerfahrener Vertragspartner (1979); v. Bar, Unentgeltliche Investitionsempfehlungen im Wandel der Wirtschaftsverfassungen Deutschlands und Englands, RabelsZ 44 (1980), 455 ff.; M. Lehmann, Vertragsanbahnung durch Werbung (1981); Medicus, Gutachten I (1981), S. 522 („Die verbraucherschützenden Widerrufsrechte“ als besondere Fallgruppe der culpa in contrahendo); Schuhmacher, Verbraucherschutz bei Vertragsanbahnung (1983). 396 Gutachten (1981), S. 519 ff.; Hans Stoll, FS Caemmerer (1978), S. 435/460: „nicht erwartungsgerechter Vertrag“; ausf. dann Medicus, Die Lösung vom unerwünschten Schuldvertrag, JuS 1988, 1 ff.; übernommen von Stephan Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997). 397  Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht (1997), S. 47. 398  Die letzten großen Monographien und Aufsätze zur vorvertraglichen Haftung sind vor allem diesem Thema gewidmet: Stephan Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997); Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997); Lieb, Culpa in contrahendo und rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit (1999), S. 337 ff.; Paefgen, Haftung für mangelhafte Aufklärung aus culpa in contrahendo (1999); Hans Stoll, Schädigung durch Vertragsschluß (1999), S.  361 ff.; Fleischer, Konkurrenzprobleme um die culpa in contrahendo, AcP 200 (2000), 91 ff.; ders., Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001); Schwarze, Vorvertragliche Verständigungspflichten (2001); Weiler, Die beeinflußte Willenserklärung (2002). 395

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wichtige Kategorie der „Aufklärungspflichten“ wird denn auch nicht ernsthaft die These vertreten, es gehe tatsächlich um Vertrauensschutz.399 Die allgemeine Ansicht steht auf einem ganz anderen Standpunkt: Geschützt werde nicht eine irrige Erwartung (also Vertrauen), sondern angeblich die Freiheit; denn – so die Begründung  – nur bei umfassender Information sei wahre Selbstbestimmung möglich (Informationsmodell).400 399 Lediglich als Behauptung ursprünglich Dölle, Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/86 ff.: „So sind letztlich auch die sogenannten konkreten Aufklärungspflichten auf den Rechtsgrund des entgegengebrachten besonderen Vertrauens zurückzuführen (…).“; dann etwa Breidenbach, Informationspflichten (1989), S. 47 ff. mit dem bloßen Hinweis, die Vertrauenshaftung sei „von Canaris überzeugend nachgewiesen“, um dann klarzustellen, „daß dem hier nichts hinzuzufügen ist“; ähnlich schon Werres, Aufklärungspflichten (1985), S. 73 ff. passim; dagegen deutlich Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999), S. 247 („Der Versuch einer Begründung von Aufklärungspflichten mittels des Vertrauensgedankens führt … lediglich zu einer petitio principii); ebenso Rehm, Aufklärungspflichten (2003), S. 195 passim; deutliche „Erklärungsdefizite der vertrauenstheoretischen Pflichtenbegründung“ erkennt auch Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 420 f. 400  So bereits Klein, Anzeigepflichten (1908): Voraussetzung privatautonomer Selbstbestimmung; Böhme, Aufklärungspflicht bei Vertragsverhandlungen (1964), S. 1: „Die Freiheit der Willensentschließung kann durch irrtümliche Vorstellungen und Unklarheiten beeinträchtigt werden.“; F. Bydlinski, Privatautonomie (1967), S. 130; grundlegend dann M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit (1970), S. 69 f.: „Die Wahrnehmung der eigenen Interessen ist die der Selbstbestimmung angemessene Form zur Verwirklichung des gerechten Interessenausgleichs. Sie setzt aber voraus, daß der einzelne nach den Umständen auch die Möglichkeit hat, seine berechtigten Interessen zur Geltung zu bringen, bzw. unberechtigte Anforderungen abzulehnen. Aufgabe der Rechtsordnung muß es deshalb sein, die Voraussetzungen so zu bestimmen, daß der einzelne zur selbstbestimmten Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen bzw. zur Abwehr unberechtigter Forderungen in der Lage ist. Wo die objektiven Umstände eine derartige Möglichkeit ausschließen, ist eine funktionsgerechte Entfaltung der Selbstbestimmung nicht möglich. In diesem Punkt, den Grundlagen für die Entfaltung der Selbstbestimmung, treffen sich Selbstbestimmung und Vertragsgerechtigkeit, indem die Voraussetzungen für die Entfaltung der Selbstbestimmung an der Vertragsgerechtigkeit ausgerichtet werden.“ (Hervorhebung bei Wolf selbst); Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 163, 257, 298; Breidenbach, Informationspflichten (1989), S. 12: „Die Änderung der Informationslastverteilung durchbricht nicht das Prinzip der Privatautonomie, sondern schützt mit der Willensfreiheit eine ihrer wesentlichen Funktionsbedingungen.“; Reuter, Freiheitsethik und Privatrecht (1994), S. 363: „Aufklärungspflichten dienen der Sicherung und Herstellung realer Freiheit beim Abschluß von Verträgen.“; Canaris, iustitia distributiva (1997), S. 47; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999), S. 246: Aufklärungspflichten hätten das Ziel, „die faktischen Voraussetzungen selbstbestimmten Verhaltens beim potentiellen Vertragspartner“ herbeizuführen; E. Lorenz, in: ders., Aufklärungspflichten (2000), S. 2: „Selbstbestimmt handelt nur, wer informiert handelt.“; in diesem Sinne wohl auch Schwarze, Vorvertragliche Verständigungspflichten (2001), S. 97 ff., 346: „Gewährleistung einer selbstbestimmten Willensbildung“. Insb. für den Verbraucherschutz: Dauner-Lieb, Verbraucherschutz (1983), S. 62 ff., 104 ff.; W. Schumacher, Verbraucherschutz bei Vertragsanbahnung (1983), S. 201 ff.; Kemper, Verbraucherschutzinstrumente (1994), S. 33 ff., 186 ff.; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998), S. 25 ff.; Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 203: „Es ist dies das Konzept des Konsumentenschutzes durch obligatorische Aufklärungspflichten: Mehr und bessere Information soll die Verbraucher in den Stand versetzen, eine überlegte und eigenverantwortliche Entscheidung beim Vertragsschluß zu treffen.“ Zu einer weiteren Analyse und Differenzierung der Begründungsansätze: Benedict, Aufklärungspflichten (2006), S. 187/192 f.

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Dass diese These bereits im Grundsatz eine bedenkliche Definition von Selbstbestimmung enthält,401 wird nicht erst deutlich, wenn man Kant gelesen hat, sondern bereits dann, wenn man ein trotziges Kind sich auf den Fußboden werfen sieht, das laut seinen Eltern ein „Ich will aber …“ entgegen schreit. Die Rechtsfähigkeit und Würde einer Person speist sich vom Gedanken ihrer Autonomie, d. h. ihrer grundsätzlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Wenn wir manche Erklärungen – als Eltern oder als Juristen – bei manchen Personen und in manchen Situationen nicht ernst nehmen, so liegt das nicht daran, dass wir an einer Erklärung aus Selbstbestimmung zweifelten, sondern weil wir aus anderen und durchaus unterschiedlichen Wertungen heraus (Unreife, Täuschung, Drohung usw.) an der Legitimation der Motive zweifeln und insoweit einem Akt der Selbstbestimmung aus normativen Gründen die Geltung verweigern. Diese normativen Gründe muss man klar benennen, nicht aber aus der These fehlender Selbstbestimmung jede Menge Ansprüche herleiten. Nähme man die heute herrschende Freiheits-Hypothese des „Informationsmodells“ ernst, dann gäbe es gar keinen Akt fehlerfreier Selbstbestimmung, weil Entscheidungen immer auf der Basis unvollständiger Information und regelmäßig aufgrund mangelnder Reife erfolgen. Wir entscheiden immer auf der Basis unserer mehr oder weniger gut begründeten Vorurteile / ​Vorverständnisse / ​ Glaubenssätze zu den Sachgegebenheiten, auf die wir uns einlassen. Ob wir Lebensmittel, einen Computer, ein Auto, ein Grundstück oder Aktien erwerben – hier gibt es dann nur mehr oder weniger ausgeprägte Kompetenzen, nur selten aber vollständige Meisterschaft. Eben in diesem Punkt trifft dann in der Tat die Luhmann’sche Formel vom Vertrauen als „Reduktion von Komplexität“. Wir vertrauen darauf, dass die Dinge so sind und sich auch so ereignen, wie wir sie uns vorstellen oder erhoffen: „Es wird schon alles gut gehen.“ Und eben hier liegt der Zusammenhang von Selbstbestimmung und Vertrauen. Jeder Versuch, beide Phänomene voneinander zu lösen, ist ein dogmatischer Kraftakt, der – wie Jhering sagen würde  – den Verhältnissen selbst nicht gerecht wird. Und eben hier liegt dann auch die Ursache dafür, dass die Rechtsprechung auch da, wo es um Freiheit geht, keine Schwierigkeiten hat, jede Menge Vertrauenstatbestände jenseits des Vertragsschlusses zu finden: Die gestörte Selbstbestimmung basierte darauf, dass zu Unrecht auf irgendetwas vertraut wurde. Und der „Schlaubergerkonjunktiv“ (hindsight bias) liefert die (Schein‑)Begründung, dass mangelnde Information die letzte Ursache für eine Fehlentscheidung gewesen sei: „Hätte ich das gewusst …“. Das, was ursprünglich den Vorwurf der culpa begründete („hätte wissen können …“), begründet nun umgekehrt und leichthin die Aufklärungspflicht der anderen Seite. Diese methodologisch bedenkliche Dogmatik 401  Deutlich kritisch zurecht schon Bydlinski, Das Menschenbild des ABGB (1999), S. 119/121: „häufiges, aber zu billiges Kritikmittel“, „banalste Stereotypen gängiger Sozial‑ und Rechtskritik“.

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bedarf hier keiner neuerlichen Darstellung im Detail.402 An dieser Stelle interessiert vielmehr die Grundlage für den tiefer liegenden doch sehr grundsätzlichen Wandel bei der Beurteilung dessen, was Freiheit sei und rechtlich verbindliche Freiheit ausmachen soll. Es ist ja kein Zufall, dass der Begriff der „Freiheit“ auch in der Grundrechtsdebatte einen grundlegenden Bedeutungswandel erlebt hat: Aus „Abwehrrechten“ wurden „Teilhabe-“ und „Leistungsrechte“. ‚Wirkliche‘ Freiheit setzt offensichtlich immer etwas voraus, was wir nicht haben. In Folge dieses überhöhten idealen Konzeptes „positiver Freiheit“ ist es dann nur konsequent, wenn in juristischen Traktaten überall „Opfer“, aber kaum mehr „mündige Bürger“ vorkommen. Ein tiefer gehender Blick auf den maßgeblichen Einfluss der politischen Philosophie in der Umdeutung des Freiheitsbegriffes erhellt, worum es geht: b) Freiheit: Metamorphosen eines Begriffs „Tatsächlich finden einige der am härtesten geführten Debatten unserer Zeit zwischen zwei rivalisierenden Lagern statt, die beide die Freiheit in den Vordergrund stellen (…).“ Michael J. Sandel (2013)403

Auch und gerade hier hat nämlich der Begriff der Freiheit eine sehr gehaltvolle Metamorphose durchlaufen. So gesehen darf es nicht verwundern, dass hinter den unterschiedlichen Spielarten des Liberalismus ganz unterschiedliche Freiheitsvorstellungen verborgen liegen oder offen zutage treten. Je nachdem, ob das „freiheitliche“ Streben des Individuums inhaltlich sich selbst überlassen bleiben soll oder doch mit einem mehr oder weniger sinnvollen (kollektiven) Ziel verknüpft werden muss, unterscheiden manche zwischen negativer (Freiheit wovon?) und positiver Freiheit (Freiheit wozu?)404 oder sprechen andere heute auch von einem „Liberalismus der Freiheit“405 bzw. einem „libertären“ und einem „nichtlibertären Liberalismus“: Das Problem des Freiheitsbegriffs in der politischen Philosophie ist mithin seine Okkupation für verschiedene inhaltliche Konzeptionen einer gerechten Gesellschaft.406

 Hierzu schon Benedict, Aufklärungspflichten (2005), S. 187 ff. Wie wir das Richtige tun (2013), S. 24. 404  Grundlegend: Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1969/1995), S. 197 ff.; John Gray, On Negative and Positive Liberty (1980); MacCallum, Negative and Positive Freedom, in: D. Miller (ed.), Liberty (1991), S. 100–122; Taylor, Negative Freiheit? (1999), S. 118 ff. 405  Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 25. 406  Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1995), S. 201 („proteiisches Wort“): „Einen Menschen zwingen heißt ihn seiner Freiheit berauben – seiner Freiheit in bezug auf was oder von was? Wie Glück oder Güte, Natur oder Wirklichkeit ist auch die Bedeutung dieses Ausdrucks so porös, daß es kaum eine Deutung gibt, gegen die er sich sperrt (…).“; Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 15, 26: Freiheit ist „ein intern normativer Begriff“. 402

403 Gerechtigkeit.

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Dem libertären Liberalismus liegt insoweit ein naturalistischer Freiheitsbegriff zugrunde.407 Ihm eignet demnach allein die Frage: Freiheit wovon? Es geht in dieser klassischen Form allein um die Freiheit von Zwängen: Freiheit „means always the possibility of a person’s acting according to his own decisions and plans, in contrast to the position of one who was irrevocably subject to the will of another, who by arbitrary decision could coerce him to act or not to act in specific ways“.408 Frei ist demgemäß in der klassischen Definition Hobbes’ jeder, der „nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen“.409 In diesem Sinne erscheint auch die originäre  – oder in der o. g. Terminologie: die libertäre Deutung der Freiheitsrechte: Freiheitsrechte sind allein Rechte auf Abwesenheit von Zwang. Regelmäßig werden das 19. Jahrhundert und insbesondere auch Kant mit einem libertären Freiheitsbegriff in Verbindung gebracht („formale Freiheitsethik“). Wie so häufig, ist diese Sicht deutlich verkürzt: Kant setzt nämlich nicht die negative, sondern die positive Freiheit zum Ausgangspunkt seiner Moral‑ und Rechtsphilosophie. Positive Freiheit ist bei Kant „Autonomie“ und d. h. nichts weniger, als das Vermögen, selbst Ausgangspunkt von Kausalität sein zu können: d. h. eine Kausalkette von selbst zu beginnen.410 Aus dieser, jedem Menschen als Postulat zugesprochenen Fähigkeit zur Autonomie folgen sein Selbstzweck und seine Würde. Dieses Potenzial zur Selbstbestimmung muss – wenn Würde und Autonomie bewahrt bleiben sollen  – vom Recht geschützt werden. Daher greift es zu kurz, allein den naturalistischen Freiheitsbegriff mit der Freiheits‑ und Urrechtsdefinition bei Kant zu assoziieren: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschlichkeit, zustehende Recht.“411

Das Kant’sche Konzept der Freiheit ist komplexer und wesentlich dadurch geprägt, dass die (positive) Freiheit des einen seine Grenze in der (positiven) Freiheit des anderen findet. Savigny baut eben hierauf auch seinen Rechtsbegriff und generell das zivilrechtliche System der Rechtsverhältnisse auf: „Der Mensch steht inmitten der äußern Welt, und das wichtigste Element in dieser seiner Umgebung ist ihm die Berührung mit denen, die ihm gleich sind durch ihre Natur und  Oder eben: „negative Freiheit“; vgl. Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1969/1995), S. 197 ff. The Constitution of Liberty (1960), p. 12; vgl. Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (1999), S. 29 m. w. N. 409  Hobbes, Leviathan (1670/1966), 21. Kap., S. 163; in dieser Hinsicht auch John Stuart Mill, On Liberty (1859), p. 23: „The only freedom which deserves the name, is that of pursuing our own good in our own way, so long as we do not attempt to deprive others of theirs, or impede their efforts to obtain it.“ (Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, besteht darin, daß wir unser eigenes Wohl auf unsere Weise verfolgen können …“). 410  Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), S. 533: „Dagegen verstehe ich unter Freiheit … das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“. 411 Metaphysik der Sitten: Rechtslehre (1797), S. 237. 407

408 Hayek,

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Bestimmung. Sollen nun in solcher Berührung freye Wesen neben einander bestehen, sich gegenseitig fördernd, nicht hemmend, in ihrer Entwicklung, so ist dieses nur möglich durch Anerkennung einer unsichtbaren Gränze, innerhalb welcher das Daseyn, und die Wirksamkeit jedes Einzelnen einen sichern, freyen Raum gewinne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch sie dieser freye Raum bestimmt wird, ist das Recht.“412

Akzeptiert man die Freiheit als ein solches naturgegebenes Recht, so richtet es sich nicht vordergründig gegen den Gesetzgeber, sondern primär gegen jeden Anderen (Achtung der Freiheit des Anderen). Gesetzgebung ist ja kein Selbstzweck, sondern hat eine ausschließlich dienende Funktion. Es ist daher auch kein Zufall, wenn Kant in seiner Rechtslehre das Privatrecht vor dem Öffentlichen Recht behandelt: Dieses hat nämlich nur die eine Aufgabe, jenes zu gewährleisten und zu schützen („Wohlgeordnete Freiheit“). Doch hier interessiert nicht das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem Recht, sondern es interessieren die inhaltlichen Implikationen negativer Freiheit. Aus dem Prinzip der Reziprozität (gegenseitige Achtung der Freiheit) folgt zunächst lediglich, jedwede Einflussnahme auf die Entscheidungsfreiheit des Anderen zu unterlassen (Täuschung und Zwang). Positive (Schutz‑)Pflichten, z. B. Aufklärungen, Rücksicht, d. h. kritische Hinterfragung des Freiheitsgebrauchs beim Anderen, sind hier nicht impliziert und bedürften einer besonderen Begründung; denn sie greifen bereits in die Autonomie des anderen ein. Wir erinnern uns: Nicht nur nach Kant steht es bereits jedem selbst frei, den Erklärungen eines Anderen überhaupt Glauben zu schenken oder nicht, und dementsprechend wird, wie gesehen, erst das Schuldmoment (Erklärung mit dolus oder nur aus culpa) zum Zünglein an der Waage jeder Erklärungshaftung.413 Dass Rücksichtnahme, Fürsorge, Gemeinschaft, Solidarität und die Maxime: „Einer trage des Anderen Last!“ – kurz, dass Nächstenliebe eine erstrebenswerte moralische Haltung ist, bestreitet natürlich auch Kant nicht. Nur liegt hier eben der tiefere Grund für die abendländische Geschichte der Trennung von Recht und Moral: Auf die sittliche Gesinnung hat das Recht keinen Einfluss.414 Es geht seit der Bergpredigt um die innere Umkehr an der Wurzel sittlichen Verhaltens. Nimmt man die positive Freiheit, d. h. die „Freiheit Wozu?“, die Kant auch „Autonomie“ nennt, tatsächlich ernst, dann bezieht sich diese auf die Moralität, die Sittlichkeit des Handelns. Und für die ist im Grundsatz, d. h. bis zur Grenze der Beeinträchtigung des Freiheitsgebrauchs anderer, jeder selbst verantwortlich. Es gibt keine stellvertretende Moral, die mit dem Gedanken der Autonomie zu  System III (1840), S. 331 f. § 3 III. Kant, Metaphysik der Sitten: Rechtslehre (1797), S. 238: „weil es bei der bloßen Erklärung seiner Gedanken immer dem anderen frei bleibt, sie anzunehmen, wofür er will (…)“. 414 Dieser immer noch religiöse Standpunkt Kants wird besonders deutlich in seiner Geschichtsphilosophie, die er u. a. in seiner Religionsschrift entfaltet: Das Kommen des „Reich Gottes“ eben nicht durch Gewalt, sondern allenfalls durch Besinnung auf die Sittlichkeit jedes Einzelnen. 412

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vereinbaren wäre. Wohin demgegenüber die Verdrängung von Freiheit und Individualität, wohin die Vergemeinschaftung von Recht und Moral führt, konnte im 20. Jahrhundert jeder, der Augen hat, mit aller Deutlichkeit sehen.415 Dabei hatte bereits Kant explizit vor einem den Einzelnen bevormundenden Paternalismus gewarnt, weil dieser immer die Tendenz zur Despotie atmet: „Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gültigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.“416

Wilhelm v. Humboldt (1767–1835) und zuletzt insbesondere Robert Nozick (1938–2002) haben diese heute sog. libertäre Position ausführlicher verteidigt.417 In der Debatte der politischen Philosophie dominieren die Fragen, die sich um einen „Minimalstaat“ und die Legitimität einer durch Steuern oder andere staatliche Maßnahmen zu bewirkenden „Umverteilung von Vermögen“ drehen. Im Ausgangspunkt liberalen Denkens geht es freilich primär um die Autonomie der Moral: Die Grundidee der Kant’schen Freiheitskonzeption ist eben der durch das Recht zu gewährende Freiraum für jeden Einzelnen, in welchem sich allein wahre Sittlichkeit, d. h. Sittlichkeit aus Autonomie, entfalten kann. Hier liegt der Sinn der Trennung von Legalität und Moralität: Es gibt keine rechtlich verordnete Moral, weil moralisches Handeln immer nur aus Freiheit, niemals aus Zwang denkbar ist. Die Polemik gegen diese dann sogenannte „formale Freiheitsethik“ verrät bereits im Begriff, dass sie jene grundlegende Trennung nicht akzeptiert, sondern den Gebrauch der Freiheit material an kollektiven Wertvorstellungen gebunden wissen will, die über den bloßen Schutz der Freiheit des Anderen („wohlgeordnete Freiheit“) hinausgehen. Wir haben das bereits gesehen: Eben hier, in der Aufhebung der Trennung von Recht und Moral, d. h. in der Unterordnung der individuellen Verantwortung unter das Ganze einer politisch herrschenden Moral, liegt der Ansatz zum Totalitarismus in einer staatlich verordneten innerweltlichen ‚Nächstenliebe‘, man nenne diese dann Kommunismus, Sozialismus, Solidarismus oder wie auch immer nichtlibertäre oder eben kollektivistische Sozialphilosophien bzw. ‑uto415  Hallstein, Wiederherstellung des Privatrechts, SJZ 1946, 1/4: „Eine bittere, lebensgefährliche Erfahrung hat uns gelehrt, daß die Übernahme der Moral in öffentliche Verwaltung die Preisgabe der Moral bedeutet hat: denn der Verwalter öffentlicher Interessen fühlt sich der moralischen Verbindlichkeit durch das (wahre oder vermeintliche) Gemeinschaftsinteresse überhoben, das ihm anvertraut ist.“ 416 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), II. 417  Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (posthum 1851); Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia (1974).

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pien heißen wollen. Hier liegt dann aber auch der Ansatz für eine andere Konnotation der positiven bzw. nichtlibertären Freiheit: Freiheit als Fairness oder Freiheit auf Gleichheit. c) Freiheit, Gleichheit, Paternalismus: Die letzten Prinzipien der Rechtsdogmatik „Denn öffnen wir, sobald wir zugestehen, daß der Handelnde selbst nicht die oberste Autorität bezüglich seiner eigenen Freiheit ist, der totalitären Manipulation nicht Tür und Tor? Legitimieren wir nicht andere, die vermeintlich die Ziele des Handelnden besser kennen als dieser selbst, seine Schritte auf den rechten Pfad zurückzulenken, vielleicht mit Gewalt, und all dies im Namen der Freiheit?“ Charles Taylor, 1985418

Es leuchtet leicht ein, dass aufgrund der historischen Erfahrungen mit dem Grundsatz „Gemeinnutz vor Eigennutz“ auch die korrespondierenden Begriffe zur Bezeichnung einer Gesellschaftsordnung, die dieses Dogma zum Ausgangspunkt ihrer Verfasstheit erhoben hat, eine eher negative Konnotation beiliegt. Nomen est omen, und so wird nicht mehr deutlich beim Namen genannt, was gemeint ist, sondern es erfährt auch der jedenfalls im Grundsatz für richtig erachtete Liberalismus seine Differenzierung in einen libertären und einen nichtlibertären. Dahinter verbirgt sich eine materiale Erweiterung des naturalistischen bzw. negativen Freiheitsbegriffs, die wir bereits in Grundzügen als „Materialisierung“ kennen gelernt haben,419 indem die denkbaren Hindernisse des Freiheitsgebrauchs in den Begriff sogleich mit eingebunden werden: interne und externe, natürliche und soziale Hindernisse.420 Interessant sind dabei vor allem die sozialen Hindernisse.421 Indem auch diese, zum Teil stark individuellen Interna, als die Freiheit hindernde Zwänge erfasst und gedeutet werden, verschmelzen die beiden großen politischen Grundprinzipien Freiheit und Gleichheit miteinander, und es wird der Grundstein für einen egalitären Liberalismus gelegt, der auf Ausgleich bestehender Ungleichheiten in der Durchführung einer Ressourcengleichheit bestehen will.422 Auf sehr subtile Weise ist damit der Begriff der Gleichheit in den der Freiheit implantiert. Freiheitsrechte sind nicht mehr einfach nur Rechte auf Freiheit von (externem)  Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (3. Aufl. 1999), S. 118/125. § 7 I.1. 420  Hierzu Koller, Freiheit als Problem der politischen Philosophie, in: Bayertz (Hrsg.), Politik und Ethik (1996); Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 27 f., 30 f. 421 Sozial interne Hindernisse sind dabei diejenigen, die „aus einem Mangel an sozial vermittelten Ressourcen wie Bildung, berufliche Qualifikationen, Einkommen und Vermögen“ herrühren, vgl. nur Koller, Freiheit als Problem der politischen Philosophie, in: Bayertz (Hrsg.), Politik und Ethik (1996), S. 116. 422  Eingehend Dworkin, Taking Rights Seriously (1977; dt.: Bürgerrechte ernstgenommen, 1990); ders., Sovereign Virtue. The Theorie and Practice of Equality (2000; dt: Was ist Gleichheit?, 2011). 418

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Zwang, sondern notwendig auch Leistungsrechte. Dem Einzelnen steht demnach mit seinem Freiheitsanspruch ein Anspruch auf Beseitigung auch seiner internen Hindernisse (kognitiver oder materieller Art) zu, da er sonst ja nicht frei ist. In der Konsequenz führt dieser Ansatz zu einem individuell verbürgten Wohlfahrtsanspruch. Mit Blick auf die Privatrechtsordnung und in Anlehnung an die von Hayek formulierte Wiesel-Metapher lässt sich der mit diesem Konzept verwendete Freiheitsbegriff zum besseren Verständnis im vorliegenden Kontext auch als sozialer bzw. materialer (statt als nichtlibertärer) Freiheitsbegriff bezeichnen. So wie von einer „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums gesprochen wird, lässt sich für das Vertragsrecht dann auch von einer „Sozialpflichtigkeit“ der Freiheit sprechen: Freiheit (Privatautonomie) ist demnach schon noch das Fundament der Privatrechtsordnung, und jeder soll und darf schon im Grundsatz von seiner Freiheit Gebrauch machen, aber eben doch in sozialer Verantwortung, d. h. in Rücksicht auf die sozialen Hindernisse (ökonomische und kognitive) des (potenziellen) Vertragspartners. Prototyp dieser Entwicklung ist die bekannte marxistische Implikation, die, ausgehend von dem für die gesellschaftlichen Verhältnisse der Industrialisierung besonders prägnanten Fall der ‚Vertragsfreiheit‘ im Arbeitsrecht, in der Ungleichverteilung der Produktionsmittel ein soziales Hindernis für die Freiheit des Arbeitnehmers erblickt: Die Lohnarbeit beruht zwar vordergründig auf einer vertraglichen  – libertär gesprochen: freiheitlichen  – Basis. Aufgrund der ökonomischen Abhängigkeit ist die eine Seite jedoch der effektiven Freiheit des Neinsagenkönnens beraubt.423 Dieses Bild von der Unfreiheit der vermeintlich freien Welt des Kapitalismus hat nachhaltig gewirkt: „Nicht die Überzeugung, daß die Menschen je nach ihrer gesellschaftlichen oder ökonomischen Lage unterschiedliche Arten von Freiheit anstreben, plagt das Gewissen westlicher Liberaler, sondern … der Gedanke, daß die Minderheit, die die Freiheit besitzt, sie durch Ausbeutung oder jedenfalls Ausgrenzung jener großen Mehrheit erlangt hat, die diese Freiheit nicht besitzt.“424 Der Gedanke vom Verhandlungsungleichgewicht und der Vertragsparität hat selbst im 21. Jahrhundert noch immer hier seinen Ausgangspunkt: Vertrags423  Marx, Das Kapital I (1861/1989), 4.II.3. „Kauf und Verkauf der Arbeitskraft“, S. 189 ff.: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. (…) Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warentausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt, verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.“ 424 Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1969/1995), S. 204.

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freiheit ist nach diesem Ansatz nur dann gegeben, wenn auf keiner Seite signifikante interne oder soziale Hindernisse bestehen, die dazu führen, dass die Reichweite der eigenen Entscheidung (des abgeschlossenen Rechtsgeschäfts) nicht hinreichend überblickt wird. Diese Auffassung ist aktuell vorherrschend. In ihr treffen sich Schlaubergerkonjunktiv (hindsight bias), Informationsmodell und Paternalismus425: Rechtlich interveniert wird ja nur, wenn sich der individuelle Freiheitsgebrauch im konkreten Einzelfall ex post als ökonomisch nachteilig herausgestellt hat. Und mit dem Begriff des vorvertraglichen „Vertrauens“ oder dem Hinweis auf eine vorvertragliche Informationsasymmetrie sind dann sowohl interne als auch soziale Hindernisse hinreichend erfasst, um nachteilige Rechtsgeschäfte nachträglich wieder zu korrigieren. Mit Freiheit im klassischen Sinn, dem „Schutz der Entscheidungsfreiheit“ oder einem „Schutz der Privatautonomie“ hat das nichts (mehr) zu tun. In der Philosophie sprechen manche insoweit auch von der Freiwilligkeit sozialer Beziehungen.426 Freiheit liege demnach nur dann vor, wenn jemand etwas aus freiem Willen, nämlich frei-willig tut. Das ist freilich aus kantischer Perspektive eine Tautologie, weil hier der Wille immer schon als ein freier gedacht 425  Hierzu schon grundlegend Enderlein, Rechtspaternalismus im Vertragsrecht (1996). Der Begriff selbst ist mittlerweile zwar hypermodern, aber gleichwohl problematisch, er ist entweder seinerseits „liberal“, „libertär“, „hart“ oder „weich“, je nachdem wie stark der Eingriff in die Freiheit gewertet wird. Die Differenzierung geht zurück auf die Unterscheidung bei: Thaler / ​Sunstein, Libertarian Paternalism is not an Oxymoron, University of Chicago Law Review (2003), 1159 ff.; dies., Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness (2008), die dem klassischen libertären Liberalismus und seinem Gegenstück, dem klassischen Paternalismus (der zwingt), das Nudging (die sanfte Einwirkung durch Empfehlung: ein zartes „Anstupsen“) als Alternative gegenüberstellen. Dafür hat Thaler dann 2017 den Alfred-NobelGedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten (deutsche Übersetzung von „Nudge“ mittlerweile in 9. Aufl. 2017). Zu alledem dann etwa nur: Heiko Ulrich Zude, Paternalismus. Eine problemgeschichtliche Rekonstruktion (2004); ders., Paternalismus. Fallstudien zur Genese des Begriffs (2010); die Beiträge in: Michael Anderheiden (Hrsg), Paternalismus und Recht (2006), und in: Bijan Fateh-Moghadam, Grenzen des Paternalismus (2010); Wolfgang Bartuschat, Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates: Über Freiheit und Paternalismus (2010); Stephan Kirste, Harter und weicher Rechtspaternalismus, JZ 2011, 805–814; Horst Eidenmüller, Liberaler Paternalismus, JZ 2011, 814–821; Gunnar Folke-Schuppert, Zwischen Freiheit und Bevormundung. Das Konzept des libertären Paternalismus aus governancetheoretischer Perspektive, in: Utz Schliesky (Hrsg.), Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig (2011), S. 291–310; Michael Wohlgemuth, Klassisch-liberaler Paternalismus? Das Beispiel von F. A. von Hayek, in: Gadenne / ​Neck (Hrsg.), Philosophie und Wirtschaftswissenschaft (2011), S. 155–177; Hans-Bernd Schäfer, Homo Oeconomicus. Verhaltensökonomik und liberaler Paternalismus, in: Veith Mede (Hrsg.) Festschrift für Hans Peter Bull (2011), S. 301–323; Gebhard Kirchgässner, Sanfter Paternalismus, meritorische Güter und der normative Individualismus (2012); Johannes Drerup, Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit (2013); Robert Neumann, Libertärer Paternalismus. Theorie und Empirie staatlicher Entscheidungsarchitektur (2014); Richard Sturn, Libertärer Paternalismus und Vertragsfreiheit. Potential, Prämissen und Probleme im liberalen Verfassungsstaat, Austrian Law Journal 1 (2014), 48–59. 426 Tugendhat, Der Begriff der Willensfreiheit, in: ders., Philosophische Aufsätze (1992).

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ist. Allerdings wird so die Möglichkeit eröffnet, mittels eines scheinbar weniger problematischen und voraussetzungsreichen Begriffs eine neue Bedeutung in den libertär okkupierten Freiheitsbegriff zu transponieren. Denn Freiwilligkeit lässt sich nun mit neuen Prädikaten belegen, und das entscheidende Prädikat der Freiwilligkeit ist hier, dass eine einseitige Abhängigkeit die Wahlmöglichkeiten einschränkt: „(…) a person does not want to be coerced and does not want to be in onesided dependence for the reason that he then cannot choose as he wishes because of other people blocking the alternatives.“427 Nimmt man schließlich noch mit in die Betrachtung, dass für manche eine Freiheit des Willens ohnehin gar nicht existiert, dann wird deutlich, wie ubiquitär nun die sozialen (oder gar neurologischen) Hindernisse sind, die einen echten Freiheitsgebrauch notwendig immer unmöglich sein lassen. Der soziale Freiheitsbegriff verlagert also, ausgehend von sozialen Hindernissen, den Akzent verstärkt auf die tatsächlich (meistens nicht) bestehenden Wahlmöglichkeiten. „Entscheidend ist jetzt, was ein Subjekt tatsächlich tun kann.“428 Damit ist der Freiheitsbegriff für politische Wertungen und für Wertungen des „guten Lebens“ geöffnet. Denn es versteht sich von selbst, dass eine Freiheit in diesem Sinne, eine Freiheit ohne soziale Abhängigkeiten, eine Freiwilligkeit ohne eingeschränkte Wahl nicht existieren kann.429 Der formalen Freiheitsethik wird eine materiale (d. h. eine inhaltlich vorgeprägte) Freiheitsethik entgegen gesetzt. Das Spektrum der damit eröffneten Bewertungen der Freiheit ist groß. Es reicht von einer eher minimalistischen Beurteilung der Freiheitsausübung im Sinne der klassisch kantischen „Freiheitsethik“ (minimalistische Konsequenz) bis hin zu einer starken paternalistischen Bevormundung i. S. einer richtigen Lebensführung (paternalistische Konsequenz). Die minimalistische Konsequenz zielt auf eine Berechtigung, (externe) soziale Hindernisse durch Eingriff in die Freiheit desjenigen, der das soziale Hindernis verursacht, zu beseitigen (für das Zivilrecht also etwa: §§ 123, 138, 826 BGB). Wenn und soweit nämlich die Ausübung der Freiheit des einen zu einer grob ungleichen Verteilung von Hand427  Tugendhat, Liberalism, Liberty, and the Issue of Economic Human Rights, in: ders., Philosophische Aufsätze (1992). 428 Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 31. 429  Unabhängig von der Frage, ob man den damit einhergehenden sozialen Implikationen zustimmen will oder nicht; die spannende Frage ist doch, ob es hierfür (Gewährleistung sozialer Gleichheit, Gewährleistung und Sicherung eines sozialen Wohlstandes) des Freiheitsbanners bedarf; ob es notwendig ist, sich zur Durchsetzung weitergehender inhaltlicher Ziele des Begriffes der Freiheit zu bemächtigen. Es ist zwar – gerade in der Politik – ein regelmäßig anzutreffendes Übel, hat aber noch nie sonderlich zur Klärung von Problemen beigetragen, wenn man einen inhaltlichen Disput mittels ein und denselben, aber verschieden interpretierten Begrifflichkeiten auszutragen sucht. Offenbar ist bereits der Begriff der Freiheit spätestens seit der Aufklärung so idealistisch überhöht und mystifiziert, dass alles nur noch im Namen der Freiheit, nichts aber gegen sie durchsetzbar ist. Eine Rückbesinnung auf die anderen zwei Schlagworte der französischen Revolution würde zumindest beim Begriff der Freiheit für einige Entlastung und im politischen wie im juristischen Diskurs für mehr Klarheit sorgen.

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lungsspielräumen bei einem anderen führt, „verletzt ihre Einschränkung kein Recht auf Freiheit, das mit dem gleichen Recht eines anderen vereinbar wäre“430. Die Verletzung der Freiheit des einen durch die Freiheit eines anderen berechtigt zur Einschränkung der letzteren. Das Ziel ist der Schutz der Autonomie vor der Heteronomie. Soll dabei aber die Autonomie und Würde des Einzelnen als Person nicht gänzlich in Frage gestellt werden, so versteht es sich, dass erst die dolose Manipulation sanktioniert wird, nicht aber die culpose Interaktion (Gedanke des sog. „Vorsatzdogmas“ im BGB). Diese minimalistische Konsequenz beschränkt sich also allein auf ein konkretes externes soziales Hindernis: die Freiheit eines anderen. Sie folgt aus dem Gleichheitsaspekt in der Kant’schen Freiheitsdefinition.431 Ganz ähnlich ergibt sich übrigens selbst bei einem Egalitarian wie Ronald Dworkin, der die Gleichheit höher als die Freiheit achtet, die erlaubte Einschränkung einer dominierenden (überschießenden) Freiheit aus dem Verbot der Viktimisierung: „It denies that liberty is violated when no one is victimized, that is, when the value of the liberty citizens retain is at least as great as the value of the unconstrained freedom they would have had in a defensible distribution.“432 Demgegenüber führt die paternalistische Konsequenz dazu, dass auch dann, wenn niemand in seiner Freiheit beeinträchtigt (viktimisiert) wird, Eingriffe in die Freiheit geboten sein können. Die Bewertung konkreten Wollens führt hier dazu, dass der Wollende quasi vor den Folgen seiner eigenen Freiheit bewahrt werden soll und bewahrt werden darf. Ein Eingriff in die „Freiheit“ also mit rein internen (sozialen oder psychischen) Hindernissen begründet werden kann.433 Hier ist das Tor dann aufgestoßen, allein aufgrund einer inhaltlichen Bewertung einzelne Handlungen als frei oder unfrei zu deklarieren. Die Frage „Wozu frei?“ erhält dann schnell eine beliebig variable fremdbestimmte Antwort, indem die rechte Form des ‚wirklich freien Lebens‘ normativ vorgegeben ist, wobei der ‚scheinbare Zustand der Freiheit‘ als nur oberflächlich und nicht mit den rechten Zielen belegt als eigentliche Unfreiheit erkannt wird.434 Diese Mehrdeutigkeit von Freiheitsinhalten führt letztlich dazu, dass jeder, der eine solche Konzeption von der ‚richtigen Freiheit‘ vorlegt, mehr oder weniger nichts anderes tut, als die eigenen Wertpräferenzen von einem guten, erfüllten, sinnvollen etc. Leben seiner „Freiheitsordnung“ als Gerechtigkeit zugrunde zu legen. Diese Tatsache wird nicht dadurch vermieden, sondern letztlich methodisch sogar provoziert, wenn von sog. „Urzuständen“ mit quasi „idealen“  Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 33. ausf. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993). 432  Dworkin, What is Equality? Part 3: The Place of Liberty, Iowa Law Journal 1987 (73), 1–54; auch in: Was ist Gleichheit? (2011), S. 237 f. (hier als „Drangsalierungsprinzip“ übersetzt). 433 Vgl. Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 33 ff. 434  Vgl. Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, S. 211 ff., zu den negativen Implikationen der „positiven Freiheit“; der Schwerpunkt liegt dann nicht allein bei der Frage „Wozu bin ich frei?“, sondern „Wer bestimmt, was richtig ist; wozu ich frei bin?“ 430

431 Hierzu

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Personen („präferentiell ungeformten ‚Kindern‘“435) in einer „idealen“ Welt ausgegangen wird.436 Wir haben das Problem bereits anhand der Formel vom „Urteil aller billig und gerecht Denkenden“ und dem „Konsens der Anständigen“ betrachtet.437 Dieses „Festival des Kontrafaktischen“438 wird als „gerechtigkeitstheoretisch gebotene Strategie“439 damit gerechtfertigt, dass nunmehr erkannt werden könne, „welche Ungleichheiten in der realen Welt der Kompensation bedürfen oder grundsätzlich überwunden werden sollten“440. Es geht also um die Angleichung der gesellschaftlichen Verhältnisse an den eigenen Idealentwurf. Und wie der Zauberer das Kaninchen aus dem Hut, so deduziert der ‚Gerechtigkeitstheoretiker‘ mit mathematischer Folgerichtigkeit die bestehenden Missstände und notwendigen Individualrechte aus seiner „Folie fiktiver Gleichverteilung“441. Damit ist klar, worum es geht: Was als Versuch begann, die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zu vereinen („Wohlgeordnete Freiheit“), läuft auf eine Einschränkung der Freiheit zugunsten einer Gleichheit hinaus, die im Gewand der „Ressourcentheorien“ (Jeder hat Anspruch auf bestimmte Grundgüter: „primary goods“) die Tendenz in sich trägt, leicht ins Utopische abzuheben.442 Das ist dann wie bei einem Fürbittgebet oder beim Kofferpacken:443 Niemand und Nichts darf vergessen werden. Nur dass sich die Fürbitte demütig an die Gnade eines Allmächtigen wendet, während bei der Ressourcenverteilung ein (menschen‑)rechtlich verbürgter Anspruch auf Hindernisfreiheit eingeräumt werden soll.444 Hier, in der politischen Theorie des Wohlfahrtsstaates, realisiert sich das Heine-Wort vom „Himmel auf Erden“.445 Die Formel, die den Stand der Diskussion in der politischen Philosophie zusammenfasst, lautet – bei aller Variabilität der Variablen – dann etwa so: Wenn erst der gesunde (Anspruch auf „Handlungsfähigkeit“), diskursfähige, rational denkende (Notwendigkeit der „Autonomie“), selbstbewusste und von der Gemeinschaft geachtete (Anspruch auf „Selbstachtung“; Freiheit von „Demü435 Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 98; unter Bezugnahme auf Roemer, Theories of Distributive Justice (1996), S. 267. 436 Seit Rawls’ s „Theorie der Gerechtigkeit“ scheint das der unverzichtbare Ansatz zu sein. 437 Oben § 6 I.3.a). 438  Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend (1997). 439  Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 96. 440 Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 181. 441  Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 181. 442  Vgl. etwa die Wunschliste der Grundgüter bei Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 85 ff.: „Allgemeine Tauschmittel“, „Bildung und Informationen“, „Selbstachtung“, „Handlungsfähigkeit“ und „Lebensformen“. 443  Treffend Theodor Fontane, Unwiderbringlich, S. 59: „Nun, du weißt ja, was ich brauche; aber nicht zuviel, je mehr man mitnimmt, je mehr fehlt einem.“ 444  Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), insb. S. 116–121. 445  „Ein neues Lied, ein besseres Lied, o Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“ (Deutschland ein Wintermärchen).

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tigung“ und „Diskriminierung“) Mensch, mit solider Bildung, Entscheidungskompetenz (Anspruch auf „Bildung“ und „Informationen“) und natürlich ausreichender ökonomischer Grundlage (Anspruch auf „allgemeine Tauschmittel“) geschaffen wurde, dann herrscht vielleicht Gerechtigkeit auf Erden. Bei diesen Wohlfahrtstheorien, die sich hinter dem Schild des Liberalismus zusammenkauern, um nicht mit geschichtlich desavouierten kollektivistischen Utopien hervortreten zu müssen,446 schwingt noch ein zweiter Legitimationsanspruch mit. Man begnügt sich nicht mit dem Glauben, die Gleichheit der Freiheit für alle sei das Gerechtigkeitspostulat, auf das sich politische Philosophie beschränke, im Übrigen aber sei jeder für das Gelingen seines Lebens selbst verantwortlich. Vielmehr erlebt „die Ethik des guten Lebens“ eine Renaissance.447 Politische Philosophie erfasst insoweit neuerlich in immer stärkerem Maße den Privatbereich. Die Legitimation dieses Ansatzes ist die Schaffung eines „gerechten Gemeinwesens“ schlechthin. Aber darum geht es bei der politischen Konnotierung der „positiven Freiheit“ ja immer: die Realisierung, Reinhaltung, Wahrung o. ä. einer das einzelne Individuum transzendierenden größeren Entität (Familie, Rasse, Stand, Klasse, Volk, Staat, Gemeinschaft oder eben: die „gerechte Gesellschaft“). Dabei ist die Idee der erzieherischen Aufgabe des Staates und des Rechts nicht wirklich neu. Bereits in der Antike war dieser Gesichtspunkt Inhalt politischer Philosophie. Damals standen die vier Kardinaltugenden: Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit und Gerechtigkeit, im Mittelpunkt des idealen zoon politikon. Eine Gemeinschaft, in der diese Tugenden bei den einzelnen Individuen zu einem Höchstmaß ausgeprägt sind, würde die denkbar beste Gemeinschaft sein. Diese Idee besitzt – unabhängig von der Frage ihrer Realisierbarkeit und dem genauen Inhalt der auszubildenden Tugenden – eine nicht von der Hand zu weisende Attraktivität und Plausibilität. Wenn der Mensch dem anderen Menschen kein lupus mehr ist, sondern ein durch und durch zum sittlichen Gebrauch seiner Freiheit erzogenes Glied der Gemeinschaft, so wird die Notwendigkeit staatlicher Reglementierung sich auf ein Minimum beschränken können und am Ende ganz entbehrlich sein. Diese „Theorie vom Absterben des Staates“ hat zunächst Fichte in seiner christlich geprägten Staatslehre formuliert, bevor sie von dort zu einer Grundlehre des revolutionären kommunistischen Programms geworden ist: 446 Erfreulich anders die Vertreter des Kommunitarismus, die offen klarlegen, dass nicht das Individuum und dessen Freiheit, sondern Gemeinschaftswerte im Mittelpunkt einer gerechten Gesellschaft stehen. Hier wird der Freiheitsbegriff wieder von allem inhaltlichen Ballast entlastet und die maßgeblichen Werte werden dort gesucht und benannt, wo sie ursprünglich loziert sind. Freilich ist die sozialphilosophische Debatte im US-amerikanischen Kontext auch weniger stark von historischen Rücksichten auf gescheiterte Gemeinschaftsutopien beeinträchtigt. Deutlich für die Rehabilitierung eines historisch desavouierten Konzepts aber etwa Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus – Versuch einer Aktualisierung (2015). 447  Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), S. 57 ff.; zuletzt etwa Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen (2014).

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„Indem die Zwingenden und Regierenden ohne alle Beschäftigung blieben, und alles schon getan fänden, wenn sie es gebieten, und unterlassen fänden, wenn sie es verbieten wollten, durch die Kraft der allgemeinen Bildung … Auf diese Weise wird irgend einmal irgendwo im Reiche des Christenthums die hergebrachte Zwangsregierung allmählich einschlafen, weil sie durchaus nichts mehr zu tun findet. … So wird der dermalige Zwangsstaat ohne alle Kraftäußerung gegen ihn an seiner eigenen, durch die Zeit herbeigeführten Nichtigkeit ruhig absterben.“448

Dieser anarchistische Traum wird vermutlich niemals ganz ausgeträumt werden, und er lässt sich unter diesem Gesichtspunkt sogar wunderbar mit den Forderungen des modernen nichtlibertären Liberalismus verbinden: Wenn nur endlich alle Menschen so dem Idealtypus von Mensch entsprechen, dann sind sie auch wirklich frei und niemand kann ernsthaft etwas dagegen haben. Soviel zur Utopie. Die entscheidende Frage bereits auf theoretischer Ebene ist freilich der genaue Zuschnitt dieses Idealtypus. Hier liegt der Kern der Gerechtigkeitsdebatte seit Rawls; denn eben hier unterscheiden sich die Gerechtigkeitstheorien der Neuzeit nicht nur ganz unerheblich von denen der Antike, sondern auch untereinander. Und wir sind wieder beim alten Problem der Gerechtigkeit (Was ist das?) und mithin in der Tat beim „frühen“ Wittgenstein: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“449

Da nun freilich auch der „späte“ Wittgenstein an der Rigorosität seines Schweigegebots nicht mehr festgehalten hat, muss man sich nicht verwundern, dass die Rede von und über Gerechtigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, spätestens seit John Rawls seine „Theorie der Gerechtigkeit“ vorgelegt hat, nicht mehr abgerissen ist.450 Das Problem dieser Debatte kennen wir bereits: Es ist erneut der Kampf um die maßgeblichen, das Gemeinwesen determinierenden politischen Prinzipien: „Was eigentlich hat mehr Gewicht, was hat Vorrang in dieser Trinität der großen politischen und rechtlichen Leitwerte? Ist Freiheit wichtiger als Gleichheit oder umgekehrt? Steckt in der Brüderlichkeit alles Positive der Gemeinschaft, der auch die Freiheit und Gleichheit zu dienen haben? Wo in diesem Dreiklang fühlt sich die Gerechtigkeit eigentlich am besten aufgehoben? Stellt sich Gerechtigkeit dort ein, wo die Menschen frei gelassen werden oder dort, wo die Gemeinschaft für Gleichheit der Lebensbedingungen sorgt? Die heute in der Sozialphilosophie vorherrschende Antwort, sei es auf dem Campus von Harvard oder dem von Oxford, sei es in Frankfurt oder in Berlin, heißt ‚Gleichheit‘. Dies hat enorme Konsequenzen für das Umfeld, nicht nur für die Verfassungsauslegung, sondern für die gesellschaftliche und politische Leitvorstellung, was sozial gerecht, was Gerechtigkeit überhaupt sei.“451

448 Fichte,

Staatslehre (1813), S. 289 f.  Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (1921), Satz 7. 450  Vgl. hierzu nur die Einleitung bei: Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993). 451 Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit (2005), S. 111 f. 449

III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur

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Diese Gerechtigkeit bereits im Einzelfall zu ermöglichen, ist für das Privatrecht u. a. die Aufgabe der culpa in contrahendo: Verpflichtungen erwachsen, wo ein ‚libertärer‘ Liberalismus keine sieht, und Bindungen werden gelöst, wo jener noch welche annimmt. Das Problem dieser Mischung aus libertärem und egalitärem Liberalismus – oder, um bei den alten Begrifflichkeiten zu bleiben: diese Mischung aus Liberalismus und Sozialismus  – nennt man dann „Einzelfallgerechtigkeit“.452 Und es ist sinnvoll, davon zu reden und nicht darüber zu schweigen, dass sowohl die philosophischen wie auch die dogmatischen Probleme im Grunde immer noch dieselben wie vor über 100 Jahren sind. Man erachtet es freilich als Fortschritt, wenn sie heute anders bewertet oder doch wenigstens anders benannt werden. Mit der Metapher der „Freiheit“ lassen sich gleichwohl weder eine Haftung aus culpa in contrahendo im Allgemeinen noch Aufklärungspflichten im Besonderen rechtfertigen453: „Freiheit ist Freiheit – und nicht Gleichheit oder Fairneß oder Gerechtigkeit oder Kultur oder menschliches Glück oder gutes Gewissen.“454 3. Der Weisheit letzter Schluss: Rückkehr der culpa! „Eine noch viel größere Ausdehnung erfährt aber der Dolusbegriff dadurch, daß er zum Gegensatz der Bona fides wird. In dieser Antithese bedeutet Dolus nicht mehr die Verletzung konkreter Gesetze oder subjektiver Rechte, sondern jedes Verhalten, welches dem abstrakten Prinzip von Treue und Redlichkeit widerspricht.“ Ludwig Mitteis, 1908455

a) Rechtsethik: „Redlichkeit“ und „Verkehrsschutz“ „Rechtspolitisch liegt allen diesen Tatbeständen der allgemeine Rechtsgedanke der Verkehrssicherheit und Redlichkeit im Geschäftsleben zugrunde (…).“ Clasen, 1952456

Karl Larenz (1975)457 hat, in offensichtlicher Anlehnung an Thiele (1967) und Frotz (1969), gerade im Verkehrsschutz die Grundlage der culpa in contrahendo erblicken wollen: Derjenige, der mit einem anderen eine Sonderverbindung eingehen wolle, dürfe erwarten, „es mit einem redlich denkenden, sich loyal verhaltenden Partner zu tun zu haben“. Diese „allgemeine Redlichkeitserwartung“ verdiene den Schutz der Rechtsordnung, „weil ohne sie ein reibungsloser Ge-

 Zum Problem ausf. unten § 9 (Einzelfallgerechtigkeit).  Ausf. Benedict, Aufklärungspflichten (2006), S. 187 ff. 454 Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe (1969/1995), S. 205. 455  Römisches Privatrecht I (1908), S. 317. 456  Die Haftung für Vertrauensschaden, NJW 1952, 14. 457 FS Ballerstedt (1975), S. 397/414; ders., Schuldrecht I (ab der 11. Aufl. 1976) § 9 I. 452 453

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schäftsverkehr nicht möglich wäre“. Frotz hatte die Sache noch etwas drastischer so formuliert: „… müßte jeder Verkehrsteilnehmer damit rechnen, bis zur Grenze der deliktischen Verantwortung beherrsche die Rücksichtslosigkeit und Unbekümmertheit als legitimes Prinzip die Anbahnung rechtsgeschäftlicher Sonderverbindungen, so würde der rechtsgeschäftliche Verkehr, der praktisch regelmäßig Vorstadien durchläuft, untragbar durch ängstliche Vorsicht und Mißtrauen behindert.“458

Dieser Gedanke ist dann insbesondere von Anhängern der ökonomischen Analyse, namentlich von Lehmann (1981)459 und zuletzt von Fleischer (2000/2001)460, aufgenommen und mit dem Gedanken der Transaktionskosten untermauert worden.461 Das klingt auf den ersten Blick sehr modern, fortschrittlich und ohnehin überzeugend; frappiert aber beim zweiten Blick bereits deshalb, weil es doch auch schon der Verkehrsschutz gewesen ist, der Jhering gegen Mommsen und eine allgemeine Haftung für culpa lata hat ausrufen lassen: „Wohin würde es führen, wenn (…)“462 und es mithin ebenso der Gedanke des Verkehrsschutzes gewesen ist, der gegen (!) eine allgemeine Haftung für Erklärungsfahrlässigkeit gesprochen hat. Das bedarf hier keiner Wiederholung, aber der Erinnerung.463 Denn in der Tat geht es bei der „Redlichkeit im Verkehr“ auch nicht um etwas ganz Neues, sondern man entdeckt bei genauerem Hinsehen altbekannte Zusammenhänge. Wir sind hier nämlich mit dem Gedanken von Loyalität, Redlichkeit und Verkehrsschutz als besonderen Formen institutionalisierten Vertrauensschutzes neuerlich bei der alten Debatte um das circumscribere der Vertragsanbahnung, der Differenzierung zwischen dolus malus und dolus bonus und der Frage, ob es eine „fahrlässige Illoyalität“ geben könne, angelangt. Der Kreis der dogmengeschichtlichen Betrachtung schließt sich: Es geht, wenn von „Redlichkeit“ und „Verkehrsschutz“ die Rede ist, immer noch um den dolus im Geschäftsverkehr!464 Ob den Geschäftsverkehr die allgemeine Erwartung in die „Redlichkeit“ oder an den „Eigennutz“ umtreibt, hängt ganz maßgeblich von der herrschenden 458 GS Gschnitzer (1969), S. 163/173 f.; ähnlich Welser, Das Verschulden beim Vertragsschluß im östereichischen bürgerlichen Recht, ÖJZ 1973, 281/284: „Für die Statuierung von Sorgfaltspflichten in contrahendo spricht also der Gedanke der Ökonomie des rechtsgeschäftlichen Verkehrs oder, allgemeiner formuliert, die Notwendigkeit des Aufbaues einer funktionstüchtigen, privaten Rechtsgeschäftsordnung.“ 459  Lehmann, Haftung für Werbeangaben, NJW 1981, 1233 ff.; ders., Vertragsanbahnung durch Werbung (1981), S. 307 ff. 460  Fleischer, Konkurrenzprobleme, AcP 200 (2000), 91/101 ff.; inhaltsgleich ders., Informationsasymmetrie (2001), S. 420 ff. 461 Hierzu sogleich näher unten 3.b). 462  Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 12 f. 463  Oben § 1 III.1., § 3 III.1. 464 Hierzu bereits oben § 2 II.

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normativen Bewertung der jeweiligen Motivation im jeweiligen Rechtsverhältnis ab. Dass das römische Recht und mit ihm die gemeinrechtliche Zivilrechtswissenschaft hier aus guten Gründen zwischen echten Vertrauensverhältnissen (insbesondere Auftrags‑ und Geschäftsbesorgungsverhältnissen) und Verhältnissen mit gegenläufigen Interessen (Kauf‑ und Mietverhältnissen) unterschieden hat, haben wir bereits gesehen. Es entsprach einmal mehr der historischen Methode, Recht aus differenzierter Anschauung der Verhältnisse zu gewinnen und nicht aus allgemeinen Prinzipien zu deduzieren. Auch hier trifft bereits Jhering den Kern des Problems: „Bei gewissen Verträgen, wie z. B. Kauf und Miethe, liegt für beide Theile das Motiv ihrer Eingehung in dem eigenen Interesse, und hier ist jeder Theil berechtigt, sich lediglich durch sein Interesse leiten zu lassen, auch wenn er weiß, daß der Vertrag dem Interesse des Gegners nachtheilig ist; jeder sorgt hier für sich selber und darf daßelbe vom Gegner voraussetzen. Die bloße Thatsache der wissentlichen Übervortheilung als solche, d. h. wenn sie nicht durch absichtliche Erregung oder Benutzung des fremden Irrthums erziehlt ist, begründet daher in diesen Verhältnissen keinen dolus: l. 37 de dolo (4, 3), l. 19 pr. de aed. ed. (21, 1), l. 43 pr. de cont. emt. (18, 1), und die oben citirten Stellen. Ganz anders dagegen bei denjenigen Vertrags‑ oder Obligationsverhältnissen, welche wie das Mandat, die Vormundschaft und negotiorum gestio die Führung fremder Geschäfte zum Gegenstand haben. Bei ihnen liegt das Motiv zur Eingehung des Verhältnisses in dem Interesse des Geschäftsherrn, und dieß Interesse bildet für den Geschäftsführer den maßgebenden Gesichtspunkt, durch den er sich bei seiner ganzen Thätigkeit leiten lassen soll. Indem er die Obligation contrahirt, verzichtet er darauf in diesem Verhältniß, von dem ihm etwa zugesicherten Lohn (Honorar, Provision) abgesehen, sein eigenes Interesse zu verfolgen, übernimmt vielmehr die Verpflichtung, sich lediglich durch das fremde Interesse leiten zu lassen, bei seiner ganzen Geschäftsführung in derselben Weise zu verfahren, als beträfe dieselbe seine eigenen Angelegenheiten. Ohne diese Haftung würden jene Verhältnisse ihren Zweck vollkommen verfehlen, sie würden dem Geschäftsführer die Möglichkeit eröffnen, das Vertrauen, welches ihm geschenkt ist, in gröbster Weise zu missbrauchen; das Mandat, die Vormundschaft würde ein Freibrief für die Unredlichkeit, eine Schlinge für den Geschäftsherrn sein. Eben darum stellen die römischen Juristen die obige Regel lediglich für den Kauf und die Miethe auf: in emendo et vendendo … in locatioribus et conductionibus l. 22 § 3 Loc. (19, 2). Hier ist sie ungefährlich, weil jeder Theil weiß, daß er sich vorzusehen hat. Dagegen bei den genannten Vertrauensverhältnissen überlässt der Geschäftsherr diese Fürsorge für sich gerade dem andern Theil. Darum stempelt das römische Recht mit gutem Grunde das Verfahren eines Geschäftsführers, der seine Stellung zu seinem eigenen Vortheil ausbeutet, zu einem dolosen …“465

Inwieweit der dolus bonus vom dolus malus zu unterscheiden und in welchem Maße ein cicumscribere zulässig sein darf, ist eine alte und nicht eben leicht zu beantwortende Frage. Hier liegt seit jeher ein Problem, das man nicht leichthin dadurch beseitigen kann, dass die eigene normative Präferenz zu einer allgemeinen „Erwartungshaltung“ erklärt wird, während die beteiligten Verkehrskreise

465  Jhering, Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit, Archiv für practische Rechtswissenschaft, 4 n. F. (1867), 225/248 ff.

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die Sache häufig ganz anders beurteilen. Wenn insoweit Canaris für den verminderten Schutz des Vermögens in einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung auch darauf abstellt, dass hier sogar „vorsätzliche“ Zugriffe auf das Vermögen des Anderen akzeptiert seien,466 so beschreibt dies einerseits das Problem sehr treffend, ist andererseits inhaltlich aber auch gar nichts anderes als der Hinweis auf einen durchaus zulässigen dolus im Geschäftsverkehr, nämlich den dolus bonus des klassischen römischen Rechts. Dass dieser aus erwünschter Konkurrenz erlaubte Vorsatz natürlich den vorvertraglichen Bereich betrifft, bedarf hier keiner erneuten Betonung. Wichtig ist an dieser Stelle, dass demgegenüber die normative Behauptung von einer allgemeinen Redlichkeits‑ und Loyalitätserwartung entweder die Möglichkeit eines dolus bonus  – oder sagen wir es deutsch: die Möglichkeit, das eigene Vermögen auf Kosten des Vermögens eines anderen zielgerichtet zu vermehren  – ganz generell missbilligt, oder dass der Redlichkeitsschutz, d. h. der bestehende Schutz vor einem dolus malus im Geschäftsverkehr ohne nähere Reflexion als unzureichend angesehen wird. Betrachten wir auf der Grundlage einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung die zweite Möglichkeit allein für diskutabel, dann sind wir ganz notwendig erneut bei der bereits im 19. Jahrhundert geführten und hinreichend ausgeleuchteten Debatte um eine generelle Haftung für culpa. Insbesondere der Hinweis auf den loyalen Geschäftspartner verrät nun allerdings, dass Larenz hier schwerlich das Rechte trifft, sondern bereits sprachlich auf dolose vorvertragliche Verletzungen abstellt; denn wie gesehen, war es ja gerade die Einsicht des Gesetzgebers zu § 826 BGB, dass Loyalität nur vorsätzlich verletzt werden kann.467 Ginge es also um vorvertragliche Loyalität, so bedürfte es einer culpa in contrahendo nicht, es genügte die positiv bestehende Haftung für dolus. Mit dem Hinweis auf eine allgemeine „Redlichkeitserwartung“ sollte allerdings (über Loyalitätsverletzungen hinaus) eine Haftung für culpa (in contrahendo) – und das heißt doch wohl: das weite Feld vorvertraglicher Erklärungsfahrlässigkeit – begründet werden. Nun mag, wer immer will, bei Fahrlässigkeit der einen Seite die Fahrlässigkeit der anderen Seite nachlässig vernachlässigen und statt von Culpacompensation von Loyalitätsverletzung, mangelnder „Redlichkeit“ oder „Rücksichtslosigkeit“ reden. Bei genauerer Betrachtung erscheint es jedoch bereits als eine sprachliche Zumutung, diese Begriffe (Unredlichkeit, Loyalitätsverletzung etc.) mit dem Begriff der Fahrlässigkeit zu assoziieren.468

466  Oben II.2.c): Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/37 („daß der eine Bürger Vermögensinteressen des anderen beeinträchtigen darf – und zwar häufig sogar vorsätzlich“). 467 Vgl. oben § 3 III.1. 468  Dass die Haftung für culpa mit einer auf dolus abzielenden Rhetorik begründet wird, lässt sich recht häufig beobachten. Erinnert sei hier nur an Erman, Verhalten bei Vertragsverhandlungen, AcP 139 (1934), 273/301, der mit seinen „Hauptpflichten“ („Verpflichtung zur

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Hier wird also die Evidenz dolosen Verhaltens beschworen, um eine Haftung für culpa zu begründen. Es ist daher sinnvoll, sich mit Jhering an die Tragweite einer richtig verstandenen Haftung für dolus zu erinnern, um zu erkennen, dass der Hinweis auf eine legitime „Redlichkeitserwartung“ im Geschäftsverkehr wenig mehr als eine rhetorische Formel ist; denn bei der Haftung für dolus geht es ja bereits „um eine Handhabung … der einfachsten Grundsätze der Ehrlichkeit“: „Wer wissentlich einen Andern durch Vorspiegelung falscher Umstände zur Eingehung eines ihm nachtheiligen Geschäftes inducirt, von dem sagt jeder ehrliche Mann: er hat ihn betrogen, und das römische Recht schließt sich dem an, ja es geht in der sittlichen Mißbilligung seines Verfahrens sogar so weit, daß es bei der act. doli und den Klagen aus Vertrauensverhältnissen (act. mandati, tutelae, negot. gest., depositi, pro socio) den verurtheilten Beklagten mit Infamie belegt. Kann der deutsche Handel bei solchen Grundsätzen nicht bestehen, so ist das nur ein Beweis, daß er auf bedauerliche Abwege gerathen ist, und daß die deutsche Rechtsprechung die dringendste Pflicht hat, ihn auf den Weg der einfachen Ehrlichkeit zurückzurufen. Sollte es dahin kommen, daß unsere Rechtsprechung in Fällen, wie dem vorliegenden, Anstand nehmen würde, den Vorwurf des dolus auszusprechen, wir wüssten nicht, wann sie noch einen dolus statuiren wollte; man könnte geradezu die act. doli aus dem Katalog der Klagen streichen.“469

Die These vom Verkehrsschutz durch culpa in contrahendo steht so bereits in ihrem ethischen und dogmatischen Ausgangspunkt auf krummen Beinen. Wenn man im Folgenden noch berücksichtigt, dass der Gedanke des Verkehrsschutzes auf die „Leichtigkeit und Sicherheit“ des Verkehrs abzielt und insoweit nur eine besondere Ausprägung des Gedankens der Rechtssicherheit darstellt, dann macht der casus Lachen: Ausgerechnet das Institut der Einzelfallgerechtigkeit soll zugleich Sicherheit im Recht und im Verkehr gewähren. Die culpa in contrahendo versöhnt die Antipoden der Rechtsphilosophie? Wie das genau funktioniert, hat denn auch noch niemand genauer dargelegt. Insbesondere von Vertretern der ökonomischen Analyse wird insoweit auch nur die eine Hälfte der Geschichte erzählt:

Unterlassung inkorrekten Verhaltens“) der culpa in contrahendo bereits sprachlich die Evidenz dolosen Handelns bemüht: „Abzielen“ und „Hinhalten“ sind Begriffe, die sich kaum als fahrlässige Handlungen ansehen lassen. Ebenso ist ein „fahrlässiges Hinarbeiten auf ein ungültiges Geschäft“ offenbar mehr als nur sprachliches Ungeschick (vgl. oben § 6 I.3.a)). 469  Jhering, Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit, Archiv für practische Rechtswissenschaft, 4 (1867), 225/271 f.

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b)  Mikroökonomische Makrojurisprudenz: Reduzierung von Transaktionskosten? „Die sogenannte ‚materialistische Geschichtsauffassung‘ in dem alten genial-primitiven Sinne etwa des kommunistischen Manifests beherrscht heute wohl nur noch die Köpfe von Laien und Dilletanten. Bei ihnen findet sich allerdings noch immer die eigentümliche Erscheinung verbreitet, daß ihrem Kausalbedürfnis bei der Erklärung einer historischen Erscheinung solange nicht Genüge geschehen ist, als nicht irgendwie und irgendwo ökonomische Ursachen als mitspielend nachgewiesen sind (oder zu sein scheinen); ist dies der Fall, dann begnügen sie sich wiederum mit der fadenscheinigsten Hypothese und den allgemeinsten Redewendungen, weil nunmehr ihrem dogmatischen Bedürfnis, daß die ökonomischen ‚Triebkräfte‘ die ‚eigentlichen‘ und einzig wahren, in letzter Instanz überall Ausschlag gebenden seien, Genüge geschehen ist.“ Max Weber, 1904470

Die entsprechende Kurzformel liest man bereits 1981 bei Michael Lehmann: „Nur eine angemessene zivilrechtliche Haftung für vertragsanbahnende Informationen kann in einer hochentwickelten Industriegesellschaft die Transaktionskosten von Austauschgeschäften senken. Dies ist ökonomisch gesprochen der Rechtsgrund für die Haftung für vorvertragliches Verschulden.“471

Eine inhaltsgleiche, aber deutlich ausführlichere makrojuristische Argumentation findet sich zuletzt bei Holger Fleischer, der ebenso wie Lehmann die Kombination von Verkehrsschutz und Transaktionskosten als institutionentheoretische Fundamentierung der culpa in contrahendo und als Letztbegründung für Informationspflichten vorträgt:472 Vorvertragliche Informationspflichten dienten 470 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftstheorie S. 146/167. 471  Lehmann, Vertragsanbahnung durch Werbung (1981), S. 307; ders., Die bürgerlichrechtliche Haftung für Werbeangaben, NJW 1981, 1233/1239 ff. 472  Fleischer, Konkurrenzprobleme, AcP 200 (2000), 91/101 ff.; ders., Informationsasymmetrie (2001), S. 420 ff.; ein anderer, deutlich einfacherer ökonomischer Ansatz findet sich bei Eidenmüller, Vertrauensmechanismus und Vertrauenshaftung, ARSP Beiheft 74 (2000), S. 117/138, der zunächst in klassisch liberaler Lesart die Eigenverantwortung bei Vertrauensinvestitionen betont („Eigenverantwortlichkeitsprinzip“) und das „Effizienzprinzip“ in der Vertrauenshaftung im Gedanken des „cheapest cost avoiders“ sehen möchte: Eine Vertrauenshaftung komme nur dann in Betracht, wenn die Eigenverantwortung des Vertrauensgebers gestört sei und „der Vertrauensnehmer besser (zu geringeren Kosten) als der Vertrauensgeber in der Lage ist, das Risiko einer Vertrauensenttäuschung zu eliminieren (Effizienzprinzip)“. Die Frage der geringeren Kosten zielt auf den Einzelfall und gehört damit in eine genauere Fallgruppenbetrachtung, d. h. in den dogmatischen Teil. Generell nur soviel: Der Gedanke vom „cheapest cost avoider“ kommt, wenn er nicht schlicht auf eine Umverteilung (Wer kann einen Schaden besser kompensieren?) hinausläuft, vor allem in Konflikt mit der Informationsökonomik, wonach Informationen / ​Wissen selbst einen Wert darstellen und es für die Gestaltung des Rechtes daher darum geht, sowohl Anreize für die Informationsbeschaffung als auch für die Informationsverbreitung zu setzen. Der hieraus resultierende Zielkonflikt (Informationsdilemma) würde durch den Gedanken des cheapest cost avoiders wohl etwas zu einseitig zugunsten der Informationsverbreitung entschieden: Der Anreiz, Informationen zu beschaffen, fiele fort. Auch hier bedarf es aber letztlich einer gründlicheren Analyse der Fallgruppen; so hat etwa die

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demnach „nicht nur dem Schutz individuellen Vertrauens, sondern auch und in erster Linie der Funktionsfähigkeit des Geschäftsverkehrs“.473 Fleischer bezieht sich unter Verwendung des Begriffs vom „Systemvertrauen“ ausdrücklich auf die seit Kenneth Arrow als „gesichert“ geltende Ansicht, „daß standardisierte Verhaltenserwartungen im Stadium der Vertragsanbahnung höchst effizient sind“.474 Aus dem individuellen Vertrauen in die Redlichkeit des einzelnen Verhandlungspartners wird ein „generalisiertes Vertrauen in die Privatrechtsordnung“: „Vertragsschlußbezogene Informationspflichten lassen sich auf dieser Grundlage nicht nur individuell, sondern auch aus der Optik des Gesamtinteresses rechtfertigen. Beide Teilaspekte werden in der Formel von der Reibungslosigkeit des Geschäftsverkehrs trefflich eingefangen, die Juristen475 und Ökonomen476 gleichermaßen als normativer Orientierungspunkt dient.“477

Schauen wir genauer hin: Die These von der normativ gebotenen Senkung der Transaktionskosten ist eine Konsequenz des Coase-Theorems. Die genaue Fassung dieses Theorems ist in der Literatur nicht ganz eindeutig; denn immerhin hat es der Meister und Urvater der ökonomischen Analyse, Ronald Coase, vorsorglich nicht selbst formuliert. Einigkeit besteht wohl über folgenden Kernsatz: In einer Welt wohldefinierter und kostenlos übertragbarer Rechte stellt sich stets dasselbe effiziente Endergebnis ein, wie immer die ursprüngliche Verteilung der Handlungsrechte aussehen mag. Die Basis dieses Theorems ist dabei die Annahme, dass unter rationalen Teilnehmern (homines oeconomici) immer derjenige einen Gegenstand (Recht) erwirbt, der es am höchsten wert-schätzt.478 An Frage der Haftung bei einem formunwirksamen Grundstückskaufvertrag wenig bis nichts mit dem Gedanken des cheapest cost avoiders zu tun; ausf. hierzu Benedict, Aufklärungspflichten (2006). 473  Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 422; vgl. schon Cooter / ​Ulen, Law and Economics (2nd ed. 1996), S. 84: „In general, public information facilitates agreement by enabling the parties to compute reasonable terms for cooperation. Consequently, negotiations tend to be simple and easy when information about the threat values and the cooperative solution is public.“ 474 Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 423, unter Bezugnahme auf Arrow, The Organization of Economic Activity, in: Collected Papers of Kenneth Arrow Bd 2, S. 133/151; Beckert, Grenzen des Marktes – Die sozialen Grundlagen wirtschaftlicher Effizienz, S. 35 ff., 69 ff. 475 Vgl. Larenz, Schuldrecht AT, § 9 I a = S. 106. 476  Vgl. Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, S. 1, 20 ff., 30 ff., der die Transaktionskosten als Reibungen beim Leistungsaustausch auf Märkten definiert und den Grundgedanken der Transaktionskostentheorie dahin umreißt, institutionelle Regeln (Vertragsformen, Rechtssystem) zu entwickeln, mit deren Hilfe sich die Reibungsverluste auf ein Mindestmaß reduzieren lassen. 477 Fleischer, Informationsasymmetrie (2001). 478  Ronald H. Coase, The Problem of Social Cost, 3 J. L.&Econ. 1 (1960); zur umfangreichen Sekundärliteratur: Assmann / ​Kirchner / ​Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 130; Schäfer / ​Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Rechts, S. 104. Der Begriff vom Theorem geht auf Stigler (The Theory of Price, 1966, S. 113) zurück und wird dort so gefasst: „The Coase theoreme asserts that under perfect competition private and social costs will be equal.“; Cooter / ​Ulen, Law and Economics (2004): „When transaction costs are zero, an efficient use of

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diesem Theorem ist insoweit zunächst nicht sehr viel Neues. Ausgangspunkt ist die bereits von Adam Smith postulierte „unsichtbare Hand“, welche die Tauschgeschäfte (nunmehr: „Transaktionen“) mit ökonomischer Logik und Sicherheit in die richtige Richtung lenkt. Rudolf v. Jhering hat hier sehr sinnig den Begriff von der „ökonomischen Vorsehung“ geprägt: „Der Tauschverkehr ist demnach die Form, um jede Sache dahin zu führen, wo sie ihre Bestimmung erreicht. Keine Sache hält sich auf die Dauer da, wo sie ihre ökonomische Bestimmung, dem Menschen zu dienen verfehlt, jede sucht ihren richtigen Eigentümer auf … Der Tauschverkehr lässt sich als die ökonomische Vorsehung definieren, welche jedes Ding (Sache, Arbeitskraft) an den Ort seiner Bestimmung bringt.“479

Das Neue bei Ronald Coase ist demgegenüber die „Entdeckung“ der Transaktionskosten, die in der realen Welt effizienten Transaktionen entgegenstehen – oder anders formuliert: die der „ökonomischen Vorsehung“ bzw. „unsichtbaren Hand“ zum Teil unüberwindliche Hindernisse bereiten. In der realen Welt gibt es nämlich weder 1.) „wohldefinierte“ noch 2.) „kostenlos übertragbare“ Rechte. Die Programmatik, die man im Anschluss an Coase aus dieser Tatsache zu begründen sucht, ist die Aufgabe an das Recht, für effiziente Transaktionen schließlich selbst zu sorgen. Das Recht müsse jedenfalls dort, wo die Transaktionskosten zu hoch seien, der „ökonomischen Vorsehung“ nachhelfen. Die „unsichtbare“ wird so gleichsam zu einer rechtlich vorgezeichneten Hand: Steuerung effizienter Transaktionen durch das Recht. Es ist leicht erkennbar, dass dies die Initialzündung für die ökonomische Analyse des Rechts schlechthin ist. Das eine Extrem in den Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis ist der Gedanke der Planwirtschaft. Etwas gemäßigtere Konsequenzen zieht nun die resources results from private bargaining, regardless of the legal assignment of property rights.“; Schäfer / ​Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse (2005), S. 102: „Coase Theorem: In einer Gesellschaft, in der (1) die Handlungsrechte eindeutig spezifiziert und die aus ihnen abgeleiteten Handlungsmöglichkeiten frei übertragbar sind und in der (2) die Transaktionskosten, d. h. die Kosten der Information, der Koordination bei der Übertragung von Rechten und die der Durchsetzung von Rechten gleich null sind, muss die Allokation der Ressourcen identisch und Pareto-effizient sein, wie immer die originäre Verteilung der Handlungsrechte aussehen mag. Das Coase-Theorem beschreibt also die Bedingungen, unter denen beispielsweise die Zahl der Unfälle mit und ohne Produzentenhaftung gleich groß ist, in der bei alternativen Regelungen über die Mängelhaftung die Anzahl der auftretenden Mängel unverändert bleibt.“ In der Sache geht es letztlich um zweierlei: 1.) Methodologisch: Die individuelle Aushandlung von „Rechten“ und Pflichten durch rationale Teilnehmer wird ganz unabhängig von der Frage, wie das Recht die konkrete Situation beurteilt, zu einer effizienten Lösung führen. 2.) Inhaltlich programmatisch: Die Rechtsgestaltung hat sich auf die Senkung von Transaktionskosten zu konzentrieren, um die individuelle Gestaltung der Rechtsverhältnisse zu befördern (vgl. Cooter / ​Ulen, Law and Economics (1996), S. 82: „The Coase theorem states abstractly what our example showed concretely: if transaction costs are zero, then we do not need to worry about specifying legal rules regarding property in order to achieve efficiency. Private bargaining will take care of such issues as which things may be owned, what owners may and may not do with their property, and so on.“). 479 Zweck im Recht I (1877), S. 69, passim.

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hier besonders interessierende Transaktionskostenökonomik. Ihre Programmatik ist nach den genannten Prämissen vergleichsweise bescheiden zu nennen: Senkung der Transaktionskosten. Um „unsichtbare Hand“ und „ökonomische Vorsehung“ nur recht wirksam in einem weitgehend freien Markt werden zu lassen, muss die reale Welt der idealen Welt (ohne Transaktionskosten) angenähert werden. Die Aufgabe des Rechts beschränkt sich mithin darauf, für niedrige Transaktionskosten zu sorgen: „The normative Coase theorem: Structure the law so as to remove the impediments to private agreements.“480

Damit dürfte der Blick für das oben genannte Problem der Verkehrssicherheit frei sein: Man hält Informationspflichten deshalb für begründet, weil sie geeignet seien, Transaktionskosten zu senken. In der Tat senkt man mit derartigen Pflichten auf den ersten, sehr vordergründigen Blick, allenfalls die Kosten der Informationsbeschaffung für eine Seite. Doch bereits ganz unabhängig von der schwierig zu beantwortenden Frage, warum und inwieweit die Kosten der Informationsbeschaffung der anderen Seite ggf. zu vernachlässigen sein sollen, geschieht dies eben nur zum Preis erhöhter Kosten rechtlicher Sicherung, weil die Voraussetzungen der culpa in contrahendo im Allgemeinen und für Informationspflichten im Besonderen alles andere als „wohldefiniert“ sind. Die zwei Teile der für Transaktionskosten verantwortlichen Aspekte („wohldefiniert“; „kostenlos übertragbar“) werden nicht zusammen in die Bilanz eingestellt: Die Senkung der Kosten für eigene Informationsanstrengungen verursacht erhöhte Kosten bei der Feststellung und Absicherung des „Informationsrisikos“: Die mit dem bis heute nicht gelösten Problem einer tatbestandlichen Eingrenzung der culpa in contrahendo zwangsläufig verbundene strukturelle Unsicherheit, wann genau und inwieweit Informationspflichten bestehen, ist schwerlich geeignet, das generelle Vertrauen zu erzeugen, von der anderen Seite alle relevanten Informationen tatsächlich zu erhalten oder auch nur einen Anspruch darauf zu besitzen. Die Konsequenz für den homo oeconomicus mag da doch wohl eher in dem Grundsatz zu suchen sein, sich um die für die eigene Entscheidung maßgeblichen Informationen lieber gleich selber zu kümmern und nicht das Schicksal und den Erfolg der eigenen Transaktionen von einer unberechenbaren juristischen ex post-Betrachtung abhängig zu machen. Selbst wenn man eine allgemeine Pflicht zur Aufklärung der jeweils anderen Seite über alle für sie vertragsrelevanten Umstände annähme (was, soweit ich sehe, auch von Vertretern der Transaktionskostentheorie niemand ernsthaft tut), selbst dann wäre die damit verbundene Unsicherheit über die eigenen Erklärungspflichten so groß, dass die Kosten für eine Sicherstellung gegen Haftungsansprüche und Rückabwicklungen kaum zu kalkulieren wären. Die praktischen 480 So

deutlich Cooter / ​Ulen, Law and Economics (1996), S. 89.

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Konsequenzen liegen doch auf offener Hand: Statt Vertrauen, frühzeitiges Misstrauen bei der Vertragsanbahnung. Statt Leichtigkeit des Verkehrs, ein Lavieren und vorsichtiges Tasten bei der Vertragsanbahnung, um nur ja nicht zu viel oder zu wenig zu erklären. Letter of Intent und Schiedsvertragsklauseln sind die Folge, weil man weder der anderen Seite noch erst recht der ordentlichen Gerichtsbarkeit vertraut. Hier von Verkehrsschutz durch culpa in contrahendo und „standardisierten Verhaltenserwartungen“ zu reden, scheint die Rechtswirklichkeit vollständig auszublenden. Die enge Beziehung zwischen Rechtssicherheit und Transaktionskosten wurde jedenfalls in der einschlägigen ökonomischen Literatur nicht übersehen481: Die gesellschaftliche Wohlfahrt wird durch jede Verteilung der Informationsverantwortlichkeiten gefördert, solange die Rechtsordnung nur hinreichend trennscharfe und vorhersehbare Abgrenzungskriterien bereithalte.482 Insbesondere für die Problematik der Aufklärungspflichten ist das aber bisher nicht im Ansatz geleistet. Gibt es überhaupt ein zweites Rechtsinstitut, das wie die culpa in contrahendo für Unsicherheit beim Rechtsgang sorgt? Alle Prophezeiungen von Josef Kohler haben sich hier eingestellt: „… daß die Parteien damit dem Processe verfallen sind“.483 Wir erinnern uns: „Darum halten wir es für verfehlt, wenn civilistische Rechtssätze in der Art gestaltet sind, daß sie fast nothwendig zum Processe drängen; und das sind eben solche Rechtssätze, wie die mit dem negativen Schadensersatz, mit dem negativen Vertragsinteresse: wie sich die Situation der betreffenden Partei gestaltet haben würde, wenn sie nicht auf die Wirklichkeit des Vertrages gebaut hätte, ist so schwer festzusetzen, schwimmt so sehr im Nebel

481  Vgl. etwa Cooter / ​Ulen, Law and Economics (1996), S. 86: Table of Factors affecting „Higher Transaction Costs“: „2. Uncertain, complex rights“; Adams / ​Brownsword, Understanding Contract Law (1996), S. 185; und selbst Fleischer scheint keine Probleme damit zu haben, einerseits die culpa in contrahendo mit geringeren Transaktionskosten zu begründen und andererseits dies auch für die Zurückhaltung bei einem „vorvertraglichen Rundumschutz“ im englischen Common Law mit denselben Überlegungen zu rechtfertigen: „Als erstrebenswert gilt eine einfache, stabile und auf Überschaubarkeit angelegte Vertragsrechtsordnung, deren einzelne Sätze auf das Ziel der Transaktionskostenminderung orientiert sind.“ (Fleischer, Vorvertragliche Pflichten, 2001, S. 243/247). Aber eins geht nur: entweder ein möglichst einfaches, klar strukturiertes, transparentes Privatrecht oder eine unberechenbare culpa in contrahendo, bei der die Pflichten ex post im Einzelfall gefunden werden. 482  Coleman, Risks and Wrongs, S. 157 ff.: Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der USamerikanischen Leitentscheidung Laidlaw vs. Organ; denn es gehe nicht um eine allokative, sondern eine administrative Effizienz der Entscheidung. Vertragsverhandlungen sind immer einfacher zu führen, wenn die Rechte präzise und klar formuliert sind; zur diesbezüglichen Diskussion: Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 170 ff. 483  Kohler, Ueber den Willen im Privatrecht, JhJb 28 (1889), 166/226 f.: „Was ich der Theorie des Schadensersatzes wegen culpa in contrahendo hauptsächlich vorwerfe und was auch von ihren Vertheidigern keineswegs widerlegt wurde, ist Folgendes. Man bezieht sich, um dem Einwurf der Unpracticabilität einer solchen Entschädigungspflicht abzuwehren, auf das freie richterliche Ermessen. Allein gerade hierin liegt der größte Mißstand, daß die Parteien damit dem Processe verfallen sind, daß Processe fast unvermeidlich werden (…).“

III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur

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von mehr oder weniger plausibeln Probabilitäten, daß zwar der Richter hierbei zu Recht kommen wird, die Parteien aber in den allerseltensten Fällen sich verständigen werden (…).“

Übrigens ist dann ja auch in der ökonomischen Analyse die administrative efficiency neu entdeckt: Klare handhabbare Regeln senken nämlich nicht nur die Transaktionskosten der Parteien, sondern auch die Allgemeinheit belastenden Kosten der Rechtsfindung. Nimmt man den Gedanken einer rein ökonomisch orientierten gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtstheorie ernst, so lautete die Kardinalfrage, ob die angeblichen Effizienzgewinne derart undifferenzierter und unübersichtlicher Rechtsregeln tatsächlich die administrativen Kosten aufwiegen, die mit ihrer Anwendung verbunden sind. Jede der von der ökonomischen Analyse vorgeschlagenen Abgrenzungen wirft aber in tatsächlicher Hinsicht schwierige Fragen auf, die sich vor Gericht nicht selten nur nach Beiziehung ökonomischer Sachverständiger beantworten ließen:484 „Although mandated disclosure addresses a real problem and rests on a plausible assumption, it chronically fails to accomplish its purpose. Even where it seems to succeed, its costs in money, effort, and time generally swamp its benefits. And mandated disclosure has unintended and undesirable consequences, like driving out better regulations and hurting the people it purports to help. Not only does the empirical evidence show that mandated disclosure regularly fails in practice, but its failure is inevitable. First, mandated disclosure rests on false assumptions about how people live, think, and make decisions. Second, it rests on false assumptions about the decisions it intends to improve. Third, its success requires an impossibly long series of unlikely achievements by lawmakers, disclosers, and

484  Andrew Kull, Unilateral Mistake: The Baseball Card Case, 70 Washington U. L. Q. 57 (1992); Epstein, Economics and the Judges. The Case for Simple Rules and Boring Courts (1996); Richard Craswell, Offer, Acceptance, and Efficient Reliance, 48 Sta. L. Rev. 481 (1996); Avery W. Katz, When Should an Offer Stick? The Economics of Promissory Estoppel in Preliminary Negotiations, 102 Yale L. J. 1249 (1996); paradigmatisch für unser Thema insb.: Lucian Arye Bebchuk / ​Omri Ben-Shahar, Precontractual Reliance, 30 J. of Legal Studies, 423 (2001): Ganz unabhängig von der Frage, ob denn die Annahmen und Formeln tatsächlich stimmen, kommen die Verfasser nach spannenden Vertrauensberechnungen immerhin zu der bezeichnenden Erkenntnis: „The rules examined in Section IV place significant informational requirement on courts and thus are limited in their practical application.“ Das praktisch noch als anwendbar erachtete Ergebnis wird so schließlich doch auf konventionellem Wege gewonnen, und es läuft  – ohne dass Lon Fuller oder Patrick S. Atiyah oder § 90 Restatement genannt würden  – auf die bekannte Differenzierung zwischen „reliance-interest“ und „expectationinterest“ bzw. die uns bekannte Unterscheidung zwischen Erfüllungs‑ und Vertrauensinteresse hinaus (hierzu bereits oben § 4 III.2.): „Unlike the existing ‚all-or-nothing‘ position of the law, which either dismisses the preliminary agreement as unenforceable or fully enforces it and awards expectation remedies, the analyses here supports an interim measure of liability, extending only to reliance investments.“ (S. 452). Über alle psychologisch-mathematischen Betrachtungen wird offenbar gar nicht mehr wahrgenommen, dass diese Differenzierung bereits die „position of law“ ist (vgl. § 90 Restatement: „The remedy granted for breach may be limited as justice requires.“); zum grundsätzlichen Problem auch: Andrew Robertson, The Failure of Economic Analysis of Promissory Estoppel, 15 Journal of Contract Law 69 (1999).

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disclosees. That is, the prerequisites of successful mandated disclosure are so numerous and so onerous that they are rarely met.“485

Für die culpa in contrahendo lässt sich das wohlfahrtstheoretische Problem auch wie folgt formulieren: Man setze auf der einen Seite die Kosten in Rechnung, welche durch die Unmengen an Bemühungen um ihre inhaltliche Durchdringung, Reichweite, Begründung und Präzisierung bei den bestausgebildetsten und aus öffentlichen Mitteln alimentierten Juristen in Lehre und Rechtsprechung seit nunmehr über 100 Jahren verursacht wurden und noch in Zukunft weiter verursacht werden (Administrativkosten), und versuche diese Kosten ins Verhältnis zum ökonomischen Nutzen zu setzen, welcher von diesem Institut seit seiner „Wiederentdeckung“ im 20. Jahrhundert für die Teilnehmer am Geschäftsverkehr gestiftet wurde und in Zukunft zu erwarten sein wird (Transaktionskosten). Wie diese Bilanz ausfällt, kann für jeden, der sich nur ein oberflächliches Bild von der Rechtspraxis beim Gebrauch dieses Instituts gemacht hat, nicht zweifelhaft sein. Es gibt wohl kein zweites Rechtsinstitut, das trotz  – oder gerade wegen der zahlreichen schwankenden Präzisierungsbemühungen – Anlass für so viel Unsicherheit im Rechtsverkehr und so viel Rechtsstreit durch alle Instanzen geliefert hätte wie der „wandelnde Irrwisch“ culpa in contrahendo. Hier waltet kein wohlfahrtstheoretisch geleiteter ökonomischer Geist, sondern allenfalls die Vorstellung einer (distributiven) Einzelfallgerechtigkeit um jeden Preis. Eben den Preis der Rechtssicherheit, der Unkalkulierbarkeit des Rechts und mithin der Erhöhung von Transaktionskosten.486 Die ökonomische Quintessenz ist denn auch seit längerem formuliert: Die besseren Gründe sprechen für einfache, handhabbare Regeln, die eine vorvertragliche Offenlegungspflicht kategorisch ablehnen: Simple Rules for a Complex World.487 Im Ergebnis gelangt so letztlich auch die amerikanische Rechts485  Omri Ben-Shahar / ​Carl E.  Schneider, The Failure of Mandated Disclosure, 159 Pennsylvania Law Review 647 (2011), 651. 486 Abschließendes Fazit unten § 9 (Einzelfallgerechtigkeit). 487 Grundlegend Richard Allen Epstein, Simple Rules for a Complex World (4. Aufl. 1997); hierzu etwa: Daniel Cohen, Which „Simple“ Rules rather than Discretion? (1991); Paul Levine, Should Rules be Simple? (1991); Patrizio Tirelli, Simple Rules for the Open Economy. Evaluating alternative Proposals (1991); Epstein, The Promise and Pitfalls of Simple Rules, 9 Constitutional Political Economy (1998), S. 151 ff. (sowie die Beiträge im selben Band); Allan M. Feldman, A simple model of efficient tort liability rules, 18 International Review of Law and Economics (1998), 201 ff.; Eric M. Leeper, Assessing simple policy rules. A view from complete macro model (2000); Ram Singh, Efficiency of ‚simple‘ liability rules when courts make erroneous estimation of the damage, 16 European Journal of Law and Economics (2003), 39 ff.; John C. Williams, Simple Rules for Monetary Policy, Economic Review (2003), 1 ff.; Bill McKelvey, „Simple Rules“ for improving corporate IQ: basic lessons from complexity science, in: Complexity theory and the management of networks (2004), S. 39 ff. Zur Berücksichtigung der administrativen Effizienz im Rahmen einer „Zweifelsregel“ im Ergebnis auch Schäfer, Ökonomische Analyse von Aufklärungspflichten, in: Ott / ​Schäfer (Hrsg.) Ökonomische Probleme des Zivilrechts (1991), S. 117/127, 141: Ließen sich die Wirkungen einer Informationspflicht nicht mit hinreichender Präzision prognostizieren, spreche vieles

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wissenschaft von feinsinnigen ökonomischen Regeln zur Wiederentdeckung der klaren Form für das Recht! „There is an extensive literature on bargaining games, including a large number of carefully constructed experiments testing the Coase theorem. One of the most robust conclusions of these experiments is that bargainers are more likely to cooperate when their rights are clear and less likely to agree when their rights are ambiguous. Put in more formal terms, bargaining games are easier to solve when the threat values are public knowledge. The rights of the parties define their threat values in legal disputes.“488

Die klare juristische Form ist insoweit eben nicht nur die „Zwillingsschwester“ der Freiheit, wie Jhering den Zusammenhang schon deutlich früher sinnig formulierte, sondern auch die Zwillingsschwester der Transaktionskostenminimierung.489 Es bleibt also dabei: Die These von einem Verkehrsschutz mittels vorvertraglicher Informationshaftung ist solange ein schöner Traum, solange die Haftung aus culpa in contrahendo eine Haftung ohne Tatbestand ist. Daran können die schönsten makrojuristischen Betrachtungen nichts ändern  – im Gegenteil: Sie bestätigen die Zweifel an der These, die culpa in contrahendo könnte zugleich die Einzelfallgerechtigkeit und die Sicherheit im Rechtsverkehr befördern. c) Zurück zur Dogmatik: Das „Vorsatzdogma“! „Der Schaden, der durch Verschulden bei geschäftlichen Verhandlungen entsteht, ist von dem Schuldigen zu tragen und nicht von dem Unschuldigen. Einzelheiten sind noch zweifelhaft und umstritten.“ Phillip Heck, 1929490

Was also bleibt? Nach, neben und in allen genannten Bemühungen, die Haftung für culpa in contrahendo zu begründen, findet sich letztlich doch immer eine Rückkehr zum alten Verschuldensprinzip: „Der culpose Theil geht frei aus, der unschuldige wird das Opfer der fremden Culpa!“491 Da ist etwa Eduard Picker, dessen Rekurs auf den allgemeinen Grundsatz des neminem laedere als einer immer schon bestehenden Haftung bereits kritisch dafür, von einer obligatorischen Information abzusehen. Sicher anfallende Rechtsprechungskosten für einen sozial ungewissen Ertrag einzusetzen, entspreche nicht dem ökonomischen Prinzip; ebenso Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S: 176: „Gemünzt auf die vorvertraglichen Aufklärungspflichten, führt dies … zu einer Zweifelsregel, die bei ambivalenten Wohlfahrtswirkungen eine Informationspflicht verneint.“ 488 Cooter / ​Ulen, Law and Economics (1996), S. 85. 489  Hierzu auch Benedict, Consideration, RabelsZ 69 (2005), 1/21 f. 490  Grundriß des Schuldrechts (1929), S. 124. 491 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1891), 1/2; später dann etwa Krasser, Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen (1929), S. 31: „Anerkennung einer allgemeinen Haftung für Verschulden während der V. V.“; Hildebrandt, Erklärungshaftung (1931), S. 120: „Bedürfnis nach einer allgemeinen Haftung für Fahrlässigkeit“.

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betrachtet wurde.492 Sein Ausgangspunkt ist, wie gesehen, die insoweit zunächst zutreffende Feststellung, dass alle bisherigen Begründungsversuche erfolglos geblieben sind493 und „der wahre Rechtfertigungsgrund von Sonderhaftungsfiguren, wie sie seit langem anerkannt sind, in den bisherigen Lehren noch nicht aufgedeckt wurde“.494 In dem steten Bemühen und Scheitern aller dogmatischen Einordnungs‑ und Begründungsversuche sieht Picker gleichwohl „ein starkes Indiz für die Vitalität der tradierten Figuren“.495 Die Berechtigung der culpa in contrahendo wird so letztlich auf eine „eingewurzelte Rechts‑ und Richtigkeitsüberzeugung“ gegründet, die mit der „Tatsache“ verknüpft sei, „daß die Anerkennung eines insbesondere auch vermögensmäßigen Schutzes … einer nahezu zeitlosen rechtlichen Wertung“ entspreche. Zwar hält Picker „den Rechtszustand vor dem BGB“ für eine „insgesamt noch recht unerforschte Materie“, die Idee von einer „eingewurzelten Rechts‑ und Richtigkeitsüberzeugung“ genügt ihm gleichwohl als Basis für die Aussage, Jhering habe „recht eigentlich nur auf dogmatische Formeln gebracht, was man zu und vor seiner Zeit bereits dachte oder doch zumindest empfand“.496 Nach allem Gesagten wird nunmehr deutlich, worauf diese tiefere Empfindung im Kern hinausläuft: Was Picker mit seinem Rekurs auf jene „zeitlose Rechtsüberzeugung“ und den „zahlreichen Vorbildern“ meint, an die Jhering und Staub „anknüpfen“ konnten, ist offenbar nichts anderes als die Haftung für kontraktliche culpa, die in der Tat im römischen Recht eine umfassende gewesen ist und die Jhering kurzerhand auf den Bereich gescheiterter Verträge ausgedehnt hatte. Was das „Rechtsempfinden“ bei Picker also insoweit an‑ bzw. ausspricht, ist einmal mehr nichts anderes als jenes alte Prinzip, wonach die culpa bereits und allein als allgemeine causa obligationis genügen soll. Das Fazit bei Picker erhält im Zuge dieser seiner Argumentation sogar die Fassung einer apodiktischen Evidenz: „Die culpa in contrahendo steht heute, was ihre rechtlichen Ergebnisse angeht, für die Praxis, aber auch für den ganz überwiegenden Teil der Doktrin nicht mehr zur Disposition. Sie ist insoweit geltendes Recht!“497

Wozu noch Untersuchungen über den Gegenstand anstellen, wenn das Ergebnis ohnehin „nicht mehr zur Disposition“ steht? Die Evidenz einer als Gewohn Oben II.3.  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/431: „Die materiale Rechtfertigung der behaupteten Sonderhaftung kraft Sonderverbindung scheitert, weil ein besonderer, haftungsverschärfender Umstand, wie er vom Ausgangspunkt der h. M. her denknotwendig erforderlich wäre, tatsächlich nicht existiert.“ 494 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/431. 495  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/439 496  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/452. 497 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/453. 492 493

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heitsrecht anzuerkennenden „zeitlosen Rechtsüberzeugung“ basiert also auf der Kombination von Rechtsgefühl und dem Gedanken, dass bereits das Verschulden einen hinreichenden Grund für eine Haftung bei primären Vermögensschäden, und das heißt vor allem: einen guten Grund für eine vor‑ bzw. außervertragliche Erklärungshaftung abgeben könnte (Verschuldensprinzip). Dass diese abstrakte Rechtsempfindung nicht wirklich eine zeitlose gewesen und insbesondere in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts durchaus abweichend auf rationale Begriffe gebracht worden ist, haben wir bereits ausführlich betrachtet.498 Das leitet über zum letzten wichtigen Block der Argumentation, nämlich auch entgegen der originären Einsicht der Verfasser des BGB (namentlich entgegen § 676 BGB a. F.) eine allgemeine Haftung bereits bei Erklärungsfahrlässigkeit zu begründen: Canaris hatte ganz vehement dafür geworben, „die Auskunftshaftung grundsätzlich in die Vertrauenshaftung einzubeziehen und in Anlehnung an die culpa in contrahendo zu lösen.“499 Nun ist aber auch die Debatte um eine Haftung für Rat und Auskunft eine altbekannte, die, wie gesehen, von der lex lata des originären BGB mit der Haftung (nur) für dolus in den §§ 123, 826 und insbesondere § 676 BGB a. F. durchaus bewusst und klar beantwortet worden ist.500 So wird auch hier neuerlich deutlich, dass es auf gravierende methodologische Bedenken stoßen sollte, den Liberalismus der deutschen lex lata (in der Rechtsgeschäftslehre § 123 BGB, im Schuldrecht § 676 BGB a. F. und im Deliktsrecht § 826 BGB) einerseits zu verteidigen, um dann andererseits eine „dritte Haftungsspur“, d. h. den Sozialismus einer Sonderverbindung als rechtsethisches „Korrelat“ für gegenteilige Ergebnisse vorzustellen. Wie konnte in dieser Hinsicht ernsthaft die Rede davon sein, die „Informationshaftung“ – die auch die Auskunftshaftung erfasst – „in die Vertrauenshaftung einzubeziehen“? Sollte etwa doch das ganze BGB von der Vertrauenshaftung handeln? Es ist insoweit das Verdienst von Hans-Christoph Grigoleit, die methodologische Schwierigkeit, das im BGB für die Erklärungshaftung bestehende „Vorsatzdogma“ konstruktiv zu umgehen, klar benannt und überhaupt als erster ernst genommen zu haben: „Die Verkennung der Tragweite des informationellen Vorsatzdogmas in Rechtsprechung und Literatur hat zur Folge, daß Stellungnahmen zur allgemeinen methodologischen Legitimität der Fahrlässigkeitshaftung weitgehend fehlen.“501

Für eine seriöse Begründung einer „Vertrauenshaftung“ kommt es auf den „Gegenstand“ des Vertrauens an; denn „’Vertrauen’ bleibt ohne seinen Gegenstand ein nichtssagender Begriff. Will man es mit den Mitteln des Rechts schützen, liegt es nahe, zunächst zu klären, welchen Inhalt es hat, worauf also vertraut 498 Oben

§ 3.  Canaris, 2. FS Larenz (1983), S. 30/93. 500  Ausf. oben: § 3 III. 501 Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997), insb. S. 16 ff. 499

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wird.“502 Nimmt man diesen Gedanken ernst und verfolgt ihn weiter, dann konnte nicht verborgen bleiben, dass der maßgebliche Gegenstand des Vertrauens, d. i. die positive und erst recht die negative Erteilung von Willens‑ und Wissenserklärungen, im BGB tatsächlich behandelt ist. Nur: Der entsprechende Vertrauenstatbestand einer Erklärung, Auskunft, Information usw. ist danach außerhalb kontraktlicher Verhältnisse grundsätzlich an den dolus geknüpft. Und das, wie gesehen, aus gutem Grund. Noch einmal: Nicht das Vertrauen auf eine Erklärung, Auskunft, Information usw. ist außerhalb kontraktlicher Verhältnisse die causa obligationis, sondern die Verwerflichkeit des dolus malus hat hier seit römischen Zeiten die maßgebliche Wertung der Haftung abgegeben. Dass eine Kausalität zwischen Vertrauenstatbestand, Vertrauensdisposition und Vertrauensschaden immer gegeben sein muss, gehört zu den gesicherten Erkenntnissen der Vertrauenshaftung. Dass aber darüber hinaus nicht auf die Zurechnung des – wie auch immer begründeten – Vertrauenstatbestandes zum Haftpflichtigen verzichtet werden kann, findet sich auch bei Canaris klar ausgedrückt, und er hat für den hier interessierenden Bereich der Erklärungshaftung letztlich doch wieder dem Verschuldensprinzip die zentrale Rolle bei der Haftungszurechnung zugewiesen.503 Akzeptiert man die jenseits klar definierter Tatbestände herrschende Ubiquität von Vertrauen, so wird das eigentliche Haftungsprinzip der negativen Vertrauenshaftung doch wieder deutlich: Das Verschulden war einst und ist doch immer noch der maßgebliche Haftungsgrund! Auch bei der Vertrauenshaftung. Spätestens mit der Einsicht in ein insoweit bestehendes „Vorsatzdogma“ des BGB wird die Dogmengeschichte der culpa in contrahendo und die Rückkehr des Schuldmoments wieder besonders originell: Das Vertrauensdogma wird durch das Fahrlässigkeitsdogma ersetzt, und es geht endlich doch wieder um eine Haftung für culpa (in contrahendo). In den letzten Grundschriften zur Informationshaftung stehen nun die Überwindung der Vorsatzhaftung und die Begründung einer allgemeinen Haftung für Erklärungsfahrlässigkeit notwendig im Zentrum der Argumentation. Den insoweit gefühlten Grundtenor kennen wir freilich schon: 502 Loges,

Erklärungspflichten und Vertrauensschutz (1991), S. 38 ff.  Canaris, Vertrauenshaftung (1971), S. 479: bei den „verschiedenen Formen der Schadensersatzhaftung“ besitze „das Verschuldensprinzip sein eigentliches Wirkungsfeld“; das gilt auch für Eidenmüller, Vertrauensmechanismus und Vertrauenshaftung, ARSP Beiheft 74 (2000), S. 117 ff.: Das Verschuldensprinzip erscheint bei ihm als „Eigenverantwortlichkeitsprinzip“, die vom Vertrauensgeber gestörte Eigenverantwortung des Vertrauensnehmers impliziert das Verschuldensprinzip als Haftungsgrund. Lediglich Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 355 meint konsequent, im Vertrauen selbst einen hinreichenden Zurechnungsgrund erblicken zu können, wobei er Jherings „subjektive“ Zurechnung mittels der culpa schlicht durch subjektives Vertrauen ersetzt: „Als eigenständiges Leitprinzip individueller Verantwortung lässt sich Dispositions-(= Vertrauens‑)schutz nur ansehen, wenn man mit Ihering der Verbindung zwischen der Vorstellungswelt des Disponierenden (‚Vertrauen‘) und dem Dispositionsgaranten, die hier kurz als ‚subjektive‘ Zurechnung charakterisiert wurde, rechtliche Relevanz zuerkennt.“ 503

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„Im Zentrum aller Legitimationsbemühungen steht das unleugbare Bedürfnis nach einem rechtlichen Schutz des fahrlässig irregeführten Vertragspartners. Das läßt sich beim ersten Zugriff vor allem rechtsethisch begründen. … Im Verhältnis zwischen dem schuldhaft handelnden Vertragspartner und seinem schuldlos irregeführten Kontrahenten scheint uns allein letzterer schutzbedürftig.“504

Und damit schließt sich der Kreis: Unsere Erkenntnis und unser Rechtsgefühl in Sachen culpa in contrahendo finden sich auch nach über 150 Jahren noch auf dem Stand des Jahres 1861: „… daß jeder Theil dem anderen für den ihm durch seine culpa zugefügten Schaden aufkommen muß.“505

Als hätte Rudolf v. Jhering gar nicht gelebt.

504  Informationsasymmetrie (2001), S. 434; wortgleich ders., Konkurrenzprobleme, AcP 200 (2000), 91/101; ders., Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 262: „Im Verhältnis zwischen dem schuldhaft handelnden Vertragspartner und seinem schuldlos irregeführten Kontrahenten verdient allein Letzterer den Schutz unserer Vertragsrechtsordnung.“ 505 Jhering, Culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 1/40.

3. Kapitel

Abschied vom BGB: Ende oder Kontinuität der Geschichte? „Das BGB. ist ein Werk der Vergangenheit, das beschleunigter Ablösung bedarf.“ Franz Schlegelberger, 19371 „Wir sind Zeugen eines großen Versuchs von historischem Ausmaß, der zweifellos eine neue Epoche der Rechtsentwicklung einleiten wird, des Versuchs, sich von der Grundlage des römischen Rechts zu befreien und neue Wege zu wandeln, um ein modernes universalistisches bürgerliches Recht zu schaffen. Die große soziale Werkstätte, in der man an der Verwirklichung dieses Zieles arbeitet, ist Deutschland.“ Lüben Dikow, 19372 „Vieles von dem, was die Kritiker seit einem halben Jahrhundert bemängeln, ist tatsächlich tadelnswert. (…) Die Reformpläne sollen nicht begraben sein; es ist viel Brauchbares darunter, auch – die Gerechtigkeit gebietet es zu sagen – unter den Vorarbeiten zum Volksgesetzbuch. Aber es eilt nicht damit. Es gibt dringendere Aufgaben. Warten wir, bis uns wieder ein Gesetzgeber beschieden ist, der den edlen Sinn, die unbedingte Festigkeit und die kenntnisreiche Umsicht hat, die den Schöpfern des BGB zu eigen waren.“ Walter Mallmann, 19463 „Kaum noch ‚bürgerliches Recht‘; das BGB als Zentrum der Privatrechtsordnung hat sich in der Dekodifikation ebenso aufgelöst wie das bürgerliche Rechtssubjekt als sein Anknüpfungspunkt und das dahinter stehende Sozialmodell als Privatrechtstheorie.“ Gerhard Dilcher, 19844 „Nach rund 20 Jahren Diskussion in Wissenschaft und Praxis über die Modernisierung des Schuldrechts hat Rot-Grün jetzt gehandelt. Diese Reform ist die lang erwartete umfassende Generalinventur des Bürgerlichen Gesetzbuches. Wir werden mit diesem modernen Zivilrecht auf internationaler Ebene wieder ernst genommen. Im Hinblick auf ein europäisches Zivilgesetzbuch wird unser neues BGB Vorbildfunktion haben.“ Volker Beck, 20015

1 Abschied

vom BGB (1937), S. 15.  Die Neugestaltung des Deutschen Bürgerlichen Rechts (1937), S. 9. 3  50 Jahre BGB, DRZ 1 (1946), 52. 4 Vom Beitrag der Rechtsgeschichte zur Zivilrechtswissenschaft, AcP 184 (1984), 246/286 f. 5  Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/192, S. 18749. 2

§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo „Gesetze können freilich in kurzer Zeit viele erlassen werden, aber nicht jedes Gesetz betrachte ich als ein geschichtliches Ereigniß. Die Gesetze können sich drängen wie die Wolken bei bewegtem Himmel, aber wenn sie ebenso wie letztere rasch vorüberziehen und keine Spur zurücklassen, so rechne ich sie nicht zu den Productionen, von denen ich hier spreche, sondern zu dem Abfall, den Spänen, die davon fliegen, wenn die Geschichte arbeitet. Die Productivität der Geschichte des Rechts hat die Entwicklung des Rechtsorganismus zum Gegenstande und bewährt sich nicht daran, was derselbe consumirt, sondern, was er verdaut.“ Rudolf v. Jhering, 18526

Das letzte Kapitel und eine Zäsur in der Dogmengeschichte der culpa in contrahendo bildet schließlich ihre gesetzliche Legitimation und Aufnahme in das BGB im Rahmen der sog. „Schuldrechtsmodernisierung“ im Jahre 2002.7 Der Verlauf der über 20 Jahre währenden Reform lässt sich grob in drei Etappen fassen: 1. Intensive Diskussionsphase mit der Erstattung und Publikation von 24 Gutachten 1981/1983. 2. Ermüdungsphase mit dem Abschlussbericht der vom BMJ eingesetzten „Kommission für die Überarbeitung des Schuldrechts“ (Schuldrechtskommission I) 1991. 3. Emotionale Hektikphase mit der überraschenden Wiederaufnahme eines zu den Akten gelegten Projekts, der Vorlage eines vom BMJ verfassten Diskussionsentwurfes im August 2000 und der Einsetzung einer zweiten Kommission „Leistungsstörungen“ (Schuldrechtskommission II).8 Nach allgemeinem Verständnis beginnt die Diskussion um eine Reform des Schuldrechts im Jahre 1978, als der damalige Justizminister Hans Jochen Vogel die Klagen aus Theorie und Praxis um die mittlerweile unübersehbaren dogmatischen Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts zum Anlass nimmt, die „Durchdringung des Privatrechts mit sozialem Pflichtgehalt“ als noch offenes  Geist des römischen Rechts I (1878), S. 69. „Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. 11. ​2001“ wurde am 11. 10. ​2001 i. d. F. BT-Drucks. 14/6040 und 14/7052 verabschiedet und ist am 1. Januar 2002 in Kraft getreten (BGBl I Nr. 61/2001). Eine Zusammenstellung der wichtigsten Materialien (Diskussionsentwürfe, Begründungen, Stellungnahmen) wurde herausgegeben von Canaris, Schuldrechtsmodernisierung (2002). 8  Zur Chronologie der Phasen 1–2 eingehend: Zimmermann, Schuldrechtsmodernisierung? (2001), S. 1/13 ff.; nüchterne Daten bei Canaris, Materialien (2002), S. IX ff.; ausführlicher insb. für die letzte entscheidende Phase der Reform: Dauner-Lieb, Einführung, in: Das neue Schuldrecht in der anwaltlichen Praxis (2002), S. 15 ff. 6

7 Das

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§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo

Vermächtnis seines Weimarer Vordenkers und Vorbildes ernsthaft umzusetzen.9 Gustav Radbruch war zwar Strafrechtler und Rechtsphilosoph. Seine Lehren zum Privatrecht aber waren die bis heute perpetuierten Lehren der Kritiker am liberalen BGB,10 und seine Lehren zur juristischen Methode entsprangen den Lehren seines Freundes Hermann Kantorowicz und der Freirechtsbewegung der Weimarer Republik.11 Zu einer Reform des BGB oder des Schuldrechts hat sich Radbruch freilich weder als Justizminister noch als Jurist verstiegen. Ein halbes Jahrhundert später sah die Sache anders aus. Die metadogmatischen Zweifel am BGB finden sich hinreichend von der Zivilrechtsdogmatik bestätigt: 24 renommierte Rechtswissenschaftler werden mit der Erstellung von Gutachten beauftragt.12 Die Gutachten werden 1981/83 erstattet,13 umfangreich diskutiert14 und der Nachfolger im Justizressort Klaus Kinkel setzt eine „Kommission für die Überarbeitung des Schuldrechts“ (Schuldrechtskommission I) ein, die 1991 ihren Abschlussbericht nebst begründetem Gesetzesentwurf vorlegt.15 Das Thema ist dann noch Gegenstand des 60. Deutschen Juristentages 1994 in Münster.16 Danach tut sich lange Zeit nichts, bis zur großen Überraschung der staunenden Zivilrechtswissenschaft im August 2000 ein sog. „Diskussionsentwurf eines  Zum intellektuellen Hintergrund: H. J.  Vogel, Gustav Radbruch (1978). Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (11. Aufl. 1964), S. 100 ff.: „Das BGB entstand im ungünstigsten Zeitpunkte … ein Gesetzbuch im Geiste des bürgerlich-liberalen Zeitalters, mehr Produkt des 19., als Auftakt des 20. Jahrhunderts … Das BGB steht so auf der Wende zweier Zeitalter: es steht noch mit beiden Füßen auf dem Boden bürgerlich-liberalen, romanistisch-individualistischen Rechtsdenkens, bietet aber, zögernd und gelegentlich, schon dem neuen sozialen Rechtsdenken die Hand.“ 11 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (11. Aufl. 1964), S. 166 ff. 12  Zum allgemein beklagten Zustand vgl. bereits oben § 7 II.2.; ansonsten zur politischen Motivation: A. Wolf, Die Überarbeitung des Schuldrechts, AcP 182 (1982), 80; Schmude, Schuldrechtsüberarbeitung, NJW 1982, 2017, und sogleich ausf. unten II. 13  BMJ (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. I und II (1981), Bd. III (1983). 14 Aus der Fülle der Beiträge insb.: Diederichsen, Zur gesetzlichen Neuordnung des Schuldrechts, AcP 182 (1982), 101–125; Grunsky, Vorschläge zu einer Reform des Schuldrechts, AcP 182 (1982), 453; Heinrichs, NJW 1982, 2021; Ernst Wolf, Kein Abschied vom BGB, ZRP 1982, 1; ders., Das BGB, eine unverzichtbare Grundlage des Rechtsstaates, ZRP 1983, 241; Westermann, Verabschiedung oder Überarbeitung des BGB?, ZRP 1983, 249; Lieb, Grundfragen einer Schuldrechtsreform, AcP 183 (1983) 327; Picker, p. F. und c. i. c., AcP 1983 (1983), 367; Vollkommer, Konkurrenz, AcP 183 (1983), 525; Brüggemeier, Überarbeitung des Schuldrechts, KJ 1983, 387; Hüffer, Die Reform des Schuldrechts, AcP 184 (1984), 584; Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht (1983); ders., Gesetzgebung im Leistungsstörungsrecht (1985); J. Schmidt, Vertragsfreiheit und Schuldrechtsreform (1985); Medicus, Gesetzgebung und Jurisprudenz im Recht der Leistungsstörungen, AcP 186 (1986), 268; ders., Zum Stand der Überarbeitung des Schuldrechts, AcP 188 (1988), 168; Schlechtriem, Schuldrechtsreform (1987); Basedow, Die Reform des deutschen Kaufrechts (1988). 15 BMJ (Hrsg.), Abschlußbericht der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts (1992). 16  Gutachten und Verhandlungen des 60. Juristentages (1994), Band I (Vorschläge), Band II (Diskussion). 9

10 Vgl.

III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur

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Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes“ (DiskE)17 der Öffentlichkeit mit dem ehrgeizigen Ziel vorgelegt wurde, das ambitionierteste und „intellektuell anspruchsvollste“ Gesetzgebungsverfahren und den zugleich grundlegendsten Eingriff in das BGB bis zum 1. Januar 2002, also nahezu innerhalb eines Jahres (sic!), abgeschlossen zu haben. Wer meinte, das Reformvorhaben der 1980er Jahre sei vergessen, hatte sich getäuscht. Alle diejenigen, die sich trotz der dauerhaften Kritik noch ein historisch geprägtes Bewusstsein und Verständnis für die tiefgehende wissenschaftliche Leistung hinter und in der deutschen Zivilrechtskodifikation bewahrt hatten, waren mit einem Schlag vom üblichen akademischen Betrieb gehörig wachgerüttelt. Kaum ein anderes Thema polarisierte so, wie das ehrgeizige Ziel der neuen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Sie wollte in die Rechtsgeschichte.18 Nun ist sie drin: Was Franz Schlegelberger begonnen, hat sie vollendet: den Abschied vom BGB. Die Ära von Altkanzler Kohl hatte 1998 ihr Ende gefunden, das Wort „Reformstau“ war das „Wort des Jahres“ 1997 und die erste „rot-grüne“ Koalition trat unter Gerhard Schröder und dem Slogan „Aufbruch und Erneuerung“ mit einer „entschlossenen Reformpolitik“ den „Weg ins 21. Jahrhundert“ an.19 In diesem Zuge wurden u. a. auch alle im Justizministerium unvollendet in den Schubladen liegenden Reformprojekte neuerlich auf die politische Agenda gesetzt. Inhalt galt nicht viel: Hauptsache Reformen! So kam auch das Jahrhundertprojekt der Schuldrechtsreform, dessen zeitliches und inhaltliches Schicksal im Junktim vor allem mit der Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie (1999/44/EG)20 verknüpft wurde, neuerlich auf den Tisch: Nicht mehr eine altbackene „Reform“, sondern eine echte umfassende „Modernisierung“ sollte die gesetzliche Um‑ und Neugestaltung von allgemeinem und besonderem Schuldrecht (insbesondere des Leistungsstörungsrechts), einschließlich des Verjährungsrechts, der Integration von verbraucherschützenden Sondermaterien und der bisher ungeschriebenen richterrechtlichen Rechtsinstitute werden. Der vorgelegte Diskussionsentwurf basierte dabei im Wesentlichen auf dem Entwurf der Schuldrechtskommission von 1991. Das Kaufrecht wurde entsprechend der 17 „Diskussionsentwurf eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes“ des Bundesministeriums der Justiz mit Stand v. 4. August 2000. Abgedruckt bei Canaris, Materialien (2002). 18  Die Justizministerin hat im Rahmen der BT-Debatte sehr selbstbewusst auf die Äußerung von Ronald Pofalla (CDU / ​CSU), sie wolle „als die große Reformerin in die Rechtsgeschichte unseres Landes eingehen“, spontan ausgerufen: „Ich bin schon lange drin!“ und Alfred Hartenbach (SPD) assistierte: „Ist sie schon!“ (Plenarprotokoll 14/192, S. 18746). 19 Der Titel des Koalitionsvertrages war insoweit Programm. 20  Die „Richtlinie zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter“ vom 25. 5. ​1999 (ABl. EG Nr. L 171, S. 12) war bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 in deutsches Recht umzusetzen; vgl. nur den Eingangspart („Zielsetzung“) des DiskE; Dauner-Lieb, in: Das neue Schuldrecht in der Praxis (2003), S. 6: „Die Hintergründe des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes sind jedenfalls in ihren Grundzügen inzwischen allgemein bekannt. Der unmittelbare Anstoß kam aus Brüssel (…).“

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§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo

europäischen Vorgaben vor allem im Gewährleistungsrecht umgearbeitet. Veränderungen im Verjährungsrecht schlossen sich an. Ein paar Aufrechte empörten sich und suchten, den Wahnsinn zu stoppen.21 Alte Freundschaften zerbrachen an der Frage, ob man dafür oder dagegen sein sollte. Manche schauten nur staunend zu, welch hektischer Betrieb die Zivilrechtswissenschaft in diesem einen Jahr ergriff. Endlich wieder frischer Wind in der zivilrechtlichen Publikationslandschaft: Publish or perish!22 Bibliotheken an Kommentaren, Monografien und Lehrbüchern sollten zu Makulatur werden; vor allem aber ein Buch: das Bürgerliche Gesetzbuch selbst. Das BGB war, ohne bedeutende öffentliche oder akademische Aufmerksamkeit, gerade eben 100 Jahre alt geworden. Keine politischen Feiern. Keine übergreifenden Denkschriften und akademischen Symposien.23 Das passte in den Zeitgeist und das Gefühl für die Wertigkeit dieser Kodifikation: Wissenschaft und Praxis feierten den Bundesgerichtshof, nicht aber den Gesetzestext, in dem das geltende Recht, nach Ansicht vieler, schon lange nicht mehr hinreichend abgebildet wurde.24 Die Wissenschaft verbeugte sich in einem beispiellosen akademischen Akt vor dem Richterrecht als faktisch maßgeblicher Rechtsquelle. Die 21  „Die Professoren, so soll die zuständige Ministerin ihren Eindruck von einer in ihrem Hause … durchgeführten sog. Expertenanhörung zusammengefasst haben – ‚die Professoren sind für die Erhaltung des Museums‘.“ (Jakobs, Tagungsbericht, JZ 2001, 27/30). Die Wissenschaftler sollen einen „mürrisch-trotzigen“ Widerstand gegen das Gesamtvorhaben gezeigt haben (so wird der Staatssekretär im BMJ Eckhart Pick zitiert: Dauner-Lieb, Schuldrechtsmodernisierung, JZ 2001, 8/11). 22   Deutlich HKK / ​Schermaier, vor §§ 275, Rn. 92: „Viele scharrten wohl schon in den Startlöchern, um beim Wettlauf um das erste Lehrbuch und den ersten Aufsatz zum neuen Recht dabei zu sein.“ 23  Es gab Einzelbeiträge: Adomeit, Das bürgerliche Recht (1996); Schmoeckel, 100 Jahre BGB, NJW 1996, 1697; Stürner, Der hundertste Geburtstag des BGB – nationale Kodifikation im Greisenalter?, JZ 1996, 741; Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 22 (2000), 325/342; Horn, Ein Jahrhundert Bürgerliches Gesetzbuch, NJW 2000, 40; eine Ringvorlesung in Augsburg: Schlosser, Bürgerliches Gesetzbuch 1896–1996 (1997) und ein von Okko Behrends und Wolfgang Sellert organisiertes Symposion: „Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)“ (April 1998). Dem Aufruf von Mathias Schmoeckel zu einer Festschrift für das BGB fehlte die notwendige Resonanz. Der überwiegende Teil der Zivilrechtswissenschaft zog es vor, dem Bundesgerichtshof zum 50. Jubiläum zu huldigen. Der Sellier-de Gruyter Verlag feierte sich und die Erfolgsgeschichte des Staudinger-Kommentars vom 18.–20. Juni 1998 (100 Jahre Staudinger), im Übrigen gab es im Jubiläumsjahr lediglich punktuelles lokales Gedenken: 3 Vorträge vor der Juristischen Gesellschaft Hagen: Ulrich Eisenhardt (Hrsg.), 100 Jahre BGB (2001); 4 Vorträge am „Tag der Juristischen Fakultät Potsdam“ und 2 Vorträge in Karlsruhe, die auch schon eher dem BGH als dem BGB galten: 100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch  – 50 Jahre Bundesgerichtshof. Nüchterne Bilanz bei Rückert, Das Bürgerliche Gesetzbuch – Ein Gesetzbuch ohne Chance?, JZ 2003, 749 ff. 24  Dem BGH, der zeitgleich mit dem BGB sein 50jähriges Jubiläum feierte, wurde eine mehrbändige „Festgabe“ aus der Wissenschaft („50 Jahre Bundesgerichtshof: Festgabe aus der Wissenschaft“) und eine Festschrift aus der Praxis („Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof“) dargebracht.

III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur

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Zeit war reif, der politische Wille zur Veränderung stark, ernsthafte Gegenwehr nicht zu erwarten. Das Denkmal BGB konnte endlich fallen. Die Zivilrechtslehrervereinigung, noch müde von den Laudationes für den Bundesgerichtshof, sah zunächst keinen Anlass, tätig zu werden. Der Widerstand regte sich zuerst in Regensburg.25 Es gab viel Kritik. Insbesondere Ulrich Huber wollte, nachdem er sich seit seines 1981 erstatteten Gutachtens zum Leistungsstörungsrecht intensiv mit der Materie weiter beschäftigt und in zwei umfänglichen Bänden zum Schuldrecht seine neuen Erkenntnisse festgehalten hatte,26 nicht mehr viel von seinen ursprünglichen Neuerungsvorschlägen und einer Reform des geltenden Leistungsstörungsrechts wissen.27 Bei aller Einsichtsfähigkeit und allem Wandel der Anschauungen, in einem Punkt ist er sich treu geblieben: in seiner Ablehnung der c. i. c. Die culpa in contrahendo schien freilich neben den vielen Baustellen, die sich nun auftaten, ohnehin nur eine nahezu nebensächliche Fußnote im gesamten Reformprojekt zu sein. Dem alten § 305 Abs. 1 BGB, der die Begründung rechtsgeschäftlicher Schuldverhältnisse durch Vertrag zum Gegenstand hatte (jetzt § 311 Abs. 1 BGB), sollte lediglich ein zweiter Satz angefügt werden, der klarstellte, dass ein Schuldverhältnis auch schon durch „Anbahnung eines Vertrages“ entstehen könne. Barbara Dauner-Lieb hat in ihrem Vortrag in Regensburg deutlich gemacht, dass die Rechtswirklichkeit des ausufernden Richterrechts mit diesem Hinweis nicht annähernd sichtbar würde.28 Immerhin fand sie es „bemerkenswert, daß an eine Kodifizierung der inzwischen sehr gefestigten Vertrauenshaftung niemals gedacht worden“29 sei (sic!). Das war vermutlich freundlich in Richtung auf Canaris gemeint. Denn dieser immerhin wusste, wie zentral jenes Institut, von dem alle noch als culpa in contrahendo sprachen, für die Modernisierung des Schuldrechts und vor allem sein eigenes wissenschaftliches Lebenswerk war. Die Zeit war reif – jetzt oder nie: Er ergriff die Chance und wurde die „treibende und prägende Kraft“30 in

25  Auf der von Reinhard Zimmermann und Wolfgang Ernst organisierten Tagung vom 17./18. November 2000. Die Vorträge sind abgedruckt in: Ernst / ​Zimmermann (Hrsg.), Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform (2001). Bei ca. 600 Mitgliedern der Zivilrechtslehrervereinigung war die „Beteiligung mit ca. 100 Teilnehmern eine erhebliche, wenn auch keine überwältigende“, so Jakobs, Tagungsbericht, JZ 2001, 27. 26 Die Ergebnisse seiner geläuterten Sicht sind publiziert in: U. Huber, Das Recht der Leistungsstörungen, 2 Bde. (1999). Die c. i. c. hat dort keinen Platz gefunden. 27  U. Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31–183. Dieser grundsätzliche Wandel hat bereits grundlegendes rechtshistorisches Interesse erregt: Ch. Hattenhauer, Der Einfluß Ulrich Hubers (2001); Stöckle, Die Arbeitsweise von Ulrich Huber und seine Konzeption des Leistungsstörungsrechts (2007). 28 Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S. 305. 29  Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S. 319. 30  Dauner-Lieb, Einführung, in: Das neue Schuldrecht in der anwaltlichen Praxis (2002), S. 17.

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§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo

der von der Justizministerin eingesetzten Kommission „zur Überarbeitung des Leistungsstörungsrechts“ (Schuldrechtskommission II). Hier wurde eine „Konsolidierte Fassung des Diskussionsentwurfes“ erarbeitet, die das BMJ am 6. März 2001 offiziell vorstellte und auf deren Basis schließlich auch der Regierungsentwurf in die parlamentarische Diskussion eingebracht worden ist. Regelmäßig ist es die höchste Erfüllung rechtswissenschaftlicher Forschung, wenn das literarische Schaffen in der Rechtspraxis ihren Niederschlag findet und die eigene Rechtsmeinung zu einem, wenn auch nur einzelnen konkreten Rechtsproblem von der Rechtsprechung rezipiert wird. Nur sehr wenigen bleibt es vergönnt, ihr wesentliches theoretisches Lebenswerk in Gesetzesform gegossen zu sehen. Claus-Wilhelm Canaris hat es geschafft. Die Gussform hat er in Gestalt der konsolidierten Fassung gleich selbst mitgeliefert. Zum energischen politischen gesellte sich so auch der unbedingte rechtswissenschaftliche Wille, das Reformprojekt zu einem Erfolg zu führen. Die aufgrund des zeitlichen Druckes bis dato wohl von der Mehrheit der Zivilrechtswissenschaft präferierte „kleine Lösung“ (lediglich fristgerechte Umsetzung der EU-Richtlinien) musste verhindert werden; denn: „Als politisch denkender Mensch habe ich … ja noch mehr Verständnis für das Bestreben, den günstigen Augenblick zu nutzen; … heute gebraucht man … das Bild von der offenen Tür, durch die man gehen muß, bevor sie sich wieder schließt. Und wir sollten uns keine Illusionen machen: die Tür steht vermutlich nur jetzt offen. (…) Wer für eine ‚kleine‘ Lösung plädiert, nimmt daher in Wahrheit zugleich das Risiko in Kauf – oder strebt sogar unausgesprochen an –, daß es eine ‚große‘ Lösung auf unabsehbare Zeit nicht geben wird (…).“31

Wer immer geglaubt hatte, Zivilrecht sei vor allem ein dogmatisches Glasperlenspiel, wurde auf der Sondertagung der Zivilrechtslehrer in Berlin eines Besseren belehrt: In engem Schulterschluss mit der Ministerin und dem ganzen Gewicht seiner wissenschaftlichen Autorität rang Canaris den immer lauter werdenden Unmut der Kritiker nieder. Die Reform war Geschichte. In der abschließenden parlamentarischen Debatte ging es dann ernsthaft auch weniger um Inhalte, als um die Abwägung von Autoritäten. Die Justizministerin betonte mit „Dankbarkeit“, dass sie „nicht nur die Creme der deutschen Zivilrechtswissenschaft …, angefangen von Canaris über Medicus bis hin zu Heldrich“ auf ihrer Seite hätte, „sondern von den insgesamt etwa 600 Wissenschaftlern – einige sind immer außen vor – die absolute Mehrheit, etwa drei Viertel der Wissenschaftler“.32 Diejenigen Zivilrechtsprofessoren, die sich gegen das Vorhaben in öffentlicher Erklärung gewandt hatten, wurden demgegenüber in

 Canaris, Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen, JZ 2001, 499/524.  Herta Däubler-Gmelin, Bundestagsdebatte, 1. Lesung am 18. Mai 2001, Plenarprotokoll 14/171, S. 16720. 31 32

III. Miszellen: Risse in der dogmatischen Stuckatur

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der parlamentarischen Debatte als aus der „zweiten Liga“ (Ludwig Stiegler, SPD) bzw. der „Regionalliga, höchstens“ (Alfred Hartenbach, SPD) diskreditiert.33 Wie sollte man auch von den Abgeordneten des deutschen Bundestages eine inhaltliche Diskussion über ein Gesetzeswerk erwarten, bei dem selbst die überwiegende Zahl der Zivilrechtswissenschaftler den Überblick verloren hatte: „Über die Änderung des BGB erfuhr man … relativ wenig, über die Entstehung des BGB erstaunlich viel.“ Vor allem „vertraute Vorurteile“.34 Der Abgeordnete Dirk Manzewski (SPD) sah sich dann offenbar genötigt, den von der Ministerin in den Vordergrund gestellten Autoritätsbeweis für alle diejenigen verständlich zu machen, denen Canaris u. a. bisher noch nicht als die „größten juristischen Koryphäen unseres Landes“35 bekannt waren: „Für Nichtjuristen sei gesagt: Das ist ungefähr so, als wenn Sie Anfang der 70er Jahre Fußball spielen und Sie haben Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Uwe Seeler und Gerd Müller in ihrer Mannschaft und auf der anderen Seite steht die Truppe von Rudi Völler vom letzten Wochenende.“36

Am 1. Januar 2002 ist die Vertrauenshaftung als „dritte Haftungsspur“ im Gesetz aufgenommen und das Bürgerliche Gesetzbuch damit als eine in sich stimmige Kodifikation verabschiedet worden. Das modernisierte BGB ist seither weder ein Bürgerliches (dazu fehlt ihm jedes Konzept des Bürgerlichen) noch ein Volksgesetzbuch (dazu ist es abstrakter und technizistischer als je zuvor); es ist in der Tat bestenfalls das, was es nach Ansicht des Gesetzgebers werden sollte: Eine „zivilrechtliche Gesetzessammlung“.37

 Bundestagsdebatte, 1. Lesung am 18. Mai 2001, Plenarprotokoll 14/171, S. 16731. die Analyse bei Schröder / ​Thiessen, Von Windscheid zu Beckenbauer – die Schuldrechtsreform im Deutschen Bundestag, JZ 2002, 325. 35  Dirk Manzewski, Bundestagsdebatte, 1. Lesung am 18. Mai 2001, Plenarprotokoll 14/171, S. 16730. 36 Bundestagsdebatte, 2. Lesung am 11. Oktober 2001, Plenarprotokoll 14/192, S. 18763. 37  So Manzewski, Plenarprotokoll 14/171, S. 16728: „Das BGB wird dadurch wieder zu dem, was es einmal war, nämlich die zentrale umfassende zivilrechtliche Gesetzessammlung.“ Ähnliches Fazit bei Rieble, Kodifikation der c. i. c. (2003), S. 138: „Das BGB als Bestandsverzeichnis von Rechtsinstituten“, mit der Klarstellung: „das ist neu“. Zum begrifflichen Verständnis vgl. nur Senn, Rechtsgeschichte (2003), S. 263: „Eine Kodifikation ist eine umfassende und systematische Ordnung des gesamten Rechtes oder eines Teilbereiches, wie zum Beispiel des Privatrechts. … Davon zu unterscheiden sind Kompilationen, die wie Rechtsbücher des Mittelalters Rechtsregeln unsystematisch aufzeichnen bzw. die vorhandenen Rechtsregeln nur sammeln.“ 33

34 Vgl.

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§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo

I. Endlich: Ein gesetzlich geregeltes „gesetzliches Schuldverhältnis“ „Wir bedauern in diesem Augenblick wieder besonders, daß einer der Hauptvorkämpfer, Herr Professor Stoll, mitten aus seiner segensreichen Arbeit herausgerissen worden ist. Auf der Grundlage, die hier geboten ist, werden wir weiterarbeiten.“ Ministerialdirektor im Reichsjustizministerium Erich Volkmar, 193738 „Die culpa in contrahendo hat sich zu einem der zentralen Rechtsinstitute des deutschen Zivilrechts entwickelt. Die Grundsätze dieses Rechtsinstituts sollen deshalb auch im Bürgerlichen Gesetzbuch als der zentralen deutschen Zivilrechtskodifikation ihren textlichen Ausdruck finden. Damit soll das Bürgerliche Gesetzbuch selbst auch wieder über den wirklichen Bestand des deutschen allgemeinen Schuldrechts Auskunft geben.“ Abgeordnete des Deutschen Bundestag, 200139

Es ist offensichtlich keineswegs so, dass der Gesetzgeber die Bedeutung der culpa in contrahendo nicht angemessen gewürdigt hätte. Sie war, soweit das juristische Gedächtnis reicht, schon immer da, oder, um mit Wieacker zu sprechen, sie gehörte zum „geistigen Haushalt“ der Juristenausbildung eines ganzen Jahrhunderts. Was aber genau das bedeutet, wurde erst deutlich, als es nunmehr galt, von der bloßen „kahlen Formel“ zu einer dogmatischen Form zu gelangen. Der Kontrast im Verständnis um Wesen und Aufgabe einer Kodifikation könnte dabei nicht stärker zum Ausdruck gebracht werden, als es ein Vergleich des Umgangs mit der culpa in contrahendo im Jahre 1900 einerseits und im Jahre 2002 andererseits veranschaulicht. Dort die differenzierte Auflösung in Einzeltatbestände und 100 Jahre später die abstrakte Verallgemeinerung zur haftungsrechtlichen Generalklausel an zentraler Stelle des BGB: Die Kategorie der Schutzpflichten wurde der Eingangsnorm des Schuldrechts in einem zweiten Absatz beigefügt (§ 241 Abs. 2 BGB n. F.), und dass ein entsprechendes Schutzpflichtverhältnis (bzw. ein quasivertragliches Schuldverhältnis, eine Sonderbeziehung oder wie man es auch nennen will) nicht mehr nur durch Vertrag (§ 305 BGB a. F., § 311 Abs. 1 BGB n. F.), sondern bereits durch „die Aufnahme von Vertragsverhandlungen“ (Nr. 1), die „Anbahnung eines Vertrags“ (Nr. 2) oder „ähnliche geschäftliche Kontakte“ (Nr. 3) entstehen kann, wurde in § 311 Abs. 2 BGB klargestellt. Das maßgebliche Kriterium der haftungsgeneigten Beziehung findet sich dann schließlich in Abs. 3: Das Vertrauen!

38  Beratungen zum Volksgesetzbuch, Sitzung vom 30. Oktober 1937 in der Universität München, in: Werner Schubert (Hrsg.), Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien (1988), S. 305. 39  Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts der Fraktionen von SPD und Bündnis90/Die Grünen, BT-Drs. 14/6040 S. 162 (textidentisch mit der Begründung der Bundesregierung BT-Drucks. 14/6857).

I. Endlich: Ein gesetzlich geregeltes „gesetzliches Schuldverhältnis“

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So findet sich alles wieder, was im Laufe der wechselvollen Dogmengeschichte an Dogmen vorgestellt, kritisiert und wieder verworfen wurde. Canaris hatte recht: Die Tür war offen. Eine zweite Chance, die Vertrauenshaftung als „dritte Haftungsspur“ im BGB zu verankern, hätte es vermutlich so schnell nicht wieder gegeben. Das in letzter Hilflosigkeit als „gesetzliches Schuldverhältnis“ bezeichnete Institut der c. i. c. wurde endlich gesetzlich legitimiert, und zwar in seiner weitest möglichen Form. 1. Dogmatisches Finale: Die Vertrauenshaftung im BGB „Was die Passivlegitimation angeht, so ist … nur der Tatbestand der Vertrauenshaftung eigenständig ausgeformt. Freilich ist der Kreis der Dritten, die möglicherweise aus culpa in contrahendo haften, durch das Bemühen um Abdeckung aller einschlägigen Fallgruppen reichlich weit geraten. Indessen ist die Entwicklung insoweit noch nicht hinreichend konsolidiert, um die Formulierung eines eingrenzenden Kriteriums zu erlauben, zumal die Rechtsprechung ohnehin eher zu einer noch stärkeren Ausweitung tendiert.“ Claus-Wilhelm Canaris, 200140 „… dieses Zitat ist vom gestrigen Tage aus der ‚JZ‘ und stammt von niemand Geringerem als von Professor Dr. Claus-Wilhelm Canaris, einer der größten juristischen Koryphäen unseres Landes.“ Dirk Manzewski, 200141

Heinrich Stoll hatte die Sache für das Volksgesetzbuch noch einfach und zusammenhängend in einer Neufassung von „Treu und Glauben“ so formuliert: „§ 2 (BGB 242) Vertrauensverhältnis und Schutzpflicht. (1) Schuldner und Gläubiger stehen vom Beginn der Vertragsverhandlungen bis zur Beendigung des Schuldverhältnisses in einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis (Treupflicht). (2) (…) (3) Schuldner und Gläubiger müssen in wechselseitiger Rücksichtnahme dafür sorgen, daß keiner den andern durch sein Wirken schädigt.“42

Um sich nunmehr positivistisch korrekt auf eine vorvertragliche Schutzpflichtverletzung zu berufen, bedarf es demgegenüber des Hinweises auf nicht weniger als dreier Grundnormen des (reformierten) allgemeinen Schuldrechts: §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2/3 BGB.

40  Beratungen zum Volksgesetzbuch, Sitzung vom 30. Oktober 1937 in der Universität München, in: Werner Schubert (Hrsg.), Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien (1988), S. 305. 41  171. Sitzung des Bundestages am 18. Mai 2001, Erste Lesung über den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, Plenarprotokoll 14/171, S. 16730. 42  Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 129 f.; Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945, Bd. III, 1: Volksgesetzbuch (1988), S. 271. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund oben § 6 II.2.

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§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo

§ 280 Abs. 1 BGB ist entsprechend der Stoll’schen Lehre von den Forderungsverletzungen die Anspruchsgrundlage schlechthin geworden: „Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens verlangen.“43

§ 241 Abs. 2 BGB charakterisiert dann die Schutzpflichten ganz im Sinne der Gemeinnutz-vor-Eigennutz-Doktrin als Pflichten zur Rücksichtnahme: „Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.“44

Wann genau und warum diese Pflichten entstehen können, versucht der neue § 311 BGB in seinen Absätzen 2 und 3 näher zu umschreiben. Hier wird die besondere Sonderbeziehung neben dem Vertrag näher erläutert, indem sogleich die gesamte diesbezügliche Debatte der Eingrenzungsversuche mit abgebildet wird:45 In Abs. 2 Nr. 1 findet sich die Standardformulierung vom Beginn der Sonderbeziehung mit den Vertragsverhandlungen zur Wiedererkennung der Standard-culpa in contrahendo. In Abs. 2 Nr. 2 wird die notwendige Vorverlagerung beim besonderen Rechtsgüterschutz der Anvertrauenshaftung und gleichsam noch einmal der Triumph gegenüber der deliktsrechtlichen Theorie herausgestellt,46 um dann in Abs. 2 Nr. 3 vorsichtshalber die allgemeine, seit Dölle / ​Larenz in Gebrauch befindliche Generalformel vom „geschäftlichen Kontakt“ nun doch auf jeden schadensrechtlich relevanten sozialen und hypothetischen „Kontakt“ auszuweiten.47 Und in Abs. 3 wird endlich die Ver43  Missverständlich insoweit Canaris, Materialien (2002), S. XIX: Die „positive Forderungsverletzung“ würde „effektiv im Schlund der Rechtsgeschichte“ verschwinden; ebenso schon aaO., S. XVI: „Und was ist aus der positiven Forderungsverletzung geworden? Sie ist glücklicherweise verschwunden …“; sie ist natürlich nicht verschwunden, sondern „… geht in den einzelnen Vorschriften auf …“ (so richtig aaO., S. XVI); was Canaris meint, ist wohl nicht die p. F., sondern die p. V.; die ist in der Tat verschlungen worden, aber nicht erst im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung im Jahre 2001, sondern bereits 70 Jahre zuvor von der culpa in contrahendo, vgl. oben § 6 I.1. (Die c. i. c. verschlingt die p. V.). 44 Vgl. oben § 6 II. 45  Vgl. oben § 5 III.3.c); § 7 II.3.b), zur Frage, wann das vorvertragliche Schuldverhältnis genau beginnt. 46 Oben § 7 II. (Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel). Die gesonderte Benennung der Vertragsanbahnung neben den Vertragsverhandlungen hat bereits für Verwirrung gesorgt. Zutreffend weist Lieb, Culpa in contrahendo (2002), § 3 Rn. 37, darauf hin, dass Nr. 1 nur ein Unterfall von Nr. 2 ist; während demgegenüber Rieble, Kodifikation der culpa in contrahendo, (2003), S. 137/141, der Meinung ist, Nr. 2 begründe eine besondere „Pflichtenintensität“, ohne freilich näher zu erläutern, warum ausgerechnet bei der Vertragsanbahnung eine höhere Pflichtenintensität als bei den Verhandlungen bestehen soll; insb. waren es ja bei der Linoleumrollen-Entscheidung – die als Paradigma für Nr. 2 herangezogen wird – bereits Vertragsverhandlungen. 47 Ausf. oben § 7 II.3. Dass hier nunmehr mit dem Zusatz „ähnliche geschäftliche Kontakte“ wohl doch jeder zu Vermögensschäden führende soziale Kontakt kodifiziert wurde, ergibt sich bereits aus der gesonderten Erwähnung neben den Nrn. 1 und 2, die den „geschäftlichen Kontakt“ ansonsten ja hinreichend beschreiben. Canaris – als hätte er mit dieser Formel gar nichts zu

I. Endlich: Ein gesetzlich geregeltes „gesetzliches Schuldverhältnis“

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trauenshaftung als eigentlicher Tatbestand der culpa in contrahendo kenntlich gemacht:48 „(2) Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 entsteht auch durch 1. die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, 2. die Anbahnung eines Vertrags, bei welcher der eine Teil im Hinblick auf eine etwaige rechtsgeschäftliche Beziehung dem anderen Teil die Möglichkeit zur Einwirkung auf seine Rechte, Rechtsgüter und Interessen gewährt oder ihm diese anvertraut oder 3. ähnliche geschäftliche Kontakte. (3) Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 kann auch zu Personen entstehen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen. Ein solches Schuldverhältnis entsteht insbesondere, wenn der Dritte in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst.“

Die Regelung der Haftung aus Sonderverbindung (culpa in contrahendo) ist damit gegenüber dem ursprünglichen Entwurf der Schuldrechtskommission in der Tat geradezu geschwätzig.49 Aber auch wenn manche die Auffassung vertreten, viele Worte schafften bereits einen subsumtionsfähigen Tatbestand,50 so tun – nennt sie „etwas dunkel“, um dann mit dem Gedanken eines „Gefälligkeitsverhältnisses“ Licht ins Sprachspiel zu bringen (Die Reform, JZ 2001, 499/520). Die in der Regierungsbegründung (BT-Drs. 14/6040, S. 163) vorgestellte Idee von einer „Anbahnungsvorbereitungsphase“ („Kontakte, bei denen z. B. noch kein Vertrag angebahnt, ein solcher aber vorbereitet werden soll“) ist, wie Rieble, Kodifikation der c. i. c. (2003), S. 137/141, zutreffend drastisch ausführt „nicht nur ‚etwas dunkel‘, sondern Blödsinn: Sobald vorvertragliche Pflichten in Betracht kommen, hat die Anbahnungsphase der Nr. 2 bereits eingesetzt.“ Kritisch auch Medicus, Leistungsstörungsrecht (2002), Rn. 166, Fn. 102: „Daß der Regelung die Konturenschärfe erhalten bleiben soll (so BT-Drucks. 14/6040 S. 162), dürfte hier wohl kaum gelungen sein.“ 48 „Bei Anwendung der culpa in contrahendo kommt es entscheidend darauf an, ob Vertrauen in Anspruch genommen worden ist oder nicht. Die Vorschrift soll der Rechtsprechung aufzeigen, dass diese Fälle auch auf diesem Wege zu lösen sind.“ (RegBegr. zu § 311 Abs. 3 S. 2; Canaris, Materialien (2002), S. 723; nähere Klarstellungen dann ders., Die Reform, JZ 2001, 499/520). Eine Dritthaftung aus „Eigeninteresse“ und eine solche aus „besonderem Vertrauen“ sind im Grundsatz konkurrierende  – ja geradezu antagonistische  – Konzepte; denn: „Das Eigeninteresse des Dritten kann das ihm zu gewährende Vertrauen kaum verstärken; es muss vielmehr misstrauisch machen.“, so mit Bezug auf BGHZ 126, 181/186 ff. Medicus, Leistungsstörungsrecht (2002), Rn 172. 49 Vgl. § 305 Abs. 2 BGB-KE (1991): „Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB-KE kann bereits durch Anbahnung eines Vertrags entstehen.“; ebenso dann der Diskussionsentwurf (2000); kritisch hierzu Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S.  305/316 ff. 50 So Canaris, Die Reform, JZ 2001, 511/519; identisch ders., Materialien (2002), S. XX.: „… die Regelung der culpa in contrahendo [dürfte] durchaus den Anforderungen tatbestandlicher Subsumtionsfähigkeit genügen“; dagegen bereits Lieb, Culpa in contrahendo (2002), § 3 Rn. 36: „… daß dabei eine ‚subsumtionsgeeignete Norm‘ herausgekommen sei, wird man bezweifeln dürfen.“; deutlich kritisch auch Rieble, Kodifikation der culpa in contrahendo (2003), S. 137: Das BGB sei „studierfreundlicher geworden … Kodifiziert ist aber nur das bloße Rechtsprinzip – ohne subsumtionsfähigen konkreten Inhalt. Insofern war § 305 Abs. 1 Satz 2 DiskE ehrlicher, der die culpa in contrahendo nur erwähnen wollte. Wenn Canaris betont, mit § 311 Abs. 2 und 3 BGB habe die Leistungsstörungskommission sich ‚bemüht, … eine Regelung zu entwerfen, die den Anforderungen an eine  – wenngleich nur generalklauselartige  – sub-

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kann doch für jeden, der genauer hinsieht, nicht zweifelhaft sein, dass trotz des Versuches, die culpa in contrahendo zu konkretisieren, gar nichts anderes als eine „Ermächtigung zum tatbestandsfreien Judizieren“51 festgeschrieben wurde, eine Blankettnorm für Richterrecht.52 Das ergibt sich bereits aus dem Novum einer echten Ermessensentscheidung auf Tatbestandsseite bei der Postulation von Schutzpflichten (vgl. das „kann“ in § 241 Abs. 2 BGB). Fragt man dann weiter, wann eine solche Pflicht im Einzelfall vielleicht bestehen „kann“, so wird deutlich, dass – wenn überhaupt dann – das Vertrauen als causa obligationis für jeden Einzelfall als maßgeblicher Tatbestand der culpa in contrahendo jetzt auch gesetzlich sanktioniert worden ist. Denn es ist sicherlich mit den Mitteln der herkömmlichen Methodenlehre keine große Schwierigkeit, das haftungsbegründende „Vertrauen“ aus § 311 Abs. 3 BGB auch in den gesamten Abs. 2 (das Anvertrauen ist ja bereits in Nr. 2 enthalten) mithineinzulesen und von hier aus auch dem § 241 Abs. 2 zu vindizieren: Was für eine Haftung Dritter gilt, das muss doch erst recht für die Haftung des potenziellen Vertragspartners gelten! Der in den 1930er Jahren in der Literatur vollzogene Wandel einer Haftungsbegründung von der bona fides auf Treue und Vertrauen ist so nunmehr auch rechtstechnisch realisiert; denn wenn man die gesamte Neuregelung dogmatisch ernst nimmt, verbietet sich mit der speziellen Regelung der Schutzpflichten in § 241 Abs. 2 BGB ein Rekurs auf „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB), aus dem heraus die Schutzpflichten bisher begründet worden sind. § 242 BGB verbleibt entsprechend seinem Wortlaut die Generalklausel bei der Bestimmung der Leistungspflichten.53 Freilich ist es nur der Inkonsequenz des Gesetzgebers zu verdanken, dass es § 242 BGB überhaupt noch gibt. Heinrich Stoll war hier konsequenter: Gemeinschaftliche Rücksichtnahme in einem Vertrauensverhältnis erfasst eben jede Form des allgemeinen Schädigungsverbots nach Treu und Glauben.

sumtionsgeeignete Norm genügt‘, so liefert er zwei Kritikpunkte gleich selbst mit: Inhaltlich lässt sich seit Justus Wilhelm Hedemanns Kritik an den Generalklauseln deren Subsumtionsfähigkeit kaum mehr behaupten. Aus der Zeugnissprache rührt die verdächtige Wendung ‚hat sich bemüht‘. Ihr ist nichts anzufügen.“ 51  Mit Bezug auf Esser: Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 241. 52 So bereits zu recht für den deutlich kürzeren Satz im Diskussionsentwurf: Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S. 305/316; dann deutlicher: dies., Bestandsaufnahme (2003), S. 19: „Kodifikation als Blankettermächtigung“; Lando, Das neue Schuldrecht, RabelsZ 67 (2003), S. 231/243 f.: „Auch ändern die drei Bestimmungen im deutschen Recht nichts gegenüber den früheren richterrechtlichen Regeln der c. i. c. Warum wird die c. i. c. dann überhaupt ausdrücklich in das BGB übernommen? Weil der Gesetzgeber die c. i. c. gesetzlich anerkennen und respektabel machen wollte? Weil er zugleich sagen wollte, daß die Rechtsentwicklung weiterhin Literatur und Rechtsprechung überlassen sein sollte?“ 53  Anders Paßmann, Schutzpflichtverletzungen (2010), S. 54 ff.: Ableitung aus dem Vertrag selbst und aus § 242 BGB.

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Wie dem auch sei: Kodifiziert wurde die Vertrauenshaftung54 als Pflichtengenerator im Rahmen eines umfassenden Schutzpflichtverhältnisses55. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass zwar noch alle von ihr reden, der Begriff der culpa in contrahendo aber an keiner Stelle des Gesetzes erwähnt wird. Das wird 54  Dezidiert dagegen: Rieble, Kodifikation der culpa in contrahendo (2003), S. 139 f.: „Die culpa in contrahendo ist Haftung für schuldhafte Pflichtverletzung und keine allgemeine Vertrauenshaftung. … Daß der Gesetzgeber in § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB dogmatische Erwägungen in Richtung Vertrauenshaftung verlautbart, rechtfertigt keine andere Sichtweise: Denn insofern geht es um das Vertrauen als Grundlage für die Begründung der vorvertraglichen Pflichten. Eine eigenständige Vertrauenshaftung ohne Pflichtverstoß läßt sich damit nicht begründen.“ Hier wird ein offensichtlich weit verbreitetes Missverständnis zum Phänomen der Vertrauenshaftung ausgesprochen. Es wird verkannt, dass der Gedanke vom „in Anspruch genommenen Vertrauen“ bereits die Pflichten begründen soll. Vertrauenshaftung und Pflichtverletzung sind also keine Gegensätze, das ergibt sich, wie gesehen, bereits aus der ganzen historischen Genese der Vertrauenshaftung: Das „Vertrauen“ tritt lediglich an die Stelle von „Treu und Glauben“; vgl. deutlich etwa: Frotz, GS Gschnitzer (1969), S. 163/168, der von einer „vertrauenstheoretischen Pflichtbegründungskonzeption“ spricht; oder Frost, „Vorvertragliche“ und „vertragliche“ Schutzpflichten (1981), S. 82: „Die ‚Vertrauenshaftung‘ als pflichtenbegründendes Hilfsmittel.“ Richtig ist freilich, dass die Vertrauenshaftung eine Tendenz zur Simplifikation in sich trägt: Die zentrale und einzige Pflicht wäre demnach halt Vertrauen nicht zu enttäuschen: in diesem Sinne, wie gesehen, etwa schon Bohrer, Dispositionsgarant (1980), S. 272: „Die (rechtlich relevanten) Verhaltenserwartungen stellen den Haftungsgrund dar und beschreiben zugleich den Umfang der Verhaltensgebote.“ Dass das Verhältnis von culpa in contrahendo und Vertrauenshaftung für die Mehrheit der Zivilrechtswissenschaft wenig geklärt ist, wurde bereits oben erwähnt (oben § 7 I.3.); deutlich insoweit im Zuge der Reform dann ja Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S. 319, wonach eher die Vertrauenshaftung als die c. i. c. hätte kodifiziert werden sollen. 55  Das war im Abschlussbericht 1992 noch als offen behandelt. Unter Rücksicht auf den maßgeblichen Einfluss, den Canaris in der Endphase der Schuldrechtsmodernisierung gespielt hat, muss es freilich nicht verwundern, wenn sich in der Regierungsbegründung zu § 241 Abs. 2 lesen lässt: „Solche Schutzpflichten begleiten regelmäßig wirksame Schuldverträge. Die Pflichtverletzung bedeutet dann nach geltendem Recht eine positive Forderungsverletzung. Inhaltlich teils gleiche Schutzpflichten können aber auch unabhängig von Leistungspflichten vorkommen. So liegt es insb. beim Verschulden bei Vertragsanbahnung, bei der vertraglichen Schutzwirkung für einen Dritten und bei der Schutzwirkung eines nichtigen Vertrags.“ Gleichwohl wird auch deutlich, wie hektisch die Redaktion des Gesetzes und seine Begründung bearbeitet wurde; denn in der Begründung zu § 311 Abs. 2 Nr. 1 kann man durchaus noch Gegenteiliges lesen: „Das Schuldverhältnis entsteht durch den Beginn der Vertragsverhandlungen. Es endet, wenn es zur Beendigung der Verhandlungen kommt oder wenn der Vertrag, über den verhandelt worden ist, zustande kommt.“ Das passt natürlich beides nicht zusammen. Gleichwohl dürfte das die historisch einzig richtige Deutung sein; vgl. auch Lorenz / ​Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht (2002), Rn. 355: „Diese kodifikatorische Rückführung der Rechtsinstitute ‚pFV‘ und ‚c. i. c.‘ auf eine einheitliche Anspruchsgrundlage bringt zutreffend den Grundgedanken zum Ausdruck, der in der Literatur bisher unter dem Stichwort des ‚einheitlichen gesetzlichen Schutzpflichtverhältnisses‘ zusammengefasst wurde“. A. A.  Rieble, Kodifikation der c. i. c. (2003), S. 140: „Cic und pFV sind zwar hinsichtlich der Pflichtenbegründung und der Anspruchsgrundlage in §§ 241 Abs. 2, 280 BGB ‚vereint‘. Das ist aber keine Hinwendung zum einheitlichen Schutzpflichtverhältnis, wie es seinerzeit von Canaris gefordert worden ist (…).“; eigene Interpretationswege geht auch Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), der das Ganze als ein „Schuldverhältnis der Rechtskreisöffnung“ deuten möchte, ohne dass dabei klar würde, was sich, außer dem Begriff, damit ändert.

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von manchen kritisiert; sei doch die c. i. c. ein echter deutscher Markenartikel, den es auch begrifflich hervorzuheben gelte.56 Anderenfalls könnte wohl der Eindruck entstehen, auch die culpa in contrahendo sei im „Schlund der Rechtsgeschichte“ verschwunden.57 Und in gewisser Weise ist sie das auch: im Schlund einer „dritten Haftungsspur“, die nichts mehr mit „culpa“ zu tun hat. 2. Schutzpflichten: Ein „weites Feld“! „So zeigen sich, um nur das Wesentlichste hervorzuheben, in der gegenwärtigen deutschen Rechtsentwicklung deutlich Strebungen, aus dem Appell zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft die Forderung nach einem verstärkten Zusammenschluß der Einzelnen und einer erhöhten Rücksichtnahme aufeinander abzuleiten (…).“ Hans Dölle, 194358 „Und zweitens ist die Grundregel der Privatautonomie zu respektieren: nämlich daß jeder in erster Linie Hüter seiner eigenen Interessen ist und nicht der Interessen des Verhandlungspartners.“ Dieter Medicus, 198959

§ 311 Abs. 2 und 3 verweisen inhaltlich auf § 241 Abs. 2. An dieser Regelung ist zunächst bemerkenswert, dass man das Kind nicht deutlich beim Namen nennt und scheinbar nicht wirklich Schutz-, sondern Rücksichtnahmepflichten kodifiziert wurden. Doch im Zeitalter der Abkehr von Begriffsklarheit mag das nicht viel heißen. Denn inhaltlich sollte damit ja keine Abkehr von der bisher geführten Schutzpflichten-Diskussion verbunden sein: „Durch die Betonung der ‚besonderen Rücksicht‘ wird angedeutet, daß die gemeinten Schutzpflichten nicht dem entsprechen, was schon nach allgemeinem Deliktsrecht geboten ist.“60 Die bisher als Schutzpflichten erkannten Pflichten sind also, das wäre die einfachste 56  Etwa Krebs, Die große Schuldrechtsreform, DB 2000, Beilage Nr. 14, S. 9; Fleischer, Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 243/251: Eine gesetzliche Regelung manifestiere „die Vorreiterrolle der deutschen Zivilrechtsdogmatik auf diesem zentral wichtigen Gebiet und verschafft ihrer Stimme auf europäischem Parkett nachdrücklich Gehör. Entgegen wohlmeinenden Belehrungen liegt darin ein nicht unbeträchtlicher Vorteil …“; Lieb, Culpa in contrahendo (2002), § 3 Rn. 37: „Der hergebrachte und altehrwürdige, auch international geläufige Begriff der culpa in contrahendo wird im Wortlaut des Gesetzes leider nirgends verwendet.“ In dieser Vorstellung werden freilich Ruf und Name der culpa in contrahendo vielleicht etwas überschätzt. Ein Blick in die PECL etwa zeigt den doch sehr begrenzten Bereich, den ein Großteil der ausländischen Zivilrechtswissenschaft mit dem Namen der culpa in contrahendo verbindet, nämlich allenfalls den Abbruch von Vertragsverhandlungen, doch wird das eher unter „negotiation in good faith“, nicht als c. i. c. thematisiert; vgl. hierzu auch Lando, Das neue Schuldrecht, RabelsZ 67 (2003), S. 231/242 ff. 57  So Canaris Materialien (2002), S. XIX, zur „positiven Forderungsverletzung“. 58  Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS, 103 (1943), 67/79 f. 59 Die culpa in contrahendo zwischen Vertrag und Delikt, in: FS Keller (1989), 205/219. 60  So schon die Begründung des ursprünglichen Kommissionsentwurfs (Abschlußbericht, 1992, S. 113 f.); wortgleich die Begründung des Regierungsentwurfes BT Drucks. 14/6040, S. 125.

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Lesart, von nun an aus der Pflicht zur „Rücksichtnahme“ zu deduzieren: Es ist die Pflicht zur Rücksicht, die alle bekannten (und noch unbekannten) Verkehrssicherungs-, Obhuts-, Loyalitäts-, Treue-, Aufklärungs,‑ … usw. Pflichten hervorsprießen lässt. Und doch hat die gesetzliche Verpflichtung zu gegenseitiger Rücksichtnahme, eine Verpflichtung, die zumindest aus dem Straßenverkehrsrecht bekannt ist, im rechtswissenschaftlichen Schrifttum für einige Irritationen gesorgt: So begann sofort ein Streit darüber, ob denn überhaupt auch „Informationspflichten“ von § 241 Abs. 2 n. F. BGB erfasst seien.61 Bereits Ulrich Huber hatte mit dem Begriff der Rücksichtnahme eine eher beschränkte Assoziation („etwa im Sinne der berühmten Linoleumrollenentscheidung“) und meinte, der „Merkposten“ sei „zu eng gefaßt“, weil sich „Pflichten im Stadium der Vertragsanbahnung … nicht, wie es nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit § 241 II BGB-DiskE scheinen könnte, in der Pflicht ‚zu besonderer Rücksicht auf Rechte und Rechtsgüter des anderen Teils‘“ erschöpften. Praktisch viel wichtiger seien „Aufklärungspflichten, Beratungspflichten und Pflichten zum redlichen Verhandeln (…)“.62 Johannes Köndgen wiederum hat die Auffassung vorgetragen, „mit der Rücksichtnahmepflicht“ sei jedenfalls „der Problematik fehlerhafter Werbeangaben nicht beizukommen.“63 Holger Fleischer meint sogar, es sei „nicht mehr nachvollziehbar …, dass der eigentliche Pflichtenkern der culpa in contrahendo – das Gebot zu vorvertraglicher Fairness und Loyalität – bei alledem gänzlich ins Hintertreffen gerät“ und wollte statt dessen einen Hinweis auf „Treu und Glauben“ mit in § 305 DiskE (sic!) aufnehmen.64 Es war in der Diskussion um die Kodifikation der culpa in contrahendo mithin offensichtlich, dass niemand wirklich wusste, was eigentlich im BGB kodifiziert wurde bzw. kodifiziert werden sollte. In historischer Lesart ging es, das wissen wir jetzt, um gar nichts anderes als die aus dem Gemeinschaftsdenken der 1930er Jahre erwachsene „dritte Haftungsspur“ zwischen Vertrag und Delikt, die nunmehr endlich Gesetz werden sollte. Es ging und es geht weiterhin um den Grundkonflikt, ob und inwieweit kollektivistisches und individualistisches Rechtsdenken in Übereinstimmung gebracht werden können: Während das klassische Vertragsrecht von der Prämisse ausgeht, dass jede Seite ihre eigenen Interessen wahrnimmt, werden die Parteien in einem auf gegenseitige Rücksichtnahme verpflichtenden Schutzpflicht‑ bzw. Vertrauensverhältnis (zwangs) kollektiviert. Weder die historische noch die rechtsphilosophische Dimension ihres Tuns war bei den Protagonisten der Reform offenbar überhaupt im Ansatz präsent. Alle dogmatischen Versuche zur Ausdeutung tappten im Dunkeln. 61  Pro: Däubler, Neues Schuldrecht – Ein erster Überblick, NJW 2001, 3729/3733; contra: Zimmer, Das neue Recht der Leistungsstörungen, NJW 2002, 1/7, jeweils m. w. N. 62  Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 159. 63  Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 240. 64 Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 252.

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Eine subjektive Auslegung (die Suche nach einem Gesetzgebungswillen) führt zu nichts (denn sie wussten nicht, was sie tun65), und es darf also ruhig weiter darüber spekuliert werden, was mit § 241 Abs. 2 BGB vielleicht gemeint sein könnte: a) „Rücksichtnahme“ als Schutzpflicht? „Der einzelne muß bei der Verfolgung seiner eigenen Ziele in dem Gegner den Rechtsgenossen sehen; die Parteien begründen in dem Schuldverhältnis ein Vertrauensverhältnis, das sie gegenseitig zu gebührender Rücksichtnahme verpflichtet.“ Heinrich Stoll, 193666

Der Wechsel in der Begrifflichkeit von Schutzpflichten zu allgemeiner Rücksichtnahme ist vielleicht doch nicht allein von dem Gedanken getragen, über den deliktsrechtlichen Schutz mit der Postulation einer Rücksichtnahmepflicht hinauszugehen.67 Denn die terminologische Abgrenzung erfolgte schon seinerzeit mit dem Begriff „Schutzpflichten“, während man für das Deliktsrecht von „Verkehrspflichten“ sprach.68 Aber die Dinge erhalten eine besondere Kraft, wenn es gilt, sie verbindlich beim Namen zu rufen. Und spätestens, da man das neue dogmatische Gewächs zu benennen hatte, dürfte zweierlei (wenigstens intuitiv) deutlich geworden sein: Zum einen bedarf es wohl keiner allzu großen Phantasie, beim Terminus „Schutzpflicht“ von einer begrifflichen auch auf eine inhaltliche Parallele zur verfassungsrechtlichen Diskussion um die Reichweite von Grund‑ und Menschenrechten zu stoßen.69 In nur unwesentlicher Abwandlung von Art. 1 Abs. 1  Eingehend zur Motivationslage sogleich unten II.  Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 10. 67 Vgl. die Begründung zu § 241 Abs. 2 (wortgleich schon im DiskE): „Hinsichtlich der Intensität gehen diese Schutzpflichten über die allgemeinen deliktischen Verhaltenspflichten hinaus. Sie verpflichten die Beteiligten zu einem gesteigerten Schutz der Rechtsgüter des jeweils anderen.“; konkret zu Abs. 2: Mit dem Begriff der „besonderen Rücksicht“ werde „angedeutet, dass die gemeinten Schutzpflichten nicht dem entsprechen, was schon nach allgemeinem Deliktsrecht geboten ist.“ 68 Vgl. oben § 7 II.1. 69 Deutlich in diese Richtung bereits: Rolf Weber, Schutzpflichten – Ein Sozialstaatsgedanke (1989); daneben vgl. nur Johannes Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten (1992); Peter Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten (1996); Hans Dieter Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen. Objektive Grundrechtsgehalte, insbes. Schutzpflichten und privatrechtsgestaltende Wirkung, in: Badura, Peter / ​ Dreier, Horst (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2 (2001), S. 35–55; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht. Eine Untersuchung der deutschen Grundrechte, der Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaft (2001); Sandra Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht – Ansatz einer Dogmatik (2012); Thomas Koenen, Wirtschaft und Menschenrechte. Staatliche Schutzpflichten auf der Basis regionaler und internationaler Menschenrechtsverträge (2012); Matthias Klatt, Schutzpflichten in der Europäischen Konvention für Menschenrechte, in: ders. (Hrsg.), Prinzipientheorie und Theorie der Abwägung (2013), S. 34–61; Matthias 65 66

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GG wäre heute also in § 241 Abs. 2 BGB die „zivilrechtliche Menschenwürde“ formuliert: „Rechte, Rechtsgüter und Interessen sind unantastbar. Sie zu achten und schützen ist Verpflichtung des einen wie des anderen Teils.“

Nicht umsonst findet sich in § 241 Abs. 2 BGB denn wohl auch das laue „kann“ einer solchen Verpflichtung,70 was zwar mit der Idee von einem kategorischen „gesetzlichen Schutzpflichtverhältnis“ nicht zusammenpasst, so aber immerhin ein Novum gesetzestechnischer Regelung offenbart: einen offiziellen Ermessensspielraum auf der Tatbestandsebene (sic!). Zum zweiten leuchtet es sprachlich auch sehr viel eher ein, dass „Schutz“ doch mehr bedeutet als „Rücksicht“ und es in der Sache vielleicht etwas zu weit ginge, jeden Teil darauf zu verpflichten, die Rechte usw. des anderen Teils wie ein „Überwachungsgarant“ gegen alle möglichen Gefahren zu schützen.71 „Rücksicht“ bedeutet an sich schon, dass man selbst voran geht – anderenfalls könnte man ja nicht zurück-sehen. Nahe liegt freilich anzunehmen, dass das nun heißt, jeder habe dafür Sorge zu tragen, dass der andere Teil nicht gar zu kurz, sondern immer noch hinterherkommt. Doch müsste man ergänzend den Schluss ziehen, eine „Rücksichtnahmepflicht“ könne folglich nur dort bestehen, wo Rechte usw. des anderen tatsächlich und deutlich in Sicht sind. Das nämlich wäre das Ende des bisher so leicht hingeworfenen Fahrlässigkeitsvorwurfs. Der Vorwurf „hätte erkennen müssen“ forderte ja gerade eine Voraus-sicht, die mit einer bloßen Rück-sicht schwerlich verlangt sein kann. Sonst stünde am Anfang jenes ‚Rücksichtnahmeverhältnisses‘ zunächst die Obliegenheit, einander über die nicht offenkundig bestehenden Rechte usw. aufzuklären. Die heute so hoch im Kurs des dogmatischen Interesses stehenden „Aufklärungspflichten“ folgten also erst nach Erfüllung von Aufklärungsobliegenheiten … Aber all das dürfte zu weit gehen. Der Gesetzgeber besitzt nicht die sprachliche Sensibilität, die ihm hier unterstellt wird. Übertriebene Begrifflerei bei einer Norm, von der doch alle Eingeweihten wissen, was ihr Inhalt ist: eine kodifizierte Ermächtigungsklausel für gefühlte Unbilligkeiten im Einzelfall.72 Über ihren Inhalt zu spekulieren wäre so, als wollte man „Wolken in einen Sack Ruffert, Grundrechtliche Schutzpflichten, in: Vesting / ​Korioth / ​Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung (2014), S. 109–119; zum Problem anlässlich der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG schon Hesse / ​Kaufmann, Die Schutzpflicht in der Privatrechtsprechung, JZ 1995, 219; Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grundrechte (1999). 70  Hierzu kritisch etwa: Krebs, Die große Schuldrechtsreform (2000) S. 9; U. Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 37: „Im Klartext übersetzt“ bedeute das „Unter Umständen kann auch eine Haftung aus culpa in contrahendo in Betracht kommen.“ 71  In diese Richtung etwa Krebs, Sonderverbindung (2000), S. 505: „Pflicht zum aktiven Schutz der Gegenseite“. 72  Deutlich noch U. Huber, Gutachten I (1981), S. 743: „Die Tatsache, daß die Rechtsprechung es gelegentlich aus Nachsicht zuläßt in einer Seitenpforte durch die Mauer der Vertragstreue zu schlüpfen, ist für den Gesetzgeber kein Grund, hier gleich eine Bresche zu schlagen.“

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fangen“. Was immer auch mit „Rücksicht“ im Gegensatz zu „Schutz“ anderes gemeint sein mag, das Spektrum, auf das sie verpflichten soll, ist immerhin benannt: „auf Rechte, Rechtsgüter und Interessen“. Eine so fixierte Pflicht ist dogmatisch aufregend genug: b) Der Schutz von Rechten, Rechtsgütern und Interessen!? „Das Ziel dieser Lehre besteht bekanntlich darin, für eine Rechtsprechung die dogmatische Begründung nachzuliefern, die ihrerseits versucht, bestimmte, wirklich oder auch nur vermeintlich bestehende Defekte des Deliktsrechts zu kompensieren. (…) Für die Dogmatik gilt: Die Lehre von den Schutzpflichten spiegelt einen inzwischen überholten Kenntnisstand wider (…).“ Ulrich Huber, 198173

Bisher definierte sich ein Rechts-verhältnis dadurch, dass in ihm die Rechte und Pflichten der sich zueinander verhaltenden Parteien als relative Rechte mit Tatbestand und Rechtsfolge ausgestaltet waren. Zur offensten Regelung für Schuldverhältnisse entwickelte sich bisher § 242 BGB mit der Postulation von aus „Treu und Glauben“ entspringenden leistungsbezogenen Verhaltenspflichten. Geht man von diesem tradierten Verständnis aus, Rechte i. S. des § 241 Abs. 2 BGB seien relative Rechte zwischen den Parteien des Schuldverhältnisses, wie das auch der systematische Kontext nahe legt, so ergibt sich folgendes merkwürdige Bild: Soweit man auf die Haftungsfigur der „positiven Forderungsverletzung“ (Ausgangspunkt jetzt: §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 1 BGB) innerhalb eines vertraglichen Schuldverhältnisses abstellt, ließe sich wie eh und je annehmen, es gibt vertragliche Rechte und Pflichten aus dem Schuldverhältnis („nach seinem Inhalt“). Nun gut. Damit lassen sich für die p. F. jedenfalls keine neuen ungeschriebenen Pflichten deduzieren, an die dann § 280 Abs. 1 BGB eine Haftung knüpfen könnte. Wozu dann überhaupt diese Regelung? Bei diesem Verständnis mag man in der Tat mit Ulrich Huber die Vorschrift als inhaltsleeres, lehrbuchartiges Regelungsfragment bezeichnen. Die Merkwürdigkeit und Konsequenz dieser Deutung tritt aber deutlicher vor Augen, wenn man auf die culpa in contrahendo abstellt und also das (vorvertragliche!) „Schuldverhältnis“ aus § 311 Abs. 2, 3 BGB mit ins Spiel bringt. Diese Vorschrift verweist auf § 241 Abs. 2 BGB und verpflichtet mithin die Parteien sowie „Dritte“ im Rahmen von vor‑ bzw. außervertraglichen Vertrauensverhältnissen zur Rücksicht auf die „Rechte“ des jeweils anderen Teils. Aber welche Rechte sollen das sein?74 Es gibt gerade noch keine legitimierende Vereinbarung.  Gutachten I (1981), S. 737.  In der Regierungsbegründung findet man hierzu nur einen Satz: „Durch die uneingeschränkte Erwähnung der ‚Rechtsgüter‘ neben den ‚Rechten‘ wird deutlich, dass über den insoweit begrenzten Schutzbereich von § 823 Abs. 1 hinaus auch das bloße Vermögen geschützt sein kann.“ Das ist doppelt irritierend: Zunächst scheint den Reformern nur der Begriff der „Rechtsgüter“ fraglich, nicht aber die „Rechte“. Der Schutz der Rechte (welche?) scheint ganz 73 74

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Wenn es aber keine vertraglichen Rechte in dieser Phase gibt, ebensowenig wie einfachgesetzliche (wo wären diese fixiert?), bleibt allenfalls der Rekurs auf Grund-Rechte (sic!). Wenn nun aber jeder Teil zur Rücksichtnahme auf die Grundrechte des anderen Teils endlich explizit verpflichtet wird, so ist auf leisen Sohlen in das Zivilrecht eingezogen, was noch vor der Hand immer wieder und immer öfter als allgemeingültige Unmöglichkeit proklamiert wurde und angeblich „heutzutage keiner näheren Ausführung mehr bedarf“75: Die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte. In der Phase, da es noch keine ausdrücklichen Rechte gibt, ist mithin jeder Teil bei Meidung von Schadensersatzansprüchen verpflichtet, nicht nur auf Leben und Gesundheit, sondern auf alle möglichen Freiheiten, Meinungen, Religion, Gewissen etc. Rücksicht zu nehmen. Die zusätzliche Verpflichtung zur Rücksicht auch auf „Rechtsgüter“ und „Interessen“ ist damit jedenfalls dann redundant, wenn man den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 I GG mit der allgemeinen Auffassung nur genügend weit versteht. Die oben gefundene Parallelität zu Art. 1 GG ist also durchaus nicht nur eine semantische Zufälligkeit, sondern vermittelt in der Tat eine inhaltliche Offenbarung: Die Würde des anderen ist vor allem anderen zu schützen. Allerdings müssen die von der Vorschrift ins Auge gefassten „Rechte, Rechtsgüter und Interessen“ gar nicht notwendig in jenem herkömmlichen relativen Verständnis von Schuldverhältnis interpretiert werden. Denkbar ist auch, dass zur Rücksicht auf alles sonst Denkbare verpflichtet wird. Auf Rechte etwa, die nicht originär, sondern erst über die Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf sie Inhalt des Schuldverhältnisses werden. Damit wäre dann nicht nur das durch sämtliche relativen und absoluten Rechte definierte Vermögen der Parteien, sondern alle Schuld-, Sachen-, Erb‑ und Familienrechte, aber auch die sonstigen Urheber-, Patent-, usw. sowie alle öffentlich‑ rechtlichen Rechte, Persönlichkeitsrecht und informationelle Selbstbestimmung (sowieso), bis hin zu sonstigen Grundrechtspositionen und grundrechtsinspirierten Rechtskreationen (von den

selbstverständlich. Zum zweiten ist freilich auch fraglich, ob man das „Vermögen“ schlichtweg als „Rechtsgut“ bezeichnen kann. Selbst wenn man das akzeptierte, was wird dann noch über die „Interessen“ geschützt? Die Begründung wird hier redundant: „Vermögensinteressen“ und „andere Interessen wie zum Beispiel die Entscheidungsfreiheit“. Aber die Freiheit ist doch ein klassisches Rechtsgut. Und wieder fragt sich: Ist das alles ernsthaft durchdacht? 75  Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), 34 f. Auf die spitzfindigen Abgrenzungsbemühungen zu Robert Alexy (Theorie der Grundrechte, 1985, S. 484 ff.) braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Jedenfalls war es in der Tat schon immer zweifelhaft, von einer „unmittelbaren Drittwirkung“ nur dann reden zu wollen, wenn die Grundrechte unmittelbar inter partes verpflichten, während die Bindung der Gerichte, derartige Verpflichtungen zu erkennen und auszusprechen lediglich als „unmittelbare Geltung“ betitelt werden sollte. Wer sollte denn eine „unmittelbare Drittwirkung“ konstatieren, die Parteien selbst? Mit § 241 Abs. 2 BGB ist nun diese Spitzfindigkeit sprachlich aufgehoben, weil die Parteien selbst als die Verpflichteten ausdrücklich benannt sind.

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vielfältigen Interessen ganz zu schweigen) erfasst.76 Es bedarf an dieser Stelle wohl nicht der ausdrücklichen Bemerkung, dass hier sehr viel mehr kodifiziert wurde als es die bisherigen, ohnehin umstrittenen Fallgruppen der c. i. c. oder p. F. nahe gelegt hätten. Daneben bleibt es bei dieser Lesart rechtsdogmatisch ein sicherlich nicht leicht nachvollziehbares Novum, dass sich ein ‚gesetzliches‘ Schuldverhältnis über unbestimmte externe Rechte usw. willkürlich qua „richterlichen Gestaltungsakts“ definieren soll. Die Spekulation über die richtige Lesart braucht an dieser Stelle nicht weiter fortgeführt zu werden. Das Spektrum an Möglichkeiten, die Rücksichtnahme auf „Rechte, Rechtsgüter und Interessen“ interpretieren zu können, ist jedenfalls so groß, wie es das Spektrum an denkbaren Rechten und Interessen nur überhaupt sein kann. Wenn, wie gesehen, der maßgebliche Zweck des richterrechtlichen Instituts bisher immer darin bestand, ein gefühltes Ergebnis mit einer pseudodogmatischen Begründung zu rechtfertigen (Finalismus), dann macht es jedenfalls für das voluntativ gefundene Ergebnis keinen sehr großen Unterschied, ob der Richter mit „Vertragsparität“ und „Selbstbestimmungsfreiheit“ oder mit „Vertrauensschutz“ und „Pflichtverletzung“ argumentiert.77 In jedem Fall wird deutlich, dass er originär legislative Aufgaben übernimmt, die ihm so oder so in der Ermächtigungsnorm des § 241 Abs. 2 BGB kurzer Hand blanko übertragen wurden. Wer die dogmatischen Wucherungen allein des „vagabundierenden Irrwischs“78, genannt „culpa in contrahendo“, kennt und diese Kenntnis mit der dogmatischen Simplizität zukünftiger schuldrechtlicher Rechtsfindung, genannt „Pflichtverletzung“, multipliziert, der erhält vielleicht eine annähernde Vorstellung davon, wie überflüssig die ganze ausdifferenzierte Dogmatik des deutschen Schuldrechts geworden ist: „contract is being reabsorbed into the mainstream of tort“79. Knapp 30 Jahre nach Grant Gilmores Diagnose vom amerikanischen „Death of Contract“ – nun endlich auch das deutsche Schuldrecht: Ein dogmatischer Friedhof.80 76 In diesem Sinne Canaris (Die Reform, JZ 2001, 499), wenn er von „Rechten und Rechtsgütern i. S. von § 823 Abs. 1 BGB“ spricht. Aus § 241 Abs. 2 BGB selbst geht dieser einschränkende Bezug freilich nicht hervor, und damit geht neben der fehlenden Anknüpfung an die „benannten“ Güter und Rechte in § 823 Abs. 1 BGB auch jede in der Norm selbst angelegte Eingrenzbarkeit von vornherein verloren. 77  Dogmatisch macht es hingegen einen erheblichen Unterschied: 1.) Wie leichtfertig wird ein Ergebnis gefunden? Das Bewusstsein beiderseits involvierter Grundrechtspositionen ruft die gesamte Grundrechtsdogmatik auf den Plan, erfordert eine eingehende Verhältnismäßigkeitsprüfung und erhöht so die Möglichkeit richterlicher Besinnung und Beschränkung. 2.) Ist die Regelung überhaupt verfassungskonform? Stichwort: „Wesentlichkeitstheorie“. 3.) Ist jetzt für jeden Einzelfall auch das BVerfG zuständig? Stichwort: „Superrevisionsinstanz“. 78  Lieb, Grundfragen der Schuldrechtsreform, AcP 183 (1983), 327/333. 79  Gilmore, The Death of Contract (1974), S. 87. 80 Spätestens mit der Einführung des neuen § 253 Abs. 2 BGB (Schmerzensgeld auch bei außerdeliktischer Pflichtverletzung) durch das „Zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz“ ist auch die differenzierende Dogmatik des Deliktsrechts endgültig überflüssig; treffend G. Wagner, NJW 2002, 2049: auf die §§ 823 ff. kommt es nun nicht mehr an.

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3. Im Gesetz nichts Neues: Nur ein „Merkzettel“? „Die Rechtspflege wird scheinbar durch das Gesetzbuch, in der That aber durch etwas anderes, was außer dem Gesetzbuch liegt, als der wahrhaft regierenden Rechtsquelle, beherrscht werden. Dieser falsche Schein aber ist höchst verderblich. Denn das Gesetzbuch wird unfehlbar durch seine Neuheit, seine Verwandtschaft mit herrschenden Begriffen der Zeit, und sein äußeres Gewicht alle Aufmerksamkeit auf sich und von der wahren Rechtsquelle ablenken, so daß diese in dunklem, unbemerktem Daseyn gerade der geistigen Kräfte der Nation entbehren wird, wodurch sie allein in einen löblichen Zustand kommen könnte.“ Friedrich Carl v. Savigny, 181481

Von einem rein rechtspositivistischen Standpunkt aus mag man leicht versucht sein zu zweifeln, ob die Kodifikation der culpa in contrahendo tatsächlich eine Zäsur in ihrer Geschichte darstellt oder ihre finale gesetzliche Normierung nicht vielmehr Ausdruck einer mehr oder weniger zwangsläufig verlaufenden Kontinuität der Dogmengeschichte ist. Wie gesehen, ist die Vorstellung von Schutzpflichten auf der Basis eines Vertrauensverhältnisses als Sonderbeziehung und der Gedanke einer Vertrauenshaftung seit Heinrich Stoll (1932/36) und Heinz Hildebrandt (1931) zur maßgeblichen dogmatischen Grundlage einer Haftung für culpa in contrahendo avanciert. Die Sache galt dann ja auch spätestens seit Dölle (1943) und Ballerstedt (1951) als „ausdiskutiert“ (Larenz, 1975), und der Bundesgerichtshof hat auf dieser theoretischen Grundlage der c. i. c. ein umfassendes praktisches Anwendungsfeld erschlossen. Die Gesetzgeber (bzw. Verantwortlichen der Reform) haben demgemäß immer darauf hingewiesen, dass mit der Aufnahme dieses Instituts keine „inhaltliche Änderung der bisherigen Rechtslage verbunden“, sondern lediglich der gegenwärtige „Rechtszustand, wie er vor allem durch die Rechtsprechung des BGH geprägt“82 sei, festgeschrieben wurde. Und auch in den ersten  – wenn auch durchaus kritisch gemeinten  – Stellungnahmen zur Kodifikation der culpa in contrahendo überwiegt die These vom netten, aber überflüssigen „Merkzettel“: „Eine hübsche Spielerei  – mit einer letztlich inhaltsleeren Generalklausel.“83 Doch sind insoweit zwei Aspekte genauer zu berücksichtigen:

Gleichwohl ist die Reichweite von § 253 Abs. 2 BGB bei vertraglichen Ansprüchen alles andere als klar: eine restriktive Auslegung findet sich etwa in BGH, Urt. v. 9. Juli 2009 – IX ZR 88/08 (Kein Schmerzensgeld bei anwaltlicher Falschauskunft), was zur abstrakten Dogmatik des neuen Rechts zwar nicht passt, aber bereits andeutet, wohin die Aufgabe der Rechtsprechung geht: Das in den Generalklauseln nunmehr zu weit geratene Recht Stück für Stück wieder einzuschränken. 81 Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 22 f. 82  Canaris, Schuldrechtsmodernisierung (2002), S. XIX; vgl. auch schon den Abschlußbericht (1991), S. 144: „Eine Abweichung von der geltenden Rechtslage soll vermieden werden.“ 83 So Rieble, Die Kodifikation der culpa in contrahendo (2003), S. 137/138.

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a) Neue Gewaltenteilung: Die Selbstbindung des Gesetzgebers an die Judikatur „Der Entwurf will das Institut der culpa in contrahendo nicht in allen Einzelheiten regeln … Es soll vielmehr  – der Regelungstradition des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend (sic!) – eine abstrakte Regelung vorgesehen werden, die der Ausdifferenzierung und Fortentwicklung durch die Rechtsprechung zugänglich ist.“ Abgeordnete im Deutschen Bundestag, 200184 „Es wurde deutlich …, dass, wenn auch in der Fortbildung des Rechts dem Gesetzgeber die Prärogative gehört, in demjenigen, was das Ministerium vorsieht, nur klar wird, dass er diese Prärogative weder gehabt hat noch haben wird.“ Horst Heinrich Jakobs, 200185

Erstens folgt aus der Kodifikation dieses bisher hoch umstrittenen und wenig fasslichen „civilistischen Homunculus“ bereits eine bemerkenswerte gesetzespositivistische Wendung; denn die Dinge erhalten für Juristen nun einmal eine ganz neue Dignität, wenn sie die „Weihen“ des geschriebenen Gesetzeswortes vorweisen können. Bereits die bloße Erwähnung der vorvertraglichen Haftung im AGBG hatte für viele Schriftgelehrte und Praktiker genügt, nicht weiter über Zweifel an der Legitimität und eine ernsthafte Begründung für dieses Institut nachzudenken.86 Die Aufnahme der c. i. c. in das BGB konnte vor diesem Hintergrund nur zu einem kollektiven Vergessen aller bisher bestehenden Grundzweifel an der Berechtigung der ganzen Konstruktion führen. Entsprechend hat dann ja auch Köndgen gegen die Kritik an einem bloßen gesetzlichen „Merkzettel“ darauf hingewiesen, „daß es früher doch höchst strittig gewesen sei, ob die culpa in contrahendo überhaupt anzuerkennen“ wäre, diesem grundlegenden Streit nun aber schon mit einer Leerformel „der Boden entzogen“ werde.87 Und nicht zu Unrecht befürchtete Dauner-Lieb, dass die „völlig undifferenzierte Pauschalabsegnung bereits erfolgter Entwicklungen als Ermutigung zu noch kühnerer richterlicher Aktivität“ gedeutet werden könne.88 Hier aber liegt nun die eigentliche Merkwürdigkeit, dass Dauner-Lieb selbst schon mit dieser Befürchtung weitgehend alleine stand. Denn ganz im Gegenteil hierzu findet

84  Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts der Fraktionen von SPD und Bündnis90/Die Grünen, BT-Drucks. 14/6040 S. 162 (textidentisch mit der Begründung der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/6857). 85  Tagungsbericht, JZ 2001, 27/29. 86  Exemplarisch nur H. Messer, Schadensersatzansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1990), S. 743: „Seit der Gesetzgeber in § 11 Nr. 7 AGBG das Institut einer Haftung für Schäden aus der Verletzung von Pflichten bei den Vertragsverhandlungen voraussetzt, sind Bemühungen um seine dogmatische Rechtfertigung überflüssig geworden.“ 87 Jansen, Diskussionsbericht (2001), S. 330. 88  Dauner-Lieb, Bestandsaufnahme (2003), S. 3/19 f.: „Eine solche Entwicklung könnte man dann nicht einmal mehr als Ungehorsam gegenüber dem Gesetzgeber kritisieren, hat dieser doch ganz offensichtlich der Rechtsprechung nunmehr freiwillig noch größere Freiheit eingeräumt.“

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man in den Äußerungen der verantwortlichen Reformer immer wieder die erstaunliche Tendenz, die Rechtsprechung bloß in nichts beschränken zu wollen.89 Der Kontrast zu der vorzüglich von Savigny repräsentierten Abneigung gegen eine Kodifikation, wenn die Zeit nicht reif, weil die Materie noch nicht durchdacht ist, könnte größer nicht sein: Das Gesetz beansprucht Rechtsquelle zu sein, doch ist dieser Anspruch formal und hohl, wenn die eigentliche Rechtsquelle (d. h. die eigentlichen Gründe der Rechtsnorm) weiterhin im Verborgenen bleibt. Die Rechtssuche wird dann formal von den Tatbeständen des Gesetzbuches, in Wirklichkeit aber „durch etwas anderes, was außer dem Gesetzbuch liegt, als der wahrhaft regierenden Rechtsquelle beherrscht werden. Dieser falsche Schein aber ist höchst verderblich (…)“.90 Die Kodifikation der c. i. c. ist insoweit noch viel dramatischer, weil Wissenschaft und Gesetzgebung es aufgegeben haben, nach Inhalt und Grund, d. h. der eigentlichen „Rechtsquelle“ dieses Rechtsinstituts überhaupt noch ernsthaft zu fragen. Wir haben den Kultus des Logischen, der von einem Gesetzestext vor allem in der dogmatischen Rechtsliteratur ausgeht, zur Genüge beobachtet und soeben für § 241 Abs. 2 BGB noch einmal vorgeführt. Der begrifflichen Phantasie dogmatischer Konstruktion sind nahezu keine Grenzen gesetzt. Und ohnehin ist die culpa in contrahendo schon seither „wie kaum ein anderes schuldrechtliches Institut ein geradezu unerschöpflicher Gegenstand rechtsdogmatischen Bemühens“91 gewesen. Der Elan und die Phantasie, aus der Weite dieser actio culpae eine scheinbar originelle dogmatische Lösung für alle möglichen Verhältnisse des sozialen Kontakts zu deduzieren, wird mit der Weite der gewählten Begrifflichkeiten zweifellos immer weiter und unerschöpflich angeregt werden.  Vgl. bereits die Begründung im DiskE: „Die vorgeschlagene Vorschrift enthält nur eine grundsätzliche Aussage zur culpa in contrahendo. Diese Zurückhaltung erklärt sich daraus, dass keine Regelung vorgesehen werden sollte, die hinter den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zurückbleibt. Eine Abweichung von der geltenden Rechtslage sollte vermieden werden.“ (sic!); etwas ausführlicher dann in der Regierungsbegründung zu § 311: „Es bestehen lediglich Pflichten zur Rücksicht, Fürsorge und Loyalität. Wie weit diese Pflichten reichen, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Diese entziehen sich ebenso wie ihre nähere Ausprägung einer gesetzlichen Regelung; dies muss auch weiterhin der Rechtsprechung überlassen bleiben. Dabei kann und sollte auf die Ergebnisse der bisherigen Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die auch für die jetzt getroffene Regelung zutreffen“; deutlich auch das Statement von Canaris zur Einbeziehung der Haftung von Dritten (Die Reform, JZ 2001, 499/520 f.): Die Formulierung sei so weit gefasst, damit sie „für alle Fallgruppen paßt, die sich dazu bisher in der Rspr. herausgebildet haben“ und solle auch nicht eingeschränkt werden, weil die „Rechtsprechung ohnehin zu einer noch stärkeren Ausweitung“ tendiere (sic!); ders., Materialien (2002), Einführung XIX.: „Die culpa in contrahendo wird in § 311 Abs. 2 und 3 n. F. geregelt. Dabei wird im Wesentlichen der derzeitige Rechtszustand, wie er vor allem durch die Rechtsprechung des BGH geprägt ist, kodifiziert. Die Formulierungen sind indessen so behutsam gewählt, daß sie einer Weiterentwicklung dieses Instituts nicht im Wege stehen.“ 90  Vom Beruf unserer Zeit (1914), S. 23. 91  Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo, in: Schuldrechtsmodernisierung (2001), S. 231. 89

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Das zeigte sich schon in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des modernisierten Schuldrechts.92 Die bereits von Ballerstedt angesprochene „Fruchtbarkeit“, mit der c. i. c. quasi alles begründen zu können, hat nun eine feste gesetzliche Basis erhalten, die in ihrer Abstraktheit und Unbestimmtheit keiner juristischen Phantasie mehr Grenzen setzt. Das passt zum Gesamtbild. Denn im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist die Rolle des Gesetzes für die Rechtsfindung und d. h. insbesondere für die Bindung und Zähmung der Rechtsprechung immer zweifelhafter geworden. Man könnte den Prozess auch als einen Prozess der Emanzipation der Rechtsprechung von der Bindung an das Gesetz bezeichnen.93 Hier beansprucht, wie gesehen, die These Hedemanns von der „Flucht in die Generalklausel“ aus „Ermüdung“ und „Bequemlichkeit“ ein hohes Maß an Plausibilität. Insoweit sollte es schon auch stutzig machen, wenn es gerade und ausschließlich der Hinweis auf die Rechtsprechung ist, der als Begründung für die Kodifikation einer Generalermächtigung zum „Weiter so!“ herangezogen wird. In verfassungsrechtlicher Perspektive ist die „Schuldrechtsmodernisierung“ eine Karikatur der Gewaltenteilung: Der Gesetzgeber hat für den Kernbereich des deutschen Zivilrechts aufgehört, ein Gegengewicht und Korrektiv zur Rechtsprechung überhaupt noch sein zu wollen. Und das Gleiche gilt für die Rechtswissenschaft, die nur noch sammelt und kommentiert, was die Judikative an Rechtserkenntnissen produziert. In diesem Punkt muss man dann auch ehrlich sein: Denn die allgemeine Ratlosigkeit beim Umgang mit der c. i. c. hatte nun wirklich nichts mit dem plötzlichen Prozedere und der Eile zu tun, mit der die Reform aus vor allem politischdekorativen Gründen im Zuge einer allgemeinen Reformstau-Abbau-Bewegung auf den Weg gebracht worden ist. Die Verteidiger der Reform haben sich nicht ganz zu Unrecht immer wieder darauf berufen, dass die Pläne spätestens mit den 92  Vgl. etwa nur: Beaucamp, Das Bewerbungsschuldverhältnis nach § 311 II BGB als rechtlicher Kernbereich des Wettbewerbs, NJW 2003, 3096; K. Messer, Dritthaftung aus Culpa in Contrahendo für unwahre beschönigende Aussagen am Kapitalmarkt durch Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft (2004); Stephan Wagner, Die Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften nach Einführung der Restschuldbefreiung und Kodifizierung der c. i. c., NJW 2005, 2956–2959; ders., Die Bestellung von Grundpfandrechten durch nahe Angehörige – Causa finita?, AcP 205 (2005), 715–742; Jochen Hoffmann, Spezielle Informationspflichten im BGB und ihre Sanktionierung, ZIP 2005, 832–840; Christiane Brors, Vertrauen oder Vertrag – gibt es eine Haftung für Wertgutachten nach § 311 Abs. 3 BGB?, ZGS 2005, 142–149; Volkmar Wagner, Haftung der Bieter für Culpa in contrahendo in Vergabeverfahren, NZBau 2005, 436–438; Katharina Scheja / ​Jens Schmitt, Vorvertragliche Pflichten bei der privaten Ausschreibung von Outsourcing-Vorhaben. Untersuchung der Anforderungen an die Fairness einer privatrechtlichen Ausschreibung, CR 2005, 321–330; Martina Benecke / ​Michael Pils, Arbeitsplatzwechsel nach Abwerbung  – Rechtsprobleme des „Headhunting“, NZA-RR 2005, 561–568; Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007); die Aufzählung ließe sich leicht fortführen. 93 Hierzu nur Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 234: „Das Verhältnis von Richterrecht und Gesetzesrecht hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts dramatisch verändert (…)“. Ausf. Benedict, Kodifikation der Einzelfallgerechtigkeit, ARSP 89 (2003), 216 ff. und unten § 9.

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Gutachten (1981/83) auf dem Tisch lagen. Und wir wissen jetzt, dass die geistige Arbeit an dieser Reform in der Sache noch sehr viel älter ist. Warum war es offenbar nicht möglich, ein in sich stimmiges neues System vorzustellen, dass an die Stelle des angeblich so alten und überkommenen Schuldrechts hätte gesetzt werden können? Die Antwort hat bereits Hedemann geliefert: Es ist die Flucht in das unverfängliche Allgemeine. Anders als noch die im Geist der Aufklärung geprägten Vernunftrechts-Enwürfe und anders noch als in der Pandektistik des 19. Jahrhunderts fehlt dem Geist des dogmatischen Positivismus der rechtsgestalterische Wille, die Kraft und der geduldige Atem, den gesamten Rechtsstoff zu durchdringen und ein eigenes System zu entwerfen. Das hat tiefer liegende Gründe, die das Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft betreffen. Das hat komplexe Ursachen, vor allem aber fehlt der Glaube daran, dass es überhaupt richtig sein könnte, das Recht auf der Basis eines Systems zu konstruieren, wie das für frühere Generationen in der Rechtswissenschaft ganz selbstverständlich von ihrem Anspruch an Wissenschaftlichkeit getragen war. Man mag über Ursache und Wirkung dieser Entwicklung länger nachsinnen. Wichtig ist an dieser Stelle lediglich klar zu sehen, dass eine Kultur der Kurzatmigkeit punktueller hektischer Publikationstätigkeit nicht gerade dafür prädestiniert, ein eigenes Alternativ-System zum geltenden Recht zu entwerfen. Es gab offenbar nur einen Rechtsgelehrten, der den Gedanken an einen Alternativ-Entwurf zum BGB aus den 1930er Jahren (vielleicht sogar ganz unbewusst) weitergetragen, jedenfalls konzeptionell am Leben erhalten und kontinuierlich gepflegt hatte. Dieser Entwurf sollte nun endlich Gesetz werden. Und da es im Wesentlichen die Rechtsprechung gewesen ist, die dieses Andere zum BGB überhaupt umfassend kasuistisch und contra legem mit Leben erfüllt hat, wird verständlich, warum ihr auch weiterhin keine Beschränkung auferlegt werden sollte. Canaris hatte gerade zum 50. Jubiläum des Bundesgerichtshofs dessen Rechtsprechung zur Vertrauenshaftung und mithin sich selbst umfassend gefeiert,94 da leuchtet es unmittelbar ein, dass er nun als ‚Gesetzgeber‘ genau diesen „Rechtszustand, wie er vor allem durch die Rechtsprechung des BGH geprägt“ wurde, auch für § 311 Abs. 2 und 3 BGB fixiert sehen wollte.95 Die im Zuge der Reformarbeiten immer wieder vorgetragene Ansicht, das außerhalb des Gesetzes entwickelte „case law“ werde nunmehr in das BGB „zurück geführt“, hat sich quasi selbst desavouiert.96 In methodologischer Sicht wurde genau das Gegenteil erreicht: Kasuistik und ein Herumtasten der Rechtspraxis  Canaris, Vertrauenshaftung BGH (2000), S. 129–197. hat Einzug in die Regierungsbegründung gefunden: zum Verständnis der c. i. c. „kann und sollte auf die Ergebnisse der bisherigen Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die auch für die jetzt getroffene Regelung zutreffen.“ 96 Statt aller: Däubler-Gmelin, Bundestagsdebatte vom 11. Oktober 2001, Protokoll 14/192, S. 18757: „Im Leistungsstörungsrecht führen wir einen einheitlichen Pflichtverletzungstatbestand ein … Das ‚case law‘, das die Rechtsprechung gerade in diesen Fällen entwickelt hat, führen wir … wieder ins Bürgerliche Gesetzbuch zurück.“ Hierzu sogleich noch unten II.1. 94

95 Das

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bleiben nicht länger verpönt,97 sondern sind geradezu zum rechtsstaatlichen und rechtswissenschaftlichen Idealbild erhoben. Die Rechtsfindung ergibt sich nicht aus dem Gesetz und auch nicht aus einer wissenschaftlich fundierten Dogmatik, sondern liegt in der Hand, d. h. im Rechtsgefühl oder in der Rechtsvernunft der Gerichte in jedem Einzelfall.98 b) „Wolken in einen Sack fangen“: Abbildung nur der „geltenden Rechtslage“ – Welche? „Wer als Verkäufer für eine Immobilie wirbt …, muß Voraussetzungen Hinderungsgründe und Ausmaß der Steuervorteile richtig und so vollständig darstellen, daß bei dem Kunden oder Käufer über keinen für seine Entscheidung möglicherweise wesentlichen Umstand eine Fehlvorstellung erweckt wird.“ BGHZ 114, 263/26699 „Nur auf Fahrlässigkeit beruhende unzutreffende Erklärungen des Verkäufers … begründen … keinen Ersatzanspruch wegen Verschulden bei Vertragsschluß.“ BGHZ 140, 111/114 f.100

Zweitens erweist sich aber auch bereits die positivistische Sichtweise und der beschwichtigende Hinweis auf eine „bestehende Rechtslage“, die lediglich „festgeschrieben“ werde, als ausgesprochen trügerisch. Denn dieser Hinweis unterschlägt, dass es zu keiner Zeit weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung einen Konsens über eine „Rechtslage“, genannt culpa in contrahendo, genannt einheitliches Schutzpflichtverhältnis oder genannt Vertrauenshaftung gegeben hat. Wir haben aber gesehen, dass es – zumal bei einem ungeschriebenen und contra legem entwickelten Rechtsinstitut wie der c. i. c. – immer eine Wechselwirkung von Wissenschaft und Rechtsprechung bei der Definition dessen gibt, was hier Recht sei. Und so lässt sich keineswegs die umfängliche Kritik in der Literatur an allen drei Rechtsfiguren für die Beschreibung einer „Rechtslage“ ausblenden. Aber auch und vor allem der Hinweis auf eine vermeintliche Kontinuität der Rechtsprechung repräsentiert insoweit lediglich eine durchaus selektive Sicht. Natürlich kann man in den bekannten Fallgruppen der c. i. c. die Entscheidungen auflisten, in denen der BGH sich des Gedankens des Vertrauens zur Begründung seiner Urteile bedient hat.101 Doch abgesehen von dem Umstand, dass bereits  97 Deutlich kritisch gegenüber dieser Entwicklung noch Zöllner, Zivilrechtswissenschaft und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert, AcP 188 (1988), 85/88: „Die Folgen dieses Trends zur Kasuistik sind bekannt. Gerichtsentscheidungen finden heute eine Aufmerksamkeit, die durch ihre intellektuelle Qualität oftmals in gar keiner Weise gerechtfertigt wird. Sie verstopfen das juristische Informationswesen und halten von selbständigem Nachdenken anhand der normativen Vorgaben ab.“  98 Ausf. hierzu unten § 9 (Einzelfallgerechtigkeit).  99  Urt. v. 26. April 1991 – V ZR 165/89. 100  Urt. v. 27. November 1998 – V ZR 344/97. 101 Hierzu nur Canaris, Vertrauenshaftung BGH (2000).

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die Haftungsbegründungen alles andere als einheitlich und konsistent zu bezeichnen sind,102 darf man dabei nicht die Fälle übersehen, in denen er es nicht getan, eine c. i. c. oder die omnipräsente Möglichkeit einer Vertrauenshaftung gar nicht erwähnt oder sogar explizit abgelehnt hat. Man nehme etwa, um nur ein markantes Beispiel herauszugreifen, die Rechtsprechung zur GmbH-Geschäftsführerhaftung: Das Reichsgericht hatte sich noch nicht dazu hinreißen lassen, jenseits der deliktischen Tatbestände und der vorsätzlichen Insolvenzverschleppung entgegen der Wertung des § 13 GmbHG nach dem Konkurs der Gesellschaft die Gläubiger mittels culpa in contrahendo auf das Vermögen des Geschäftsführers, und sei er auch der Alleingesellschafter, durchgreifen zu lassen. Die Idee der GmbH beruhte ja gerade darauf, nicht mit seinem Privatvermögen für unternehmerische Risiken zu haften und für jeden Geschäftspartner der Gesellschaft war das durch den Zusatz „mbH“ auch hinreichend klargestellt. Wer immer also mit einer GmbH ungesichert kontrahiert weiß, dass das Insolvenzrisiko bei ihm liegt. Doch diese Sicht änderte sich mit der immer weiter ausgedehnten Vorstellung einer allgemeinen Vertreter‑ und Sachwalter-Haftung aus c. i. c. unter der Rechtsprechung des BGH. Hier dienten zunächst einerseits die noch vom Reichsgericht (allerdings in völlig anderem Kontext) ins Spiel gebrachte Figur des procurators in rem suam103 (oder kurz: das „erhebliche Eigeninteresse“) und andererseits die von Ballerstedt vorgestellte Vertrauenshaftung des Vertreters104 als Begründungsnarrative, um im Interesse der Gläubiger eine Haftung des Geschäftsführers dennoch zu konstruieren.105 Doch bereits von Beginn an war diese Rechtsprechung zu keiner Zeit einheitlich. Das lag nun nicht mehr nur an dem o. g. Grundzweifel an einer solchen Haftung, sondern an drei jeweils für sich komplizierten Folgefragen: 1. Warum sollte ein etwaiges Fehlverhalten des Vertreters nicht nach den allgemeinen Grundsätzen (§§ 166, 278 BGB) der Gesellschaft zugerechnet werden? 2. Wie genau müsste das „Eigeninteresse“ beschaffen sein, damit § 13 GmbHG keine Berücksichtigung mehr finden soll? 3. Wann wird das Verhandlungsvertrauen so stark von der Gesellschaft auf die eigene Person gelenkt, dass eine Vertrauenshaftung gerechtfertigt erscheint? Allein hinsichtlich der Antworten auf diese drei Fragen (die überwiegend rechtstatsächlicher Natur und mit kaum vorzuneh102 Vgl. auch die Analyse der Rechtsprechung zur Vertrauenshaftung bei Keller, Schuldverhältnis und Rechtskreisöffnung (2007), S. 76 ff., mit dem Fazit S. 83: „uneinheitliches, ja konfuses Bild“. 103 Urt. v. 1. März 1928 – VI 258/27, RGZ 120, 249 (Büdnerei-Fall). 104  Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo, AcP 151 (1950/51), 501 ff.; hierzu oben § 7 I.2.b). 105 Grundlegend Urt. v. 19. Dezember 1962 – VIII ZR 216/61, MDR 1963, 301 (BarackenFall). Urt. v. 4. Mai 1981, BGH, NJW 1981 (Warenterminprospekt), 2810; 23. Februar 1983 – VIII ZR 325/81, BGHZ 87, 27/34 (Baustoffhandel); 25. Januar 1984 – VIII ZR 227/82, NJW 1984, 2284.

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menden faktischen Abgrenzungen verbunden sind)106 gab es so viele inhaltlich divergierende Entscheidungen, dass in diesem Bereich lange Zeit keiner mehr wusste, was Recht ist, bis der II. Zivilsenat endlich 1994 in einer grundsätzlichen Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung klarstellte, dass eine Haftung wegen „erheblichen Eigeninteresses“ weder aufgrund einer auch 100 %igen Beteiligung noch aufgrund einer Verbürgung für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft in Betracht kommt.107 Damit war die Haftung aus c. i. c. auf die Frage nach dem besonderen über das normale Verhandlungsvertrauen hinausgehende persönliche Vertrauen reduziert. Doch auch insoweit konnte es nicht verborgen bleiben, dass der BGH Fälle, die daraufhin zu untersuchen bzw. zu prüfen waren, entweder (und überwiegend) an die Tatsacheninstanz zurückverwies oder schon selbst abschlägig entschied.108 Mit Urteil v. 18. Juni 2001109 wurde schließlich auch das besondere Vertrauen wieder so eng gefasst und auf eine Garantieerklärung durch den Geschäftsführer präzisiert, dass mithin auch von diesem Strang der c. i. c. nicht mehr viel Eigenständiges übriggeblieben ist. Man kann die Entwicklung in dem hier interessierenden Kontext auch als eine asymmetrische Entwicklung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung bezeichnen: In dem Moment, da culpa in contrahendo und Vertrauenshaftung in ihrem weitesten Umfang gesetzlich normiert werden, distanziert sich die Rechtsprechung von der praktischen Inanspruchnahme dieses Haftungsinstituts bzw. sucht die aus dem Ruder geratene Reichweite desselben nachhaltig wieder einzufangen. Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers ist dabei kein singuläres Beispiel. Man kann hier alle Fallgruppen der c. i. c. durchgehen. Überall findet sich ein Schwanken, kaum eine länger anhaltende Kontinuität in der Begründung. Oder wie ist es etwa zu beurteilen, dass der III. Zivilsenat bei Fragen der Vermittlerhaftung in durchaus bewusster Abwendung von Überlegungen zur culpa in contrahendo die Konstruktion eines fiktiven Auskunftsvertrages der Fiktion von 106  Die hinsichtlich der Schwierigkeit der Feststellung des von Jhering vorgestellten „negativen Interesses“ vorgetragene Kritik insb. bei Bähr und Kohler erscheint demgegenüber geradezu trivial (oben § 4 III.3.b)). 107  Urt. v. 6. Juni 1994 – II ZR, BGHZ 126, 181 (S. Handels GmbH); Urteile v. 7. November 1994, II ZR 138/92, WM 1995, 108 = ZIP 1995, 31 (Stahlrohr-Lieferung); II ZR 8/93, NJW-RR 1995, 289 (Weinhandel); II ZR 108/93, NJW 1995, 398 (Dänische Tannen). 108  Nahezu alle Fälle seit Urt. v. 23. Oktober 1985, NJW 1986, 586: paradigmatisch das umfassend und ausf. begründete Urt. v. 1. Juli 1991  – II ZR 180/90, NJW-RR 1991, 1312 (Frachtleistungen): Beteiligung an GmbH genügt nicht zur Begründung eines unmittelbaren wirtschaftlichen Eigeninteresses; Verhandlungsführung erheischt nur allgemeines Verhandlungsvertrauen; Verschweigen der wirtschaftlichen Situation bis zur Grenze des § 826 BGB erfolgt im Interesse der GmbH, die der Gf. wahrzunehmen hat. 109  BGH, II ZR 248/99, ZIP 2001, 1496; in der Entscheidung v. 10. Juli 2001 – VI ZR 160/00, NJW 2001, 3702 wird lediglich § 826 BGB erörtert, die Möglichkeit einer c. i. c. gar nicht mal erwähnt. Schließlich loziert der BGH die Sache wieder dort, wo sie originär ihren Ausgangspunkt hatte: beim Problem der Insolvenzverschleppung und einer allenfalls möglichen Haftung aus §§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 64 GmbHG (bzw. jetzt § 15a InsO): BGH, Urt. v. 5. Februar 2007 – II ZR 234/05, BGHZ 171, 46.

I. Endlich: Ein gesetzlich geregeltes „gesetzliches Schuldverhältnis“

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Vertrauenstatbeständen vorgezogen110 oder der V. Zivilsenat für eine Haftung aus culpa in contrahendo zuletzt tatsächlich Vorsatz (also dolus!) verlangt und damit eine Rückkehr zum „Vorsatzdogma“ eingeläutet hat.111 Für die Haftung aus culpa wird dolus verlangt (sic!). Deutlicher kann sich die Unklarheit und / ​oder Abneigung im Umgang mit dem Institut der c. i. c. kaum noch kundtun. Der Hinweis auf eine existierende „Rechtslage“ oder einen durch die Rechtsprechung quasi gesicherten „Rechtszustand“ ist eine Fiktion und geradezu prototypisch für die Argumentation des dogmatischen Positivismus: Verdeckt bleibt, dass es die behauptete „Rechtslage“ nicht oder allenfalls punktuell und singulär in jedem einzelnen Judikat bzw. temporär als fragmentarische Idee mancher Theoretiker gibt.112 Wenn man nach irgendeiner Form, einem brauchbaren, vielleicht sogar subsumtionsfähigen Tatbestand sucht, dann geht das nur und allenfalls über eine Konkretisierung von Fallgruppen in klaren subsumtionsfähigen Tatbeständen.113 Und damit sind wir wieder bei der methodologischen Grundfrage zum Umgang mit der culpa in contrahendo angelangt: Wer denn berufen sei, über den Anwendungsbereich dieses ja nun keineswegs unwesentlichen Haftungsinstituts zu entscheiden, d. h. ihr einen rechtlichen Inhalt und eine juristische Form zu geben: Wissenschaft, Gesetzgeber oder Rechtsprechung? Wenn schließlich selbst Dieter Medicus an dieser Stelle resigniert hat und 20 Jahre nach seiner Warnung vor der „Gefahr einer vagen Billigkeitsrechtsprechung“114 stattdessen den Vorteil einer 110  Hierzu Benedict, Haftung des Anlagevermittlers, ZIP 2005, 2129 ff., mit ausf. Nachweisen; deutlich zuletzt noch: BGH, Urt. v. 19. Oktober 2006 – III ZR 122/05, ZIP 2006, 2221 (DIT-Wertanlagen); hier wird bei der Frage der Vertreterhaftung der Begriff eines „besonderen Vertrauens“ offensichtlich bewusst vermieden: „Der Kläger hat vorgetragen, der Beklagte zu 1 habe den Kauf der Fondsanteile als absolut sichere Geldanlage bezeichnet und persönlich eine Verzinsung von mindestens 6 % jährlich garantiert. Es mag offen bleiben, ob hierin – wie die Revision meint – der Abschluss eines selbständigen Garantievertrags gesehen werden könnte. Es bedarf jedoch der weiteren tatrichterlichen Überprüfung, ob – unter Einbeziehung der langjährigen persönlichen Bekanntschaft des Beklagten zu 1 und der Ehefrau des Klägers – hierin nicht eine die Vertreterhaftung rechtfertigende Übernahme der Gewähr für die Seriosität und die Erfüllung des Geschäfts liegen kann (vgl. BGH, Urteil vom 29. Januar 1992 – VIII ZR 80/91, NJW-RR 1992, 605 f).“ 111 Vgl. Urt. v. 19. März 1996 – V ZR 332/94, NJW 1996, 1884 (Druckereipachtfall): Es komme „nur eine vorsätzliche Treupflichtverletzung als Grundlage eines Schadensersatzanspruchs aus culpa in contrahendo in Betracht“; Urt. v. 27. November 1998 – V ZR 344/97, BGHZ 140, 111/114 f. (Immobilienanlage): „Ein Schadensersatzanspruch wegen Verschuldens beim Vertragsschluß scheitert allerdings an der … Feststellung des Berufungsgerichts, daß der Mitabeiterin der Vermittlerin eine vorsätzliche Pflichtverletzung nicht zur Last fällt … Nur auf Fahrlässigkeit beruhende unzutreffende Erklärungen des Verkäufers … begründen … keinen Ersatzanspruch wegen Verschulden bei Vertragsschluß (…)“; etwas vorsichtiger wieder BGH, Urt. v. 9. November 2012 – V ZR 182/11 (vollmachtloser Vertreter): „in der Regel vorsätzliche Treupflichtverletzung“. 112  Die Einzelheiten gehören in den dogmatischen Teil; siehe zum Problem aber noch unten III.2. und zur Gesamteinschätzung ausf. § 9 (Einzelfallgerechtigkeit). 113  Darauf hat Medicus, Schlussbetrachtung, in: Ernst / ​Zimmermann (Hrsg.), Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsmodernisierung (2001), S. 607/609 zu Recht hingewiesen. 114 Medicus, Gutachten I (1981), S. 486.

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§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo

Generalklausel als „Triebfeder der Rechtsentwicklung“115 in die Waagschale wirft, so haben wir hier zwar das Yin und Yang der Generalklausel wieder beieinander,116 sind aber mit der Frage nach Grund und Reichweite der culpa in contrahendo nicht einen Schritt weiter. Und wenn endlich behauptet wird, in § 311 Abs. 2 und 3 BGB seien die „typischen Fallgruppen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses“ geregelt,117 so verdeutlicht das entweder weitgehende Ahnungslosigkeit (denn seit Jhering sehen die denkbaren Fallgruppen anders aus) oder den Versuch, das Scheitern der einstmals so überzeugend vorgetragenen Zielsetzung der Reform, die „sich immer weiter öffnende Schere zwischen Gesetzesrecht und Richterrecht, zwischen Gesetzestext und praktiziertem Recht“118 schließen zu wollen, allzu deutlich werden zu lassen. Es war ja gerade der Wunsch nach Transparenz, Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, der den maßgeblichen politischen Anstoß zu einer Überarbeitung des Schuldrechts gegeben hatte. Davon ist freilich nicht viel übriggeblieben:

II. Zerstörte Illusionen: Einer Reform Ende „Infolge ungenügender gesetzlicher Grundlage und einer bunten Vielheit gesetzlicher Einzelbehelfe, mangels einheitlicher Rechtsfortbildung und durch jahrzehntelange Streitigkeiten ist eine Unübersichtlichkeit des geltenden Rechts und ein Gestrüpp von Theorien und Konstruktionen entstanden, indem sich kaum der Jurist noch auskennen kann und durch das die Lehre selbst in ihren Grundzügen dem Volk fremd sein mußte.“ Heinrich Stoll, 1936119 „Unser Staat kann es sich nicht leisten, angesichts des Gefühls der Unsicherheit, das auch Juristen bei der Anwendung schuldrechtlicher Regeln empfinden, die Frage ungeprüft zu lassen, ob und in welcher Weise eine Überarbeitung des Schuldrechts durch den Gesetzgeber notwendig ist.“ Alfred Wolf, 1978120

Die Geschichte der Schuldrechtsmodernisierung beginnt nicht erst 1978, sondern bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Und es ist zumindest eine merkwürdige Koinzidenz, dass das maßgebliche theoretische Werk von dem Autor stammt, der die moderne abstrakte Theorie der culpa in contrahendo entwickelt (bzw. zusammengefasst) hat und die Reform des 21. Jahrhunderts sich 115  Medicus, Schlussbetrachtung, in: Ernst / ​Zimmermann (Hrsg.), Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsmodernisierung (2001), S. 609. 116  Hierzu oben § 6 I.3.b). 117  Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses v. 9. Oktober 2001, BT Drucksache 14/7052, S. 175. 118  Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S. 305. 119  Die Lehre von den Leistungsstörungen (1936), S. 1 f. 120 Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249/250.

II. Zerstörte Illusionen: Einer Reform Ende

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eben auf den Bereich beschränkte, der von Heinrich Stoll maßgeblich für das Volksgesetzbuch herausgearbeitet worden war: „Die Lehre von den Leistungsstörungen“ (1936). Das grundlegende rechtspolitische Motiv der Reform ist dabei erstaunlicherweise immer das gleiche geblieben: Beseitigung von Intransparenz und Unsicherheit im Umgang mit dem geltenden Recht: „Ich bin nicht für Schwarz-weißmalerei. Darum sage ich Ihnen: Es ist eigentlich schwer begreiflich, daß ein Staat wie der unsere die Frage: Wie sieht unsere geltende Rechtsordnung aus? fast an keiner Stelle zuverlässig beantworten kann. Sie haben den Fundstellennachweis; darin können Sie dann mühsam herumsuchen. Aber die Frage: Was gilt eigentlich von A bis Z? kann Ihnen heute noch nicht einmal das Justizministerium geschweige denn irgendeine andere Stelle beantworten … Wir haben auch schon einen … Gedanken. Aber damit sind wir noch ganz am Anfang. Wir wollen eine Kommission einsetzen (…).“121

Politisch ist es regelmäßig die Betonung einer großen Rechtsunsicherheit, die Kodifikationsprojekte oder gesetzliche Reformen grundlegend motiviert. Und man hätte meinen können, dass zumindest die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gute Zeit hätte sein sollen, die dogmatischen und materialen Verwerfungen endlich zu bereinigen, die seit über einem halben Jahrhundert das deutsche Zivilrecht haben mehr als unübersichtlich werden lassen. Nie gab es mehr Rechtsgelehrte, nie gab es mehr Kommentare, Monografien und Schriftgelehrsamkeit. Und doch: Weit gefehlt! Die Unsicherheiten wurden nicht beseitigt, sondern in Generalklauseln und dogmatischen Quisquilien für die Zukunft perpetuiert. 1. Ach ja: Rechtsklarheit durch Reform? „Es waren auch einige Ausländer dabei … Bei den Herren war der Wunsch deutlich zu erkennen: werft ja nicht euer BGB weg.“ Justus Wilhelm Hedemann, 1937122 „Was die Struktur der Regeln betrifft, kann man nur bedauern, daß die Verbindung von Reformbedarf mit dem Wunsch, soviel wie möglich vom alten zu wahren, einen solchen Irrgarten von Regeln hinterlassen hat … Für die Ausländer ist die Unzugänglichkeit auch bedauerlich … Es wäre wichtig, daß die deutschen Regeln über Verträge für die Nachbarstaaten verständlich sind.“ Ole Lando, 2003123

Rechtsklarheit durch Re-Kodifikation des Schuldrechts könnte man  – auf eine knappe Formel gebracht  – die originäre Motivation für das Unternehmen Schuldrechtsreform betiteln. In der Sache ging es dabei um eine Integration 121 So der damalige Justizminister H. J.  Vogel vor dem Bundestag zur Haushaltsdebatte über das Justizressort am 25. Januar 1978, Plenarprotokoll 8/68, S. 5390. 122  Beratungen zum Volksgesetzbuch, Sitzung vom 30. Oktober 1937 in der Universität München, in: Werner Schubert (Hrsg.), Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien (1988), S. 301. 123  Das neue Schuldrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs und die Grundregeln des europäischen Vertragsrechts, RabelsZ 67 (2003), 231/244 f.

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von Rechtsmaterien in das BGB, die bisher dort keinen Ausdruck gefunden hatten: Sondergesetze und Richterrecht. Das Schuldrecht sei „in hohem Grade zersplittert“124, „wichtige Bereiche des Schuldrechts“ seien „in einer Vielzahl von Sondergesetzen verstreut“125, es gebe „hunderte von Gesetzen und Verordnungen, in denen schuldrechtliche Materien in größerem oder geringerem Umfang enthalten“ seien, „die vielleicht ohne zwingenden Grund in Sondergesetze aufgenommen wurden“, es sei daher zu prüfen, ob diese nicht „wieder in das BGB eingegliedert werden“ könnten.126 Vor allem aber „das inzwischen hypertrophierende lückenfüllende Richterrecht“127 außerhalb gesetzlicher Regelungen wurde als Hort der Rechtsunsicherheit ausgemacht: „Die Rechtsprechung“ habe „sich in Anlehnung an oder auch gegen das Gesetz entwickelt“ und der „Wortlaut des Gesetzes “ gebe sohin „das geltende Recht nicht mehr wieder“.128 Der Überblick sei auch für Sachkenner verlorengegangen und der „Gesamtzustand des Schuldrechts“ werde bereits als „katastrophal“ bezeichnet: „Recht und Unrecht sind dabei nicht mehr unterscheidbar … Ein Rechtsanwalt kann seinem Klienten oft nicht mehr objektiv begründet raten, einen Prozeß zu führen oder nicht zu führen. Das führt dazu, Klagen auf gut Glück einzureichen. Die Zahl der Prozesse schwillt an. Im Schrifttum und in der Gesetzgebung, die den höchstrichterlichen Entscheidungen folgen, werden immer neue Stoffmassen hervorgebracht, die nicht stimmen und nicht verarbeitet werden können. Das alles ist nicht Ordnung und somit nicht Rechtslehre und Rechtsprechung, sondern Wirrnis.“129

Bei einem derartigen Befund gehe es „dringlich“ darum, die neuen „Entwicklungen in den Gesetzestext zu übernehmen“ und so „die Einheit des Privatrechts wieder sichtbar und die Rechtsordnung für den Bürger überschaubarer und verständlicher zu machen“130 sowie die „kodifikatorische Einheit des Privatrechts gegenüber dem Fallrechtsdenken“131 zu betonen.132 Doch leider, jedes größere Unterfangen entwickelt offenbar seine Eigendynamik, bei der die originären Ansprüche und Ziele Stück für Stück aus dem Blick

124 Schwark,

Grundsätzliche Fragen, JZ 1980, 741/748. Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249; in diesem Sinne auch Schwark, Grundsätzliche Fragen, JZ 1980, 741 f. 126  A. Wolf, Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249/252; in diesem Sinne auch Schwark, Grundsätzliche Fragen, JZ 1980, 741/742. 127  Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 234. 128  A. Wolf, Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249/250. 129 A. Wolf, Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249/250 mit wörtlichem Zitat von Ernst Wolf, Schuldrecht I (1978), Vorwort VII. 130  A. Wolf, Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249/252. 131 A. Wolf, Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249/254. 132  Vgl. auch BMJ, Gutachten I (1981), Einleitung, S. XI: „Ziel aller Überlegungen soll es sein, die Einheit des bürgerlichen Schuldrechts nach Möglichkeit zu wahren und dort, wo sie nicht mehr besteht, wieder herzustellen.“ 125 A. Wolf,

II. Zerstörte Illusionen: Einer Reform Ende

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geraten.133 Und so ist auch der Gedanke der Rechtsklarheit im Verlauf dieser Reform auf der Strecke geblieben: Nach der Erstattung der vom BMJ in Auftrag gegebenen Gutachten setzte in der Zivilrechtswissenschaft zunächst eine intensive Diskussion zu Grundsatz‑ und Teilfragen ein.134 Wir haben einen wichtigen Teilausschnitt der hier vor allem interessierenden Debatte als „Kampf“ um die c. i. c. und die „haftungsrechtliche Generalklausel“ ausführlich betrachtet.135 Die hierbei zu Tage getretenen grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten waren für niemanden zu übersehen. So ist es vielleicht erklärlich, dass die dann 1984 vom Bundesminister der Justiz eingesetzte Schuldrechtskommission nur noch eine deutlich bescheidenere Zielsetzung, nämlich eine Abgleichung zwischen allgemeinem Leistungsstörungsrecht und Gewährleistungsrecht, verfolgt hat.136 Über die zentralen Mängel des Schuldrechts, nämlich die durch die langen Verjährungsfristen von p. V. und c. i. c. einerseits (30 Jahre) und die kurzen Gewährleistungsfristen andererseits (6 Monate) verursachten Friktionen, herrschte ja durchaus Einigkeit. Und so beruhigte sich die Sache mit dem Vorschlag zu ihrer Behebung, vor allem aber auch deshalb, weil mit einer Umsetzung auf der politischen Ebene seinerzeit nicht mehr zu rechnen war: „Die Aufbruchsstimmung wich einer etwas diffusen Gleichgültigkeit.“137 Als dann im August 2000 relativ überraschend ein „Diskussionsentwurf“ mit der Maßgabe, diesen im Grunde binnen Jahresfrist in geltendes Recht umzusetzen, vom BMJ veröffentlicht wurde, da blieb von dem ambitionierten Ursprungsmotiv der Reform kaum mehr als politische Rhetorik: „Wirtschaft und Verbraucher wollen wissen, woran sie sind, und sich nicht im Zustand der Rechtsunsicherheit befinden.“138 Die vom neu aufgelegten Reformprojekt als „Modernisierung“ umfasste Materie überstieg nun allerdings ad hoc völlig jedes Maß einer seriösen Bewältigung. Der notwendige Abgleich zwischen allgemeinem und besonderem Schuldrecht blieb zwar als Kern noch erhalten. Doch wurde diese originäre Aufgabe grundlegend überlagert von der als notwendig erachteten Integration dreier EU-Richtlinien und von auf EU-Richtlinien basierenden verbraucherrechtlichen Sonderregelungen, was allein schon ohne jede intellektuelle Vorarbeit ein überdimensioniertes Vorhaben gewesen wäre:139 Es 133 Erinnerung: Fuller / ​Perdue, The Reliance Interest in Contract Damages, Yale Law Journal 46 (1936), 52: „Nietzsches observation, that the most common stupidity consists in forgetting what one is trying to do, retains a discomforting relevance to legal science.“ 134 Vgl. insb. die Beiträge und Berichte auf den Tagungen der Zivilrechtslehrervereinigung von 1982 im AcP 182 (1982), 80–125 und von 1983 im AcP 183 (1983), 327–607. 135  Oben § 7 II. 136 Vgl. die eingeschränkte Aufgabenstellung im Abschlußbericht (1992), S. 15 ff. 137  Zimmermann, Schuldrechtsmodernisierung? (2001), S. 1/16. 138  Dirk Manzewski (SPD): „Allein aus Gründen der Rechtssicherheit … ist damit die umfassende Reform des Schuldrechts geboten.“ (BT-Debatte zur 1. Lesung am 18. Mai 2001, Plenarprotokoll 14/171, S. 16729). 139  Vgl. nur die amtliche Anmerkung zum Regierungs-Entwurf: „Dieses Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai

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sollte per se unsystematisches europäisches Richtlinien-Recht innerhalb nur eines knappen Jahres in deutsches Recht umgesetzt und zugleich noch ein sinnvolles Ganzes aus bürgerlichen und verbraucherschützenden Regelungsfragmenten geformt werden. Das ursprüngliche Anliegen der Reform des Schuldrechts geriet da zu einer quasi nebenbei mit zu erledigenden allfälligen „Entrümpelung“.140 An Rechtsklarheit und eine stimmige Dogmatik war bei dieser Stofffülle und in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht ernsthaft zu denken. Aus guten Gründen drehte sich ein wesentlicher Aspekt der kontrovers zu diesem Vorhaben geführten Debatte um die Frage, ob nicht mit einer „kleinen Reform“ (nur eine Einarbeitung der notwendig umzusetzenden EU-Richtlinien) vor allem der zeitliche Druck von dem überdimensionierten Vorhaben („große Reform“) genommen werden könne. Aber: In der Geschichtswissenschaft unterscheidet man bekanntlich zwischen Anlässen und Gründen für eine bestimmte historische Entwicklung. Die Umsetzung der EU-Richtlinien war lediglich ein willkommener Anlass, und dieser fiel, wie gesehen, mit einer allgemeinen „Reformstau-Abbau-Politik“ und dem Ehrgeiz (nicht nur) der damaligen Justizministerin zusammen, das verstaubte reichsdeutsche BGB zum Vorzeigemodell

1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (ABl. EG Nr. L 171 S. 12), der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. EG Nr. L 200 S. 35) und von Artikel 10, 11 und 18 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insb. des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“, ABl. EG Nr. L 178 S. 1). Es ändert die Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (ABl. EG Nr. L 372 S. 31), der Richtlinie 87/102/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (ABl. EG Nr. L 42 S. 48), zuletzt geändert durch die Richtlinie 98/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Änderung der Richtlinie 87/102/EWG zur Angleichung der Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (ABl. EG Nr. L 101 S. 17), der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. EG Nr. L 95 S. 29), der Richtlinie 47/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien (ABl. EG Nr. L 280 S. 82), der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (ABl. EG Nr. L 144 S. 19) und der Richtlinie 98/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 1998 über Unterlassungsklagen zum Schutz von Verbraucherinteressen (ABl. EG Nr. L 166 S. 51).“ Zum Problem nur Roth, EGRichtlinien und Bürgerliches Recht, JZ 1999, 529. 140  „Mit der Reform des Schuldrechts entrümpeln wir unser angestaubtes Bürgerliches Gesetzbuch und bringen es wieder auf Hochglanz. Wir gleichen das BGB internationalen Standards an und machen es für die Rechtsanwender, also für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande, verständlicher.“ (Volker Beck, BT-Debatte zur 1. Lesung am 18. Mai 2001, Plenarprotokoll 14/171, S. 16724).

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für Europa machen zu wollen.141 Das mit dieser Motivlage geradezu rücksichtslos vorangetriebene Projekt hat in der Zivilrechtswissenschaft tiefe Gräben des Unbehagens aufgerissen und dürfte, gleichwohl es immerhin noch solide Unterstützung in einer „Kommission Leistungsstörungen“ (Schuldrechtskommission II) gefunden hat, dieses, sein Ziel, Vorbild für Europa sein zu wollen, schwerlich erreicht haben.142 Weder das Prozedere noch das Ergebnis können im Ernst für irgendwen oder irgendwas als „vorbildlich“ angesehen werden. Die Autorität der alten bürgerlichen Kodifikation BGB hatte bereits durch andauernde grundlegende Kritik, Freirechtsschule, „unendliche Auslegung“, immer neue teils inhaltlich, teils sprachlich-systematisch unpassende Eingriffe durch einen „motorisierten“ Gesetzgeber und schließlich eine zunehmend selbstbewusst und emanzipiert agierende Rechtsprechung nicht wenig gelitten. Mit der finalen Umsetzung der Schuldrechtsmodernisierung hat das BGB für diesen wichtigen Bereich des Privatrechts aufgehört, ernstzunehmende Autorität und Rechtsquelle zu sein.143 Mit Jhering lässt sich hier nur konstatieren: Man muss erst den Glauben an ein Gesetz verloren haben, um sich seiner ohne Gefahr zu bedienen. Ganz sicher gescheitert ist  – um nicht zu sagen, in sein Gegenteil verkehrt wurde – der originäre Vorsatz, mit der Überarbeitung des Schuldrechts Rechtsklarheit und Rechtssicherheit befördern zu wollen. Das Recht ist in diesem zentralen Bereich für alle, denen die Lust an Dogmatik nicht ohnehin bereits

141  Zum politischen Konzept: Däubler-Gmelin, NJW 2001, 2281 ff. In Kurzform: „Wir setzen diese Richtlinien um, indem wir es für die Bürgerinnen und Bürger, für die Wirtschaft und für die Richterinnen und Richter sehr viel leichter anwendbar machen und indem wir es europäisch und zugleich international kompatibel gestalten.“ (Däubler-Gmelin, BT-Debatte zur 1. Lesung am 18. Mai 2001, Plenarprotokoll 14/171, S. 16719); ebenso die anderen Stimmen aus dem Lager der Reform-Befürworter: „Wir werden mit diesem modernen Zivilrecht auf internationaler Ebene wieder ernst genommen. Im Hinblick auf ein europäisches Zivilgesetzbuch wird unser neues BGB Vorbildfunktion haben.“ (Volker Beck, Plenarprotokoll zur 2. Lesung 14/192, S. 18749). 142  Vgl. nur die nüchterne Analyse bei Lando, Das neue Schuldrecht, RabelsZ 67 (2003), S. 231 ff. Ein Schuldrecht, das selbst für die einheimische Rechtswissenschaft (von den Rechtsunterworfenen, den „Bürgerinnen und Bürgern“, gar nicht zu reden) nicht leicht verständlich ist, kann es auch nicht für den ausländischen Betrachter sein. Hinzu kommt, dass das Recht im Wesentlichen nicht mehr durch das Gesetz, sondern nur durch die Rechtsprechung maßgeblich geprägt wird, die sich auch jetzt nicht notwendig aus dem Gesetz ergibt. Mit Blick auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit braucht kein Land in Europa diese Vielzahl von einander zum Teil widersprechenden Rechtsinstituten und Regelungen, diese Vielzahl dogmatischer Querverweise, dieses hohe Maß an Abstraktheit und Technizität. Vor allem braucht vermutlich kein Land in Europa eine „dritte Haftungsspur“. Freilich sind die Suche nach dem, was richtig und vorbildlich ist, und die Wege der Rechtspolitik zwei verschiedene Dinge. Es gibt auch eine Vorbildwirkung in negativer Richtung. 143  Vgl. hierzu die detaillierte Darstellung bei Dauner-Lieb, Einführung, in: Das neue Schuldrecht in der anwaltlichen Praxis (2002), S. 16 ff.; zu den methodologischen Problemen: dies., Bestandsaufnahme (2003), S. 19 ff.; und noch unten § 9 (Kodifikation der Einzelfallgerechtigkeit).

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vergangen ist, zu einer „Dauerbaustelle“ geworden.144 Das mit der culpa in contrahendo seit jeher verknüpfte Ewigkeitsproblem gilt nun im Grunde für das gesamte modernisierte Schuldrecht: „Ein Zuwachs an Rechtssicherheit und Transparenz, der vom Gesetzgeber versprochen wurde, ist vorläufig nicht zu verzeichnen (…).“145

2. Augen zu: … denn sie wissen nicht, was sie tun! „Die politische Färbung, mit der die Reformdiskussion erneut eröffnet wurde, zwingt, neben juristischen auch politische Argumente in die Waagschale zu werfen. Inzwischen hat die Rechtslehre die Reformanregungen in weitgehend unpolitischer Weise aufgegriffen, beachtliches Material zutage gefördert und diskussionswürdige Vorschläge unterbreitet … Doch kommen mit so grundlegenden Neuerungsideen die eingangs erwähnten politischen Dimensionen wieder ins Spiel. Sie aber erfordern bestimmte Entscheidungen im Rahmen einer ordnungspolitischen Diskussion, die zur Zeit nicht geführt wird.“ Wolfgang Fikentscher, 1985146

Neben dem expliziten Vorsatz, das Schuldrecht wieder transparenter zu gestalten, gab es noch einen tieferen und gleichwohl weniger reflektierten Grund, das Schuldrecht endlich zu reformieren. Und dieser Grund entsprang der seit jeher politisch getragenen Kritik an der liberalen Grundkonzeption („formale Freiheitsethik“) des BGB. Wir haben gesehen, dass diese politische Dimension für die Konstruktion und Wertschätzung der culpa in contrahendo als „dritter Haftungsspur“ sehr zentrale Bedeutung besessen hat. Und so ist es sicherlich nicht vermessen zu behaupten, dass die gesetzliche Implementierung von Schutzpflichten die eigentliche materiell-rechtliche Errungenschaft der Reform und sohin auch der entscheidende systematische Bruch mit dem alten BGB darstellt. Allerdings: Kaum einer hat es bemerkt.

144 Vgl. bereits die Bestandsaufnahme bei Dauner-Lieb, in: Das neue Schuldrecht in der Praxis (2003), S. 3 ff.; Roth, ebd., S. 26 ff.; Rieble, ebd., S. 151: „Das BGB wird – der Güte der Reform entsprechend – ohnehin zur Interventions-Dauerbaustelle werden.“ Zu den grundlegenden ungeklärten dogmatischen „Verwerfungen“ sogleich noch unten (3.). Daneben denke man, um nur ein Beispiel neben den allfälligen Abgrenzungsproblemen der c. i. c. zu nennen, an das wenig durchdachte Verhältnis von Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage (hierzu etwa: Lobinger, Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten, 2004; Schmidt-Recla, Unmöglichkeit und WGG, 2006). Im Übrigen gab es drei extra eingerichtete Anlässe, Bilanz zu ziehen: Stephan Lorenz, Schuldrechtsmodernisierung – Erfahrungen seit dem 1. Januar 2002, in: Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2005, (2006); Oliver Remien (Hrsg.), Schuldrechtsmodernisierung und Europäisches Vertragsrecht. Zwischenbilanz und Perspektiven – Würzburger Tagung vom 27. und 28. 10. ​2006 (2008); zuletzt Artz / ​Gsell / ​ Lorenz (Hrsg.), Zehn Jahre Schuldrechtsmodernisierung (2014); die dort jeweils vorgetragenen Erkenntnisse geben keinen Anlass, die hier vertretene kritische Haltung zu revidieren. 145  Dauner-Lieb, Bestandsaufnahme, in: Das neue Schuldrecht in der Praxis (2003), S. 24. 146 Schuldrecht (7. Aufl. 1985), § 116 VI, S. 825/827.

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a) Abschied vom BGB I: Bruch des „inneren Systems“ „Wohin die übermäßige Verwendung des Gemeinschafts‑ und Treuebegriffes führen kann, mag ein Beispiel zeigen. Man hat in den letzten Jahren vielfach behauptet, zwischen Schuldner und Gläubiger bestehe nicht etwa, wie ‚liberalistisch-individualistisches‘ Denken angenommen habe, ein Interessengegensatz, sondern bei richtiger Auffassung liege ein Gemeinschaftsverhältnis vor, das demgemäß von beiderseitigem Vertrauen und von gegenseitiger Treue beherrscht werde. … Daß das absurd ist, liegt auf der Hand.“ Alfred Hueck, 1947147

Die Kritik am BGB hatte seit dem Erscheinen des 1. Entwurfs 1888 Tradition. Das Gesetz sei in Geist, Form und Substanz zu unsozial, zu wenig volkstümlich und zu romanistisch, oder umgekehrt formuliert: zu liberalistisch, zu abstrakt und zu wenig deutsch.148 Diese Kritik hatte sich, wie gesehen, in ihrem Grundtenor seit Otto v. Gierke nicht wesentlich verändert. Fortgelassen wurde nach zwei verlorenen Weltkriegen lediglich die Deutschtümelei. Fundamentalkritik am BGB war, wie gesehen, ein zentrales Agens der culpa in contrahendo seit Ende der 1920er Jahre. Dieses Haftungsinstitut verkörpert gleichsam nicht nur jenen Tropfen „social(istisch)en Oeles“, der im Rahmen der Kritik regelmäßig vermisst worden ist, sondern birgt in sich ein ganzes Ölfeld an sonderverbindlichem Sozialismus. Das muss man ja in der Sache auch gar nicht schlecht finden, wenn man ein „neues Sozialmodell“ anstrebt und seine gesellschaftspolitischen Ideale eher in einer sozial(istisch)en als in einer liberalen Grundstimmung findet. Nur: Es ist für die Überlegungen zu einer Aufnahme dieses Haftungsinstituts in das BGB durchaus bemerkenswert, dass diese politische Dimension bis zuletzt schlichtweg verdrängt149 und die Kodifikation von Richterrecht von Anfang an in der wissenschaftlichen Debatte allein als dogmatisches und gesetzestechnisches Problem (als Teilaspekt einer rein „technische Reform“150), nicht aber als Systembruch behandelt wurde. So ist es denn leicht zu erklären, warum schon die Schuldrechtskommission I die grundlegende Warnung von Ernst Wolf vor einem „Abschied vom BGB“151 ganz offensichtlich nicht einmal in ihrem Ausgangspunkt verstanden  Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 5.  Hierzu bereits oben § 6 II.2., § 7 I.1.; zusammenfassend Schwab, Das BGB und seine Kritiker, ZNR 22 (2000), 325 ff. 149  Andeutungen bei Jürgen Schmidt, Vertragsfreiheit und Schuldrechtsreform (1985), der für die Reformüberlegungen wieder bei Wieacker und der Frage nach dem „Sozialmodell“ des BGB anknüpfen will. 150  Jürgen Schmidt, Vertragsfreiheit und Schuldrechtsreform (1985), S. 9. 151  Ernst Wolf, Kein Abschied vom BGB, ZRP 1982, 1/3: v. Gierkes „Kampf gegen das BGB heute fortzusetzen, ist mehr als bedenklich.“; ders., Das BGB, eine unverzichtbare Grundlage des Rechtsstaats, ZRP 1983, 241 ff.; vgl. noch Fikentscher, Schuldrecht (7. Aufl. 1985), § 116 VI 2: Für alle Neuerungen, die über „geforderte technische Verbesserungen“ hinausgehen, komme eine „politische Dimension“ mit ins Spiel, „bestimmte Entscheidungen im Rahmen einer ord147 148

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hat; war doch die Kritik an der culpa in contrahendo seit jeher vor allem eine dogmatische, nicht aber eine rechtspolitische gewesen. Hier wie überall gab es Abgrenzungs‑ und Konkurrenzprobleme. Aber genau deshalb sollte ja das Schuldrecht reformiert werden, weil es die Verwerfungen mit ihren wenig plausiblen Unterschieden insbesondere bei der Verjährung zu beseitigen galt.152 Dass sich die ganze Debatte um die Konkurrenz der ungeschriebenen Rechtsinstitute (p. V. und c. i. c.) mit dem Gewährleistungsrecht und andere Abgrenzungsprobleme etwa dann erledigen, wenn man die Ursachen, namentlich etwa die als unbillig empfundene kurze Verjährung (§ 477 BGB a. F.) und die Bindung eines Ersatzanspruchs für Mangelfolgeschäden (§ 463 BGB a. F.) an den dolus beseitigt, wurde offensichtlich nicht ernsthaft erwogen. Das hieße Abschied nehmen zu müssen von den beiden großen „Entdeckungen“, welche die Zivilrechtswissenschaft als Ergebnis ihrer 100jährigen Tätigkeit im Schuldrecht überhaupt vorzuweisen hatte. Es konnte aber nicht sein, was nicht sein durfte. Und so wurde die mit der Reform einhergehende tiefgreifende Veränderung vor allem des „inneren Systems des BGB“ gar nicht wahrgenommen oder schlichtweg geleugnet: „Diese Annahme“ (die Kritik von Ernst Wolf) träfe – so der Abschlussbericht  – „für die von der Schuldrechtskommission vorgelegten Vorschläge auch nicht annähernd zu.“ „Denn sie betreffen außer der Verjährung nur einen Teil des Schuldrechts, nämlich das Recht der Leistungsstörungen sowie, ausgehend vom Gewährleistungsrecht, das Kauf‑ und Werkvertragsrecht. Nicht erfasst sind dagegen insbesondere die übrigen vertraglichen und alle gesetzlichen Schuldverhältnisse … [sic!] Damit bleibt nicht nur das Bürgerliche Gesetzbuch, sondern insbesondere auch sein Zweites Buch zum überwiegenden Teil sogar äußerlich unverändert. Aber selbst soweit Änderungen des derzeitigen Gesetzeswortlauts vorgeschlagen werden, steht dahinter längst nicht überall ein Wille zu weitreichenden sachlichen Veränderungen. Das gilt sogar für das Verjährungsrecht, bei dem die vorgeschlagenen Eingriffe am tiefsten gehen: Selbst dort sollen die im Bürgerlichen Gesetzbuch vorgesehenen Grundelemente erhalten bleiben, nämlich insbesondere das Wechselspiel von Fristdauer, Fristbeginn, Unterbrechung und Hemmung; auch der Charakter der Verjährungseinrede soll beibehalten werden. Von einem ‚Abschied vom BGB‘ kann also nicht einmal die Rede sein.“153

Denn sie wissen nicht, was sie tun! Der „tiefste Eingriff“ wird im Verjährungsrecht gesehen. Die Kodifikation der culpa in contrahendo und die damit verbundene gesetzliche Anerkennung eines umfassenden Schutzpflichtverhältnisses in den Grundnormen des Schuldrechts (§§ 280, 241, 305 BGB-KE) wird demgegenüber in diesem Zusammenhang gar nicht einmal erwähnt. Im Gegenteil: nungspolitischen Diskussion“ erfordere, „die zur Zeit nicht geführt wird.“ Für „schuldrechtspolitische Grundsatzfragen“ fehle es derzeit an einem ausreichenden „gesellschaftspolitischen Konsens“. 152  Vgl. hierzu den Abschlußbericht (1992), S. 17 f., 20 ff.: „p. V., culpa in contrahendo.  – Sachmängelgewährleistung“. 153 Abschlußbericht (1992), S. 39.

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Dass sowohl in der Zentralnorm zur Begründung (§ 305 BGB a. F.) als auch zum Inhalt (§ 241 BGB) eine ganz wesentliche Erweiterung der Schuldverhältnisse vorgenommen wird, obwohl weder Begründung noch Inhalt für diesen Haftungsbereich in irgendeiner Form gesichert sind, wird schlicht ausgeblendet. Man schafft mit der „dritten Haftungsspur“ das größte „gesetzliche Schuldverhältnis“ neben dem Deliktsrecht und meint, man habe ja die „gesetzlichen Schuldverhältnisse“ gar nicht behandelt.154 Wie gesehen, sollte die c. i. c. lediglich durch einen kleinen Zusatz in § 305 BGB a. F. Erwähnung finden. Zu § 241 BGB-KE heißt es in der Begründung des Abschlussberichts nur kurz: Die Lehre von den Schutzpflichten habe sich allgemein durchgesetzt, „an der Existenz von Schutzpflichten, die sich von den Leistungspflichten unterscheiden“, sei „in der Reformdiskussion kein Zweifel aufgetaucht“.155 Niemand erwartet in einer Phase des dogmatischen Positivismus das lediglich von Wolfgang Fikentscher und Ernst Wolf angemahnte dogmengeschichtliche oder gar prinzipientheoretische Bewusstsein. Aber hatte nicht schon Ulrich Huber die dogmatischen „Zweifel“ an der pseudovertraglichen Haftungshypertrophie in seinem Gutachten sehr deutlich geäußert: „Die Lehre von den Schutzpflichten spiegelt einen inzwischen überholten Kenntnisstand wider, der die neuere Entwicklung der Dogmatik des Deliktsrechts noch nicht rezipiert hat.“156 Und ging es nicht im Kern der Reformdiskussion zwischen 1981 und 1991 intensiv um das Überleben von p. V. und c. i. c.?157 Es ist nun auch keineswegs so, dass die Schuldrechtskommission I die Diskussion um Verkehrs‑ und Schutzpflichten überhaupt nicht wahrgenommen hätte. Unter dem Stichpunkt „Rechtsvergleichung“ wird der Zusammenhang der „Entwicklung der Schutzpflichten im deutschen Recht“ mit den „Schranken der Deliktshaftung (keine allgemeine Fahrlässigkeitshaftung für Vermögensverletzungen; Gehilfenhaftung nur nach § 831 BGB)“ klar eingeräumt. Eine umfassende Erörterung müsste also auch das deliktische „Umfeld“ mit einbeziehen. Das sei aber in dem „hier gezogenen Rahmen“ nicht zu leisten. Die Kommission weiß also schon, was sie tut: Mit der Entscheidung für eine gesetzliche Regelung der culpa in contrahendo ist zwangsläufig auch die Entscheidung zugunsten der Lehre von den Schutzpflichten und eine „dritte Haftungsspur“ zwischen Vertrags‑ und Deliktsrecht gefallen. Die beiden klassischen liberalen 154  Dafür, dass die ganze Sache doch nicht völlig unbewusst abgelaufen ist, vgl. immerhin Abschlußbericht (1992), S. 145: „Für die Einordnung der Regelung in § 305 BGB war maßgebend, daß das für diese Haftungskategorie vorausgesetzte gesetzliche Schuldverhältnis im Vorfeld eines Vertrags entsteht. Deshalb wurde der Standort der vorgeschlagenen Vorschrift unmittelbar im Anschluß an das in § 305 BGB angesprochene Vertragsprinzip gewählt.“ Natürlich: Alles rein technische Fragen. 155  Abschlußbericht (1992), S. 114. 156  Huber, Gutachten (1981), S. 737. 157 Ausf. oben § 7 II. (Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel).

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Haftungssysteme werden vom sozialen Schutzpflichten-System überlagert und verdrängt. Wie gesehen, folgt das eine aus dem anderen. Und so bemerkt denn auch die Kommission, dass eine Klarstellung der Existenz von Schutzpflichten in § 241 Abs. 2 BGB deshalb notwendig sei, weil „ein Sonderfall der isolierten Schutzpflichten – nämlich diejenigen aus Vertragsanbahnung – in § 305 Abs. 2 BGB-KE gesetzlich erwähnt werden soll“.158 Mit der Aufnahme einer „dritten Haftungsspur“ aber ist der Bruch des „inneren Systems“ des BGB vollzogen. Und nur Ernst Wolf hat es bemerkt? Der „Abschied vom BGB“ manifestiert sich aber noch an einem zweiten, sehr entscheidenden Punkt. Und dabei geht es weniger um einen inhaltlichen Bruch mit vorhandenen Grundstrukturen als um die Idee einer Kodifikation als maßgeblicher Rechtsquelle für den kodifizierten Sachbereich. b) Abschied vom BGB II: Die Rechtsprechung als Maß aller Dinge „Es bestehen lediglich Pflichten zur Rücksicht, Fürsorge und Loyalität. Wie weit diese Pflichten reichen, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Diese entziehen sich ebenso wie ihre nähere Ausprägung einer gesetzlichen Regelung; dies muss auch weiterhin der Rechtsprechung überlassen bleiben. Dabei kann und sollte auf die Ergebnisse der bisherigen Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die auch für die jetzt getroffene Regelung zutreffen.“ Regierungsbegründung zur c. i. c., 2001159

Das Problem wird deutlich in der ausgesprochen originellen Begründung, die für die Aufnahme der c. i. c. als abstrakte „kahle Formel“ vom Gesetzgeber geliefert wurde. Die Abgrenzungsprobleme zu anderen Haftungsinstituten werden da als Ausdruck „großer Flexibilität“ gedeutet, und diese wiederum als ein Kennzeichen dafür, dass die culpa in contrahendo gar keine „erkennbaren und reformbedürftigen Mängel“ habe.160 Die c. i. c. ist also der Star unter allen Rechtsinstituten: mit ihr lässt sich in der Tat jeder Fall in die eine oder andere Richtung entscheiden. Der Mangel an Tatbestand wird zum Grund dafür, dass die culpa in contrahendo gar nicht reformbedürftig sei (sic!). Der Gesetzgeber kommt mit dieser Prämisse selbst über die Beschränkungen hinweg, die Medicus in seinem diesbezüglichen Gutachten der culpa in contrahendo noch gezogen hatte. Zwar betonte auch noch die Schuldrechtskommission I, dass alle Gutachter immerhin zu dem Ergebnis gekommen seien, dass 158  Abschlußbericht (1992), S. 114; der enge Zusammenhang zwischen der Regelung des § 241 Abs. 2 BGB und der culpa in contrahendo kommt dann auch in der Regierungsbegründung 2001 zum Ausdruck, vgl. BT Drucks. 14/6040, S. 125: „Der Entwurf hält es für angezeigt, die culpa in contrahendo und die vertraglichen Nebenpflichten im Bürgerlichen Gesetzbuch gesetzlich zu regeln (…)“. 159  Canaris, Materialien (2002), S. 721. 160  Abschlußbericht (1992), S. 143; ebenso dann in der Regierungsbegründung BT Drucks. 14/6040, S. 161.

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grundsätzlich für die Gruppe der Fälle, bei denen es um eine Verletzung der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter gehe, ein deliktsrechtlicher Integritätsschutz bestehe. Doch werden Konsequenzen hieraus nicht gezogen. Wie auch? Wenn man eine Haftung für Schutzpflichtverletzung kraft Sonderverbindung generell anerkennt, dann kann doch schwerlich ausgerechnet die Haftung für die wichtigsten, ohnehin deliktsrechtlich geschützten Rechtsgüter ausgenommen sein. An dieser Frage hängt aber, wie gesehen, die logische Existenzberechtigung der ganzen Konstruktion. Und so gerät die Kommission in das bereits oben betrachtete dogmatische Dilemma161, das nur aufzulösen wäre, wenn die culpa in contrahendo allenfalls punktuell, wie Medicus es vorgeschlagen hatte, detailliert in Einzelbestimmungen geregelt würde. Genau dies hat die Kommission dann aber abgelehnt: „Die Kommission ist der Ansicht, daß das Institut der culpa in contrahendo nach den bisherigen Erkenntnissen in Wissenschaft und Rechtsprechung nicht in allen Einzelheiten geregelt werden kann. Die große Bandbreite und Vielfalt der zu berücksichtigenden Pflichten und die Unterschiede in den durch diese Pflichten geschützten Interessen verhindert eine solche Regelung im einzelnen. Die vorgeschlagene Vorschrift enthält nur eine grundsätzliche Aussage zur culpa in contrahendo. Diese Zurückhaltung erklärt sich daraus, daß die Kommission keine Regelung vorschlagen wollte, die hinter den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zurückbleibt. Eine Abweichung von der geltenden Rechtslage soll vermieden werden.“162

Diese Begründung ist, wie gesehen, zum allgemeinen Mantra für die Kodifikation der c. i. c. geworden.163 In der Sache ist das freilich nichts anderes als ein Freibrief für die Rechtsprechung, die Rechtsverhältnisse weiterhin im Einzelfall flexibel mit einer „großen Bandbreite und Vielfalt“ an Pflichten ex post zu gestalten. Damit schließt sich der Kreis: Ernst Wolf hatte die These vom „Abschied vom BGB“ eben auch mit einer „Kapitulation der Gesetzgebung vor der Rechtsprechung“ begründet und namentlich gegen die Initiatoren einer „Überarbeitung des Schuldrechts“164 geltend gemacht: „Die Forderung, ‚neue Entwicklungen in den Gesetzestext zu übernehmen‘, um dessen ‚Anpassung‘ an die ‚Rechtswirklichkeit‘ zu erreichen, bedeutet, daß die Ergebnisse der Rechtsprechung in den Gesetzestext aufgenommen werden sollen. Das ist wegen deren Menge, Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit logisch ausgeschlossen. Entgegen der Ansicht von Alfred Wolf kann daher auch nicht auf diese Weise die ‚kodifikatorische Einheit des Privatrechts gegenüber dem Fallrechtsdenken betont werden.‘ Es handelt sich 161  Oben § 7 II.2.a: „Ob eine Sonderverbindung nach Art des § 278 BGB vorliegt oder nicht, kann nicht davon abhängen, ob der Gesetzgeber die deliktische Gehilfenhaftung in der gewünschten Weise ausgestaltet. Entweder entsteht mit der Aufnahme eines für die culpa in contrahendo erforderlichen Kontakts eine Sonderverbindung … oder es entsteht keine (…).“ 162  Abschlußbericht (1992), S. 144. 163 Oben I.3. 164  Er bezieht sich namentlich auf Alfred Wolf, Weiterentwicklung und Überarbeitung des Schuldrechts, ZRP 1978, 249 ff. und Schwark, Grundsätzliche Fragen, JZ 1980, 747 f.; generell kritisch zuvor schon Hattenhauer, Reform durch „Richterrecht“?, ZRP 1978, 83 ff.

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vielmehr um eine Kapitulation der Gesetzgebung vor der Rechtsprechung, bei der das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung ins Gegenteil verkehrt und die Kodifikation inhaltlich aufgelöst wird.“165

Die Kommission meinte nun allerdings auch diesen Vorwurf als unbegründet zurückweisen zu können: „Von einer ‚Kapitulation‘ könnte allenfalls dann gesprochen werden, wenn Ergebnisse der Rechtsprechung gegen besseres Wissen oder doch zumindest ohne eigene Überzeugung übernommen würden. Das entspricht aber nicht dem Vorgehen der Kommission: Sie hat keinen Vorschlag allein mit dem Argument begründet, daß mit ihm der Rechtsprechung gefolgt wird. Maßgeblich war vielmehr überall die Überzeugung der Kommission, daß es für ihre Vorschläge gute sachliche Gründe gibt.“166

Das ist unglaublich! Wieder fehlt jede Sensibilität für den Kern von Wolfs Kritik. Natürlich mag man die Flexibilität eines Rechtsinstituts, das der Rechtsprechung alle erdenklichen Freiräume lässt, aus „eigener Überzeugung“ und als „sachlichen Grund“ gelten lassen. Das ändert aber doch gar nichts daran, dass man an dieser Stelle das BGB als Rechtsquelle aufgegeben und die Verantwortung an die Rechtsprechung abgegeben hat. Wie sollte man das anders bezeichnen denn als „Kapitulation des Gesetzgebers“? Dass darüber hinaus noch bis vor Kurzem die besseren Gründe gegen eine „große Generalklausel“ gesprochen hatten, war jedenfalls die verbreitete Überzeugung auch in der Wissenschaft: Eine große Generalklausel würde „die ohnehin schon bestehende Gefahr einer vagen Billigkeitsrechtsprechung noch verstärken“.167 Wenn man dann – 10 Jahre später – aus nicht weiter mitgeteilten „sachlichen Gründen“ eine andere Auffassung zum Thema „Billigkeitsrechtsprechung“ einnimmt, dann ist das nicht leicht verständlich, weil jedenfalls von Anfang an selbst von den Initiatoren der Reform betont wurde, dass bereits aus verfassungsrechtlichen (sic!) Gründen „die Anpassung des Schuldrechts an veränderte Verhältnisse nicht ausschließlich der Rechtsprechung überlassen werden“ dürfe: In „einem durch den Gedanken der Gewaltenteilung geprägten Staat“ könne „die Funktion des Gesetzgebers auf einem zentralen Rechtsgebiet nicht schlechthin der dritten Gewalt überlassen werden, soll die Balance der Gewalten in einem Gesetzgebungsstaat nicht auf die Dauer Schaden nehmen“.168 All das ist reine Sonntags-Rhetorik, die die methodologische und systemsprengende Kraft der  Ernst Wolf, Kein Abschied vom BGB, ZRP 1982, 1/3.  Abschlußbericht (1992), S. 40. 167 Medicus, Gutachten (1981), S. 486. 168  Schwark, Grundsätzliche Fragen, JZ 1980, 741/743 f.; in diesem Sinne auch BMJ, Gutachten I (1981), Einleitung, S. XV: „Die unbestreitbar überragende Bedeutung der Rechtsprechung für Inhalt und Veränderung unseres Rechts darf nicht den Blick davor verstellen, daß es nicht Aufgabe der Rechtsprechung sein kann, anstelle des Gesetzgebers ein in sich schlüssiges und vorhersehbares Recht zu bilden. In einer Rechtsordnung, die von der Bindung des Richters an das Gesetz ausgeht, gelten besondere Grenzen des Richterrechts.“ 165 166

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neu geschaffenen Generalklausel entweder bewusst ausblendet oder – was in der Sache viel dramatischer ist – nicht einmal im Ansatz erkennt. c) Abschied vom BGB III: Vom Beruf unserer Zeit … „Sehr merkwürdig ist, was Baco aus der Fülle seines Geistes und seiner Erfahrung über diese Arbeit sagt. Er will, daß sie nicht ohne dringendes Bedürfniß geschehe, dann aber mit besonderer Sorgfalt für die bisher gültigen Rechtsquellen … Vorzüglich aber soll diese Arbeit nur in solchen Zeiten unternommen werden, die an Bildung und Sachkenntnis höher stehen als die vorhergehenden; denn es sey sehr traurig, wenn durch die Unkunde der gegenwärtigen Zeit die Werke der Vorzeit verstümmelt werden sollten.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1814169

Schließlich folgt an dieser Stelle zwangsläufig ein letzter Einwand, den alle diejenigen, die mit Savigny der Zeit den Beruf zur Schuldrechtsmodernisierung absprachen, explizit oder implizit auch vorgetragen haben:170 Wenn es nämlich gar nichts Grundlegendes zu entscheiden gab, dann hatte sich der Gesetzgeber auch jeder Entscheidung zu enthalten. Auf die culpa in contrahendo gemünzt heißt das: Wenn man die Haftungsfrage bei der Rechtsprechung belassen will, weil weder der Wissenschaft noch dem Gesetzgeber in dieser Sache etwas Sinnvolles eingefallen ist, dann mag man die Sache auch dort und so belassen, wie sie sich gerade verhielt.171 Die Kommission wusste allerdings auch hierauf etwas zu erwidern: „Vor allem ist die Situation heute anders als zur Zeit Savignys, weil die von ihm geforderte Vertiefung der Rechtswissenschaft inzwischen stattgefunden hat.“172

In der Tat hat die Rechtswissenschaft das Problem der culpa in contrahendo kräftig und immer wieder in unzähligen Beiträgen traktiert. Nur – und das ist wohl entscheidend – einen festen Grund unter den Füßen hat sie dabei zu keiner Zeit gefunden. Alle, die sich ernsthaft mit dem Phänomen und seinen Wucherungen befasst haben, konnten immer nur ungelöste Probleme und eine bodenlose Materie konstatieren. Doch diese Stimmen waren regelmäßig in der Minderheit, weil eine große Mehrheit das Phänomen bereits als Begründung nahm. Seit Mitte  Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 20 f. insb. Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht (1983), 45 ff.; Braun, Vom Beruf unserer Zeit zur Überarbeitung des Schuldrechts, JZ 1993, 1; Lieb, Vom Beruf unserer Zeit zur Modernisierung des Schuldrechts (2001); Kupisch, Schuldrechtsreform und Kunst der Gesetzgebung, NJW 2002, 1401. 171  So später dann auch Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 234: „Die Normierung der c. i. c. … ist entbehrlich, solange der Gesetzgeber in das gewachsene Richterrecht zur c. i. c. nicht einzugreifen gedenkt.“; Rieble, Kodifikation der culpa in contrahendo (2003), S. 136/139: „Wer sich die große Mühe einer Neukonzeption des Leistungsstörungsrechts macht, der hätte auch Zeit und Kraft für eine inhaltliche Regelung finden müssen.“ 172 Abschlußbericht (1992), S. 41. 169

170 Vgl.

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der 1930er Jahre überwog, wie gesehen, ein weiter, nahezu belangloser Konsens über ein richterrechtlich anerkanntes Haftungsinstitut. Bis in die 1970er Jahre erscheint die culpa in contrahendo vielen gleichsam selbstverständlich existent. Von den ersten Vorlesungen im Schuldrecht über die Lehrbuch‑ und Kommentarliteratur werden die Fallgruppen ebenso brav repetiert, wie die Autorität eines „Jhering“ als „Entdecker“ und die gewohnheitsrechtliche Anerkennung in moderner vertrauenstheoretischer Einkleidung, die seit Ballerstedt (1951) und Canaris (1971) als „erwiesen“ galt. Dann kommen die Gutachten zur Reform des Schuldrechts und mit Medicus erneut differenzierte Zweifel (insbes. 1965, 1981), mit v. Bar die klare Benennung der Vehikel-Funktion dieses Instituts (1981) und mit Ulrich Huber ein gänzlicher Ausschluss aus dem Schuldrecht (1981, 1999, 2001). Picker entdeckt eine terra incognita (1983), Canaris konzediert, dass man mit der dogmatischen Erfassung noch am Anfang stehe (1986), Dauner-Lieb empfiehlt eher die Vertrauenshaftung als die c. i. c. zu kodifizieren (2001), und Köndgen weiß, dass sich dieses Institut ohnehin allen Bemühungen, es zu fassen, immer entzieht (2001). Was die Kommission mit wissenschaftlicher „Vertiefung“ zu diesem Gegenstand auch gemeint haben mag: Die culpa in contrahendo war zum Zeitpunkt ihrer gesetzlichen Adelung nicht mehr als eine tradierte lateinische Formel, ein wohlklingendes Phantom, das alle vom Namen her kannten, von dem aber niemand Genaueres wusste, als dass die Rechtsprechung gerne und häufigen Gebrauch von ihr macht. Um insoweit die Tragweite dieser „Flucht in die Generalklausel“ in vollem Umfang zu verstehen, ist es sinnvoll, sich noch einmal die Reichweite des Haftungsinstituts und mithin die Tragweite der vollzogenen gesetzlichen Regelung vor Augen zu führen: Es handelt sich um eine umfassende Haftung für Fahrlässigkeit bzw. enttäuschtes Vertrauen im gesamten Vertrags-, Schuld‑ und Deliktsrecht; d. h. in der Sache aber um eine haftungsrechtliche Generalklausel, die vor allem bei lediglich vermögensrechtlich relevantem Kontakt der grundsätzlich liberalen Ausrichtung des BGB in diesem Bereich ein contra legem gewonnenes Haftungsprinzip entgegenstellt. Und diese Haftungsweite und Haftungskonnotation wird neben den im Vordergrund der dogmatischen Diskussion stehenden Abgrenzungsfragen zu aliud und peius, nahen und ferneren Mangelfolgeschäden, Fristdauer, Fristbeginn, Unterbrechung, Hemmung usw. gar nicht als grundlegender Eingriff in das BGB begriffen. Genau hier, in der Wahrnehmung und Gewichtung der dogmatischen Probleme und ihrer Konsequenzen ist die Situation in der Tat heute eine ganz andere „als zur Zeit Savignys“. Denn dass eine Kodifikation jedenfalls auf einem in sich konsistenten, d. h. Wertungswidersprüche vermeidenden System von Rechten und Pflichten beruhen muss, war eine Erkenntnis, die für alle vorhergehenden Kodifikationsprojekte seit der Aufklärungszeit selbstverständlich gegolten hat. Während selbst noch die Generation derer, die das auf „wohlgeordneter Freiheit“ beruhende BGB zugunsten eines modernen Volksgesetzbuches überwinden wollten, ganz bewusst darauf abzielte,

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ein „neues“, ein auf „Gemeinsinn“ ausgerichtetes deutsches „soziales“ Zivilrecht zu schaffen, veranstaltete die Wissenschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine Gesetzes-Kompilation ohne grundlegenden systematischen Anspruch und stolperte von einer dogmatischen Quisquilie zur nächsten ohne zu bemerken, dass die aufgeworfenen kleinteiligen dogmatischen Probleme systembedingt und hausgemacht waren. 3. Augen auf: Die dogmatischen „Verwerfungen“ „… es liegt hier die Gefahr sehr nahe, daß man sich durch ein vages Billigkeitsgefühl verleiten lassen kann, Grundsätze zu konstruiren, welche mit dem sonstigen Inhalte unserer Rechtsordnung schwer in Einklang zu bringen sind.“ Justizrath Hesse, 1878173 „Die culpa in contrahendo ist in ihrer über Jahrzehnte fortentwickelten Ausgestaltung gekennzeichnet durch eine große Flexibilität, die es verhindert, daß das Institut als solches erkennbare und reformbedürftige Mängel hat.“ Schuldrechtskommission, 1992174 Abgeordnete des Deutschen Bundestages, 2001175

Wenden wir uns insoweit abschließend den vermeintlich „unpolitischen“, rein technischen Fragestellungen zu, die im Zentrum der dogmatischen Diskussion gestanden haben. Die Motive für eine Reform des Schuldrechts basierten aus rechtswissenschaftlicher Sicht in der Tat weniger auf der Überzeugung, dass die Zeit reif sei für ein neues „Sozialmodell“ durch die Kodifikation von längst als richtig befundenem Richterrecht, sondern dass sie reif sei für ein neues Modell der Leistungsstörungen. Dabei ist nun allerdings eines sehr klar zu sehen: Es waren die von Staub und Leonhard ins Leben gerufenen Rechtsinstitute, p. V. und c. i. c., die natürlich in Konkurrenz zu den gesetzlichen Regelungen des Vertrags-, Leistungsstörungs‑ und Deliktsrechts das Schuldrecht überlagert und zu ganz unerträglichen „Verwerfungen“ insbesondere bei der Verjährung geführt hatten:176 Wenn mit den Gewährleistungsrechten eine spezielle Regelung der Schlechtleistung im besonderen Teil des Schuldrechts existiert, dann muss die „Entdeckung“ zweier 173 Zur

Lehre von dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203/276.  Abschlußbericht (1992), S. 143. 175  Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT Drucks. 14/6040, S. 161. 176 Vgl. insoweit nur die Bestandsaufnahme zu den Mängeln im alten Schuldrecht bereits bei U. Huber, Gutachten I, S. 669: „Die Folge der Überlagerung des Gesetzesrechts durch Gewohnheitsrecht ist, daß das System des Leistungsstörungsrechts überhaupt zusammengebrochen ist (…)“; sodann ausf. im Abschlußbericht (1992), S. 16. ff.; Medicus, Dogmatische Verwerfungen (2001), S. 33 ff.; Kley, Unmöglichkeit und Pflichtverletzung (2001). Zur Grundlegung des Konkurrenz-Problems ausf. oben §§ 5 u. 6, und zur Zuspitzung in den 1970er Jahren oben § 7 II.2. 174

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umfassender Haftungsinstitute, die ebenfalls die Schlechtleistung regeln wollen, natürlich zu Widersprüchen und einer immer weiteren dogmatischen Verkomplizierung des Rechts mit jedem neuen Versuch führen, diese Widersprüche aufzulösen: Wie gesehen, dienten p. V. und c. i. c. von Anfang an dazu, die Grenzen des bestehenden Rechts, und zwar nicht nur des Deliktsrechts (Vorsatzdogma, nur eingeschränkter Ersatz primärer Vermögensschäden, eingeschränkte Haftung für Verrichtungsgehilfen) zu umgehen. Um etwa die als unbillig empfundene kurze Verjährung des Gewährleistungsrechts von 6 Monaten (§§ 477, 638 BGB a. F.) auszuschalten, wurde es probat, eine Haftung eher aus Schutzpflichtverletzung (p. V. bzw. c. i.c: Verjährung 30 Jahre) zu begründen. Die Umgehung des Gesetzesrechts war dabei ebenso offensichtlich, wie die absolut inakzeptable Divergenz bei der Verjährung. Und doch überboten sich Wissenschaft und Rechtsprechung in dogmatischen Spitzfindigkeiten zur Beantwortung der Frage, wann das eine und wann das andere Haftungsregime eingreifen könne, solle oder müsse. Die uns in ihrem Prinzip bereits bekannte Schrumpfungsmethodologie bewirkte eine Debatte zu subjektivem und objektivem Fehlerbegriff, zu aliud und peius, zum Begriff der Eigenschaftszusicherung, zu einer Theorie vom „Weiterfresser-Schaden“, einer solchen von „weiteren“ und „näheren Mangelfolgeschäden“ und ähnlichen Konstruktionen, nur um den Bereich des Gewährleistungsrechts zugunsten von gleichsam unverjährbaren Ansprüchen zurecht zu schrumpfen. Die Absurdität dieser Konsequenz begrifflicher Rabulistik war seit jeher mit Händen zu greifen. Hier lag der Grund, warum diese Haftungsfiguren in die Krise geraten waren, als „Vehikel“ bezeichnet wurden und kurz vor ihrem „Aus“ gestanden haben.177 Doch am Ende fehlte die Kraft, diese vagabundierenden Rechtsfiguren zu verabschieden. Verabschiedet wurde statt dessen das BGB. a) „Systemwechsel“ und die Arbeit an Symptomen „Die Folge der Überlagerung des Gesetzesrechts durch Gewohnheitsrecht ist, daß das System des Leistungsstörungsrechts überhaupt zusammengebrochen ist. Das gesetzliche System (…) und das gewohnheitsrechtliche System stehen unverbunden nebeneinander. Das Gewohnheitsrecht wird von Fall zu Fall unterschiedlich eingesetzt: bald zur Ergänzung des als ‚lückenhaft‘ empfundenen Gesetzes, bald – so insbesondere im Sachmängelrecht – zur Korrektur des als unzulänglich erkannten Gesetzesrechts. Allgemeine Regeln über das Verhältnis der beiden Rechtsmaterien lassen sich nicht aufstellen.“ Ulrich Huber, 1981178

Wie gesagt, ist es nicht so, dass nicht die eigentliche Ursache des Problems auch bemerkt worden wäre. Es war noch das erklärte Ziel in Ulrich Hubers Reform177

 Vgl. schon oben § 7 II.2.a. I (1981), S. 669.

178 Gutachten

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Entwurf, „vor allem im Bereich der Sachmängelhaftung … ein Nebeneinander bei den Haftungsgrundlagen“ zu verhindern, „weil anderenfalls Haftungsbeschränkungen der gesetzlichen Sachmängelregelung durch die culpa-in-contrahendo-Haftung beseitigt werden“.179Entsprechend konstatiert auch noch die Schuldrechtskommission I in ihrem Abschlussbericht: „Nicht selten“ dränge „sich der Eindruck auf, daß der Richter zunächst die Verjährungsfrist auswählt, die den zur Entscheidung stehenden Fall angemessen löst, und dann erst bei der rechtlichen Qualifizierung des geltend gemachten Anspruchs so zu Werke geht, daß das gewünschte Ergebnis erreicht werden kann.“180 Das kennen wir schon: methodischer Finalismus. Die freirechtlich agierende Rechtsprechung (juristische Konstruktion ist „Ergebnis ihres Ergebnisses“) diente bis zuletzt als hinreichender Indikator für die Erkenntnis, dass jedenfalls eine Änderung des Verjährungs‑ und Gewährleistungsrechts dringend geboten sei.181 Wie immer man zu den damit verbundenen Änderungen in der Sache letztlich stehen mag182 – die originäre Ursache für die ursprünglich beklagten dogmatischen Verwerfungen und d. h. für die immer weiter ausgedehnte Haftung aus culpa in contrahendo und p. V. war mit einer Neuregelung und Angleichung von Verjährung und Gewährleistungsfristen für diesen Bereich im Grunde beseitigt. Doch hat das offensichtlich niemanden ernsthaft zu der Einsicht bewogen, nunmehr von einer „Kodifikation des Richterrechts“, speziell der c. i. c., generell Abstand zu nehmen. Es ging hier, wie schon bei der Frage um das Verhältnis von Schutz‑ und Verkehrspflichten, um die Existenzberechtigung von c. i. c. und Schutzpflichtverhältnis schlechthin: War die c. i. c. nur ein dogmatisches „Vehikel“ zur Überwindung einer als zu kurz empfundenen Gewährleistungspflicht oder ein eigenständiges Rechtsinstitut? Das Ergebnis kennen wir: Die Staub-Stoll’sche Idee von einer allgemeinen Haftung für Forderungsverletzung wurde als vermeintlich fortschrittliche Alternative zur Kategorie der „Unmöglichkeit“ in das Zentrum des ganzen Schuldrechts gesetzt. Der Wunsch, die beiden großen zivilrechtlichen „Entdeckungen“ im Mittelpunkt eines modernisierten Schuldrechts zu sehen, weil dort – so der 179 Huber,

Gutachten I (1981), S. 745.  Abschlußbericht (1992), S. 27. 181  Abschlußbericht (1992), S. 24 f.: „Aus alledem muß man den Schluß ziehen, daß die Regeln über die Verjährung der Gewährleistungsansprüche in §§ 477, 638 BGB sich nicht bewährt haben. Um ihre unbilligen Konsequenzen zu vermeiden, hat die Rechtsprechung in vielen Fällen nach Auswegen und Umwegen gesucht, die zwar im Einzelfall eine vernünftige Lösung gestatten, aber schwierige Abgrenzungsprobleme zur Folge haben.“ 182  Es gab viel Diskussion um die „richtige“ Gestaltung des Verjährungsrechts, das letztlich maßgeblich von Reinhard Zimmermann mitgeprägt wurde; insb.: Peters / ​Zimmermann, Gutachten I (1981), S. 77 ff.; Zimmermann, „… ut sit finis litium, JZ 2000, 853; Zimmermann  / ​ Leenen / ​Mansel / ​Ernst, Finis Litium, JZ 2001, 684, jeweils m. w. N. Demgegenüber wurde die neue regelmäßige Gewährleistungsfrist von 2 Jahren wesentlich von der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie vorgegeben. 180

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(Irr‑)Glaube bis zuletzt – eine riesengroße Lücke klaffe,183 sowie der Hinweis auf die damit verbundene internationale Anschlussfähigkeit oder gar Vorreiterrolle für eine europäische Kodifikation wurden die treibenden Argumente für die in sich nicht mehr stimmige Umarbeitung des Schuldrechts. Dass der am Ende dann doch nur halb vollzogene Systemwechsel vom ursprünglich am Leistungserfolg (Nicht-, Spät-, Schlechtleistung) orientierten Leistungsstörungsrecht der Pandektistik zur modern dünkenden Kategorie der Pflichtverletzung eher ein zivilrechtsdogmatischer Rückschritt, jedenfalls aber ein nur zweifelhafter Erfolg gewesen ist, durfte nach der grundlegenden Kritik von Ulrich Huber nicht mehr zweifelhaft gewesen sein.184 Wir haben das bereits gesehen: Akzeptiert man, dass der Begriff „Pflichtverletzung“ nur ein moderner Ausdruck für die römisch-rechtliche culpa ist, dann liegt hier, in der vermeintlichen Fortentwicklung nur eine Rückkehr zum Handlungsunrecht der mittelalterlichen culpa levissima. Natürlich kann man das gut finden und als „modernen Standard“ bezeichnen. Als Fortschritt in der Rechtswissenschaft ist das gleichwohl nicht zu verkaufen. Die Herausarbeitung der Unmöglichkeitslehre, insbesondere durch Friedrich Mommsen, war ja gerade eine am Erfolgsunrecht orientierte Objektivierung dieser culpa-Haftung gewesen und die Einteilung in anfängliche / ​nachträgliche, objektive / ​subjektive etc. führte zu durchaus folgerichtigen objektivierten Fall‑ und Haftungs-Kategorien. Nunmehr findet sich im neuen Leistungsstörungsrecht, wie es Martin Schermaier zutreffend auf den Punkt bringt, ein „seltsames Amalgam von handlungstheoretischem Rigorismus (‚Pflicht‘) und naturalistischer Kryptodogmatik (‚Unmöglichkeit‘)“.185 Die eigentliche dogmatische Ursache für die „Verwerfungen“, die die ganze Reform ursprünglich maßgeblich motiviert hatte, wurde darüber vergessen und blieb nicht nur unangetastet, sondern wurde mit der Festschreibung der „dritten Haftungsspur“ sogar dauerhaft im Herzen des Schuldrechts fixiert. 183 Vgl. nur: Manzewski: „Das Leistungsstörungsrecht wird neu geregelt. Die am häufigsten auftretende Art der Leistungsstörung, die Schlechtleistung, ist bislang im BGB nicht direkt geregelt gewesen. Die hierzu deshalb von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsinstitute werden nun endlich – es ist längst überfällig – festgeschrieben.“ (1. Lesung am 18. Mai 2001, Plenarprotokoll 14/171, S. 16728). 184  Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31 ff.; ders., Die Unmöglichkeit der Leistung im Diskussionsentwurf eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes, ZIP 2000, 2137; zum Problem zuvor schon Schapp, Probleme der Reform des Leistungsstörungsrechts, JZ 1993, 637; ders., Empfiehlt sich die „Pflichtverletzung als Generaltatbestand des Leistungsstörungsrechts, JZ 2001, 583; Brüggemeier, in: Verhandlungen des sechzigsten Deutschen Juristentags (1994), Bd. II/1, K 47/59 ff.; Ernst, Kernfragen der Schuldrechtsreform, JZ 1994, 801; Ahrens, Unmöglichkeit, Leistungsstörung, Pflichtverletzung, ZRP 1995, 417. sodann auch Canaris, Zur Bedeutung der Kategorie der „Unmöglichkeit“ für das Recht der Leistungsstörungen (2001). 185   HKK / ​Schermaier, vor §§ 275, Rn. 93, mit dem Fazit: „So ist ein in sich widersprüchliches neues Regelwerk entstanden, dessen historisch-kritische Analyse nur die Hoffnung wecken kann, dass es bald wieder geändert werde.“

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Ulrich Huber hat in seinem bemerkenswerten revoco186 das Problem der Schuldrechtsmodernisierung für diese grundlegende dogmatische Frage sehr drastisch auf den Punkt gebracht: „Ich bin heute skeptischer, als ich vor zwanzig Jahren war, hinsichtlich der Frage, welche Ziele die Gesetzgebung vernünftigerweise auf Rechtsgebieten anstreben kann, die nicht erst in jüngerer Zeit neu entstanden sind, sondern auf einer langen Tradition beruhen. Gewiß ist es auch hier die Aufgabe des Gesetzgebers, die geltenden Regeln dann zu verbessern, wenn sie im konkreten Fall zu Ergebnissen führen, die der gewandelten Rechtsüberzeugung nicht mehr entsprechen, oder wenn sie auf neuartige Probleme treffen, für die sie keine angemessenen Lösungen ermöglichen. Auf solche konkreten Regelungszwecke sollte sich der Gesetzgeber aber auch beschränken. Ich bin heute skeptisch, ob er es als legitime Aufgabe ansehen kann, ohne konkrete und praktische Regelungsabsicht, die Bürger, ihre Rechtsberater und die Gerichte mit neuen Regelungssystemen zu beglücken, zum Beispiel mit einem neuen System des Leistungsstörungsrechts  – mögen die Systemerfinder ihr neues und daher notwendigerweise praktisch noch unerprobtes System auch noch so beredt anpreisen. Diese Skepsis hat sich vertieft, seit mir der Abschlußbericht der Schuldrechtsreformkommission im Jahr 1992 das erstemal in die Hand kam. … Da habe ich mir gedacht: Wenn nach siebenjähriger Tätigkeit einer hochrangig besetzten Reformkommission so etwas herauskommen kann, muß man sich fragen: zum einen, von welchen merkwürdigen gruppendynamischen Prozessen Kommissionen, denen ein allgemeines Regelungsziel vorgegeben wird, wohl bedroht sein mögen; zum anderen, ob man von so ambitionierten Vorhaben, wie einer Neuformulierung des allgemeinen Leistungsstörungsrechts, nicht besser ein für allemal Abstand nimmt.“187

Man kann die Sache auch so formulieren: Es ist eigentlich nicht erfreulich, wenn eine Zivilrechtswissenschaft nach 100 Jahren BGB über den tragenden Geist und die historisch richtige Deutung des Leistungsstörungsrechts aufgeklärt werden muss.188 Eine wesentliche Ursache hierfür haben wir kennengelernt: Die Geschichtslosigkeit oder Enthistorisierung der Rechtswissenschaft. Der Drang, Neues zu entdecken, setzt eine Diskreditierung des Alten notwendig voraus, die Behauptung einer Lücke im Recht zunächst eine abweichende Definition desselben (Lückendogma). Das Recht wird für die Lücken zurecht definiert, mangelhaft geredet und passend geschrumpft (Schrumpfungsmethodologie). Am Ende passt eins nicht mehr zum anderen und alles bedarf endlich einer ganz grundlegenden Reform. Dann geht das Spiel von Neuem los, und man hofft darauf, dass, nachdem das BGB ob der vielen Eingriffe endlich nicht mehr ernst zu nehmen ist, demnächst vielleicht ein europäisches Recht die Lösung bringen möge. Insoweit muss es nicht verwundern, wenn ein wesentlicher Punkt im Streit um den Beruf 186  Auf Aussagen von Huber geht ein wesentlicher Teil der Ablehnung des ursprünglichen Leistungsstörungsrechts des BGB zurück, er war es, der zunächst ein vehementes Plädoyer für eine Reform vorgetragen hat: vgl. dens., Gutachten I (1981), S. 756 ff.: „Unser Gesetzgeber möge sich sein Vorbild anderswo suchen oder etwas ganz Neues entwickeln (…).“ Und er wurde schließlich einer der schärfsten Kritiker dieser Reform. 187  Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31/48 f. 188   Ähnlich HKK / ​Schermaier, vor §§ 275, Rn. 93: „Das hinter dem § 275 BGB von 1900 stehende Konzept wurde nicht mehr verstanden …“.

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und die Kürze der Zeit zur Schuldrechtsreform sich um die Brauchbarkeit und (noch) Zeitgemäßheit des 1992 auf der Basis des Diskussionsstandes der 1980er Jahre erarbeiteten Entwurfs der Schuldrechtskommission I gedreht hat. Von den Befürwortern konnte auf eine über 20 Jahre währende Kontinuität der Diskussion verwiesen werden. Für die Kritiker war der Erkenntnisstand des Entwurfs hingegen schon lange nicht mehr auf der Höhe des beginnenden 21. Jahrhunderts und vermeintlicher neuer moderner Standards. Am Ende favorisiert jeder ohnehin nur noch den Standard, den er versteht. Das führt zu dem Prozess, den bereits Hedemann sehr scharfsichtig beschrieben hat: Die Einigung auf das allgemeinverständlichste Prinzip in einer Generalklausel. Oder moderner formuliert: Der Prozess führt zu einem race to the bottom bei den rechtsdogmatischen Standards.189 Ulrich Huber mag demgegenüber als der Prototyp des ernsthaften und zugleich wohl letzten großen Zivilrechtsdogmatikers gelten, der, wie einst Jhering, aufgrund einer neuerlichen intensiven Beschäftigung mit dem Rechtsstoff und den diesbezüglichen Quellen zu seinem „Damaskus-Erlebnis“ findet. Huber hat hinsichtlich einer Reform des Leistungsstörungsrechts sowohl die eine als auch die andere Position vertreten und spricht schließlich eine mehr als überraschende Erkenntnis bei der Beurteilung des „spätgeborenen Kindes der Pandektenwissenschaft“ (Wieacker) aus: Das BGB sei, so wie es ist (bzw. einmal war), nicht mangelhaft, sondern schon sehr trefflich und gelungen. Keine Lücken, keine jämmerliche Begriffsjurisprudenz; alles gut, so wie es ist: „Man erblickt zwar nicht das Naturrecht, das wir nach meiner Überzeugung nie von Angesicht zu Angesicht erblicken, aber man erblickt das BGB. Und man erblickt eine vollkommen klare, im Rahmen des Möglichen präzise, widerspruchsfreie, den Interessen der Beteiligten in abgewogener Weise Rechnung tragende Regelung.“190 Und merkwürdiger Weise: Darüber bestand dann plötzlich doch wieder Einigkeit, dass letztlich im allgemeinen Leistungsstörungsrecht gar nichts grundlegend Neues in das BGB geschrieben wurde. Entsprechend resümierte Canaris: „So spektakulär die Veränderung im äußeren Erscheinungsbild des Gesetzes erscheinen mag, so wenig ändert sich inhaltlich, wie man bei näherer Analyse rasch sieht …“191 Und Dauner-Lieb konkretisiert: „Im Ergebnis wird damit der ohnehin schon bestehende Abstand zwischen dem hochgesteckten Anspruch des Gesetzgebers und der Realität noch weiter vergrößert – man kann das auch positiv formulieren  – die Rückannäherung an das alte Leistungsstörungsrecht forciert.“192 189  Deutlich HKK / ​Schermaier, vor §§ 275, Rn 93: „Die Schuldrechtsmodernisierung ist also insgesamt Ergebnis begrifflicher Verhärtung und dogmatischer Verarmung; das sind nicht die besten Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gesetz.“ 190 Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31/57. 191  Canaris, Schuldrechtsreform (2002), S. XV. 192  Dauner-Lieb, Bestandsaufnahme, in: Das neue Schuldrecht in der Praxis (2003), S. 3/15: „Renaissance der Unmöglichkeit“!

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Und so bleibt für das allgemeine Recht der Leistungsstörungen – trotz gegenteiliger Rhetorik  – scheinbar alles beim Alten. Und man mochte sich fragen: Wozu dann noch eine große Reform? Es gibt eben nur drei Möglichkeiten der Leistungsstörung: Nicht-, Spät‑ und Schlechtleistung. Das Spektrum der logischen Möglichkeiten begrenzt die Phantasie dogmatischen Systembaus. Dass dabei eine hinreichend präzise Fassung dieser Tatbestände gar nichts anderes ist als eine Präzisierung der kontraktlichen culpa, die man nunmehr Pflichtverletzung nennt, untermalt die von Huber geäußerten Zweifel an der Sinnhaftigkeit neuer Systementwürfe und der Sinnhaftigkeit einer grundlegenden gesetzgeberischen Intervention, wenn es eigentlich nichts Neues zu regeln gibt. b) Im BGB nichts Neues? – Die Perpetuierung der Konkurrenzprobleme „Aber gerade um des engen Zusammenhangs willen, in dem die Haftung wegen culpa in contrahendo mit dem Anfechtungsrecht steht, wird man unseren negativen Ersatzanspruch mit dem scharf umrissenen Anfechtungsrecht des BGB. in den notwendigen Einklang zu bringen haben. “ Heinrich Titze, 1929193 „Die Reform ist insoweit zu begrüßen, als sie ein einheitliches Leistungsstörungsrecht bringt … Der Gewinn besteht vor allem im Wegfall zahlloser Abgrenzungsschwierigkeiten und Streitfragen der Sachmängelgewährleistung.“ Heinrich Honsell, 2001194

Aber so einfach war es nun wieder doch nicht. Etwas Neues musste schon sein! Denn, wie stand es mit der vorvertraglichen Haftung, der culpa in contrahendo? Wie passte sie in das Bild des neuen Leistungsstörungsrechts? Dieses Institut sprengt nun offenbar jedes Spektrum logischer Möglichkeiten, seit es seine bescheidene Eigenart, nur eine pflichtentheoretisch vorverlagerte p. V. zu sein, abgelegt hat. Hier gab es dann auch niemanden mehr, der auf ein nahezu „vollkommenes“ BGB hätte verweisen wollen, weil es vielleicht niemanden gab, der in vollem Umfang das Spektrum der Regeln überblickte, zu denen die culpa in contrahendo mittlerweile in derogierende Konkurrenz getreten war. Ulrich Huber ist sich in diesem Punkt treu geblieben und hat von diesem Rechtsinstitut grundsätzlich nichts wissen wollen. Dieter Medicus, der wohl renommierteste Dogmatiker des alten BGB und bis 1981 vertrauteste Kenner und Kritiker der c. i. c., hat sich von der Idee, dass es außerdeliktische Schutzpflichten geben könnte, im Zuge der Reformdebatte überzeugen lassen195 und sich zu den dog Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516/519 f. Bemerkungen zum Diskussionsentwurf eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes, JZ 2001, 18 f. 195  Grundlegend die Reflexionen in seinem Vortrag über „Probleme um das Schuldverhältnis“ vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin vom 20. Mai 1987, dem er als Zitat von 193

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matischen Konsequenzen dieser Einsicht nicht mehr explizit kritisch geäußert.196 Andere, die sich dazu äußerten,197 wussten zum dogmatischen Platz und zu den Konkurrenzproblemen nicht immer viel zu sagen.198 Vielmehr bestand Konsens dahin, dass das „Vorsatzdogma“ des BGB inzwischen längst ausgedient habe, es also Zeit sei für eine allgemeine „informationelle Fahrlässigkeitshaftung“.199 Vor allem sei die vorvertragliche Haftung der auf europäischer und internationaler Gernhuber voranstellt: „Von den Grundlehren, die zu Beginn des Jahrhunderts die Schuldrechtsdogmatik beherrschten, hat schließlich keine standzuhalten vermocht (…).“ Diesem Fazit schließt sich Medicus im Ergebnis an und sieht in der Befassung mit den Schutzpflichten die große Aufgabe der zukünftigen Zivilrechtswissenschaft. 196  Seine Kritik an einzelnen Aspekten der c. i. c. ist bis zuletzt immer die gleiche geblieben; vgl. hierzu die nur noch stichpunktartigen Bemerkungen in: Haas / ​Medicus u. a. (Hrsg.), Leistungsstörungsrecht (2002), S. 116–119; die nicht über den bis dato gewonnenen kritischen Stand (Medicus, Schuldrecht I, 13. Aufl. 2002; bzw. ders., Bürgerliches Recht, 19. Aufl. 2002) hinausgehen. 197 Viele waren es nicht. Die drei jüngeren Vorträge auf der von Reiner Schulze und Hans Schulte-Nölke organisierten Münsteraner Tagung (22. Januar 2001) von Köndgen (Positivierung der culpa in contrahendo), Fleischer (Vorvertragliche Pflichten im Schnittfeld von Schuldrechtsreform und Gemeinschaftsprivatrecht) und Grigoleit (Reformperspektiven der vorvertraglichen Informationshaftung) referierten im Wesentlichen die Erkenntnisse ihrer wissenschaftlichen Grundschriften in Bezug auf eine dogmatische und gemeineuropäische Weiterentwicklung des Gesetzesentwurfs. Dabei zeichneten sie sich vor allem durch eine Gemeinsamkeit aus: dass sie jedenfalls die Existenz vorvertraglicher Pflichten, insb. von Informationspflichten, weder aus dogmatischen noch erst recht nicht aus metadogmatischen Gründen in Zweifel zogen. 198  Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 237 hielt immerhin daran fest, dass die c. i. c. nicht für das Deliktsrecht zuständig sei: „Kaum jemand bestreitet mehr, dass wir es bei diesen Integritätsverletzungen in contrahendo mit funktionalem Deliktsrecht zu tun haben.“ Wenn endlich § 831 BGB reformiert sei, bestehe kaum noch ein Grund, solche Krypto-Deliktsfälle weiterhin als Untertatbestand der c. i. c. mitzuschleppen.“ Ansonsten hat er klargestellt: „allfällige Anspruchskonkurrenzprobleme zu lösen“, sei „ohnedies nicht das Geschäft des Gesetzgebers, sondern von Rechtsprechung und Lehre.“ Und in dieser Hinsicht spräche „vieles dafür, künftig … die Gewährleistungsrechtsbehelfe mit den allgemeinen Regeln möglichst frei konkurrieren zu lassen“. Andeutungen zur notwendigen Reform des § 831 BGB auch bei Fleischer, Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 252 („pseudodeliktische Aufgaben“). Grigoleit, Reformperspektiven (2001), thematisierte vor allem das klassische Konkurrenzverhältnis der c. i. c. zur Arglistanfechtung (S. 271–285) und hätte hier eine klarstellende Regelung des Gesetzgebers erwartet. Das Verhältnis zum Gewährleistungsrecht (S. 290–294) sieht er hingegen ebenso wie die besondere Konstruktion der Vertragsanpassung mittels c. i. c. nicht für eine gesetzliche Regelung geeignet. 199 Fleischer, Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 262 ff., hier den Vorschlag von Medicus (Gutachten I, S. 479/549 zu einem § 305e) aufgreifend, wonach neben § 123 BGB auch eine „schadensersatzrechtliche Vertragsaufhebung“ aus c. i. c. mit der Frist des § 124 Abs. 2, 3 BGB zu regeln sei. Grigoleit, Reformperspektiven (2001), S. 273 ff.: „Die Weiterentwicklung der culpa in contrahendo zu einer allgemeinen Fahrlässigkeitshaftung hat das informationelle Vorsatzdogma zu einem nicht mehr zu rechtfertigenden Fremdkörper gemacht.“ (S. 274). Mit der wichtigen Klarstellung: „Das bisherige Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und außerpositiven Wertungen bleibt als innergesetzlicher Normkonflikt unaufgelöst (…)“ (S. 275). Die Details gehören in den dogmatischen Teil. Zum prinzipiellen Problem vgl. oben § 7 III.3.c.

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Ebene am stärksten prosperierende Forschungsbereich,200 „eine gesetzliche Regelung der culpa in contrahendo“ manifestiere insoweit „die Vorreiterrolle der deutschen Zivilrechtsdogmatik auf diesem zentral wichtigen Gebiet“ und verschaffe „ihrer Stimme auf europäischem Parkett nachdrücklich Gehör“.201 Zwar bemühte sich namentlich Grigoleit sehr eingehend darum, das spätestens seit 1965 neuerlich offen realisierte Konkurrenzproblem zwischen der culpa in contrahendo und der Arglistanfechtung (§§ 123, 124 BGB)202 noch auf die Agenda der „Reformperspektive“ zu bringen. Doch zeigt bereits ein Blick auf das absolut identische Problem der Konkurrenz von c. i. c. und widerrechtlicher Drohung (§§ 123 Abs. 1, 124 BGB),203 dass sich die „dogmatischen Verwerfungen“ nicht alle leicht mit einer Derogation des „Vorsatzdogmas“ und einer informationellen actio culpae von selbst erledigen. Ganz unabhängig von der Frage, ob eine allgemein auf Fahrlässigkeit beruhende Erklärungshaftung überhaupt seriös zu begründen ist:204 Die Parallelkonstellation zur schadenshaftungsrechtlichen Anfechtung bei widerrechtlicher Drohung macht einmal mehr deutlich, dass es sich bei dem Phänomen der c. i. c. nicht ausschließlich und nicht einmal originär um ein Informationsproblem handelt, das durch einen  Deutlich rechtsvergleichend Fleischer, Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 243: „Auch die in‑ und ausländische Komparatistengilde hat sich diesem Forschungsgegenstand jüngst auffallend zugewandt (…).“ Dabei hätten „vor allem die vertragsschlussbezogenen Informationsgebote … zuletzt allerorten Karriere gemacht (…)“. 201  So Fleischer, Vorvertragliche Pflichten (2001), S. 250 f. 202 Grundlegend zum Problem schon Hesse, Dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203/240 ff.; Titze, Verschulden beim Vertragsschluß (1929), S. 516/519 f.; Voswinkel, Haftung für Verschulden beim Vertragsschluß, insb. bei anfechtbaren Verträgen (1930); hierzu schon oben § 5 III.3.c); für die moderne Diskussion dann insb.: Henrich, Die unbewußte Irreführung, AcP 162 (1963), 88 ff.; Medicus, Grenzen der Haftung für culpa in contrahendo, JuS 1965, 209; ders., Die Lösung vom unerwünschten Vertrag, JuS 1988, 1; eingehend dann: Stephan Lorenz, Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997); ders., Vertragsaufhebung wegen culpa in contrahendo, ZIP 1998, 1053 ff.; Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung (1997); ders., NJW 1999, 900; Lieb, Culpa in contrahendo, FS Medicus (1999), S. 337 ff.; Paefgen, Haftung für mangelhafte Aufklärung aus culpa in contrahendo (1999); Hans Stoll, Schädigung durch Vertragsschluß, FS Deutsch (1999), S. 361 ff.; Fleischer, Konkurrenzprobleme um die culpa in contrahendo, AcP 200 (2000), 91 ff. (wortgleich aus: ders., Informationsasymmetrie, 2001). 203 Grundlegend bereits BGH, Urt. v. 11. Mai 1979 – V ZR 75/78, NJW 1979, 1983: „Wurde jemand durch schuldhaft rechtswidrige Drohung zum Abschluß eines Vertrages veranlaßt, so kann er – auch nach Ablauf der Anfechtungsfrist (§ 124 BGB) – die Vertragserfüllung unter dem Gesichtspunkt eines Schadensersatzanspruches aus der Anbahnung von Vertragsverhandlungen (culpa in contrahendo) verweigern.“; seither st. Rspr. aller Senate: Urt. v. 24. Oktober 1996 – IX ZR 4/96, WM 1997, 77; Urt. v. 3. Februar 1999 – VIII ZR 14/98, WM 1999, 1034; Urt. v. 13. September 2001 – VII ZR 415/99, NJW 2001, 3779; Urt. v. 18. September 2001 – X ZR 107/00, NJW-RR 2002, 308: „Die auf Täuschung oder Drohung beruhenden Schadensersatzansprüche sind eigenständig. Für sie gilt nicht, auch nicht analog, die Jahresfrist des § 124 BGB.“; zuletzt: Urt. v. 7. Februar 2013 – IX ZR 138/11, NJW 2013, 1591. 204 Zu grundlegenden Zweifeln bereits oben § 3 III.; skeptisch auch Lieb, Culpa in contrahendo, FS Medicus (1999), S. 337 ff. Und zuletzt ist selbst der BGH dazu übergegangen, für eine culpa in contrahendo den dolus zu fordern: BGH, NJW 1996, 1884 (Druckereipachtfall); BGHZ 140, 111/114 f. (Immobilienanlage); BGH, NJW 2013, 928 (vollmachtloser Vertreter). 200

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Fahrlässigkeitsvorwurf erledigt werden könnte. Auch im Fall der Konkurrenz von c. i. c. und widerrechtlicher Drohung geht es vor allem wieder um die Frage, ob eine Frist zur Geltendmachung von Rechten (neuerlich die Anfechtungsfrist des § 124 BGB) sachlich angemessen ist oder nicht. Und solange für ein und dieselben Sachverhalte ganz unterschiedliche Sanktionsmechanismen ungeregelt nebeneinander bestehen, werden auch die „Verwerfungen“ im Schuld-, Vertrags‑ und Deliktsrecht bestehen bleiben. Die Schuldrechtsmodernisierung hat hier mit der Angleichung der Verjährungsregeln und der Gewährleistungsfristen das Konkurrenzproblem etwas entschärft, die dogmatischen Ursachen desselben aber gar nicht angetastet. Und um es klar zu sehen: Hierzu fehlte es nicht nur am politischen, sondern bisher auch am rechtswissenschaftlichen Willen. Selbst wenn man nun alle Verjährungs-, Fristen‑ und sonstigen Rechtsfolgekonkurrenzen (etwa: Reszissions‑ und Minderungsansprüche qua Schadensersatzanspruch) durch Angleichung lösen wollte (was ja dogmatisch denkbar und durchaus thematisiert worden ist), bliebe doch immer noch die eine dogmatische Gretchenfrage nach der Existenzberechtigung der c. i. c. als solcher, der Existenzberechtigung von Sonderverbindungen, der Existenzberechtigung eines umfassenden vorvertraglichen Schuldverhältnisses und / ​oder eines Schutzpflichtverhältnisses bzw. einer Vertrauenshaftung. Sollten sich all diese dogmatischen Konstruktionen in Luft auflösen, wenn die wahren oder vermeintlichen dogmatischen Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts entfielen? Für alle, die fest an das Dogma von einer „dritten Haftungsspur“ zwischen Vertrag und Delikt glauben wollen, ist das eine unvorstellbare Häresie: Insoweit ist vielleicht in der Tat Canaris der Einzige gewesen, der wusste, was wirklich geschah: Denn das konzeptionell wirklich interessante Ergebnis der Schuldrechtsreform war mit dem Kampf um die haftungsrechtliche Generalklausel bereits gewonnen, und es ist, wie wir mittlerweile wissen, nur eine Perpetuierung der seither bestehenden generellen Konkurrenzprobleme. Neue und alte Kategorien werden zusammengetan, ohne dass die damit verknüpften dogmatischen Auswirkungen und Konkurrenzen abschließend geklärt wären. Alles das, was spätestens seit den 1980er Jahren als gesicherter dogmatischer Kenntnisstand bezeichnet werden konnte, war plötzlich nicht mehr oder nur noch rudimentär präsent und / ​oder ging in der Hektik der Reformdebatten auf immer verloren. Die c. i. c. wurde als richterrechtliches „Vehikel“ nicht nur nicht gesetzlich gezähmt, sondern sogar der „Weiterentwicklung“ explizit anempfohlen. Selbst langjährige Kritiker glauben mittlerweile, dass es sich „bei den Verkehrspflichten um einen genuinen Anwendungsbereich auch der c. i. c. handelt“ (sic!).205 205  MünchKomm / ​Emmerich (2007), § 311 Rn. 60: die Auffassung, dass „die betreffenden Fälle in Wirklichkeit ins Deliktsrecht gehören“, sei „heute durch die gesetzliche Regelung … überholt“, um dann gleichwohl klarzustellen: „An der engen, in der Natur der Sache liegenden Verwandtschaft zwischen der Haftung für die Verletzung von Verkehrspflichten aus c. i. c. und

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Alle bekannten Abgrenzungs‑ und Konstruktionsprobleme wurden also nicht nur nicht gelöst, sondern mit der gesetzlichen Normierung derselben auf ein neues methodologisches Niveau gehoben.206 Nun konkurrieren nicht mehr nur Gesetzes‑ und contra legem praktiziertes Richterrecht miteinander, sondern dogmatisch ganz widersprüchliche Prinzipien und Wertungen sind innerhalb des Gesetzes gleichsam unauflöslich kodifiziert worden. Alle in die Zukunft für „Rechtsprechung und Lehre“ als Aufgabe verschobenen dogmatischen Lösungsbemühungen werden diesen mit dem neuen Gesetz fest geschnürten gordischen Knoten schwerlich lösen können: Ein unendlicher Raum für jede Menge weitere Rechtsprechung und uferlose Literatur, die aus einer schier unversiegbaren Quelle dogmatischer Widersprüchlichkeit genährt werden. Dort hingegen, wo eine dogmatische Klärung von alt und neu noch während des Gesetzgebungs-Verfahrens ad hoc versucht wurde, führte dies zu systematischen und sprachlichen Unglücksfällen, wie es exemplarisch die Neuregelung der anfänglichen Unmöglichkeit (§ 311a BGB) verdeutlicht: c) Hybride Neuschöpfungen: Das Beispiel der „anfänglichen Unmöglichkeit“ „Die Anordnung der Wirksamkeit des Vertrages in § 311a Abs. 1 KF steht nicht etwa in Widerspruch zu § 275 KF (…), sondern bedeutet lediglich, daß hier ein Vertrag ohne primäre Leistungspflicht entsteht, was bekanntlich seit langem eine anerkannte dogmatische Kategorie darstellt.“ Claus-Wilhelm Canaris, 2001207

Die „anfängliche Unmöglichkeit“ war ursprünglich im BGB gleichsam als der Prototyp der Jhering’schen culpa in contrahendo in den §§ 306–309 BGB a. F. normiert worden. Diese Regelung stand in der akademischen Betrachtung seither nicht sonderlich hoch in der Gunst; nur in ihrer praktischen Bedeutung stand sie noch tiefer.208 Mit der Neuregelung sowohl der Unmöglichkeitslehre, insbesondere der Rekonstruktion der Sekundäransprüche über den allgemeinen Tatbestand der Pflichtverletzung (§§ 280 i. V. m. § 283 BGB n. F.), als auch der c. i. c. (§§ 280, 241 II, 311 II, III BGB n. F.) hätte es nun nahegelegen, die Sache

aus Delikt ändert dies aber (natürlich) nichts.“; mit der Konsequenz: „dass sich die Haftung in diesen Fällen fortan (neben § 823) aus §§ 311 Abs. 2 Nr. 1 und 2, 241 Abs. 2 und 280 Abs. 1 ergibt“ (Rn. 91). 206  Zutreffend in diesem Sinne Grigoleit, Reformperspektiven (2001), S. 275 (Verhältnis zu § 123): „Der allgemeinen Fahrlässigkeitshaftung für vorvertragliche Pflichtverletzung steht im Bereich der Informationshaftung weiterhin die besondere Wertung des Vorsatzdogmas gegenüber.“; S. 292 (Verhältnis zu den §§ 434 ff. BGB): „Angesichts der lediglich generalklauselartigen Verankerung der culpa in contrahendo bleibt auch deren Verhältnis zum Gewährleistungsrecht ohne ausdrückliche Regelung.“; Müller, Wiedergeburt, in: FS Hadding (2004). 207  Zur Lehre von dolus und culpa, AcP 61 (1878), 203/276. 208 Zum Problem bereits oben § 4 II.

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entweder hier oder dort zu belassen.209 Aber weit gefehlt. Stattdessen wird mit § 311a BGB n. F. eine Hybridnorm geschaffen,210 die dogmatisch offenbar weder bei den Leistungs‑ noch bei den Schutzpflichten richtig zuhause ist – oder: je nach Sichtweise, mal von hier und mal von dort gedeutet werden kann. Zunächst begreift man es als Leistung, die §§ 306–309 a. F. BGB ganz zu eliminieren, um dann diese Fallgruppe nicht nur von der systematischen Lozierung her (direkt nach § 311 BGB n. F.) wieder als Sonderfall der c. i. c. zu erkennen, der angeblich nicht auch über den allgemeinen Tatbestand der Pflichtverletzung behandelt werden könne, sondern speziell geregelt werden muss: Dies „folge zwingend daraus, daß die Pflichtverletzung … im vorvertraglichen Stadium liegt und § 280 dafür schon nach seinem Wortlaut nicht“ passe (sic!).211 Aber seit wann sollte § 280 BGB nicht auch für vorvertragliche Pflichtverletzungen die einschlägige Norm sein? Es besteht doch Einigkeit darüber, dass die c. i. c. nicht in § 311 Abs. 2/3 BGB, sondern ebenfalls in § 280 Abs. 1 BGB (i. V. m. § 241 Abs. 2) ihre Anspruchsgrundlage findet.212 Warum das „schon nach seinem Wortlaut“ mit § 280 BGB nicht vereinbar sein soll, wie Canaris behauptet, bleibt völlig im Dunkeln und wäre dogmatisch nur dann verständlich, wenn aufgrund der anfänglichen Unmöglichkeit nicht einmal ein vorvertragliches „Schuldverhältnis“ (nach § 311 Abs. 2, 3 BGB) entstünde. Aber das entspräche der gerade erst abgeschafften Rechtsfolge der Nichtigkeit des Vertrages gem. § 306 BGB a. F. Jeder Vermutung in diese Richtung sollte freilich gerade mit der positiven Anordnung der „Wirksamkeit“ des Vertrages in § 311a Abs. 1 BGB entgegengewirkt werden. Manche wollen trotz der ausdrücklichen Normierung eines Schadensersatzanspruchs in § 311a Abs. 2 BGB auch Ansprüche aus c. i. c. zulassen.213 Und Canaris geht mit seiner vorvertraglichen Lozierung sogar so weit, eine zwingende Analogie zu § 122 BGB anzumahnen.214 Selbst wenn ein Laie nicht alle Details 209  Als schlichten Fall der c. i. c. haben noch die Schuldrechtskommission I (vgl. Abschlußbericht 1992, S. 145 f.) und der DiskE die anfängliche Unmöglichkeit gesehen. 210 Erdacht von der Schuldrechtskommission II unter Federführung von Canaris; vgl. zur Begründung dens., Die Reform, JZ 2001, 499/506 ff. 211 Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/507: Die Kommission habe sich „der Einsicht nicht verschlossen, daß das Pflichtenprogramm des Schuldners vor Vertragsschluß zwangsläufig grundlegend anders aussieht als nach Vertragsschluß. (…) Deshalb wird die Schadensersatzpflicht für anfängliche Unmöglichkeit jetzt nicht mehr als Unterfall eines allgemeinen Tatbestandes der Pflichtverletzung behandelt …“. 212  Das ergab sich schon aus der Begründung zu § 305 DiskE: „Die Rechtsfolgen eines Anspruchs aus culpa in contrahendo ergeben sich aus § 280.“; ebenso Abschlußbericht (1992), S. 144. Canaris selbst, Schuldrechtsreform (2002), Einführung XVI: „In welchen Fällen ist nun also § 280 n. F. ohne die Kombination mit den §§ 281–283 n. F. anzuwenden? In allen, in denen es nicht um die besondere Rechtsfolge des Schadensersatzes ‚statt der Leistung‘ geht, (…) etwa auch bei der culpa in contrahendo, deren Rechtsfolge in § 311 n. F. ja nicht geregelt ist.“ 213  So etwa Medicus, Leistungsstörungsrecht, in: Das neue Schuldrecht (2002), S. 96. 214  Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/508: der eine „Analogie zu § 122 BGB nach wie vor für unumgänglich und als Rechtsfortbildung prater legem auch für zulässig“ hält.

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dieser dogmatischen Gewaltakte verstehen muss, dass aber ein neugefasster Gesetzesentwurf sogleich Raum für Rechtsfortbildungen zwingend eröffnen will, zeigt, dass hier einiges nicht zu Ende gedacht wurde. Wir erinnern uns: Das ganze Recht der Schuldverhältnisse (Entstehung, Wandlung, Untergang) lässt sich (einschließlich der Leistungsstörungen: Nicht-, Schlecht-, Spätleistung) als vorvertragliche Pflichtverletzung, d. h. aus culpa in contrahendo rekonstruieren. Es muss daher nicht verwundern, wenn Dogmatiker immer wieder neu auf die Erkenntnis stoßen, ein konkreter Sachverhalt gehöre ganz eigentlich in den vorvertraglichen Bereich, und alles ließe sich über Informationspflichten in die eine oder andere Richtung lösen. Das ist, wie gesehen, seit Franz Leonhard das vorvertragliche „Prius“ in allen schuldrechtlichen Beziehungen entdeckt hat, nicht mehr neu.215 Neu ist allerdings, dass dadurch immer wieder neue Haftungsfiguren mit dogmatischer Kreativität entdeckt werden. Insbesondere ist nunmehr eine wenig systematische Mischung aus objektivem (Erfolgs‑) und subjektivem (Handlungs‑) Unrecht unübersichtlich (und, wie es scheint: willkürlich) im Schuldrecht festgeschrieben. So waren im alten Recht auch die Rechtsfolgen der Nichtigkeit wegen anfänglicher Unmöglichkeit und wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz (§ 134 BGB) als analoge Sachverhalte identisch geregelt (§§ 307, 309 BGB a. F.).216 Jetzt nicht mehr. Vielmehr wird für letzteren Fall wie selbstverständlich auf die allgemeine Regelung der c. i. c. verwiesen.217 Warum nun aber in einem Fall die Wirksamkeit des Vertrages fingiert und auf das positive, im anderen Fall es weiterhin bei der Nichtigkeit des Vertrages bleiben und nur auf das negative Interesse gehaftet werden soll,218 wird nicht erklärt, sondern nur gleichsam festgelegt, weil „die Kommission einen Anspruch auf das positive Interesse als die angemessene Rechtsfolge ansieht“.219 Die dogmatische Erklärung, dass sich dies aus der „Nichterfüllung des Leistungsversprechens“ ergeben soll, träfe 1.) im Grunde für die Haftung bei allen unwirksamen Verträgen zu, und ist 2.) vor allem dann dogmatisch nicht schlüssig, wenn man von einem Schuldverhältnis „ohne primäre Leistungspflicht“ ausgeht. Dass aber eine auf das Erfüllungs215 Oben

§ 5 II.2. machte Sinn, waren doch die klassischen Fälle der „anfänglichen Unmöglichkeit“ im römischen Recht Fälle, bei denen eine Verfügungsbeschränkung bestand, also etwa eine res sacrae übertragen werden sollte (res extra commercium: Modestin, D. ​18, ​1, ​62, ​1; Inst. 3, 23, 5; Ulpian, D. ​11, ​7, ​8, ​1). Jhering sprach ja denn auch treffend von „Unfähigkeit des Objekts“, und die „Unfähigkeit“, Gegenstand einer wirksamen Verfügung zu sein, ergab sich halt aus normativen Gründen, die man auch als „gesetzliches Verbot“ bezeichnen kann (vgl. oben § 1 III.2.). 217 Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/506: Für diesen Fall ändere sich „im Ergebnis wenig, weil an deren Stelle ein Anspruch aus culpa in contrahendo tritt.“ 218  Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/507: „… weil sich … nach den allgemeinen Regeln des Schadensersatzrechts nun einmal grundsätzlich nur ein Anspruch auf das negative Interesse ergibt, wohingegen die Kommission einen Anspruch auf das positive Interesse als die angemessene Rechtsfolge ansieht“. 219 Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/507. 216 Das

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interesse gerichtete Sekundärleistungspflicht ohne eine primäre Leistungspflicht entstehen können soll, haben wir zwar schon als das merkwürdige dogmatische Wunder der mit c. i. c. zu erzielenden Rechtsfolgen (aus § 249 BGB) kennen gelernt, ist aber doch weder dogmatisch noch auch rechtsethisch überzeugend.220 Nichts anderes gilt für die völlig willkürliche Behauptung des § 311a Abs. 1 BGB. Das Leistungsversprechen ist die Basis der Primärleistungspflicht auf Erfüllung des Versprechens. Wo diese Primärleistungspflicht fehlt, kann es auch keine Sekundärhaftung auf Erfüllung geben.221 Die ursprüngliche Vorstellung der Pandektistik von einem Schuldverhältnis als Organismus,222 wonach primäre Ansprüche entstehen, sich ggf. (in sekundäre Ansprüche) wandeln und schließlich untergehen, ist abhandengekommen und weicht einer rein mechanistischen Denkweise, bei der man glaubt, nun ausgerechnet und nur für diese Kategorie der Unmöglichkeit zunächst klarstellen zu müssen, dass die Rechtsfolge des § 275 BGB „der Wirksamkeit des Vertrags nicht entgegen“ stehe (§ 311a Abs. 1 BGB). Dabei sprach § 275 BGB (anders als § 306 BGB a. F.) in seiner Rechtsfolge noch nie von einer „Nichtigkeit“, so dass schon unklar bleibt, ob diese Aussage (in § 311a Abs. 1 BGB) rein deklaratorische223 (weil § 275 ohnehin nicht die Wirksamkeit des Vertrages tangiert) oder eine echte konstitutive Bedeutung besitzt (etwa in allgemeiner Anerkennung, dass der Grundsatz impossibilium nulla est obligatio224 gleichsam immer naturrechtliche Geltung beansprucht225).

 Ausf. oben § 4 III. jeher eindeutig in dieser Hinsicht Medicus, Bürgerliches Recht (19. Aufl. 2002), Rn. 198 (§ 10 „Vertragsansprüche ohne Vertrag“): Der Schadensersatz statt der Leistung „(etwa nach §§ 280, 281, 311a II 1)“ tritt an die Stelle des Erfüllungsanspruches. Es muss nicht verwundern, dass es um die Frage der Begründung des Anspruchs auf das Erfüllungsinteresse bereits während der Schuldrechtsreform einen erbitterten Disput gegeben hat und sich dieser bis in die Gegenwart fortschleppt: kritisch etwa schon Huber, Die Unmöglichkeit der Leistung im Diskussionsentwurf, ZIP 2000, 2137/2149 f.; Knütel, Zur Schuldrechtsreform, NJW 2001, 2520; Altmeppen, Untaugliche Regeln, DB 2001, 1399/1400 ff.; ders., Replik auf Canaris, DB 2001, 1821/1823; Schapp, Der anfängliche unbehebbare Sachmangel beim Stückkauf, FS Kollhosser (2004), S. 621 ff.; Lobinger, Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten (2004), S. 279 ff.; dagegen die Regelung verteidigend: Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499 ff; ders., Schadensersatz wegen Pflichtverletzung, DB 2001, 1815–1821; ders., Anfängliche Unmöglichkeit, FS Heldrich (2005), S. 11 ff.; Harke, Das neue Sachmängelrecht, AcP 205 (2005), 81 ff.; Stephan Lorenz, Karlsruher Forum (2006), S. 52 ff. 222  Vgl. oben § 5 III. 223  So Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/505: „Diese Bestimmung … hat lediglich klarstellenden Charakter …, weil sich die Abkehr von § 306 BGB nicht von selbst versteht (…).“; apodiktisch demgegenüber Harke, AcP 205 (2005), 81: „Daß Schuldverhältnisse … in ihrer Wirksamkeit nicht von der Erfüllbarkeit der vereinbarten Leistung abhängen, ist evident (…).“ 224 Celsus, D. ​50, ​17; hierzu nur Schermaier, Impossibilium nulla obligatio, AUPA 51 (2006), 241–268; ders., HKK (2007), § 275 Rn 54. 225  Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/506: „geradezu a-priorische Richtigkeit des Satzes ‚impossibilium (…)‘.“ 220

221 Seit

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Das dogmatische Problem liegt hier offenbar in der Vorstellung, dass bei einer „anfänglichen Unmöglichkeit“ eine Pflichtverletzung nicht darin bestehen könne, dass jemand etwas von Anfang an Unmögliches nicht leistet und deshalb das für die Sekundärebene zugeschnittene Haftungsregime der §§ 280 ff. BGB nicht passe. Was ursprünglich die konsequente Anordnung der Vertragsnichtigkeit (gem. § 306 BGB a. F.), ist jetzt die vermeintliche Unmöglichkeit einer leistungsbezogenen Pflichtverletzung. Die Haftung wird zu einer reinen culpa Haftung, und dass sich auf diese Weise ein gesetzlich geregelter „Vertrag ohne primäre Leistungspflicht“226 ergeben soll, ist dann entweder dogmatischer Unsinn227 oder die dogmatische Quintessenz einer dogmatischen Rabulistik, die nicht mehr notwendig jeder verstehen muss. Nur zur Erinnerung: Die von Larenz für die c. i. c. geprägte Begrifflichkeit von einem „Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflicht“ hatte Canaris in der Nachkonstruktion des Stoll’schen umfassenden „Schutzpflichtverhältnisses“ auch auf nichtige Verträge angewandt: „Die Weiterentwicklung der Regeln über die c. i. c. führt also zu dem Ergebnis: auch bei Nichtigkeit oder wirksamer Anfechtung des Vertrages bleibt ein ‚Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflicht‘ bestehen, das die Grundlage der Schutzpflichten bildet …“228

Nunmehr ist es offenbar nur konsequent, „die Regeln über die c. i. c.“ auch auf Verträge auszudehnen, die gar nicht nichtig sind. Aber das ist ja im Grunde nichts Neues. Neu ist, dass das BGB explizit die Wirksamkeit von nicht nichtigen Verträgen deklariert und Erfüllungsansprüche aus Verträgen „ohne primäre Leistungspflicht“ gewährt. Kurz: Die umstrittene originäre Regelung der anfänglichen Unmöglichkeit in den §§ 306–309 BGB a. F. war bereits auf den ersten Blick nicht nur für jeden Rechtsanwender verständlicher, sondern auch dogmatisch schlüssiger als die aktuelle Hybridnorm (§ 311a BGB), die auf der Tatbestandsseite einen als reine Verschuldenshaftung (ohne Culpacompensation!) ausgestalteten vorvertraglichen Anspruch enthält, der in der Rechtsfolge als Garantiehaftung auf das positive, d. h. das Erfüllungsinteresse gerichtet ist. Aber wer denkt bei all diesen vielen spannenden dogmatischen Mikrologien schließlich noch daran zu fragen, 226  Canaris, Die Reform, JZ 2001, 499/506: „… was bekanntlich seit langem eine anerkannte dogmatische Kategorie darstellt“. 227  Larenz hat für die Konstruktion der c. i. c. immer von einem „gesetzlichen Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten“ gesprochen (vgl. nur: Schuldrecht AT, § 9 I.); das ist dogmatisch gesehen schon ein großer Unterschied zu einem „Vertrag ohne primäre Leistungspflichten“. Dass ausgerechnet Canaris, als der maßgeblichen akademischen Autorität dieser „Schuldrechtsmodernisierung“, sogar den von ihm immer betonten Dualismus einer Haftung „ex voluntate“ und „ex lege“ nicht mehr ernst nimmt, ist nur ein weiteres Indiz für die Leistungsfähigkeit des dogmatischen Positivismus und einer Dogmatik, „an der man seine Freude hat“. 228 Canaris, Ansprüche bei nichtigen Verträgen, JZ 1965, 475/477.

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ob nicht der Gläubiger die (objektive!) Unmöglichkeit der Leistung hätte auch erkennen können? Die Details gehören in den dogmatischen Teil. Hier muss es genügen zu sehen, dass die maßgeblichen dogmatischen Verwerfungen nicht im originären Leistungsstörungsrecht ihren Ursprung hatten, sondern in der über Jahrzehnte durch Rechtsprechung und Wissenschaft forcierten und unaufgelösten Konkurrenz der alten Regelungskategorien mit den neu entdeckten und immer weiter aufgeblähten Instituten der Pflichtverletzung. Oder man kann auch sagen: Die ungelösten Konkurrenzen sind „Consequenzen“ ganz unterschiedlicher dogmatischer Konstruktionen, die von einer nur punktuell arbeitenden dogmatischen Wissenschaft und Rechtsprechung immer weiter abstrahiert wurden. Man mag sich fragen, warum eine dogmatische Auflösung in über 100 Jahren nicht gelungen ist. Einen Teil der Antwort kennen wir schon: „Die Juristen zur Zeit der Beratung des BGB waren vielleicht deshalb in einer besseren Lage als wir heute, weil sie weniger spezialisiert waren als wir. Diese fortschreitende Spezialisierung ist die Signatur der juristischen Moderne und ein unvermeidlicher Prozeß. Sie befähigt uns zu Vielem, aber sie prädestiniert uns eben nicht unbedingt dazu, brauchbare Allgemeine Teile zu schreiben.“229

Man mag bezweifeln, ob und inwieweit Spezialisierung in den Geisteswissenschaften überhaupt einen Gewinn bedeutet. In der Rechtswissenschaft hat diese Tendenz mit der zunehmenden Verrechtlichung immer weiterer Lebensbereiche und der Schaffung von immer neuen rechtlichen Sondermaterien bereits bedenkliche Ausmaße erreicht.230 Spätestens seit Luhmann dürfte eines der Hauptprobleme der immer weiter betriebenen Ausdifferenzierung des Spezialistentums freilich nicht mehr in Frage stehen: Autopoiesis!231 Dass eine spezialisierte Sicht jedenfalls nicht dazu  Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31/102.  Ein kurzer Überblick bei: Medicus, Gedanken zur Zersplitterung des Privatrechts (2009), S.  629 ff. 231 Es geht um die Entstehung und den Bestand „selbstreferenzieller Systeme“ mit nur noch beschränkter „Interdependenz“ zu anderen Kommunikationssystemen. Grundlegend: Luhmann, Soziale Systeme (1984); ders. Die soziologische Beobachtung des Rechts (1986); ders., Das Recht der Gesellschaft (1993); ders., Recht als soziales System, ZfRSoz 20 (1999), 1–13; ders., Ausdifferenzierung des Rechts (1999). Dazu und zum näheren Verständnis: Peter M. Hejl, Die Theorie autopoietischer Systeme, Rechtstheorie 13 (1982), 45 ff.; Teubner, Gesellschaftsordnung und Gesetzgebungslärm (1988); ders., Recht als autopoietisches System (1989); Helmut Wilke, Systemtheorie (4. Aufl. 1993); Ralf Dreier, Niklas Luhmanns Rechtsbegriff, ARSP 88 (2002), 305; Martin Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts (2011). Im Grunde hat die Sache freilich schon Goethe in einem seiner Gespräche mit Eckermann (Mittwoch, den 15. Oktober 1825) auf eine recht einfache Erkenntnis gebracht: „Da aber sah ich, daß den Meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrthum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben … Einer hegt und trägt den Andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große ist ihnen widerwärtig, und sie möchten es gerne aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten.“ 229 230

III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände?

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befähigt, ein Institut wie die culpa in contrahendo in ihren komplexen Interdependenzen zu allen Teilen des Rechts (von der Rechtswirklichkeit ganz zu schweigen) hinreichend präzise in den Griff zu bekommen, dürfte die Skizze ihrer Dogmengeschichte jedenfalls verdeutlicht haben. Hinzu kommt, und das ist wohl wichtiger, dass die Leidenschaft für ein innerlich stimmiges Rechtssystem zusehends der deutlich bequemeren temporären und kasuistischen Behandlung des Rechtsstoffes gewichen ist. Im Zweifel delegiert man die Sache eben an die Rechtsprechung. Der Anwendungsbereich der culpa in contrahendo ist so ubiquitär wie die Argumente, die zu ihrer Begründung gefunden wurden. Die Befassung mit ihren rechtlichen Konsequenzen war und ist immer nur punktuell und kasuistisch geblieben. Hier liegt wohl ein wesentlicher Grund dafür, dass es auch nach 90 Jahren „vertiefter“ wissenschaftlicher Beschäftigung seit ihrer „Wiederentdeckung“ nur zu einem „Merkzettel“ gereicht hat.

III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände? „Von da aus gelangen wir mit einem Sprunge zum Gesetzgeber. Auch hier das gleiche Bild. In jagendem Fluge fabriziert er seine Gesetze, seine Notverordnungen, seine Aus‑ und Durchführungsbestimmungen. (…) Will man diesen Vorgang besonders deutlich machen, so muß man sagen: Es fehlt die Zeit, die Kraft, die Lust, den zu behandelnden Stoff restlos durchzudenken. Das Denken des Gesetzgebers bricht vorher ab, er tritt die Flucht zur Generalklausel an. Justus Wilhelm Hedemann, 1933232

Die culpa in contrahendo war, wie gesehen, ganz originär eine wichtige Initialzündung für wesentliche Teile dessen, was wir heute „Rechtsgeschäftslehre“ nennen. Noch 1929 konstatierte Phillip Heck, dass die Lehre in den Allgemeinen Teil des BGB gehöre.233 Franz Leonhard zählte sie zum besonderen Schuldrecht, Heinrich Stoll prägte die Idee vom „vorvertraglichen Schuldverhältnis“ und zuletzt suchte man die Lehre von den vor‑ und außervertraglichen Schutzpflichten wieder im Deliktsrecht einzufangen. So kann weder ihre metadogmatische Begründung noch ihre dogmatische Lozierung, weder die Benennung konkreter Fallgruppen noch deren genauer Zuschnitt als wirklich gesichert behauptet werden. Vielleicht glaubt ja immer noch der eine oder andere an eine Lücke, die von der culpa in contrahendo ausgefüllt werde – diese Lücke wäre wohl ein schier unerschöpflicher Abgrund. In Wirklichkeit tritt die Haftung seit jeher vornehmlich in Konkurrenz zu bereits existierenden Regelungen. Das wurde ja, wie gesehen, bereits in der Auseinandersetzung mit Jherings ‚Entdeckung‘  Die Flucht in die Generalklausel (1933), S. 66.  Heck, Schuldrecht (1929), § 41. 4 S. 123: „Die Geschichte und die Einzelheiten der Lehre gehören in den Allgemeinen Teil, in die Erörterung der Rechtsgeschäfte.“ 232 233

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§ 8 Reform ohne Form: Culpa in tangendo

und dann insbesondere wieder seit Heinrich Titze (1929) immer neu auf die eine oder andere Weise hervorgehoben und kritisiert.234 Nur ist eben die dogmatische Argumentation in den einzelnen Anwendungsfällen sehr viel mühsamer und weniger suggestiv als etwa so abstrakte Thesen wie, es gehe um den Schutz des Vertrauens, der Gemeinschaft, der Freiheit, der Gleichheit, der Redlichkeit, des Verkehrs, die Senkung von Transaktionskosten oder schlicht um die Sanktion verschuldeten Unrechts und die Wahrung des Gebots neminem laedere. So war denn auch die Frage, wie die culpa in contrahendo im Gesetz angemessenen Ausdruck finden könnte, nur im Ergebnis eine Frage der passenden Gesetzestechnik. Die zweifelhafte Form ist letztlich immer Ausdruck eines zweifelhaften Inhalts. Ein Rechtsinstitut, von dem keine oder allenfalls vage Vorstellungen über seinen Inhalt, seinen Zweck und seinen Platz im Verhältnis zu anderen Rechtsinstituten und Regelungen bestehen, kann auch nicht gut in eine passende Form gebracht und im bestehenden System integriert werden. Eine konkretere Fassung als in Form einer haftungsrechtlichen Generalklausel war ohne Auflösung sämtlicher Konkurrenzen und einer Reform zumindest auch der Rechtsgeschäftslehre und des Deliktsrechts unmöglich. Und so ist die „Modernisierung“ des Schuldrechts in dieser Hinsicht immer nur eine halbe Angelegenheit geblieben.235 Das Merkwürdige: Würden die Konkurrenzen tatsächlich aufgelöst, verbliebe gar kein weiterer Regelungsbedarf. Die culpa in contrahendo verschwände genau dort, wo sie entstanden ist.236 1. „Wovon man nicht reden kann …“ – oder will? „Wir haben es aufgegeben, so wird offen zugestanden Gesetze mit Beständigkeits‑ oder Nachhaltigkeitsanspruch wie das BGB zu schaffen. Wir produzieren – so heißt es wörtlich – ‚Wegwerfgesetze‘ … Man senkt den Qualitätsmaßstab und schafft – strafrechtlich gesprochen – mit dolus indirectus oder mindestens mit bewußter Fahrlässigkeit mangelhafte Gesetze.“ Hans Hermann Seiler, 2000237

Schaut man auf die Dogmengeschichte, so lässt sich die judizierte Haftung seit jeher auf drei ihrerseits durchaus noch sehr abstrakte Fallgruppen verteilen. Zunächst existierte eine Zweiteilung, die mit den Namen Jhering (Haftung bei 234 Oben

§ 1 III.; § 5 III.3.c).  Auf der Tagung in Regensburg (November 2000) hatte Stephan Lorenz die These vorgetragen „daß eine einigermaßen konkrete Regelung ca. 60 Paragraphen erforderlich machen würde und damit nicht in das Gesetz passe.“ (vgl. Jansen, Diskussionsbericht, 2001, S. 330); Medicus, Gutachten I (1981), S. 549 f., kam immerhin noch mit bescheidenen 5 Paragraphen bei insgesamt 14 Absätzen aus. 236 Zu diesem Phänomen bereits oben § 5 III.3.c). 237  Hans Herrmann Seiler, Bewahrung von Kodifikationen in der Gegenwart am Beispiel des BGB, in: Okko Behrends und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), 2000, S. 104/110. 235

III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände?

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nicht zur Perfektion gelangten oder unwirksamen Verträgen) und Leonhard (Haftung bei wirksam zustande gekommenen Verträgen) verknüpft ist. In neuerer Fassung könnten wir auch sagen, es handelt sich zum einen um eine Haftung bei Nichtzustandekommen eines erwünschten Vertrages und zum anderen um eine Haftung bei Zustandekommen eines unerwünschten Vertrages. Nach der Weinsteinsäure-Entscheidung wurden die Jhering’sche und die Leonhard’sche Fallgruppe von Stoll (1923) zu dem besagten vorvertraglichen Schuldverhältnis zusammengeführt und – ausgehend von der Linoleumrollen-Entscheidung des Reichsgerichts – um eine dritte, Haftung bei benannten Rechtsgutverletzungen (Anvertrauenshaftung), ergänzt.238 Diese Dreiteilung war – obwohl das Reichsgericht nicht und erst der BGH wieder an die Linoleumrollen-Entscheidung angeknüpft hat – bis zuletzt für die Systematik der culpa in contrahendo prägend geblieben: 1. Schädigung durch fehlenden Vertrag (Jhering), 2. Schädigung durch vorhandenen Vertrag (Leonhard), 3. Schädigung durch unterlassene Erhaltung von Räumen (Linoleum-Rolle).239 Mit etwas veränderter Begrifflichkeit kann man auch mit Dieter Medicus von einer Schädigung 1. „aus dem Fehlen eines wirksamen Vertrages“, 2. „durch einen wirksamen Vertrag“ und 3. einer Schädigung, „die mit dem Vertrag nichts zu tun“ hat, sprechen.240

Schaut man etwas genauer auf diese Fallgruppenbildung, so wird leicht deutlich, dass damit gleichsam alle denkbaren Haftungskonstellationen, die im (geschäftlichen) Verkehr überhaupt vorkommen können, erfasst sind. Man könnte auch so formulieren: Aus culpa in contrahendo haftet man im Verkehr, wenn es regnet, wenn es nicht regnet und selbst dann, wenn niemand an Regen denkt. Es gibt mithin auch in contrahendo ein Spektrum logisch denkbarer Möglichkeiten von Haftungsfällen, das dem denkbaren Spektrum enttäuschter Erwartungen korrespondiert. D. h. der Anwendungsbereich der culpa in contrahendo umfasst in seinem Kernbereich allein im BGB das gesamte Vertrags‑ und Schuldrecht – oder genauer: die Rechtsgeschäftslehre, das allgemeine und besondere (vertragliche) Schuldrecht und das Deliktsrecht. Damit ist auch klar, worauf ein gründlicher Versuch zur Integration der culpa in contrahendo in das BGB mindestens hätte hinauslaufen müssen: Eine Klärung der in den jeweiligen Bereichen bestehenden Konkurrenzprobleme. Das hieße dann also: 238 Zu

alledem oben § 5 III.2.  Vgl. etwa Siber, Schuldrecht (1931), S. 103 ff.; Fischer, Gefälligkeitsfahrt und vorvertragliche Haftung (1938), S. 53 f. 240 Medicus, Leistungsstörungsrecht, in: Das neue Schuldrecht (2002), Rn. 158–161: Für die Lehre von der c. i. c. „lassen sich vom Schaden her drei verschiedene Fallgruppen unterscheiden“: 1. „Schäden, die mit dem Vertrag nichts zu tun haben“; 2. „Schäden …, die sich aus dem Fehlen eines wirksamen Vertrages ergeben“; 3. „Schäden durch einen wirksamen Vertrag“. 239

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1. Für die Rechtsgeschäftslehre die Auflösung des Rätsels, wie und warum neben die Vertragsfreiheit ein zumindest mittelbarer Abschlusszwang durch einen Schadensersatzanspruch beim „Abbruch von Vertragsverhandlungen“ gestellt werden kann.241 2. Für die Vorstellung von einer Haftung bei einem unwirksamen Vertrag eine Klärung der Konkurrenz zu den Unwirksamkeitsregeln (etwa § 125 BGB) sowie der Frage, was sich seit Jhering Neues ergeben hat, dass die §§ 122, 179 nicht hinreichen, demgegenüber etwa § 307 a. F. durch § 311a zu ersetzen und § 309 a. F. gänzlich zu streichen war.242 3. Für die Haftung bei wirksamen Verträgen wiederum eine Abstimmung mit detaillierten Unwirksamkeits‑ (insbesondere dem Irrtumsrecht: §§ 119, 123) bzw. Rückabwicklungs‑ und Schadensersatzregelungen (insbesondere des Leistungsstörungs‑ und Gewährleistungsrechts).243 241 Medicus,

Gutachten I (1981), S. 494–503, lehnt eine gesetzliche Anerkennung dieser Fallgruppe ab: „Nicht zu empfehlen ist eine gesetzliche Regelung, die auch nur annähernd alle diejenigen Fälle zum Abbruch von Vertragsverhandlungen umfasst, die derzeit unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen erörtert werden. Denn hierbei handelt es sich teils um Billigkeitsentscheidungen von Einzelfällen, die sich für eine Verallgemeinerung nicht eignen. Teils ist aber auch der rechtliche Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen unnötigerweise zur Lösung herangezogen worden; er hat dann bessere  – auf den Vertragsschluß zielende – Lösungsmöglichkeiten der Auslegungslehre (bindender Antrag, Vorvertrag, bedingter Vertrag) verdrängt. Solche schlechteren Lösungen kann der Gesetzgeber zwar nicht verhindern, doch sollte er sie nicht übernehmen.“ 242 Diese Fallgruppe bildet bei Medicus, Gutachten (1981), S. 504–518/549 f., die umfassendste Empfehlung zur Neuregelung der §§ 307, 309 a. F.: „§ 307 neu (Schadensersatz bei Formfehlern): (1) Hat ein Vertragsteil die Sorge für die Vertragsverhandlungen übernommen oder ist er zur Betreuung des anderen Teils verpflichtet, so hat er diesem Schadensersatz zu leisten, wenn der Vertrag wegen der Nichteinhaltung der einer Formvorschrift nichtig ist. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der zu Sorge oder Betreuung Verpflichtete den Formmangel weder kannte noch kennen mußte. (2) Zu ersetzen ist der Schaden, den der andere Teil dadurch erleidet, daß er auf die Gültigkeit des Vertrages vertraut, jedoch nicht über den Betrag des Interesses hinaus, das der andere Teil an der Gültigkeit des Vertrages hat.“ „§ 308 neu (Arglistige Täuschung über die Formbedürftigkeit): (1) Hat bei Vertragsverhandlungen der eine Teil den anderen arglistig in den Glauben versetzt, der Vertrag bedürfe keiner Form, so kann der Getäuschte statt der nach § 125 eintretenden Nichtigkeit die Gültigkeit des Vertrages wählen (…).“ „§ 309 neu (Schadensersatz bei anderen Unwirksamkeitsgründen): (1) Wer beim Abschluß eines Vertrages ein anderes Wirksamkeitshindernis als den Formmangel kennt oder kennen muß oder ein solches Hindernis pflichtwidrig in zu vertretender Weise herbeiführt, hat dem anderen Teil Schadensersatz zu leisten. Die Ersatzpflicht wegen des Kennens oder des Kennenmüssens tritt nicht ein, wenn auch der andere Teil das Hindernis kennt oder kennen muß. (2) Für den Umfang der Ersatzpflicht gilt § 307 Absatz 2 entsprechend. Doch ist nach den allgemeinen Vorschriften Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu leisten, wenn die Wirksamkeit des Vertrages am Fehlen einer Zustimmung scheitert, zu deren Einholung der Schuldner verpflichtet ist, und wenn der Zweck des Zustimmungserfordernisses nicht entgegensteht. (3) Die Vorschrift gilt nicht, wenn das Wirksamkeitshindernis in einem Mangel der Geschäftsfähigkeit oder einem Verstoß gegen die guten Sitten besteht.“ 243  Medicus, Gutachten (1981), S. 535–543/549, formuliert das Ergebnis seiner Betrachtungen in einem § 305 e „(Schadensersatz wegen unerlaubter Bestimmung zum Vertragsabschluß)“ wie

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4. Die Klärung der Frage der Vertreter‑ bzw. Sachwalterhaftung jenseits der Regelungen §§ 123 Abs. 2, 166, 177 ff., 278, 676 a. F. BGB. 5. Und schließlich wäre  – gleichsam eine ebenso grundlegende wie scheinbar unmögliche Aufgabe – die Begründung von Schutzpflichten im Rahmen einer Sonderbeziehung neben den Verkehrspflichten des Deliktsrechts näher zu begründen, d. h. nichts Geringeres als das Verhältnis von Vertrags‑ und Deliktsrecht genauer zu klären gewesen. Das ist nun wirklich nicht wenig. Ganz zu Recht hat Eduard Picker darauf hingewiesen, dass die für die Erstattung der Gutachten zur Schuldrechtsreform eingeräumte Zeit von ca. 6 Monaten für manche Gutachter eine durchaus ernst zu nehmende Exkulpation bedeutet: „Betrachtet man nämlich genauer die Frage, ob positive Forderungsverletzung und culpa in contrahendo einem novellierten Schuldrecht integriert werden sollen, so zeigt sich alsbald, daß damit nahezu alle Fragen vertraglicher und deliktischer, vor allem aber auch quasi-vertraglicher und quasi-deliktischer Haftung zum Thema gemacht sind, daß es also über die beiden konkreten Figuren hinaus praktisch um alle die traditionellen und modernen Haftungsprobleme geht, die „zwischen“ Vertrag und Delikt existieren und die mit den Schlagworten etwa von der Haftung für Auskünfte oder Werbeprospekte, von der Berufs‑ oder Sachwalterhaftung und – ganz generell – von den sog. Verkehrspflichten exemplarisch gekennzeichnet sind.“244

Zu alledem hat es seit Heinrich Titzes grundlegender dogmatischen Kritik an der Ubiquität der culpa in contrahendo einige verdienstvolle, aber doch leider überwiegend wenig weiterführende, weil lediglich repetierende, Einzeluntersuchungen gegeben. Neben den wenigen Versuchen, das Haftungsinstitut in seinem Anwendungsbereich angesichts der konkurrierenden dogmatischen Regelungen wieder einzugrenzen, überwiegen bei weitem diejenigen Schriften, die eine bereichsspezifische Ausdehnung der Haftung durch die Rechtsprechung entweder vorbereitet haben oder – so das Gros der Schriften – der Rechtsprechung ex post ihren dogmatischen Segen erteilten.245 Dass in dieser Tendenz der Anwendungsbereich der culpa in contrahendo immer weiter ausgedehnt wurde, muss dann ebenso wenig überraschen, wie der Grundtenor in der Gesetzesbegründung, folgt: „(1) Wer seinen Vertragspartner durch unrichtige Angaben oder durch die Verletzung einer Aufklärungspflicht zum Abschluß eines Vertrages bestimmt, hat dem Partner den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Bestimmende die unrichtigen Angaben oder die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. […] (3) Zu ersetzen ist der Schaden, den der Vertragspartner durch das Vertrauen auf das korrekte Verhalten des anderen Teils bei den Vertragsverhandlungen erlitten hat. (4) Soweit sich der Ersatzanspruch auf Aufhebung oder Änderung des Vertrages richtet, verjährt er in einem Jahr. Für die Frist gelten die Absätze 2 und 3 von § 124 entsprechend. Auch § 853 gilt entsprechend. (5) Diese Vorschrift gilt nicht in den Bereichen der Gewährleistung wegen Sachmängel und der Haftung auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung.“ 244  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/372. 245  Kritisch auch Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/386, der im Anschluss an Frotz von „Selbstaufgabe“ der Wissenschaft spricht.

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die weitere „Entwicklung“ (und d. h. ja wohl auch Ausdehnung) dieses Rechtsinstituts nicht hindern zu wollen. Von einem abgeschlossenen Meinungsstand kann trotz oder gerade wegen „einer nicht mehr überschaubaren Zahl von Traktaten“246 schwerlich die Rede sein. Das gilt übrigens auch für die Rechtsprechung, zumal nun seinerseits der BGH partiell den dolus als Voraussetzung für eine vorvertragliche Informationshaftung wiederentdeckt hat. Die Kodifikation eines bloßen „Merkzettels“ ist so gesehen die notwendige Konsequenz einer zwar quantitativ kaum mehr überschaubaren, in qualitativer Hinsicht und vom Ergebnis her aber doch eher als bescheiden zu bezeichnenden Aufarbeitung der Sachfragen. Picker bringt das Problem um den Forschungsstand 1983 auf den Punkt: Man fühle sich vom Gesetzgeber gedrängt, „geradezu aus dem Stand heraus“ (sic!) eine Aussage zur Existenzberechtigung von p. V. und c. i. c. zu treffen.247 Dabei ist es ja keineswegs so, dass diese Figuren gerade erst „entdeckt“ worden wären. Man ist geneigt zu fragen, womit sich die Rechtswissenschaft denn in den vorangegangenen 83 Jahren befasst habe, wenn sie sich zum Ende des Jahrhunderts noch nicht in der Lage sieht, klare abschließende Aussagen zu diesen Haftungsinstituten zu machen. Das Problem, das sollte nach allem Gesagten nicht mehr zweifelhaft sein, entspricht dem widersprüchlichen und unfasslichen Wesen dieses wandelnden Irrwischs248, der eigentlich überall dort auftaucht, wo die Rechtsprechung zu „bequem“ ist (Hedemann), die geistige Tiefe der bestehenden Dogmatik auszuloten (gesetzeskonforme Konkurrenz) oder wo die bestehenden Regelungen im Einzelfall als unbillig angesehen werden und daher mit etwas sonderverbindlich-sozialem Öl (je nach individueller Wertung des Richters) angepasst werden sollen (gesetzesderogierende Konkurrenz).249 Es verwundert daher nicht, wenn die Möglichkeit, die culpa in contrahendo überhaupt in Gesetzesform fassen zu können, von manchen grundlegend bezweifelt worden ist. Wir haben den strukturellen Grund für diesen Zweifel bereits gelegentlich des Kernproblems der Vertrauenshaftung kennengelernt. Aber auch und gerade bei Kritikern dieser Haftungstheorie überwiegt die Ablehnung gegenüber einer klaren gesetzlichen Fassung. So hat, wie gesehen, auch Picker grundlegende Bedenken gegen die Ubiquität der Vertrauenshaftung; ohne hier einen Zusammenhang zu bemerken, ist ihm gleichwohl die Ubiquität vorvertraglicher Haftungskonstellationen das zentrale Argument gegen den differenzierten Regelungsvorschlag von Dieter Medicus: 246  Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/386: „Insgesamt erscheint danach der Bereich ‚zwischen‘ Vertrag und Delikt als ein nach wie vor unerforschtes Terrain, in dem Haftungsfiguren vagabundieren, die sich mangels einer plausiblen materialen Rechtfertigung der dogmatischen Erfassung entziehen.“ 247 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/371. 248  Lieb, Grundfragen der Schuldrechtsreform, AcP 183 (1983), 327/333. 249  Zum Problem „gesetzeskonforme“ – „gesetzesderogierende Konkurrenz“ bereits oben § 6 I.3.c).

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„Die Spezialnormen“ würden „der Tatsache nicht gerecht, daß die denkbaren Formen eines Fehlverhaltens im Stadium der Vertragsanbahnung nicht übersehen und deshalb auch nicht kasuistisch normiert werden können“.250 Aus ganz anderer Überlegung heraus beruft sich Ulrich Huber auf Ludwig Wittgenstein: „Wovon man nicht reden kann, davon muß man schweigen.“251 Und Johannes Köndgen weiß, dass sich die „Rechtsfiguren der ‚Vertrauenshaftung‘ oder der ‚Selbstbindung ohne Vertrag‘ jeglichen Normierungsversuchen entziehen“.252 Da sich nun alle Theorieentwürfe nicht eignen, die culpa in contrahendo fasslich zu formulieren, bleibt als einzig mögliches Fazit: „Ein Tatbestand, der im Laufe der Jahrzehnte derart in die Breite gewachsen ist“, könne „nur in einer Generalklausel zureichend erfasst werden.“ Demgegenüber erscheine „eine Technik präziser und umfassender tatbestandlicher Ausformung … als aussichtsloses Unterfangen“.253 Zur Untermauerung der These von der Unmöglichkeit einer präzisen Normierung weist insbesondere Köndgen auf drei neuere Entscheidungen des BGH hin, die seiner Ansicht nach „erweisen, daß das Leben permanent seine neuen Fälle erfindet und eine Vielfalt schafft, die durch keine noch so perfekte Tatbestandstechnik erfasst werden kann“.254 Damit ist der rechtstheoretische Grundkonflikt um das Institut der c. i. c. neuerlich benannt: Gibt es eine beständige Universalität von Regelungen, weil auch das Spektrum der zu lösenden rechtlichen Problemlagen überschaubar ist oder bietet die Lebenswirklichkeit immer wieder neu zu entscheidende juristische Konstellationen, die sich einer abschließenden Regelung immer wieder neu entziehen? Machen wir die Probe auf’s Exempel! Bei näherer Betrachtung der drei von Köndgen genannten Fälle wird das Problem der culpa in contrahendo in der Tat anschaulich. Aber nicht, weil sich die Fälle tatsächlich einer systematischen Verortung entzögen. Im Gegenteil, für alle drei Fälle lässt sich das dogmatische Problem ziemlich genau benennen: Im ersten Fall geht es um einen vermeintlichen „Abbruch von Vertragsverhandlungen“, im zweiten um eine Aufklärungspflicht bei Kalkulationsirrtum und beim dritten um eine Schmiergeldzahlung. Das Problem der Anwendung der culpa in contrahendo liegt in allen drei Fällen darin, dass sie jeweils immer in Widerspruch zur bestehenden gesetzlichen Wertung tritt und dieser Wertungswiderspruch unauflösbar erscheint, weil man die gesetzliche Wertung im Grundsatz schon für richtig, im konkreten Einzelfall aber für unbillig hält.

 Picker, p. F. und c. i. c., AcP 183 (1983), 369/443. § 7 III.1.b). 252  Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 233. 253  Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 241. 254 Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 241. 250

251 Oben

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2. „Vielfalt des Lebens“? – Drei Beispiele neuerer Rechtsprechung „Schon drei Fälle aus der neuesten BGH-Rechtsprechung erweisen, dass das Leben permanent seine neuen Fälle erfindet und eine Vielfalt schafft, die durch keine noch so perfekte Tatbestandstechnik erfasst werden kann.“ Johannes Köndgen, 2001255

a) Fall 1: Nudum pactum ex quo non oritur actio? „Weil die Verträge durch beyderseitige Einwilligung gemacht werden; so ist der Vertrag gleich gültig, so bald beyde Theile ihre Einwilligung gegeben; folglich gilt er natürlicher Weise, ehe er aufgeschrieben wird.“ Christian Wolff, 1754256

BGH, Urt. v. 19. März 1996 – V ZR 332/94, NJW 1996, 1884 (Druckereipachtfall)257: Der Kläger betrieb in den vom Beklagten gepachteten Räumen eine Druckerei. Dieser plante die Sanierung des Gebäudes und den Verkauf von Sondereigentum der jeweiligen Wohn‑ bzw. Gewerberaumeinheiten. Kläger und Beklagter verständigten sich auf den Kauf der bereits gepachteten Räume zu einem Preis x. Der Kläger begann daraufhin mit Umbauarbeiten, denen der Beklagte zustimmte. Später stellte sich heraus, dass sich der Beklagte verkalkuliert hatte und nur noch bereit war, zum Preis y zu verkaufen. Der Kläger akzeptierte den neuen Preis jedoch nicht und begehrt Schadensersatz aus culpa in contrahendo. Das Problem dieser oder ähnlicher Fälle liegt auf der Hand: Es gibt bereits informelle Vorabsprachen, bevor es zum eigentlichen Vertrag (hier in notarieller Form) kommt. Das ist der „Vorvertrag“ im klassischen Sinn. Beide Seiten wissen um die Notwendigkeit der förmlichen Konfirmation und gleichwohl erheischt der Vorvertrag bereits Vertrauen in seinen Vollzug. Das ist gleichsam ein Urproblem bei der Etablierung des formfreien Konsensualvertrags. Die Verbindlichkeit schon des formfreien, nur auf Konsens basierenden Vertrags, entspricht auch der Grundentscheidung des BGB. Gleichwohl gab es gute Gründe für den Gesetzgeber, punktuell die Wirksamkeit einer Vertragsabrede an eine Form zu binden: „Wenn für einzelne Rechtsgeschäfte dennoch eine besondere Form sich vorgeschrieben findet, so liegt darin zur Genüge, daß die Gründe für die Notwendigkeit der Beobachtung der Form schwerer wiegen als die Rücksicht auf die ethische Pflicht zum Worthalten.“258 Diese Konstellation entspricht mithin in ihrer Grundstruktur der Jhering’​ schen Fallgruppe vom unwirksamen Vertrag. Die überwiegende Auffassung  Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 241. des Natur‑ und Völkerrechts (1754), § 445. 257  Anmerkungen und Entscheidungsbesprechungen: Medicus, EWiR 1996, 679–680; Kaiser, JZ 1997, 448–453; Bodewig, Jura 2001, 1–8. 258 Motive I, S. 183. 255

256 Grundsätze

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spricht heute gleichwohl eher von einem Abbruch von Vertragsverhandlungen. Das bedarf hier keiner näheren Kritik.259 Wichtig ist an dieser Stelle nur der bestehende Konflikt, der ebensowenig neu ist, wie das Spektrum der Möglichkeiten, diesen Konflikt zu lösen: Auf der einen Seite besteht die Wertung (nuda!) pacta sunt servanda (d. h.: Vertrauensschutz schon bei formlosen Verträgen); auf der anderen Seite die Wertung, dass bei wichtigen Rechtsgeschäften, zu denen auch Grundstücksgeschäfte zählen, eine besondere Besinnung und Ernsthaftigkeit der Entscheidung verlangt wird (Willens‑ bzw. Übereilungsschutz). Im Grunde findet sich das oben beschriebene „rechtsgeschäftliche Haftungsdreieck“260 hier wieder: Es geht um einen Ausgleich von Willensfreiheit (Schutz einer besonnenen Entscheidung) und Vertrauen (Schutz des Vertrauens in eine auch informelle Erklärung) unter dem Gesichtspunkt des Verschuldensprinzips. Bei Vorsatz soll nach allgemeiner Auffassung eine Berufung auf die Formvorschrift ausscheiden. Doch da auch in diesen Konstellationen ein dolus schwerlich nachzuweisen ist, geht die Sache allmählich auf culpa in contrahendo. Vernachlässigt man die culpa des Klägers, bereits auf rechtlich ungesicherter Grundlage mit Umbauarbeiten begonnen zu haben, dann ist es sicherlich leicht, in der fehlerhaften Kalkulation des Verkäufers eine culpa und mithin eine Haftungsgrundlage zu erblicken. Doch kommt man offensichtlich in Konflikt mit der Wertung der Formvorschrift, die ja gerade die Möglichkeit einer Besinnung – und das heißt einer Änderung der einmal geäußerten Entscheidung – einräumen möchte: „Ein Entschluß über wichtige Dinge kommt selten mit einem Mal zur Reife; es pflegt ihm ein Zustand der Unentschiedenheit vorauszugehen, worin die Übergänge allmählig und unmerklich sind, und dessen Unterscheidung von dem vollendeten Wollen eben so schwierig sein kann, als sie für den später urtheilenden Richter unentbehrlich ist. Hier dient nun die Form als untrügliches Kennzeichen des reifen Entschlusses.“261 Dieser Konflikt zwischen Vertrauensschutz einerseits und dem Sinn und Zweck einer Unwirksamkeitsregelung andererseits ist, wie gesehen, geradezu klassisch. Die einseitige Bewertung dieses Konflikts war die Geburtshelferin der Jhering’schen c. i. c. Das Spektrum der möglichen Lösungen ist denn auch schon in der gemeinrechtlichen Diskussion hinreichend deutlich geworden: Es gibt nur ein Entweder (Willensschutz) – Oder (Vertrauensschutz), allenfalls noch jenes vermittelnde Dritte: den Ersatz des negativen Vertragsinteresses (m. E. richtig nur Aufwendungsersatz, kein lucrum cessans)262. Eine entsprechende Klarstellung, dort wo sie hingehört, ist unproblematisch ausfindig zu machen: Es ginge um eine Modifizierung der kategorischen Formnichtigkeit in § 125 BGB. Aber statt einer klaren Entscheidung und einer klaren Regelung wird die Sache weiter259 Die

Grundfragen und Details dieser Fallgruppe gehören in den dogmatischen Teil.  Oben § 4 II.1. 261  Savigny, System III (1840), S. 238. 262 Oben § 4 III.3. 260

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hin zur Lösung an die Rechtsprechung delegiert. Und was dabei herauskommt, kann man in den Entscheidungsgründen nachlesen: Der V. Zivilsenat sorgt bereits in seinem Ausgangspunkt für Verwirrung, wenn er „nur eine vorsätzliche Treupflichtverletzung als Grundlage eines Schadensersatzanspruchs aus culpa in contrahendo in Betracht“ zieht (sic!). Er konkretisiert den Gedanken des subjektiven Unrechts sogar ausdrücklich in dem klassischen Arglisttatbestand des dolus praeteritus, wenn er die „vorsätzliche Treupflichtverletzung“ als „Vorspiegeln tatsächlich nicht vorhandener Abschlussbereitschaft“ und „Vorspiegeln einer tatsächlich nicht vorhandenen Bereitschaft, einen Vertrag zu bestimmten Bedingungen, insbesondere zu einem bestimmten Preis, abzuschließen“ präzisiert. Doch damit hören die Bekenntnisse zum unsichtbaren dolus auf: Denn dem „Vorspiegeln“ soll auch der Fall gleichstehen, in dem von der ursprünglich vorhandenen Verkaufsbereitschaft später wieder „innerlich abgerückt“ wird, ohne dass dies offenbart werde. Mit anderen Worten: Die inhaltliche Besinnung einer Partei vor der formwirksamen Beurkundung führt nach der Ansicht des BGH zu einer unverzüglichen Aufklärungspflicht! Und damit bleibt vom dolus nicht mehr viel übrig; weil eine Pflicht, „den Partner vor einem Irrtum über den (Fort‑)Bestand einer geäußerten, tatsächlich aber nicht (mehr) vorhandenen endgültigen Abschlussbereitschaft zu bestimmten Bedingungen zu bewahren“, nur dann vorsätzlich verletzt werden kann, wenn diese Pflicht auch bekannt ist. Der BGH erliegt hier ganz offensichtlich der allgemein herrschenden Faszination für Aufklärungspflichten und merkt nicht, dass der eigentliche Interessenkonflikt mit diesem Instrument nicht angemessen gelöst werden kann. Erstens stellt sich nämlich die generelle freiheits‑ und vertrauenstheoretische Frage, wieso eine Vertragsseite die andere unverzüglich über eine „Besinnung“ aufzuklären habe, wenn doch erst der notarielle Vertrag die besonnene „Abschlussbereitschaft zu bestimmten Bedingungen“ verbindlich konfirmiert. Die Phase zwischen erstem Kontakt (invitatio) und notarieller Beurkundung ist vom Gesetzgeber ganz bewusst als Besinnungsphase für die Vertragsparteien geschaffen, und hierauf sollte auch die sich besinnende Partei ohne Gefahr vertrauen dürfen. Eine Besinnungsphase bedeutet eben nicht nur Besinnung zum für alle erfreulichen Ergebnis, sondern eben auch zum „Abbruch“, d. h. zur Abstandnahme vom anvisierten Geschäft. Aber selbst wenn man eine Aufklärungspflicht jedenfalls dann mit dem BGH für gerechtfertigt hält, wenn der sich eines Besseren besinnende Teil positive Kenntnis von den Vertrauensinvestitionen der anderen Seite besitzt, selbst dann stellt sich doch zweitens die Frage, worin denn diese endgültige Besinnung (dieses „innerlich abrücken“) sich anders kund tun soll, als in der Erklärung gegenüber dem anderen Teil, kurz: in dem, was mit der Formel vom „Abbruch der Vertragsverhandlungen“ bereits normativ diskreditiert ist. Eine Besinnungsphase betrifft nicht nur die Frage, ob die zunächst und vorläufig benannten Bedingungen des Vertrages tatsächlich Bestand haben

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sollen, sondern auch umgekehrt, ob an ihnen in keinem Fall mehr festgehalten werden kann. Wenn also der BGH den Vorwurf eines Verschuldens letztlich daran knüpft, dass zwischen der Erkenntnis der „fehlerhaften Kalkulation“ und der zum „Abbruch“ führenden tatsächlichen Mehrforderung noch ein (nicht näher bezifferter) Zeitraum verstrichen sei, dann dürfte noch einmal deutlich werden, wovor Formvorschriften eigentlich auch den Richter bewahren wollen: nämlich interne Einsichten der Parteien, für die es an objektiven Anhaltspunkten regelmäßig mangelt, einer aufwendigen oder spekulativen Untersuchung im Prozess zu unterziehen: obligatio iuri semper externa est! Damit eröffnet sich wie von selbst erneut der Zusammenhang zwischen tatsächlichen und rechtlichen Beurteilungen, das Problem der „Objektivität des Rechts“.263 Nach der vom BGH vertretenen „Besinnungs-Aufklärungs-Doktrin“ kommt es für einen Schadensersatzanspruch allein und entscheidend auf die Zeitspanne zwischen „Besinnung“ (Willensänderung) und „tatsächlicher Aufklärung“ (Erklärung ggü. dem anderen Teil) an. Im „Druckereipachtfall“ machte der Kläger Schadensersatz für Umbaumaßnahmen geltend, die er von „Ende April 1991 bis Februar 1992“ ausgeführt hatte. Die spannende „Besinnungs-Aufklärungs-Zeitspanne“ hingegen ist unklar und lag nach dem mitgeteilten Sachverhalt irgendwo zwischen „Spätjahr 1991“ und „Spätjahr 1991“ (sic!),264 als tatsächlich konkretere Vertragsverhandlungen zwischen den Parteien geführt wurden. Soweit der BGH einschränkend darauf hinweist, dass jedenfalls für die Zeit nach Aufklärung Ersatz für die Umbaukosten nicht mehr verlangt werden könne, versäumt er hinzuzufügen, dass dies ebenso für die Kosten vor Besinnung gelten muss. Denn nach jenem Zeitpunkt fehlt es an schutzwürdigem Vertrauen und vor diesem fehlt es nach der Theorie des BGH an einer rechtswidrigen Aufklärungspflichtverletzung, weil ja niemand über etwas aufklären kann, wovon er selber noch gar keine hinreichend klare Kenntnis hat. Spätestens hier dürfte deutlich werden, dass diese ganze „Besinnungs-Aufklärungs-Doktrin“ nur von einem Gericht konzipiert werden kann, das mit der Sachaufklärung nicht mehr viel zu tun hat und insoweit an die Tatsacheninstanz „zur weiteren Sachverhaltsaufklärung“ zurückverweisen kann: Welches sind die Erklärungen, die – wann? – vom Kläger als Aufklärung über die neuerliche Kalkulation verstanden werden konnten und mussten? Und was wird wohl der Beklagte vortragen, wenn er aufgefordert wird, den Zeitpunkt seiner Besinnung im „Spätjahr 1991“ näher zu spezifizieren? Stellt sich endlich heraus, dass ja vielleicht Besinnung und Aufklärung in einen Augen263 Hierzu

oben § 2 II.  Die Gespräche zwischen den Parteien wegen eines Termins zur Beurkundung wurden „im Oktober und Dezember 1991“ geführt und im Sachverhalt auch mit „Spätjahr 1991“ umschrieben. Wenn der BGH feststellt, dass sich nach den Bekundungen des Beklagten im „Spätjahr 1991“ zeigte, dass die kalkulierten „Kosten des Um‑ und Ausbauvorhabens“ nicht hinreichten, so bedarf es nicht allzu großer Fantasie, sich vorzustellen, dass der Beklagte mit dieser groben Fassung eben genau die Phase der konkreten Vertragsverhandlungen meinte. 264

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blick zusammenfallen, dann wird die ganze Pseudodogmatik dieser Jongliererei mit dem „subjektiven Unrecht“ und Aufklärungspflichten offenbar: Viel Lärm um Nichts! Liegt nun der nächste und letzte Schritt darin, eine „juristische Sekunde“ des Verschuldens zu bemühen? Oder gilt es nun, dem Sich-Besinnenden die Beweislast für den Zeitpunkt seiner Besinnung aufzuerlegen, mithin die Arglist bei jedem Abbruch unwiderleglich zu vermuten und so potentiellen Vertragspartnern die Obliegenheitspflicht angedeihen zu lassen, über ihre Gedanken und Zweifel zum Vertragsschluss in einem Tagebuch Rechenschaft abzulegen? Wir wissen es nicht; denn die Fortbildung dieses Bereiches wird von Rechtsgelehrten wie Köndgen der Rechtsprechung überlassen. Festzuhalten bleibt: Es ist weniger das Leben, das „permanent seine neuen Fälle erfindet und eine Vielfalt schafft, die durch keine noch so perfekte Tatbestandstechnik erfasst werden kann“, sondern Rechtsprechung und / ​oder juristische Gelehrsamkeit ‚entdecken‘ dauerhaft neue dogmatische Konstruktionen, die – wie Jhering sagen würde – „der Idee der Verhältnisse“ selber nicht gerecht werden. b) Fall 2: Kalkulationsirrtum oder Vertragsbruch? „Da niemand mit des andern Schaden sich bereichern darf; so ist der Verkäufer, wenn er im Preiße geirret hat … was er zu viel bekommen, wiederzugeben schuldig: Im Gegentheil wenn ein geringerer Preiß als der wahre bezahlt worden; so muß der Käufer ersetzen, was an dem wahren Preise fehlt … Da das Recht der Natur unter mehr oder weniger keinen Unterschied macht, sondern gar keine Verletzung duldet; so kann nach demselben wegen einer jeden Verletzung ein jeder Contract aufgehoben werden.“ Christian Wolff, 1754265

Der zweite von Köndgen genannte Fall betrifft ebenfalls einen Kalkulationsirrtum, diesmal freilich in einer besonderen, wiederum klassisch zu nennenden Konstellation, nämlich im Zuge einer Ausschreibung: BGH, Urt. v. 7. Juli 1998 – X ZR 17/97, BGHZ 139, 177–190266: Der Kläger schrieb im Frühjahr 1993 Tischlerarbeiten für einen Neubau öffentlich zu Einheitspreisen aus. Die Angebotsfrist endete am 15. April 1993, die Zuschlagsfrist am 15. Mai 1993. Der Kläger hatte die Angebotssumme auf 350.758,— DM geschätzt. Am 13./15. April 1993 reichte die Beklagte ein Angebot ein, das mit einer Endsumme von 305.812,60 DM abschloss. Die nächstfolgenden Angebote lauteten auf 312.094,70 DM, 349.014,10 DM, 403.344,10 DM, 405.202,50 DM und auf 476.209,83 DM. Nach Eröffnung der Angebote bemerkte die Beklagte

 Grundsätze des Natur‑ und Völkerrechts (1754), § 602.  Anmerkungen und Besprechungen: Medicus, EWiR 1998, 871–872; Singer, JZ 1999, 342– 349; Waas, JuS 2001, 14–20. 265 266

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einen Kalkulationsirrtum und zog ihr Angebot zurück. Die Klägerin will das nicht gelten lassen und klagt auf ihr Erfüllungsinteresse. Dieser Sachverhalt ist für den in der Literatur viel diskutierten Fall des Kalkulationsirrtums deshalb klassisch, weil hier die besondere Konstellation des (mutmaßlich) erkannten Kalkulationsirrtums seine scheinbare Evidenz durch den Vergleich mit den anderen Angeboten erhält bzw. erhalten kann. Der Gedanke des erkannten Irrtums ist uns bereits anlässlich der Besprechung des negativen Vertragsinteresses begegnet,267 sein normativer Charme liegt in der fehlenden Schutzwürdigkeit des Angebotsempfängers, der durch den Rückzug des fehlerhaften Angebots grundsätzlich keinen Schaden erleidet, gleichwohl einen Irrtum der anderen Seite erkannt hat bzw. – und hier wird die Lehre problematisch – hätte erkennen können. Auch hier bildet also wieder das Verschuldensprinzip das Zünglein an der Waage bei der Argumentation zwischen Willens‑ und Vertrauensschutz. Die Debatte um den (erkannten) Kalkulationsirrtum bedarf im Folgenden keiner ausführlichen Darstellung. Wichtig ist an dieser Stelle nur zweierlei: Erstens wird auch hier deutlich, dass das Leben keineswegs „permanent seine neuen Fälle erfindet“, wie Köndgen meint, sondern es sich beim Kalkulationsirrtum um ein altbekanntes Thema der Rechtsgeschäftslehre (Diskrepanz von Wille und Erklärung bzw. Umgang mit Motivirrtümern) handelt, das im bekannten Spektrum der drei Lösungsmöglichkeiten zwischen Willens‑ und Erklärungstheorie auch entschieden werden kann: Entweder der Irrtum ist 1. beachtlich (Willenstheorie) oder er ist es 2. nicht (Erklärungs‑ bzw. Vertrauenstheorie). Und wenn er beachtlich ist und es ein Lösungsrecht gibt, dann mag man 3. über einen Ersatz des Vertrauensinteresses (negatives Interesse bzw. efficient breach) nachdenken. Eine dieser drei Möglichkeiten lässt sich zweifelsohne in Worte fassen. Auch in einem Gesetz, wenn man nicht ohnehin der Ansicht ist, dass auch dieses Problem bereits in den §§ 119 ff. BGB abschließend geregelt ist. Einer allgemeinen Haftung für culpa in contrahendo hat es hier bisher nicht bedurft und bedarf es auch weiterhin nicht.268 Zweitens ist es neuerlich interessant zu sehen, welche merkwürdige Rolle die Rechtsprechung der culpa in contrahendo  – einmal mehr in Kombination mit dem Gedanken einer Aufklärungspflicht – in dieser Debatte zuweist. Der X. Zivilsenat stellt insoweit in seinem 1. Leitsatz fest: „1. Ein Kalkulationsirrtum berechtigt selbst dann nicht zur Anfechtung, wenn der Erklärungsempfänger diesen erkannt oder die Kenntnisnahme treuwidrig vereitelt hat; allerdings kann der Erklärungsempfänger unter den Gesichtspunkten des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen oder der unzulässigen Rechtsausübung verpflichtet sein, den Erklärenden auf seinen Kalkulationsfehler hinzuweisen.“

267

 Oben § 4 III.2. § 4 II, III.3.

268 Oben

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Damit wendet sich der Senat gegen die wohl überwiegende Meinung in der Literatur, die in diesen Fällen ein Anfechtungsrecht wenigstens analog § 119 Abs. 1 bzw. 2 BGB für passend erachtet.269 Anders als in der vorbesprochenen Entscheidung des V. Zivilsenats (Druckereipachtfall) nehmen die erkennenden Richter hier das Problem der Rechtssicherheit und den Gedanken der „Objektivität des Rechts“ deutlich ins Visier: Soll nämlich „die Kenntnis des Anfechtungsgegners Tatbestandsmerkmal des Anfechtungsgrundes sein, käme“ es in Rücksicht auf die in § 121 BGB geregelte Anfechtungsfrist zu einer „Häufung subjektiver Umstände“ und es würde so „die mit jeder Anfechtungsmöglichkeit ohnehin schon verbundene Rechtsunsicherheit in unzuträglichem Maße verstärkt“ (BGHZ 139, 177/183). So weit so gut. Nun soll demgegenüber die culpa in contrahendo für Rechtssicherheit sorgen. Sie bekommt die Rolle einer dogmatischen Hintertür für Billigkeitsentscheidungen im Einzelfall zugewiesen, ohne dass  – oder gerade weil? – der Senat seinen Gedanken konsequent zu Ende denkt: Denn die Kenntnis von einer Fehlkalkulation bleibt so oder so ein Internum, mithin Gegenstand der Spekulation und insoweit weltlicher Gerichtsbarkeit regelmäßig entzogen. Daran ändert sich auch nichts, wenn man nun statt eines Anfechtungsrechts des Erklärenden eine Aufklärungspflicht des Erklärungsempfängers postulieren möchte. Wenn die Kenntnis Tatbestandsmerkmal des „erkannten Kalkulationsirrtums“ ist, dann ist sie das in dem einen, wie in dem anderen Fall. Aber vielleicht ist der BGH ja davon ausgegangen, dass es für die c. i. c., so wie bisher, nahezu keine Fristen gibt oder diese jedenfalls, so wie das ganze Institut, „flexibel“ gehandhabt werden. In der Sache geht es also offensichtlich einmal mehr um die Umgehung einer Frist (§ 121 BGB: unverzügliche Anfechtung), die in der Sache gar nicht zu beanstanden ist. Was der X. Senat denn auch offenbar völlig übersieht, ist der Umstand, dass es für den Beginn der Anfechtungsfrist gem. § 121 BGB allein auf die Kenntnis des Anfechtungsberechtigten von seinem Irrtum ankommt, nicht aber auf die Kenntnis des Anfechtungsgegners. Letztere ist „Tatbestandsmerkmal“ nicht der Anfechtungsfrist, sondern des Anfechtungsgrundes. Die Postulation einer Aufklärungspflicht kommt demgegenüber ohne Fiktion (einer Kenntnis) gar nicht aus. Dass der X. Senat mit der dogmatischen Konstruktion einer Aufklärungspflicht seinerseits nicht wirklich für Rechtssicherheit gesorgt hat, wurde übrigens sehr schnell deutlich: Der VII. Zivilsenat hat mit Urteil v. 24. November 2005270 einen nahezu identisch liegenden Fall ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit 269  Die Details gehören in den dogmatischen Teil; zum Meinungsstand etwa: Singer, Der Kalkulationsirrtum – ein Fall für Treu und Glauben?, JZ 1999, 342–349; Kramer, Bundesgerichtshof und Kalkulationsirrtum: Ein Plädoyer für eine rechtsvergleichende Öffnung im Irrtumsrecht, FG 50 Jahre BGH (2000), S. 57–68; Fleischer, Der Kalkulationsirrtum: Eine rechtsvergleichende und rechtsökonomische Studie, RabelsZ 65 (2001), 264–292 270 VII ZR 87/04, WM 2006, 247; hierzu bereits die Anmerkungen Benedict, EWiR 2006, 361.

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der Auffassung des X. Senats ganz anders entschieden: Auch in dieser Entscheidung ging es um die Frage, ob und inwieweit sich der an einer Ausschreibung beteiligende Anbieter an seinem Angebot muss festhalten lassen, wenn ihm hierbei ein Kalkulationsirrtum unterlaufen ist. Nachgefragt waren Sanierungsarbeiten an der Trinkwasserversorgung einer Wohnungseigentumsanlage. Die Beklagte erklärte mittels ausgefülltem Leistungsverzeichnis, die Arbeiten zu einem Gesamtbetrag i. H.v. 794.780,97 DM erbringen zu wollen. Das Angebot des nächsten Bieters lag etwa 80.000 DM höher. Die Klägerin erteilte nach endgültiger Weigerung der Beklagten den Auftrag anderweitig und begehrt die damit verbundenen Mehrkosten als Schadensersatz. Bereits die Vorinstanzen waren sich alles andere als im Klaren darüber, wie dieser Fall zu entscheiden sei. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr mit der überraschenden Begründung stattgegeben, die Beklagte habe mit ihrer Weigerung, an ihrem Angebot festzuhalten, gegen ihre „vorvertraglichen Pflichten“ verstoßen und die Vertragsverhandlungen „ohne triftigen Grund abgebrochen“. Der BGH folgt dieser Argumentation in der Sache, ohne sich freilich festzulegen, ob das „Verhalten des Bieters“ als „vor‑“ oder bereits als „vertragliche“ Pflichtverletzung einzuordnen sei. In dieser Hinsicht ist die Entscheidung widersprüchlich, in ihrem Tenor gegen die Idee des X. Zivilsenats hingegen eindeutig, wie sich aus dem perplexen Leitsatz der Entscheidung ergibt: „Weigert sich der Bieter ernsthaft und endgültig, sich an einem bindenden Vertragsangebot festhalten zu lassen und bringt er zum Ausdruck, daß er nicht bereit ist, nach Annahme seines Angebots die Leistung vertragsgemäß zu erbringen, stellt dies eine Pflichtverletzung dar. Wird der Angebotsempfänger dadurch veranlasst, das Angebot nicht anzunehmen, ist er berechtigt, den Schaden geltend zu machen, der ihm dadurch entstanden ist, daß der Vertrag mit diesem Bieter nicht zustande kam, sondern er einen anderen Bieter beauftragen musste.“

Der Fall offenbart die nicht gerade geringe Unsicherheit, die beim Umgang mit einfachsten Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre zu Vertragsschluss und Irrtumsregelungen und dem Institut der culpa in contrahendo nicht nur in der Rechtsprechung der Instanzgerichte, sondern selbst beim höchsten deutschen Zivilgericht herrscht. Entweder das Angebot wurde angenommen, dann handelt es sich um einen Fall der Nichterfüllung oder das Angebot wurde nicht angenommen, dann liegt auch keine vorvertragliche Pflichtverletzung darin, dass der Beklagte sich auf einen Kalkulationsirrtum beruft. Aber schlimmer noch: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann also dasselbe Verhalten, nämlich die Weigerung, sich an einem fehlerhaften Angebot bei einer Ausschreibung festhalten zu lassen, mittels culpa in contrahendo einerseits gerechtfertigt und andererseits als Pflichtverletzung gedeutet werden. Im ersten Fall interpretiert man den Sachverhalt als erkannten Kalkulationsirrtum (Urt. v. 7. Juli 1998) und im zweiten als Abbruch von Vertragsverhandlungen (Urt. v. 24. November

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2005). Die Pflichtwidrigkeit liegt dann einmal auf der einen und das andere Mal auf der anderen Seite: Es ist entweder pflichtwidrig vom Anbietenden, sich von seinem Angebot zu distanzieren oder es ist pflichtwidrig vom Angebotsempfänger, den Erklärenden nicht „auf seinen Kalkulationsfehler hinzuweisen“ (BGHZ 139, 177). Auch hier gilt also: Es ist nicht das Leben, das „permanent seine neuen Fälle erfindet und eine Vielfalt schafft, die durch keine noch so perfekte Tatbestandstechnik erfasst werden kann“, sondern Rechtsprechung und juristische Gelehrsamkeit ‚entdecken‘ dauerhaft alternierende Wertungen und Konstruktionen, ein und denselben Sachverhalt mal so und mal ganz anders zu entscheiden. Das bezeichnen manche als „Flexibilität“ eines Rechtsinstituts, das „nicht reformbedürftig“ sei.271 Tatsächlich ist es Willkür, die zu unterbinden Aufgabe von Rechtswissenschaft und Gesetzgebung wäre. c) Fall 3: In dubio pro c. i. c. – Schmiergeld und Vertretungsrecht „Gleichwie aber bei der arithmetischen Zurechnung nicht auf denjenigen gesehen wird, der das Geld gezahlet hat, oder wem das Geld zugehöret, sondern wer die Zahlung hat thun lassen; also wird bey der moralischen Zurechnung insgemein gesehen, nicht, ob jemand die natürliche Ursache (causa physica) sondern ob er die moralische mittelbahre oder unmittelbahre Ursache sey, das ist, ob er etwas habe thun wollen.“ Christian Thomasius, 1709272

Der letzte der drei von Köndgen genannten Fälle betrifft das Verhältnis der c. i. c. zum Vertretungsrecht, und hier nun in der Tat in einer (jedenfalls) auf den ersten Blick überraschenden Konstellation: BGH, Urt. v. 16. Januar 2001 – XI ZR 113/00, NJW 2001, 1065273: Der Kläger benötigte zum Kauf eines Einkaufzentrums 12,2 Mio DM, welche die Beklagte mit einer 10-jährigen Zinsbindung gegen Bestellung einer entsprechend hohen Grundschuld und der Zahlung eines Disagios i. H.v. 10 % zu bewilligen bereit war. Das aus steuerlichen Gründen als sofort fällig vereinbarte Disagio wurde vom Konto des Klägers abgebucht und das Darlehen weisungsgemäß durch Auszahlungen an die Verkäufer valutiert. Aus ungenannten Gründen trat der Kläger nun aber vom Kaufvertrag über das Einkaufszentrum zurück und begehrte, sich auch vom Darlehen zu lösen, wozu sich jedoch die Beklagte nur gegen Zahlung einer Vorfälligkeitsentschädigung bereitfinden mochte. Der Kläger verlangt vollständige Rückzahlung des Disagios und ficht u. a. den Vertrag wegen arglistiger Täuschung mit der unter Beweis gestellten Behauptung an, sein Mitarbeiter R, der ihn bei den Vertragsverhandlungen vertreten hatte, habe bei dieser Gele Oben I.3., II.2.b), II.3.  Grundlehren des Natur‑ und Völkerrechts (1709), I/7 § 26. 273 Hierzu Benedict, EWiR 2001, 801–802. 271 272

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genheit von der Beklagten eine „Provision“ i. H.v. 30.500,‑ DM erhalten. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision hatte einmal mehr mit dem Hinweis auf eine Aufklärungspflichtverletzung Erfolg. Im Leitsatz wird die Sache so ausgedrückt: „Wird der vom bestochenen Verhandlungsvertreter ausgehandelte Vertrag nicht von diesem, sondern vom Geschäftsherrn selbst abgeschlossen, so liegt zumindest ein Verschulden bei Vertragsschluß gegenüber dem Geschäftsherrn vor, dem die Schmiergeldzahlung verheimlicht wird.“

Ebenso wie im vorhergehenden Fall geht es auch hier um die quantitav am stärksten prosperierende Problematik: der „Lösung vom unerwünschten Vertrag“. Zu Zeiten der richtigen Senatsbesetzung hatte man hier gegen Banken immer gute Karten. Der Gedanke einer Aufklärungspflichtverletzung aus culpa in contrahendo kennzeichnet bereits eine eigenständige Gattung an bankrechtlicher Literatur. Hier findet sich jede Menge „socialistischen Öls“ gegen das Großkapital, und die Sache hat in der Leichtigkeit der Behauptung von Aufklärungspflichten mit diesem Fall frappierendes Anschauungsmaterial gefunden. Der XI. Zivilsenat hatte nämlich bereits kurz zuvor in seiner Entscheidung vom 20. Juni 2000274 keine Bedenken getragen, eine nicht offengelegte Provisionsabrede zwischen einem Vermögensverwalter und einer Bank zum Anlass zu nehmen, letzterer eine Aufklärungspflichtverletzung vorzuwerfen und kurzerhand einem Anleger einen Schadensersatzanspruch von über 1,4 Mio. DM gegenüber der Bank zuzugestehen: Es ginge darum, dem Anleger „wichtige Informationen zur Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit seiner Geschäftspartner zu vermitteln.“ Während der Senat in der Entscheidung vom 20. Juni 2000 einer Bank die „Treuepflicht“ auferlegt, Provisionszahlungen an einen vermittelnden Vermögensverwalter offenzulegen, geht er nun noch einen Schritt weiter und nimmt eine solche Aufklärungspflicht selbst bei einem Vertreter des Bankkunden an. Ein kurzer Blick auf die bisherige dogmatische Behandlung von Schmiergeldkonstellationen offenbart sogleich ernste Wertungswidersprüche; denn diese wurden bisher mit Hinweis auf die Sittenwidrigkeit (§§ 138, 826 BGB; § 134 BGB i. V. m. §§ 12 UWG, 299 StGB) gelöst und es wurde hierbei immer wieder klargestellt, dass die Sittenwidrigkeit einer Schmiergeldabsprache nur unter besonderen Voraussetzungen auch die Sittenwidrigkeit des betroffenen Hauptvertrages nach sich zieht.275 Der XI. Senat konnte nach dieser Lehre im vorliegenden und im vorgenannten Fall eine Sittenwidrigkeit nicht leicht annehmen. Er hätte sich außerdem in Widerspruch zur Entscheidung des VII. Senats gesetzt.276 Die274  XI ZR 349/99, NJW 2001, 962 ff. (zustimmend Tilp, EWiR 2001, 257 gegen Balzer, ZIP 2001, 232). 275 RG, Urt. v. 1. Juni 1932 – V 63/32, RGZ 136, 359; BGH, Urt. v. 17. Mai 1988 – VI ZR 233/87, NJW 1989, 26; Urt. v. 10. Januar 1990 – VIII ZR 337/88, NJW-RR 1990, 442; Urt. v. 18. Februar 2003 – X ZR 245/00, BauR 2004, 337. 276 Urt. v. 6. Mai 1999 – VII ZR 132/97, BGHZ 141, 357; hierzu Gsell, EWiR 2000, 5–6.

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ser hatte nämlich noch einmal dezidiert darauf hingewiesen, dass ein inhaltlich nicht zu beanstandender Hauptvertrag nicht allein aufgrund der Sittenwidrigkeit einer damit zusammenhängenden Schmiergeldabrede nichtig sei, sondern die Ansicht vertreten, dem bestochenen Vertreter fehle für ein solches Geschäft die Vertretungsmacht. Der XI. Senat konnte / ​wollte nun aber auch diese Argumentation des VII. Senats nicht einfach übernehmen; denn im zur Entscheidung stehenden Fall hatte der Kläger schließlich noch selbst den Vertrag geschlossen. Sein Mitarbeiter R hatte den Vertrag also bestenfalls angebahnt. So verbleibt nur, was nach Ansicht des Bankensenats im Zweifel offenbar immer hilft: „zumindest ein Verschulden bei Vertragsschluß“. Dass Schmiergeldzahlungen eine ethisch zu missbilligende Erscheinung des Wirtschaftslebens darstellen und es ein hehres Ziel ist, der Wertung des § 12 UWG an allen nur erdenklichen Stellen zur Realität zu verhelfen, bedarf keiner weiteren Erörterung. Ob und inwieweit aber das Zivilrecht über die inhaltliche Wertung der §§ 134, 138, 826 BGB hinaus dabei hilfreich sein kann und mit Blick auf die immerhin steuerrechtliche ‚Anerkennung‘ dieses sozialen Phänomens277 auch tatsächlich soll, ist eine zumindest sensible Frage. Eine Abgrenzung zwischen legitimer und verwerflicher Provisionsabrede, genannt Schmiergeldzahlung, ist denn auch von vornherein nicht leicht zu finden278 und es ist unter dem Diktum der generellen Verwerflichkeit auch nicht leicht zu erklären, warum der Geschäftsherr einen Anspruch auf das Schmiergeld279 oder umgekehrt der schmierende Vertreter einen Ausgleichsanspruch gegen den Geschäftsherrn280 haben soll. Hier eine einheitliche Linie zu ziehen ist sicherlich begrüßenswert. Dogmatische Wertungen und praktische Konsequenzen dürfen freilich nicht aus dem Blick geraten. Zu einer Schmiergeldabrede gehören nämlich immer zwei. Und zwei Fallgruppen sind hier grundsätzlich zu unterscheiden: Die Provision an den „nur scheinbar neutralen Vermittler“ einerseits und die Provision an den untreuen Vertreter. Während man in jenem Fall sicherlich mit guten Gründen nach einer Durchbrechung der formal scheinenden Relativität der einzelnen Schuldverhältnisse suchen kann,281 droht in diesem Fall ein eklatanter Wertungswiderspruch zu den Regelungen des Vertretungsrechts (§§ 164 ff., 278 BGB). Handelt der ‚Vertretene‘ selbst, so ist zumindest bisher noch niemand auf den Gedanken ge277 Vgl. etwa Littwin, Die steuerrechtliche Abzugsfähigkeit von Provisionen, Schmier‑ und Bestechungsgeldern, BB 1994, 2326; BFH, Urt. v. 26. Januar 2000 – IX R 87/95, NJW 2000, 2918; Urt. v. 16. Juni 2015 – IX R 26/14, DB 2015, 2422. 278 Hierzu nur BGH, Urt. v. 19. Juni 1985 – IVa ZR 196/83, BGHZ 95, 81; Urt. v. 25. Juni 1986 – IVa ZR 234/84, ZIP 1986, 1254; Urt. v. 5. Dezember 1990 – IV ZR 187/89, WM 1991, 645. 279  BGH, Urt. v. 1. April 1987 – IVa ZR 211/85, WM 1987, 781; Urt. v. 30. Mai 2000 – IX ZR 121/99, BGHZ 144, 343. 280  BGH, Urt. v. 26. November 1994 – I ZR 154/74, WM 1977, 229. 281  Hierzu bereits Benedict, Die rechtliche Einordnung des Anlagevermittlers, AcP 204 (2004), 697/726 ff.

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kommen, eine Seite hafte der anderen auf Schadensersatz. Wenn die Schmiergeldfreundschaft auseinander bricht, so mag man die Sittenwidrigkeit konstatieren und bereicherungsrechtlich rückabwickeln. Dass und vor allem warum nun aber die Verantwortung für ein treuwidriges Handeln seines „verlängerten Arms“ (Larenz) allein die andere Seite verantworten soll, ist keinesfalls leicht einzusehen. Die Richtung für eine mögliche dogmatische Beurteilung hat der VII. ZS gewiesen: Bei Schmiergeldzahlungen an den Vertreter handelt dieser als falsus procurator und es greifen die §§ 177 ff. BGB. Akzeptiert man diese Lösung, ist es wenig plausibel, den Vertragspartner schärfer haften zu lassen, wenn der illoyale Vertreter den Vertrag nur ausgehandelt, nicht aber auch unterzeichnet hat. Nimmt der Prinzipal am Ende die Geschäfte doch wieder selbst in die Hand, so verliert schließlich auch die Vermutung, das Verhandlungsergebnis sei durch die „Schmiergeldzahlung“ zu seinen Lasten ausgefallen, deutlich an Überzeugungskraft. Man kann die Sache freilich auch generell so belassen, wie sie in den §§ 164 BGB von der Wertung her grundsätzlich angelegt ist: Demnach liegt das Risiko eines Missbrauchs der Vertretungsmacht beim Vertretenen und den Vertragspartner trifft weder eine Prüfungs‑ noch eine Aufklärungspflicht, ob und wann der Vertreter ggf. seine Befugnisse aus dem Innenverhältnis überschreitet.282 Es ist also auch hier keineswegs so, dass das geltende Recht nicht die passenden Wertungen bereithielte. Und es ist auch bei Provisionen und / ​oder Schmiergeldzahlungen nicht das Leben, das „permanent seine neuen Fälle erfindet und eine Vielfalt schafft, die durch keine noch so perfekte Tatbestandstechnik erfasst werden kann“, sondern Rechtsprechung und / ​oder juristische Gelehrsamkeit leben in der von Hedemann beschriebenen „Bequemlichkeit“ der Generalklausel, um mittels billiger Postulation einer Aufklärungspflicht ein gefühltes Ergebnis zielsicher und ohne Rücksicht auf entgegenstehende gesetzliche Wertungen zu deduzieren. Fassen wir das Problem zusammen: Nicht das Rechtsleben kreiert permanent neue Sachverhalte, die nicht unter altbekannte Rechtsprobleme und historisch gewachsene Lösungen zu subsumieren wären, sondern eine immer neue, bequeme und möglichst freie Bewertung der Fälle verhindert eine eingehende Auseinandersetzung mit der Simplizität oder Vielschichtigkeit der betroffenen Interessen und Wertungen. Köndgens These von der Unbeherrschbarkeit der c. i. c. aufgrund einer bunten Vielfalt der Lebensverhältnisse ist falsch. Es ist der mangelnde Wille in der Rechtswissenschaft, dieses Institut beherrschen und der Rechtsprechung klare Schranken setzen zu wollen, der sich mit der Unbestimmtheit von Generalklauseln beruhigt. Vermutlich hat Jhering auch hier den Punkt getroffen: 282 Auf diese Linie bis zur Grenze der Kollusion hat sich der XI. Zivilsenat wieder orientiert: Urt. v. 14. Juni 2016 – XI ZR 483/14, ZIP 2016, 1428 (Vollmachtsmissbrauch eines Geschäftsbesorgers bei Aufnahme eines Darlehens zur Finanzierung einer Finanzierungsvermittlungsprovision).

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„Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt, und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im Uebrigen von der bisherigen divergiren möge; eine solche Jurisprudenz läßt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen.“283

Nur eine ahistorisch arbeitende Jurisprudenz behauptet anderes und entdeckt dann eine vermeintliche „Vielfalt“ des Lebens immer wieder neu. Mit (Rechts‑) Wissenschaft hat das nichts oder jedenfalls nicht viel zu tun. 3. Vorvertragliche Aufklärungspflichten – Doch etwas Neues? „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Immanuel Kant, 1784284

Nun hat sich allerdings bei der Analyse der soeben besprochenen Fälle gezeigt, dass es offenbar eine Kategorie gibt, die auf das Engste mit dem Institut der culpa in contrahendo und ihrer Anwendung verbunden ist: Aufklärungspflichten. Dass nun aber diese wiederum unauflöslich an den Einzelfall gebunden sind, behauptet nicht (nur) Köndgen, sondern ist ganz allgemeine Auffassung in Rechtsprechung und rechtswissenschaftlicher Literatur.285 Eine der, diesen Zusammenhang klar benennenden, Standardformeln lautete insoweit: „Jedermann darf grundsätzlich davon ausgehen, dass sich sein künftiger Vertragspartner selbst über Art und Umfang seiner Vertragspflichten im eigenen Interesse Klarheit verschafft hat. Eine Aufklärungspflicht besteht nur dann, wenn wegen besonderer Umstände des Einzelfalls davon ausgegangen werden muss, dass der künftige Vertragspartner nicht hinreichend unterrichtet ist und die Verhältnisse nicht durchschaut.“286

Zuweilen genügt der Rechtsprechung mittlerweile freilich auch nur der schlichte Hinweis, dass sich ein Anspruch aus „schuldhafter Verletzung von Aufklärungs283 Jhering,

Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1/16. der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), S. 1. 285  Vgl. nur RG, Urt. v. 19. Oktober 1921, RGZ 103, 47/50: Ob ein „Verschulden bei Vertragsschluß“ vorliege, sei „im wesentlichen Tatfrage“; Urt. v. 7. Juli 1925, RGZ 111, 233/234 f.: Ob eine Aufklärungspflicht nach §§ 123, 242 BGB vorliege, müsse „nach den Verhältnissen des einzelnen Falles beurteilt werden“; BGH, Urt. v. 14. März 2003 – V ZR 308/02, NJW 2003, 1811; Urt. v. 14. Juni 2004 – II ZR 393/02, BGHZ 159, 294; Urt. v. 18. Oktober 2016 – XI ZR 145/14, BGHZ 212, 286; MünchKomm / ​Emmerich (1993), Vor 275 Rn. 78: „Bestand und Ausmaß der Aufklärungspflicht hängen nach dem Gesagten ganz von den Umständen des Einzelfalles ab.“; immer noch nahezu wortgleich ders. in: MünchKomm (5. Aufl. 2007) § 311, Rn 102: „Bestand und Ausmaß der Aufklärungspflichten hängen … von den Umständen des Einzelfalles ab.“ 286  BGH, Urt. v. 15. April 1997 – IX ZR 112/96, NJW 1997, 3230; Urt. v. 6. April 2001 – V ZR 402/99, NJW 2001, 2021; Urt. v. 14. Juni 2007 – III ZR 269/06, WM 2007, 1676; Urt. v. 24. März 2010 – VIII ZR 122/08, WM 2010, 1283. 284 Beantwortung

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pflichten“ ergibt.287 Die Details gehören in den dogmatischen Teil. Hier geht es ausschließlich um die Frage: Sind Aufklärungspflichten tatsächlich eine neue, unbeherrschbare dogmatische Kategorie, die eine differenzierte Kodifikation der c. i. c. unmöglich macht? Aus der rein deskriptiven Beobachterposition (des juristischen Ornithologen288 oder „Zoologen“289) wird man sagen: „Ja, natürlich. Sieh’ doch: Überall in der Literatur und Rechtsprechung jede Menge Aufklärungspflichten!“. Doch es geht nicht um das Phänomen, sondern die Sachfragen, die hinter dem Phänomen stehen: Sind diese seriös mittels Aufklärungspflichten zu lösen? Bereits die soeben einer näheren Betrachtung unterzogenen drei Fälle vermeintlicher Aufklärungspflichtverletzungen stimmen insoweit skeptisch. Und in der Tat, bei genauerem Hinsehen ist es mit den Aufklärungspflichten so eine merkwürdige Sache: „Aufklärung“ ist ein großes, faszinierendes Wort. Die dahinter stehende Idee hat die europäische Gesellschaft umgewälzt, ein ganzes Zeitalter mitgerissen und eine geschichtliche Epoche geprägt. Heute, so scheint es, ist vor allem die Rechtswissenschaft berufen, das Werk der „Aufklärung“ endlich zu vollenden. Mit jeder Zigarettenschachtel und jeder Nuckelflasche wird Aufklärung betrieben, Literatur und Judikatur zu Informations‑ und Aufklärungspflichten sind abundant und unübersehbar. Doch das, was auf den ersten Blick wie eine akribische und detailversessene Fortschreibung einer schicksalsschweren Idee aussieht, ist bei genauerer Sicht die genaue Abkehr von den Idealen einer vergangenen Zeit. Aufklärung war einst „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, und „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ war ihr Wahlspruch. Der Gedanke der Selbstverantwortung stand als Kehrseite der eingeforderten Freiheit so ganz selbstverständlich im Zentrum der philosophischen Debatten des 18. und der Privatrechtsordnungen des 19. Jahrhunderts. Doch das Konzept „wohlgeordneter Freiheit“ stieß, wie gesehen, zusehends auf Kritik. Im 20. Jahrhundert rückte die soziale und kognitive Disposition der Privatrechtssubjekte in das Zentrum der Betrachtung. „Ungleichgewichtslagen“ und „Vertragsparität“ sind die Stichworte bis heute. Die „formale“ Privatautonomie wurde durch eine Vielzahl von Rechtsfortbildungen „materialisiert“, an deren Ende und vorläufigem Zenit zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine lebhafte Diskussion um Aufklärungspflichten geführt wird: Was ist der Grundsatz „pacta sunt servanda“, was ist ein gegebenes Versprechen noch 287  Etwa nur BGH, Urt. v. 29. Juni 2010 – XI ZR 104/08, BGHZ 186, 96 (Aufklärung über unangemessene Höhe einer Vermittlerprovision); 18. Oktober 2016 – XI ZR 145/14, BGHZ 212, 286 (Aufklärung über unangemessenen Kaufpreis bei Immobilienfinanzierung). Diese immer weiter getriebene Verkürzung des Haftungsdogmas passt aus methodologischer Sicht, wie gesehen, zu der finalistischen Vehikel-Funktion der vorvertraglichen Haftungs-Konstruktion bei der „Lösung vom unerwünschten Vertrag“; ausf. hierzu oben § 5 I, 7 I.2.b), c). 288  Zu dieser Perspektive bereits oben § 6 II. 289  Zum Zusammenhang der Begriffsprägung von „juristischer Zoologie“ bei Jhering oben § 7 III.1.b).

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wert? Wann ist es Recht und wann ist es ‚billig und recht‘, dass sich eine Seite von einem Vertrag distanzieren darf, weil die andere Seite sie nicht auf bestimmte Voraussetzungen oder Folgen des Vertrages hingewiesen hat? Wann berechtigt der Wissensvorsprung der einen Seite einen Haftungsanspruch der anderen? Wann und warum wird die Pflicht jedes Einzelnen, sich selbst aufzuklären, zu einer Pflicht des anderen? Auf all diese Fragen gibt es derzeit keine eindeutigen und erst recht keine einhelligen Antworten. Das ist nicht verwunderlich; denn Aufklärungspflichten290 haben ein doppeltes Begründungsproblem: Auf einer ersten Ebene stellt sich die grundsätzliche Frage nach einer Begründung von Aufklärungspflichten als rechtlicher Kategorie überhaupt: Inwieweit ist es recht, einer Privatperson die Pflicht aufzuerlegen, eine andere Person über Sachverhalte ihres zukünftigen Verhaltens aufzuklären (Begründungsproblem i. e. S.)? Erst auf einer zweiten Ebene stellt sich dann das Problem im Detail: Über welche Sachverhalte genau soll aufzuklären sein (Eingrenzungsproblem)? Die gegenwärtige Diskussion bewegt sich überwiegend auf der zweiten Ebene. Die literarischen Bemühungen gelten ganz allgemein einer Kritik an den „Leerformeln“ der Rechtsprechung und einer Konkretisierung der Voraussetzungen für eine Annahme von Aufklärungspflichten. Gleichwohl ist auch hier eine griffige Formel bisher nicht gefunden. Es werden mehr oder weniger plausible Kriterien zu einem mehr oder weniger beweglichen System zusammengestellt291 und / ​oder es besteht Einsicht in die Unmöglichkeit einer formelhaften Erfassung dieses juristischen Phänomens.292 Wenn aber ein Problem offensichtlich unlösbar erscheint, ist es vielleicht hilfreich, den Blickwinkel zu wechseln. Die eigentlich spannende und logisch vorgelagerte Frage nach der Begründung i. e. S. wird nämlich regelmäßig als nicht mehr klärungsbedürftig ausgeklammert.293 Hier liegt ein ernstes Problem: Schaut man aber genauer hin, dann sind (vorvertragliche) Aufklärungspflichten nicht leicht seriös zu begründen und die in Rede stehenden Sachfragen letztlich nur „alter Wein in neuen Schläuchen“. 290 Das ganze Heer von Beratungs-, Informations-, Auskunfts-, Offenbarungs-, Anzeige-, Mitteilungs-, Warn‑ und Hinweispflichten wird hier synonym unter dem Begriff „Aufklärungspflicht“ gefasst. Zur begrifflichen Strukturierung Benedict, Aufklärungspflichten (2006), S.  187/189 ff. 291  Etwa die Ansätze bei Breidenbach, Informationspflichten (1989) und umfangreich Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 567–587: „Bausteine einer Theorie vorvertraglicher Informationsverantwortlichkeiten“. 292  Hierzu nur das Fazit bei Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 1019: „Trotz aller Erkenntnisfortschritte auf nationaler und internationaler Ebene dürfte es allerdings in Gegenwart und Zukunft kaum jemals gelingen, Reichweite und Grenzen vertragsschlussbezogener Aufklärungspflichten endgültig zu fixieren. Wieweit ein Vertragspartner seinem Gegenüber Aufklärung schuldet, hängt nicht zuletzt von den wirtschaftlichen Verhältnissen und gesellschaftlichen Vorstellungen ab, die sich zu einer bestimmten Zeit in einer Rechtsgemeinschaft als Maßstäbe für den geschäftlichen Umgang ihrer Mitglieder herausgebildet haben.“ 293  Zutreffend aber Rehm, Aufklärungspflichten (2003), S. 10: „Die entscheidende Frage (…) ist schließlich aber doch eine andere: Warum sollen Aufklärungspflichten bestehen?“

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a) Dogmatische und metadogmatische Mythen „Bei einem Tauschvertrag sind die Interessen polarisch entgegengesetzt – je unvorteilhafter der Kauf für den Käufer, um so vorteilhafter für den Verkäufer, und umgekehrt. Die Politik eines jeden Teils läßt sich in den Satz fassen: sein Schaden mein Gewinn, niemand kann es mir verargen, daß ich nur für mich, nicht für ihn sorge, jeder hat in diesen Verhältnissen für sich selber einzustehen.“ Rudolf v. Jhering, 1877294 „Nur das sei noch bemerkt, daß … ein strenger Maßstab für die Pflicht zur Aufklärung allein den Prinzipien einer Volksgemeinschaft gerecht wird, in der die Verbundenheit ihrer Glieder das Rechtsgeschäft nicht als Vehikel des Eigennutzes, sondern als geeignetes Mittel zur sachgemäßen Gestaltung des Gemeinschaftslebens erscheinen läßt.“ Hans Dölle, 1943295

Zunächst spielt für das Unterlassen einer ernsthaften Suche nach einer soliden Begründung natürlich die enge dogmatische Verknüpfung der vorvertraglichen Aufklärungspflichten mit dem Rechtsinstitut der culpa in contrahendo eine kaum zu unterschätzende Rolle. Denn wenn die Existenz eines pflichtenbegründenden vorvertraglichen Schuld‑ bzw. Schutzverhältnisses positiv geltendes Recht ist, liegt aus rechtspositivistischer Sicht eben genau hier der hinreichende Grund einer Haftung für Aufklärungspflichtverletzung.296 Der streng an positiven Rechtssätzen orientierte Zivilrechtsdogmatiker fragt dann weniger nach der Fragwürdigkeit der Haftungskonstruktion als solcher, sondern nur noch nach der prospektiven Bestimmung der Haftung im Einzelfall. Man muss sich insoweit denn auch nicht verwundern, dass die Rechtsprechung über Leerformeln und die Betonung des Einzelfalles nicht hinausgelangt ist: Die „Wiederentdeckung“ der c. i. c. und die „Erfolgsgeschichte“ der Aufklärungspflichten sind, wie gesehen, für die deutsche Rechtsdogmatik und die Rechtspraxis unauflöslich miteinander verbunden. Beide haben gleichsam ‚Hand in Hand‘ in Gestalt des Leonhard’schen „Verschulden beim Vertragsschlusse“ (1910) erneut rechtsdogmatischen Boden betreten.297 Gleichwohl und völlig unabhängig von der Frage, wie man sich nun wiederum zum fehlenden Geltungsgrund der c. i. c. positionieren will: Ein rein rechtspositivistischer Hinweis auf die Kodifikation dieses Instituts beinhaltet nicht bereits zwingend eine (positivistische) Rechtfertigung auch von Aufklärungspflichten. Denn einerseits sagen die §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 1, 2 BGB explizit nichts über Aufklärungspflichten und andererseits wurden und  Der Zweck im Recht I (1877), S. 212 f.  Außergesetzliche Schuldpflichten, ZgS 103 (1943), 67/89. 296  Deutlich etwa MünchKomm / ​Emmerich (2007), § 311 Rn. 96: „Die Haftung für die Verletzung von Aufklärungs‑ oder Informationspflichten im Rahmen von Vertragsverhandlungen (§ 311 Abs. 2 Nr. 1) bildet heute den Kern des Rechtsinstituts der c. i. c.“ 297 Oben § 5 II.2. 294 295

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werden ganz unabhängig von der c. i. c. Aufklärungspflichten auch aus §§ 123, 242 BGB (als „Täuschung durch Unterlassen“)298 deduziert. Überhaupt hat man bei der Lektüre von Judikaten zuweilen den Eindruck, dass sich die Kategorie der Aufklärungspflichten bereits von dogmatischen Begründungsbemühungen weitgehend emanzipiert hat und einen allgemein anerkannten Anspruch sui generis generiert.299 Die Möglichkeit einer Aufklärungspflichtverletzung hat sich offenbar bereits zu einem eigenständigen Dogma verselbständigt, für das ein weitergehender dogmatischer Anknüpfungspunkt entbehrlich scheint. Der Hinweis auf vorvertragliches Verschulden oder die Anerkennung der culpa in contrahendo vereinfacht zwar weiterhin die Postulation von Aufklärungspflichten, ersetzt aber noch nicht ihre eigentliche Begründung. Gleichwohl läuft beides weitgehend parallel. Dogmatische Rechtfertigungsversuche, die über den rein positivistischen Hinweis auf die c. i. c. hinausgehen, beschränken sich regelmäßig auf eine Ausdehnung der schon für die c. i. c. herangezogenen Begründungsansätze auch auf Aufklärungspflichten: 1.) das Verschuldens-Prinzip (Haftung für „vorvertragliches Verschulden“); 2.) das Vertrauens-Prinzip (Haftung für „enttäuschtes Vertrauen“); 3.) das Freiheits-Prinzip (Haftung wegen fehlender „Selbstbestimmung“ der anderen Seite) und 4.) das Effizienz-Prinzip (Haftung zur Senkung von „Transaktionskosten“). Dass alle diese zum Teil ausufernd vor‑ und immer weitergetragenen Ansätze zur Begründung der culpa in contrahendo bei genauerem Blick nicht seriös überzeugen, ist bereits ausführlich dargelegt: Die culpa ist weder allgemein noch vorvertraglich eine causa obligationis;300 das Gleiche gilt für die bona fides301; Selbst298  Vgl. etwa nur BGH, Urt. v. 12. Juli 2001 – IX ZR 360/00, NJW 2001, 3331 (Arglistige Täuschung durch stillschweigendes Verhalten und durch Unterlassen bei Abschluss eines Bürgschaftsvertrages); Urt. v. 11. August 2010 – XII ZR 192/08, NJW 2010, 3362 (Arglistanfechtung eines Gewerberaummietvertrages); vgl. auch BGH, Urt. v. 8. März 2017 – 1 StR 466/16, NJW 2017, 2052 (Betrug durch Unterlassen); zu alledem MünchKomm / ​Kramer (2006), § 123 Rn. 17 f. („Täuschung durch Verschweigen“). 299 Vgl. exemplarisch BGH, Urt. v. 29. Juni  – XI ZR 104/08, BGHZ 186, 96: „Schadensersatzanspruch aus schuldhafter Verletzung von Aufklärungspflichten“. Das liegt wesentlich in der Leichtigkeit, bei einem umfassenden Schutzpflichtverhältnis nicht weiter dogmatisch differenzieren zu müssen, ob und warum sich Pflichten aus einem vorvertraglichen oder einem Vertragsverhältnis ergeben. Hierzu schon oben II.2.b); daneben etwa nur: BGHZ 158, 110/113 (Anlagevermittler): „Folgerichtig hat das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten … nur unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluß bzw. wegen einer ihr zur Last fallenden Pflichtverletzung als Anlageberater oder Anlagevermittler in Betracht gezogen.“ Vgl. auch Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 416: „Informationspflichten gehören heute zum gesicherten Kernbestand des Schuldverhältnisses aus Vertragsanbahnung. Hinsichtlich der theoretischen Fundierung und der tatbestandlichen Feinzeichnung bestehen aber nach wie vor tiefgreifende Meinungsunterschiede.“ Eine Diskussion um die Einordnung als vertragliche, vorvertragliche oder deliktische Haftungsregel ist hier offenbar wenig weiterführend; a. A. aber Pohlmann, Aufklärungspflichten (2001), S. 37 ff. 300  §§ 1–5. 301 Insb. §§ 6–7 III.1.

III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände?

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bestimmung basiert faktisch immer auf der Basis unvollständiger Information,302 und aus ökonomischer Sicht geht es vor allem um klare einfache Rechtsnormen, an denen sich effizientes Handeln orientieren kann.303 Es bedarf an dieser Stelle nicht einer neuerlichen oder detaillierteren Auseinandersetzung mit den vorgetragenen rechtsethischen und rechtsökonomischen Argumenten.304 Spannend ist hier allein die mit der jeweiligen Argumentation explizit oder implizit vorgetragene These der historischen Neuheit, die Aufklärungspflichten als eigenständige dogmatische Kategorie rechtfertigen soll. In klassischer Methodologie lässt sich insoweit auch von dem Versuch des Nachweises bzw. umgekehrt der Fragwürdigkeit einer „Lücke“ für Aufklärungspflichten reden. Auch die in dieser Hinsicht vorgetragene rechtsethische Argumentation hängt wiederum sehr eng mit der überpositiven Begründung für das Institut der culpa in contrahendo zusammen. Es geht um die bereits ausführlich besprochene „Materialisierungsthese“, welche die bundesdeutsche Privatrechtswissenschaft seit ihrer Neukonstituierung nach dem 2. Weltkrieg umtreibt,305 im Grunde aber bereits zuvor durch eine soziale Umwertung aller liberalen Wertungen ihren Anfang genommen hat. Der historische Teil dieser These steht im geschichtsphilosophischen Kontext einer steten Fortentwicklung zum „Besseren“, spricht von einer „Ethisierung des Verkehrsrechts“306 und von einer „verfeinerten Verkehrsmoral“307 und zielt damit primär auf eine Evolution im rechtstheoretischen Verhältnis von Recht und Moral bzw. in dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Die diesbezügliche Argumentation wird zuweilen flankiert oder isoliert vorgetragen durch soziologische Aussagen zu einem generellen Wandel  § 7 III.2. III.3.b). 304  Die Details gehören in den dogmatischen Teil; zu Darstellung und Analyse der vorgetragenen Argumente umfassend Fleischer, Informationsasymmetrie (2001); eine komprimierte Fassung hierzu Benedict, Aufklärungspflichten (2006), 187/194 ff. 305 Oben § 7 I.1.b). 306  Ausf. Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 31, 79 ff., 86 ff. jeweils m. w. N. 307 Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 567; zu diesem rechtsethischen Dreh‑ und Angelpunkt, wie gesehen bereits F. Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse (1910), S. 60 f.: „Beim Vertragsschluß ist jede Partei zunächst darauf bedacht, ihre eigenen Interessen zu wahren. Das ist einmal so und ist auch ganz in der Ordnung. Man kann nicht verlangen, daß jeder sorgsam erwägt, ob der Gegner auch zu seinem Rechte kommt. Vom Standpunkt einer sehr feinen Ethik würde man dies von den Parteien fordern können. Aber das Recht geht überall nur von einer mittleren, etwas nüchternen Gesinnung aus.“ In der Rechtsprechung wird dieser Punkt regelmäßig dann betont, wenn eine Zurückhaltung beim Umgang mit Aufklärungspflichten in Rede steht; vgl. etwa die Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats: Urt. v. 13. Juli 1983 – VIII ZR 142/82, NJW 1983, 2493; Urt. v. 16. Januar 1991 – VIII ZR 335/89, NJW 1991, 1223; BGH, Urt. v. 22. Dezember 1999 – VIII ZR 111/99, NJW 2000, 1254/1255: „Bei einem Kaufvertrag besteht … wegen der widerstreitenden Interessen grundsätzlich keine Rechtspflicht des Verkäufers, den Käufer von sich aus über alle Umstände aufzuklären, die für dessen Vertragsentschluß von Bedeutung sein könnten.“ 302

303 § 7

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in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, der einen verstärkten Schutz „benachteiligter Bevölkerungsgruppen“ notwendig mache.308 Nun lässt sich die Problematik um das Verhältnis Recht und Moral (bzw. Recht und Gerechtigkeit) zunächst auch als klassisches rechtsphilosophisches Problem um das Verhältnis von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit begreifen.309 Und in der Tat wird die progressive Haltung in Bezug auf Aufklärungspflichten regelmäßig mit dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit (jedenfalls im Einzelfall) und die Zurückhaltung vielfach mit dem generellen Gedanken des Verkehrsschutzes und der Rechtssicherheit begründet: Die Sicherheit und Leichtigkeit des Geschäftsverkehrs würden leiden, wenn die Beständigkeit vertraglicher Einigungen permanent durch einen Rekurs auf Informationsdefizite gefährdet wäre.310 Dieser Hinweis ist wichtig und richtig. Doch das Verhältnis von Recht und Moral wird hiermit noch keineswegs ausgeschöpft, die eigentliche Tiefe damit noch nicht erreicht. Die Diskussion um das Verhältnis von Recht und Moral ist nämlich so alt, wie die Reflexion über das richtige Verhalten in der Philosophiegeschichte. Doch betrifft diese Debatte erst in zweiter Linie die Diskrepanz zwischen verschiedenen Verhaltensanordnungen konkurrierender Normsysteme („nomologische Differenz“): der des geltenden Rechts, wie es ist (de lege lata) einerseits, und der Vorstellung vom richtigen (gerechten) Recht, als dem Recht, wie es sein sollte (de lege ferenda) andererseits. Ausgangspunkt ist vielmehr die Erkenntnis, dass innere Überzeugung (forum internum) und äußere Handlung (forum externum) grundsätzlich zweierlei sind. Um die ganze Dimension dieses Problems zu erfassen, ist es notwendig sich den klassischen Dualismus von Recht und Gerechtigkeit in seinem historischen Kontext vor Augen zu führen: Es gibt das wahre / ​gerechte transzendental begründete Recht / ​Gesetz (lex aeterna; lex naturae) und das positive / ​zufällige von Menschen gesetzte Recht (das ius positivum = lex humana). Dabei geht es nicht wie in neueren Argumentationen darum, mit dem Hinweis auf ersteres Lücken 308  Skeptisch hierzu schon Rehm, Aufklärungspflichten (2003), S. 154: „Angesichts unverkennbarer wirtschaftlicher und sozialer Fortschritte liegt intuitiv eher der Gegenschluß nahe: Daß nämlich diese Schichten gegenüber dem 19. Jahrhundert an Einfluß, Wohlstand und Bildung gewonnen hätten.“ 309  Man denke hier nur an die klassisch gewordene sog. Radbruch’sche Formel: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ SJZ 1946, 105/107. 310  Hierzu bereits oben § 3 III.1.b); insb. der Einwand gegen Mommsen bei Jhering, culpa in contrahendo, JhJb 3 (1861), S. 12 f.: „Wohin würde es führen, wenn …“; daneben zuletzt noch Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 59: „Die Freiheit des Geschäftsverkehrs würde gefesselt und niemand schlösse mehr Verträge ab, wenn er fürchten müsste, dass sein Gegenüber ohne größere Mühe eine Vertragsauflösung erstreiten könnte.“

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und Fehler beim zweiten aufzuzeigen, sondern um eine notwendige Ergänzung der beiden Normensysteme. Denn die lex humana zielt auf das äußere Verhalten der Menschen zueinander, das göttliche Recht hingegen auf die innere Gesinnung. Die Anforderungen an das menschliche Recht können bescheidener ausfallen, weil sich 1.) eine gemeinsame ethische Grundüberzeugung auch im äußeren Verhalten niederschlägt und 2.) der Glaube an eine jenseitige Vergeltung des weltlichen Tuns und Trachtens die Anforderungen an die diesseitige Vergeltung deutlich entspannen. Mit dem Fortfall Gottes als moralischer Instanz („Gott ist tot!“) bricht nun freilich das gemeinsame ethische Fundament der Gesellschaft weg: Das positive Recht übernimmt Aufgaben, die es zuvor nicht zu lösen hatte, und die es nach Ansicht mancher auch gar nicht lösen kann. Die epochale Grundlegung dieser abendländischen Tradition findet sich bereits in dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament klar thematisiert: „Geschrieben steht (…), ich aber sage euch (…)“. Neben das förmliche, den äußeren Vollzug in den Mittelpunkt stellende Mosaische Gesetz tritt der radikale Appell an die innere Gesinnung als dem eigentlichen, dem höchsten Gebot: Nächstenliebe. Das äußere gesetzmäßige Verhalten ist das eine, die ethische Gesinnung ein anderes. Von ihr aber hängt alles ab. In dieser Tradition, von den „Patres Ecclesiae“ (Ambrosius, Augustinus; v. Aquin) über die Natur‑ und Vernunftrechtslehre (Molina, Lessius, Grotius, Pufendorf) bis zur klassischen Unterscheidung zwischen „Legalität“ und „Moralität“ in der praktischen Philosophie Kants, steht (bzw. stand) die Grundwertung des BGB: Das bürgerliche Recht kann nur die Freiräume für sittliches Verhalten gewährleisten, nicht das sittliche Verhalten selbst. Diese Tradition kann man mit vordergründigen Erwägungen („formale Freiheitsethik“; „Willensdogma“ u. ä.) leicht abzutun suchen. Die Gründe, die jene traditionelle Rechtstheorie getragen haben bestehen gleichwohl bis heute: 1.) Auf innere Tatbestände kann das Recht nicht wirken. Hier liegt das Problem aller Wohlfahrtstheorien, die in säkularer Ablösung des moralischen Gebots der Nächstenliebe nunmehr „Gemeinschaft“, „Kooperation“ oder „Solidarität“ als sanktionsbewehrte Rechtsprinzipien postulieren311 und entsprechend die Parteien eines Vertrages als „Rechtsgenossen“ und Vertragspartner zwangskorporieren312. Nimmt man den Gedanken einer in diesem Sinne gerechten Ordnung umfassender Moralität tatsächlich ernst, so kann diese aber niemals auf Zwang gegründet sein. Kooperation; Solidarität; Altruismus kurz: Nächstenliebe lässt sich nicht erzwingen. Man mag annehmen, wenn nur die gerechte Rechtsord311 Insb. in Anlehnung an die Critical Legal Studies: vgl. insb. Kennedy, Form and Substance in Private Law Adjudication, 89 Harv. L. Rev. (1976), 1685; Unger, Law in Modern Society (1976), 205: „Solidarity is the social face of love; it is concern with another as a person rather than just respect for him as a bearer of formally equal rights and duties and admiration for his gifts and achievements.“ Zu dieser akademischen Strömung als Erben der Freirechtsbewegung Benedict, Rechtskritik, Rechtstheorie 40 (2009), 337/365 ff. 312 Oben § 7 I., II.2.c).

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nung geschaffen sei, werde sich auch die entsprechende Tugend einstellen (klassisch: Rousseau und die links‑ oder rechtshegelianische Geschichtsphilosophie); doch zeigt ein Blick auf die Geschichte, dass mit der staatlich verordneten Auflösung der Trennung von Recht und Moral sehr leicht die Tendenz zu totalitären Strukturen verbunden ist.313 Es gibt eben keine erzwungene Tugend. Moralität folgt aus der ethisch reflektierten Gesinnung und der Einsicht in die Richtigkeit der normativ geforderten Handlung. Ein wirklich solidarisches Gemeinwesen kann daher nur auf Freiheit gegründet sein. Das war die Quintessenz, die Kant in seiner auf die Autonomie des Einzelnen aufbauenden praktischen Philosophie gezogen hat. Das war die Quintessenz für Savigny aus seinen philosophischen Lehrjahren, die sich in seinem System klar formuliert findet. Und das war schließlich auch die rechtsethische Grundstimmung des BGB. 2.) Innere Tatbestände kann das Recht nicht fassen. Klassisch formuliert Thomas v. Aquin: „Der Mensch kann Gesetze erlassen über das, was er zu beurteilen vermag. Dem Urteil des Menschen unterliegen jedoch nicht die Regungen des Innern, die verborgen bleiben, sondern nur die äußeren Handlungen, die sichtbar in Erscheinung treten.“314

Hier schließt sich dann der Bogen zum Problem der Rechtssicherheit, aber auch zu Jherings Abneigung gegen abstrakte Theorie, seine Einsicht in die Notwendigkeit der Ausformulierung „objektiven Unrechts“ und seine Wendung zur pragmatischen Jurisprudenz:315 Wo sich die entscheidungserheblichen Tatbestände in das Geistige verflüchtigen, da beginnt das blinde Herumtappen richterlicher Willkür.316 Das methodische Grauen vor Darlegung und Nach Exemplarisch für die NS-Zeit oben § 6 I.3., II.2.  Summa Theologica I–II, qu. 91, art. 4. Daneben etwa noch Saint German, Doctor and Student (1631): „… of the intent inward of the heart man’s law cannot judge; and that is one cause why the law of God is very necessary, that is to say, to judge inward things“, zitiert bei Simpson, A History of the Common Law of Contract (1975), S. 390 f. mit der Klarstellung: „No action, whether at common or canon law, ought therefore to be governed by a rule requiring one to judge what could not be judged.“; ganz in diesem Sinne steht auch die von William Story (A treatise on the law of contracts not under seal, 1844) formulierte Sentenz zum Verhältnis von Moral und Rechtspraxis: „The principles of natural justice and social morals do, indeed, go further; and require the most scrupulous good faith, candour, and truth in all dealings whatever. But courts of justice generally find themselves compelled to assign limits to the exercise of their jurisdiction (…).“ (zit. auch bei Fleischer, Informationsasymmetrie, 2001, S. 64); ausf. zum Problem der notwendigen „Objektivität“ des Vertragsrechts Benedict, Consideration, RabelsZ 69 (2005), 1 ff. 315  Ausf. oben § 1 II.2.a), § 2, § 4 III.3.b). 316 Jhering, Geist des römischen Rechts I (4. Aufl. 1878), S. 53: „Je allgemeiner und innerlicher die Voraussetzungen und Folgen eines Rechtssatzes bestimmt sind, desto schwieriger die concrete Ermittelung derselben; je concreter und äußerlicher, desto leichter. Diese Leichtigkeit der concreten Erkennbarkeit des Abstracten ist aber praktisch wichtiger als die logische Vollendung des abstracten Inhalts. (…) Denn die Wichtigkeit dieser … Eigenschaft (der formalen Realisirbarkeit) liegt nicht bloß darin, daß die Operation der Anwendung des Rechts erleichtert und vereinfacht wird, also auch beschleunigt werden kann, sondern daß die gleichmäßige Ver313 314

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weis innerer Tatbestände kann nur eine Jurisprudenz verlieren, die vor lauter makrojuristischer Theorie den schlichten Blick für die Problematik der Wahrheitsfindung verloren hat. Es ist insoweit eine spannende dogmengeschichtliche Ironie, dass Aufklärungspflichten zunächst von der Rechtsprechung postuliert wurden, um auch das forum internum justiziabel zu machen,317 als allgemeine Kategorie nun aber der Rechtsfindung die sehr schwierige Aufgabe zuweisen, jede Menge innere Tatbestände zu ergründen: 1.) Das Wissen der einen Seite; 2.) das (Nicht‑)Wissen der anderen Seite; 3.) Das Wissen der einen Seite um das (Nicht‑)Wissen der anderen Seite; 4.) Das Wissen der einen Seite um das Ziel (die Handlungsmotive) der anderen Seite; 5.) Das Wissen der einen Seite um die kausale Verknüpfung von Information und Vertragsziel (Kenntnis von der Erheblichkeit der Information), und schließlich ganz zu schweigen vom Wissen der aufklärungspflichtigen Seite um ihre Aufklärungspflicht.318 Es ist kein Wunder, dass hier immer mit Beweislastumkehr und Fiktionen gearbeitet werden muss, wenn man nicht ohnehin den Boden einer Aufklärung über „präsentes Wissen“ verlässt und mit dem Gedanken einer ‚fahrlässigen‘ Aufklärungspflichtverletzung das Beweisproblem mit der meist stillschweigenden Postulation einer Informationsbeschaffungspflicht319 oder eben dem Schlaubergerkonjunktiv („hätte

wirklichung des Rechts dadurch gesichert wird.“; ders., Geist des römischen Rechts III (4. Aufl. 1888), S. 53: „Der Zivilrichter kann nur diejenigen Interessen schützen, welche die Gestalt fester Körper an sich tragen; wo sie diese Form abstreifen und in den luftförmigen Zustand übergehen, sich ins völlig Unbestimmte verlieren, hört seine Macht auf – man kann Wolken nicht in einen Sack oder eine Kapsel fangen (…).“ 317 Exemplarisch: RGZ 48, 282/284: Das Berufungsgericht wollte durch Eid festgestellt wissen, „ob, oder ob nicht der Beklagte „die Absicht gehabt habe, als Leiter des G.’schen Bureaus auch für fremde Rechnung Konstruktionen auszuarbeiten.“ Wenn dann „durch Verweigerung des Eides das Vorhandensein dieser Absicht festgestellt wird, so will das Berufungsgericht daraus entnehmen, daß das Einverständnis der Kläger mit dem Austritte des Beklagten aus der Gesellschaft durch dessen Betrug herbeigeführt worden sei (…).“ Die prozessuale Aufklärung innerer Tatbestände mittels „Eid“ ist dann der letzte Versuch, die (ggf. noch religiös getragene) Moralität zum Gegenstand des Rechts zu machen. Das Reichsgericht hat es mit der Revision die Ansicht abgelehnt, dass durch Ablehnung des Eides irgendetwas für einen Betrug erwiesen sei: Entscheidend sei allein, dass jemand durch Vertrag rechtlich gebunden sei. Der damit verknüpfte Rechtszwang zur Vertragserfüllung sei „dasjenige, was der Erwartung der künftigen Vertragserfüllung allein den festen Hintergrund verleiht, während die innere Absicht des rechtlich Gebundenen, seiner Verpflichtung nachzukommen, in jedem Zeitpunkte wechseln kann und deshalb keine geeignete Unterlage für die Entschließung seines Mitkontrahenten abgiebt.“ 318  Vgl. hierzu nur etwa die Absurdität im „Druckereipachtfall“: Zurückverweisung an das Berufungsgericht mit der Maßgabe, den genauen Zeitpunkt des für den Abbruch von Vertragsverhandlungen ursächlichen Gesinnungswechsels festzustellen (oben III.2.a)). In der zweiten Kindertee-Entscheidung (BGH, NJW 1994, 932): Zurückverweisung zur Parteivernehmung über ihr eigenes Wissen; aber auch die Klarstellungen in BGH, NJW 1998, 3192, 3194 (Problem der „Kumulation subjektiver Tatbestände“). 319  Vgl. etwa: BGH, Urt. v. 24. März 1977 – III ZR 198/74, NJW 1978, 41/42: „Eine Aufklärungspflicht bestand allerdings nicht hinsichtlich solcher Gefahren, die die Beklagte selbst weder kannte noch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt erkennen konnte. Davon konnte

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wissen können“)320 gleich normativ beseitigt. Das Problem dieser Konstruktion haben wir bereits bei Leonhard kennen gelernt. Seriöser wird die Haftungskonstruktion dadurch nicht; zumal hier immer die grundlegende Frage bleibt, warum nicht die andere Seite immer auch „hätte wissen können“ (Einwand der Culpacompensation)321. Exemplarisch für den zweiten, den rechtsökonomischen Mythos mag eine Aussage von Holger Fleischer stehen: „Nicht zu verkennen ist allerdings, daß das Bürgerliche Gesetzbuch auf diese moderne Betrachtungsweise, welche die soziale Nützlichkeit und den Marktwert von Informationen betont, nur höchst unzulänglich eingestellt ist (…)“322

Diese Behauptung überrascht bereits deshalb, weil Fleischer zuvor in einem beeindruckenden dogmengeschichtlichen Teil eine umfassende Diskussion der rechtlichen Beurteilung von Informationsdefiziten ausführlich dargelegt hat. Die Existenz von Informationsasymmetrien und die Irrtumsanfälligkeit von menschlichen Entscheidungen und Rechtsgeschäften waren ganz offensichtlich keine neu entdeckten Probleme der modernen Privatrechts‑ oder gar Wirtschaftswissenschaft, sondern seit Beginn menschlichen Denkens Gegenstand der Reflexion über gerechtes Handeln im Privatrechtsverkehr. Entsprechend beginnt Fleischer denn auch seine Darstellung der modernen Informationsökonomik mit dem Satz: „Während das Privatrecht seit mehr als zweitausend Jahren über Informationsprobleme nachdenkt, setzte die Aufarbeitung des Phänomens durch die Wirtschaftswissenschaft vergleichsweise spät ein.“323 sie aber nur ausgehen, … wenn sie die geologischen Verhältnisse sorgfältig überprüft und diese Überprüfung ergeben hätte, daß keine Gefahr bestand.“ 320  Vgl. etwa nur die Rechtsprechung des BGH zur Aufklärungspflicht von Banken zu möglicherweise überteuerten Immobilien: BGH, Urt. v. 29. April 2008 – XI ZR 221/07, ZIP 2008, 1421; 18. Oktober 2016 – XI ZR 145/14, BGHZ 212, 286: grundsätzlich müsse ein „Kreditinstitut nur präsentes Wissen … offenbaren. Das erfordert grundsätzlich positive Kenntnis“. Eine Bank sei „mithin nicht verpflichtet, sich durch eigene Nachforschungen hinsichtlich etwaiger Risiken des zu finanzierenden Vorhabens einen Wissensvorsprung zu verschaffen.“ Ausnahmsweise stehe aber „die bloße Erkennbarkeit von aufklärungspflichtigen Tatsachen … der positiven Kenntnis dann gleich, wenn sich diese einem zuständigen Bankmitarbeiter nach den Umständen des Einzelfalls aufdrängen musste; er ist dann nach Treu und Glauben nicht berechtigt, seine Augen vor solchen Tatsachen zu verschließen.“ 321  Exemplarisch etwa BGH, Urt. v. 22. Dezember 1999 – VIII ZR 111/99, NJW 2000, 1254: „Es bestand für die Beklagte keine Verpflichtung, den Kläger auf den erheblich geringeren Rücknahmepreis der Münzen, über den sich dieser selbst hätte jederzeit informieren können, vor Vertragsschluß ausdrücklich aufmerksam zu machen.“; ausf. zum Grundgedanken der Culpacompensation oben § 3 III. 322 Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 196 f; in diesem Sinne bereits Adams, Irrtümer und Offenbarungspflichten im Vertragsrecht, AcP 186 (1986), 453: „Die ‚Information‘: Von der Bruchbude zur Bel Etage“. Dabei hatte jedenfalls noch George J. Stigler, The Economics of Information, Journal of Political Economy 69 (1961), 213–225 bescheiden von einem „slum dwelling in the town of economics“ gesprochen und in der Tat nichts zur Reflexionsdichte im Recht, schon gar nicht zur Berücksichtigung von Informationskosten im BGB gesagt. 323 Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 93.

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An dieser Aussage darf festgehalten werden: „Wissen ist Macht“ ist nicht nur ein seit 400 Jahren bekannter und markanter Ausspruch von Francis Bacon, sondern eine Aussage, die im Bewusstsein der Menschheitsgeschichte von ihrem Beginn an in ihrer „Liebe zur Weisheit“ (Philosophie) immer eine zentrale Rolle gespielt hat. Der abendländische Schöpfungsmythos zur Freiheit des Menschengeschlechts beginnt sicherlich nicht zufällig mit der Frucht vom „Baum der Erkenntnis“. Und schon die ebenfalls im Buch Genesis mitgeteilte Josefs-Geschichte lieferte seit jeher anschaulichen Stoff sowohl für Fragen vorausschauender Kameralistik als auch für den juristischen Diskurs zu Offenbarungspflichten. Im vorliegenden Zusammenhang mag es genügen, an die von Aristoteles in seiner „Politik“ mitgeteilte Anekdote über Thales v. Milet zu erinnern:324 Dieser wurde von den Miletern ob seiner Armut und unnützen philosophischen Studien verhöhnt und hat daraufhin den Beweis des Gegenteils erbracht, indem er mittels seiner astronomischen Beobachtungen eine ergiebige Olivenernte voraussehend noch im Winter alle Ölpressen mit dem wenigen Geld, das er hatte, für einen geringen Betrag pachtete, um diese dann, als die rechte Zeit gekommen war und plötzlich viele Ölpressen benötigt wurden, wieder teuer weiter zu verpachten. Aristoteles schließt mit der Bemerkung, „dass es für den Philosophen leicht ist, reich zu werden, wenn er nur wolle, dass er aber darauf keinen Wert lege.“ Weisheit hat natürlich mit Wissen zu tun und ist eben nicht etwa aus Einfallslosigkeit eine der Kardinaltugenden bei den Weisen bis auf den heutigen Tag.325 Das in einer entfesselten ökonomisierten Welt aktuell in den Mittelpunkt gerückte eindimensionale Streben nach „Vorauswissen“ („Be the first to know!“) und der damit verknüpften Neuentdeckung der „Information“ als ökonomischem Gut, kann daran gar nichts ändern. Das Fazit bei Fleischer zu den informationsökonomischen Errungenschaften im Verhältnis zum rückständigen BGB („Auch dort [im Bürgerlichen Recht] wird man sich auf Dauer der Einsicht nicht verschließen können, daß Information eine wertvolle Ressource ist, deren unentgeltliche Offenlegung von dem besser informierten Vertragspartner nicht ohne weiteres erwartet werden kann.“)326 ist jedenfalls so nicht haltbar. Es wäre schon recht erstaunlich, wenn von dem mehr als zweitausend Jahre währenden Nachdenken über „Informationsprobleme“ sich gar nichts mehr im BGB sollte finden lassen:

 Aristoteles, Politik I, 11 (1259a 5). den Klassikern des ökonomischen Denkens gehören denn auch erstaunlich viele Philosophen: Joseph A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 TBde. (1965, Neuausgabe 2007); Barry Gordon, Economic Analysis before Adam Smith: Hesiod to Lessius (1975); Charles Earl Staley, A History of Economic Thought – from Aristotle to Arrow (1989); Joachim Starbatty (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, 2 Bde, (1989); Brandon Dupont, The History of Economic Ideas: Historical Thought in Contemporary Context (2017). 326 Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), S. 196 f. 324

325 Zu

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b) Informationsprobleme – Alter Wein in neuen Schläuchen „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“ Immanuel Kant, 1784327

(1) Information und Geschäftsfähigkeit. Der Gedanke der In-Formation in ihrem originären sprachlichen Sinn spielt bereits eine ganz zentrale Rolle für den Gedanken der Geschäftsfähigkeit. Denn bei Information geht es ganz eigentlich um Unterweisung und Bildung: Jemanden zu in-formieren bedeutet insoweit ihn in-Form bringen, d. h. ihn (aus‑) bilden.328 Es gehört zu den Grundirrtümern der modernen Freiheitshypothese, Autonomie und Information kurzer Hand miteinander in Verbindung und Abhängigkeit zu bringen.329 Der entscheidende Aspekt der Autonomie ist eben nicht der Grad an Informiertheit, weil (positive) Freiheit (und nichts anderes ist Autonomie) nur bedeutet, eine Kausalkette von selbst anzufangen. Bei Information geht es nicht um eine Quantität (von Informationen), sondern, wie bei der Bildung, um eine Qualität.330 Den Mindeststandard an Information kennzeichnet also nicht die Autonomie, sondern die Geschäftsfähigkeit als normativer Begriff für die Fähigkeit zur juristisch relevanten Selbstbestimmung. Dass nun ausgerechnet die Geschäftsfähigkeit mit der „Volljährigkeit“ zusammenfällt ist dementsprechend natürlich kein Zufall, sondern Kennzeichen einer Vorstellung davon, dass eben zu diesem Zeitpunkt der Durchschnittsbürger seine Durchschnittsausbildung und mithin die für das Geschäftsleben erforderliche Grund-In-Formation besitzt. Wenn dem heute nicht mehr so ist, dann liegt das ganz sicher nicht an zu wenig, sondern zuviel (vermutlich überflüssiger) Information (information overload). Es ist daher auch gar kein Zufall, dass etwa Verbraucher als „besondere Spezies des vermindert Geschäftsfähigen“ bezeichnet werden oder das Problem der Aufklärungspflichten durchaus mit dem Problem der Geschäftsfähigkeit in Verbindung gebracht wird.331 Die  Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), S. 1. lat. Begriff „Informatio“ bedeutet auch schlicht „Bildung“ durch Unterweisung, Belehrung, Unterricht. 329  Ausf. oben § 7 III.2. 330 Ebenso, wie es ursprünglich im Deutschen keinen Plural für „Bildung“ (jetzt nur noch für „Bilden“) gab, kennt weder die lateinische noch die englische Sprache originär einen Plural von informatio / ​information. 331 Vgl. etwa die Ideen einer „Börsentermingeschäftsfähigkeit“, oder allgemeiner einer nur „relativen“ Geschäftsfähigkeit bzw. einer „partiellen Geschäftsunfähigkeit“; vom Standpunkt einer idealistischen Vorstellung von Selbstbestimmung wird das freilich überwiegend kritisch gesehen, vgl. etwa nur: Grunewald, AcP 190 (1990), 609/614: Dass bestimmte Personen als Ver327

328 Der

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Debatte um Aufklärungspflichten im Privatrecht dreht sich so bereits weitgehend um Symptome, deren gesellschaftliche Ursachen durch entsprechende zivilrechtliche Heilungsversuche nicht nur nicht erreicht, sondern sogar noch juristisch sanktioniert werden. Man darf diesen Zusammenhang auch nur nicht allzu deutlich bedenken, weil es dann gar nicht zusammenpasst, dass der Bürger in einer Demokratie zwar seine privaten Angelegenheiten nicht – die öffentlichen aber sehr wohl als „Souverän“ soll wahrnehmen können.332 Darüber hinaus: Aufklärungspflichten setzen dort ein, wo die durchschnittlich zu erwartende oder die individuelle Bildung fehlt,333 und sie sind so gleichsam Kennzeichen einer speziellen „Fortbildung“ für bestimmte komplizierte Geschäftsbereiche. Eben hier setzt nun aber der Gedanke einer Spezialisierung und einer Arbeits‑ und Wissensteilung seit jeher an; denn es wurde und wird von niemandem erwartet gleichsam alle „Künste“ zu beherrschen. Es wird aber mit der Kategorie der „Geschäftsfähigkeit“ von jedem erwartet einzusehen, wann er der Hilfe und Kenntnis anderer bedarf, und dass er die Fähigkeit besitzt, sie sich mittels vertraglicher Kooperation zu verschaffen. Dass nun aber jede rechtsverbindliche Inanspruchnahme fremder Dienste im Privatrechtsverkehr grundsätzlich nur gegen Entgelt zu haben ist, ist dem BGB schwerlich fremd. Der Tauschverkehr basiert seit der Antike auf dem Synallagma, dem Gedanken der Gegenseitigkeit: dem onerösen Vertrag.334 Denn dass sich auf das Motiv der Uneigennützigkeit (Generosität / ​Unentgeltlichkeit) „das System des Verkehrs nicht bauen läßt, ist so einleuchtend, daß darüber kein Wort verloren werden braucht.“335

tragspartner für bestimmte Geschäfte ausscheiden, weil sie nicht aufgeklärt werden könnten, widerspreche der allgemeinen Geschäftsfähigkeit. Und wenn Fleischer (Informationsasymmetrie, 2001, S. 425 f.) vorschlägt, „allgemeine Grundkenntnisse“ vorauszusetzen, dann ist das im Grunde nichts anderes als der Versuch, Geschäftsfähigkeit neu zu definieren. 332 Kritisch zu diesem Bruch in der Bewertung der öffentlichen und privaten Angelegenheiten auch schon Bydlinski, Das Menschenbild des ABGB (1999), S. 119/121 f.: „Die Demokratie mit ihrem gleichen Wahlrecht beruht offenbar auf der Vorstellung, daß alle – erwachsenen und vollsinnigen – Menschen über eine zureichende und insoweit gleiche Fähigkeit und daher Legitimation verfügen, über die gemeinsamen öffentlichen Angelegenheiten mitzuentscheiden. Starke Tendenzen etwa des Arbeitnehmer-, des Mieter‑ und des Verbraucherschutzes im geltenden Recht setzen dagegen ersichtlich voraus, daß in bestimmten Situationen viele Menschen unfähig sind, sogar ihre eigenen Angelegenheiten frei und ihren Interessen gemäß wahrzunehmen … was zu einem häufig übertriebenen ‚Rechtspaternalismus‘ führt.“ 333 So spricht etwa: BGH, WM 1989, 126, 128 vom „juristisch und kaufmännisch nicht vorgebildeten Kunden“. 334  Ausf. hierzu Benedict, Das Versprechen als Verpflichtungsgrund? RabelsZ 82 (2008), 302. 335 Jhering, Zweck im Recht I (1877), S. 107.

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(2) Aufklärung und § 675 Abs. 2 BGB (§ 676 BGB a. F.).336 Ausgehend von dem in § 675 Abs. 2 BGB niedergelegten Grundsatz sind Rat und Empfehlung grundsätzlich unverbindlich und es besteht bei ihrer unentgeltlichen Erteilung keine Haftung. Um die Schlüsselrolle dieser Vorschrift für Begründungsversuche zu einer Informationshaftung (resp. Begründungsversuche für Aufklärungspflichten) hinreichend deutlich zu erfassen, ist es wichtig, sich zwei Gesichtspunkte vor Augen zu führen: 1. „Rat“ und „Empfehlung“ sind als „wertende Konjunktive“337 Ausdruck einer normativ in die Privatautonomie eines anderen eingreifenden Kategorie. Der Regelungsgehalt des § 675 Abs. 2 BGB beinhaltet mithin erst recht wertungsfreie Indikative (bloße „Auskünfte“ und Informationen) und er erfasst erst recht das Unterlassen von Erklärungen überhaupt. D. h.: Es besteht grundsätzlich keine Haftung für falsche Auskünfte und es besteht erst recht keine Haftung für Schweigen. 2. § 675 Abs. 2 BGB erfasst natürlich nur den unentgeltlichen Rat, weil demgegenüber die Entgeltlichkeit immer Ausdruck einer besonderen vertraglichen Abrede („Vertragsverhältniß“) ist. Man kann § 676 BGB a. F. ohne Übertreibung als den Zentralparagraphen der „Erklärungshaftung“ bezeichnen, und es ist deutlich zu sehen, dass diese Vorschrift in ihrer aktuellen Fassung und Konkurrenz zur c. i. c. nur noch eine überflüssige narrative Norm darstellt. Dabei wäre es sinnvoll, sich die hinter ihr stehenden Gründe noch einmal deutlich vor Augen zu führen; denn sie besitzen offensichtlich aktuelle Gültigkeit: 1. In ökonomischer Perspektive: Wissen ist ein Handelsgut. Informationsbeschaffung, Expertise usw. ist mit Aufwand verbunden, und daher im Regelfall nur entgeltlich – und das bedeutet mittels Vertrag – zu erwerben. In verschiedenen Standesrechtsordnungen ist es daher sogar explizit untersagt, unentgeltlich oder etwa „untertariflich“ tätig zu werden. Die unentgeltliche Information ist daher immer mit besonderer „Vorsicht zu genießen“ und ihr Empfänger weniger schutzwürdig;338 denn auf sie besteht kein Anspruch.339 336  „Wer einem Anderen einen Rath oder eine Empfehlung ertheilt, ist, unbeschadet der sich aus einem Vertragsverhältniß oder einer unerlaubten Handlung ergebenden Verantwortlichkeit, zum Ersatze des aus der Befolgung des Rathes oder der Empfehlung entstehenden Schadens nicht verpflichtet.“ Zu dieser Grundnorm der Erklärungshaftung ausf. oben § 3 III.3. 337 Anders als „Auskünfte“ oder „Informationen“, die reine Sachurteile und mithin „wertfreie Indikative“ sind, beinhalten „Rat“ und „Empfehlung“ bereits ein Werturteil zur prospektiven Handlung. Zur Terminologie Benedict, Aufklärungspflichten (2006), S. 187/190 f. 338 Die „Schwäche“ unentgeltlicher Leistungen ist im BGB bekanntlich Prinzip. 339  In diesem Sinne dezidiert: Fleischer (o. Fn 3), 281 ff.: „Schutz vor der Entwertung eigener Informationsanstrengungen“; und bei Rehm (o. Fn. 6), 235 ff., wird der „Entgeltgedanke“ zum Dreh‑ und Angelpunkt für Aufklärungspflichten.

III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände?

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2. Aus dogmatischer Perspektive (Privatautonomie): Wer gleichwohl einen unentgeltlichen Rat erhält, ist deshalb nicht von seiner eigenverantwortlichen Reflexion über den entsprechenden Gegenstand suspendiert. Der Gedanke einer autonomen Entscheidung steht auch bei Befolgung des Rates im Vordergrund, d. h. Rat und Empfehlung wirken aus normativer Sicht nicht heteronom, sie tangieren die Selbstbestimmung nicht, weil es dem Empfänger frei steht, einen Rat anzunehmen, einer Empfehlung zu folgen, einer Auskunft zu glauben oder eben eine Information zu nutzen bzw. es sein zu lassen. 3. Aus der Perspektive der Leichtigkeit des Verkehrs (Verkehrsschutz): Schließlich stand die Konsequenz einer allgemeinen Haftung für Erklärungsfahrlässigkeit auch mit Blick auf die Leichtigkeit des Geschäftsverkehrs deutlich vor Augen. Wir erinnern uns an die Warnung Jherings: „Wohin würde es führen, wenn Jemand in außercontractlichen Verhältnissen schlechthin, wie wegen dolus, auch wegen culpa lata in Anspruch genommen werden könnte! Eine unvorsichtige Äußerung, die Mittheilung eines Gerüchts, einer falschen Nachricht, ein schlechter Rath, ein unbesonnenes Urtheil, … kurz, alles und jedes würde bei vorhandener culpa lata trotz aller bona fides zum Ersatz des dadurch veranlaßten Schadens verpflichten, und die act. de dolo würde in einer solchen Ausdehnung zu einer wahren Geißel des Umgangs und Verkehrs werden, alle Unbefangenheit der Conversation wäre dahin, das harmloseste Wort würde zum Strick“.340 Im Verkehrsschutz lag, wie gesehen, ein wesentlicher Gesichtspunkt für das „Vorsatzdogma“ der Erklärungshaftung im BGB.341 Und einer Ausweitung auf einfache Fahrlässigkeit stand dann zweitens aus guten Gründen die „Culpacompensation“ entgegen:342 (3.) Culpa und Informationsasymmetrie Das Wissens‑ und Informationsproblem ist dann in der Tat vor allem ein Problem der culpa (Fahrlässigkeit). Inhalt der culpa ist bekanntlich der Vorwurf, etwas nicht zu wissen, obwohl man es hätte wissen müssen, und der Grad des Verschuldensvorwurfes (zwischen culpa levissima und culpa lata) variiert mit dem jeweils vorauszusetzenden durchschnittlichen Kenntnisstand. So lautet der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit (culpa lata) bekanntlich: „non intelligere, quod omnes intelligunt“.343 Der Verschuldensvorwurf erfasst dabei aber nicht nur das (Nicht‑)Wissen von Tatsachen, sondern auch die praktische Umsetzung und Anwendung des präsenten Wissens in Bezug auf das eigene Verhalten, das Denken: „Auch mangelhaftes  Jhering, culpa in contrahendo, JhJb 4 (1861), 12 f. § 3 III.1. 342  Oben § 3 III.2. 343  Hasse, Die Culpa des römischen Rechts (1838), 111: „Das Merkmal der culpa lata ist der Vorwand, nicht zu wissen, was alle wissen, nicht zu sehen, was jedermann sieht.“ 340

341 Oben

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Denken begründet für denjenigen, der in der Lage war, besser zu denken, wenn er seinen Geist nur hätte anstrengen wollen, den Vorwurf der Schuld, der culpa der römischen Juristen, der Denkfaulheit!“.344 Der Gedanke der Selbstverantwortung für das eigene Wissen und Handeln in Gestalt der culpa ist damit natürlich nicht nur für die Erben der Aufklärung, sondern auch und besonders für die Beurteilung von Aufklärungspflichten sehr zentral.345 Für diese bedarf es einer besonderen Begründung, die allein die culpa nicht – d. h. auch nicht die culpa in contrahendo – liefern kann. Im Gegenteil: Wer die culpa als Zurechnungskriterium für Verantwortung ernst nimmt, der wird zu rechtlich sanktionierten Aufklärungspflichten schwerlich vorstoßen. Die einhellig strengen Positionen vom römischen Recht über die Naturrechtslehrer zu Pothier346 und dem caveat emptor des englischen Rechts sind konsequente Ausprägungen einer am Verschuldensprinzip ausgerichteten Privatrechtsordnung. Wenn man demgegenüber heute in Deutschland mit der culpa (in contrahendo) das Gegenteil begründen zu können glaubt, so offenbart das eine gute Dosis rechtshistorischer culpa lata und die Beliebigkeit einer ergebnisorientierten Jurisprudenz. Eine Aufklärungspflicht kann es unter der Geltung des Verschuldensprinzips daher allenfalls dort geben, wo ein Verschuldensvorwurf ggü. der anderen Seite nicht möglich ist, weil diese sich die maßgebliche Kenntnis nicht selbst verschaffen konnte. Hier liegt bis heute der berechtigte normative Kern des Gedankens vom Zugang zur Information! (4) Information und Willensmängel Der sinnfälligste Zusammenhang von alten Inhalten und neuen Begrifflichkeiten offenbart sich freilich im Recht der Willensmängel:347 1. Motivirrtum und Vertrauenshaftung. Was früher einmal hieß, jeder sei für seine Motive selbst verantwortlich, heißt heute „enttäuschtes Vertrauen“. Die Motive der einen Seite gelangen mittels vertrauenstheoretisch begründeter Aufklärungspflichten in den Verantwortungsbereich der anderen Seite. 2. Motivirrtum und „Informationsrisiko“. Was originär einmal hieß: Jeder sei für seine Motive selbst verantwortlich, heißt heute „Informationsrisiko“: „In einem zweiseitigen Vertrag als dem Regelfall des Schuldvertrages trägt also – 344 Jhering,

Der Zweck im Recht II (1883), S. 67.  Zurecht wieder betont bei Rehm, Aufklärungspflichten (2003), S. 122 ff. 346  Pothier (Traité des obligations, 1761) ist allerdings besonders streng bei der Trennung von Recht (for externe) und Moral (for interne). Für das Recht sieht er es nicht als geboten an, den Käufer über Mängel zu unterrichten. Im Regelfall habe es sich der Käufer nämlich selbst zuzuschreiben, wenn er sich nicht gründlich über den Vertragsgegenstand unterrichtet habe. 347 Vgl. schon F. Bydlinski, Das Menschenbild des ABGB in der Rechtsentwicklung (1999), S. 119/128: Das „Informations‑ und das … Inhaltskontrollprinzip schließen an längst bekannte normative Strukturen an, die auf tunliche Freiheit von Irrtum sowie auf Eliminierung grober Nachteile aus einseitigen Zwangslagen (Wucher!) gerichtet sind.“ 345

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abhängig vom Bestehen oder Nichtbestehen einer Aufklärungspflicht – immer eine der Parteien das Risiko eines Informationsdefizits, das Informationsrisiko.“348 3. Irrtum und Aufklärungspflicht. Man kann den begrifflichen Wandel auch kurz so formulieren: Was heute Gegenstand der Suche nach Aufklärungspflichten, war originär die Suche nach einer Abgrenzung zwischen beachtlichen und unbeachtlichen Irrtümern. Aber in der Sache bleibt es doch dabei: Es geht um den Schutz von Motiven. Motive können dabei in Anlehnung an die Differenzierung zwischen negativer und positiver Freiheit349 in zweierlei Hinsicht geschützt werden: negativ, als Schutz vor heteronomer Motivsetzung (klassisch: Schutz vor Drohung und Täuschung); und positiv, als Schutz autonomer Motive in Gestalt berechtigter Erwartungen. Letzteres ist bekanntlich aus guten Gründen problematisch: Erwartungen sind erstens sehr vielfältig, und sie sind zweitens innere Tatbestände. Im Interesse des Verkehrs‑ und Vertrauensschutzes ist der Motivirrtum (i. S. von positiven Erwartungen) daher grundsätzlich unbeachtlich. Es gibt allerdings Ausnahmen dort, wo der Verkehrs‑ und Vertrauensschutz zurücktreten kann, weil es sich um allgemein anerkannte – gleichsam objektivierte – Erwartungen handelt: Über Selbstverständlichkeiten spricht man nicht! Mit Blick auf den vorvertraglichen Bereich haben sich hier mit der Zeit insbesondere drei Fallgruppen herausgebildet: 1.) Gewährleistungsrechte, 2.) Eigenschaftsirrtum, 3.) Geschäftsgrundlage. Aufklärungspflichten gehören systematisch unzweifelhaft in diese zweite Kategorie der ggf. zu schützenden Erwartungen. Denn mit Schweigen wird kein heteronomer Einfluss auf die Motive der anderen Seite ausgeübt, sondern im Gegenteil: mit der Postulation einer Erklärungspflicht wird der heteronome Einfluss auf fremde Motive sogar explizit gefordert. Eine Deduktion von Aufklärungspflichten aus dem Tatbestand der „arglistigen Täuschung“ (§ 123 BGB) ist daher nicht nur begrifflich und historisch schwer möglich, sondern vor allem systematisch nicht haltbar. So gehört es auch zum Standardtext der Rechtsprechung, Aufklärungspflichten immer dann anzunehmen, wenn der andere Teil Aufklärung „erwarten durfte“. Es geht mit der Doktrin der Aufklärungspflichten also um eine Erweiterung des Schutzes von Motiven in der Gestalt konkreter Erwartungen, nicht aber den Schutz vor heteronomer Motivsetzung. Ob aber der Erwartungsschutz mittels Aufklärungspflichten legitim erweitert werden kann, bleibt gleichwohl zweifelhaft:

348

 Rehm, Aufklärungspflichten (2003), S. 23. § 7 III.2.

349 Oben

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c) Aufklärungsprobleme – Die Dogmatik des Erwartungsschutzes „Allein es giebt allerdings eine solche Vollständigkeit in anderer Art, wie sich durch einen Kunstausdruck der Geometrie klarmachen läßt. In jedem Dreyeck nämlich giebt es gewisse Bestimmungen, aus deren Verbindung zugleich alle übrigen folgen … Auf ähnliche Weise hat jeder Theil unsres Rechts solche Stücke, wodurch die übrigen gegeben sind: wir können sie die leitenden Grundsätze nennen. Diese heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den inneren Zusammenhang und die Art der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen, gehört eben zu den schwersten Aufgaben unsrer Wissenschaft, ja es ist eigentlich dasjenige, was unsrer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter gibt.“ Friedrich Carl v. Savigny, 1804350

Die Sache wird recht deutlich, wenn man sie exemplarisch an repräsentativen Fällen vermeintlicher vorvertraglicher Aufklärungspflichtverletzungen durchdekliniert: Fall 1 (Druckereipachtfall): Der Verkäufer von Sondereigentum hätte den potentiellen Käufer vor dem Notartermin über einen Kalkulationsirrtum aufklären müssen.351 Fall 2 (Kaufanwartschaftsfall): Verkauf eines Grundstücks ohne Aufklärung über Formerfordernis.352 Fall 3 (Luisinlichtfall): Verkauf eines Vertriebsrechts von „Luisinlicht“ ohne Aufklärung über bestehende Patentstreitigkeiten.353 Fall 4 (Mietverlängerungsoptionsfall): Verkauf eines Gewerbegrundstücks ohne Aufklärung über Existenz einer Mietverlängerungsoption.354 Fall 5 (Erdölunternehmensfall): Eine Erdölgesellschaft erwirbt ein Grundstück ohne den Verkäufer über die reichhaltigen Erdölvorkommen aufzuklären.355 Fall 6 (Alexandrinischer Kaufmannsfall): Zur Frage, ob ein Getreidehändler die hungernden Rhodier darüber informieren muss, dass noch weitere Schiffe Getreide bringen.356

Im Grunde lassen sich die exemplarisch genannten Fälle zwei Fallgruppen von Aufklärungspflichtverletzungen zuordnen, die den beiden klassischen Gruppen der Erklärungshaftung aus culpa in contrahendo entsprechen: 1. Aufklärungspflichten beim Scheitern eines erwünschten Vertrages (Fälle 1–3) 2. Aufklärungspflichten bei der Lösung vom unerwünschten Vertrag (Fälle 4–6) In den ersten beiden Fällen geht es um das Verhältnis von formlosen und formgebundenen Versprechen, also die Frage, wann eine vertragliche Bindung mit  Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 22. Urt. v. 29. März 1996 – V ZR 332/94, NJW 1996, 1884. 352  BGH, Urt. v. 29. Januar 1965 – V ZR 53/64, NJW 1965, 812. 353  RG, Urt. v. 26. April 1912, JW 1912, 743. 354 BGH, Urt. v. 6. April 2001 – V ZR 394/99, NJW 2001, 2875. 355  Urt. v. 13. August 1968 – SEC v. Texas Gulf Sulphur Co., US Court of Appeals, 401 F.2d 833 (2d Cir. 1968). 356 Cicero, De officiis III, 12, 50. 350

351 BGH,

III. Das Problem: Generalklausel oder Einzeltatbestände?

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welchen Rechtsfolgen entsteht.357 Im dritten Fall geht es um die bekannte Konkurrenz der Leonhard’schen Konstruktion zum Leistungsstörungsrecht.358 Das Schwergewicht in der praktischen Bedeutung der Aufklärungspflichten liegt zweifelsfrei bei der 2. Fallgruppe.359 Und eben hier geht es zunächst um gar nichts anderes als das Äquivalenzinteresse. Für diese Fallgruppe gilt ganz allgemein: Die Rückabwicklung wird begehrt, weil sich eine Diskrepanz von Erwartung und Realität herausstellt. Diese Diskrepanz lässt sich weiter in zwei Fallgruppen aufgliedern, die ganz intuitiv einer unterschiedlichen normativen Wertung zuneigen: 1. Diskrepanz im Preis-Leistungs-Verhältnis (Enttäuschung des Äquivalenzinteresses) 2. Diskrepanz von Gewinnerwartung und Gewinnrealisierung (Enttäuschung des Spekulationsinteresses) In der ersten Fallgruppe leuchtet unmittelbar ein: Es geht um ein spätestens seit Aristoteles klassisches Problem: Die Frage nach der Vertragsgerechtigkeit beim Leistungsaustausch: die iustitia commutativa, die ein Leistungsgleichgewicht (aequalitas) verlangt und sich speziell in der Frage nach dem „gerechten Preis“ (iustum pretium) zuspitzt. Spielt das Gewinnstreben in der ersten Fallgruppe bereits eine bedeutende Rolle  – in der zweiten Fallgruppe steht es gleichsam isoliert in Frage.360 In jedem Fall geht es um eine ethische Stellungnahme zu den Grenzen seriösen Gewinnstrebens (oder moralisch formuliert: die Grenzen der Gier) – ein Thema, das bekanntlich auch bis heute kontrovers diskutiert wird: gleichsam von Aristoteles bis Josef Ackermann. Forscht man weiter nach der möglichen Ursache für die jeweilige Diskrepanz in den Erwartungen, so ergibt sich das ganze Spektrum möglicher Aufklärungspflichtverletzungen in Bezug auf den Vertragsgegenstand:

357 Hierzu

schon oben III.2.a).  Hierzu oben § 5 II.2. 359  Ebenso MünchKomm / ​Emmerich (2007), § 311 Rn. 96: „Die c. i. c. entwickelt sich auf diese Weise zunehmend zu einem Instrument zur nachträglichen Korrektur unerwünschter Verträge.“ 360  Beispiel: An den alexandrinischen Kaufmann tritt sogleich im Hafen ein rhodesischer Kaufmann heran, um die gesamte Ladung abzukaufen und selber wieder gewinnbringend weiter zu verkaufen. Ein aktuelleres Beispiel wären die Fälle von Immobilienanlagen, die den gezahlten Preis tatsächlich wert sind, bei denen aber die Rendite nicht den Erwartungen entspricht, vgl. nur BGH, NJW 1998, 302 ff.; NJW 1998, 898 ff. Es ist hier ganz evident: Grundsätzlich erachtet man Gewinnerwartungen für nicht schützenswert. Im ersten Fall wird man wenig Sympathie für den rhodesischen Kaufmann aufbringen können, auch wenn er sich schließlich finanziell ruiniert. Habgier erheischt wenig Sympathie (deutlich auch das Beispiel der Fehlinvestition des reichen Bankiers Gaius Canius, von dem Cicero, De officiis III, 12, 58 berichtet). Merkwürdig anders entscheidet die aktuelle Rspr., wenn sich eine geschäftlich unerfahrene Person wirtschaftlich überhebt. Hier neigt die Rechtsprechung dazu, mit einer Vertragsauflösung zu helfen. 358

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a) einseitige Kenntnis von wertmindernden Eigenschaften (Fall 4) b) einseitige Kenntnis von werterhöhenden Eigenschaften (Fall 5) c) einseitige Kenntnis der Marktlage (Fall 6) Kenntnis und Behandlung dieser drei Fallgruppen sind nun keineswegs neu, sie durchziehen gleichsam die abendländische Tradition der Suche nach und Beschäftigung mit Vertragsgerechtigkeit.361 Ohne hier bereits auf alle dogmatischen und dogmengeschichtlichen Feinheiten einzugehen,362 am Ende jeder dieser Fallgruppen steht ein uns bekanntes Rechtsinstitut: a) von den aediles curules zum Gewährleistungsrecht (etwa: §§ 459 ff. BGB a.F), b) vom error in substantia zum Anfechtungsrecht wegen Eigenschaftsirrtum (§§ 142, 119 Abs. 2 BGB), c) vom circumscribere zur laesio enormis und zur Vertragsnichtigkeit wegen auffälligem Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung (§ 138 Abs. 2 BGB). Man mag die hier für das BGB jeweils gefundenen dogmatischen Lösungen für unzureichend oder vielleicht auch falsch halten. Das ändert aber doch nichts daran, dass für das jeweils einschlägige Problem eine entsprechende rechtliche Beurteilung gefunden und verbindlich gesetzt wurde und mithin eine wie auch immer zu begründende „Regelungslücke“ für die Postulation von Aufklärungspflichten nicht existiert: Führen diese zum selben Ergebnis (gesetzeskonforme Konkurrenz), sind sie überflüssig; dienen sie hingegen zur Begründung eines abweichenden Ergebnisses (gesetzesderogierende Konkurrenz), führt das zu einem unzulässigen Wertungswiderspruch. Gerade dieser zweite Aspekt betrifft, wie gesehen, das zentrale dogmatische Problem der culpa in contrahendo seit ihrer Entdeckung und Wiederentdeckung. Der Gedanke „in der einen Form etwas zu geben, was man in der anderen verweigert“ ist nicht nur Kennzeichen einer unaufgeräumten Konkurrenz von Rechtsinstituten, sondern Kennzeichen einer Instrumentalisierung zur leichten Begründung eines bereits fertigen Ergebnisses (Finalismus). Daher kommt denn auch der Begriff der „Leicht-fertigkeit“: Nicht 361  Vgl. zu diesem Spektrum möglicher Aufklärungspflichtverletzungen beim Austauschvertrag etwa nur Cicero, De officiis III, 12, 50 ff. zum grundsätzlichen Konflikt zwischen individuellem Nutzen (utilitas) einerseits und Ehrbarkeit (honestas) andererseits; sowie die umfassende Dialektik bei Thomas v. Aquin in der quaestio 77 des 2. Buches seiner Summa Theologica: „Über den Betrug (Fraudulentia), der bei Kauf und Verkauf vorkommt“. Zusammenfassend die gelungene historische Darstellung bei Fleischer, Informationsasymmetrie (2001), § 2 (S. 25–73). Für sein eigenes Modell der Aufklärungspflichten (§ 15 = S. 567 ff.) spielt diese Systematik dann erstaunlicherweise keine tragende Rolle mehr. Das ist auf den ersten Blick nicht ganz verständlich, liegt aber wohl an der Grundtendenz seiner Dogmengeschichte, die bis zur Wiederentdeckung der Aufklärungspflichten im 20. Jahrhundert die Konnotation eines Irrweges erhält. Dabei hätte die Frage nahe gelegen: Welchen Weg hat die Diskussion um Aufklärungspflichten in der Rechtswissenschaft bis zum BGB genommen und welche Antworten der Diskussion haben ihren Weg in das BGB gefunden? Die Antwort bei Fleischer ist: Keine! Und daher sei die Rechtswissenschaft jetzt gefordert, das Versäumte nachzuholen. 362 Die Details gehören in den dogmatischen Teil.

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mehr zu wissen – und sich auch nicht mehr zu kümmern – um die Gedanken, die den jeweils zu lösenden Problemen voraus liegen. Wenn man hier Reformbedarf sieht, so mag man bei den einschlägigen Rechtsinstituten ansetzen, einer besonderen Haftungsspur als konkurrierendem Korrelat bedarf es jedenfalls nicht. Das Problem ist uns anlässlich des § 831 BGB bereits deutlich vor Augen getreten: Eine Jurisprudenz, die lieber neue Haftungsinstitute konstruiert als die bestehenden ggf. einem gewandelten Rechtsverständnis anzupassen, führt zu einer Intransparenz des Rechts, von der letztlich nur eine Profession profitiert: Die Juristen selbst. Fassen wir zusammen: Die Sache mit der Aufklärung hat vor über 300 Jahren verheißungsvoll begonnen. Heute leidet das deutsche Privatrecht an einem Aufklärungsproblem. Es existiert eine Vielzahl von Rechtsinstituten, mit denen mittlerweile nahezu beliebig jedes beliebige Ergebnis konstruiert werden kann. Auf – Klärung im Sinne von „Aufräumen“ scheint hier die Aufgabe für die Zukunft.363 War das 19. Jahrhundert eine Phase der kodifizierenden Konsolidierung und das 20. Jahrhundert eine Phase wuchernder Materialisierung, so ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts eine (auf)klärende Neustrukturierung des Privatrechts. Hierbei geht es nicht ohne philosophische Sensibilität für die zu lösenden Probleme. Es geht aber auch nicht ohne historisches Verständnis für die sozialen Konstanten der den bestehenden dogmatischen Lösungen zugrundeliegenden Rechtsverhältnisse. Diese mögen unzureichend oder in der Tat gar nicht vorhanden sein. Doch bedarf das eine wie das andere einer überzeugenden Darlegung. Bis dahin gilt prima facie die Vermutung, dass alle Originalität und Mode juristischer Konstruktion immer den Makel eines historischen Informationsdefizits an sich trägt. Auch hier wiederum scheint Jhering recht behalten zu haben: „Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt, und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im Uebrigen von der bisherigen divergieren möge; eine solche Jurisprudenz lässt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen.“364 Für das Phänomen „vorvertraglicher Aufklärungspflichten“ jedenfalls bestätigt ein näherer Blick die Vermutung: Es handelt sich um eine juristisch nicht seriös begründbare Kategorie. Man mag sie ggf. als Begründungs-Vehikel für eine Billigkeitsjurisprudenz im Einzelfall akzeptieren, nicht aber ihr ein seriöses rechtswissenschaftliches Fundament oder gar eine fassbare Kontur verleihen.

363  Die „Behebung von Wertungswidersprüchen“ und die „Wiedergewinnung eines einigermaßen geschlossenen Privatrechtssystems“ nennt auch Bydlinsky, Das Menschenbild des ABGB (1999), S. 119/127, die „große Aufgabe der Zukunft.“ 364  Jhering, Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1/16. Zum Problem auch Benedict, Wozu Rechtsgeschichte (2004).

§ 9 Reform ohne Inhalt: Einzelfallgerechtigkeit „In der Zivilrechtspflege verlangen wir die unverbrüchliche Anwendung des Gesetzes und nehmen die etwaigen Härten und Unbilligkeiten mit in den Kauf. Die Sicherheit der formalen Gerechtigkeit des Richters steht uns höher als die Vorteile einer unberechenbaren materiellen Gerechtigkeit, hinter der sich nur allzu leicht die Willkür verbergen kann.“ Rudolf v. Jhering, 18841 „Unbehagen entsteht überdies deshalb, weil sich in diesem Bereich eine ausgeprägte Billigkeitsrechtsprechung ‚angesiedelt‘ hat, die letztlich zwar eine verfeinerte Einzelfallgerechtigkeit erreicht, als Konsequenz wiederum jedoch zu einer Rechtsunsicherheit führt, weil die Rechtsüberzeugung des jeweiligen (anonymen) Richters schwer prognostizierbar ist.“ Rudolf Nirk, 19752

I. Zwischen den Zeiten: Erben des Freirechts „Der Charakter eines Individuums und ein Recht – letzteres ist ja der Charakter eines Volksindividuums –, die sich beständig ändern, die nach Art der intellektuellen Thätigkeit in beständiger Bewegung und Arbeit begriffen sind, taugen beide nicht viel. Eine gewisse Stetigkeit und Hartnäckigkeit ist bei beiden das Zeichen der Gesundheit und Kraft. Wenn jede Generation das von der Vergangenheit ererbte Recht als ‚eine ewige Krankheit‘ von sich stoßen und dafür das Recht, ‚das mit uns geboren‘ an die Stelle setzen wollte, so würde die sittliche Kraft des Rechts über die Gemüther rasch abnehmen und das Recht im ewigen Rollen begriffen dem Abgrunde entgegeneilen. Je leichter, rascher und häufiger in einem Staat das Recht producirt, desto geringer seine moralische Kraft (…).“ Rudolf v. Jhering, 18523

In der griechischen Sagenwelt gibt es einen weisen Wassergott, der die Fähigkeit besitzt, sich in alle erdenklichen Formen zu wandeln und sich hierdurch 1  Der Zweck im Recht I (2. Aufl. 1884), S. 434; noch in der 1. Aufl. (1877), S. 425 stand sogar zu lesen: „… wir ziehen im Civilrecht das ungerechte oder unbillige Gesetz der über das Gesetz sich erhebenden Billigkeit oder Gerechtigkeit vor.“ 2  Culpa in contrahendo – quo vadis?, FS Möhring II (1975), S. 99. 3 Geist des römischen Rechts I (1852), § 5 (S. 65).

I. Zwischen den Zeiten: Erben des Freirechts

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dem Zugriff der nach Klarheit und Weissagung Strebenden zu entziehen. Wie immer man zur Mythologie stehen mag: Mythen sind archetypischer Ausdruck menschlicher Erfahrungen und mithin symbolisches Abbild der Erscheinungen dieser Welt. Und insoweit steht die Gestalt des Proteus für das Wandelhafte und Unbeständige, aber eben auch das Un-begreifliche und Un-faßbare, das uns auf dieser Erde begegnet; sei es das Wetter, die Natur, der Mensch, die Gesellschaft, die Regierungen oder: das Recht. Panta rhei, nichts bleibt, wie es ist, nichts ist, wie es scheint, und Wandel muss sein. So nimmt es nicht Wunder, dass es – unter dem Motto: Wer zu spät wandelt, den bestraft die Bedeutungslosigkeit – immer wieder Vertreter fortschrittlicher Gesinnung gibt, die ein Gespür für Wandel haben und diesen darum tatkräftig antizipieren; die nicht gemäß dem BismarckWort auf den „Wind der Geschichte“ warten mögen, sondern diesen vorsorglich gleich selber verursachen, sei es auch – um ein weiteres mythologisches Bild zu gebrauchen – der Schlauch des Äolos, der in Ungeduld geöffnet werden muss: Hauptsache „Wind“. Das verstaubte reichsdeutsche Zivilrecht musste endlich fit gemacht werden für das 21. Jahrhundert. Recht des 19. Jahrhunderts kann nichts mehr taugen für eine gewandelte Welt – das leuchtet ein: Die Juristen haben das Recht nur unterschiedlich interpretiert, es kömmt aber darauf an, es zu verändern. Oder um beim Bild zu bleiben: „The wind of change blows straight …“. Und so ist denn auch der „Wind“ immer ein Bild für den Geist, das Streben und Treiben zu einem Punkt, an dem die Widersprüche behoben und ausgeglichen sind; einem Punkt, wo das erstrebte Ideal, wenn nicht endlich erreicht, so doch ihm nahegekommen wird („Der Wind hat mir ein Lied erzählt …“). Der Geist ist das befruchtende Agens, das die gestaltende Kraft in sich birgt, das Chaos in eine Form zu zwingen. Geist und Form sind so zwei Elemente ein und derselben Sache. Jener ist die Kraft, die diese schafft. Daher: Treibend und ungestalt ist eine Zeit, die viele Winde entfesselt. Sie wirft mit einer Hand die Formen fort, die sie mit der anderen festzuhalten sucht und bringt doch keine neuen hervor. Die Winde im Schlauch des Äolos, das sind die geistigen Motivationen, die, zugleich entbunden, bald hierhin, bald dahin treiben: rastlos, haltlos, formlos. Wohin weht er nun, der juristische Geist des 21. Jahrhunderts, der immerhin Reformen die Fülle an den Anfang stellt?4 Es ist uns gesagt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“5 Und so implizierte zumindest der Begriff der „Reform“, dass eine durch Irrungen und Wirrungen verloren gegangene Form wie4 Man darf neben der Schuldrechtsreform andere Reformen nicht aus dem Blick verlieren. Eine Analyse der mit der „Modernisierung“ des Schuldrechts manifestierten Wandlungen provoziert notwendig einen Blick auch auf die zeitgleich betriebene ZPO-Reform (Wie steht es mit der Rechtsfindung im Zivilprozess?) und schließlich die Dauerbaustelle Juristenausbildungsreform (Welche Fähigkeiten werden vom zukünftigen Juristen erwartet?); hierzu abschließend unten II. 5 Matthäus 7, 16.

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§ 9 Reform ohne Inhalt: Einzelfallgerechtigkeit

der hergestellt werden sollte. Das ist ein interessanter Gedanke; denn in der Tat wurde das Schuldrecht im Verlauf des 20. Jahrhunderts von allerlei Wucherungen heimgesucht, welche zumindest die originär im BGB form-ulierte ratio scripta merklich entstellten.6 Das BGB als Frucht des 19. Jahrhunderts atmete einst den Geist der liberalen Aufklärung: „liberal“ im Sinne kantischer Freiheitsethik mit dem Verständnis vom Inhalt des Rechts als Grenze „wohlgeordneter Freiheit“7 und „auf-klärerisch“ im Sinne von „Klarheit“ über den konkreten Verlauf eben dieser Grenzen: „Der Zivilrichter kann nur diejenigen Interessen schützen, welche die Gestalt fester Körper an sich tragen; wo sie diese Form abstreifen und in den luftförmigen Zustand übergehen, sich ins völlig Unbestimmte verlieren, hört seine Macht auf – man kann Wolken nicht in einen Sack oder eine Kapsel fangen –, der Richter aber muß die Sache fassen und greifen können, um sie mit Sicherheit zu beurteilen, es gilt für ihn dasselbe, was Cicero von den Gesetzen sagt: tolunt astutias, quatenus manu tenere possunt.“8

Das 20. Jahrhundert mag man hingegen auch das „sozialogische“ nennen. Womit die beiden Geister dieser Zeit in einem Wort benannt sind: der Geist vom Inhalt des Rechts, seinem Gerechtigkeitsgehalt („sozial“), einerseits, und der von der Form des Rechts, dem, was Recht originär sei („soziologisch“), andererseits. „Sozial“, weil aus dem Geist der Gemeinschaft und sozialen Gleichheit die liberale Konzeption privater Autonomie zunehmend verdrängt und im Ergebnis der Konzeption „Wohlgeordneter Freiheit“ eine so genannten „materialen“ Komponente beigemengt wurde;9 und „soziologisch“, weil der Geist gesell-

6 Vgl. nur Merz, Privatautonomie heute – Grundsatz und Rechtswirklichkeit (1970); Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens (1974); E. Schmidt, Von der Privat‑ zur Sozialautonomie, JZ 1980, 153; Medicus, Probleme um das Schuldverhältnis (1987); ders., Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht (1994); Zöllner, Zivilrechtswissenschaft und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert, AcP 188 (1988), 85; ders., Metamorphosen des Privatrechts (1998); Knobel, Wandlungen im Verständnis der Vertragsfreiheit (2000); Mansel, Eigen‑ und Fremdverantwortung (2000). 7 Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993); Savigny, System I (1840), § 52, S. 331 f.: „Der Mensch steht inmitten der äußern Welt, und das wichtigste Element in dieser seiner Umgebung ist ihm die Berührung mit denen, die ihm gleich sind durch ihre Natur und Bestimmung. Sollen nun in solcher Berührung freye Wesen neben einander bestehen, sich gegenseitig fördernd, nicht hemmend, in ihrer Entwicklung, so ist dieses nur möglich durch Anerkennung einer unsichtbaren Gränze, innerhalb welcher das Daseyn, und die Wirksamkeit jedes Einzelnen einen sichern, freyen Raum gewinne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch sie dieser freye Raum bestimmt wird, ist das Recht.“ 8  Jhering, Geist des römischen Rechts III (4. Aufl. 1888), S. 354. 9 Zur Kontinuität dieser „Materialisierung“ des Privatrechts ausführlich oben § 7 I.1.; darüber hinaus: Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem (1974); Reuter, Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, AcP 189 (1989), 199; ders., Freiheitsethik und Privatrecht (1994); Lurger, Vertragliche Solidarität (1998); Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999); Barnert, Die formelle Vertragsethik (1999); Canaris, Materialisierung, AcP 200 (2000), 273; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000); Peuker, Sozialrechtliche Grenzen der Privatautonomie (2002); Auer, Materialisierung (2005); G. Wagner, Materialisierung (2008).

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schaftlicher Vielfalt und Evolution das a-priori Form-gebende der so genannten „Begriffsjurisprudenz“ als unbrauchbar zu erweisen vermeinte: „An die Stelle von Präformation tritt Evolution.“10 Beide Aspekte haben durchaus unterschiedliche und komplexe Gründe. In ihrem Verbund aber prägten sie die Rechtswissenschaft des dogmatischen Positivismus und führten geradezu notwendig zu einer Erscheinung, die uns heute ganz selbstverständlich dünkt: Generalklausel und Einzelfall. Einerseits: Die Suche nach klaren Grenzen, in denen Freiheit sich entfaltet, wurde verdrängt vom Gesichtspunkt einer bunten Vielfalt der Verhältnisse und Gestaltungen im: Einzelfall. Nicht mehr die weise Vorausschau menschlicher Vernunft ist in der Lage, Rechtsverhältnisse zu gestalten, sondern allein die ad hoc-Entscheidung des Richters im: Einzelfall. An die Stelle der Begriffsjurisprudenz praxisferner gelehrter Wissenschaft inthronisierte die Frei-11 und Prinzipienrechtsbewegung12 den recht und billig fühlenden Richter im praxisnahen: Einzelfall. Andererseits: Freiheit, Gemeinschaft und Gleichheit sind (als materiale Gerechtigkeitsprinzipien) Antagonismen, die zu einem allgemeingültigen Ausgleich zu bringen, wie es für eine gesetzliche Regelung notwendig wäre, trotz aller Gedankenexperimente in der politischen Philosophie bisher nicht wirklich gelungen ist.13 Auch ohne bewusste Reflexion prägten die der Freiheit entgegengesetzten politischen Grundprämissen im so genannten Prozess der „Materialisierung“ die Entwicklung in der Dogmatik des Zivilrechts. Neben der Kodifikation der Freiheit wuchsen Rechtsinstitute zur Begründung von mehr rechtsgeschäftlicher Gemeinschaft und / ​oder zur Kompensation von bestehen-

10 Apodiktisch Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts (1999), S. 75: „Seit dem 19. Jahrhundert besteht kein Zweifel mehr darüber, daß das Recht mit der Entwicklung der Gesellschaft sich ändert. Rechtswandel und gesellschaftliche Evolution korrelieren. Die Vielzahl der verschiedenartigsten Rechtsnormen, die irgendwo jemals gegolten haben oder in Zukunft gelten werden, lassen sich nicht auf eine Präformation in der menschlichen Natur zurückführen; sie variieren mit dem historischen Prozeß der Entwicklung einer zunehmend komplexen Gesellschaftsordnung. Bisher geltende Rechtsnormen werden obsolet oder ändern ihren Sinn und ihre Funktion, und neue Rechtsnormen treten hinzu, wenn die Gesellschaft sich ändert. So viel ist anerkannt.“ 11  Hierzu oben § 5 I. 12 Grundlegend Bierling, Juristische Prinzipienlehre (1894–1917); deutlich kürzer und deutlich einflussreicher: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1970); ders., Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (4. Aufl. 1990). 13 Vgl. nur Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung (2000), mit Syntheseversuchen der grundlegenden Konzepte von Rawls („A Theory of Justice“, 1971); Nozick („Anarchy, State, and Utopia“, 1974) und Dworkin („Taking Rights Seriously“, 1977); daneben vor allem noch Sandel, Liberalism and the Limits of Justice (1982); Walzer, Spheres of Justice (1983); zur „Hochkonjunktur“ aktueller „Gerechtigkeitstheorien“ etwa der Literaturbericht von Sieckmann im ARSP 87 (2001), 134 ff.; grundlegende Vorstellung und Analyse der maßgeblichen Theorien und Kontroversen bei Sandel, Justice. What’s the Right Thing to Do (2009).

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den oder vermeintlichen Ungleichheiten: unklar umrissene Institute der Inhaltskontrolle und Schutzpflichtkreatoren, die in ihrer Weite auf alle Fälle passten. Da nun diese neuen Institute unbehelligt neben den originären Instituten der Privatautonomie und Vertragsfreiheit Geltung beanspruchten, konzentrierte sich notwendig alles auf den: Einzelfall. Dogmatische Konstruktion und richterlicher Voluntarismus14 wurden die zentralen Komponenten der Rechtsfindung im: Einzelfall. Kurz: Auf der einen Seite die kodifizierte Form liberaler Aufklärung als Frucht des 19., auf der anderen Seite eine Phalanx unförmiger Institute als Produkt sozialogischer Billigkeitsjurisprudenz des 20. Jahrhunderts. In welchem Geist stand also die (Re-?)Form des 21. Jahrhunderts, die unser Privatrecht endlich fit machen sollte für die Herausforderungen einer neuen Zeit: dem des Liberalismus oder dem des Sozialismus, dem der Unförmigkeit oder dem der Klarheit? Eine ernsthafte Reflexion und Diskussion hierzu hat nicht oder allenfalls rudimentär stattgefunden.15 Und diejenigen, die sich ihr Urteil schnell gebildet hatten, mochten immerhin konstatieren: „Nichts wird wirklich schlechter“. Doch ganz unabhängig von den Bewertungen dogmatischer Umstrukturierungen und der Frage: „Was wurde wirklich besser?“16, das, woran es dem neuen Schuldrecht definitiv gebricht, ist eine klare Form. Geschaffen wurde ein Konglomerat aus interpretationsfähigen Offenheiten. Nicht eine Re-, sondern eine Deformation endlich auch des Kernstücks des BGB wurde mit der überstürzten Zwangskorporation von 19. und 20. Jahrhundert vollführt. Das, was mit einzelnen Novellen über die Jahre hin punktuell begann: „Die Verheerungen, die die moderne Gesetzgebungstechnik, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann, im BGB verursacht hat, sind dort inzwischen überall zu besichtigen (…). Das BGB ist auf dem besten Wege, zu einer in raschem Tempo sich wandelnden Loseblattsammlung zu verkommen. Eine respekt‑ und verantwortungslose Regelungswut in Verbindung mit einer degenerierten Gesetzessprache richtet verhängnisvolle Wirkungen an.“,17

 Zum Begriff ausführlich oben § 5 I.  Oben § 8 II.2. (… denn sie wissen nicht, was sie tun!). 16 Im Kern überwiegt positivistischer Pragmatismus: Stephan Lorenz, Schuldrechtsmodernisierung – Erfahrungen seit dem 1. Januar 2002, in: Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2005, (2006); die Beiträge in Remien (Hrsg.), Schuldrechtsmodernisierung und Europäisches Vertragsrecht. Zwischenbilanz und Perspektiven  – Würzburger Tagung vom 27. und 28. 10. ​ 2006 (2008); und zuletzt Artz / ​Gsell / ​Lorenz (Hrsg.), Zehn Jahre Schuldrechtsmodernisierung (2014). 17 Seiler, Bewahrung von Kodifikationen in der Gegenwart am Beispiel des BGB (2000), S. 104/109; kritisch auch Köndgen, Die Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 232: „Gute Gesetzgebung ist ja eine Tugend, die dem Gesetzgeber nicht mehr ohne weiteres unterstellt werden kann (…).“ 14 15

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mit der „Schuldrechtsmodernisierung“ und allen nachfolgenden Eingriffen ist die Deformation eine endgültige. Darin liegt sicher nicht der „Untergang des Abendlandes“, aber der kodifizierte Abschied von der Kodifikation BGB. Warum? Weil die zwei zentralen Aspekte einer Kodifikation preisgegeben sind: ein stimmiges inhaltliches System von Rechtsregeln einerseits und eine fassliche transparente Form dieser Regeln andererseits. Ebenso wie der Gesetzgeber schwankt das Recht nun zwischen liberalen und sozialen Rechtsinstituten, die nicht gut nebeneinander verträglich bestehen können: „these two contradictory propositions cannot live comfortably together: in the end one must swallow the other up.“18 Die Antinomien sind nicht in einen dogmatischen Ausgleich gebracht, sondern belauern einander in konkurrierenden Konstruktionen und warten darauf, dass das richterliche Rechtsempfinden sich ihrer bedient im: Einzelfall. 1. Evolution des Rechts: Vom BGB zum Ordal „Der ursprüngliche Sinn des Wortes ‚Dogma‘ gewinnt mit dem Wandel zum Richterstaat eine gesteigerte Aktualität. Es bedeutete in der Antike und jetzt erneut verstärkt eine autoritative Verfügung, einen verbindlichen Lehrsatz. Die letzten Instanzen setzen heute mit ihren Fallnormen gesetzgebungsähnliche rechtspolitische Akte. Sie ändern geltendes und schaffen neues Recht. Die Beispiele sind Legion (c. i. c., p. V. V., ‚Herrenreiter‘, ‚Mutlangen‘, ‚Arbeitnehmerhaftung‘, ‚informationelles Selbstbestimmungsrecht‘, u. v. a.).“ Bernd Rüthers, 200319

Unabhängig von allen Querelen zum übereilten Prozedere dieser „Schuldrechtsmodernisierung“, den damit verbundenen dogmatischen Bedenklichkeiten und dem Autoritätsverlust des Gesetzgebers für die Rechtsfindung – mit dem Verlust der klaren Bindung an einen definierten Inhalt und der Blankoermächtigung des Richters in einem zentralen und flächendeckenden Bereich des Zivilrechts verliert vor allem die Kodifikation eines: ihre Autorität für die Rechtserkenntnis. Die Methodendebatte am Anfang des 20. Jahrhunderts und die nachfolgenden wissenschaftlichen Scharmützel um das Verhältnis von Gesetzes‑ und Richterrecht20 sind endlich zugunsten des letzteren entschieden: Der Richter ist die ul-

18 Gilmore,

Death of Contract (1974), S. 68.  Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluß des Richterrechts (2003), S. 19. 20  Zu dieser „Ewigkeitsproblematik“ nur: Jörn Ipsen, Richterrecht und Verfassung (1975); Hattenhauer, Reform durch „Richterrecht“?, ZRP 1978, 83; Haverkate, Untaugliche Warnung vor dem Richterrecht, ZRP 1978, 88; Hübner, Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters (1980); Wassermann, Die richterliche Gewalt (1985); Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat (1988); Biaggini, Verfassung und Richterrecht: verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsfortbildung im Wege der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (1991); Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht: eine methodologische Untersuchung zur richterlichen Rechtsfortbildung im deutschen Zivilrecht (1996); Heldrich, 50 Jahre 19

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timative Rechtsquelle.21 Die eigentliche Errungenschaft des 20. Jahrhunderts ist mithin nicht primär eine dogmatische („Death of Contract“), sondern vor allem eine methodologische („Richterkönig“). Der Geist des 21. Jahrhundert weht hinweg von den Ufern der Rechtssicherheit hin zum legalisierten Voluntarismus. Alles hängt an der Dezision des Richters im: Einzelfall. Legalisiertes Freirecht und Gefühlsjurisprudenz – wie konnte es in dieser Eindeutigkeit dazu kommen? Tradierte Formen sterben nicht von heute auf morgen. Formen brechen in sich zusammen, wenn die Wertschätzung der sie tragenden Idee verloren geht. Insoweit sind die hier zu betrachtenden Destruktionen notwendig grundsätzlicher Natur und sie basieren auf einer allgemeinen und nur selten noch ernsthaft reflektierten opinio iuris zu den zwei Hauptproblemen einer Kodifikation: ihrer inhaltlichen Lückenhaftigkeit (Stoffproblem) und der Möglichkeit einer trefflichen und transparenten Formulierung des Rechtsstoffs (Formproblem). Hier besteht seit langem die Überzeugung, das Konzept einer „abschließenden und erschöpfenden“ Aufzeichnung des Rechts in einem Gesetz sei, wenn nicht gar überflüssig, so doch eine Utopie,22 weil die Beschränktheit der juristischen Begriffe sie gar nicht erlaube.23

Rechtsprechung des BGH – Auf dem Weg zu einem Präjudizienrecht?, ZRP 2000, 497; Auer, Materialisierung (2005), S. 64 ff.; Foerste, Verdeckte Rechtsfortbildung, JZ 2007, 122; Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen (2007); und immer wieder vor allem Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat, JZ 2002, 548; ders., Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluß des Richterrechts (2003); ders., Wer schafft Recht? – Methodenfragen als Macht‑ und Verfassungsfragen, JZ 2003, 995; ders., Geleugneter Richterstaat und vernebelte Richtermacht, NJW 2005, 2759; ders., Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, 53; ders., Fortgesetzter Blindflug oder Methodendämmerung der Justiz?, JZ 2008, 446; ders. / ​Höpfner, Abschied vom Rechtsstaat? Rechtsbrüche von Regierung und Justiz, Politisches Denken (2012), 31 ff. 21  Mit diesem Fazit auch Rüthers, Geleugneter Richterstaat und vernebelte Richtermacht, NJW 2005, 2759 und zuletzt ders., Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat (2. Aufl. 2016). 22 Vgl. nur Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht (2001), S. 306; Schlechtriem (Schuldrechtsreform, 1987, S. 57) meint exemplarisch, „dass die Komplexität der zur Entscheidung anstehenden Sachverhalte sich kodifikatorisch nicht ausreichend einfangen läßt“. Lediglich K. Schmidt (Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985, S. 21) versucht relativierend einzulenken, indem er die Methode der lückenschließenden Rechtsfindung sogleich mit zum Inhalt jeder Kodifikation erklärt und somit das „selbstgesteckte“ Ziel des kodifizierenden Gesetzgebers deutlich moderater formuliert: „Nicht Gesetzeslücken auszuschließen, wohl aber … ‚Rechtslücken‘ zu verhindern“ sei Sinn einer Kodifikation. 23  Schlechtriem, Schuldrechtsreform (1987), 57: „Insbesondere läßt sich das verwendete Instrumentarium juristischer Begriffe weder für abgrenzbare Sachverhalte so scharf und eindeutig zurichten, daß tatsächlich stets zweifelsfreie Subsumtionen möglich sind, noch läßt sich – viel weniger – in Begriffen von großer Abstraktionshöhe die Lösung für eine Vielzahl nicht völlig deckungsgleicher Sachverhalte verschlüsseln.“ Besonders eigenwillig hat dies zuletzt Bucher, Rechtsüberlieferung und heutiges Recht, ZEuP 8 (2000), 394 ff. als Prämisse für eine umfängliche Begründung der „Rechtsüberlieferung“ als Rechtsquelle ausgeführt: dem Gesetz sollen nur jene Schlussfolgerungen zugerechnet werden, „die sich unmittelbar aus dessen Textverständnis“

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Diese Grundüberzeugung hat mehrere Wurzeln. Sie stützt sich zum einen auf unreflektierte Autoritäten: Savignys Zweifeln an der Berufung seiner Kollegen zur Gesetzgebung24 und die nachhaltige und bis heute einseitig interpretierte Kritik Jherings an der Begriffsjurisprudenz25. Sie basiert auch auf einem einseitigen Resümee der ausgiebig geführten Methodendebatte Anfang des 20. Jahrhunderts, gepaart mit einer zunehmenden rechtsvergleichenden Anhänglichkeit an das anglo-amerikanische Case Law.26 Aber sie basiert vor allem auf einem: der Frage nach dem Sinn von Zivilrechtswissenschaft überhaupt. 2. Wissenschaftliche Hochschätzung: Das Gerücht von der Lücke „Daher jener Fluch und Schrecken unserer Literatur, jenes künstliche und gewaltsame Auftreiben des dürftigsten Inhalts zu möglichst großem Volumen – ein kleiner, kümmerlicher, dürftiger Gedanke, um den ein ganzes Buch herumgebaut wird. Und mitunter fehlt selbst dieser.“ Rudolf v. Jhering, 186627

Das Dogma von der Lückenhaftigkeit des BGB basiert, wie gesehen, in seinem Grunde nicht wirklich auf der vermeintlichen Einsicht in die Unmöglichkeit einer erschöpfenden Erfassung und transparenten Formulierung des Rechtsstoffs, sondern vor allem auf einem grundsätzlichen Bedeutungsverlust, den eine ernst zu nehmende Kodifikation für das wissenschaftliche Engagement notwendig mit sich bringt.28 Die Kodifikation soll die reife Frucht wissenschaftlicher Bemühun-

durch Auslegung ergeben. Da nun der Gesetzestext das Ergebnis „resümierender Abstraktion“ ist, können Kodifikationen von vornherein keinen „juristisch-präzisen Text“ liefern (S. 405). Die „Masse der Lücken“ wird so als „unendlich“ dem endlichen „kodifikatorisch erfassten Normbereich“ (S. 403, Fn. 9) gegenübergestellt. Auf einen Nenner gebracht: Die Kodifikation sei „unendlich lückenhaft“, weil sich nicht alle potentiellen „Einzelfälle“ explizit dem „Textverständnis“ der Kodifikation entnehmen lassen. Aber Bucher scheint das selbst nicht wirklich ernst zu nehmen, wenn er später konstatiert, dass an Hand des Kodifikationstextes eine „nicht zu überschauende, unendliche Vielzahl“ von Fragen beantwortet wird (S. 447). 24  Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814). 25 Vgl. vor allem „Im juristischen Begriffshimmel“, in: Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), 245 ff. 26  Etwa v. Bar, A New Jus Commune Europaeum (2000), 67/69: „With only little overstatement, it can be said that the common law set the methodological example followed by post-war comparative law.“; Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 234 zieht daraus die Erkenntnis, dass nicht mehr alles in eine Kodifikation gehören muss. „Das Verhältnis von Richterrecht und Gesetzesrecht hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts dramatisch verändert. Damit einher geht eine weitere Entwicklungstendenz. Der Trend zur Verwissenschaftlichung des Rechts  – auch und insbesondere des Bürgerlichen Rechts  – ist unumkehrbar geworden. Und so haben wir inzwischen gelernt, mit einem umfangreichen, hochdifferenzierten und das geschriebene Gesetzesrecht weithin überlagernden Richterrecht zu leben.“ 27  6. Brief eines Unbekannten, Deutsche Gerichtszeitung (1866), 309 ff., auch in: Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884), S. 106. 28 Hierzu bereits oben § 5 I.2.

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gen sein. Doch die Sache gestaltet sich schwierig, wenn das Maß hoch angelegt ist. Die wissenschaftliche Frustration bei den Erben des BGB ist daher vielleicht nicht nur deshalb verständlich, weil die geistige Höhe und inhaltliche Tiefe des Buches von den schier unerreichbaren Giganten der Pandektistik (Savigny, Puchta, Jhering) in Stoff und Form vorbereitet und von den Besten der Zeit (Windscheid, Planck, Enneccerus etc.) im Bewusstsein einer wissenschaftlichen Idee und Aufgabe in zweiundzwanzig Jahren asketischer Redaktionsarbeit mit Akribie und Präzision abschließend formuliert wurde.29 Oder weil es für die eigenen „wissenschaftlichen“ Erfolgserlebnisse und die eigene Selbstdarstellung mühsam und riskant ist, erst den Rechtsstoff in seiner Fülle, Komplexität und Tiefe völlig zu durchdringen, bevor ernstzunehmende neue Erkenntnisse sich formulieren lassen („Ach Gott! Die Kunst ist lang; Und kurz ist unser Leben.“). Nein, die Armseligkeit des eigenen Daseins und der verbleibenden wissenschaftlichen Aufgabe erfasst die Hermeneutik, wenn das, was Jhering einst bei der Beschreibung der „Aufgabe“ dogmatischer Rechtswissenschaft als die weite Philosophie praktischer Jurisprudenz glorifizierte,30 fortfällt oder nur noch gering geachtet wird. Die Entphilosophisierung und Enthistorisierung des Zivilrechts führte geradezu zwangsläufig zu zweierlei: Zur panta rhei-Soziologisierung in der Prämisse vom ewigen Wandel und der Unsinnigkeit gesetzten Rechts sowie einer immer langweiligeren Dogmatologisierung in konstruierten Prämissen und blutleeren Syllogismen.31

29  „Niemals, denke ich, ist so viel an erstrangiger geistiger Kraft in einen Akt der Gesetzgebung gesteckt worden.“, so das Urteil eines „erstrangigen“ zeitgenössischen englischen Kollegen: Frederic W. Maitland, The Making of the German Civil Code, in: H. A. L. Fisher (Hrsg.), The Collected Papers of Frederic William Maitland, Bd. III (1911), 474/484 (zitiert bei Zimmermann, Schuldrechtsreform?, 2001, S. 2). Zum internationalen Rang jedenfalls der deutschen Pandektistik vgl. nur Matthias Reimann, Historische Schule und Common Law (1993), insb. S. 103 ff. Selbstlob für eine als nämliche Meisterleistung gefeierten Reform bei Däubler-Gmelin, Für eine zukunftsfähige Rechtsordnung, ZRP 2002, 357: „Das neue Schuldrecht hat schon heute den internationalen Ruf, ein Musterbeispiel für ein modernes Zivilrecht zu sein. Das verwundert nicht, baut es doch auf den mittlerweile jahrzehntelangen Diskussionen der Zivilrechtswissenschaft im Rahmen der Schuldrechtskommission, auf den Vorarbeiten nationaler und internationaler Experten und auf einer bisher beispiellos guten intensiven Beratung von Wissenschaft, Politik und Praxis auf.“ 30 Jhering, Unsere Aufgabe, JhJb 1 (1857), 1 ff., insb. S. 19 f.; ähnlich Bekker, Zur Lehre von der Willenserklärung, KritV 3 (1861), 33: „Bei der Unerschöpflichkeit wahrer Wissenschaft ist das zum Abschluß bringen auf ihrem Felde stets etwas relatives (…).“ 31 Überhaupt wäre es eine interessante Aufgabe, die wissenschaftssoziologische Wechselwirkung zwischen dem Glauben und der Hingabe an eine Rechtsidee auf der einen und den Ergebnissen in der Rechtsdogmatik auf der anderen Seite genauer zu beschreiben. Es ist sicher kein Zufall, dass „mit den Klassikern verglichen fast alle diese Rechtserneuerer als Rechtsdogmatiker zu den ‚Kleinen‘ zählen.“ (Vallauri, Geschichte des Freirechts,1967, S. 33). Die ‚Bodenhaftung‘ ging mehr und mehr dadurch verloren, dass die einen dem unerquicklichen („Cultus des Logischen“) und unergiebigen Geschäft „Rechtsdogmatik“ („hermeneutische

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a) Nur einmal angenommen … – Ein Gedankenexperiment „So gerät die Wissenschaft mit sich selbst in Widerspruch; sie will den Gegenstand nur begreifen und sie zerdrückt ihn. Die Folgen dieses Widerspruchs sind außerordentlich. Die Wissenschaft, ihres natürlichen Bodens dadurch entbehrend, gerät nur zu leicht auf die Abwege der Sophisterei, der unpraktischen Grübeleien; Subtilitäten ohne Ende kommen hervor, Auswüchse aller Art, woran die juristische Literatur so reich ist.“ Julius v. Kirchmann, 184832

Verallgemeinern wir einmal – nur als Gedankenexperiment – die überraschende und in ihrer Art ganz einzigartige und zugleich unerhörte These von Ulrich Huber, die er nach jahrelanger intensiver Beschäftigung mit der Materie zum Leistungsstörungsrecht vorgetragen hat. Stellen wir uns nur für einen Augenblick vor, das BGB enthielte tatsächlich „vollkommen klare, im Rahmen des Möglichen präzise, widerspruchsfreie, den Interessen der Beteiligten in abgewogener Weise Rechnung tragende“33 Regelungen. Lassen wir für einen Moment die Defizite des menschlichen Erkenntnisvermögens beiseite und unterstellen, dass wenigstens die Rechtsgelehrten die Quasi-Vollkommenheit des BGB aufgrund ihrer auserlesenen Weisheit bei redlichem Bemühen erkennen könnten. Diese Vorstellung bedeutete doch wohl das Ende der Rechtswissenschaft in diesem Bereich: Worüber noch forschen, Aufsätze und Bücher schreiben? Wodurch sollte man sich für die Tempel des Rechts als hoffnungsvoller Rechtsgelehrter ausweisen, wo doch schon alles gesagt ist? Was sollten nun Generationen von Rechtswissenschaftlern tun: Die ewige Deskription des Normativen? Die ewige Ausziselierung der Rechtssätze? Die unendliche Abstraktion allgemeiner Rechtsgedanken? Es gibt bekanntlich einen Grad an Langeweile, bei dem, gepaart mit dem Zwang zur Originalität, alles Lebendige zugrunde geht. Was man zu lange bedenkt, das wird bedenklich. Und wir können sagen, wir sind dabei gewesen. „Ich wiederhole nun ausdrücklich: Die Schuld dieser Proceduren liegt nicht an unseren Schriftstellern, sondern an den Verhältnissen (…).“34

Kommentierungsleuchte“) in die abgehobenen Sphären der Rechtstheorie und Rechtssoziologie entflohen, während den Verbliebenen bei diesem Geschäft die notwendigen, weil befruchtenden Impulse aus der Gesamtschau und den Grundlagen des Rechts immer mehr abhanden kamen. Eine Belebung setzte dann vor allem mit dem verschärften „Kultus der Rechtsvergleichung“ ein: Jede dogmatische Figur aus Übersee konnte nun als dogmatische Inspiration gefeiert werden. Die eigene Rechtstradition wird egalisiert, und das, obwohl man gerade vorgibt, im Rahmen der europäischen Rechtsvereinheitlichung eine eigene starke Position einzubringen (Welche war das noch gleich?). 32 Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848), S. 33. 33  U. Huber, Das geplante Recht der Leistungsstörungen (2001), S. 31/57. 34  Jhering, Scherz und Ernst (1884), S. 111: „Sind die denkbaren vernünftigen Ansichten über den Gegenstand vollständig erschöpft, nun gut, wer will es einem armen Schriftsteller,

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Das Heil liegt, wie gesehen, in dem Dogma von den Gesetzeslücken, die zu schließen Aufgabe der Rechtswissenschaft sei.35 Die letzte Konsequenz des Lückendogmas ist nicht mehr zu übersehen: schleichende aber totale Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens.36 Es gibt kein schlicht sozial adäquates Verhalten mehr, sondern jeder „soziale Kontakt“ wird notwendig zum rechtlich relevanten Kontakt, wenn nur ein klagendes Opfer ins Spiel kommt. Gerade aber der Opferstatus ist derzeit der verbreitetste.37 Der Abschied vom casus führt zur unendlichen Kasuistik. Kulturhistorisch lässt sich das Phänomen durchaus als Auswuchs moderner Säkularisation deuten: Zunächst ist es eine allgemein geübte Form religiöser Sinndeutung, erlittenes Unglück als (göttliche) Strafe für eigene oder entferntere (Sippenhaft) Verfehlungen zu begreifen. Nach Theodizee-Problem38 und Aufklärung blieb zunächst der nackte Blick auf das eigene Selbst, die eigene Freiheit und die damit einhergehende Selbstverantwortung. Während die Freiheit als positive Seite der Medaille von allen begehrt und als suggestiver oberster Wert der Moderne inthronisiert wurde, wird die unangenehme Zwillingsschwester „Verantwortung“, wo es nur immer geht, geleugnet und anderen zugeschoben.39 Der abstruseste und imaginierteste Kausalbeitrag „der anderen“ genügt, sich selbst als Opfer zu sehen. Die aktuelle Rechtsentwicklung folgt diesem psychologischen Fatalismus, indem aus sozialen Gesichtspunkten heraus ein neues quasireligiöses Sündenbockritual zelebriert wird: der vermeintlich „Stärkere“ wird für nachteilige Entscheidungen des vermeintlich „Schwächeren“ verantwortlich (zum

der trotzdem eine neue Ansicht aufstellen muß, zur Last legen, daß er zu einer unsinnigen hat greifen müssen?“; eine ähnliche Analyse trägt Posner, The Problematics of Moral and legal Theory (1999); ders., Frontiers of Legal Theory (2001), für die amerikanische Entwicklung vor: „a lot of legal theory is vacuous (…)“. 35  Oben § 5 I.3. 36 Hierzu nur Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes‑ und Richterstaat (1996); Callies, Prozedurales Recht (1999), S. 60 ff. jeweils m. w. N. 37  Treffend schon Grunsky, AcP 183 (1983), 326: „Der ‚Marsch ins Selbstmitleid‘ ist in vollem Gange.“; auch Laufs, Unglück und Unrecht (1994); Mansel, Eigen‑ und Fremdverantwortung im Haftungsrecht (2000); grundlegende Analyse der allgemeinen Opfermentalität bei Pascal Bruckner, Ich leide also bin ich. Die Krankheit der Moderne (1997). 38  Theodizee bedeutet ursprünglich (von griech. „theos“ und „dike“) Recht bzw. Gerechtigkeit Gottes. Daraus wurde aufgrund der Zweifel an Gottes diesbezüglicher Gerechtigkeit aus der Perspektive einer Verteidigung die „Rechtfertigung Gottes“ in der Radikalisierung des Problems: Gibt es sinnloses Leiden? Klassisch behandelt im Buch Hiob und in der Neuzeit von Leibniz, Die Theodizee von der Guete Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Uebels (1747), der die Welt, wie sie ist, als die „beste aller Welten“ zu verteidigen sucht. Insb. aber die verheerenden Auswirkungen des Erdbebens von Lissabon am 1. November 1755 erschütterte auch die letzten Verteidiger einer göttlichen Gerechtigkeit; insb. Voltaire nahm sich des Themas mit seinem „Candide“ in satirischer Form wirkmächtig an (Candide ou l’optimisme, 1759) 39 Zur Wandlung des Freiheitsbegriffs oben § 7 III.2.

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„Dispositionsgaranten“) gemacht. Das nennt man dann distributive Gerechtigkeit. Schlaubergerkonjunktiv, Informationshaftung und die Vernachlässigung der Culpacompensation sind die dogmatischen Vehikel zur Umsetzung dieses modernen Gerechtigkeitsgefühls im: Einzelfall. Die Hybris moderner Rechtsschöpfung wird erst durch Sprachverwässerungen in einer „Rechtsethik“ verschleiert, bei der der ganze historische und philosophische Ballast ethischer und dogmatischer Diskurse mittels der ‚Entdeckung‘ rechtsethischer Prinzipien abgehängt wird,40 und sie offenbart sich endlich ganz schlicht in dem Satz: „Mit Moral hat das nichts zu tun, mit Gerechtigkeit sehr viel.“41 Es gibt keinen Freiraum („Lücken“) für individuelle Moral mehr, den das Recht nach herkömmlicher liberaler Vorstellung schützen sollte. Moral wird mittels der alles zerschmetternden rhetorischen Keule „totaler Gerechtigkeit“ juristisch verordnet und Freiheit verbleibt als „Einsicht in die Notwendigkeit“. Die letzten Lücken („Freiräume“) individueller Moral werden von den wachsamen Augen juristischer „Entdecker“ und politischer „Jakobiner“ mit Recht aufgefüllt. Allein die Folgen für die Wertschätzung des Rechts als Recht insgesamt sind dramatisch und mittlerweile nicht mehr zu übersehen.42

 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (6. Aufl. 1991), S. 421 ff. „Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip“: „Was Dölle eine ‚juristische Entdeckung‘ genannt hat, ist wohl nichts anderes als die erstmalige Formulierung eines solchen Prinzips“. 41 So die schlagende Quintessenz zum seinerzeit geplanten „Antidiskriminierungsrecht“ bei Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung, ZRP 2002, 290/294; das Problem findet sich anschaulich zugespitzt bei Johann Braun, Übrigens: Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, 424 f. 42 Zu diesem Prozess und seinen Konsequenzen deutlich zuletzt aus der Sicht der Praxis: Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit (2017), S. 142 ff.: „Überfrachtet: Das Recht ufert aus. (…) Die Verrechtlichung ist gewissermaßen ein Misstrauensvotum gegen die eigene Gesellschaft. Die Folge: Das Recht gleicht immer mehr einem Pottwal, der gestrandet ist und sich nunmehr durch sein Eigengewicht selbst zu erdrücken droht.“; aus sozialphilosophischer Perspektive: Loick, Juridismus (2017), der den Glauben an die Grundfunktion des Rechts ganz grundlegend erschüttert sieht und auch nicht für rekonstruierbar hält. Aus historischer Perspektive hat freilich bereits Berman, Recht und Revolution (1991), insb. S. 74 f. von einer tiefen „Krise der westlichen Rechtstradition“ gesprochen: Dem Recht sei das ideelle Fundament abhandengekommen, auf dem es aufbaut, könne dieses aber (trotz aller edukatorischen Vorstellungen einer überbordenden Rechtswissenschaft und überengagierten Politik) nicht selbst neu hervorbringen: „So wird der historische Boden der westlichen Rechtstradition im 20. Jahrhundert weggeschwemmt, und die Tradition selbst ist vom Zusammenbruch bedroht.“ 40

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b) Scherz und Ernst mit der Kodifikation „In Ansehung des Stoffs ist die wichtigste und schwierigste Aufgabe die Vollständigkeit des Gesetzbuchs … Das Gesetzbuch nämlich soll, da es einzige Rechtsquelle zu seyn bestimmt ist, auch in der That für jeden vorkommenden Fall im voraus die Entscheidung enthalten.“ Friedrich Carl v. Savigny, 181443 „Jedem einzelnen Rechtsfall, so wähnen derzeit manche …, soll seine besondere, ungeschriebene Ordnung gewissermaßen von Gottes Gnaden gesetzt sein, und die Aufgabe der richtenden Staatsorgane soll im Grunde nur darin bestehen, dieses eigene Recht des Einzelfalles in richtiger Intuition zu erfassen und im ‚Erkenntnis‘ zur äußeren Anerkennung zu bringen. Das Strafgesetz kann sich, wenn man mit dieser Auffassung ernst macht, auf den einen Satz beschränken: ‚Alle Schurken werden nach der Schwere ihrer Tat bestraft‘, wie vor einigen Jahren jemand allen Ernstes vorgeschlagen hat.“ Paul Oertmann, 190844

Doch Ursachen und Konsequenzen beiseite: In der Sache sind die zwei Probleme einer Kodifikation strikt auseinander zu halten. Das inhaltliche Problem (d. h. die Vollständigkeit des Stoffs) ist vom formellen Problem (die treffliche Formulierung und Abfassung) zu unterscheiden. Denn ob alle rechtlich relevanten Fallkonstellationen in einer Kodifikation erfasst sind, ist nicht primär ein Problem beschränkter Begrifflichkeit und Ausdrucksmöglichkeit, sondern allenfalls und allein ein Problem beschränkter „gesetzgeberischer Voraussicht“ für das, was Recht sein sollte im: Einzelfall. Genau dieses Problem ist aber bekanntlich lösbar, indem der zu regelnde Rechtsbereich mit genügend weiter Begrifflichkeit formuliert wird. So wäre die ‚Kodifikation‘ des Schuldrechts mit einer einzigen Generalklausel durchaus denkbar. Diese einzige Vorschrift müsste nach dem heutigen Stand von Rechtsprechung und Wissenschaft etwa so lauten: „Wer sich nicht rücksichtsvoll gegenüber den Rechten, Rechtsgütern und Interessen anderer verhält, hat nach Treu und Glauben den Schaden zu ersetzen, den der in seinem berechtigten Vertrauen Enttäuschte hierdurch erleidet.“

Lässt sich jetzt noch ein Fall denken, der nicht unter diese Vorschrift zu ‚subsumieren‘ wäre? Man mag die ganze Entscheidungssammlung des BGH durchforsten oder einen Preis für den originellsten Phantasiefall ausloben. An der Omniszienz einer solchen ‚Kodifikation‘ lässt sich schwerlich rütteln: Weitere zivilrechtliche Entdeckungen leider ausgeschlossen! Dass hiermit alle Verstöße gegen das Verbot des neminem laedere erfasst sind, leuchtet unmittelbar ein. Erfasst werden aber auch alle individuell vereinbarten vertraglichen Pflichten. Oder ist ein Vertragsbruch, ein Verstoß gegen  Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 21. und Richterfreiheit (1908), S. 1.

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den Grundsatz pacta sunt servanda, etwa keine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Interessen des auf die Erfüllung vertrauenden Vertragspartners? Bedenken mögen sich regen mit Blick auf die Rechtsfolge. Hier könnte sich der Einwand erheben, unser modernisiertes BGB sei doch noch vollständiger; denn es kennt immerhin auch Erfüllungs-, d. h. Primärleistungsansprüche. Das ist auf den ersten Blick wohl wahr. Jedoch kennt auch das gute alte Zivilrecht einen Erfüllungsanspruch nur der zivilrechtlichen Theorie nach; das Recht der Zwangsvollstreckung lehrt da anderes: die specific performance ist auch im deutschen Recht der praktisch seltene Sonderfall.45 Die von vornherein auf Schadensersatz orientierte Einklauselkodifikation ist also sogar transparenter, ehrlicher und mit rechtsvergleichendem Blick insoweit auch sehr viel „moderner“. Im Übrigen kann der Schaden sich natürlich auf die Erfüllung beziehen, etwa nur durch diese ausgeglichen werden (Naturalrestitution) oder aber sogar deutlich über das Interesse an derselben hinausgehen – je nach der Fokussierung des Vertrauens und der Interessenlage im: Einzelfall. Wenn nach allgemeiner Ansicht schon der Vertrag an sich ein Schaden sein kann,46 so wird man dies für die Nichterfüllung ebensowenig leugnen dürfen wie für den nicht zustande gekommenen Vertrag. Aber alle diese gewollten Kategorien und Konstruktionen sind bei jener Einklauselkodifikation endlich überflüssig. Welch ein Sieg der Wissenschaft, der Einzelfallgerechtigkeit und der Bequemlichkeit: Der Richter allein entscheidet über die Anspruchsvoraussetzungen und über die angemessene Rechtsfolge ganz nach seinem Rechtsgefühl: im Einzelfall. Rechtsgelehrte, die noch an die bindende Kraft einer Rechtsdogmatik glauben, mögen dann ggf. trefflich darüber streiten, ob die hier in Vorschlag gebrachte Zentralnorm des Schuldrechts mittels eines Zusatzes modifiziert werden sollte, ob und wann dem Enttäuschten ein Anspruch auf den Vertrauensschaden (Vertrauensinteresse) oder die Vertrauensentsprechung (Erfüllungsinteresse) einzuräumen ist. Um Streitigkeiten von vornherein auszuräumen, wäre vielleicht auch erwägenswert, ob es nicht lohnte, den Inhalt der Einklauselkodifikation durch einen Wandel in eine Zweiklauselkodifikation etwas zu konkretisieren: In der ersten Klausel wären die Ansprüche auf die Primär‑ und in der zweiten die auf die Sekundärleistung präzisiert. Vielleicht wäre es darüber hinaus gar sinnvoll, die schutzwürdigen Interessen im sozialen Verkehr und die daraus folgenden Rücksichtnahmepflichten und Vertrauenstatbestände in konkreten Schuldverhältnissen genauer zu präzisieren? Man könnte dann sogar einen be45  Die Durchsetzung eines Primäranspruches ist weder bei vertretbaren (vgl. § 887 ZPO) noch bei unvertretbaren (vgl. § 888 III ZPO) Handlungen erzwingbar. Neben den Zahlungsansprüchen sind mithin lediglich Herausgabeansprüche dem theoretischen Anspruch nach durchsetzbar, praktisch aber auch nur bei Liegenschaften; zum Vergleich mit der Problematik im Common Law nur Zweigert / ​Kötz, Rechtsvergleichung (1996), S. 477 ff. 46  Die Ansicht, dass aufgrund eines „etwas naiv verstandenen § 249 qua Naturalrestitution die Aufhebung eines Vertrages aus c. i. c. verlangt werden kann“, wurde offenbar lediglich noch von Manfred Lieb in Zweifel gezogen, vgl. dens. Culpa in contrahendo (2002), S. 141.

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sonderen und einen allgemeinen Teil der Schuldverhältnisse bilden und so zu differenzierten Rechten und Pflichten der Parteien und differenziert angemessenen Rechtsfolgen gelangen (…). Aber wo kommen wir denn dann hin? So eine Kodifikation ähnelte doch zu sehr der, die wir gerade hatten, und die war bekanntlich ausgesprochen lückenhaft. Wo immer man beginnt zu differenzieren, beginnt man auch zu selektieren. Definieren heißt bekanntlich nicht nur eingrenzen, sondern auch ausgrenzen. Das führte nur wieder zu ehrgeizigem Entdeckungsfieber und dogmatischem Streit, ob eine Lücke wirklich vorliegt oder nicht und ob sie gegebenenfalls mittels Analogie zu schließen oder mittels Umkehrschluss als solche zu belassen ist. Was spricht dann aber gegen jene ‚Einklauselkodifikation‘? Die fehlende Transparenz? Vielleicht. Doch wäre nicht schon viel gewonnen, wenn wenigstens die Intransparenz des Rechts transparent würde? Wie viel klarer ist der allein stehende Satz: „Seid rücksichtsvoll!“ gegenüber den Bibliotheken an Kasuistik, Rechtsprechungssammlungen, Kommentierungs‑ und Konstruktionsliteratur, in denen die Rücksichtnahmepflichten spezifiziert sein sollen? Nein, der entscheidende Punkt ist vermutlich doch ein anderer: Die Generalklausel ist nämlich entweder Herausforderung oder sie ist das Ende von Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Sie ist Herausforderung, wenn es darum geht, den bisher nur in groben Konturen umschriebenen Rechtsbereich der Generalklausel zu präzisieren. Und sie ist das Ende, wenn sie das willenlose Ziel unendlicher Abstraktion einer Jurisprudenz ist, „deren Auge von Principien umflort ist“. Eine Rechtswissenschaft, die nur noch Sätze aufstellt, die in ihrer Allgemeinheit weder greifbar noch falsifizierbar sind, hört ebenso auf Wissenschaft zu sein, wie ein Gesetzgeber aufhört Gesetzgeber zu sein, wenn er die maßgeblichen Interessenkonflikte nicht mehr entscheidet, sondern mit vieldeutigen Formeln an die Gerichte delegiert. Es ist schon eine merkwürdige Ironie, wenn die Programmschrift des Freirechts ausgerechnet als „Kampf um die Rechtswissenschaft“ firmierte. Denn die Delegation der Rechtsfindung an den Richter im Einzelfall ist nichts anderes als eine Suspendierung der Rechtswissenschaft von ihrem Beruf und ihrer Verantwortung für das Recht: in jedem Einzelfall. Damit die „Wertlosigkeit der Jurisprudenz“ also nicht allzu augenfällig werde, ist es vermutlich besser, man lasse methodologisch alles beim Alten und schreibe noch eine Vielzahl kleinerer, sich sicherheitshalber inhaltlich überschneidender Generalklauseln ins Gesetz. So vermeidet man nicht nur die suspendierende Simplizität der ‚Einklauselkodifikation‘, sondern auch ein konsistentes System an Rechtsregeln ohne Überschneidungen und problematischen Konkurrenzen. Im Interesse einer umfassenden ‚Lückenlosigkeit‘ bewahrt sich der Reiz dogmatischer Rabulistiken bei ungeklärten Abgrenzungs‑ und Konkurrenzproblemen einzelner Institute und Regelungen – genügend Stoff für die literarischen Monolithen, mit denen Privatdozenten die Tore der Universitäten und die Festigkeit

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des Rechts immer aufs Neue einzuwerfen vermögen: „Je dicker das Buch, desto wirksamer der Erfolg.“47 Die methodologische Phantasie ist für den dogmatischen Positivismus dabei doppelt herausgefordert, weil man einerseits als ‚Willen des Gesetzgebers‘ „im Grunde nur noch den erkennen [kann], wiedergewählt zu werden“48 und weil andererseits der hermeneutische Spielraum noch durch die Vielgestaltigkeit neuer ‚Rechtsquellen‘ erweitert wurde: Das neue Schuldrecht ist in seiner Grundstruktur am UN-Kaufrecht (CISG), den „Principles of European Contract Law“ der sog. Lando-Kommission und den „Principles of International Commercial Contracts“ (Unidroit-Prinzipien) angelehnt, es basiert auf der Umsetzung einer Vielzahl verschiedenster EG‑ und EU-Richtlinien, die als „doppelter Boden“ für die sog. „richtlinienkonforme Auslegung“ und „Vorlagepflichten“ zum EuGH ebenso präsent sind wie natürlich auch das europäische Primärrecht. Und neben all dies tritt die „unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte“. Der Methoden­ anarchismus im „Anything goes“ eines Paul Feyerabend49 zelebriert im deutschen Zivilrecht permanenten Feiertag. Alles läuft auf Dezisionismus und die Frage hinaus: „Who is the final arbiter?“50 c) Die Flexibilität juristischer Unübersichtlichkeit „Wahre oder absolut richtige Problemlösungen hat nach allem auch das Richterrecht der letzten Instanzen nicht zu bieten. Es gibt sie nicht. Aber es gibt nachweisbar gesetzwidrige, zweckwidrige, widersprüchliche, auf Denkfehlern beruhende oder unangemessene, also ‚falsche‘ Lösungen und Entscheidungen. Auch Bundesgerichte können irren. Aber sie irren mit einer besonderen, verfahrensgesetzlich gesicherten Eigenart: Sie irren rechtskräftig.“ Bernd Rüthers, 200351

Das zentrale Problem lückenfüllender Methodologie ist dabei gar nicht die neue Vielgestaltigkeit juristischer Konstruktions‑ und Argumentationsmöglichkeiten, sondern die Variabilität schon des klassischen Methodenkanons: im Einzelfall. Nur ein augenfälliges Beispiel zur modernen Flexibilität der an sich unumstrittenen Regel „lex specialis derogat legi generali“: Einst galt der Satz pacta sunt 47  6. Brief eines Unbekannten, Deutsche Gerichtszeitung, 1866, 309 ff., auch in: Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1884, 11. Aufl. 1912), S. 106. 48  G. Schulze, Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht (2001), S. 167/178. 49  Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie (1976). 50 Zu den damit verbundenen Problemen bei der Rechtsfindung, unten II.; grundsätzlich zur Letztentscheidungskompetenz: Kumm, Who is the final arbiter, CMLR 36 (1999), 351 ff.; Rüthers, Richterrecht (2003), S. 19 f.: „Der überwiegende Teil des heute geltenden Rechts ist nicht mehr das Gesetzesrecht, sondern das Richterrecht der letzten Instanzen … In allen Bereichen … ist für alle Beteiligten und Betroffenen die Frage entscheidend: Wie wird die letzte Instanz entscheiden?“ 51 Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluss des Richterrechts (2003), S. 22.

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servanda als klar verständliche Prämisse für die Vertragstreue im Vertragsrecht.52 Wenn ein Vertrag endlich zustande gekommen war, konnte ein „Motivirrtum“ im Interesse des Verkehrs‑ und Vertrauensschutzes insbesondere nur dann noch beachtlich werden, wenn die Motive nicht autonom, sondern heteronom durch Drohung oder Täuschung vorsätzlich beeinflusst waren. So steht es noch heute in § 123 BGB. Unter Geltung der §§ 280, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, 3 BGB n. F. „kann“ sich jedoch jeder „Motivirrtum“ in „schutzwürdiges Vertrauen“ wandeln.53 Eine kleine rhetorische Wendung mit großer Wirkung: Jeder Teil haftet jetzt für leichte Erklärungsfahrlässigkeit (culpa levis) und wird – wenn er meinte, sich durch Schweigen der Haftungsgefahr zu entziehen – im Zweifel über die ex post-Konstruktion von Aufklärungs‑ bzw. Informationsbeschaffungspflichten zum Garanten für die Motive der anderen Seite. Das nennt sich „Rücksichtnahme“ oder bona fides. Doch so viel dogmatischen dolus konnte sich, wie gesehen, nicht einmal der „Entdecker“ der culpa in contrahendo für grobe Fahrlässigkeit (culpa lata) vorstellen: „Wohin würde es führen, wenn Jemand in außercontractlichen Verhältnissen schlechthin, wie wegen dolus, auch wegen culpa lata in Anspruch genommen werden könnte! … kurz, alles und jedes würde bei vorhandener culpa lata trotz aller bona fides zum Ersatz des dadurch veranlaßten Schadens verpflichten, und die act. de dolo würde in einer solchen Ausdehnung zu einer wahren Geißel des Umgangs und Verkehrs werden, alle Unbefangenheit der Conversation wäre dahin, das harmloseste Wort würde zum Strick.“54

Heute wissen wir immerhin, wohin das führt: Death of Contract. Die römischrechtliche actio de dolo wurde auf culpa levissima in das Zentrum des allgemeinen Schuldrechts und das gesamte Vertragsrecht ausgedehnt. Auf dogmatischer Ebene wird so der oben angesprochene inhaltliche Konflikt zwischen 19. und 20. Jahrhundert durch die Konkurrenz inkompatibler Rechtssätze ausgetragen. Und dieser Konflikt wird durch die abstrakte Weite der gegenläufigen lex generalis kaschiert, die dann von Fall zu Fall ganz freimütig die verbliebenen „legi speciali“ derogiert. Das Problem der Kodifikation BGB war eben zu keiner Zeit seine vermeintliche Lückenhaftigkeit, sondern neben dem wissenschaftlichen Ehrgeiz, unbedingt Neues sagen zu müssen, eine inhaltliche Unzufriedenheit mit den liberalen, bürgerlichen Inhalten des Gesetzes. Über Inhalte und das „richtige Recht“ mag man ja auch getrost streiten. Das Eingreifen des Gesetzgebers ist aber doch nur dann legitim, wenn dieser den Streit tatsächlich entscheidet und nicht einfach an die Rechtsprechung delegiert, die 52 Zuletzt ausführlich zu Inhalt und Geschichte: Weller, Die Vertragstreue (2009), insb. S. 37 ff.: „Vertragstreue und pacta sunt servanda werden begrifflich synonym verwendet.“ m. w. N. 53 Zum Problem auch HKK / ​ Schermaier, §§ 116–124, Rn. 120: „… nicht mehr § 119 und § 123 stehen im Blickpunkt rechtlicher Betrachtung, sondern die Ersatzpflicht dessen, der Auskunftspflichten verletzt hat.“ 54 Jhering, Culpa in Contrahendo, JhJb 4 (1861), 12 f.

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dann einmal liberal (nach altem Recht) und ein anderes Mal sozial (nach neuem Recht) judiziert: je nach Einzelfall. Das Problem der aktuellen ‚Kodifikation‘ ist jedenfalls dank Generalklauseln und Methodenpluralismus nicht ‚mehr‘ ihre inhaltliche Lückenhaftigkeit, sondern die inhaltliche Widersprüchlichkeit ihrer Regelungen. Die Konsequenz ist, wie Jhering es ausdrückte: „in anderer Form dasselbe geben, was man in der einen versagte.“55 Wann aber das eine und wann das andere der Fall ist, hängt ab allein vom: Einzelfall. Die zu Gewohnheitsrecht erstarkte Volksweisheit „zwei Juristen, drei Meinungen“ wurde sicherheitshalber in entsprechend variablen Anspruchsgrundlagen ohne Methodenzwang kodifiziert. Alles läuft auf Pflichtverletzungen der einen oder eben der anderen Seite hinaus. Und so kann sich jede Ansicht in der neuen Kodifikation wiederfinden – nur eine nicht: die noch redet von dem „Blick ins Gesetz“, der angeblich die „Rechtskenntnis fördert“56. Allein noch der letztinstanzliche Richter findet die richtige Konstruktion als „Ergebnis ihres Ergebnisses“57 im: Einzelfall. 3. Wissenschaftliche Geringschätzung: Publizität und Transparenz? „Wenn ich … meinen Endzweck … erlange, so werden freylich viele Rechtsgelehrte bey der Simplifikation dieser Sache ihr geheimnißvolles Ansehen verlieren, um ihren ganzen Subtilitäten-Kram gebracht, und das ganze Corps der bisherigen Advokaten unnütz werden. Allein ich werde dagegen … desto mehr geschickte Kaufleute, Fabrikanten und Künstler gewärtigen können, von welchen sich der Staat mehr Nutzen zu versprechen hat.“ Friedrich II., 178058

Spricht also das Lückenargument im Interesse rechtswissenschaftlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine deutliche Sprache für Generalklausulitis und Konstruktion,59 so bleibt nur noch – man muss es schon fast schamhaft ausdrücken – der Hinweis auf die Rechtssicherheit. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit stehen heute nicht mehr sonderlich hoch im Kurs. Das war lange Zeit anders. Das 55 Jhering,

Culpa in Contrahendo, JhJb 4 (1861), 18. Satz wird H. P.  Westermann zugeschrieben (nach Wesel, Juristische Weltkunde, S. 7). 57  Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (11. Aufl. 1964), S. 166. Das Original findet sich bei Herrmann Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 22: Die juristische Konstruktion „ist nämlich nichts als der Nachweis, daß nur die Anwendung bestimmter Rechtsbegriffe die gewollten Rechtsfolgen gewährt, so daß die Konstruktion die Konsequenz ihrer eigenen Konsequenzen ist“. Hierzu (Voluntarismus und Finalismus) ausführlich oben § 5 I. 58  Cabinetsordre von 1780, S. XII f., zitiert bei Savigny, Vom Beruf unserer Zeit (1814), S. 88, Fn. 1. 59 Deutlich auch Enzenzberger, Von den Vorzügen der Unverständlichkeit, RJ 20 (2001), 523: „Und wo kämen die Hunderttausende von Rechts‑ und Steueranwälten hin, wenn jedermann verstünde, worum es geht? Die Vernichtung von Arbeitsplätzen, die das zur Folge hätte, kann sich kein ordentliches Gemeinwesen leisten.“ 56 Der

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Recht für den Bürger verständlich zu kodifizieren, war der Anspruch aufgeklärter Jurisprudenz. Keiner hat den Grundgedanken der Kodifikationsidee in dieser Hinsicht und mit Blick auf die Wohlfahrt des Gemeinwesens wohl besser auf den Punkt gebracht als seinerzeit Friedrich der Große in einer Cabinetsordre von 1780. Mag man auch die wirkmächtige (und keineswegs unberechtigte60) Aversion Friedrichs gegen Juristen immer mit bedenken, der aufklärerische Gedanke, der hier eindringlich zum Ausdruck kommt, lässt sich weder in seiner Aktualität (ist nicht diese Aversion auch heute vox populi?61) noch in seiner grundsätzlichen Werthaltigkeit ernsthaft leugnen. Hinzu tritt ein zweites: „Denn im Grundgesetz steht, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Also muß das Volk auch kontrollieren können. Es kann aber nicht kontrollieren, wenn es nicht verstehen kann. Und die Justiz ist eine Staatsgewalt. Das Demokratiegebot bedeutet für das Recht ein Verständlichkeitsgebot.“62

Und dennoch: Selbst die letzten Streiter für die Kodifikationsidee zählen den Gedanken der „Publizität des Rechts“ zu ihren „überholten geschichtlichen Grundlagen“.63 „Die Welt ist ein Chaos“, so geht die Metapher, „machen wir  Zu der bisher doch sehr einseitigen Interpretation des Eingriffs in den Prozess des Müllers Arnold durch den preußischen König unter dem alleinigen Gesichtspunkt „Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit“ deutlich Uwe Wesel, Geschichte des Rechts (2. Aufl. 2001), 405 ff.: „Eins jedenfalls ist sicher: Der Meilenstein auf dem Weg zur Unabhängigkeit der Justiz lag ziemlich weit entfernt von Recht und Gerechtigkeit.“ 61 Epstein, Simple Rules for a Complex World (1995), S. 1 ff.: „Too Many Lawyers, Too Much Law“ eröffnet das Thema so: „Q: What are five lawyers at the bottom of the sea? A: A good start.“; ausführlich Benedict, Rechtskritik, Rechtstheorie 40 (2009), 337/345 m. w. N. 62 So der progressive ‚Populismus‘ bei Wesel, Selbstverständlich, RJ 20 (2001), 727/729; ders., Fast alles was Recht ist (1991), S. 36; Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, RJ 20 (2001), 601: „Der Bürger muß seine Grundrechte wahrnehmen und die Demokratie verstehen können.“; vgl. auch Däubler, Recht für den Bürger?, NJW 2000, 2250; auf etwas abstrakterer Ebene Oliver-Lalana, Die kommunikative Bedingtheit des Rechts, ARSP 87 (2001), 542/553: „Nicht rechtlich genehmigte Geheimnisse können kein Recht sein … Die Kommunikation ist heutzutage dazu berufen, und dies sollte unbedingt für demokratische Rechtssysteme gelten, den Maßstab der Qualität des Rechts schlechthin zu bilden. Genau darin liegt das Vermächtnis der Aufklärung: Nicht im Panzerschrank, sondern ‚im Lichte‘ entfaltet sich das Recht (Carl von Rottek).“; Paul Kirchhof zur rechtsstaatlichen Geltungsbedingung von Gesetzen: „Grundsätzlich soll das Gesetz so verfasst sein, daß die Aussage und der Geltungsgrund eines Rechtssatzes für alle Sprachfähigen in derselben Bedeutung verstanden werden kann.“ (Sprachstil und System als Geltungsbedingung des Gesetzes, NJW 2002, 2760); umfassend zum Transparenzproblem die Beiträge in Kent Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, 3 Bde. (2004/2005); Kathrin Kowalski, „Warum versteht mich keiner?“ – fragte das Recht, zu Recht? (2009). 63 K. Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee (1985), S. 35 ff.: „Nur auf der Ebene des Trivialen – etwa der Straßenverkehrsordnung – ist das aufklärerische Publizitätsmodell als Bestandteil der Rechtswirklichkeit akzeptabel.“ (37). An anderer Stelle räumt er dann aber doch ein, dass kodifiziertes Recht „als Mittel der Generalisierung und Rationalisierung von Verhaltenserwartungen … in einer komplizierten Gesellschaftsordnung nicht deplaziert, sondern nur noch mehr vonnöten“ sei (S. 43); J. Schmidt, Vertragsfreiheit und Schuldrechtsreform (1985), S. 11: „Übersichtlichkeit eines Gesetzbuches“ sei „in der heutiger Zeit … kein hinreichendes 60

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daraus nicht die Illusion einer Idylle, die im Frieden einer für alle verständlichen Legalität badet“.64 a) Noch einmal: Der dolus im Rechtsverkehr „Dieselbe Kunst, die … bemüht war, das Recht zu stützen, zu fördern und zu vervollkommnen, diente im Leben auch dazu, seinen Bestimmungen auszuweichen, sie zu umgehen und zu vereiteln.“ Rudolf v. Jhering, 186565 „Und das Schönste – jedenfalls aus der Sicht der Reichen: Sehr viele dieser Praktiken sind vollkommen legal. Darauf beharrt auch die auf den Bermudas gegründete Anwaltskanzlei Appleby, über die viele der infrage stehenden Geschäfte ablaufen: alles legal. Kein Wunder. Hier ist nämlich kein Gesetzesbruch der Skandal – sondern das Gesetz.“ Jakob Augstein, 201766

Dazu wäre einiges zu erinnern: Rechtstheoretisches, Rechtsphilosophisches, Rechtsgeschichtliches und neuerdings vor allem Linguistisches.67 Interessant ist aber vor allem ein weitgehend vernachlässigter rechtssoziologischer Gesichtspunkt. Denn es ist genau betrachtet doch nur ein sehr vordergründiges Argument: das Recht sei gar nicht mehr erfassbar und einfach darstellbar. Das Recht ist schon noch erfassbar, und genau das führt dazu, dass diejenigen, die es erfassen, es sich auch zu Nutze machen. Das gilt nicht nur für die viel gescholtene Intransparenz des Steuerrechts. Die „Rationalisierung von Verhaltenserwartungen“ durch publiziertes Recht war nicht nur ein Ideal der Aufklärung und ist nicht nur abstrakte Theorie, die auf der Basis des anglo-amerikanischen „Behaviorismus“ in der Vorstellung rechtlicher Determinierbarkeit menschlichen Verhaltens bei Theoretikern der „ökonomischen Analyse“ ihre aktuelle rechtswissenschaftliche Attraktivität besitzt,68 sondern sie provoziert tatsächlich empirisch nachweisbar Argument“. Überhaupt ist es um das Thema sehr ruhig geworden. Mit dem Verzicht auf System als wissenschaftlichem Anspruch ging auch der Verfall der Kodifikationsidee einher. 64 Beltz, Mehr Literatur wagen!, RJ 20 (2001), 485/489. 65  Geist des römischen Rechts III (1865, 4. Aufl. 1888), S. 262. 66 Paradise Papers. Zur Hölle mit den Reichen. Spiegel online v. 6. November 2017. 67 Zur Frage der „Verständlichkeit“ von Recht und Gesetz die teils unterhaltsamen, teils informativen Essays in der „Arena“ des Rechtshistorischen Journals (RJ 20, 2001, 479–729) und vor allem das Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Verständlichkeitsforschung „Sprache und Recht“: „Mit dem Interesse einer Verbesserung der Verständlichkeit von Rechtstexten, erforscht die AG Sprache des Rechts deren Entstehung, Auslegung und Anwendung interdisziplinär und mit empirischen Methoden.“; hierzu etwa Dietrich / ​Klein (Hrsg.), Sprache des Rechts, Themenheft der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 30 (2000); Ulrike Haß-Zumkehr (Hrsg.), Sprache und Recht (2002); abschließend das dreibändige Sammelwerk hrsg. von Kent Lerch, Sprache des Rechts: Bd. 1, Recht verstehen (2004), Bd. 2, Recht verhandeln (2005) und Bd. 3, Recht vermitteln (2005). 68  Vgl. neben der einschlägigen Literatur zur ökonomischen Analyse etwa nur: Wesche, Gegenseitigkeit und Recht (2001); Eidenmüller, Der homo oeconomicus und das Schuldrecht, JZ 2005, 216.

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die merkwürdigsten und kompliziertesten rechtlichen Gestaltungen. Aus dem Wirtschafts‑ und Steuerrecht ist die Problematik der „Umgehungsgeschäfte“ durchaus bekannt.69 Es gibt keinen besseren Nährboden für „gute Juristen“ als das komplizierte, unüberschaubare und unverständliche Recht. Es ist der Markt der „Expertise“ und der Gutachten. Egal, ob es gilt, den Gewinn steuerfrei auf den „Cayman-Islands“ einzufahren oder dem EuGH die Flucht vor dem heimischen Gesellschaftsrecht als Ausübung rechtlich geschützter Freiheit plausibel zu machen,70 immer geht es darum, „auf überraschende Weise Sachverhalte von der Anwendung bestimmter Normen auszunehmen und Konstruktionen zu finden, um bestimmte Konsequenzen zu erreichen oder zu vermeiden … Die kunstgerechte juristische Konstruktion von Sachverhalten bewegt sich auf der kaum zu bestimmenden Linie, welche die Gesetzesumgehung und die Gesetzesbeugung von der Rechtsbefolgung trennt.“71 Dieses Phänomen ist als „bad-man-theory“ in der angelsächsischen Tradition des legal realism bekannt.72 Und es ist sicherlich ein Verdienst, dass nach allen neuzeitlichen Beschwörungen des „guten Menschen“ die law and economicsSchule mit dem homo oeconomicus auch die andere Seite des neo-liberalen Zeitgenossen wieder zu Tage fördert. Das Problem ist freilich auch in der deutschsprachigen Rechtstheorie schon seit langem klar benannt: „Die gleiche Zeit, die der klassischen Nationalökonomie den ‚sehr klugen und sehr eigennützigen Menschen‘ zum Ausgangspunkte gab, hat gelehrt, daß der Gesetzgeber sich eben diesen nur aus Klugheit und Eigennutz ohne ein Quentchen Güte zusammengesetzten Menschen als Adressaten seiner Rechtsnormen denken müsse. Aber während die klassische Nationalökonomie sich später einwenden lassen musste, ihre Sätze entsprächen nicht der Wirklichkeit, da die Menschen in der Tat nicht durchweg klug und eigennützig, sondern meist dumm, bequem und gutmütig seien, hat die Gesetzgebung an der Klugheits‑ und Eigennutzpsychologie ihres Adressaten festhalten können. Denn für sie kam es nicht darauf an, wie der Mensch im Durchschnitt, sondern wie er im schlimmsten Falle ist: so eigennützig, daß er keines fremden Gutes schonte, wären ihm nicht Schranken gesetzt, und so klug, daß er jede Lücke dieser Schranken sofort erkennen würde.“73

Das Misstrauen in die Normbefolgung der Normunterworfenen ist, wie es Gustav Radbruch zutreffend lehrte, „die erste Pflicht jedes Gesetzgebers.“ Denn, 69  Vgl. nur Teichmann, Die Gesetzesumgehung (1962); Westerhoff, Gesetzesumgehung und Gesetzeserschleichung (1966); J. Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung (1985); Sieker, Umgehungsgeschäfte (2001); Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht (2004). 70  EuGH, Urt. v. 9. März 1999, Rs. C-212/97, Centros Ltd v. Erhverus‑ og Selskabstyrelsen. 71  Somek, Juristische Expertise, RJ 20 (2001), 698/700. 72 Grundlegend Holmes, The Path of the Law, 10 Harv. L. Rev. (1897), 457/464: „If you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man, who cares only for the material consequences which such knowledge enables him to predict (…).“; dazu Hart, The Concept of Law (1961), S. 39; Posner, The Problems of Jurisprudence (1993), S. 124 ff., 220 ff.; Katz, Ill-Gotten Gains. Evasion, Blackmail, Fraud and Kindred Puzzles of the Law (1996); Duxbury, Law and Prediction in Realist Jurisprudence, ARSP 87 (2001), 402 ff. 73 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (11. Aufl. 1964), S. 107 f.

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„Gesetze sind ja nicht gemacht gegen die Guten, sondern gegen die Schlechten, und je mehr Schlechtigkeit ein Gesetz bei seinem Adressaten voraussetzt, um so besser ist es selbst.“74 Wenn man nun also fragt, worauf die Komplexität und Unklarheit jener vom Recht gezogenen „Schranken“ beruht, dann ist der Hinweis auf die Komplexität und Unklarheit auch der damit einhergehenden Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten nur die eine Hälfte der Antwort. Ein Teil der anderen wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Umgehung und der Missbrauch des Rechts gerade keine Erscheinungen lediglich der aktuellen Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse oder der Globalisierung sind, sondern eine feste rechtsgestaltende Größe in der Evolution des Rechts von Beginn an: Es war zuerst wohl wieder einmal Rudolf v. Jhering, der mit der Beschreibung der „Schleichwege des Lebens“ eben jenes Phänomen als Ursache der Rechtsfortbildung schon im alten römischen Recht analysierte, weil „eins der schwierigsten Probleme, die an den Gesetzgeber überhaupt herantreten können, darin besteht, sein Gesetz gegen Umgehungen sicher zu stellen, und daß alle Kunst, die er aufbietet, es zu schützen, derjenigen, die das Leben anwendet, es zu durchlöchern, zu untergraben, zu stürzen, kaum gewachsen ist.“75 Da dem bis heute so ist, darf man sich getrost darauf verlassen, dass ein guter Teil der Komplexität des Rechts auf eben dieses Phänomen zurückzuführen ist. Was aber bleibt dem Gesetzgeber, wenn er auf der einen Seite müde oder unfähig ist, ständig mit Einzelgesetzen und Novellen die „Schleichwege“ immer wieder transparent zu verstopfen („… tollunt astutias, quatenus manu tenere possunt“), auf der anderen aber auch den nur vereinzelten Missbrauch im Interesse der „Einzelfallgerechtigkeit“ nicht tolerieren mag? Richtig: Intransparenz des Rechts und Delegation des Problems an das richterliche Rechtsgefühl in jedem: Einzelfall.76 Der „bad-man-theory“ in der Wissenschaft korrespondiert die „Schweinehund-Theorie“ in der Praxis: Ein Richter mit ausgeprägtem moralischem Judiz ahnt, spürt, weiß, wer den Prozess seiner Meinung nach verlieren sollte. Das Urteil entspringt dann eher einer intuitiven moralischen Gesamtwürdigung des Sachverhalts und der beteiligten Personen, als der formalen Rechtslage, die es bei widersprüchlichem und intransparentem Recht ohnehin nicht mehr gibt. Wir kennen das schon: Es geht letztlich für das Zivilrecht um die Beseitigung des dolus im Rechtsverkehr.77 Das Problem des Missbrauchs transparenten Rechts wird besonders dort transparent, wo das Recht für jeden sichtbar förmlich  Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (11. Aufl. 1964), S. 107. des römischen Rechts III (1865, 4. Aufl. 1888), S. 264. 76  Lediglich für das Strafrecht ist dieser Weg noch durch Art. 103 II GG versperrt: nulla poena sine lege. (Zu den Auflösungserscheinungen im politischen Strafrecht aber plastisch Bertram, NJW 2002, 111: „Der Gesetzgeber schiebt seiner Justiz ein diffuses und von ihr durchaus unerbetenes Auslegungsermessen zu: nicht aus übergroßem Vertrauen in die Gerichte, sondern aus eigener Unsicherheit …“). 77 Oben § 2 II. 74

75 Geist

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und damit auch besonders einfach und klar hervortritt. Paradigmatisch ist hier die bekannte Diskussion um Formnichtigkeit und „Treu und Glauben“:78 Eine besondere rechtsgeschäftliche Formvorschrift soll – bei einem Grundstückskauf etwa – eigentlich für Rechtsklarheit und Bedachtsamkeit und mithin Endgültigkeit der Entscheidung sorgen. In dem Moment aber, da die vorgeschriebene Rechtsform nicht gewahrt wird – sei es, weil Zahlungen nicht mitbeurkundet werden, man sich mit Handschriftlichem oder dem „Edelmannswort“ begnügt –, erhält der treuwidrige Teil ein Reurecht, weil er sich auf die Nichtigkeit der Vereinbarung berufen kann (§ 125 BGB). Der Nutzen und die offenbare Unbilligkeit dieser Möglichkeit zur Rescission des Kaufvertrages wurde insbesondere in der Zeit der Inflation ganz augenfällig: Die spätere Berufung auf die Formnichtigkeit gewährte dem Verkäufer nach Entwertung des Kaufpreises mit dem Anspruch auf Rückübereignung eine Rendite, von der heutige Kapitalanleger nur träumen. Das Reichsgericht (RGZ 107, 357 ff.) hat dieser Praxis aus „Treu und Glauben“ einen Riegel vorgeschoben, damit aber freilich Verwerfungen in der Dogmatik und bis heute nicht befriedigend gelöste Unsicherheiten und Willkürlichkeiten im Einzelfall provoziert. Die Option eines Reurechts aufgrund gesetzlichen Formzwangs besitzt ihre Aktualität bis heute.79 Das Phänomen selbst macht freilich bei den rechtsgeschäftlichen Formvorschriften nicht halt, sondern begegnet bei der Ausnutzung, der Abbedingung und sonstigen Umgehung, kurz: der Instrumentalisierung von „transparentem“ Recht von einfachen bis verzwickten Sachverhaltsgestaltungen. Einfach beschrieben: der Wissende weiß das Recht sich zunutze zu machen oder es zu meiden, um in jedem Fall seine wirtschaftlichen Interessen gegenüber dem weniger – oder gar Unwissenden durchzusetzen. Es ist also keineswegs so, dass das Recht nicht publik wäre. Es ist vielmehr lediglich eine Frage des Interesses und der Information und wer sich die Mühe macht, sie sich in welchem Umfang zu verschaffen. Und eben hier begegnen uns seit jeher die vermeintlichen Antogonismen: „Einzelfallgerechtigkeit“ und „Rechtssicherheit“. Die Bewährung des klar formulierten Rechts hier und seine stete Wiederauflösung zur Kompensation von gefühlten Ungleichgewichtslagen dort. Und es schließt sich der Kreis im eingangs benannten Konflikt um die Gerechtigkeitsidee: Freiheit und Selbstverantwortung für die „Klugen und Eigennützigen“ auf der einen, 78  Vgl. nur Flume, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. (1992), 263 ff.; Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 86 ff.; und etwa BGH, NJW 1996, 2503; BGHZ 138, 339. Zum Problem schon oben § 2 II.2. (zur Entwicklung der Innominatrealverträge und des Satzes pacta sunt servanda), und § 8 III.2.a) („Druckereipachtfall“). 79  Vgl. etwa nur die Konstellation bei BGH, NJW 1996, 2503: Eine Bauträgergesellschaft hatte einen ungünstigen Vertrag geschlossen, den sie offenbar nicht mehr erfüllen wollte. Darum wird eine Vertragsübernahme konstruiert und nachdem der originäre Schuldner der Vertragserfüllung (eine GmbH) abgewickelt ist, verweigert die Neuschuldnerin mit Hinweis auf die Formunwirksamkeit der Vertragsübernahme die Erfüllung.

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Gleichheit und Schutzpflichten für die „Dummen, Bequemen und Gutmütigen“ (Radbruch) auf der anderen Seite. Vom aufklärerischen Standpunkt ließe sich durchaus konstatieren: Wer das Recht nicht zur Kenntnis nimmt, den schützt das Recht auch nicht. Ein Rechtsirrtum ist eben grundsätzlich ein unbeachtlicher Motivirrtum, und zwar insbesondere deshalb, weil die Möglichkeit zur richtigen Motivbildung bestand. Bei einer einigermaßen annehmbaren Transparenz des Rechts ginge dieser Standpunkt sicherlich an, und man hätte nicht nötig, den „Motivirrtum“ oder die „Bequemlichkeit“ als „schutzwürdiges Vertrauen“ zu deklarieren oder die Aufklärung über die Rechtsfolgen der informierten Seite als (heimliche) Rechtspflicht aufzuerlegen. Doch eben jener oben beschriebene Vorgang, die „Schleichwege“ immer wieder zu verbauen, hat frühzeitig eingesetzt. Die damit verbundene stete Ausdifferenzierung des Rechts hat so zu der bereits von Wolfgang Zöllner kritisierten „Ausziselierung der Dogmatik“ mit Regel, Ausnahme, Rückausnahme etc.80 und mithin zur Komplexität schon des gesetzten Rechts, das selbst Durchschnitts‑ und Prädikatsjuristen in seinen Zusammenhängen kaum mehr durchschauen, durchaus einen eigenständigen Beitrag geleistet. Im sozialogischen 20. Jahrhundert wurde dieser Vorgang durch wissenschaftliches Entdeckungsfieber und erstarktes richterliches Selbstbewusstsein weiter forciert: Die verstärkte Sympathie für den schutzbedürftigen „good little man“ (modern typisiert: „Verbraucher“), der sich ob des vermeintlichen Wohlstandes in immer mehr rechtsgeschäftliche Bereiche vorwagte (die Doktrin trägt keine Bedenken, selbst Kapitalanleger als Verbraucher zu kategorisieren)81 und dort scheiterte, sann in immer mehr Konstellationen auf Abhilfe. Diese Abhilfe ging die zwei klassischen Wege: 1. Wettkampf der juristischen Konstruktionen und 2. Generalklausulitis. Im ersten Fall wurde (und wird) mit selber Münze zurückgezahlt und mittels transparenter Rechtssätze finalistisch und pseudodogmatisch konstruiert; ein Vorgang, der den Reiz dogmatischer Zivilistik ausmacht oder ihn vergällt, weil er sich in Folgekonstruktionen und Folge-Folgekonstruktionen verselbständigt, bei denen dann nicht nur der inhaltliche Kern der Materie sehr schnell aus dem Blick verschwindet, sondern auch eine konsistente und klare Systematik des Rechts verloren geht („Cultus des Logischen“).82 Die Alternative zum Kon80 Zivilrechtswissenschaft

85.

und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert, AcP 188 (1988),

 Hierzu nur Benedict, Responsible Lending, ZEuP 2008, 394. Vorgang ist für das Zivilrecht geradezu kennzeichnend, und er hat einen zentralen Beitrag zur oben angesprochenen „Entphilosophisierung“ des Zivilrechts geleistet: ausführlich hierzu ob § 5 I.; insb. Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 20 ff.; Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz (1909), S. 1 ff.; daneben noch Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht (1992); sehr anschaulich ist das Problem in jüngerer Zeit etwa bei der mehr als komplizierten Konstruktion einer Formnichtigkeit der Blankettbürgschaft über das Vertretungsrecht und teleologische Re81

82 Dieser

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struktivismus ist die freie Rechtsschöpfung aus dem weiten Ermächtigungspool der Generalklauseln im zweiten Fall: „stillschweigende Willenserklärungen“, „fingierte Vertragsschlüsse“, „faktische Verträge“, „Treu und Glauben“, „culpa in contrahendo“, „Schutzpflichten“, „Vertrauenshaftung“ und „unmittelbare Drittwirkung“ der Grundrechte und Interessen, kurz: Billigkeitsjurisprudenz im: Einzelfall („Kultus des Orakels“). Die Summe von alledem liegt mittlerweile endgültig vor: intransparentes Recht. Noch einmal: Nicht das Recht per se meidet die Transparenz, sondern diejenigen, die für seine Transparenz verantwortlich zeichnen. Und das ist auch – aber nicht allein – die Rechtsprechung. Die nimmt nur die Freiräume willig oder notgedrungen wahr, die ihr rechtswissenschaftliche und legislatorische Willenlosigkeit oder Ohnmacht überlassen. Bereits Hermann Kantorowicz hat 1906 zur Begründung seines freirechtlichen Standpunktes den gegenwärtigen Rechtszustand zynisch seherisch antizipiert: „… die staatlichen Gerichte selbst beziehen sich immer mehr auf Treu und Glauben, auf gute Sitten, auf die Anschauung des Verkehrs, auf billiges Ermessen und andere Gesetzessurrogate. Freilich: ‚dem ausdrücklichen, staatlichen Befehle folgend‘, sagt der beliebte Einwand,  – der demnach staatlichen Willen noch in seiner Selbstverneinung zu erkennen vermag.“83 Und die Wissenschaft produziert rechtliche Konstruktionen, die sie selbst nicht für gesetzlich normierbar hält.84 Kurz: Es ist nicht die Materie des Rechts an sich ungeeignet, transparent gestaltet zu werden. Der fehlende Wille zur Gestaltung ist es, der von vornherein von der Unmöglichkeit transparenten Rechts reden lässt. Wie völlig anders klingen noch die Worte Friedrichs in jener Cabinetsordre von 1780. Und sieht man nicht bis heute im preußischen Allgemeinen Landrecht die ursprüngliche Quelle der culpa in contrahendo.85 Offenbar ist es keineswegs unmöglich, eine inhaltlich ebenso umfassende wie in der Form präzise und volksnahe Kodifikation und mithin eine Synthese von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Selbst Savigny konnte in seiner Berufsschrift letztlich nicht wirklich so duktionen von §§ 167 Abs. 2, 182 Abs. 2 BGB (hierzu Benedict, Wi(e)der die Formwirksamkeit der Blankettbürgschaft, Jura 1999, 78) oder beim Kampf zwischen Verbraucherschützern und Bankenvertreter um die sog. „Schrottimmobilien“ geworden, hier wurde vor lauter engagierter Interessenjurisprudenz letztlich sogar der Sachverhalt für die Normen zurecht konstruiert, hierzu: Benedict, Überrumpelung beim Realkredit, AcP 206 (2006), 56 ff.; zum Phänomen ausführlich auch Foerste, Verdeckte Rechtsfortbildungen, JZ 2007, 122 ff.; Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildung (2007) jeweils m. w. N. 83  Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), S. 39. 84 Ausführlich oben § 7 III.1.b), § 8 III.1., insb. Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 233: In der „Vertrauenshaftung“ und der Konzeption von einer „Selbstbindung ohne Vertrag seien „jeweils neue und hochgeneralisierte Zurechnungsgründe jenseits von Vertrag und Delikt“ entwickelt, die „sich augenscheinlich einer sinnvollen Positivierung, nicht anders als etwa das culpa-Prinzip oder der Zurechnungsgrund der Gefährdungshaftung“ entzögen. 85 Hierzu oben § 3 II.2.b).

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kritisch zum preußischen ALR sein, wie es der Grundtenor seiner Schrift nahe gelegt hätte.86 Muss man nicht das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen? Dies ist die schlichte Quintessenz, die sich auch bei Goethe gewürdigt findet: „Den lob’ ich, der Unmögliches begehrt.“87 b) Der Zusammenhang von Inhalt und Form „Ein zweyfacher Sinn ist dem Juristen unentbehrlich: der historische, um das eigenthümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen, und der systematische, um jeden Begriff und jeden Satz in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen anzusehen, d. h. in dem Verhältniß, welches das allein wahre und natürliche ist.“ Friedrich Carl v. Savigny, 181488

Voraussetzung für einen Willen zur Transparenz ist freilich auch eine klare Antwort auf die beiden Grundfragen der Kodifikation: Inhalt und Form. Und insoweit bedarf es erstens einer sicheren Vorstellung vom Inhalt dessen, was Recht sein soll. Nur die Klarheit über den Inhalt kann auch zur Klarheit in der Form führen: „Die kompliziertesten juristischen Probleme lassen sich einfach und verständlich beschreiben. Wenn man sie selbst verstanden hat. Selbstverständlich.“89 Und man muss zweitens eine Vorstellung von Interesse und Auffassungsgabe derjenigen haben, denen man die Inhalte verständlich machen will: „allen Sprachfähigen“, dem mündigen Bürger, dem eher skeptischen oder dem eher naiven „Durchschnittsverbraucher“, dem studierten Juristen oder demjenigen,

86  „Jede Regierung ist zu tadeln, welche die Einsichten ihres Zeitalters nicht kennt oder verschmäht. Von dieser Seite aber ist die Preußische Gesetzgebung gewiß keinem Vorwurf ausgesetzt. Die Stimme nicht blos der Geschäftsmänner, sondern aller Deutschen Gelehrten, ist aufgerufen und gehört worden, und jeder unbefangene Beobachter wird einräumen, daß, was gethan und unterlassen worden ist, dem Sinn und der Einsicht des Zeitalters vollkommen entsprach.“ (Vom Beruf unserer Zeit, 1814, S. 92). 87 Goethe, Faust II, 2. Akt, Vers 7488. 88  Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 48. 89 Wesel, Selbstverständlich, RJ 20 (2001), 727/729. Aus eben diesem Grunde halte ich auch den aktuellen „interdisziplinären“ Schulterschluss von Linguisten und Juristen für modernen Aktionismus. Juristen mögen ihre sprachlichen und stilistischen Fähigkeiten schulen, aber einen verständlichen Text abzufassen, setzt vor allem ein klares Verständnis von den zugrundeliegenden Verhältnissen und Regelungsbedürfnissen und eine klare Vorstellung von ihrer verbindlichen Lösung voraus. Für die Idee eines von Linguisten entworfenen und zu sanktionierenden „Handbuchs der Rechtsförmlichkeiten“ (Empfehlungen des Bundesministeriums der Justiz zur einheitlichen rechtsförmlichen Gestaltung von Gesetzen und Rechtsverordnungen nach § 38 Abs. 3 GGO II, Bundesministerium der Justiz 2., neubearb. Aufl. Bundesanzeiger-Verl. 1999) gilt noch immer das Gleichnis von den zwei Blinden, die einander führen sollen: Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Man sollte die Notwendigkeit des Rechtsformalismus nicht dadurch zu überwinden glauben, dass man das Problem dem Formalismus der „Sprachkritikaster“ anheim stellt (zur Kritik der Kritiker aus dieser Üerspektive: Willy Sanders, Sprachkritikastereien oder was der „Fachler“ dazu sagt, 2. Aufl. 1998).

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der die Gesetze sowieso nicht liest?90 Das ist doch das Grundgesetz aller Hermeneutik: Wer sich verständlich machen will, muss auch eine Vorstellung haben von dem Verstand desjenigen, an den er sich richten möchte. Selbstverständlich. Aber beides – Klarheit über den Inhalt wie über den zu erreichenden Adressaten – fehlt der Jurisprudenz; denn beides setzt bereits in der Grundmotivation mehr voraus als die behagliche These von der „Unmöglichkeit“ transparenten Rechts, die Beruhigung in einer Delegation an den Richter im Einzelfall und die methodologische Freude darüber, dass das „Verhältnis von Richterrecht und Gesetzesrecht sich im Laufe des 20. Jahrhunderts dramatisch verändert“ habe und dies auch durchaus so bleiben könne, weil der „Fachjurist“ inzwischen gelernt habe, „mit einem umfangreichen, hochdifferenzierten und das geschriebene Gesetzesrecht weithin überlagernden Richterrecht zu leben.“91 Bedenklich ist freilich, dass diejenigen, die allein für transparentes Recht sorgen könnten, gar kein Interesse an einem solchen Recht haben; denn es machte sie selbst überflüssig: die Juristen. Diesen Grund sollte man klar benennen und nicht einen imaginären „Trend zur Verwissenschaftlichung des Rechts“ dafür verantwortlich machen. Die Rechtswissenschaft kann – wie die Geschichte lehrt – das eine oder das andere Ziel verfolgen. Sie muss sich nur klar darüber verständigen, was das sei: Rechtswissenschaft? Eine kennzeichnende Tendenz des 20. Jahrhunderts scheint es jedenfalls gewesen zu sein, die „Wissenschaftlichkeit“ gerade darin zu sehen, Recht möglichst wieder intransparent werden zu lassen. Mit welcher Vordergründigkeit das Lamento wider die Publizität und Transparenz des Rechts bemäntelt ist, verdeutlicht etwa ein Blick in die Materie, in der es ebenso vordergründig noch Sache des Privaten sein soll, seine Rechtsverhältnisse selbst zu gestalten. Dort ist das seit Jahren als Mittel der Inhaltskontrolle gehegte „Transparenzgebot“ mittlerweile tatsächlich Gesetz geworden: § 307 Abs. 1, S. 2 BGB. Vom Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen wird 90 Im Adressatenkreis unterscheiden sich etwa schon das ALR und das BGB ganz maßgeblich. Während jenes von vornherein durchaus den aufgeklärten und aktiven Bürger als Adressaten anvisierte, zielte dieses vom intellektuellen Anspruch auf den ausgebildeten Juristenstand. So soll Windscheid in seinen Vorlesungen klar ausgesprochen haben: „Gesetzbücher werden nicht für den Laien gemacht, sondern für den Richter. Der Wert eines Gesetzbuches liegt darin, daß es für den Richter verständlich ist. Der Laie braucht es nicht zu verstehen.“ (vgl. Louis Günther, Recht und Sprache. Ein Beitrag zum Thema vom Juristendeutsch, 1898, S. 157, Fn. 224); weitere Nachweise bei Lerch, Vom Bemühen, die Gesetze verständlicher zu machen, RJ 20 (2001), 634 ff. Insoweit geht die Kritik an der ursprünglichen Technizität und Abstraktheit des BGB ins Leere: Es war von vornherein ein Buch von Juristen für Juristen. Zur aktuellen wissenschaftlichen Suche nach dem intellektuellen Niveau des „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“ etwa: Dick, Das Verbraucherleitbild der Rechtsprechung (1995); Niemöller, Das Verbraucherleitbild in der deutschen und europäischen Rechtsprechung (1999); Blaurock, JZ 1999, 801; Helm, FS Tilmann (2003), S.  135 ff.; Ried, Eigenverantwortung und Konsumverhalten (2008); Kenning, Ist der „mündige Verbraucher“ eine Fiktion?, ZfWU 14 (2013), 282; Wiebe, FS Köhler (2014), S. 799 ff. 91 Köndgen, Positivierung der culpa in contrahendo (2001), S. 234.

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nunmehr also ausdrücklich Unmögliches verlangt: eine transparente Fassung der Vertragsbestimmungen. Wann genau diese Anforderung erfüllt ist, bleibt natürlich intransparent.92 Vertragsfreiheit wird mithin ausdrücklich unter einen nicht erfüllbaren Vorbehalt im Einzelfall gestellt. Und es überrascht denn auch gar nicht, wenn mittels dieser Generalklausel selbst klare und inhaltlich nicht zu beanstandende Regelungen zu Fall kommen.93 Was soll man eigentlich von einem Gesetzgeber halten, der den Rechtsunterworfenen etwas abverlangt, was er selbst als Unmöglichkeit begreift? Das begreife wer will! „Der eigentliche Adressat der Kontroverse, der Gesetzgeber, schreibt zwar mehr denn je anderen vor, sich einfach und verständlich auszudrücken, nimmt sich aber um so deutlicher von dieser Verpflichtung aus. Erst recht kommt es darauf an, noch schärfer und nachhaltiger als bisher zu fragen, wann fehlende Klarheit wirklich ein Sprachproblem ist und wann Unverständlichkeit nur Regelungsunwilligkeit verhüllt und rationalisiert. Genau dies offen zu legen und sich nicht in eine ebenso verfehlte wie müßige Debatte über die Sprache des Rechts abdrängen zu lassen, ist daher mit die wichtigste Aufgabe einer Verständlichkeitsdiskussion.“94

In der Sache freilich wird erneut deutlich, was das eigentliche Agens regelungsunwilliger Rechtsverwirrungen ist: Recht darf für den ‚Rechtskundigen‘ nur insoweit kalkulierbar bleiben, wie dies die richterliche Gerechtigkeitskontrolle zu akzeptieren bereit ist: im Einzelfall. c) Ein tieferer Zusammenhang: Intransparenz und Einzelfallgerechtigkeit „Das Ordal ist eine Sonderform des Orakels, des Wahrheitsspruchs eines höheren Wesens, eines Geistes oder einer Gottheit. Beim Ordal fallen Wahrheitsspruch und Sanktion zusammen, indem man Leben oder Gesundheit riskiert (…).“ Uwe Wesel, 200195

Die „Selbstverneinung“ von Wissenschaft und Gesetzgeber und der Sieg des Freirechts werden besonders deutlich in § 241 Abs. 2 BGB. Das, was anerkanntermaßen Aufgabe des Gesetzgebers ist: die divergierenden Parteiinteressen 92 In der nunmehr Gesetz gewordenen Fassung findet sich sicherlich nicht ganz zufällig die bereits bei § 241 Abs. 2 BGB verwandte originelle „tatbestandliche Ermessenskonstruktion“ wieder: „Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, daß die Bestimmung nicht klar und verständlich ist“. 93  Hierzu Benedict, Beschränkte Privatautonomie bei Barterverträgen – oder zur „Intransparenz“ richterlicher Inhaltskontrolle, NJW 2000, 190; ders., Der Maßstab der AGB-Kontrolle, JZ 2012, 172 ff. jeweils m. w. N. 94  So das zutreffende Fazit bei Simitis, Verständlichkeit des Rechts – Illusion oder konkrete Utopie?, RJ 20 (2001), 686/696 f.; ähnlich Enzenzberger, Von den Vorzügen der Unverständlichkeit, RJ 20 (2001), 83/84: „Unter diesen Umständen werden Verheißungen wie des Transparenzgebotes, weil sie nicht einlösbar sind, als Hohn empfunden; vermutlich werden sie die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates weiter unterminieren.“ 95 Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart (2. Aufl. 2001), Rn. 27.

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in klaren Rechtsnormen zum Ausgleich zu bringen und Interessengegensätze zu entscheiden, wird mit spitzen Fingern an die Parteien selbst delegiert. Das nennt man vorderhand „Privatisierung von Staatsaufgaben“, hinter der Hand zuweilen auch ein „legislatorisches Armutszeugnis“. Doch trifft das tatsächlich den Kern dieser Norm? Ich glaube nein; denn das, was das „Transparenzgebot“ für den Geschäftsverkehr mit AGB, das ist die culpa in contrahendo und ist der neue § 241 Abs. 2 BGB für den Gemeingebrauch: Ob das Deliktsrecht versagt, ein Vertrag am Vertragsschluss scheitert oder unwirksam ist, ob es unerwünschte Pflichten zu beseitigen oder erwünschte Pflichten zu begründen gilt, § 241 Abs. 2 BGB legitimiert endlich, was entweder nur durch künstliche Konstruktion zu erreichen oder doch zuweilen mit Unbehagen als willkürliches Richterrecht beäugt ward. Warum hat ein Jahrhundert nicht genügt, die ‚entdeckten‘ Lücken des BGB mit klaren Regelungen zu schließen? Richtig: „Billigkeit“ lässt sich nicht kodifizieren, sondern nur praktizieren. Klare Regeln führten doch wieder nur dazu, dass ein Teil der Rechtsunterworfenen sein Verhalten danach einzurichten wüsste, während der andere Teil so wie bisher – bald dies, bald jenes wollend – ein Opfer seiner Unwissenheit und unbedachten Motive würde. Darf man den Richter nun der Instrumente berauben, derer er bedarf für die ‚Gerechtigkeit‘ des: Einzelfalls? Das sei ferne! Man führe sich den fatalen und unmöglichen Zustand einer klar differenzierten Rechtsordnung vor Augen: Der Richter müsste dogmatisch konstruieren, sich dem Kultus der Scheinlogik ergeben, er müsste Willen fingieren, pseudophilologisch und teleologisch Prinzipien deklamieren, um endlich das billige Ergebnis teuer aus einer Kodifikation ‚herauszulesen‘, die von diesem Ergebnis nichts weiß. Bestünde angesichts derartiger (schein) methodologischer Hürden nicht die Gefahr, dass der judikative Voluntarismus für die ‚gerechte Sache‘ sich als ähnlich schwach erweist wie der legislative? Nein, der Kampf um den Einzelfall muss zwangsläufig einhergehen mit dem subtilen Streben nach Unkalkulierbarkeit. Was wäre da schädlicher als die Publizität dessen, was „Im Namen des Volkes“ ex post als „Recht“ erkannt wird? Ist es tatsächlich noch immer rechtshistorisches Gemeingut, dass die Tat des Cn. Flavius ein Meilenstein in der Entwicklung des Rechts gewesen sei?96 Weit gefehlt! Denn die Publikation dessen, was die Pontifices bisher wohlweislich geheim gehalten hatten, führte nicht nur zu jener fatalen Spaltung im Volke, die wir 96  Zu diesem Vorgang nur Pomponius, D. ​1, ​2, ​2, ​7 (Die Geheimkunde der pontifices habe damit ihr Ende gefunden.); Wieacker, Römische Rechtsgeschichte (1988), § 32 II.2. (S. 524 f.) mit umfassenden Nachweisen („Viele Quellen sehen in der Veröffentlichung der Fasten den Bruch eines Priestergeheimnisses zum Besten des Volkes …“); kritisch in dieser Bewertung schon Schulz, Geschichte (1961), S. 11 f.: „Neuere Romanisten haben diesen Roman weiter ausgemalt: Appius habe mit diesen Publikationen einen vernichtenden Schlag gegen das Pontifikalkollegium geführt. Er habe damit das Monopol der Jurisprudenz, das diese ‚geistlichen Herren‘ sich angemaßt hätten, endgültig gebrochen und das Tor für eine profane Rechtswissenschaft aufgestoßen. Das alles ist zurückzuweisen (…)“.

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heute als Ungleichheit zwischen Wissenden und Unwissenden als Übel begreifen (Informationsasymmetrie), sondern setzte auch jene von Jhering beschriebene Spirale in Lauf, bei dem die säkularisierten Nachfahren der römischen Priester, die man bis auf den heutigen Tag argwöhnisch als „Juristen“ bezeichnet, in einen unendlichen Wettbewerb um die Verkomplizierung des Rechts eingetreten sind. Doch das Ziel der Rechtsevolution ist endlich in Sicht: Die Publikation verliert ihre Brauchbarkeit im „anything goes“ der Generalverklausulitis, und Rechtsfindung wird wieder eine die kognitive Ungleichheit nivellierende Geheimwissenschaft für den: Einzelfall. Doch noch einen Schritt weiter zurück auf der Zeitachse der Rechtsevolution: Ist es tatsächlich immer noch rechtshistorisches Gemeingut, dass das Ordal aller archaischen Rechtskulturen97 eine irrationale und unsinnige prozessuale Einrichtung gewesen sei? Ebenfalls weit gefehlt! Denn das Gottesurteil war seinerzeit ebenso wie heute die Generalklausel ein notwendiger Fortschritt im Rechtsgang. Bis zur Etablierung Gottes als streitentscheidende Instanz war nämlich der Ausgang eines Rechtsstreits für den Kläger viel zu berechenbar: Eides-, Zeugen‑ oder sogar Richterschelte führten immer zum Gerichtszweikampf.98 Der Missbrauch des Rechtsgangs wurde ob seiner diesbezüglichen Kalkulierbarkeit zwangsläufig unerträglich. Schon damals schützte das einfache transparente Recht vor allem den „bad man“, den Starken und Wissenden. Von Gerichtszweikampf und Ordal, dem Geheimnis des Rechts und seiner Publizität führt eine kontinuierliche Linie zur aktuellen Intransparenz des Rechts. Zwischen dem Ordal und der aktuellen Generalklausulitis besteht hinsichtlich der Kalkulierbarkeit des Rechtsgangs lediglich ein kleiner Unterschied: Dort entschied das Vertrauen auf Gott, hier das Vertrauen in den Richter. Doch dieser ist, was offenbar häufig vergessen wird, auch nur ein Mensch.

97 Vom Begriff „Ordal“ (afrs. ordel, urdel, ags. ordal): das „Erteilte“, leitet sich bis heute das Wort „Urteil“ her. Zu den Ordalien im germanischen Recht vgl. nur Richard Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte (2. Aufl. 1894), S. 42; Dahn, Studien zur Geschichte der germanischen Gottesurteile (1857); Mitteis / ​Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte (1992), 10 III.2. („weite Verbreitung im ganzen indogermanischen Kulturkreis“); H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte (2004), Rn. 175 ff. (klarstellend: „Ordale finden sich in allen archaischen Rechtskulturen, so dass die Frage nach dem Herkommen der europäischen Gottesurteile sinnlos ist.“); Mehlig, Das altindische Ordal, FS Schiedermair (2001), S. 63 ff. Wesel, Geschichte des Rechts (2. Aufl. 2001), Rn. 27; exemplarisch für die ethnologische Betrachtung: Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande (1978), S. 14 ff., 44 ff, 186 ff.; für den Prozess bei den Nuer: ders., The Nuer (1940), S. 152 ff.; Wesel, Frühformen des Rechts (1985), S. 255 ff. 98 Vgl. etwa nur Sachsenspiegel, Ldr I/63; Siegel, Geschichte des deutschen Gerichtsverfahrens (1857); Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte (8. Aufl. 1930), S. 23 ff.; Fehr, Der Zweikampf (1908); Israel, Sehnsucht nach Eindeutigkeit? Zweikampf und Ordal im Mittelalter (2013).

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II. Vertrauen ohne Haftung: Die Orakel des Rechts „Ich glaube hieraus den Schluß ziehen zu dürfen, daß ein gutes Gesetzbuch alle gewöhnlichen Fälle durch positive Normen geregelt, enthalten müsse, sonst werden die Richter über die Anwendung der Pricipien des Gesetzbuches, eben so wie die Schulen über die verschiedenen Systeme, in schwankende Theorien gerathen, oder ein eigenes usuelles Recht allmählig bilden, nicht zu gedenken, daß von den Richtern kein außerordentliches Maß von Einsichten und Scharfsinn erwartet, oder gefordert werden könne.“ Franz v. Zeiller , 181699 „Der Raum für eine Gefühlsjurisprudenz muß immer enger werden, das ist eine der vornehmsten Aufgaben der Rechtswissenschaft.“ Erwin Riezler, 1946100 „Reich kritisierte den allgemein ablehnenden Unterton gegen den Gesetzgeber, wie er auch im Referat von Dauner-Lieb deutlich geworden sei. Die Diskussion solle sich auf die sachliche Kritik einzelner Regelungspunkte beschränken. Wichtig sei dabei, daß richterliche Gestaltungsspielräume weder beseitigt werden könnten noch sollten. Köndgen führte dazu ergänzend an, daß dies umso mehr gelten müsse, als die deutsche Justiz, insbesondere im internationalen Vergleich, über jeden Zweifel erhaben sei. Das Misstrauen gegen Richterrecht sei deshalb nicht nachvollziehbar.“ Diskussionsbericht, Regensburg 2000101

Dass nun aber das Vertrauen in die Justiz mehr und mehr verloren gegangen ist, war auch dem Reform-Gesetzgeber zur Jahrtausendwende102 aufgefallen: „Der Zivilprozess muss bürgernäher, effizienter und durchschaubarer werden. … Eine Reform des Zivilprozesses muss die strukturellen Rahmenbedingungen dafür verbessern, daß die Prozeßparteien schnell zu ihrem Recht kommen und eine Entscheidung erhalten, die sie verstehen und akzeptieren. Dadurch wird die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem materiellen Recht erhöht und der Rechtsfrieden nachhaltig gestärkt.“103  99 Abhandlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie II (1816), S. 173. 100  Das Rechtsgefühl (1946), S. 190. 101 Jansen, Diskussionsbericht, in: Ernst / ​Zimmermann (Hrsg.), Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform (2001), S. 331. 102  Aus der umfassenden Reform-Literatur nur: Helmut Bischof, Schlanker Staat – Große oder vernünftige Justizreform, ZRP 1999, 353–356; Däubler-Gmelin, Reform des Zivilprozesses, ZRP 2000, 33–38; Manfred Dauster, Eckpunkte einer Justizreform, ZRP 2000, 338–345; Stefan Freuding, DAV-Forum „Justizreform  – Zivilprozeß, NJW 2000, 792–795; Reinhard Greger, Justizreform? Ja, aber …, JZ 2000, 842–851; Christoph v. Mettenheim, Über den allmählichen Verfall der Zivilrechtspflege  – Pessimistische Gedanken zur anstehenden Reform der Zivilprozeßordnung –, AnwBl 2000, 400–404; Hans-Joachim Musielak, Reform des Zivilprozesses, NJW 2000, 2769–2779; Ralph Neumann, Personelle Stärkung der ersten Instanz entscheidend für Gelingen der Reform, DRiZ 2000, 82; Heidemarie Renk, Rechtsmittelreform – so nicht! DRiZ 2000, 171–174. 103  Begründung des Regierungsentwurfs zum „Zivilprozessreformgesetz“ (ZPO-RG), BTDrucks 14/3750, Begr. Teil A I, S. 35 (auch Beilage zu NJW 2000, Heft 40).

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Aber wie kann ein Zivilprozess „durchschaubarer“ werden, wenn es das materielle Recht nicht ist? Wie soll ein Richter zügig „Rechtsfrieden“, „Verständnis“ und „Akzeptanz“ schaffen, wenn ihm das materielle Recht Steine statt Brot reicht? Wie soll die „Zufriedenheit“ mit einem materiellen Recht erhöht werden, das in sich selbst uneins ist? Es gibt einen einfachen Zusammenhang zwischen Transparenz und Rechtsfindung im Gerichtsprozess, der mittlerweile kaum noch realisiert wird. Wir erinnern uns an das Zeugnis, das Achim v. Arnim zum preußischen Allgemeinen Landrecht abgegeben hat: „Und da möchte ich wohl fragen, wie es anders zu erreichen war, dass im Preussischen selbst der Bauer das Rechtswesen nicht mehr wie in Hessen für eine geheimnisvolle Geisterbeschwörung und Glücksspielerei, sondern für etwas Treues, Ehrliches und sehr Würdiges hält, gern sich die Stellen im Landrecht zeigen läßt und sich fast immer damit von thörigten Processen zurückhalten läst. Da zeig ihm einmal das beste Compendium über römisches Recht mit allen lateinischen und literarischen Citaten, ob es diese Wirkung hat. Was Friedrich der II roh ausdrückte (S. 88) Subtilitätenkram u. s. w., hat diesen sehr ernsten Sinn. Das Landrecht war für unser Volk in rechtlicher Hinsicht so wichtig wie Luthers Bibelübersetzung, weder die Bibel noch das Gesetzbuch werden eigentlich im Volke gelesen, aber nachgeschlagen werden beide, jeder kann dazu kommen und dieser Zustand ist auch im übrigen Deutschland wünschenswerth.“104

Die Akzeptanz des Rechts korrespondiert mit der Verständlichkeit desselben. Wer immer über eine Reform des Zivilprozesses nachdenken will, darf den Zustand des materiellen Rechts nicht aus dem Blick lassen. Er kann dort schwerlich mehr Form geben, als sie hier zugelassen ist. Das Missverständnis ist freilich kein Zufall: 1. Rechtsfrieden: Prozessrecht und materielles Recht „Was ich der Theorie des Schadensersatzes wegen culpa in contrahendo hauptsächlich vorwerfe und was auch von ihren Vertheidigern keineswegs widerlegt wurde, ist Folgendes. Man bezieht sich, um dem Einwurf der Unpracticabilität einer solchen Entschädigungspflicht abzuwehren, auf das freie richterliche Ermessen. Allein gerade hierin liegt der größte Mißstand, daß die Parteien damit dem Processe verfallen sind, daß Processe fast unvermeidlich werden (…).“ Josef Kohler, 1889105

Seit der Trennung der prozessrechtlichen Seite einer Klage (actio) von ihrem materiell rechtlichen Inhalt (Anspruch) Ende des 19. Jahrhunderts106 geriet der Zusammenhang zwischen transparenter Rechtsordnung und transparenter 104  Brief von Arnim an Savigny, mitgeteilt von Steig, ZSGerm 13 (1892), 228/230; auch bei H. Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (2. Aufl. 1994), S. 29. 105  Kohler, Ueber den Willen im Privatrecht, JhJb 28 (1889), 166/226 f. 106  Grundlegend Windscheid, Die Actio des römischen Zivilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts (1857).

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Rechts­findung immer mehr aus dem Blick. Materialisten hier, Prozessualisten dort107  – nur eines der Opfer der bereits erwähnten immer weiter forcierten Spezialisierung im Recht. Doch spätestens seit Dietrich Dörners „Logik des Mißlingens“108 sollte es sich herumgesprochen haben: Entscheidungen in einer komplexen Welt können nur dann zweckmäßige Entscheidungen sein, wenn in ihnen alle maßgeblichen Konstanten und Variablen in ihrem Zusammenwirken berücksichtigt werden. Das, was sich bei Dörner als „beklagenswertes Schicksal“ experimentell in „Tanaland“ und „Lohhausen“ einstellt, findet seine erbarmungslose Realität auch auf dem Gebiet, auf dem seit einiger Zeit eine besondere Experimentierfreude in deutschen Landen herrscht: dem des Rechts. Die Eindimensionalität der hierbei immer wieder anzutreffenden Perspektive steht vor den Problemen des Rechtsstaates wie der verstockte Pharao vor den ägyptischen Plagen. Und dabei ist der Zusammenhang zwischen dem Zustand des geltenden Rechts und sozialem Prozessverhalten ein so komplexer wahrlich noch nicht. Wo die primäre Rechtsklarheit weicht, entsteht erhöhter Rechtsklärungsbedarf in jedem: Einzelfall.109 Die Konsequenz ist klar: Der Glaube, bei Gericht noch sein Recht zu bekommen, schwindet. Die düstere Metapher, die Kafka in seinem Essay „Vor dem Gesetz“ gezeichnet hat, ist mit der Idee vom „Recht in jedem Einzelfall“ unschöne Realität geworden. Es ist besser, möglichst nicht zu klagen: 107  Zum Problem schon Wolfram Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht (1970); zuletzt wieder aufgegriffen bei Prütting, Prozessrecht und materielles Recht, in: Münch (Hrsg.), Prozessrecht und materielles Recht. Liber Amicorum für Wolfram Henckel aus Anlass seines 90. Geburtstages (2015), S. 261–269; Rolf Stürner, Verfahrensrecht und materielle Gerechtigkeit, ebd. S. 359 ff.; zur Vernachlässigung auch des Vollstreckungsrechts eindringlich Christoph Paulus, Die Privatisierung der „Zwangsvollstreckung“ – oder: Wie der Rechtsstaat an seinem Fundament erodiert, ZRP 2000, 296 f. 108 Dörner, Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen, 1989 (14. Aufl. 2017). 109  Es ist sicher kein Zufall, dass sich insb. die Zahl der Revisionen trotz steter Erhöhung der Revisionssumme innerhalb der letzten 25 Jahre des vergangenen Jahrhunderts verdoppelt und die der Ablehnungsbeschlüsse sogar vervierfacht hat (Zahlen, DAV-Forum „Justizreform  – Zivilprozess“, 2000). Die Überlastung der Justiz war Thema auf dem Deutschen Richtertag 1983 in München; zu den „Grenzen der Rechtgewährung“ referierten u. a. Wolfgang Grunsky (Grenzen der Rechtsgewährung im Zivilverfahrensrecht, S. 121–138), Helmut Klages (Ursachenfaktoren der Inanspruchnahme der Ziviljustiz, S. 195–220) sowie Alfons Reineke und Roland Scheffold zu der Suche nach „Möglichkeiten zur Eindämmung und besseren Bewältigung der Verfahrensflut aus zivilprozessualer Sicht (S. 267–282); daneben etwa noch Egon Schneider, Überlastung und Entlastung der Justiz, MDR 1989, 870–872; Siegfried Broß, Von der Überlastung der Zivilgerichte, WM 1993, 938 (insb. mit dem klarstellenden Hinweis, dass die Gerichte selbst ihre Überlastung durch Erzeugung neuer Streitpunkte verursachen); ausf. Jan Freitag, Staatliche Handlungspflichten im Justizbereich. Eine Arbeit über die Überlastung der bundesdeutschen Justiz in den 90er Jahren (2000). Und es ist wohl auch kein Zufall, dass ob der Überlastung des BVerfG Zweifel am Grundsatz des „gesetzlichen Richters“ laut werden, weil immer mehr Urteile und Beschlüsse statt vom Senat von der Kammer und statt vom Berichterstatter von einem seiner vier wissenschaftlichen Mitarbeiter verfasst werden: Rolf Lamprecht, Ist das BVerfG noch gesetzlicher Richter?, NJW 2001, 419 ff.

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„Ich wage nach einem langen Berufsleben in der Justiz, wenn ich gefragt werde, den Ausgang eines Prozesses nur noch nach dem im ganzen System angelegten Grundsatz vorauszusagen: Nach der Regel müßte er so entschieden werden; aber nach einer der vielen unbestimmten Ausnahmen und Einschränkungen, die das Recht kennt, kann er auch anders entschieden werden. Das genaue Ergebnis ist schlechthin unberechenbar geworden. Allenfalls kann man mit einiger Sicherheit sagen: Wenn du meinst, du bekommst alles, was dir nach deiner Überzeugung zusteht, irrst du dich. Ein die Entlastung der Gerichte dienlicher Rat könnte bei dieser Lage der Dinge sein: Führe möglichst keinen Prozeß; der außergerichtliche Vergleich oder das Knobeln erledigt den Streit allemal rascher, billiger und im Zweifel ebenso gerecht wie ein Urteil. Das heißt in allem Ernst: Unter den in der Bundesrepublik obwaltenden Verhältnissen von Gerichten Gerechtigkeit zu fordern, ist illusionär.“110

Diese Botschaft ist mittlerweile bei den Rechtssuchenden angekommen. Die sachliche oder intuitive Abwägung von „Recht haben“ und „Recht bekommen“ führt dazu, dass das Prozessrisiko einerseits nur noch vor dem Hintergrund einer abgeschlossenen Rechtsschutzversicherung und / ​oder bei entsprechend hohen Streitwerten eingegangen wird („rationales Desinteresse“). Andererseits gibt es eine Flucht aus dem staatlichen Recht durch die Einrichtung von immer mehr außergerichtlichen Schlichtungsstellen, Ombudsleuten und Empfehlungen zur Mediation. Vor allem die von Haus aus ökonomisch kalkulierenden Unternehmen verlassen, wo es geht, das staatliche Recht, ob seiner Unkalkulierbarkeit: „Forum Shopping“ und private Schiedsgerichtsbarkeit sind seit langem die Alternativen für diejenigen Akteure, die nicht zwingend auf das deutsche Recht angewiesen sind. Damit gehen vor allem die Prozesse mit hohen Streitwerten dem Justizhaushalt verloren und es wird deutlich, warum auch von einem „Wettbewerb der Rechtsordnungen“ gesprochen und über Gegenstrategien ernsthaft nachgedacht wird.111 Doch während die Eingangszahlen bei den Amts‑ und Landgerichten seit Mitte der 1990er Jahre signifikant gesunken sind,112 klagt der Bundesgerichtshof nach wie vor über eine zunehmende Belastung insbesondere auch bei den Nichtzulassungsbeschwerden.113 Auch hier ist die Diagnose nicht wirklich schwer 110 Geiger, Die Rolle des Richters unter den gegenwärtigen Bedingungen unserer freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie, DRiZ 1982, 321/325. Geiger (1909–1994) war Senatspräsident am Bundesgerichtshof und Richter am Bundesverfassungsgericht (1951–1977). 111  G. Wagner, Rechtsstandort Deutschland (2017), mit Vorschlägen, die „Streitbeilegung – made in Germany“, wieder attraktiver zu machen. 112  Bei den Amtsgerichten haben sich die Neuzugänge von 1,75 Mio. (1995) auf 986.139 (2016) fast halbiert. Bei den Landgerichten sind die Neuzugänge um etwa ein Viertel zurückgegangen: von 418.807 (1995) auf 322.000 (2016). Zur Ursachenforschung vgl. die Beiträge in: Armin Höland / ​Caroline Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz: mögliche Ursachen und Folgen (2016). 113 Die Neuzugänge sind hier innerhalb der letzten 10 Jahre von 5.259 (2007) auf 6.531 (2016) angestiegen. Vgl. auch den „Tätigkeitsbericht des Bundesgerichtshofs für das Jahr 2016“: „Das Jahr 2016 war gekennzeichnet von anhaltend hohen, überwiegend weiter angestiegenen Belastungen des Bundesgerichtshofs. Sowohl bei den Nichtzulassungsbeschwerden in Zivilsachen

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zu stellen: Intransparentes Recht führt zwar einerseits zu einer Flucht aus dem Recht, aber eben dort, wo ein Ausweichen auf alternative Streitbeilegungen nicht möglich oder nicht gewollt ist, (andererseits) zu einer fehlenden Befriedung durch Urteile der Instanzgerichte. Diese können zunehmend nicht befrieden, weil im Zeitalter der „Einzelfallgerechtigkeit“ weder das Gesetz noch der BGH selbst klare und verallgemeinerbare Vorgaben macht: „Obergerichte sind dazu da, Rechtsfragen verbindlich zu klären, die Instanzgerichte orientieren sich dann daran. Dadurch sollen Bürger und Unternehmen Prozesse vermeiden, da die Rechtslage geklärt ist. Doch das geschieht häufig nicht mehr.“114 Der populären Auffassung, die Effizienz der Justiz sei durch Justizreformen, neue Steuerungsmodelle o. ä. wieder herstellbar,115 sei die Besinnung auf das unausweichliche Grundproblem jeder Rechtsfindung entgegengehalten: „Es ist ein schwer begreifliches und leicht, weil durch einen Blick in den knapp und klar formulierten Art 97 I GG vermeidbares, Missverständnis, richterliche Tätigkeit könne durch etwas anderes ‚gesteuert‘ werden als durch den Rechtssatz, den formellen ebenso wie den materiellen.“116 In dem Moment, da etwa die höchstrichterliche Rechtsprechung den „formalen“ Gesichtspunkt pacta sunt servanda mit dem materialen Hinweis auf die „krasse Überforderung des Bürgen“, die „gestörte Vertragsparität“, „Aufklärungspflichtverletzungen“, „Überrumpelungen“ usw. preis gibt, ist der Damm gebrochen und die Flut der Prozesse und Revisionen ebbt erst in dem Moment wieder ab, in dem klare Pflöcke zur Definition jener Ausnahmen transparent geworden sind. Durch die Intransparenz jener Ausnahmen und gegebener Rückausnahmen usw. hat sich das (auch potenzielle) Prozessaufkommen aufgrund eines zusätzlichen materiell-rechtlichen Streitpunktes und seiner Folgeprobleme erhöht. So ist allein die Zahl der höchstrichterlichen Entscheidungen, in denen die culpa in contrahendo eine Rolle in den Entscheidungsgründen spielt, kontinuierlich angestiegen. Hatte sich der als auch bei den Revisionen im Strafrecht sind deutliche, im ermittlungsrichterlichen Bereich sogar extreme Anstiege zu verzeichnen. Ein Trend oder auch nur eine Aussicht auf gegenläufige Eingangszahlen ist nicht in Sicht. Zugleich sind nach wie vor nachhaltig wirkende gesetzliche Gegenmittel, insbesondere für das zivilgerichtliche Verfahren, nicht verabschiedet. Gleichwohl wird der Bundesgerichtshof mit aller Kraft daran arbeiten, den rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürgern weiterhin schnellstmögliche höchstrichterliche Antworten auf Grundsatzfragen zu geben.“ 114  Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit (2017), S. 192. 115 Zu dieser Mode etwa die Beiträge in: Stephan Weth (Hrsg.), Der Effizienz auf der Spur – Die Funktionsfähigkeit der Justiz im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts (1999); Ernst-Hasso Ritter, Justiz  – verspätete Gewalt in der Wettbewerbsgesellschaft?, NJW 2001, 3440; Barbara Kramer, Modernisierung der Justiz: Das neue Steuerungsmodell; NJW 2001, 3449); Wolfgang Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz: Eine Herausforderung des Gewährleistungsstaats (2001); sowie die Beiträge in Helmuth Schulze-Fielitz / ​Carsten Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit (2003). 116  Hans-Jürgen Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089.

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BGH im Zeitraum von 1950–1970 noch in 62 Fällen mit der Reichweite dieses Instituts befasst, so waren es im Zeitraum von 1971–2000 bereits 314 Fälle und im Zeitraum von 2001–2017 sind bereits 478 Fälle auszumachen.117 Nur zum Vergleich: Die streitige Berufung auf ein Anfechtungsrecht gem. § 119 BGB ist in den gewählten Zeiträumen demgegenüber eher rückläufig (1950–1970: 41 Fälle; 1971–2000: 39 Fälle; 2001–2017: 16 Fälle). Die Quintessenz ist einfach, auch ohne tiefer gehende Empirie: Wo das materielle Recht immer stärker auf die ‚Gerechtigkeit‘ im Einzelfall abzielt und diese zu finden dem Richter anheimstellt, da kann es nicht ausbleiben, dass die „Bürgerinnen und Bürger“ diese auch einzufordern suchen. Oder ist nicht die These von den „Schutz-“ und „Rücksichtnahmepflichten“ geradezu Wasser auf die Mühlen der Opfermentalität? Liegt nicht das Fatale einer Kodifikation der „unmittelbaren Drittwirkung“ darin, dass rhetorisch notwendig jeder nur noch Rechte zu haben glaubt? Anspruchsdenken, Rechthaberei, Rechtschutzversicherung, von Gebühren inspirierte und vom materiellen Recht überforderte rechtsanwaltliche Beratung118 tun ein Übriges, die Diskrepanz zwischen dem Anspruch des materiellen Rechts und der Prozesswirklichkeit immer größer werden zu lassen: Der Richter wird so zur letztverbindlichen und überforderten Autorität in immer mehr Einzelfällen. Der Kampf um die Einzelfallgerechtigkeit wird vor allem dann spannend, wenn nicht mehr nur der gute Anwalt mit einer klaren Prognose überfordert ist,119 sondern auch Tatsachen‑ und Revisionsinstanz ganz unterschiedlicher Meinung darüber sind, was denn „gerecht“ sei: im Einzelfall. Den exemplari117 Zahlen ausweislich JURIS, Abfrage vom 5. Januar 2018. Ergänzt man die Abfrage um das Stichwort „Verschulden bei Vertragsschluss“ (da nicht alle Judikate den Begriff der c. i. c. verwenden) so ergeben sich noch deutlich höhere Zahlen; für den Zeitraum von 2001–2017: steigt das Resultat etwa um weitere 201 Fälle, also insgesamt auf 679 BGH-Entscheidungen zur vorvertraglichen Haftung. 118  Hierzu die wenig schmeichelhafte Analyse bei Wesel, Risiko Rechtsanwalt (2001). Freilich erliegt auch Wesel der modernen These von der „falschen“, weil auf den Richterberuf zugeschnittenen Ausbildung: „Man muss für das eine ausgebildet sein, um das andere werden zu können, wofür man nicht ausgebildet wurde. Und das ist Blödsinn.“ (S. 28). Später kommt aber auch er nicht um die Einsicht herum, dass es die Richterperspektive – und die allein – ist, die für einen Rechtsstreit und mithin auch die anwaltliche Beratung entscheidend ist: „Mit anderen Worten, wie ein Prozess ausgeht, ist in der Regel nicht abhängig vom Anwalt, sondern vom Gericht.“ (S. 74). Was also ist „Blödsinn“ daran, den Anwalt die Rechtsfindung des Richters zu lehren? Ich setze dem eine andere These entgegen: Gerade dort, wo anwaltliche Beratung sich von der Richterperspektive entfernt und sich auf ungefilterten und unstrukturierten Tatsachenvortrag beschränkt, da wird der Anwalt zum Risiko. Dass es im Übrigen auch und vor allem auf einen „Berufsethos“ des Anwalts ankommt, sei Rüdiger Zuck unbenommen: „Anwaltszerrbilder, außerdem: Der Rechtsanwalt als Phantom“, NJW 2003, 268 ff. 119  Zur Überforderung des Anwalts, der haftungsrechtlich am Ideal eines allwissenden „juristischen Supermanns“ gemessen wird, Franz-Josef Rinsche, Die Haftung des Rechtsanwalts und Notars (6. Aufl. 1998), Rn. I 72; Klaus Fahrendorf, Die Haftung des Rechtsanwalts (8. Aufl. 2010); Gero Fischer, Handbuch der Anwaltshaftung (4. Aufl. 2015). Anwaltshaftung wird eine lukrative Nische auf dem Anwaltsmarkt, und die Notwendigkeit eines unmittelbaren An-

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schen Höhepunkt eines solchen Dramas haben wir bereits kennengelernt: Die Beschwerde eines Klägers vor dem BVerfG, der Anfang der 1970er Jahre über die Errichtung eines Einkaufszentrums mit der beklagten Stadt vergeblich verhandelte und deshalb 30 Mio. DM „Vertrauensschaden“ einklagte und dem nach einer 26-jährigen Prozessgeschichte immer noch nicht seine „Einzelfallgerechtigkeit“ widerfahren war.120 Josef Kohler hatte es bereits 1889 in seiner Kritik an der culpa in contrahendo klargestellt: „… daß die Parteien damit dem Processe verfallen sind“.121 Und mit einer Reform des Zivilprozesses soll alles besser werden? „Der vom Gesetzgeber in den letzten Jahren eingeschlagene Weg der sogenannten Rechtspflegeentlastungsgesetze hat sich als letztlich untaugliches Steuerungsinstrument erwiesen, weil nicht die Ursachen der Defizite angegangen wurden, sondern lediglich die Symptome. Er hat weder eine echte Entlastung der Justiz noch gar die Verbesserung von Bürgernähe, Effizienz oder Transparenz gebracht. Erkennbar sind vielmehr immer deutlicher strukturelle Mängel, die nicht länger hingenommen werden können.“122

Hört, hört! Die echten Defizite des deutschen Zivilprozesses sind endlich ausgemacht: 1. Unzureichende Streitschlichtungskultur, 2. Unübersichtlichkeit des Verfahrensrechts, 3. Streitwert als nicht geeignetes Kriterium für Rechtsmittelmöglichkeiten, 4. Fehlsteuerungen in der Berufungsinstanz und schließlich 5. Ungleichgewichtiger Personaleinsatz. Man mag sich mit dieser Analyse gar nicht ernsthaft auseinandersetzen.123 Bei jedem Satz lacht Dietrich Dörner. Es ist, als spruchs gegen die Haftpflichtversicherung ist auch schon erkannt von Jan Weidemann, Stumpfes Schwert Anwaltshaftung, NJW 2002, 196. 120  BVerfG, NJW 2001, 214 ff. Die Sache wanderte viermal (!) vom OLG zum BGH (vgl. BGHZ 76, 343; WM 1983, 993; NVwZ-RR 1989, 600) und zurück; die letzten 10 Jahre wurden mit der komplizierten, weil hypothetischen Schadensberechnung zugebracht (Wie hoch ist der entgangene Gewinn bei einem nicht gebauten Einkaufszentrum?). Derartige ‚Machtproben‘ der Einzelfallgerechtigkeit sind vorprogrammiert, wenn das Recht seine Eindeutigkeit verliert. Sie finden ihre Auflösung entweder in der Anerkennung der höheren Instanz als ultimative Einzelfallgerechtigkeitsautorität oder in der Besinnung der höheren als der sachferneren Instanz auf die Beurteilung von Grundsatzfragen. Wann das jeweils der Fall ist, hängt freilich am: Einzelfall. Ein Beispiel für die zweite Möglichkeit liefert etwa der „Pronuptia-Prozess“ (hierzu Walther Skaupy, Der Pronuptia-Prozeß 1974–1995, BB, 1996, 1899), bei dem der Verweisungskampf schließlich vom BGH beendet wurde. Sehr anschaulich auch die unzähligen Prozesse zu den sog. „Schrottimmobilien“; vgl. exemplarisch die Entscheidung des XI. ZS v. 21. November 2006  – XI ZR 347/05 bei der explizit an den Beschluss vom 6. Februar 1973  – GmS-OGB 1/72, BGHZ 60, 392/396 gemahnt wurde, wonach eine Revisionsentscheidung auch dann hinzunehmen sei, wenn sie offensichtlich unrichtig ist (sic!). Der Clou bei dieser Entscheidung: Die Bindung an die Revisionsentscheidung entfällt, wenn sich die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Sache geändert hat; und eben dies ist für diesen Bereich des Rechts permanent der Fall gewesen, so dass auch der XI. ZS nicht erneut abschließend entscheiden konnte, sondern erneut an die Berufungsinstanz zurückverweisen musste. 121  Kohler, Ueber den Willen im Privatrecht, JhJb 28 (1889), 166/226 f. 122 Begründung Regierungsentwurf zur ZPO-Reform BT-Drucks. 14/3750, S. 15. 123  Vgl. nur die Anmerkungen von Musielak, Reform des Zivilprozesses, NJW 2000, 2769 ff.; Rüdiger Zuck, Anforderungen an die Gesetzgebung im Bereich des Mietrechts und der Zivilprozeßreform, NZM 2001, 354; und des „Grand Seigneur des Zivilprozessrechts“ (Laudatio bei

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wenn Hauseigentümer ernsthaft und angeregt über neue Tapeten in den feuchten Wohnräumen debattieren, während das Dach des Hauses immer weiter in sich zusammenbricht. Wer meint, für die Einzelfallgerechtigkeit sei das materielle und für ein zügiges, transparentes Verfahren sei das Prozessrecht zuständig und beides sei kompatibel, ist entweder naiv oder ein Scharlatan. Bereits Jhering wusste es besser: „Sowenig man dem Schwertfeger zum Vorwurf anrechnen darf, daß er die Klinge nicht zu führen versteht, sowenig sollte man dem Theoretiker daraus einen Vorwurf machen, daß er das Schwert der Gerechtigkeit nicht zu handhaben weiß. Wozu denn die Teilung der Arbeit, wenn jeder das Ganze verrichten soll? Der Scherenschleifer schleift das Messer, der Barbier rasiert damit; so gehört es sich, und dabei gedeiht ein jeder von ihnen, während sie sonst beide Pfuscher bleiben würden. Wer sich vom Scherenschleifer barbieren läßt, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn er geschunden von dannen geht. Beim Barbiergeschäft ist es nun freilich üblich, daß man den zukünftigen Barbier nicht in die Lehre zu einem Scherenschleifer schickt; allein darin weicht eben unser Beruf von dem genannten ab: wir Praktiker gehen in die Lehre bei dem Theoretiker. Darin liegt allerdings ein gewisser Übelstand, und ihn recht anschaulich vor Augen zu bringen, ist der Zweck des gegenwärtigen Briefes. Wollte ich für meine Aufgabe einen anspruchsvollen, hochtönenden Namen suchen, so würde ich Ihnen sagen, sie beträfe das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in der Gegenwart.“124

Einen Fall entsprechend der juristischen Theorie in allen seinen Facetten zu bedenken und zu beleuchten, dazu mag der ein oder andere Senat am BGH zuweilen noch Muße finden, wenn und soweit er den Zustrom von Revisionen selbst regulieren (übrigens ein Ventil, das der Gesetzgeber nunmehr bereits der Berufungsinstanz gem. § 522 Abs. 2 ZPO eingeräumt hat) und zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes (von Sachverhalten zumal, die niemand leicht aufzuklären in der Lage ist)125 wieder zurückverweisen kann.126

Wilhelm Uhlenbruck, NJW 2002, 1028): Egon Schneider (Die missglückte ZPO-Reform, NJW 2001, 3756) mit dem sehr passenden Mythos vom Riesen Antäos, der bekanntlich seine Kraft verlor, als seine Füße nicht mehr die Erde berührten; auf den Gesetzgeber bezogen bedeutet das nichts anderes als Realitätsverlust: der Bezug zur sozialen und juristischen Wirklichkeit ist schlechthin abhanden gekommen. 124 Dritter Brief eines Unbekannten, Deutsche Gerichtszeitung IV (1862), Nr. 55; Jhering, Scherz und Ernst (1884), S. 38 f. 125  Gerade Jhering steht, wie gesehen, für eine Kritik an diesem Verfahren: Rechtssätze zu konstruieren, die praktisch nicht handhabbar sind: Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft (1868), S. 81 f.; ders., Der Besitzwille (1889), S. 174 f.; S. 144 ff. Ausführlich hierzu oben § 2 II. (Objektivität des Rechts), § 4 II. (objektivere Auflösungen der c. i. c. im BGB), § 4 III.3.b) (praktischer Wert des negativen Interesses). Die Haftung aus c. i. c. knüpft (jedenfalls der Theorie nach) fast ausschließlich an subjektiven Tatbeständen (Vertrauen, Eigeninteresse, Wissen). Exemplarisch sei etwa nur die Postulation einer Aufklärungspflicht beim sog. Abbruch von Vertragsverhandlungen in Erinnerung gerufen (Besinnungs-Aufklärungs-These) des BGH (oben § 8 III.2.a)). 126  Die Zahl der Erledigungen durch Ablehnung der Zulassung und Zurückweisung hat, auch das überrascht nicht, ebenfalls zugenommen: von 1.507 (2007) auf 2.251 (2017).

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Der erstinstanzliche Richter wird jedoch an seinen Erledigungspensen gemessen. Er ist „Akkordarbeiter“127 und wird mithin oberflächlicher – und das bedeutet willkürlicher – arbeiten müssen.128 Die Hedemann’sche These von der „Flucht in die Generalklausel“ aus „Bequemlichkeit“ wird hier zu einem ortsnahen Termin. Entweder man bekommt die Parteien in einen Vergleich (böse Zungen sprechen hier von „prügeln“ bzw. „nötigen“)129 oder der Richter greift zur einfachsten Begründung: „Im Zweifel culpa in contrahendo“ und die Postulation einer Aufklärungspflicht. Insoweit dürfte es schwer sein, den Nachweis führen zu wollen, der in diesem Sinne bereits von Kurt Tucholsky beschriebene „Deutsche Richter“ gehöre einer vergangenen Zeit an, der heutige hingegen, sei, wie Köndgen es sieht, „über jeden Zweifel erhaben“: „Vor allem wirkt der deutsche Richter wie einer, der seinen Beruf als Berufsstörung auffaßt. Man hat von diesen zweifellos zu schlecht behandelten Beamten den Eindruck, daß sie ihre Arbeit unlustig tun und daß sie nichts als das eine und einzige Bestreben haben: möglichst rasch fertig zu werden. Es kommt nicht so sehr darauf an, in welcher Weise eine solche Sache erledigt wird, wie darauf, daß sie erledigt wird. Auf dem Wege zur ‚Erledigung‘ von Prozessen und Personen liegen die Steine des Anstoßes, die da stören: ausführlicher Zeugenbericht, Plädoyers, unvorhergesehene Anträge … kurz, alles, was über die angesetzte Zeit hinausgeht. Daher mürrisches, eiliges Wesen, hochfahrende Handbewegungen, Wegräumung aller Schwierigkeiten, die Zeit kosten können.“130

127  So die Bezeichnung im Rahmen der ausführlichen Justizanalyse bei Rasehorn, Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt (1989), S. 95 ff. 128  FAZ vom 9. Juni 2001: „Richter beklagen zu hohe Arbeitsbelastung“: 200 von 207 Richtern am LG Hamburg haben in einer Erklärung festgestellt, wegen der hohen Belastung sei ihre Arbeit nach rechtsstaatlichen Regeln nicht mehr zu bewältigen. Zum Personalproblem: Peters, Die personelle Zukunftsfähigkeit der Justiz in der Bundesrepublik Deutschland (2017); J. Wagner, Ende der Wahrheitssuche (2017), insb. S. 95 ff., 206 ff.; Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit (2017), insb. S. 133 ff., 184 ff. 129 Zuweilen durchaus zurecht: Besonders drastisch der Fall eines Vorsitzenden Richters am LAG Niedersachsen, dessen offenbar gerichtsbekannte ‚Bemühungen‘ um einen Vergleich das BAG (NZA 2010, 1250) nur als „widerrechtliche Drohung“ deuten konnte: „Es liegt eine Drohung gemäß § 123 Abs. 1 BGB vor, wenn ein Vorsitzender Richter im Rahmen von Vergleichsverhandlungen äußert: ‚Gleich werden Sie an die Wand gestellt und erschossen‘, ‚Ich reiße Ihnen sonst den Kopf ab‘ und: ‚Seien Sie vernünftig, sonst müssen wir Sie zum Vergleich prügeln‘ und sich aus dem Vorbringen der Parteien nicht ergibt, dass der betreffenden Prozesspartei die offenbar häufiger an den Tag gelegte ungewöhnliche Art des Vorsitzenden bekannt gewesen wäre oder die Vergleichsverhandlungen in einer aufgelockerten Gesprächsatmosphäre geführt worden wären, vielmehr sich aus dem Vorbringen beider Parteien eine durchgehende Anspannung der betreffenden Partei ergibt. Unter diesen Umständen kann bei der Prozesspartei aufgrund der in Rede stehenden Äußerungen der Eindruck entstehen, dem Vorsitzenden sei jedes, ggf. auch ein anrüchiges Mittel recht, um den Prozess zu dem gewünschten Abschluss zu bringen, und sie könne diesem Druck nur dadurch ausweichen, dass sie den angetragenen Vergleich (endlich) schließe.“ 130 Tucholsky, Wiedersehen mit der Justiz, Gesammelte Werke (1927), S. 194.

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Auch ein Richter ist nur ein Mensch, und er ist auch Privatperson.131 Freilich wird die materiale Gerechtigkeit im Einzelfall noch prozedural abgesichert. Aber wer möchte schon stets durch alle Instanzen sein Recht erstreiten? Und vor allem: Welcher Fälle nimmt sich schließlich der BGH mit Muße noch einmal an, welche haben denn „grundsätzliche Bedeutung“, wenn es nach materiellem Recht doch um Einzelfallgerechtigkeit geht?132 Die Selektion wird auch hier notwendig eine willkürliche sein, was kaum je auffällt, weil die Beurteilung von Willkür nicht nur schwierig, sondern schlechterdings unmöglich ist, wenn und soweit es an klaren („objektiven“) Kriterien für „richtige“ bzw. „falsche“ Entscheidungen mangelt: anything goes.133 Tatsächlich läuft alles auf eine mehr oder weniger willkürliche Kasuistik hinaus – ein merkwürdiges Case Law im Civil Law:

131 Vgl.

zum Problem und zu Ansätzen einer Justizsoziologie: Rasehorn, Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt (1989); Gabriele Löschper, Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens (1999); Wolf-Dieter Treuer / ​Dietrich Ditten / ​Helmut Hoffmann / ​Walther Gottwald, Arbeitsplatz Gericht. Die Arbeitsweise der Zivilrichter am Oberlandesgericht (2002); Armin Knospe, Justitia lächelt (noch) nicht?! – Kritische Anmerkungen zu empirischen Feldversuchen mit der Zivilgerichtsbarkeit, NJW 2005, 3194–3198; Benedict, Rechtskritik, Rechtstheorie 40 (2009), 337/346 ff.; Lautmann, Justiz – die stille Gewalt (2011); J. Wagner, Ende der Wahrheitssuche (2017), insb. S. 26 ff. 132  Auch ohne Verweis auf BVerfGE 54, 277 steckt es in der Logik des Dogmas von der „Einzelfallgerechtigkeit“, dass jede ‚unrichtige‘ Entscheidung nunmehr revisibel sein müsste (vgl. Musielak, NJW 2000, 2769/2777). Bei der Suche nach „Einzelfallgerechtigkeit“ gibt es an sich keine verallgemeinerbare „grundlegende Bedeutung“. Im Einzelfall gibt es aber auch kein allgemeinverbindliches „richtig“ oder „falsch“. Generalklauseln fehlt insoweit ebenso jede Evidenz wie evidente Kriterien für die Kategorie der „Grundsatzentscheidungen“. Und so hängt denn die Revisionszulassung an der je variablen Beurteilung über das „richtig“ und „falsch“ in jedem: Einzelfall. 133 Vgl. etwa BVerfG, NJW 2000, 2494: „Willkürlich ist ein Richterspruch dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen.“; hierzu Norman Weiß, Objektive Willkür: Zu einem Prüfungskriterium im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde (2000). Völlig unbeirrt geht aber das Prozessrecht noch von den Distinktionen materieller Rechtsklarheit als einem Postulat des Rechtsstaats aus: „Die Kriterien, anhand derer zu ermitteln ist, ob ein Urteil objektiv richtig oder unrichtig ist, sind vom Gesetz selbst vorgegeben. Nur so lässt sich die Rechtsförmigkeit und damit die Rechtsstaatlichkeit des Zivilprozesses sichern.“ (Bruno Rimmelspacher, Die Berufungsgründe im reformierten Zivilprozess, NJW 2002, 1897/1898).

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2. Zurück zur Fallsammlung: Vom Civil zum Case Law „Gerichte, nicht Gesetze, schaffen Recht. Gesetze, so könnte man in lockerer Gedankenassoziation sagen, stehen in einem ähnlichen Verhältnis wie Mahnmale zur Geschichte (…).“ Marc Amstutz / ​Andreas Abegg / ​Vaios Karavas, 2006134 „Die Folgen dieses Trends zur Kasuistik sind bekannt. Gerichtsentscheidungen finden heute eine Aufmerksamkeit, die durch ihre intellektuelle Qualität oftmals in gar keiner Weise gerechtfertigt wird. Sie verstopfen das juristische Informationswesen und halten von selbständigem Nachdenken anhand der normativen Vorgaben ab.“ Wolfgang Zöllner, 1988135

So wird denn jede neue Entscheidung eines Einzelfalls einerseits dankbar in Besprechungen, Aufsätzen, Dissertationen, Kommentierungen usw. als Ereignis gefeiert, während andererseits der kulturhistorische Sieg anglo-amerikanischer Methodologie Achseln zuckend als Gesetzmäßigkeit registriert wird136. Die (rechts‑)vergleichende Argumentation basiert dabei leider nur zu oft auf einer vordergründigen Eklektik, die meint, dass der Stoff, wenn ihn doch andere tragen, den eigenen Rock auch zieren wird. Aber ganz unabhängig von der kulturgeschichtlichen und methodologischen Bewertung dieser (wirklichen) Reform vom „code“ zum „digest“, auch hier gilt die „Logik des Misslingens“. Die Anhäufung von Einzelfallentscheidungen macht noch kein Case Law-System, wenn und soweit nicht auch die sonstigen Rahmenbedingungen des Common Laws vorliegen. Das betrifft natürlich einerseits die viel diskutierte (formale) Präjudizienbindung.137 Es macht mindestens für die Rechtssicherheit einen Un Soziales Vertragsrecht (2006), S. 11. Zivilrechtswissenschaft und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert, AcP 188 (1988), 85/88. 136  Zur ‚Mc-Donaldisierung‘ auch des Rechts etwa: Rolf Stürner, Die Rezeption des U. S.amerikanischen Rechts in der Bundesrepublik Deutschland, in: FS für Kurt Rebmann (1989), S.  389 ff.; Wolfgang Wiegand, The Reception of American Law in Europe, 39 Am. J. Comp. L. (1991), 611 ff.; Ugo Mattei, Why the Wind Changed: Intellectual Leadership in Western Law, 42 Am. J. Comp. L. (1994), 195. Skeptisch zum US-amerikanischen „Intellectual Leadership“ aber die Verfasser in: Zimmermann (Hrsg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht. Impressionen aus der neuen Welt (1995); klar benennt das Problem Rabe, Schuldrechtsreform – Abschied vom kontinentaleuropäischen Rechtsdenken (1995). 137 So die vor allem zivilrechtlich-methodologische Fragestellung: Bereits Larenz, Über die Bindungswirkung von Präjudizien (1969); ders., Methodenlehre (1991), S. 429 ff.; „Die Gerichte entscheiden Einzelfälle …“; Fikentscher, Präjudizienbindung, ZfRV 1985, 163–192; F. Bydlinski, Richterrecht über Richterrecht (2000); Heldrich, ZRP 2000, 497 ff. Grundsätzlich: Zweigert  / ​ Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung (3. Aufl. 1996), S. 250 ff. Komplexer zwar, aber durchaus optimistisch das Bild der „Konvergenztheorie“ bei den Protagonisten der europäischen Rechtsvereinheitlichung: Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts – Historische Verbindung zwischen civil law und common law, ZEuP 1993, 4; Basil S. Markesinis (Hrsg.) The Gradual Convergence, Foreign Ideas, Foreign Influences and English Law on the Eve of the 21st Century, 1994 (repr. 2000); ders. (Hrsg.), 134

135 Zöllner,

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terschied, ob Instanzgerichte an die Rechtsauffassungen der Obergerichte gebunden sind oder nicht.138 Der Kern der Differenzierung wurzelt freilich tiefer: Im Verständnis vom „richtigen Recht“ bei denen, die das rechte Recht zu finden berufen sind: Rechtswissenschaft, Gesetzgeber, Richter und Anwaltschaft. Geht man vom Gedanken „materieller Gerechtigkeit“ als grundlegender Idee aus, so wendet man sich primär an die Rechtswissenschaft. Diese möge es forschend finden, das „richtige Recht“, es aufschreiben und dann dem Gesetzgeber und / ​oder Richter als geoffenbarte Vernunft in Rechtsdingen („ratio scripta“) als Rechtsquelle präsentieren. Einem Präjudizienrecht ist demgegenüber der akribische Prozess der Rechtsfindung im Einzelfall immanent, die Vorstellung vom präformierten allgemeingültigen „richtigen Recht“ hingegen suspekt. Deutlich anders ist dementsprechend auch die im anglo-amerikanischen Rechtskreis (bisher) dominierende Vorstellung vom „prozeduralen Recht“, bei dem alles auf „high noon“, den ultimativen „Kampf ums Recht“ in einer mündlichen Verhandlung hinausläuft („adversary procedure“).139 Rechtswissenschaft und The Coming Together of the Common Law and the Civil Law (2000); anders hingegen die Akzentsetzung bei den Skeptikern: Pierre Legrand, European Legal Systems are Not Converging, The International and Comparative Law Quaterly 45 (1996), 52 ff.; Eugen Bucher, ZEuP 8 (2000), 394/409–16: „Übereinstimmung oder gar ‚Konvergenz‘ nur an der Oberfläche: Je grundsätzlicher die betrachteten Strukturen, um so grösser die Gegensätze.“ 138  Die höchstrichterliche Rechtsprechung hält sich hier betont zurück und an den altbekannten Standard: vgl. etwa BGH, Beschluss v. 9. Juli 2002 – X ARZ 110/02, FamRZ 2003, 88 („Ein Verweisungsbeschluss ist nicht schon deshalb willkürlich, weil er von einer ‚ganz überwiegenden‘ oder ‚fast einhelligen‘ Rechtsauffassung abweicht. … weil dem deutschen Recht eine Präjudizienbindung grundsätzlich fremd ist“). BVerfG, Beschluß v. 15. Juli 2015 – 2 BvR 2292/13, BVerfGE 140, 42–65: „Die Fachgerichte sind an durch die Rechtsprechung entwickeltes Recht nicht in gleicher Weise gebunden wie an Gesetze. Nach deutschem Recht gibt es grundsätzlich keine Präjudizienbindung.“ 139  Vgl. nur Zweigert / ​Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung (3. Aufl. 1996), 265 ff.; zu Neuorientierungen in England durch den „access to justice act 1999“: Philip Sobich, Die Civil Procedure Rules 1999 – Zivilprozessrecht in England, JZ 1999, 775 ff.; Martin Partington, Recent Developments in the Common Law World – Access to Justice: Re-forming the Civil Justice Systeme of England and Wales, 30 Anglo-American Law Review (2001), 115 ff. Der englische Richter nimmt danach eine erweiterte, dem deutschen durchaus angenäherte prozessleitende Rolle im sog. „case management“ ein. Auch wenn nach den Worten des federführenden Lord Woolf damit lediglich eine Begradigung augenfälliger Ungleichgewichtslagen („lack of equality between the powerful, wealthy litigant and the under-resourced litigant“), nicht aber eine Beseitigung der klassischen adversary-doctrine bezweckt sei: „The legal profession will, however, be performing its traditional adversarial role in a managed environment governed by the courts“ („Woolf Report“: Access to Justice, 1996, 14), ist der Wandel von der Vorstellung einer „prozeduralen“ zu einer „materialen“ Gerechtigkeit“ nicht zu verkennen. Daneben bleibt zu erwarten, dass mit der gewollten Reduzierung der hohen Prozesskosten und der damit einhergehenden Erhöhung des Prozessaufkommens nicht nur die oben skizzierten deutschen „Rechtspflegeentlastungs-Probleme“ auftreten werden, sondern auch der materielle Gerechtigkeitsgehalt des englischen Case Law notwendig beeinträchtigt wird. Qualität und Quantität sind eben auch hier Gegenspieler. Die Prozesskosten waren nämlich bisher durchaus „the price which is to be paid for … meticulous development of case-law doctrine“, vgl. Neil Andrews,

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Gesetzgeber spielen hier idealtypisch keine maßgebliche Rolle.140 Rechtsfindung ist Handwerk und Kunst, die gut oder schlecht betrieben wird, von den maßgeblichen Akteuren außerhalb und innerhalb des Gerichtssaals: den Rechtsanwälten. Der Richter „darf sich darauf verlassen, ja, er soll sich sogar darauf verlassen, daß ihm in tatsächlicher und auch in rechtlicher Hinsicht alles Erforderliche von den Anwälten mündlich vorgetragen wird.“141 Man kann das als Emanation der Diskursethik im Einzelfall, als Fortsetzung des streitentscheidenden Gerichtszweikampfes mit Mitteln der Rhetorik oder als konzentrierte und effiziente Streiterledigung begreifen. Es ist aber vielleicht nicht wirklich ein Fortschritt in der deutschen Rechtsevolution, wenn sich die klassische Kontroverse zwischen Philosophen und Sophisten hier auf einer Ebene wiederholt, bei der keine der beiden Positionen wirklich ernst genommen wird: Gesetze ohne Philosophie und Prozesse ohne Kampf; Generalklauseln dort und maßlose richterliche Fürsorge‑ und Aufklärungspflichten hier (vgl. jetzt § 139 ZPO n. F.). Der Rechtsanwalt degeneriert – sehr zum Leidwesen überlasteter Richter – zum prozessrechtlichen Ballast und dient, überspitzt gesagt, noch als haftungsrechtlicher Sündenbock für richterliche Fehlleistungen.142

The Adversarial Principle: Fairness and Efficiancy, in: Zuckerman /Cranston (ed.), Reform of Civil Procedure (1995), 169 ff. (Zitat S. 176). 140  „Perhaps there are not many judges today who (as one of their predecessors is said to have done) would still openly thank God that the law of England was not a science, but the sentiment, I believe, lives on.“ Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, 1987, S. 3 f. mit Bezug auf Morris R. Cohen, Law and Scientific Method, in: Ames / ​Cardozo (ed.), Jurisprudence in Action (1953), S. 115 jeweils m. w. N. 141  Zweigert / ​Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung (3. Aufl. 1996), S. 267. 142  Es bleibt abzuwarten, ob sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Anwaltshaftung angesichts der nunmehr explizit klargestellten (quasiinquisitorischen) Verantwortung des Richters modifizieren wird. Nach Aussage eines Mitglieds des insoweit zuständigen IX. Zivilsenats gegenüber dem Verfasser soll § 139 ZPO n. F. Anwälten nicht zur Exkulpation gereichen. Das war allerdings vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 12. August 2002 (NJW 2002, 2937/38). Die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwalts wurde zwar letztlich nicht zur Entscheidung angenommen, die warnende Botschaft an die Kollegen des BGH war aber mehr als deutlich: „Auch wenn eine Amtshaftung wegen des Richterprivilegs regelmäßig ausscheidet, legitimiert dies nicht die Haftungsverschiebung zu Lasten der Rechtsanwälte, ohne in Rechnung zu stellen, dass hierbei deren Grundrechte berührt werden. Auch als „Organe der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO) haften die Rechtsanwälte nicht ersatzweise für Fehler der Rechtsprechung, nur weil sie haftpflichtversichert (§ 51 BRAO) sind. (…) Kein Rechtsanwalt könnte einem Mandanten mehr zur Anrufung der Gerichte raten, wenn er deren Fehler zu verantworten hätte. Nach der Zivilprozessordnung treffen die Gerichte Hinweis‑ und Belehrungspflichten (sic!) … Die Gerichte sind verfassungsrechtlich nicht legitimiert, den Rechtsanwälten auf dem Umweg über den Haftungsprozess auch die Verantwortung für die richtige Rechtsanwendung zu überbürden.“ Hier entspinnt sich gerade ein Glaubenskrieg über die Verantwortung für die „richtige Entscheidung“. Und er kann von keiner Seite gewonnen werden, solange es weder Einhelligkeit zum Thema „richtiges Recht“ noch zum Thema „Zuständigkeit“ hierfür gibt. Nach § 139 ZPO ist es nun wohl das Gericht. Aber wer wollte noch Richter werden, wenn andere Richter mit

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Daneben macht es vor allem einen erheblichen Unterschied, ob Obergerichte ihre Entscheidungen als systemtragende Leitentscheidungen oder als Billigkeitskonstruktionen für den Einzelfall verstehen. Die insbesondere schon von den Vorkämpfern der freirechtlichen Bewegung gerühmte Geschmeidigkeit und Flexibilität des englischen Case Law ist jedenfalls ein spätestens seit Gustav Radbruchs „Geist des englischen Rechts“ widerlegtes naives Vorurteil. Als „einziger Vorzug“ gegenüber der kontinentalen Subsumtionspraxis und als „wesentliches Charakteristikum“ wird gerade nicht die Einzelfallgerechtigkeit, sondern die Rechtssicherheit benannt;143 was nicht verwundert, weil eine reife und auserlesene Richterschaft sich nicht nur eher einer Tradition denn einem spontanen panta rhei verpflichtet fühlt, sondern sich auch als maßgebliche allgemein(!) verbindliche Rechtsquelle in der Verantwortung weiß:144 Muße in einem Haftungsprozeß die eigenen Urteile wie Examensklausuren bepunkten? Aber: „Who is the final arbiter?“ Und: Woran ist eine richtige gegenüber einer falschen Entscheidung zu erkennen? Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Entweder haften Rechtsanwalt und / ​ oder Richter oder die letztinstanzlich festgestellte ‚Einzelfallgerechtigkeit‘ bleibt auf der Strecke. Die letzte Instanz darf dann die Achseln zucken, die fehlerhaften Auffassungen von Rechtsanwalt und Vorinstanz(en) konstatieren, aber alles ohne einen Haftpflichtigen zu benennen. Der IX. Zivilsenat des BGH bemüht sich derweil, jeden weiteren Konfliktstoff zu vermeiden und an jeder passenden Stelle darauf hinzuweisen, dass die Haftpflichtversicherung des Rechtsanwalts kein Haftungsgrund sei. So hat er imerhin die Fehlerkonkurrenz von Anwalt und Gericht dahingehend aufzulösen gesucht, dass er maßgeblich auf den „Zurechnungszusammenhang zwischen anwaltlicher Pflichtverletzung und der gerichtlichen Fehlentscheidung“ abzustellen sucht (Urt. v. 15. November 2007 – IX ZR 44/04, BGHZ 174, 205). Das aber bedeutet auch gar nichts anderes als die Frage: Hätte der Anwalt eine andere Entscheidung des Gerichts herbeiführen können? Das BVerfG hat demgegenüber wohl bemerkt, dass es hier leicht zur „Superrevisionsinstanz“ bei Fragen der Anwaltshaftung werden könnte und hat die Haftung als Ganze gleich vorsorglich aus dem „Schutzbereich der Berufsfreiheit“ mit der merkwürdigen Begründung herausgenommen, dass „die Schadensersatzpflicht unabhängig davon eintritt, ob die Haftungsvoraussetzungen bei Ausübung des Berufs erfüllt werden oder nicht“ (sic!); Beschl. v. 22. April 2009 – 1 BvR 386/09, NJW 2009, 2945. 143 Radbruch, Der Geist des englischen Rechts (4. Aufl. 1958), 33 ff.: „Daß Rechtssicherheit die vorherrschende Rechtsidee ist, lässt sich an der ganzen englischen Rechtsgeschichte zeigen.“ (S. 38). Zur Rechtsfortbildung auch Dedek, Rumblings from Olympus: Das Zeitelement in der (Fort‑)Bildung des englischen Common Law, RabelsZ 79 (2015), 272–321 144 Gänzlich anderer Ansicht ist offenbar Bucher, Rechtsüberlieferung und heutiges Recht, ZEuP 8 (2000), 394/415, der dem Präjudizienrecht jede Eigenschaft als Rechtsquelle abspricht: „Unter der Herrschaft des Common Law hat … der Begriff Rechtsquelle keinen Sinn, denn die Entscheidungspraxis der Gerichte bedarf keiner Rechtsquellen.“ Die „Praxis der Gerichte“ sei „nicht an vorgegebene Normen gebunden“. Hier liegt eine eigenwillige Interpretation, wenn nicht gar eine Verkennung des englischen Common Laws, die ihre Ursache offenbar in Buchers inkonsequenter Vorstellung von dem findet, was er als „Rechtsquelle“ betrachtet (oder vielleicht auch betrachtet sehen möchte: die „Rechtsüberlieferung“). Bei genauerem Hinsehen würde er die von ihm präferierte historische Besinnung aber geradezu idealtypisch im englischen Rechtskonservatismus wiederfinden (insoweit darf denn auch das englische keineswegs mit dem amerikanischen Common Law identifiziert werden). Es ist jedenfalls offensichtlich widersprüchlich, die „Masse der Lücken“ in der „Rechtsquelle“ Kodifikation auf der einen Seite als „unendlich“ zu charakterisieren, weil sich nicht alle Einzelfälle „unmittelbar aus dessen

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3. Richter-Qualifikation: Ausbildung zur „Einzelfallgerechtigkeit“? „Auch in einem Vorsitzenden Richter am Landgericht kann ein Dämon wohnen (…).“ Herbert Rosendorfer, 2006145 „Mancher könnte sagen, daß wir den Richter gerade dann im Stiche lassen, wenn er die Hilfe am meisten braucht.“ Phillip Heck, 1937146

Freirecht ist eine gute Sache dort, wo mit Entscheidungsfreiheit auch verantwortungsvoll und weise umgegangen wird. Doch salomonische Weisheit findet sich schwerlich ad hoc im Einzelfall. Billigkeit und Willkür liegen, wie gesehen, sehr eng beieinander.147 Und was aus Sicht der einen Seite billig erscheint, ist nur allzu oft unbillig vom Standpunkt der anderen Seite. Das für die Entscheidung ausschlaggebende „überwiegende Motiv“ ist jedenfalls einer Generalklausel nicht zu entnehmen. Für die richterliche Entscheidung gilt dann das, was für menschliche Entscheidungsfindung generell gilt: Sie richtet sich am individuellen Wertesystem aus, und das kann bekanntlich von Person zu Person erheblich variieren. Es hängt ab vom Stand der eigenen Reflexion über „Recht und Gerechtigkeit“, von der eigenen Sozialisation, der eigenen sozialen Rolle und individuellen Erfahrung beim Autokauf, Eigenheimbau, Anlagegeschäft usw. Die Sympathien sind hier klar sozial und zufällig determiniert. Der eine postuliert grundsätzlich die Tugend der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, der andere die des kommunitären Altruismus, des sozialen Ausgleichs und der Hilfe für die Schwachen und Unwissenden. Der eine akzeptiert den „Eigennutz“, der andere hat das „Gemeinwesen“ im Blick. Der Nächste entscheidet nach ästhetischen Gesichtspunkten der Sympathie oder Antipathie für eine Partei und manchmal auch allein nach dem Gesichtspunkt der einfachsten Erledigung.148 Textverständnis ergeben“, auf der anderen Seite aber der Fülle präjudizierender Einzelfälle den Rechtsquellencharakter abzusprechen. Eben die Konkretheit, die man mit der Abstraktheit von Gesetzen schilt, findet sich in den Präjudizien, und hier liegt dann in der Tat die von Bucher herausgestellte „spiegelbildliche Umkehrung“ der beiden Systeme. 145  So der berühmte erste Satz aus Rosendorfers „Ballmanns Leiden oder Lehrbuch für Konkursrecht“ (1981). 146 Rechtsphilosophie und Interessenjurisprudenz, AcP 143 (1937), 129/152. 147  So nimmt es denn z. B. nicht Wunder, dass richterlicher Freiraum einerseits als Hort unkonventioneller Entscheidungen gelobt (Gerhard Struck, Salomonisches Urteil und dogmatische Rechtswissenschaft, in: Festschrift für Egon Schneider, 1997, S. 1 ff.) und andererseits als Verlockung zur Willkür kritisiert wird (Egon Schneider, Bricht Willkür Bundesrecht?, ZIP 1992, 895); vgl. hierzu auch den empirischen Befund bei Hubert Rottleuthner, Entlastung durch Entformalisierung? (1997): „Die beiden Untersuchungen zeigen eine Reihe von bedenklichen Handhabungen. Es handelt sich natürlich stets ‚nur‘ um Einzelfälle (…) Der Gesetzgeber möge sich der mehrfachen Ambivalenz solcher Regelungen bewusst sein: 1. Was auf Entlastung zielt, kann zu einer Belastung der Rechtsstaatlichkeit werden. 2. Was eine Seite entlasten mag, belastet die andere (…).“ (S. XI f.). 148  Zu diesem justizsoziologischen Problem bereits Lotmar, Der unmoralische Vertrag (1896), S. 180: „Man darf nämlich nicht übersehen, dass auch der Richter selber einem gewissen

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Die Gründe hinter den Gründen bleiben regelmäßig verborgen. Ein inhaltsoffener Diskurs in der mündlichen Verhandlung findet aus Zeitmangel und / ​ oder aufgrund persönlicher Inkompetenz kaum noch statt,149 auch das diskursive Korrektiv einer Kollegialentscheidung ist endlich als „Fehlsteuerung in der Berufungsinstanz“ enttarnt und nicht revisibel.150 Die im Zuge der Reformdebatte von Teilen der Wissenschaft vorgetragene Sympathie für „tatbestandsfreies Judizieren“ und das damit verbundene Vertrauen in Richterrecht demonstriert insoweit in der Tat ein erhebliches Maß an „Reduktion von Komplexität“ (Luhmann). Man blendet die von der Justizsoziologie zur Genüge beobachteten Bedenklichkeiten relativ freier richterlicher Entscheidungsfindung schlichtweg mit dem Hinweis aus, die „deutsche Justiz“ sei „über jeden Zweifel erhaben.“151 Diese Sympathie für das Richterrecht kennen wir bereits. Sie ist wandelhaft.152 Sie hält solange, wie Richterrecht gegen unsympathisches Gesetzesrecht eingeMoralkreis angehört (…) so bleibt doch für die Subjektivität oder Individualität des Richters noch Spielraum übrig. Seine Individualität wird nicht nur im Eifer und Geschick sich zeigen, mit denen er die Thatsachen aufsucht oder aufnimmt, sie wird auch einigermaßen die moralische Farbe bestimmen, die jene ohne sein Zuthun in seinen Augen annehmen. Und diese Individualität wird großenteils durch die Gesellschaftsklasse beeinflußt, der er angehört. Sie muß sich in Neigungen und Abneigungen ausdrücken, deren Gründe dem Richter selbst nicht bewußt sind, und deren Aufkommen nicht durch Gewissenhaftigkeit hintangehalten wird.“ Was bereits für die Freirechtler als Prämisse eine evidente „Banalität“, ist für die deutsche Rechtssoziologie ein problematisches und seit Dahrendorfs Ausruf, dass „die eine Hälfte der Gesellschaft über die ihr unbekannte andere Hälfte der Gesellschaft zu urteilen befugt“ sei, vorzugsweise klassenkämpferisches Feld. Herkunft und Weltbild von Richtern stehen dabei im Vordergrund der Betrachtung seit nunmehr über 100 Jahren: Huckert, Sociale Praxis, 5 (1896), Sp. 968: „Wenn der größte Teil der heutigen Juristen schon jetzt aus dem kleinen Kreise der sog. höheren Stände stammt, … so ist es dringend geboten, organische Veranstaltungen zu treffen, welche auch den Armen und Niedriggeborenen den Zutritt zum Studium im allgemeinen und zum Richteramt im besonderen erleichtert, wenn nicht die Entscheidung streitiger Rechtsfragen und damit oft genug das Urteil über sociale Gegensätze ganz einseitig den höheren Ständen überlassen werden soll.“ Hinsichtlich Gesetzesbindung und Flexibilität gilt es heute eher als progressiv und als „tatsächliche Wahrnehmung richterlicher Unabhängigkeit“, „leichtere Gesetzesverstöße“ im „Interesse einer guten Sache“ zu tolerieren; zu alledem kurz: Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie (2000), Rn. 132 ff.; stellenweise immer noch politisch tendenziös, aber sachlich doch darüber hinaus geht die „alternative Justizsoziologie“ bei Theo Rasehorn, Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt (1989) m. w. N. 149 Vgl. etwa Konrad Redeker, Mündliche Verhandlung – Sinn und Wirklichkeit, NJW 2002, 193. 150  Die Übertragung der Sache auf den Einzelrichter ist nach Ansicht des BGH bis zur Grenze der Willkür nicht revisibel; vgl. Urt. v. 12. Dezember 2006, Az: VI ZR 4/06: „Die Revision kann grundsätzlich nicht auf eine erfolgte Übertragung auf den Einzelrichter gestützt werden. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kommt bei verfassungskonformer Auslegung von § 526 Abs. 3 ZPO nur unter den engen Voraussetzungen der Willkür in Betracht.“ 151  Diskussionsbericht, in: Ernst / ​Zimmermann, Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform (2001), S. 331. 152 Ausf. oben § 6.

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räumt wird und / ​oder sich auf Richter bezieht, die wir kennen und persönlich schätzen. So ist wohl nicht anzunehmen, dass diese These etwa (um nur ein Beispiel zu nennen) auch nach dem „Fall Heininger“ und nach dem Sturm der Entrüstung gegen die restriktive Rechtsprechung des XI. Zivilsenat des BGH zur Rückabwicklung von Immobilienkäufen153 tatsächlich noch einmal in dieser Allgemeinheit von ‚progressiven‘ Rechtswissenschaftlern vorgetragen werden dürfte. Es ist daher sinnvoll, von seinen persönlichen Sympathien zu abstrahieren und auch den Richter zu allererst als Menschen zu sehen, dem ein durchdachtes Recht nicht hinderlich wäre, sondern vor allem einen positiven Halt bei seiner Entscheidungsfindung gäbe. Im Mittelpunkt des legalisierten Voluntarismus steht demgegenüber die individuelle Urteilskraft des Einzelrichters in jedem Einzelfall: iudex sum, humani nihil a me alienum puto? Menschliches, Allzumenschliches! Doch worin hat sich ein Richter vom gemeinen Menschen zu unterscheiden? Es ist natürlich kein Zufall, dass um wichtige Richterstellen ein zuweilen unangenehmes politisches Geschacher stattfindet.154 Aber das politische Bekenntnis sagt allenfalls etwas über den grundsätzlichen gesellschaftlichen Wertekanon der betreffenden Person, etwas über politische Ämterpatronage und demokratische Bedenklichkeiten bei der Richterwahl, nichts hingegen über richterliche Tugenden, die einen befähigen, über andere zu richten. Das formale Kriterium von zwei juristischen (Staats‑) Examina wird man in diesem Zusammenhang kaum noch ernsthaft als Qualifikation ansehen können, wenn man sich die Vermittlung und Prüfung allein positiven Wissens, ja gerade die alleinige Methode der Subsumtion unter eine Gesetzesnorm vor Augen führt. Bekanntlich steht die aktuelle Juristenausbildung immer noch in der Tradition Preußens und mithin in der Abneigung gegen „geheimnißvollen Subtilitäten-Kram“, im Zeichen von Gesetzesbindung, Rechtsklarheit und Kodifikationsidee.

153 Gegen die Richter des XI. ZS insb. den Vorsitzenden Nobbe wurde nicht nur massiv öffentlich polemisiert, sondern auch Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung erstattet. Vgl. nur die überzogene und doch repräsentative Kritik etwa bei Jürgen Roth, Der Deutschland Clan (7. Aufl. 2007), S. 156 ff. „Der voreingenommene Senat des Bundesgerichtshofs und das absolute Recht von Banken.“ Ausführlich zur sachlichen Seite des Problems Benedict, Überrumpelung beim Realkredit, AcP 206 (2006), 56 ff. 154  Zum Problem etwa nur Günter Bertram, Konkurrentenklagen – „Bestenauslese“?, NJW 2001, 3167; Sebastian Lovens, Verfassungswidrige Richterwahl?, ZRP 2001, 465; Theo Rasehorn, Um die „Bestenauslese“ bei der Richterwahl, Recht und Politik, 38 (2002), 38 ff.; Dietrich, Richterwahlausschüsse und demokratische Legitimation (2006); BVerfG, Beschl. v. 20. September 2016 – 2 BvR 2453/15, BVerfGE 143, 22–38 („Art. 95 Abs. 2 GG bedingt Modifikation des Grundsatzes der Bestenauslese bei Bundesrichterwahl“). Die „Intransparenz des Verfahrens“ beklagt auch die Gesetzesinitiative zur „Reform der Wahl für die obersten Bundesgerichte“ (BT Drucks. 18/7548).

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So bleibt hier also nur die Hoffnung, dass, ganz im Sinne Jhering’scher Gefühlsevolution, eine hervorragende Kenntnis des positiven Rechts im entscheidenden Moment das passende Rechtsgefühl wird heranreifen lassen.155 Sicher ist das freilich nicht. Denn immerhin atmete Jherings Glaube an die Rechtsquelle „Rechtsgefühl“ eine ganz andere Luft der Juristenausbildung: Die Trinität von Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte und praxisorientierter Rechtsdogmatik.156 An welcher juristischen Fakultät in Deutschland ist aber diese Trinität echter Rechtsweisheit (iuris prudentia) tatsächlich noch Programm? Ist dem deutschen Assessor nach durchschnittlich fünf Jahren löffelfertigem Alpmann / ​SchmidtEinheitsbrei tatsächlich „des Menschlichen nichts mehr fremd“? Oder ist der aktuelle Berufsausbildungs‑ und Spezialisten-Geist in der steten Hochschul‑ und Juristenausbildungsreform tatsächlich geeignet, universal gebildete und kompetente Juristen auf ihre Aufgabe, die „Einzelfallgerechtigkeit“, vorzubereiten?157 Wenn das erste Justizprüfungsamt die Grundmotive seiner Prüfungsordnung wieder im Geiste Wiener Universitätspolitik von 1855 dergestalt formuliert: „Bei der Behandlung der juridischen Fächer wird die dogmatische, die historische und die philosophische Methode zweckmäßig zu verbinden, und … dahin zu streben seyn, den Studierenden ein gründliches Verständniß der Prinzipien der Rechtswissenschaft und die Befähigung zu vermitteln, sich jene Detailkenntnisse, welche keinen Gegenstand eines wissenschaftlichen Vortrages zu bilden geeignet sind, durch eigenen Fleiß, Selbstthätigkeit und Praxis leicht erwerben zu können.“158 155  Vgl. Jherings dritten Wiener Vortrag vom 12. März 1884: Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls. Zum Problem des Rechtsgefühls ausführlich oben § 1 II. 156 Vgl. Jherings ersten Wiener Vortrag vom 16. Oktober 1868: Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, herausgegeben von Okko Behrends (1998). 157  Wenig verheißungsvoll: Michael Stolleis, Gesucht: Ein Leitbild der Juristenausbildung, NJW 2001, 200; und selbst euphorische Befürworter aktueller Gesetzgebungsinitiativen erkennen das Defizit: Gesetzgeber und Universitäten müssen „gerade wegen Berufsbezogenheit und Spezialisierung für ein gemeinsames Wurzelwerk sorgen. Dies können in einer Zeit, in der selbst das BGB nicht mehr für Beständigkeit bürgt, allein die Grundlagenfächer sein. Sie sind notwendiges Gegengewicht gegenüber dem Zeitgeist, der von den Studierenden eindringlich verlangt, sich möglichst zielstrebig auf die Anforderungen des Berufes vorzubereiten“, so Peter Hommelhoff / ​Christoph Teichmann, Forum: Modernisierung in Kontinuität – die Revolution der Juristenausbildung, JuS 2001, 841/845. Zu Wert und Wertlosigkeit der Staatsexamina aus praktischer Sicht: Peter Derleder, Staatsexamen und Berufsqualifikation – Was leisten eigentlich die Justizprüfungsämter?, NJW 2005, 2834–2837. Für eine Stärkung der Grundlagen‑ und Reflexionskompetenz dann insb. auch der Wissenschaftsrat („Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen“ 2012); ähnlich auch Senn, Wozu sind Juristen auszubilden? – Über den Sinn eines juristischen Studiums nach der Bologna-Reform, Rechtskultur 1 (2012), 109/117: „Das Ziel eines Studiums der Rechtswissenschaften muss es sein, einen wachen Intellekt in Bezug auf all das zu fördern, das beansprucht Recht zu sein und es womöglich nicht ist. Dabei ist die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung das Entscheidende und diese ist entgegen der positivistischen Auffassung von heute zu fördern. Der bloße Nachvollzug dessen, was als das Juristische gilt, ist unsinnig und hilft nichts …“. 158  „Allerhöchste Entschließung vom 24. Feber 1855“, zitiert bei Okko Behrends, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1998), S. 12 m. w. N. In diesem

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dann mag das Vertrauen in die Urteilskraft eines so universal und zumindest fundamental gebildeten Juristen es vielleicht rechtfertigen, an die Weisheit des Case Law und die gerechte Entscheidung im Einzelfall zu glauben. Bis dahin gilt, dass zur Schärfung weiser Urteilskraft „das Lesen der Bibel nützlicher sein kann als das Lesen juristischer Fachliteratur“.159 Der moderne Ruf nach „Interdisziplinarität“ auch in der Juristenausbildung verrät leider nur zu oft die erschreckende Ahnungslosigkeit von der anspruchsvollen Weite der eigenen „Disziplin“: „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia“160. Weiter lässt sich eine Definition von Rechtswissenschaft kaum denken. Hier schließt sich dann auch der Bogen zur zweiten Hälfte des eingangs zitierten Cicero-Wortes161; denn wenn die Gesetze nicht mehr „handgreiflich“ sind, dann lässt sich die Arglist im Rechtsverkehr nur noch insoweit beseitigen, als Vernunft und Einsichtsfähigkeit des Richters (als Philosoph!) reichen („… philosophi, quatenus ratione et intelligentia“). Man mag derweil an deutschen Fakultäten mit Anwaltsorientierung, Schwerpunktbereichen, Bachelor-, Master‑ und interdisziplinären Aufbaustudiengängen experimentieren, die Curricularnormwerte künstlich aufbauschen, mit Fachhochschulen um Inhalte und Studenten wetteifern und über allem die „Befähigung zum Richteramt“ gänzlich aus dem Blick verlieren. Die ach so moderne Kritik an der traditionellen deutschen Juristenausbildung als Richterausbildung entpuppt sich eben nur, wenn man ganz genau hinschaut, als der vielleicht fatalste faux pas in der „Logik des Misslingens“ deutschen Reformeifers. Auf zur Einzelfallgerechtigkeit! Aber „Gerechtigkeit“ – was war das noch gleich?162 Niemand, der die Praxis an deutschen Gerichten kennt, wird ernsthaft annehmen, dass ein Richter auf Probe Zeit und ein auf Lebenszeit ernannter, wenn er Zeit hätte, noch Motivation findet, das einst im Leben und im Studium Versäumte nachzuholen.163 Sinne spricht auch das „Ladenburger Manifest“ vom Leitbild eines „allseits einarbeitungsfähigen Juristen, der über juristische Urteilskraft verfügt“ (NJW, 1997, 2935). 159 So das Fazit bei Gerhard Struck, FS Egon Schneider (1997), S. 1/24. Dass es tatsächlich die Bibel ist, aus der heraus sich die Grundfragen von Recht und Gerechtigkeit hervorragend illuminieren lassen und die insoweit gewinnbringend im Mittelpunkt juristischer Ausbildung stehen kann, hat etwa Alan M. Dershovitz sehr eindrucksvoll belegt mit „The Genesis of Justice“ (1999). 160  Ulpian, D. ​1, ​1, ​10, ​2. ​ 161 Oben § 8 I. 162  Hierzu zuletzt auch Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit (2017), S. 92 ff.: „Gerechtigkeit: Was ist das? … Fast allen Richtern geht es ähnlich. Die Umfragen belegen, dass die Gerechtigkeit für sie kein großes Thema ist – weil sie damit im reinen sind. Sie haben andere Sorgen, die Personalausstattung oder die Handhabbarkeit der Prozessordnung (…).“ 163  Man beachte hier nur zweierlei: Zum ersten die kritische Beschreibung der Justiz bei Kurt Tucholsky: „Wie sieht denn der Eintritt eines idealistischen, jugendlich in die Zukunft stürmenden Referendars in den Richterstand aus? Der, der neu eintritt, hat immer unrecht. Das fängt im Eisenbahncoupé an und hört im Berufsstand auf. Die technische Unfertigkeit des Neuen, seine Jugend und vor allem die Tatsache, daß die andern länger da sind als er, setzten

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Gerechtigkeit ist eine seltene Tugend, die allenfalls entfaltet, nur mühsam studiert, keineswegs aber repetiert werden kann. Vielleicht leuchtet ja dermaleinst wieder eine verbindende Idee im Zentrum juristischer Fakultäten auf, die ein leitendes Band aus allen Veranstaltungen heraus auf den Campus trägt und dort eine Aura verbreitet, in der eben jene Tugend auch tatsächlich sich entfalten kann. Man muss kein Prophet sein zu erkennen, dass hingegen unter dem Motto „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“164, wo jeder Spezialist sein individuelles Steckenpferd als „Schwerpunkt“ in möglichst großem Umfang reitet und die konzentrierende Kraft der verbindenden Zusammenhänge zurückgedrängt wird und verloren geht, allenfalls ein Klima der Zerstreuung sich entfalten kann. Schließlich geht nicht nur bei denjenigen, die an die Weisheit von Sprachanalyse glauben, das Gerücht, dass die suggestive Rhetorik von der „Einzelfallgerechtigkeit“ inhaltlich eine ebenso unsinnige Paradoxie ist, wie etwa das „Einzelredege-rede“ von einem „Einzelbergge-birge“ es wäre: Ge-recht zu sein im Einzelfall, verlangt eben die Ge-samtschau dessen, was Recht sein soll, auch in jedem anderen Einzelfall.165 Das aber ist fürwahr eine titanische Last, die schwerlich der Einzelne im Einzelfall zu heben vermag. Und so ist denn auch die „unzeitgemäße Betrachtung“ Friedrich Nietzsches über die „Berufung zur Gerechtigkeit“ offenbar heute unzeitgemäßer denn je: „Der Wahrheit dienen wenige in Wahrheit, weil nur wenige den reinen Willen haben, gerecht zu sein, und selbst von diesen wieder die wenigsten die Kraft, gerecht sein zu können. Es genügt durchaus nicht, den Willen dazu allein zu haben: und die schrecklichsten Leiden sind gerade aus dem Gerechtigkeitstriebe ohne Urteilskraft über die Menschen gekommen.“166

Auf eben dieser Einsicht in die Beschränktheit individueller und vor allem pseudo(ein)gebildeter Gerechtigkeit basierte einst die entschieden höhere Wert-

ihn zunächst in die schwächere Position. Er muß sich ‚einarbeiten‘, wobei das: ‚Wir haben das hier immer so gemacht‘ und ‚Ich gebe Ihnen die Weisung‘ … dominierende Rollen spielen. Zunächst also ist er machtlos. Dann wird er vom schleichenden Gift der Routine imprägniert, und wenn er einmal später in eine leitende selbständige Stellung kommt, ist es meist zu spät. Und löckt er da gegen den Stachel, so ist erfahrungsgemäß seines Bleibens in der Gruppe und im Stand nicht mehr allzulange. Oder aber, er darf bleiben: unter so entwürdigenden, seine Arbeit so erschwerenden Umständen, daß er den ungleichen Kampf aufgibt und quittiert.“ (Deutsche Richter, Ges. W. 1927, S. 202.) Zum zweiten sei an die Motivation erinnert, die Goethes Vater veranlasste, seinen Sohn die Jurisprudenz studieren zu lassen: „Er soll ruhig Jura studieren, denn das Studium der Rechte habe doch den großen Vorzug, daß man daneben seinen Liebhabereien nachgehen könne.“ 164  Goethe, Faust I, Vorspiel auf dem Theater, Vers 95–98: „Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen,/ Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus./ Wer vieles bringt wird manchem etwas bringen;/ Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ 165  Oder in den klassischen Worten griechischer Philosophie und römischer Jurisprudenz: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens“. 166 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen (Werke Bd. 1, S. 244; WBG 1999).

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schätzung „der formalen“ gegenüber der heute so hochgeschätzten „materialen“ Gerechtigkeit des Richters. Mit dem Hinweis auf die ‚Gerechtigkeit‘ des Einzelfalls lassen sich demgegenüber Rechtssicherheit und Formalismus wunderbar überzeugend diskreditieren. Und natürlich stimmt auf suggestive Fragen jeder in den Hymnus individueller Gerechtigkeit mit ein, so dass die selbstbewusste Emanzipation von solchen ‚Albernheiten‘ wie der „Gesetzesbindung“ bereits und gerade in den 1970er Jahren schwerlich noch überrascht: „Die jungen Richter sehen ihre Aufgabe eher im pragmatischen Streben nach vernünftigen Entscheidungen für den Einzelfall als im blinden buchstabengetreuen Gesetzesvollzug.“167 Wer wollte das nicht unterschreiben? Doch verlor nicht so mancher seine letzte Tugend, als er den ‚Formalismus‘ fortgab für das, was er nannte: „Vernunft“? Freilich: Wer möchte schon als „blind“ gelten – außer zuweilen eine allegorisch eben genau so dargestellte Tugend? Verschwiegen wird denn auch, dass die in Instituten und Normen überkommene Form des Rechts immer schon das geronnene Ergebnis eines mehr oder weniger gründlichen geschichtlichen Diskurses über Gerechtigkeit darstellt, und eben hierin der Glaube an die „ratio scripta“ des überlieferten Gesetzestextes als Quintessenz „geoffenbarter Vernunft“ eher liegt als in geschichtslosen modernen „Standards“. Den Diskurs kann man fortführen, wenn man sich in seiner Tradition weiß und an der Perfektion der die ratio vermittelnden Form weiter arbeitet, auf der Suche nach der die „Gerechtigkeit“ bestmöglich konturierenden „Idealform“. Die Form aufgeben heißt: Den Diskurs beenden und ihn dann in dogmengeschichtlicher Unbildung oder eklektischer Pseudooriginalität an beliebiger Stelle doch immer wieder neu beginnen. „Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt, und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im Uebrigen von der bisherigen divergieren möge; eine solche Jurisprudenz lässt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen.“168

In diesem Verständnis und in jenem Streben findet sich der kleine aber feine Unterschied zwischen konstruktiver historischer Rechtswissenschaft und dem destruktiven panta rhei geschichtsloser Rechtsschulen. Mit Bernhard Windscheid vom Recht als einem fließenden „Strome“ zu reden169, ist nur dann wirk-

 Andreas Heldrich / ​Gerhard Schmidtchen, Gerechtigkeit als Beruf (1982), S. 213. Unsere Aufgabe, JhJb 1(1857), 1/16. 169  „Wir wollen das Gesetzbuch haben und die Rechtsarbeit der Jahrhunderte auch: dafür wollen wir als echte historische Juristen sorgen. Als historische Juristen wissen wir, daß das Gesetzbuch nichts sein wird, als ein Punkt in der Entwicklung, fassbarer gewiß als die Wasserwelle im Strome, aber doch nur eine Welle im Strome.“ (Bernhard Windscheid, Die geschichtliche Schule in der Rechtswissenschaft, in: Windscheid, Gesammelte Reden und Abhandlungen, hrsg. von Paul Oertmann, 1904, S. 75 f.) 167

168 Jhering,

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lich passend, wenn man nicht in einem „Tümpel“170 watet und sich an den Wellen ergötzt, die man selber verursacht. Doch wie immer die Geschichte einst die ‚Reformen‘ des 21. Jahrhunderts beurteilen mag, als „Welle im Strome“ oder als „Sturm im Wasserglas“, eines ist sicher: Geht das Verantwortungsbewusstsein für Wesen und Sinn rechtlicher Form als perpetuierter ratio in unendlicher Abstraktion und methodologischer Konfusion verloren, dann bleibt schließlich wahrlich nur die Hoffnung auf den richterlichen Gerechtigkeitstrieb und eine hinreichende Urteilskraft in jedem: Einzelfall; die Hoffnung auf die individuelle ratio in jedem einzelnen modernen Ordal. Die vom materiellen Recht mittlerweile nicht nur ausdrücklich akzeptierte, sondern sogar provozierte Zunahme richterlicher Freiheit und Verantwortung bei der Rechtsfindung wirft ebenso notwendig ein neues Licht auf die Anforderungen, die an den Juristenstand im Allgemeinen und die Richterpersönlichkeit im Besonderen zu stellen sind. Das, was im angelsächsischen Rechtskreis ein Gemeinplatz, im deutschen Recht jedenfalls für den Richter an den obersten Bundesgerichten im Fokus der Öffentlichkeit und für den Strafrichter im Stillen ohnehin seit jeher galt,171 besitzt endlich auch für den Zivilrichter Realität: Die Entscheidung ist nicht Spiegelbild einer gereiften und streng gehandhabten Rechtsdogmatik, sondern der jeweils entwickelten Richterpersönlichkeit. Der Richter ist nicht mehr „Mund des Gesetzes“, sondern er gebiert erst das Recht aus seinem individuell gesetzten „Geist“ in jedem: Einzelfall. Er steht nicht mehr auf den Schultern einer als Summe dreitausendjähriger juristischer Weisheit kodifizierten und auch so verstandenen ratio scripta, die es nicht oder doch nur noch in Bruchstücken gibt,172 sondern er ist verwiesen auf die relative Enge oder Weite seiner ganz persönlichen „exiguitas ingenii mortalis“173. Die „Einzelfallgerechtigkeit“ korrespondiert und variiert mit der Weisheit und Gerechtigkeit des Richters im: Einzelfall. Wohl dem Rechtsstaat, da sich diese Tugenden bei der Richterschaft die Fülle finden lassen, und wehe ihm, wenn nicht nur das Gesetz, sondern auch der Richter im Geiste des Äolos zum unbegreiflichen Pro-

170 Bild auch bei Voßkuhle, Das Leitbild des „europäischen Juristen“, Rechtswissenschaft 3 (2010), 326/342: „Wer die Grundlagenfächer schleift, gräbt sich … das frische Wasser der Erkenntnis ab, ohne das jedes juristische Meer zu einem Tümpel wird.“ 171  Spätestens seit der Diskussion um den „Richter Gnadenlos“ ist der Ermessenspielraum im Strafrecht sehr publik. Der notwendig weite Spielraum auf der Rechtsfolgenseite wird hier aber weitgehend durch begriffliche Strenge auf der Tatbestandsseite kompensiert. 172  Joachim Rückert spricht insoweit zutreffend davon, dass „der nach Form und Sache fast nur einigen Bücherverkäufern nützliche wahre Federstrich des Gesetzgebers, der mit seinen neuen Nomenklaturen zwei Generationen Juristengedächtnisse vernichtet hat und für die dem ‚Bürger‘ interessanten Rechtsfolgen nur ein Mäuslein gebar.“ RG 3 (2003), S. 58/62. 173 Die Einsicht in die „Beschränktheit des menschlichen Verstandes“ stand immerhin noch Justinian in § 16 der „Constitutio Tanta“ durchaus vor Augen. Und so mancher verantwortungsvolle Richter wünschte sich wohl schon sein Gewissen erleichtert, wenn er nur auf die ratio scripta eines Gesetzes – auch wenn er sie nicht erkennt – wenigstens vertrauen könnte.

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teus wird. Einer Partei, die erbost oder resigniert eine unzulässige Ungleichbehandlung vermutet, nur weil vielleicht gerade der für sie zuständige Richter jene Tugenden nicht besitzt oder sie ausgerechnet in diesem Fall ob seiner Überlastung oder anderer Sorgen nicht entfalten konnte oder wollte, der mag man immerhin beruhigend oder tröstend entgegenhalten, dass eine Rechtsordnung der Einzelfallgerechtigkeit Ungleichbehandlungen per definitionem ausschließt. Denn sie kennt keine abstrahierende Gleichheit, sondern nur den unvergleichlichen: Einzelfall.

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Ders.: Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht  – Bemerkungen zur Grundrechtsanwendung im Privatrecht und zu den sogenannten Ungleichgewichtslagen, AcP 196 (1996), 1–36 Ders.: Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes‑ und Richterstaat, 1996 Ders.: Metamorphosen des Privatrechts, in: Zentaro Kitagawa, u. a. (Hrsg.), Das Recht vor den Herausforderungen eines neuen Jahrhunderts, 1996, 111–123 Zweig: Die Haftung für Verschulden bei Vertragsschluß, 1929 Zweigert, Konrad: Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), 5–21 Ders.: Seriositätsindizien, 1964, 309–353 Ders.  / ​Kötz, Hein: Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 1971 (3. Aufl. 1996) Ders.: Jherings Bedeutung für die Entwicklung der rechtsvergleichenden Methode, in: Franz Wieacker (Hrsg.), Jherings Erbe: Göttinger Symposion zur 150. Wiederkehr des Geburtstags von Rudolph von Jhering, 1970, S. 240–251

Sachwortverzeichnis Abbruch von Vertragsverhandlungen ​274, 439, 455, 488, 656, 659, 661, 667 actio culpae ​56, 59, 131, 137 f., 140 ff., 149, 154 f., 167, 202 f., 210, 255, 392, 522, 530, 615, 645 actio doli (actio de dolo) ​56 f., 95, 100 ff., 106 f., 114, 129, 134, 137, 140, 148, 189 ff., 202 ff., 208 ff., 248, 255, 258, 409, 430, 492, 497, 513, 710 actio in factum ​113, 116, 146, 148 f., 191 actio iniuriarum ​142, 146 s. a. iniuria actio legis Aquiliae ​55, 96, 135, 137 ff., 146 ff., 151, 154, 156, 164 f., 189 ff., 208 s. a. lex Aquilia actio praescriptis verbis ​106 s. a. Innominatrealvertrag Analogie ​46, 70, 297, 312 f., 315, 317, 331 ff., 336, 338, 340 ff., 344 ff., 352, 354, 356, 372, 386, 516, 648, 708 Analogiebasis ​338, 343, 347, 352, 370 Anstand ​406 ff., 453, 570 – Anstandsgefühl (aller billig und gerecht Denkenden) ​406, 570 – Konsens der Anständigen ​405 ff., 570 s. a. moralischer Kontraktualismus Anvertrauen ​400 ff., 516, 604 – Anvertrauensargument ​401 f., 447, 449, 455 f., 506 f., 538 – Anvertrauenshaftung ​351, 486, 523, 536, 602, 655 – Anvertrauensverhältnis ​402, 447, 512 Aufklärung ​2, 25 f., 61, 161 ff., 184, 294, 297, 316, 332, 354, 452, 563, 581, 617, 663, 672 ff., 675, 681, 686, 688 ff., 693, 696, 698, 704, 713, 717, 731 Aufklärungspflichten ​70, 173, 280, 318 ff., 322 f., 332, 336, 357, 374, 382,

418, 421, 424, 432, 448, 459, 559 f., 573, 582, 607, 609, 659, 662 f., 669, 671 ff., 681, 684 ff., 710, 732, 736 s. a. Informationspflichten – ~pflichtverletzung ​117, 320, 663, 669, 673, 675 f., 681, 690 f., 728 Aufwendungen ​271, 279 Aufwendungsersatz ​279, 661 Auskunft ​175, 220, 431, 587 f., 600, 620, 686 f. Auskunftshaftung ​2, 175, 431, 530, 587 s. a. Erklärungshaftung Autonomie ​213, 239, 418, 421, 487, 560, 562 ff., 569 f., 680, 684, 696 Autopoiesis ​13, 652 Arglist ​56, 93 ff., 103, 105 ff., 113, 119, 130, 137, 139, 210, 215, 220, 316, 347 f., 370 ff., 374, 409, 421, 645, 662, 664, 668, 689, 742 s. a. dolus argumentum a fortiori ​318, 331 f., 343 Begriffsjurisprudenz ​29, 35, 45, 281, 286, 290, 296, 301, 306, 353, 365, 367, 425, 437, 442 f., 455, 461, 471, 501, 557, 642, 697, 701 Beleidigung ​160, 165  f. Billigkeit ​5, 12, 22 ff., 32, 41, 43, 51 f., 55, 64 ff., 74, 77, 119, 126, 134, 149, 215, 216, 285, 312, 314 ff., 319, 331 ff., 344, 349, 369 f., 386, 389, 407, 491, 520, 528, 554, 666, 737 f. – Unbilligkeit ​21, 35, 78, 609, 694, 716 – ~gefühl ​36, 287, 375, 637 – ~rechtsprechung ​519, 621, 634, 694 Billigkeitsjurisprudenz ​13, 39, 293, 367, 693, 698, 718 s. a. Gefühlsjurisprudenz bona fides ​57, 94 ff., 99, 101, 107, 109, 210, 212, 236, 241, 244, 246, 248, 257, 280, 309, 311, 349, 358, 393,

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Sachwortverzeichnis

404, 410, 423 f., 427 f., 432 ff., 438, 449, 458, 459, 484, 490, 573, 604, 676, 687, 710 bonae fidei iudicium ​99, 107, 137, 210, 311, 399, 427, 459 Causalität  / ​Kausalität ​211  ff., 121, 246, 333, 562, 588 Causa obligationis ​61, 68, 82 f., 86, 124, 133 ff., 137, 140, 157, 161, 165 f., 170, 179, 187, 218, 222, 228, 230, 242, 245 f., 252, 307, 324, 338, 348, 393, 423, 449, 460, 490, 586, 588, 604, 676 Causalnexus ​58, 68, 81 f., 89 f., 94, 123, 125, 152, 179, 202, 204, 212, 268 Consequenz ​34 ff., 39 f., 45 f., 49, 51 ff., 56 f., 66, 68 f., 79, 131, 167, 266, 278, 301, 317, 332, 337, 351, 354, 359, 364, 375, 392, 394, 397, 438, 440, 446, 448, 459, 519, 529, 541, 543, 558, 652 Consideration ​107, 263  f. Contract ​22, 53, 63, 68, 73, 84, 98, 168, 189, 206 f., 209, 264, 265, 268, 270, 311, 335, 338, 373, 395, 549, 612, 664, 700, 709 f. Contractsklage ​62 f., 98, 99, 106, 109, 145 Contractsverhältnisse ​60, 96, 128, 135, 141, 209, 305, 310, 335, 338, 373 Corpus Iuris (Civilis) ​1, 24, 45, 67, 114, 188, 300, 436, 514 culpa – haftungsbegründende ​121, 143, 152, 155 f. – haftungsbegrenzende ​121 f., 143 f., 152, 161 – contractliche (kontraktliche) ​56, 206, 305 ff., 373, 395, 400, 586 – delictische (deliktische) ​188 ff, 201, 230, 322, 364, 400, 517, 523 ff., 530 – lata ​57, 90, 109 f., 112, 114, 116, 119, 124, 128, 139, 152, 165, 168, 175, 191, 210 f., 220 f., 248, 267, 275, 310, 369, 430, 513, 574, 687 f., 710 – levis ​123 f., 128, 152, 165, 175, 267, 710 – levissima ​57, 118, 128, 145, 147, 152, 161, 165, 168, 210, 317, 323, 510, 512, 640, 687, 710 – Nichtwissen als s. Schlauberger­ konjunktiv

Culpacompensation ​58, 131, 213, 215 ff., 242, 249 f., 328, 330, 343, 368, 576, 651, 682, 687, 705 s. a. Verschuldens-Patt Damaskus-Erlebnis ​27 ff., 31, 36, 47, 77, 79, 642 s. a. Bekehrung Jherings ​28, 79, 133 damnum ​83, 124 f., 133, 142, 146, 149, 154 ff., 158, 160, 168, 188, 190, 192, 216, 260, 267 ff., 279 – culpa datum ​142, 146, 149 – iniuria datum ​83, 142, 188, 192 debitum ​116, 118, 155 f., 163, 308, 393 Deduktion ​23 28, 30, 38, 47, 51, 55, 66, 159, 298, 421, 556, 689 – Prinzipien~ ​46, 51 f., 55, 58 f., 64, 71, 80, 130, 162, 296, 354, 369 f., 397, 438, 445, 459, 484 dolus ​57 f., 81, 85, 90 ff., 98 ff., 103, 105 ff., 109 ff., 118 ff., 123, 126, 128 ff., 134 f., 137, 140 ff., 150, 152 f., 156, 158, 162 ff., 167, 169, 175, 179, 181, 187, 189, 192, 201, 203 f., 206 ff., 212, 216, 218 ff., 228, 241 f., 246, 248 ff., 255, 267 f., 275, 280, 307, 310, 311, 314, 316, 321, 332, 335, 338 f., 342, 368 ff., 375, 401, 409, 427 ff., 459, 508, 513, 536, 563, 573 ff., 587 f., 621, 630, 654, 658, 661 f., 687, 710, 713, 715 – malus ​91 ff., 103, 109 f., 116, 119, 144, 204, 212, 219, 574 ff., 588 – praesumtus ​109 ff., 142, 145, 428, 430 – praesens  / ​praeteritus ​106  ff., 662 diligentia ​68, 114 f., 123 f., 128, 137, 145 f., 156, 168, 305, 308 f., 317, 338 f., 393, 402, 404 Dilligenzpflichten ​68, 71, 95, 114 s. a. Sorgfaltspflichten ​96, 332, 339 Dogmatischer Positivismus ​477 ff., 501 Dogmengeschichte ​9 f., 12, 14, 88, 132, 136 f., 208, 221, 225 ff., 280, 297, 307, 311, 326, 339 f., 349, 423, 430, 443, 514, 551, 588, 593, 601, 613, 653 f. efficient breach ​262 ff., 665 Effizienz ​8, 265, 578 ff., 583, 676, 728 Erfolgsunrecht ​89, 122, 147, 150, 161, 165, 167, 180, 187, 204, 242 f., 324, 374 f., 401, 507, 509, 640

Sachwortverzeichnis

Erklärungshaftung ​187, 203 ff., 209, 214, 217 ff., 247, 264, 280, 314, 334, 437 ff., 448, 455, 486, 492, 496, 499, 523, 536, 538 f., 550, 563, 587 f., 645, 686 f., 690 s. a. Auskunftshaftung ​431, 587 s. a. Informationshaftung ​2, 7, 221, 585, 587 f., 658, 686, 705 Erklärungsmängel ​234, 235 ff., 237 f. Erklärungstheorie ​13, 172, 234, 242, 264 f., 267, 278 ff., 665 Ethik ​42, 319, 466, 483, 571, 736 – Freiheits~ ​19, 455, 466, 483, 557, 561 ff., 568, 628, 679, 696 – Sozial~ ​416 ff., 436 ff., 442, 481, 483 – Rechts~ ​527, 553, 573 ff., 705 Evolution ​45, 127, 151, 285, 391 f., 410, 677, 697, 699 ff., 715, 741 – Rechts~ ​82, 89 ff., 723, 736 Faktisches Vertragsverhältnis ​359, 378, 424, 447, 516, 551, 557, 718 Falsus procurator ​227, 233, 242, 247 ff., 251, 259, 346, 671 Fides ​96 ff., 107, 404, 422, 433 ff., 484, 499 s. a. bona fides Finalismus ​22, 287 ff., 324, 343, 350, 355, 411 f., 490, 548, 612, 639, 692 Freiheit – wohlgeordnete ​193, 466, 563 f., 570 – egalitäre ​565, 573 – negative  / ​libertäre ​561  ff., 689 – positive  / ​nichtlibertäre ​561  ff., 684 – soziale  / ​materiale ​566  ff. Freiheitsethik, formale ​466, 557, 562, 564, 628, 679 Freiheitshypothese / ​Informationsmodell ​ 558 ff., 684 Freirecht ​285 ff., 312, 314, 323 f., 331 f., 360, 366, 411, 443, 490, 639, 700, 708, 718, 721, 738 – Freirechtsschule  / ​-bewegung ​32, 55, 293, 314, 332, 387, 411, 443, 475, 549, 594, 627 Führer ​413, 419, 434 f. – Führerprinzip ​435 – Führerwille ​412 Gefühl ​22, 26 ff., 33, 36 f., 42 ff., 47, 51, 64, 87, 292, 294 f., 369, 392, 406, 596, 705, 741 s. a. Rechtsgefühl

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Gefühlsjurisprudenz ​22, 27, 31, 35, 47, 50, 77, 285 f., 296, 700 Gefühlsmethodologie ​40, 49, 54, 392 Gemeinschaft ​90 ff., 206, 407, 417 ff., 427, 435 ff., 440 ff., 453, 458, 467 ff., 481 ff., 554 ff., 563, 570 ff. – und Gesellschaft ​293, 468 – Gemeinnutz vor Eigennutz ​206, 415, 418, 422, 445, 451, 460, 529, 565, 602 – Volks~ ​417, 420, 435, 446, 465, 468 ff. Generalklausel – große haftungsrechtliche, 138, 182 ff., 187 ff., 202 ff., 220, 506 ff., 532, 634 – methodologische Bedeutung ​411  ff. Generalklausulitis ​46, 711, 717, 723 s. a. Prinzipienkultus Gesamtanalogie ​312 ff., 318, 340 ff., 345 ff., 358 f., 364, 372, 385, 424, 526 Gewohnheitsrecht ​69, 247, 297, 359, 384 ff., 389, 438, 486, 494, 516, 711 Gleichheit ​8, 418, 469 f., 565 ff., 569 ff., 654, 696 f., 717, 746 Haftungsdreieck, rechtsgeschäftliches ​ 239 ff., 460, 483, 661 Haftungsspur, dritte ​209, 301, 449 ff., 486, 497, 526, 529, 554, 587, 599, 601, 607, 631 s. a. Vertrauenshaftung Handlung, widerrechtliche ​143, 150, 184, 199 f., 201 f. Handlungsunrecht ​89, 145, 147, 167, 173, 179 f., 185 ff., 200 f., 204, 243, 323 f., 339, 375, 507, 640 hindsight bias s. Schlaubergerkonjunktiv Individualismus ​416, 418, 421, 435, 437, 468 f., 480, 482 f. Induktion ​46, 47, 55, 118, 340 Information ​383, 559 f., 570, 581, 582, 588, 669, 677, 681, 683, 684 ff., 716, 723 – ~asymmetrie – ~defizit ​678, 693 – ~problem ​645, 682 ff., 687 Informationsbeschaffungspflicht ​581, 681, 686, 710 Informationsmodell / ​Freiheitshypothese ​ 559 ff., 567 Informationshaftung ​2, 7, 221, 585, 587 f., 658, 686, 705 s. a. Erklärungshaftung

810

Sachwortverzeichnis

Informationspflichten ​4, 7, 557, 578 f., 581, 607, 649 Initialjudiz ​428  ff. Iniuria ​90 f., 94, 141 ff., 146, 150 f., 165, 167, 187 ff., 193, 195, 211 ff., 405 Innominatrealverträge ​106  f. Interesse – damnum emergens ​168, 260, 269 ff. – Erfüllungs~ ​72, 234, 241 ff., 260 ff., 270 ff., 281 f., 346 f., 399, 496, 651, 665, 707 – expectation interest ​262 ff., 270 – Gewinnerwartung ​72, 266 f., 269 ff., 275 f., 279, 282, 691 – lucrum cessans ​168, 267, 269 ff., 275 ff., 279, 661 – negatives ​2, 63, 67, 73, 234, 250 f., 256 ff., 268 ff., 280 f., 398 f., 496, 649, 665 – positives ​257, 260, 495 ff. – reliance interest ​262 ff., 270 – Spekulations~ ​269, 279, 691 Intuition ​33 f., 37, 134, 706 Intuitionismus ​33, 293 Kapitalismus ​429, 468, 566 Kodifikation ​6, 26, 134, 161 ff., 165 f., 170 ff., 176, 187, 202, 213, 219 f., 254, 256 ff., 267, 275, 284, 288, 298, 300 f., 389, 462, 596, 599 f., 607, 613 ff., 623, 627, 629 f., 632 f., 636 f., 639 f., 658, 673, 675, 697 ff., 706 ff., 710 ff., 718 f., 722, 729, 740 Kollektivismus ​435, 469, 483 Konkurrenz ​6 f., 88, 131, 190, 209, 312, 315 f., 323 ff., 382 ff., 388, 396, 401, 422, 455, 481, 506, 513, 529, 546, 576, 630, 637, 643 ff., 645 f., 652 ff., 656, 686, 691 f., 708, 710 – gesetzeskonforme ​658, 692 – gesetzesderogierende ​658, 692 Konstruktion – dogmatische ​33, 52 ff., 75, 262, 266, 293, 428, 450, 459, 523, 529, 664, 698 – juristische ​288, 410, 639, 714 Kontraktualismus ​405  f. lex Aquilia ​135, 137, 140, 141, 143, 145 ff., 154, 189, 208, 217, 305, 510 lex lata ​408, 524 ff., 529 ff., 545, 550, 553, 587, 678, 710

Liberalismus ​418, 420, 435, 442 f., 452, 463, 481, 527, 529, 556, 561, 562, 565, 571 ff., 587, 698 Liebesgebot ​157, 159 – Nächstenliebe ​563  f., 679 Lücke – im Gesetz ​9, 106 f., 170, 174, 230, 283, 288, 303 ff., 322, 324, 328, 369, 375, 384 ff., 449 ff., 526, 640 ff., 653, 677 f., 701, 705 – Lückendogma ​10, 287, 298 f., 300 ff., 367, 553 Maleficium ​138, 155 ff., 163, 200 Materialisierung ​466 ff., 474, 480, 501, 565, 693 – ~these ​455, 460, 530, 557, 677 Methodenlehre ​23, 31 f., 51, 53, 86, 286, 288 f., 301, 336, 366, 381, 413 ff., 425, 478, 604 Missetat ​150 ff., 155 f. Mitverschulden ​70, 330, 343 f., 375 Naturrecht ​8, 25 f., 121, 136, 154, 156 f., 161 ff., 172, 178, 184, 213, 236, 292, 324, 466, 476 f., 533, 541, 642 negatives Interesse s. Interesse negligentia ​123, 137, 213 negligence ​138, 146, 217 f. neminem laedere ​8, 55 f., 127, 136, 156 ff., 166, 178, 185, 187, 195 f., 205, 349, 351, 400, 402 f., 449, 459, 507, 533 ff., 585, 654, 706 Objektivierung (des Rechts) ​120 ff., 228, 239, 242, 490, 640 Objektivität ​89, 95, 238, 244, 277, 344, 663, 666 Pacta – nuda ​107, 499 – sunt servanda ​96, 98 f., 106 f., 239, 245, 661, 673, 707, 709, 728 Pandektistik ​19, 23, 31, 45, 75, 138, 230, 312, 442, 477, 617, 640, 650, 702 Parteiprogramm – der NSDAP ​412 f., 418, 436 Positivismus – dogmatischer ​455, 474 ff., 477 ff., 481, 485, 491, 501, 504, 506, 514, 526, 530, 542 ff., 617, 621, 631, 697, 709

Sachwortverzeichnis

– Gesetzes~ ​387, 471, 474, 477 ff., 532 – Rechts~ ​23, 40, 286 positive Vertrags- / ​Forderungsverletzung (p. V.) 302 ff., 341, 382, 39, 395 ff., 441, 480, 493, 512, 602, 610, 639 Prinzipien ​36, 43 ff., 49, 51 ff., 71, 73, 87, 147, 176, 192, 220, 231, 242, 252, 255, 312, 340, 405, 415, 458 ff., 481 f., 484, 491, 501, 565, 572, 575, 647 – ~deduktion ​46, 51 f., 55, 58 f., 64, 71, 80, 130, 162, 296, 354, 369 f., 397, 438, 445, 484 – ~kultus ​32, 46 f., 50, 76, 255 – Rechts~ ​24, 478, 556, 679 Privatautonomie ​8, 74, 213, 233, 418, 461, 473, 484 498, 566, 606, 673, 686 f., 698 Quasidelikt ​111 f., 151, 181, 403, 550 Ratio scripta ​21, 25, 31, 45, 284 f., 290, 696, 735, 744 Rechtserneuerung ​362, 412, 414 f., 422, 441, 452 f., 458, 463, 493 Rechtsgefühl ​15, 21 ff., 27, 31 ff., 51 f., 56, 75, 77, 80, 88, 90, 104, 130 f., 285, 287, 290, 292, 294 f., 301, 365, 388, 390, 406 f., 411, 445 ff., 459, 470, 544, 587, 589, 618, 707, 715, 741 – Rechtsempfinden ​57, 114, 132, 134, 162, 320, 349, 350 ff., 367, 387, 389, 437, 453, 477 f., 536, 586 f., 699 – Rechtsbewusstsein ​40, 93, 109, 116 Rechtsverhältnis – der Vertragsverhandlungen ​350, 354, 364, 388, 523 – vertragsähnliches ​398, 508 – vorvertragliches ​320, 355 Rechtsverletzung – objektive ​84, 116, 144, 147, 149, 158, 162, 187, 198 – positive ​140, 167, 184, 194, 305, 310 – widerrechtliche ​150, 196, 200, 204 Rechtswidrigkeit – negative – positive ​167, 169, 180, 186, 200, 204 Redlichkeit ​8, 210, 439, 573 ff., 654 Schädigungsverbot ​136, 157, 159 ff., 194 ff., 237, 402, 604 s. a. neminem laedere

811

Scherz und Ernst ​22, 27 f., 54, 63, 66, 226, 285, 706 Schlaubergerkonjunktiv ​64 ff., 68 f., 71, 117, 210, 218, 315, 317 f., 323, 344, 560, 567, 681, 705 – culpa levissima ​57, 118, 122, 128, 145, 152, 161, 168, 210, 317, 323, 510, 512, 640, 687, 710 – Nichtwissen als culpa ​64, 68, 70, 118 – hindsight bias (Rückschaufehler) ​69, 71, 210, 315, 560, 567 Schrumpfungsmethodologie – Schrumpfungsargument I ​450, 486, 498 – Schrumpfungsargument II ​486, 497 Schuld s. debitum, dolus, culpa Schuldmoment ​55, 59, 67, 79 ff., 89, 91 ff., 147 ff., 215, 219, 228, 248, 257, 268, 316, 368, 563, 588 Schuldrechtskommission ​593 ff., 598, 603, 625, 627, 630 f., 637, 639, 642 Schuldrechtsreform ​363, 394, 478, 531, 595, 623, 642, 645, 657 Schuldrechtsmodernisierung ​10  f., 348, 442, 444, 453, 464, 531, 545, 554, 593, 616, 622, 627, 635, 641, 646, 699 Schuldverhältnis – als bonae fidei iudicium s. dort – als Organismus ​356 ff., 397 f., 436, 444, 528, 650 – als Schutzpflichtverhältnis s. dort – als Vertrauensverhältnis s. dort – ohne primäre Leistungspflichten ​363, 399, 401, 647, 649 ff. – vorvertragliches ​312, 338 ff., 349, 353, 356, 361 ff., 377, 382, 392 ff., 397 f., 400, 404, 409, 424, 466, 488 f., 508, 519, 542, 547, 646, 653, 655 Schutz (des Schwächeren) ​469 ff. Schutzpflichten ​2, 54, 95, 340, 362, 382, 394, 399 ff., 410, 424, 447 ff., 511 f., 514 f., 531 f., 536, 600 ff., 631 f., 653, 657 Schutzpflichtverhältnis – als Rahmenverhältnis ​451, 493, 512, 605 – umfassendes ​362, 380, 392 ff., 397, 400, 404, 415, 433, 441, 479, 493, 508, 524, 605, 630, 646, 651 Selbstbindung ​8, 56, 206, 498, 549 ff., 659 Selbstbestimmung ​8, 264, 498, 527, 550 f., 558 ff., 611 f., 676, 684, 687, 738 sozial (social) ​41 ff., 462 ff., 472 ff.

812

Sachwortverzeichnis

– social(istisch)es Oel ​442, 446, 461, 466, 558, 629, 669 – sozialer Freiheitsbegriff ​568  ff. – sozialer Kontakt ​2, 260, 301, 353, 446 ff., 456 f., 459, 486, 507, 511, 515 f., 533, 536 Sozialismus (Socialismus) ​418, 480, 527, 564, 573, 587, 629, 698 – nationaler ​412 ff., 435 f., 460, 469 Sonderverbindung ​2, 13, 206, 363, 379 ff., 402, 415 ff., 433, 451 ff., 507 f., 515 ff., 526 ff., 532 ff. Sorgfaltspflichten ​96, 332, 335, 339, 344, 383, 395, 449 s. a. Diligenzpflichten ​68 ff., 95, 114, 429 suum cuique ​156, 158 f., 185, 416, 535, 545 Systembruch ​450, 526, 629 – systemsprengend ​452 f., 457, 479, 492, 500, 528 ff., 634 Totalitarismus ​418  ff., 564 Totalkompensation ​125  f. Transaktionskosten ​574, 578 ff., 654, 676 Treu und Glauben ​7 f., 107, 265, 280, 309 ff., 321, 323, 335, 352, 356, 357 f., 382, 399 ff., 404 ff., 416, 419, 433, 716, 718 Umkehrschluss ​297, 315, 318, 333 f., 336, 342, 708 Unrecht – objektives ​83 ff., 89, 98, 102, 106, 140 f., 144, 146, 156, 162, 164 – subjektives ​89, 98, 115, 162, 242, 309 s. a. Erfolgsunrecht s. a. Handlungsunrecht Unerwünschter Vertrag ​2, 70, 372, 669, 690 Unwirksamer Vertrag ​260, 264, 338, 549 usus modernus pandectarum ​128, 145 ff., 154, 164 ff., 187 f., 190 ff., 204, 209 f., 268, 323 f., 510 Verhältnismäßigkeit ​104, 126 Verkehrsschutz ​120, 130, 191, 208, 244, 252, 573 f., 577 f., 582, 585, 678, 687 Vernunftrecht ​136, 149, 154, 187 Vermögensschaden ​153, 188, 194 f., 205, 271, 538 f.

Verschulden – als Haftungsprinzip ​123, 138, 145 f., 162, 191, 201 Verschuldenshaftung ​55, 57, 60, 65, 70, 125 ff., 134, 136, 172, 187, 314 ff., 323, 336, 355, 651 Verschuldens-Patt ​69 f., 211 ff., 368 s. a. Culpacompensation Verschuldensprinzip – römisch-rechtliches ​152 – deutsch-rechtliches ​152, 178 Versprechen ​97 f., 107, 236, 243, 245 f., 251, 253, 262 ff., 393, 426 f., 499, 501, 536, 553 Versprechensdogma ​354  f. Vertrag – Formal~ ​240 – Innominatreal~ ​106 – Konsensual~ ​18, 107, 240, 253, 426, 499, 550, 660 – Real~ ​107, 551 Vertragstreue ​97, 426, 499 f., 521, 710 Vertragsanbahnung ​339, 353, 377, 491, 516, 540, 574, 579, 582, 607, 632, 659 Vertragsauflösung – Lösung vom unerwünschten Vertrag ​ 70, 175, 372, 669, 690 Vertragsparität ​473, 566, 612, 673, 728 Vertragsverhandlungen ​311, 332, 345, 350, 354, 359, 376, 378, 383, 397 Vertrauenshaftung ​73, 85, 97, 280, 297, 351, 393, 423 ff., 428, 433, 436 ff., 445 f., 448 ff., 455, 457 ff., 473, 475, 480, 483, 485 ff., 493 ff., 501, 503 ff., 513, 523, 526 f., 530 f., 536, 540, 543, 545 ff., 550 ff., 556, 587 f., 597, 599, 601 ff., 605, 613, 617 ff., 636, 646, 655, 658 f., 688, 718 Vertrauenstheorie ​75, 234, 236 f., 240, 264, 665 s. a. Erklärungstheorie ​13, 75, 234, 236 f., 240, 242, 264 f., 278 ff., 665 Vertrauensprinzip ​54, 60, 246, 457, 460, 480 ff., 491 f., 543 Vertrauensverhältnis ​400 f., 424 ff., 430 ff., 613 Verursachungsprinzip ​90, 202 Volenti non fit iniuria ​94, 211 ff., 405 Volksgeist ​27, 30, 50, 365, 406

Sachwortverzeichnis

Volksempfinden ​412 Volksgenossen ​417 Volksgesetzbuch ​362, 440, 451, 463, 601, 623, 636 Voluntarismus ​288, 290 ff., 295, 297, 299, 350, 411, 490, 548, 698, 700, 711, 722, 740 Vorsatzdogma ​114, 134, 203, 211, 212, 218, 569, 585, 621, 638, 644 f., 687 vorvertragliche – Haftung ​4 ff., 8, 12, 70, 86, 88, 173, 208, 282, 314, 336, 361, 479, 486, 539, 545, 554, 558, 614, 643 f. – Pflichten ​2, 173, 284, 318, 332 ff., 337, 340, 346, 348, 357 f., 364, 374, 377, 393, 532, 667 – Pflichtverletzung ​2, 174, 316, 324 f., 333, 340, 348, 355, 378, 648 f., 667

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Weimarer Republik ​297, 325, 361, 435, 468 f., 594 Widerrechtlichkeit ​151, 165, 167, 169, 185 f., 195 ff. s. a. Rechtswidrigkeit ​167 Willensdogma ​17 ff., 24 f., 31 f., 59, 61, 74, 233 ff., 253 ff., 483, 486, 498 ff., 551 ff., 679 – Willenstheorie ​20, 108, 172, 234, 238, 240, 248, 264, 280, 328 Wirtschaftsliberalismus ​138, 460 f., 468 Zugang, von Willenserklärungen ​253 ff., 327, 349, 354, 383, 540 Zugangsvereitelung ​354  f., 383 Zweck ​22, 41 ff., 50, 71, 129, 281, 377, 654, 661 – im Recht ​31, 41 ff., 50, 366