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German Pages 584 Year 2014
Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube
Edition Kulturwissenschaft | Band 19
Eva Kreissl (Hg.)
Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls
Dieses Buch entstand im Rahmen des Forschungsprojekts »Superstition – Dingwelten des Irrationalen« am Universalmuseum Joanneum Graz. Das Projekt wurde aus Mitteln des Förderprogramms forMuse – Forschung am Museum des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung finanziert (www.formuse.at). Der Druck wurde vom Amt der Steiermärkischen Landesregierung / Referat für Wissenschaft und Forschung unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Andreas Müller Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Redaktion & Satz: Maria Maierhofer Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2110-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Zum Geleit
Eva Kreissl | 9
ABERGLAUBE ALS SYMPTOM Probleme mit der Geschichte des Aberglaubens
Karl-Heinz Göttert | 19 Aberglaube Überlegungen zur Macht der Bilder
Christoph Daxelmüller | 41 Für einen Wandel der Diskurse um Superstition – Irrationalität – Spiritualität
Angela Treiber | 83 Wider-Glaube Zum kulturellen Doppelcharakter der Superstition, und: Superstition als Gebärde einer rationalen Tendenz in der Kultur
Martin Scharfe | 107
DIAGNOSEN Aberglaube in der psychotherapeutischen Praxis Aus Sicht der Psychoanalyse, Ethnologie und volkskundlichen Erzählforschung
Bernd Rieken | 125 Aberglaube und Kriminalwissenschaft um 1900 Der Positivismus der Kriminologen und ihre Rationalisierung des Irrationalen
Christian Bachhiesl | 145
»Anti-Aberglaubiana« oder Mittel wider den Aberglauben der Leute Zu einem volksaufklärerischen Diskurs im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Nicole Waibel | 169 Ein steirischer Arzt des 17. Jahrhunderts als Quelle für die magischen Praktiken seiner Zeit
Elfriede Grabner | 193 Krimineller Aberglaube im Umfeld von Schwangerschaft und Geburt
Sonja Maria Bachhiesl | 209 Das magische Narrativ
Toni Distelberger | 231 Das Ding dreht sich Die Wünschelrute, die Entzauberung und das Populäre
Hubert Knoblauch | 253
S CHAUPLÄTZE »Gauckeleyen« und »ungeziemende abergläubische Seegensprüchereyen« Magische Praktiken um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
Eva Labouvie | 271 Benediktus-Medaille, Benediktus-Kreuz und Benediktus-Segen Frömmigkeitsgeschichtliche und theologische Bemerkungen zum »Benediktinischen Kreuzamulett«
Johann Tomaschek | 299 Perlmilch, Krötenfuß und Menschenfett Magische Elemente in der steirischen Volksmedizin des 18. und 19. Jahrhunderts
Elke Hammer-Luza | 327
Die Heilerin vom Strader Wald Eine Sonderbestattung des 17. Jahrhunderts aus Tarrenz in Tirol (Vorbericht)
Harald Stadler | 359
ZWISCHEN DEN KULTUREN Der magische Kreis – Wissen ohne Zufall Kulturanthropologische Überlegungen zur Säkularisierung von Wissensbeständen
Andreas J. Obrecht | 393 Alltagslogiken der Popularmagie im Kulturvergleich
Andreas Hartmann | 417 Die Heil bringende Mazza Jüdische und christliche Vorstellungen von der Wirkung des ungesäuerten Brotes
Annette Weber | 425
MUSEALE PRÄSENTATIONEN DES ABERGLAUBENS Museen und Aberglaube Früher, heute, morgen
Adela Pukl | 453 Glaube und Aberglaube Bilder einer Ausstellung
Peter Keller | 473 Musealisierte Sorgen Ein Werkbericht
Karl C. Berger | 487
E IN F ORSCHUNGSEXEMPEL P. Romuald Pramberger Mönch und Original
Benedikt Plank OSB | 507 »Ich selbst habe mit Vorteil zwei Sympathiemittel angewendet…« Romuald Pramberger und seine gesammelten »Superstitiosa«
Michael J. Greger | 519 Gewiss – ungewiss Überlegungen zum Begriff »Aberglaube«
Gabriele Ponisch | 537 Aberwissen und Popularmagie in der Gegenwart
Eva Kreissl | 559 Autorinnen und Autoren | 575
Zum Geleit E VA K REISSL
Im Titel dieses Buches steht das Wort Aberglaube. Erst nach langer Diskussion und mit latent anhaltendem Unbehagen gelangte der Begriff auf den Umschlag. Denn nur mit ihm lässt sich das Thema allgemein verständlich benennen – zugleich birgt er allgemein Missverstandenes und vor allem eine Wertung. Um begrifflichen Vorwegnahmen von Fremdzuschreibungen in den Kulturwissenschaften vorzubeugen, wählt man gerne – wo das politisch möglich ist – eine Bezeichnung, die dem Selbstverständnis der Protagonisten eines Forschungsfeldes entgegenkommt. Spricht man etwa über Ethnien, sind die einstigen diffamierenden Fremdbezeichnungen den Begriffen Roma oder Inuit gewichen, mit denen diese Bevölkerungsgruppen sich ihren eigenen Namen geben. Doch: Aberglaube bezeichnet sich nicht selbst. Zwar bekennen manche Menschen mit leicht entschuldigendem Augenzwinkern, „eben etwas abergläubisch“ zu sein, weil sie einen Talisman bei sich tragen, auf Holz klopfen, um nichts zu verschreien, oder aufmerken, wenn der 13. Monatstag auf einen Freitag fällt. Weil sie ansonsten vollständig in der modernen Welt verankert sind, gestatten sie sich diesen kleinen sympathischen Spleen und nehmen mit einem gewissen Unterton vorweg, ansonsten durchaus von Vernunft geleitete Menschen zu sein. Denn die Vernunft gilt als einer der gewichtigsten Gegenpole zum Aberglauben, sogar als Schutz vor ihm – und ist ein nicht minder problematischer Begriff wie der des Aberglaubens selbst. Schon die Frage, ob es vernünftig sein kann, Vorgänge für möglich zu halten, die man sich auf dem Wege der Vernunft nicht erklären kann, zeigt die enge Verstrickung beider miteinander.
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Als Aberglauben lässt sich so einiges bezeichnen, was den eigenen Annahmen widerspricht. Neben dem oben skizzierten kleinen, beinahe spielerischen Alltagsaberglauben fällt darunter der Glaube an Sphären und Kräfte, die man nicht sehen kann, oder auch die Kommunikation mit Wesen, die physi(kali)sch unmöglich ist, das Vertrauen auf Naturgesetze, die nur empirisch, nicht aber nach anerkannten analytischen Verfahren belegbar sind, oder alle Spielarten der Dämonologie, deren Wurzeln – weit älter als die monotheistischen Religionen – doch deutliche Spuren deren Vorstellungskraft von guten und bösen Mächten tragen, und die derzeit in der Unterhaltungsindustrie ein breites Spektrum an Gänsehaut erregenden Produktionen hervorbringen. An so etwas kann man glauben oder auch nicht. Auch religiöser Glauben entzieht sich bewusst einem Kontext, der auf Wissen beruht. Das Credo, das Christen in jedem Gottesdienst auf die Grundsätze von Religion und Kirche einschwört, ist eben kein Scio. Als die katholische Kirche noch im Vollbesitz ihrer politischen Kräfte war, nahm sie sich heraus, Menschen, die sich in ihrem Credo nicht wiederfinden konnten, als Häretiker oder einem Aberglauben Verfallene zu kennzeichnen und mit ihnen zu tun, was sie für richtig befand. Die frühen Protestanten wiederum bezeichneten die Riten der Papstanhänger als abergläubischen Mummenschanz. Noch heute ist die Grenze zwischen einem anerkannten und nicht anerkannten Glauben an Wunder, religiöse Praktiken und Rituale einem Außenstehenden nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Der größte Bereich des Aberglaubens ist jedoch kein Glaube, sondern beruht auf subjektiven Wissenskategorien, die immer nur andere für vermeintlich oder fehlgeleitet halten. Er hätte eher verdient, als Aberwissen bezeichnet zu werden, beruht er doch auf einem in sich logischen System an Beobachtungen, Regeln und Folgerungen. Dieses System wird von der Medizin oder den Naturwissenschaften, in deren Bezeichnung bereits festgeschrieben ist, dass sie wissen (sollten), was sie tun, als Kompendium der Irrlehren bezeichnet oder pointierter noch als abergläubisch, also abstruser Unsinn. Schließlich geht die Schulmedizin davon aus, dass nur chemisch nachweisbare Stoffe eine heilende Wirkung haben können, räumt zwar psychische Einflüsse bei Erkrankung und Heilung ein und gestattet ansonsten nur einem Placebo eine unergründliche, weil eingebildete Wirksamkeit. Doch hat das naturwissenschaftliche System im Laufe seiner Entwicklung selbst gerne einmal 180-Grad-Kehrtwendungen unternommen, nachdem seine ehernen Gesetze als falsch und unsinnig entlarvt worden waren. Man
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erinnere sich: Die Sonne umkreist doch nicht die Erde, Blut wird im Menschen nicht ständig neu produziert, sondern pulsiert als Kreislauf in unseren Adern, und dass Spinat besonders viel Eisen enthalte, entpuppte sich als Rechenfehler. Hätte jemand Ende der 1950er-Jahre prophezeit, dass die Einnahme von Contergan zu Tausenden missgebildeter Kinder führen würde, wäre dies ebenso belächelt worden wie die apokalyptischen Vorhersagen eines Nostradamus. Schon diese kleine Auswahl an einst abgesicherten Wissensbeständen, die teilweise über Jahrhunderte unumstößliche Gültigkeit besaßen, macht klar, dass es bei der Unterscheidung zwischen Wissen, Glauben und Aberglauben um nichts anderes geht als um Macht – um Definitionsmacht, um Deutungsmacht, um Durchsetzungsmacht und einst auch um die Macht über Leben und Tod. Wie manche Stämme oder Gentes erst durch ihre Eroberer, Kolonialisten oder Feinde eine Zusammengehörigkeit als Volk und gleich dazu einen Namen verpasst bekamen, ergeht es auch jenen, die von einem hegemonialen Glaubens- respektive Wissenssystem abweichen. Sie werden über einen Kamm geschoren und ihre Annahmen als Aberglauben bezeichnet. Wenn also ein Begriff augenscheinlich dazu dient, einer anderen Art des Denkens Misskredit zu zollen, sollte er nicht mehr verwendet werden. Aber wir kommen um den Begriff Aberglaube nicht herum, wenn wir uns verständlich machen wollen. Superstitio, seine lateinische Variante (oder im Griechischen Deisidaimonia), bezeichnete in der Antike die überhöhte oder zu leidenschaftlich ausgeübte Verehrung der richtigen Götter und wurde erst im Mittelalter vom Klerus zur Kennzeichnung jener herangezogen, die nach Meinung der Kirche falschen Glaubensinhalten anhingen. Er ist also um nichts wertfreier – und zudem den wenigsten geläufig. Die moderne Bezeichnung Popularmagie ist nicht nur eine wenig geglückte neudeutsche Sprachschöpfung der Kulturwissenschaften, sie engt zudem im Alltagsverständnis den Aberglauben alleine auf zauberische Praktiken ein und berücksichtigt nicht das Weltwissen des vormodernen Denkens als ein Deutungssystem von Zeichen und Entsprechungen oder die vielen kleinen, zum Teil sehr alltäglichen Praktiken vom Daumendrücken bis zur sympathetischen Heilwirkung von Pflanzen. Doch eines haben alle diese Begriffe gemein: Sie widerspiegeln nicht das Selbstverständnis jener, deren Denk- und Handlungsweisen betrachtet wird. Mögen diese unserem wissenschaftlichen Verständnis auch noch so fremd sein, müssen wir ihnen in unseren empirischen Erhebungen und historischen Studien dennoch einräumen, dass sie für die Ak-
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teure konsistent sind und auf ihr Leben eine vielleicht weniger schädigende Wirkung ausüben als die jeweils anerkannten Lehrmeinungen und dass wir sie nur zu verstehen lernen, wenn wir ihnen – nicht alleine aus methodischen Gründen – mit Respekt begegnen und mit einer Portion Demut gegenüber dem, was wir (noch) nicht wissen. Uns interessiert in diesem Buch nicht, ob das eine oder das andere Wissen „stimmt“ oder „wahr“ ist, und auch nicht, ob es mehr oder weniger gerechtfertigte Glaubenstheoreme gibt. Daher haben wir uns den von Martin Scharfe gewählten Blick auf den Aberglauben für den Titel ausgeborgt und betrachten ihn als Kulturtechnik, als eine Art und Weise, die Welt zu handhaben und in ihr ohne Ohnmachtsgefühle zu bestehen – oder zumindest mit geringeren. Die Hilflosigkeit, in der sich viele Menschen zwischen den anerkannten Systemen wiederfinden, drückt auch das Titelbild aus. Das Foto zeigt einen Ausschnitt der Kontrollanzeigen des Trainingssimulators von Block III des derzeit größten europäischen Atomkraftwerks Saporischschja im ukrainischen Enerhodar. Die Menschen, die hier arbeiten, überwachen einen hochkomplexen Apparat mithilfe von Technik, die niemals versagen darf. Doch ganz scheinen sie ihr nicht zu trauen und sie liefern sich ihr nicht vollständig aus. Für die angeblich nie eintretenden Fälle, von deren Realität wir spätestens seit Tschernobyl oder Fukushima wissen, suchen sie sicherheitshalber um den Schutz der Muttergottes an. Beide Systeme, Technik und Religion, definieren – ohnehin auch einander misstrauend –, was Aberglaube ist: das Andere, das nicht nach ihren Regeln funktioniert und hartnäckig mit kleinen, fast nichtigen Beschwörungen den Alltag – man kann wohl ruhig behaupten – fast aller Menschen begleitet, aber manch anderen auch bei den großen Fragen nach Sinn und Zusammenhängen des Lebens einen Halt geben soll. Doch hegemoniale Deutungsmächte, seien dies die monotheistischen Religionen, die Aufklärung, die Naturwissenschaften, die moderne Technik oder Medizin, definieren nicht nur, was Aberglauben ist, sondern sie sind es erst, die ihn produzieren und dann auch noch für seine Verbreitung sorgen. Dies geschah im Laufe der Geschichte mit verlässlicher Zyklizität, wie der Beitrag von Karl-Heinz Göttert in diesem Band anschaulich für die Zeit bis zur Aufklärung nachzeichnet, und gewinnt seit deren einschneidendem Rationalitätskonzept zunehmend an Schärfe. Schriften wie Die gestriegelte Rockenphilosophie des Apothekers Johann Georg Schmidt aus dem Jahre 1705 zeichnen sich über einen ähnlich leidenschaft-
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lich diffamierenden Duktus aus wie heute die Veröffentlichungen einer Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (www.gwup.org). Doch dem Aberglauben lässt sich nicht beikommen, indem man sich über ihn lustig macht oder ihn nach allen Regeln der Wissenschaften widerlegt. Das Titelbild weist bereits auf den Motor hin, der den Aberglauben immer wieder in Schwung bringt, und auch das derzeit mächtig wieder aufflackernde Interesse an Fragen des Aberglaubens im Dunstkreis ökonomischer und ökologischer Krisen erklärt: Es ist die Angst – jener Restbestand, der sowohl streng gläubige Menschen als auch hart gesottene Naturwissenschaftler zuweilen verunsichert. Papst Johannes XXIII. soll am Grab seiner Schwester geäußert haben: „Wehe uns, wenn das alles eine Illusion ist, was wir glauben!“ – ein Zweifel, der rational agierende Mediziner und Wissenschaftler vielleicht seltener befällt. Das soll jedoch auch vorkommen. Doch nicht alleine die Angst vor Unheil, Krankheit, Tod und der Unsicherheit über das Danach öffnet anderen Formen der Weltdeutung immer wieder eine Tür. Mit ihr verbunden ist sozusagen eine epistemologische Angst, die Angst vor dem Zufall. Wir haben mit dem Zufall zu leben gelernt, räumen ihm entscheidende Anteile an der Evolution ein. Doch die ist immer weit entfernt und je existentieller den Einzelnen das eigene Leben beutelt, umso vehementer wird das Drängen nach einer kausalen Logik: Warum ich? Wieso gerade jetzt? Wenn an diesem Punkt der Verweis auf Gottes Wille nicht tröstet und auch vernünftige Erklärungen nicht vor der Willkür des Lebens schützen – schließlich bekommt nicht jeder Raucher Krebs, es gibt Ehemänner, die ihre Frau nicht betrügen, und die meisten Flugpassagiere kommen heil an, manche aber eben nicht –, dann helfen Erklärungsmodelle aus Humoralpathologie oder Geomantie, aus Astrologie oder Numerologie und anderen Formen der Observation und Divination. Oft sehr viel schwieriger als ein Leid zu ertragen ist das Bewusstsein, dass dieses Leid, und vielleicht gar das gesamte Leben, nichts weiter als das Produkt eines sinnlosen Zufalls ist. Vom Ausschalten des Zufalls als Erklärungsmodell ist es nicht weit zur Beeinflussung des eigenen Schicksals durch magische, also keiner wissenschaftlich nachvollziehbaren Logik entsprechenden, Praktiken. Astrologen und Kartenlegerinnen haben eigene Fernsehsendungen, wo sie verzweifelten Zusehern Ratschläge zur Meisterung von Lebenskrisen geben, immer
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mehr Menschen wenden sich an Schamanen oder andere Geistheiler und Apotheken haben ihr Angebot um zahlreiche Therapieangebote von Heilsteinen über Wasserenergetisierung bis zur Behandlung durch Farbeindrücke erweitert. Diese Entwicklungen kann man als zunehmende Verunsicherung und Ausbreitung von Scharlatanerie lesen oder als Zeugnisse der Selbstermächtigung angesichts versagender Hilfe durch die anerkannten Wissenschaften. Die historischen Vorläufer finden wir heute in kulturwissenschaftlichen Museen und Wunderkammern, wo zahllose Artefakte von Alraune bis Zachariassegen als Kuriositäten für Erheiterung oder Kopfschütteln sorgen, in aller Regel aber nicht zum Verstehen der Menschen beitragen, die in vergangenen Jahrhunderten Zuflucht bei Praktiken und Mitteln gesucht haben, die unter das Verdikt des Aberglaubens fallen. Beim modernen Publikum genießen sie einen hohen Attraktivitätswert, begleitet von einem leisen Schauer ob der Unaufgeklärtheit unserer Vorfahren. Doch sind all diese Gegenstände nur als Zeugnisse von Naivität und Unkenntnis der Regeln der Natur zu lesen? Oder verbirgt sich in ihnen nicht eine Art phylogenetischer Code unseres Denkens mit all seinen Umwegen und Diskontinuitäten, den zu entschlüsseln es wert wäre, um auch gegenwärtige Widerstände gegen die Entzauberung der Welt und das periodische Aufflackern anderer Rationalitäten als der jeweils wissenschaftlich abgesicherten zu verstehen? Genau das hat sich das Forschungsprojekt Superstition – Dingwelten des Irrationalen am Volkskundemuseum Graz im Rahmen des Schwerpunkts forMuse – Forschung an Museen des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung zur Aufgabe gemacht. Das Projekt hat zu einer neuen Lesart umfangreicher Sammlungsbestände am Grazer Museum und am Stiftsmuseum im obersteirischen St. Lambrecht geführt, indem es die superstitiös aufgeladenen Objekte in den Kontext der konkreten Syntax des Aberglaubens stellte, deren Interpretation sich bis dato nur auf mythologisierende Verweise wie die des Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens gestützt hatte. Die Konzentration auf die Strukturen abergläubischen Denkens eröffnete nicht nur ein neues Verständnis des historischen Aberglaubens, sondern erlaubte auch, dessen Spuren und Wiederaufnahmen in der Gegenwart festzumachen. Im Anschluss wurden im November 2011 Vertreter verschiedener Wissenschaften (Germanistik, Kulturwissenschaften, Geschichte, Soziologie, Rechtswissenschaften, Archäologie und Theologie) zu einer fachübergreifenden Zusammenschau aus Wissenschaft und musealer Praxis geladen.
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Die Beiträge dieses Symposions in Graz sind in diesem Buch versammelt. Sie repräsentieren Momentaufnahmen eines neuen Blicks auf den Aberglauben, der sich nicht mit Definitionen und Kategorien befasst, sondern eingedenk der gegenwärtig wild aufflackernden schillernden Realitätskonstrukte zwischen Esoterik, New Age, subkulturellem Okkultismus und alternativen Heilmethoden versucht, aus historischen Wurzeln schöpfend nicht eine Krise aufgeklärten Denkens zu postulieren, sondern sich dem zuzuwenden, wozu aufgeklärte Wissenschaften – selbst in Konfrontation mit Denksystemen, die ihnen das Wasser abzugraben anheischig machen – da sind: zum Verstehen.
Aberglaube als Symptom
Probleme mit der Geschichte des Aberglaubens K ARL -H EINZ G ÖTTERT
Nach einem alten Modell hat alle Wissenschaft, die die Geschichte erforscht, zwei Aufgaben: Erzählen und Erklären. In der Politik gibt es ein Ereignis, in der Philosophie eine Theorie, in der Sprache einen Wandel. Wie hat sich dies genau vollzogen und was steckte dahinter? Natürlich gilt dies auch für den hier behandelten Gegenstand, den Aberglauben. Aber jeder, der daran arbeitet, kennt das spezielle Problem: Sobald man über Einzelfakten hinausgeht, sobald größere Zeiträume oder gar das Ganze der Entwicklung in den Blick geraten, wird schon das Erzählen schwierig.1 Man muss nur prominente Stimmen hören. Als Kant in der Kritik der Urteilskraft den Begriff der Aufklärung zu fassen suchte, erklärte er sie schlicht als »Befreiung vom Aberglauben«2. Die Geschichte des Aberglaubens ist so gesehen eine Verfallsgeschichte, für die Kant an noch anderer Stelle auch einen wichtigen Grund angibt: die »Unterwerfung der Vernunft unter Facta«3. Hegel hat etwas später in seiner Phänomenologie des Geistes eben-
1
Eine ähnliche Fragestellung habe ich in Buchform behandelt: Karl-Heinz Göttert: Magie. Zur Geschichte des Streits um die magischen Künste unter Philosophen, Theologen, Medizinern, Juristen und Naturwissenschaftlern von der Antike bis zur Aufklärung. München 2001.
2
Beleg und Interpretation bei Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Tübingen 1992, S. 2f.
3
Im Aufsatz: Was heißt: sich im Denken orientieren; vgl. Pott, Aufklärung, S. 3.
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falls vom »Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben« gesprochen.4 Übrigens ist dies eine vergleichsweise faire Betrachtungsweise, weil sie von einem notwendigen Lernprozess ausgeht. Descartes hat sich in seinem Discours de la méthode (1637) drastischer ausgedrückt und die »Verheißungen eines Alchemisten« wie die »Vorhersagen eines Astrologen« in eine Linie mit den »Betrügereien eines Zauberers« gestellt, womit dem Aberglauben jede erzählbare Geschichte abgesprochen wird.5 Aber die kantisch-hegelianische ist ohnehin nur eine Art der Erzählung. Um die gleiche Zeit, genau: zwischen 1784 und 1802, hat Johann Samuel Halle in seinem Werk Magie, oder Die Zauberkräfte der Natur sowie deren elfbändiger Fortsetzung eine ganz andere Version der Erzählung geboten.6 Danach war die Magie Vorstufe bzw. Vorgeschichte der modernen Wissenschaft. Gerade dies ist in unserer Zeit immer wieder aufgegriffen worden. Ernst Bloch bietet in seinem Buch Das Prinzip Hoffnung ein Kapitel Magische Vergangenheit, in dem von »Vorwegnahmen« der utopischen Hoffnungen der europäischen Kultur die Rede ist. Frances Yates hat in ihrem Buch über die Gedächtniskunst7 ebenfalls von solchen Vorwegnahmen gesprochen und den Ingenieur als neue Form des Magiers hingestellt. In der 18-bändigen Kulturgeschichte der Menschheit der amerikanischen Publizisten Will und Ariel Durant lautet der Titel des 13. Bandes: Vom Aberglauben zur Wissenschaft. Dabei könnte man auch noch den deutschen Titel von Herbert Marshall McLuhans Erfolgsbuch Die magischen Kanäle anführen: Die Medien des technischen Zeitalters erscheinen als Erfüllungen von Wunschträumen, die wir dem magischen Denken verdanken. Übrigens geht die vollständigste Geschichte des Aberglaubens, die wir heute besitzen, die achtbändige History of Magic and Experimental Science (1923-1958) von Lynn Thorndike, von einem Nebeneinander der Entwicklung von Magie und Wissenschaft aus. Einer wenigstens gewissen Vollständigkeit wegen sei angemerkt, dass es mindestens noch einen weiteren Typus der Erzählung gibt. Der große rumänische Kultur- und Religionswissenschaftler Mircea Eliade sieht bei
4
Vgl. Pott, Aufklärung, S. 7.
5
René Descartes: Discours de la méthode, hg. von Lüder Gräbe. Hamburg 1960, S. 15; vgl. Göttert, Magie, S. 271.
6
Hierzu und zum Folgenden: Göttert, Magie, S. 267ff.
7
Frances Yates: Gedächtnis und Erinnern. Weinheim 1990.
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Magie und Wissenschaft zwei gleichberechtigte »Kulturen« am Werk.8 So hebt er die unterschiedliche Zeitkonzeption hervor, mit deutlicher Sympathie für die »zyklische« des magischen im Gegensatz zur »verrinnenden« Zeit des wissenschaftlichen Denkens. Seine Darstellung des mit dem Feuer umgehenden Schmieds umkreist entsprechend die verlorenen Hoffnungen einer Kultur der Ruhe und Stabilität, der gewollten Geschichtslosigkeit, die der Moderne immer den Spiegel vorhalten wird.9 Statt Erzählung also Erzählweisen, ehe überhaupt von Erklärungen die Rede ist. Wie soll man sich da verhalten, wem anschließen?10 Ich schlage bei den folgenden Betrachtungen einen vorsichtigen Weg ein. Ich möchte zeigen, dass abergläubisches Gedankengut in seltsamen Sprüngen vertreten und kritisiert wird. Der Ägyptologe Jan Assmann hat in seinem Buch Zeit und Stein einmal den Stoßseufzer formuliert, dass es ihm und seinen Zunftgenossen passieren könne, einen religiösen Text zu finden, der sich nicht einmal auf ein Jahrtausend genau datieren lasse – so konservativ waren eben die Ägypter. Beim Aberglauben gibt es etwas Ähnliches. Scheinbar gleiche Argumente kehren über Jahrhunderte hinweg wieder.11 Aber dreht sich der Aberglaube deshalb im Kreis, wie es vielleicht in der ägyptischen Religion gewesen ist? Das jedenfalls sollte man sich genauer ansehen. Ich suche entsprechende Beispiele vor allem aus dem Bereich der Wahrsagung, speziell der astrologischen.
8
Mircea Eliade: Schmiede und Alchemisten. Stuttgart 1960.
9
Ebd., S. 93ff.
10 Zum keineswegs eindeutigen Weg von der Magie zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr vgl. Martin Mulsow: Talismane und Astralmagie – Zum Übergang von involviertem zu distanziertem Wissen in der Frühen Neuzeit. In: Jan Assmann/Harald Strohm (Hg.): Magie und Religion. München 2010, S. 135-158. Über die mangelnde »Geradlinigkeit« beim Weg von der Magie zur modernen Wissenschaft vgl. Eugenio Garin: Astrologie in der Renaissance. Frankfurt a.M./ New York 1997, bes. die Einleitung. 11 Zu diesem Problem im Hinblick auf die Quellenauswertung: Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubenliteratur des Mittelalters. Berlin 1979.
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Mein erstes Beispiel ist Ciceros kleines Büchlein Über die Wahrsagung.12 Dort wird gegen die Astrologie eingewendet, dass zum gleichen Zeitpunkt Geborene, Zwillinge insbesondere, gewöhnlich ein ganz verschiedenes Schicksal haben. Und umgekehrt können die zigtausend Römer, die im Krieg gegen Hannibal bei Cannae gefallen sind, unmöglich alle das gleiche Horoskop gehabt haben. Warum genügt das nicht? Warum hat es nach Cicero noch eine Geschichte der Astrologie gegeben? Natürlich sind das unsinnige Fragen. Sogar Cicero selbst hat sich mit den genannten Einwänden nicht begnügt. Er wusste nämlich, dass der Glaube an die Astrologie nur einen Unterpunkt unter einem ganz anderen Glauben darstellte, den man mit ein paar noch so plausiblen Argumenten nicht unterminieren konnte. Die Schrift Über die Wahrsagung war dabei eine Art Nachtrag, fast ein Abfallprodukt, angefertigt im Jahre 44 v. Chr., nach den Iden des März, also der Ermordung Caesars (von dem damals jeder wusste, wie abergläubig er war). Kurz zuvor war ein viel umfangreicheres und auch bedeutenderes Werk fertig geworden: Vom Wesen der Götter13. Jeder Aberglaubenforscher kennt das Buch, weil dort die Definition des Aberglaubens gegeben ist, die in der Tradition eine überragende Rolle spielte: als eine übertrieben ängstliche Frömmigkeit, das Gegenteil der völlig fehlenden des Atheisten.14 Was hat das mit Wahrsagung und gar Astrologie zu tun? Ich muss sehr abkürzen und hebe lediglich Hauptgesichtspunkte hervor. Es ging damals um die Grundfrage, wie die Götter zu ihrer Schöpfung, der Welt und dem Menschen also, stehen. Man weiß, dass die vorderasiatischen Kulturen, Mesopotamien insbesondere, von einem ständigen Einwirken der Götter ausgingen, dem es entspricht, dass man deren Willen erkunden und aus Zeichen ablesen kann.15 Dafür ist der schöne Begriff »Daseinsvorsorge« geprägt worden. Die erste große monotheistische Religion der Welt, das Judentum, hat dagegen strikt Einspruch erhoben und Gott in die völlige Trans-
12 Lat.-dt., hg. von Christoph Schäublin. München/Zürich 1991; vgl. Göttert, Magie, S. 29ff. 13 Lat.-dt., hg. von Wolfgang Gerlach und Karl Bayer. Darmstadt 1990; vgl. den Kommentar ebd., S. 553ff. 14 Der locus classicus ist II 28; zur Interpretation der Stelle einschließlich ihrer antiken Vorgeschichte vgl. Harmening, Superstitio, S. 26ff.; Pott, Aufklärung, S. 9ff. 15 Vgl. zum Folgenden Jan Assmann: Die biblische Einstellung zu Wahrsagerei und Magie. In: ders./Strohm (Hg.): Magie und Religion, S. 11-22.
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zendenz verbannt. Der Wille Gottes ist unerforschlich, Wahrsager werden im Alten Testament entsprechend mit der Todesstrafe bedroht. Es gibt nur die Propheten, durch deren Mund Gott spricht. In Athen und dann Rom war die Diskussionslage eine noch andere. Hier hatten sich nach Platon und Aristoteles Schulen gebildet, die das Wirken der Götter diametral verschieden deuteten.16 Die Stoiker nahmen in Fortführung gewisser platonischer Annahmen17 eine direkte Verbindung der Götter mit ihrer Schöpfung an. Sie glaubten deshalb an die Möglichkeit von Zeichen, die die Götter ihren Lieblingen geben, ja sahen in der Wahrsagekunst buchstäblich einen Gottesbeweis. Die Epikureer glaubten auch an Götter, aber als Wesen völlig abgewandt von der Welt, in der entsprechend nur Zufall herrscht. Zwischen diesen Lagern bewegten sich die Akademiker, deren Markenzeichen der kritische Geist war. Das Fazit Ciceros als Akademiker lautet: Wir wissen nicht viel über die Götter, können ihre Existenz nicht beweisen und schon gar nicht Eigenschaften wie die der Fürsorge für den Menschen. Im Gegenteil, die Guten genießen auf dieser Welt keinen Schutz, die Bösen erhalten keine Strafe, kurz: Es ist nichts mit göttlicher Vorsehung. Was in dieser Welt an Gutem geschieht, verdankt sich dem Gewissen. Ende der Erörterung. Aber es muss an Cicero genagt haben, sodass er noch einmal auf das Thema zurückkam. Die Lücke lag in der Wahrsagung. In der Theologie war sie (als Gottesbeweis) eigentlich widerlegt, aber es musste etwas zu der überwältigenden Praxis in Rom gesagt werden, zur Verankerung im Staatskult in Form der Auspizien und Haruspizien (der Tierbeobachtung und der Leberschau) sowie zum offenbar unerschütterlichen Volksglauben. Und so lässt Cicero in einem Dialog seinen eigenen Bruder noch einmal die stoischen Argumente vortragen, um sie anschließend zu widerlegen. Was sind das für Argumente? Natürlich wieder die Berufung auf die Sorge der Götter, diesmal garniert mit nicht enden wollenden Beispielen für eingetroffene Voraussagen bzw. eingetroffenes Unheil bei Ignorierung der entsprechenden Zeichen. Und was sagt der Bruder zu Fehlprognosen? Er zieht die Parallele zu Arzt und Steuermann, die ebenfalls Zeichen gelegentlich falsch deuten, weshalb jedoch niemand auf Ärzte und Steuermänner verzichte. Was konnte man dagegen vorbringen?
16 Zum Folgenden vgl. Göttert, Magie, S. 17ff. 17 Die Hauptrolle spielen hierbei der Timaios sowie das 10. Buch der Gesetze.
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Cicero fährt diesmal nicht das schwere Geschütz der Theologie auf, sondern kontert auf einer schlichteren Ebene. Er sieht sich an, was sein Bruder als Zeichen geltend machte. Und siehe da: Ärzte, die eine Rötung sehen und auf Fieber schließen, bewegen sich in einem Bereich von bestätigten Erfahrungen, genauso wie Steuermänner, die Wolken am Himmel als Vorboten eines Gewitters deuten. Die Zeichen, auf die sich die Wahrsager stützen, sind dagegen durch Zufälligkeit charakterisiert. Ob Vögel rechts oder links auftauchen, eine Leber diese oder jene Form hat, ist Zufall, die Deutung also Willkür. Diese Willkür stütze sich auf fragwürdige Analogien, die Cicero mit seinen gefürchteten Witzen kommentiert: Wenn Mäuse Platons Schrift Über den Staat annagten, brauche man sich deshalb keineswegs Sorgen um den Staat zu machen, so wenig wie beim Anknabbern von Epikurs Schrift Über die Lust ein Anstieg der Getreidepreise zu befürchten sei. Genau in diesem Zusammenhang aber taucht auch die Astrologie mit ihren Horoskopen auf, die damals in Rom nicht neu, aber noch längst nicht so verbreitet war wie Jahrhunderte später. Cicero gibt ein kurzes Referat über Tierkreis und Planeten, speziell über die angebliche Prägung der Kinder durch die Konstellation zur Geburtsstunde, und endet mit dem Stoßseufzer: »Welch unglaublicher Wahnsinn!«18 Die Hauptargumente aber kennen wir schon: Zwillinge dürften danach nur das gleiche Schicksal, zur gleichen Zeit gefallene Soldaten müssten das gleiche Horoskop besessen haben, was alles in der Realität widerlegt wird. Wie soll im Übrigen eine Konstellation eine bestimmte Wirkung haben, wenn sie an entfernten Orten anders aussieht? Schließlich sind die Planeten viel zu weit entfernt, um Wirkungen ausüben zu können. Fazit: Kinder geraten nicht nach den Sternen, sondern nach ihren Eltern. Danach wendet sich Cicero mit gleicher Akribie und philosophischem Vernichtungssinn den angeblichen Wahrsagungen in Träumen zu. Worauf beruhte diese Argumentation? Zunächst einmal auf der damaligen Theologie. Es ging um die Götter. Wer ängstlich nach Zeichen suche, sein Leben in ständiger Sorge verbringe, ob er die Zeichen richtig deute, ist für Cicero erstens abergläubisch und zweitens dumm oder jedenfalls realitätsblind, resistent gegen klare Beweise. Neu war diese Argumentation
18 Über die Wahrsagung, S. 219.
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nicht, im Gegenteil: Cicero hat sie mehr oder weniger abgeschrieben.19 Die stoische Haltung war ihm bestens durch Panaitios und Poseidonios bekannt, die akademische durch Karneades. Was hatte Cicero darüber hinaus noch zu sagen? Das Entscheidende lag wohl darin, dass er die Wahrsagung in ihrer staatlichen Form anerkannte. Sie gehörte für ihn zur Gemeinschaftsstiftung, man könnte auch von einer Vorwegnahme des bösen Leninތschen Diktums vom Opium fürs Volk sprechen. Wahrsagung ist für Cicero falsch, aber nützlich. Es ging im Grunde nicht in erster Linie um die Wahrsagung, sondern um die Republik. Cicero war – gerade in den Wirren nach Cäsars Tod – sehr entschlossen, die Republik zu verteidigen. Dafür akzeptierte er auch philosophisch Falsches. Man kann sich denken, dass dies in der Geschichte der Wahrsagung kein Standpunkt von großer Bedeutung oder auch nur großer Dauer sein konnte. Ein Blick auf die Entwicklung der Stoa in der Kaiserzeit zeigt, dass das Thema randständig wurde – als Stütze der Republik kam es ohnehin nicht mehr infrage. Seneca hat ein kleines Buch Über die Vorsehung geschrieben, in dem es keineswegs um Fragen der göttlichen Fürsorge geht, sondern ganz im Gegenteil um Standfestigkeit angesichts all der Grässlichkeiten, die gerade den Guten widerfahren.20 Für Epiktet, den nächsten ganz Großen der Stoa, haben unheildrohende Raben schlicht keine Bedeutung.21 Wer zum Wahrsager gehe, solle es im Bewusstsein tun, dass ihn zukünftiges Geschehen nichts angehe, weil es gleichgültig sei.22 Marc Aurel lässt das Thema links liegen: Kein Platz für Wahrsagung, kein Interesse an Cicero. Aber dies war eben nur eine Geschichte der Wahrsagung in der Antike bzw. Spätantike. In der Praxis feierte vor allem die (private) Astrologie Erfolge. Den größten hatte Claudius Ptolemäus in einer der Zentralen der damaligen intellektuellen Welt, im ägyptischen Alexandria. In seinem Buch Almagest hat er das nach ihm benannte astronomische Weltbild mit der Zentralstellung der Erde begründet, in der Tetrabiblos (wörtlich: Vierer-
19 Vgl. den Kommentar, S. 399ff.; umfassend zum Thema: Max Pohlenz: Die Stoa. Göttingen 1984. 20 De providentia. Über die Vorsehung. In: Philosophische Schriften, Bd. 1, hg. von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1976. 21 Handbüchlein der Ethik, hg. von Ernst Neitzke. Stuttgart 1958, Kap. 18, S. 25f. 22 Ebd., Kap. 32, S. 35f.
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buch) die Astrologie enorm aufgerüstet.23 Der Mann, der zwar auf falschen Grundlagen, aber mit richtigem Ergebnis das Kreisen der Planeten mit ihren eigenartigen Vor- und Rückwärtsbewegungen bei ihrer scheinbaren Erdumkreisung berechnet hatte, ging auch von einer berechenbaren Wirkung der Himmelskörper auf das irdische Geschehen aus. Als Indizien stützte er sich auf unbestreitbare Tatsachen wie das Wachstum im Jahreswechsel oder auf die Abhängigkeit der Gezeiten vom Mond. Das Problem der Wahrsagung lag dabei an völlig anderer Stelle als für Philosophen wie Cicero oder die Stoa. Es lag in der methodischen Klarheit und rechnerischen Exaktheit. Philosophisch argumentierte Ptolemäus gewissermaßen abwiegelnd: Kein Zusammenstoß mit der Freiheitsidee, wie er mit altägyptischen Vorstellungen eines strikten Determinismus gegeben war. Die Sterne zeigen weniger Einzelschicksale als allgemeine wie Pest und Überschwemmungen an, bei deren Vorhersage man die »notwendige« Zukunft wie nach dem Rat eines Arztes durchkreuzen kann. Die entscheidenden Probleme lagen für Ptolemäus nicht in philosophischen Fragen, sondern im wissenschaftlichen Zugang. Einer davon betraf die Zeitmessung. Das ganze Desaster mit falschen Vorhersagen, so die These, beruhe auf der Ungenauigkeit der Wasseruhren. Mit der richtigen Technik ließe sich auch richtig rechnen. Um zunächst das Wichtigste festzuhalten: Mit Ptolemäus beginnt eine wieder andere Astrologie. Die Argumentation ist nicht philosophisch, sondern rein naturwissenschaftlich. Die Planeten, so die Grundlage seines Almagest, wandern nicht so, wie sie eigentlich sollen, aber wenn man von Schleifen ausgeht, lassen sie sich trotzdem berechnen. Die Natur ist schwierig, aber nicht chaotisch. Das Gleiche in der Tetrabiblos. Hart kritisiert er seine Vorgänger, wenn sie den Planeten Qualitäten zuschreiben, die seiner Ansicht nach nur auf Willkür beruhen. Wenn dagegen Planetenstellungen wie die Dreiecksstellung (Trigon) als günstig, die Opposition als ungünstig bewertet werden, leuchtet ihm dies ein: Im Tierkreis bilden verwandte Sternbilder (wie Krebs, Fische, Skorpion) eben Trigone, während in Opposition stets nicht verwandte wie etwa Löwe und Wassermann vorkommen. Wirkungen haben also auch etwas mit Analogie und Sympathie zu tun – in »wässrigen« Zeichen wie in den Fischen sind zum Beispiel Katastrophen für Wassertiere zu erwarten. Das Wichtigste aber liegt darin, dass Ptolemäus eben rechnet. Statt Erklärungen verlasse ich mich auf ein Beispiel. Es
23 Hg. von Thomas Schäfer. Mössingen 2000; vgl. Göttert, Magie, S. 69ff.
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geht um die Länge des Lebens, die für Ptolemäus aus der Zahl der Grade resultiert, die im Geburtshoroskop zwischen dem sogenannten Lebensverlängerer und dem Zerstörer des Lebens liegt, beide selbst wieder auf komplizierter rechnerischer Grundlage gefunden. Dies sieht dann so aus, wobei ich von den acht Seiten gerade einmal eine halbe Seite zitiere: »Um unsere Ausführungen anschaulicher zu machen, sei beispielsweise der Ort des Promissors 0 Grad Widder, der des nachfolgenden Signifikators 0 Grad Zwillinge. Der Geburtsort in einer Gegend, in der der längste Tag 14 Stunden beträgt, die Stundengröße, die dem Anfang der Zwillinge zukommt, ist 17 Grad 8 Minuten. Es möge nun der Anfang des Widders im Aszendenten stehen, so dass die Himmelsmitte vom beginn des Steinbocks eingenommen wird. Von der Himmelsmitte hat also der Anfang der Zwillinge einen Abstand von 147 Grad 48 Minuten; da nun der Anfang des Widders 6 Aufgangsstunden von der Himmelsmitte absteht, so erhalten wir, wenn wir diese mit den 17 Grad 8 Minuten des ungleichen Stundenteiles von 0 Grad Zwillinge verrechnen […] 100 Grad 48 Minuten. Der Unterschied zwischen beiden Bogen ist 45 Minuten, und so viel genau legt der Signifikator bis zum Promissor zurück. So viel betragen aber gleichfalls die Grade der Aszensionen des Bogens Widder-Stier, nachdem der Signifikator bis zum Aszendenten gelangt ist. Weiter setzen wir den Anfang des Widders in die Himmelsmitte […].«24
Nein, das tun wir nicht, ich breche das Zitat ab und gebe einen sehr späten Kommentar wieder. Als Melanchthon, der Freund und Berater Luthers, die Tetrabiblos im Jahre 1553 griechisch und lateinisch herausgab, feierte er das Buch als wahres Gottesgeschenk.25 Nur dieses eine Werk sei beim großen Bibliotheksbrand von Alexandrien gerettet worden. Melanchthon, auch das muss man wissen, war selbst astrologiegläubig und hielt in Wittenberg Vorlesungen zu diesem Thema. Uns interessiert hier etwas anderes. Ptolemäus ތAstrologie gehört natürlich in die Geschichte der Wahrsagung. Genauso aber gehört sie in die Geschichte des Rechnens. Man hat lange übersehen oder jedenfalls nicht genügend gewürdigt, wie sehr in dieser Hinsicht das Mittelalter geprägt war. Es beginnt mit der astronomischen Osterfestberechnung und führt weiter
24 Ptolemäus, Tetrabiblos, S. 176f. 25 Vgl. seine Vorrede zur Ausgabe, die in der Ausgabe von Schäfer S. 277ff. abgedruckt ist.
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mit der Berechnung des Weltendes, die Johannes Fried in seinem Buch Aufstieg aus dem Untergang zur These zuspitzte, dass sich der wissenschaftliche Fortschritt überhaupt diesem Rechnen verdankt habe.26 Wie es Cicero kaum um die Wahrsagung als solche, sondern in erster Linie um den Bestand der Republik ging, ging es Ptolemäus um die Überlegenheit des rechnenden Geistes am Beispiel der (letztlich nicht so wichtigen) Zukunftsprognose. Menschen sind ihm nur andere Planeten, sie gehen ebenso ihre festgelegte Bahn in seltsamen, aber berechenbaren Schleifen. Die Schöpfung ist eben aus einem Guss. Mit den richtigen Methoden, mit systematischer Beobachtung und fortgeschrittener Mathematik lässt sich ihr beikommen. Schauen wir uns noch eine letzte Position in der antiken Geschichte der Astrologie an. Es geht ums Christentum sowie eine Vorstufe dazu: den Neuplatonismus. Man muss sich dabei klarmachen, dass im 2. Jahrhundert im Osten eine neue Philosophie auftrat, die das junge Christentum in eine Zerreißprobe führte: die Gnosis.27 Im Zentrum dieser Lehre steht ein böser Demiurg, der den Kosmos erschaffen hat, um die Menschen vor allem mit Hilfe von Dämonen zu quälen, sodass Flucht als einziger Ausweg erscheint. Die Astrologie ist in diese Welt der determinierten Katastrophen einbezogen, sofern die Dämonen nun als Planeten erscheinen, von denen alle schädlichen Einflüsse ausgehen. Christliche Philosophen haben sehr früh widersprochen. Hippolyt, am Ende des 2. Jahrhunderts Bischof in Rom, wendet sich mit ciceronianischen Mitteln der Kritik gegen die Unwissenschaftlichkeit der astrologischen Methoden, beruft sich auf das Zwillingsproblem ebenso wie auf die bei Cannae Gefallenen und verweist nicht zuletzt auf die Ungenauigkeit der Zeitmessung.28 Nebenbei wendet er sich gegen die Verwendung der Astrologie wie auch anderer magischer Künste bei den Gnostikern als bloßer Werbetrick und gibt dafür ausführliche Beispiele, etwa eine geschickt inszenierte Veranstaltung mit Auftritt eines Geistes, wie sie übrigens noch Schiller in seinem Romanfragment Der Geisterseher vorführt.
26 Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München 2001. 27 Texte und Interpretationen bei Peter Sloterdijk/Thomas H. Macho (Hg.): Weltrevolution der Seele, 2 Bde. Mannheim 1991; vgl. Göttert, Magie, S. 201ff. 28 Vgl. Göttert, Magie, S. 87ff.
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Die wirklich entscheidende Auseinandersetzung aber führte Plotin, der bis zum Jahre 270 n. Chr. in Rom eine Schule leitete, mit der er Platon fortzusetzen glaubte, in Wirklichkeit aber den Neuplatonismus begründete.29 Tatsächlich baute Plotin an einem Stufenkosmos, den die göttliche Vernunft durchweht bis hinab in die (von der Gnosis verteufelte) Materie und den die Seele im Aufschwung durcheilen kann bis hinauf zur Vereinigung mit Gott. Der Mensch steht also in Kontakt mit »Höherem«, kann die Kräfte von »oben« zu sich herabziehen, was Plotin an Sympathiewirkungen erläutert, wie sie in der Musik beobachtbar sind. Eine angeschlagene Saite lässt eine gleich gestimmte andere in Schwingungen geraten ohne jede physikalische Berührung. Von da aus aber erscheint auch ein Einfluss der Sterne plausibel. In mehreren Schriften, die dem Thema der Astrologie gewidmet sind, verteidigt Plotin jedoch die grundsätzliche Freiheit der Seele entgegen der Lehre der Gnostiker. Die berühmt gewordene Losung lautet: Inclinant, non necessitant, die Sterne bewirken nichts, aber sie zeigen etwas an.30 Ein Geburtshoroskop à la Ptolemäus wird abgelehnt: Die Neugeborenen sind nicht von den Sternen geprägt, sondern von ihren Eltern. Wenn etwas von den Sternen »fließt«, dann ist es für alle das Gleiche. Auch in den verschiedenen »Aspekten« bewirken die Sterne nichts, sondern bleiben immer dieselben. Im Übrigen gelten das Zwillingsargument und der weite Abstand. Cicero lässt also grüßen. Und doch ist das Ergebnis ein anderes: Es geht nicht um die Republik, sondern um eine Welt, die vom Göttlichen durchwirkt ist, die man aber am besten zugunsten der ewigen Heimat verlässt. Die Gnosis ist also spürbar, ihr Determinismus und die daraus folgende Unfreiheit des Willens jedoch abgewehrt. Plotins Argumentation wurde die theoretische Standardeinstellung des Christentums (während in der Praxis überall die Astrologen einzogen, auch am päpstlichen Hof). Dies gilt auch für Augustinus, der bekanntlich in seiner Jugend selbst einer gnostischen Sekte angehört hatte und sich von den Tricks, von denen eben bei Hippolyt die Rede war, beeindrucken ließ. Umso wichtiger wurde ihm die völlige Abwehr der Astrologie. Sie nahm schon fast manische Züge an. In den Be-
29 Plotin: Schriften. Griech.-dt., hg. von Richard Harder. Hamburg 1956; vgl. Göttert, Magie, S. 89ff. 30 So in: Ob die Sterne wirken II 3, S. 237.
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kenntnissen erzählt Augustinus von grotesken Versuchsanordnungen.31 Sein Vater hätte zusammen mit einem Freund zuerst bei ihren Haustieren Beobachtungen angestellt, dann bei der Geburt ihrer Kinder. Als Augustinus zur Welt kam, sei zufällig zur völlig gleichen Zeit eine Dienerin des Hauses niedergekommen. Vater und Freund lagen buchstäblich auf der Lauer, benachrichtigten sich und stellten fest, dass die Geburt zur genau gleichen Zeit erfolgt sei – nur habe dann das Leben der beiden Kinder einen völlig anderen Verlauf genommen. Im Gottesstaat ist das Thema dann in aller Breite präsentiert.32 Schon die gesamte Anlage des Werkes ist vom Thema Astrologie bestimmt, wehrt Augustinus doch ausdrücklich die These ab, die Größe Roms verdanke sich dem Schicksal. Im V. Buch folgen alle bekannten Argumente gegen die Astrologie: das Zeugnis der Zwillinge, die sogar häufig verschiedenen Geschlechts seien, die Kürze der Zeitspanne zwischen Geburten, die für unterschiedliche Auslegungen keinerlei Spielraum lasse (wobei Jacob bei seiner Geburt den Zwillingsbruder Esau sogar an den Füßen gehalten und trotzdem ein völlig anderes Schicksal gehabt habe) und so weiter und so fort. Die Argumentation ist trotz aller empirischen Argumente dabei immer theologisch, es geht um den Willen Gottes. Deshalb verurteilt Augustinus sogar Ciceros Buch Über die Wahrsagung, weil darin das Vorherwissen Gottes geleugnet ist, was Augustinus schlimmer als Atheismus vorkommt – eine wahrhaft verdrehte Frontstellung, wo Cicero erstens gegen Astrologie und zweitens gegen Atheismus gekämpft hatte. Aber es geht Augustinus eben um die Willensfreiheit, wobei man weiß, wie verdreht auch in diesem Punkt die Argumentation ist. Denn Augustinus anerkennt ja nur eine Freiheit zum Sündigen, gerade keine Freiheit zum moralischen Handeln insgesamt, das er allein von der Gnade Gottes abhängig macht. Nur ist dies der entscheidende Punkt: Nichts sollte vom gnostischen Demiurgen und seinem Determinismus übrigbleiben. Im Übrigen glaubt Augustinus weiter an Dämonen, widmet ihnen im Gottesstaat ganze 4 von 22 Büchern, die das gnostische Erbe mehr als deutlich fortführen.33
31 Dreizehn Bücher Bekenntnisse, hg. von Adolf Holl. Paderborn 1964; vgl. Göttert, Magie, S. 93f. 32 Vom Gottesstaat. 2 Bde., hg. von Carl Andresen. München 1985; vgl. Göttert, Magie, S. 94ff. 33 Augustinus, Gottesstaat, Bücher VII-X.
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Machen wir einen riesigen Sprung und landen im 15. Jahrhundert im Italien der Renaissance. Dort und damals kam es zu einem bemerkenswerten Streit über die Astrologie, auch noch unter zwei Freunden.34 Der eine war Marsilio Ficino, Haupt der platonischen Akademie, die Cosimo de Medici nahe Florenz eingerichtet hatte. Ficino war die Aufgabe zugefallen, Platon zu übersetzen. Parallel dazu veröffentlichte er 1489 sein Werk Über das dreifache Leben, dessen zweites Buch von der Verlängerung des Lebens handelt, das dritte vom Zusammenhang von irdischem und himmlischem Leben.35 In beiden Fällen geht es um eine Medizin auf der Grundlage der Astrologie. Aber diese Astrologie hatte inzwischen wieder einmal völlig andere Züge angenommen. Erneut spielen eine Hauptrolle die Planeten, und zwar in der Lehre von der Planetenkindschaft, speziell von Ficinos Planet Saturn, der während seiner Geburt im Zeichen des Wassermann stand, im Nachthaus des Saturn, der auch noch gerade aufging (im Aszendenten also). Saturnischer also konnte die Geburt nicht erfolgen. Saturn als der langsamste Planet aber galt immer als trocken und kalt, von daher verantwortlich für einen Überschuss an trockener und kalter schwarzer Galle, dem Saft, der nach der hippokratischen Medizin Melancholie hervorruft – die wichtigste Charaktereigenschaft des Philosophen. In Ficinos Schrift geht es entsprechend um medizinische Vorkehrungen, die den Philosophen schützen oder fördern. Licht, Luft, Speise, Trank müssen optimal sein, die Sonne ist wichtig, die Nacht gefährlich, weshalb Philosophen am Tage arbeiten und nachts schlafen sollen. Die Empfehlungen reichen aber noch viel weiter. Der alternde Philosoph soll sich mit der Muttermilch junger Frauen und sogar dem Blut junger Männer stärken – bei zunehmendem Mond genossen. Im 2. Buch werden die einzelnen Lebensjahre unter der Herrschaft eines bestimmten Planeten abgehandelt, das 3. Buch beschreibt eine Art astrale Lebensführung, in der Krankheit als gestörtes Verhältnis zur Weltseele, Gesundheit umgekehrt als Wiederherstellung mit Hilfe der Planetenstrahlen dargestellt ist – alles im Zusammenhang mit der Emanationslehre Plotins, den Ficino ebenfalls übersetzt hatte. Der Mensch erscheint so gesehen als ein Wesen, das am Himmel hängt, nicht
34 Garin, Astrologie, bes. Kap. 4; Die Kritik an der Astrologie und die Naturgeschichte der Orakel, S. 117ff.; vgl. Göttert, Magie, S. 151ff. 35 Ausführlich dazu Peter Thomas: Die Astromedizin des Philosophen und Arztes Marsilio Ficino. Diss. Masch. 1970.
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restlos determiniert, aber zu seinem Glück durchaus vorwegbestimmt, sofern man die Zeichen richtig deutet und die Bestimmung durch flankierende Maßnahmen unterstützt. Spaziergänge empfehlen sich, um zum Beispiel in Form des Dufts der Kamille das Pneuma aufzunehmen, das Sonne und Jupiter dem Kraut eingegeben haben. Man sieht auf den ersten Blick, dass diese Art von Astrologie weder mit Ptolemäus zu vergleichen ist noch in irgendeiner Weise von der ciceronianischen Kritik getroffen wird. Ficino geht es um eine neue Art des Philosophierens jenseits der ausgetretenen Wege der aristotelisch bestimmten Scholastik. Die Frage bezieht sich auf das richtige Leben, und die Antwort wird jenseits von Theorie in Praxis gesucht. Die Praxis, die für den Sohn des Leibarztes von Cosimo de Medici, selbst ebenfalls Arzt, entscheidend wird, ist die Medizin. Zuständig für die Frage nach dem richtigen Leben wird damit nicht die Geistes-, sondern die Naturwissenschaft. Aber die existierte noch nicht. Und so wendet sich bei der Suche nach Anregungen der Blick zurück in die heidnische Antike und den Neuplatonismus mit seiner ganzheitlichen Kosmosdeutung. Geistiges, Pneuma, fließt und lässt sich für die Praxis des Lebens nutzbar machen. Der Neuplatonismus ist, zugespitzt gesagt, nicht als Philosophie interessant, sondern als Grundlage eines neuen Wissensmodells. Nicht der Stufenkosmos in seiner »Schönheit« ist wichtig, sondern seine Bedeutung für die Kamille, deren auf Spaziergängen eingeatmeter Duft das Leben verlängert. Falls man in diesem Fall überhaupt noch über Astrologie als Grundlage sprechen will, ist es eine Astrologie ohne jeden Bezug auf Wahrsagung. Die Pointe liegt nicht im Erblicken der Zukunft, sondern in deren Gestaltung. Warum aber dann überhaupt Astrologisches? Weil Ficino in dieser Art von Astrologie eine Möglichkeit sah, die Medizin auf ›natürliche‹ Grundlagen zu stellen, man könnte zugespitzt sagen: an die Natur und ihre Kräfte heranzukommen. Statt Spekulation über den hippokratisch-galenischen Säftehaushalt, überhaupt statt Spekulation also Empirie. Als Pico della Mirandola vier Jahre später seinen Freund Ficino in den Disputationen gegen die Astrologie angriff,36 fühlte sich Ficino mit Recht missverstanden. Pico hielt sich nicht an Ficinos Beerbung der Astrologie,
36 Richard Walter Remé: Darstellung des Inhalts der »Disputationen in Astrologiam« des Pico della Mirandola (Buch I-III) und historisch-kritische Untersuchung. Hamburg 1933; vgl. Göttert, Magie, S. 162ff.
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sondern an deren klassisch-ptolemäische Gestalt, die er mit den bekannten Argumenten seit Cicero und den Kirchenvätern bekämpfte. Dabei bemühte sich Pico um eine neue Philosophie vom Wesen des Menschen als Schöpfer seiner selbst durch Wiedergewinnung von Adams Wissen vor dem Sündenfall. All dies geschieht durch Versenkung in die Geheimnisse der Natur, durch Ermessen ihrer Einheit. Es geht also statt um Naturwissenschaft um Naturphilosophie, um das Erfassen einer Natur voller geheimer Kräfte, aber um ein »geistiges« Erfassen, von jeder Anwendung absehendes Erfassen des Ganzen. Daran gemessen wird ihm die Astrologie schon deshalb zum Schreckgespenst, weil sie anwendungsbezogen ist. Pico will keine praktische, medizinische, er will eine »philosophische«, reine »interesselose« Philosophie. Er will vor allem nichts zu tun haben mit einer Wissenschaft, die sich auf »Materie« einlässt. Der Mensch triumphiert nicht mit Einzelwissen, sondern mit Wissen vom Ganzen. Man kann ruhig sagen, dass Pico in einigen Zweifeln an Ficinos Vorstellungen von den Wirkungen der Planeten recht hatte. Man kann aber auch sagen, dass er Ficinos Anliegen nicht begriff oder ignorierte und insgesamt auf dem Holzweg war. Jedenfalls entwickelte sich die neuzeitliche Naturwissenschaft eben in Hinwendung zum Einzelwissen und untersuchte vor allem das, was seit der aristotelischen Unterscheidung von Stoff und Form praktisch unerforscht geblieben war: die Materie. Solange das Stoffliche nur interessant war im Hinblick auf sein Wesen, gewann es kein Eigenrecht. Das änderte sich nun geradezu dramatisch. Die Materie wird aufgelöst und neu zusammengesetzt, nach ihren Wirkungspotenzialen durchforstet allein nach dem Prinzip des Erfolgs statt der Deutung. Dies machte unter den alten Praktiken der Magie die Alchemie interessant. Man kann sich denken, welcher Name jetzt fallen muss: Paracelsus. Ich kann dessen Werk nur streifen und greife, um beim Thema zu bleiben, auf den nicht geringen Anteil an astrologischen Bezügen zurück.37 Bekanntlich hat der große Polemiker an kaum einem Vorgänger ein gutes Haar gelassen – außer an einem: Ficino. Als Paracelsus im Volumen paramirum erstmals systematisch seine Vorstellung von Krankheit entwickelt, beginnt er mit der Frage, welchen Beitrag dazu die
37 Paracelsus: Werke, 4 Bde., hg. von Will-Erich Peuckert. Darmstadt 1965-1976; vgl. Göttert, Magie, S. 187ff. Wegweisend auch zu Paracelsus selbst: Der Frühparacelsismus. Erster und Zweiter Teil, hg. von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Tübingen 2001-2004, jeweils die Einleitungen.
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Sterne liefern. In diesem Punkt weist er Ficino klar zurück: »Der Gang des Saturn berührt keinen Menschen an seinem Leben, längert oder kürzt nichts«, heißt es.38 Aber dann ist die Rede vom Pneuma, vom Ausfluss der Sterne, nur fasst Paracelsus diesen Ausfluss nicht einfach materiell, sondern direkt chemisch. Es gibt schädliche Wirkungen auf chemischer Grundlage, die Sterne können Arsenik aussenden und damit zuerst das Wasser und dann die vom Wasser lebende Nahrungskette vergiften – also erst die Fische, schließlich die Menschen. Dann muss man allerdings in der Medizin weiter gehen als Ficino, der sich mit dem Einatmen von Pflanzenduft begnügte. Stattdessen geht es um eine chemische Behandlung, die die Vergiftung durch Arsenik mit Arsenik bekämpft. Paracelsus hat diesen Gedanken nicht nur beiläufig ausgeführt, sondern im Liber de longa vita auch ausführlich behandelt – in einem Text, der schon im Titel direkt an Ficino anknüpft. Beim ersten Lesen könnte der Eindruck eines Rückfalls in vergangene Diskurswelten entstehen, wenn die Sterne in gnostischer Manier als Mächte des Bösen hingestellt werden, die die Gesundheit nehmen und allenfalls mit Talismanen gebändigt werden können. Vielleicht noch irritierender wirkt es, wenn Paracelsus in einem seiner Hauptwerke, der Philosophia sagax von 1537/1538, direkt formuliert: »Denn der Arzt, der die Astronomie nicht versteht, der kann kein vollkommener Arzt genannt werden, weil mehr denn die Hälfte der Krankheiten vom Firmament regiert wird.«39 Nur zeigt sich sehr bald, dass Paracelsus die Astrologie in all diesen Fällen als einen anderen Begriff für Alchemie nimmt. Er unterscheidet insgesamt neun Formen dieser Astronomie, unter denen alte alchemistische Praktiken verstanden werden, während der klassischen Astrologie knapp zwei von insgesamt dreihundert Seiten bleiben. Die alchemistische Tradition läuft also der astrologischen den Rang ab. Warum, so darf man fragen, fällt dann überhaupt noch der Begriff der Astrologie? Ich sehe die Antwort darin, dass Paracelsus in Ficino einen Vorläufer sieht, der ebenfalls schon die aristotelischen Bahnen der Wissenschaft verlassen hat und die Stofflichkeit zur Grundlage des Forschens und vor allem Heilens machte. Wie Ficino am Einfluss von oben ansetzte und nach Einwirkungsmöglichkeiten suchte, sucht Paracelsus nach Einwirkungsmöglichkeiten auf der Grundlage einer Analyse der Materie, die sich für ihn
38 Bd. 1, S. 184. 39 Bd. 3, S. 38.
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aus den Grundbausteinen Quecksilber, Schwefel und Salz zusammensetzt. Sind Aufbau und Kräfte des Geschaffenen bekannt, lässt sich vom Verstehen zum Machen übergehen. Aus der Zerlegung folgt die Möglichkeit der Zusammensetzung, und die Vermutung geht dahin, dass beim Zerlegen Reines gewonnen wird, dessen Wirksamkeit höher ist als alles, was die Natur bietet. Darauf beruht das »Scheiden« der Elemente, der chemische Weg der Medizin, der dann allerdings auch auf die Gewinnung der Quintessenz zielt, die »von aller Unreinigkeit und Tödlichkeit« reinigt und der die Kraft innewohnt, alle Krankheiten zu heilen, weil Reinheit »eine Läuterung macht«.40 Daher dieses Extrahieren, Solvieren, Destillieren, Putrificieren, mit dem die Arcana gewonnen werden, die dem Heilungsprozess zugrunde liegen – bei der Arsenikvergiftung die Aufbereitung bzw. richtige Dosis des Arsens als Gegengift. Dass auch Wunder zu vollbringen sein sollen, macht den Ansatz zur Traumtänzerei jenseits jeglichen Nachvollzugs. Das soll hier nicht näher behandelt werden. Uns interessiert ja etwas anderes. Auch Paracelsus ތAnsatz kann in die Geschichte der Astrologie eingeordnet werden, und zwar als eine Art alchemistische Verwandlung oder Aneignung der Astronomie Ficinos. Der rote Faden ist dann weder Horoskop noch Wahrsagung, sondern das Erkennen eines Einflusses von Kräften, denen durch Analyse der Kräfte und daraus gewonnenen Gegenkräften zu begegnen ist. Wichtiger als die Lehre vom Einfluss wird für Paracelsus die Lehre von den Signaturen, mit der er im Übrigen durchaus an mittelalterliche Traditionen anschließt.41 Noch ist die Analyse der Materie weit entfernt von nachvollziehbaren Ergebnissen, verstrickt sich in die Welt der Ähnlichkeiten als Kompass bei der Suche nach Wirkungsmöglichkeiten. Wie eng und auch verwirrend (um nicht zu sagen: wirr) auch dabei der Bezug zur Astrologie sein kann, mag eine Stelle aus Paracelsus Schrift Herbarius belegen, einem Kräuterbuch in Konkurrenz zu den zahllosen mittelalterlichen Vorgängern, bei dem Paracelsus gegenüber der Tradition auf sein experimentelles Vorgehen pocht. Beim Wasserblut heißt es, die roten Blutstropfen stammten aus der »Influenz« der Sterne, um dann über Aussehen und Geschmack als Zeichen zu spekulieren, die auf die Eignung für eine Wundbehandlung verweisen. Ausdrücklich heißt es, es gehe nicht um Zauberei oder Aberglauben, sondern um eine
40 Archidoxen, Bd. 1, S. 361. 41 Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1999.
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Erkenntnis »im natürlichen Licht«. Wie der Magnet die Kompassnadel anzieht, liest man, »so ist das Wasserblut eine Zunge gegenüber dem Magneten, der der Mensch ist. Aus dem folgt, dass der Mensch das, das im Kraut ist, zu seinem Nutz an sich zieht, wie der Magnet vom Eisen seine Erhaltung empfängt, Gesundheit und Gänze, wie er sein soll […].«42
Alchemie steht einmal wieder über Astrologie. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Astrologie im 16. Jahrhundert an ihr Ende angelangt sei oder nur an Einfluss verloren habe. Man braucht nur an Kepler zu erinnern, der um 1600 mit komplizierten mathematischen Berechnungen das gesamte Planetensystem auf harmonikale Verhältnisse bringt und einen Zusammenhang von Weltseele und Menschenseele herstellt.43 Nur im Vorübergehen sei erwähnt, dass Kepler dabei gegen die Lehre polemisiert, die »himmlische Wirkung« beruhe auf der »Influenz«, wobei er ausdrücklich zwar nicht Paracelsus, aber die »Hermetiker und Paracelsisten« erwähnt, von denen er besonders den Paracelsus-Jünger Robert Fludd im Auge hat. Kepler baut eben nicht auf eine naturwissenschaftliche oder auch pseudo-naturwissenschaftliche Aneignung der Astrologie, sondern knüpft an die ptolemäische Lehre von den Aspekten an. Die Wirkung, die die Sterne ausüben, hat keine materielle Grundlage (wie bei der Influenz), sondern verdankt sich einer Erregung der Seele wie im Falle der Musik. Wie hörbare Harmonien den Menschen buchstäblich traurig oder froh »stimmen«, so auch sichtbare Harmonien, die sich am Himmel ergeben. Dabei antwortet er einem AstrologieGegner, den wir schon kennengelernt haben: Pico della Mirandola, und zwar in der Schrift Vom neuen Stern am Fuße des Schlangenträgers (1606).44 Pico hatte gefragt, wieso Saturn und Jupiter Größeres vermöchten, wenn sie zusammenstehen, als wenn sie getrennt ihre Bahn ziehen. Keplers Antwort lautet: Der Ansatz der Frage ist falsch, weil er von den Himmelskörpern und ihren »Einflüssen« ausgeht. Demgegenüber kehrt Kepler die Ursächlichkeit um: Nicht die Himmelskörper wirken, sondern die Seele reagiert. Es gibt eben einen Sinn für Proportionen, so wie der Hund über einen Ge-
42 Bd. 1, S. 301. 43 Vgl. Göttert, Magie, S. 207ff. 44 Vgl. ebd., S. 217f.
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ruchssinn verfügt, den man ebenfalls nicht bemerken würde, wenn er sich nicht immerfort bestätigte. Das stärkste Argument aber ist die Freude der Seele an der Schönheit. Übrigens hat Kepler in einer anderen Schrift, in der er gegenüber dem Arzt Philipp Feselius den Wissenschaftsstatus der Astrologie verteidigte, tatsächlich noch einmal das von Cicero widerlegte Argument vom Arzt aufgegriffen, bei dem man ebenfalls Irrtümer toleriere.45 Es gibt also in der frühen Neuzeit mindestens zwei gänzlich verschiedene Geschichten der Astrologie und ihrer Widerlegung, die miteinander nicht das Geringste zu tun haben. Man könnte schließlich noch eine dritte hinzufügen, die Physiognomik, die die Wahrsagung von den Sternen auf die menschliche Gestalt verlegt.46 Die Verknüpfung mit der Astrologie reicht dabei mindestens bis Ptolemäus zurück, der in seiner Tetrabiblos der Frage ein ganzes Kapitel widmete, wie spezielle Planeten bzw. ihre Stellung in bestimmten Aspekten die menschliche Gestalt prägen und damit das Schicksal bestimmen. Im 15. Jahrhundert wird dies aufgegriffen und ausgebaut. Das berühmteste Werk dieser Art stammt von Giambattista Della Porta: Die Physiognomie des Menschen, 1558 erstmals erschienen und bis 1589 auf 20 Bücher angewachsen.47 Man kann leicht zeigen, worin die Nähe dieser Physiognomik zur beginnenden neuzeitlichen Erfahrungswissenschaft liegt. Wie die Alchemie sucht sie Kontakt zum Stofflichen, will Sinn aus materialen Merkmalen herauslesen. Daher die unendlich differenzierte Behandlung der Zeichen und ihrer Kombinationsmöglichkeiten, die dem Unternehmen seine wissenschaftliche Grundlage geben sollte. Noch gut zwei Jahrhunderte später hat Johann Caspar Lavater in seinen Physiognomischen Fragmenten (1775-1778) erneut den Versuch unternommen, zwischen Innen und Außen eine Sinnbeziehung herzustellen.48 Goethe und Kant waren prominente Kritiker, die klarste Widerlegung der »Seuche« formulierte dann Georg Lichtenberg in seiner kleinen Schrift Über Physiognomik; wider die Physiognomen (1778).49 Darin interessiert hier weniger die Argumentation selbst als ein kleiner Satz, der den hier wichtigen Zusammenhang herstellt:
45 Vgl. ebd., S. 218. 46 Vgl. ebd., S. 245ff. 47 Johann Baptista Porta: Die Physiognomie des Menschen, hg. von Will Rink. Radebeul und Dresden o.J.; vgl. Göttert, Magie, S. 251ff. 48 Vgl. Göttert, Magie, S. 254ff. 49 Vgl. ebd., S. 260ff.
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»Jetzt sind es Zeichen an der Stirne, die man deuten will, ehemals waren es Zeichen am Himmel.«50 Damit komme ich zum Schluss dieser etwas arg mäandrierenden Betrachtungen. Die Frage war: Woran liegt es eigentlich, dass die Geschichte des Aberglaubens anders und vielleicht auch schwerer zu erzählen ist als andere Geschichten des Wissens? Wenn man sich beispielhaft am Fall der Astrologie orientiert, lässt sich zumindest ein wichtiger Punkt hervorheben. Als System mit bestimmten Techniken war die Astrologie früh »fertig«, ebenso die Kritik an ihr. Entwicklung gab es nur in Nuancen, die Horoskopie stützt sich noch heute in wesentlichen Punkten und im ganzen Ansatz auf das, was wir bei Ptolemäus finden. Genauso gleichen sich die Widerlegungen von Cicero bis heute. Aber diese Geschichten sind nur bedingt von Interesse. Anders ist dies, wenn man sich ansieht, in welchen Kontexten der Rückgriff auf die Astrologie und die Auseinandersetzung mit ihr erfolgte. Immer zeigt sich eine Art Problemüberhang in der sich entwickelnden Wissenschaft, der zum Rückgriff auf die magische Vergangenheit führt und in genau begrenzten Anwendungsbereichen Lösungsmöglichkeiten sieht.51 Dass sich speziell die Astrologie selbst dabei geradezu auflöst, kann nicht verwundern, ist sie doch nur altes Mittel zu neuem Zweck. Dabei legt die zutage tretende Kreativität es kaum nahe, insgesamt von einem bloßen Verfallsprozess à la Kant und Hegel zu sprechen, allerdings ebenso wenig von einer Verwandlung der Magie in Wissenschaft. Ich würde in diesem Punkt zurückhaltender formulieren. Die Magie, stellvertretend die Astrologie, war in der europäischen Tradition eine Art Ferment der geistigen Auseinandersetzung. Dies summiert sich nicht zu einer eigenen Geschichte, jedenfalls zu keiner irgendwie stringenten. Aber ohne Bedeutung war die Astrologie deshalb auch nicht. Sie gab in entscheidenden Krisen Stichworte, aus der die Wissenschaft ihre Geschichte entwickelte.
50 Vgl. ebd., S. 261. 51 Die klarsten Ausführungen dazu finden sich in der Einleitung zu Kühlmann/Telle (Hg.): Der Frühparacelsismus.
P ROBLEME
MIT DER
G ESCHICHTE DES A BERGLAUBENS
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L ITERATUR Jan Assmann/Harald Strohm (Hg.): Magie und Religion. München 2010. Jan Assmann: Die biblische Einstellung zu Wahrsagerei und Magie. In: ders./ Harald Strohm (Hg.): Magie und Religion. München 2010, S. 11-22. Aurelius Augustinus: Dreizehn Bücher Bekenntnisse, hg. von Adolf Holl. Paderborn 1964. Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. 2 Bde., hg. von Carl Andresen. München 1985. Cicero: Über die Wahrsagung. Lat.-dt., hg. von Christoph Schäublin. München/ Zürich 1991. René Descartes: Discours de la méthode, hg. von Lüder Gräbe. Hamburg 1960. Mircea Eliade: Schmiede und Alchemisten. Stuttgart 1960. Epiktet: Handbüchlein der Ethik, hg. von Ernst Neitzke. Stuttgart 1958. Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter. München 2001. Eugenio Garin: Astrologie in der Renaissance. Frankfurt a.M./New York 1997. Karl-Heinz Göttert: Magie. Zur Geschichte des Streits um die magischen Künste unter Philosophen, Theologen, Medizinern und Naturwissenschaftern von der Antike bis zur Aufklärung. München 2001. Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979. Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle (Hg.): Der Frühparacelsismus. Erster und Zweiter Teil. Tübingen 2001-2004. Martin Mulsow: Talismane und Astralmagie. In: Assmann/Strohm (Hg.): Magie und Religion. München 2010, S. 135-158. Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1999. Paracelsus: Werke. 4 Bde., hg. von Will-Erich Peuckert. Darmstadt 1965-1976. Plotin: Schriften. Griech.-dt., hg. von Richard Harder. Hamburg 1956. Max Pohlenz: Die Stoa. Göttingen 1984. Johann Baptista Porta: Die Physiognomie des Menschen, hg. von Will Rink. Radebeul/Dresden o. J. Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Tübingen 1992. Claudius Ptolemäus: Tetrabiblos, hg. von Thomas Schäfer. Mössingen 2000.
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Richard Walter Remé: Darstellung des Inhalts der »Disputationen in Astrologiam« des Pico della Mirandola (Buch I-III) und historisch-kritische Untersuchung. Hamburg 1933. Seneca: De providentia. Über die Vorsehung. Philosophische Schriften, Bd. 1, hg. von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1976. Peter Sloterdijk/Thomas H. Macho (Hg.): Weltrevolution der Seele. 2 Bde. Mannheim 1991. Peter Thomas: Die Astromedizin des Philosophen und Arztes Marsilio Ficino. Diss. Masch. 1970. Frances Yates: Gedächtnis und Erinnern. Weinheim 1990.
Aberglaube Überlegungen zur Macht der Bilder C HRISTOPH D AXELMÜLLER
Der Mensch fasst seine Umwelt zusammen, um den Überblick über deren Komplexität behalten zu können.1 Dafür schafft und benutzt er Bilder; sie spiegeln die von ihm wahrgenommene Realität wider. »Da diese sinnbildliche Realität nur von der Empfindlichkeit, vom Gefühl und vom Wissen des Menschen abhängt, weicht sie mehr oder weniger von der Wirklichkeit ab, ohne dass es dem Menschen bewusst ist. Bilder werden besonders dann erzeugt, sofern persönliche Erfahrungen oder ein direkter Informationszugang fehlen, und können aus Überlieferungen entstehen, welche eigentlich aus dritter Hand stammen.«2
Bilder ermöglichen, erleichtern und fördern das Verstehen komplexer abstrakter Sachverhalte. Wir lesen Bilder, und wir sprechen und schreiben »Bilder« – im exemplum, in der konkreten narrativen Beschreibungstechnik, die in der römischen Gerichtsrede ihren Ursprung besitzt.3 Wie oft täglich
1
Katja Nafroth: Zur Konstruktion von Nationenbildern in der Auslandsberichterstattung: Das Japanbild der deutschen Medien im Wandel. Münster/Hamburg/ London 2002, S. 8-13.
2
Aki Sato: Der Blick des Anderen – Deutsche in japanischer, Japaner in deutscher
3
Z.B. Christoph Daxelmüller: Exemplum. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, 2/3.
Sicht. Magisterarbeit, Würzburg 2011 (unpubliziert), S. 8. Berlin/New York 1983, Sp. 627-649; ders.: Narratio, Illustratio, Argumentatio.
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benutzen wir etwa das »Zum Beispiel«, um uns und unserem Gesprächspartner etwas, das wir mitteilen (»kommunizieren«) wollen, verständlich zu machen?4 Wo aber beginnt und wo endet die Wahrnehmung, aus der wir uns die Bilder »bilden«? Die reale – sichtbare – Welt scheint uns keine Schwierigkeiten zu bereiten; doch mit welchen bildlichen Umschreibungen stellen wir das Irreale, das Unsichtbare, das Jenseitige dar? Angesichts des umfassenden Bildrepertoires, aus dem die Menschen ihre jenseitigen Welten, ihre Höllen, Himmel und Paradiese, ihre Götter, Helden, Dämonen und Teufel bildeten,5 scheint das Irrationale leicht zugänglich zu sein. Man mag die Formel, dass am Ende des lernenden Wahrnehmungs- und intellektuellen Aneignungsprozesses stets die Abstraktion und die abstrakte Theorie stünden, als Ausdruck des protestantischen Bildungsoptimismus begreifen.6 Doch ich wage eine Einschränkung: Am Anfang und am Ende der Bildung stehen das Bild – Augustinus (354-430) musste dies der Legende zufolge am Meeresstrand erfahren, als er über das Wesen der Dreifaltigkeit nachdachte und ihm ein kleiner Junge mit seiner Muschel und der Unsinnigkeit, damit das Meer völlig ausschöpfen zu wollen, bewies, dass der menschliche Verstand dem Rätsel der Trinität nicht gewachsen sei. Mit der Trinitätslehre aber sind wir auch eineinhalb Jahrtausende nach Augustinus nicht weitergekom-
Exemplum und Bildungstechnik in der frühen Neuzeit. In: Exempel- und Exempelsammlungen, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger (= Fortuna Vitrea. Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert, Bd. 2). Tübingen 1991, S. 77-94. Eine Bibliografie zum Exemplum ist zusammengestellt bei Christoph Daxelmüller: Zum Beispiel: Eine exemplarische Bibliographie (Teil I). In: Jahrbuch für Volkskunde NF 13 (1990), S. 218-244; Teil II: In: Jahrbuch für Volkskunde NF 14 (1991), S. 215-240; Teil III und Nachtrag: In: Jahrbuch für Volkskunde NF 16 (1993), S. 223-244. 4
Hermann Bausinger: Zum Beispiel. In: Volksüberlieferung (Festschrift Kurt Ranke), hg. von Fritz Harkort, Karel C. Peeters und Robert Wildhaber. Göttingen 1968, S. 9-18.
5 Vgl. z.B. Wolfgang Metternich: Teufel, Geister und Dämonen. Das Unheimliche in der Kunst des Mittelalters. Darmstadt 2011. 6
Bildungsgeschichte auf grandioser Materialgrundlage dargestellt: Charlotte Appel: Læsning og bogmarked i 1600-tallets Danmark (= Danish Humanist Texts and Studies 23). 2 Bde. Kopenhagen 2001.
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men. Wir stellen (uns) die Dreifaltigkeit nach wie vor als drei Engel, als einen Kopf mit drei Nasen oder als Gnadenstuhl (Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist) dar (vor), als ein eigenartiges, dennoch anthropomorphes Wesen.7 Das Bild als Medium der Bildung und Bilderfahrung – der englische Prediger John Bromyard (gestorben um 1390) versuchte in seiner »Summa predicantium« mit Hilfe eines exemplum die Verständnis- und Lernbereitschaft des illiteratus und zugleich die Bedeutung der narrativen Beispielmaterie zu demonstrieren: Ein ungebildeter Tagelöhner, gefragt, wer Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist seien, antwortete, dass er die beiden ersten recht gut kenne, da er gelegentlich deren Schafe hüte, doch vom dritten Burschen noch nie etwas gehört habe. Das Irrationale bildet eine wichtige Spielwiese für das bildliche Denken, und es schließt den Aberglauben mit ein. Der Aberglaube ist Bild schlechthin; er drückt sich in Bildern aus, deren Kompositionsstrukturen bis heute noch nicht ausreichend erforscht sind, er bildet ab, um erklären zu können: So viele Jahre müsse die unachtsame Hausfrau vor dem Himmelstor auf Einlass warten, wie sie in ihrem Leben Salzkörner verschüttet habe.8 Der Hämatit (»Blutstein«) stille Blut, so glaubt man, und zu den ältesten überlieferten Vorstellungen von der Verkörperung des Schmerzes gehört der Wurm, der im Körper und in den Zähnen bohrt: Gegen den Wurm, der von innen den Körper auffrisst (Contra uermem edentem), wendet sich der Pariser Wurmsegen aus dem 12. Jahrhundert.9 Dass ein schönes, angenehmes Ambiente Einfluss auf die Schwangerschaft und auf die Geburt eines schönen, idealen Menschen nehmen könne, glaubte man noch im 20. Jahrhundert: »Im Gegenteil kann ich über die Gattin eines Kunstgelehrten berichten, die sich, als sie guter Hoffnung war, mit lauter Raffaelschen Madonnen, mit Apollo- und Aphroditestatuen umgab und nachher ein so grundhäßliches Kind gebar, daß sie und ihr
7
S. u.a. Lenz Kriss-Rettenbeck: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. 2. Aufl. München 1971, S. 79f.
8
S. hierzu Christoph Daxelmüller: Das andere Salz. Von populären Mythen und ihren Folgen. In: Manfred Treml/Wolfgang Jahn/Evamaria Brockhoff (Hg.): Salz Macht Geschichte (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 29/95). Augsburg 1995, S. 371-380 (mit weiterer Literatur).
9
Friedrich Wilhelm (Hg.): Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts (= Germanistische Bücherei, Bd. 3). München 1960, S. 50, Num. XVII.
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Mann sich fortan nur noch für altniederländische Kunst erwärmen konnten. Statt des erwarteten Raffaelschen Bambino war ein echter kleiner Höllenbreughel zur Welt gekommen.«10
1840: D IE M AGIE
DER
Z EIT
Das Jahr 1840 brachte den Autoren Hans Christian Andersen (1805-1875), den Bildhauer Bertil Thorvaldsen (1770-1844) und Konstanze Nissen (1762-1842) zusammen, ohne dass diese sich persönlich begegnet wären. Andersen und Thorvaldsen sind Dänen, Nissen nicht; sie war jedoch mit einem Dänen verheiratet und wohnte für kurze Zeit sogar in Kopenhagen. Über seine Auslandsreise 1840 berichtete der Märchendichter Andersen: »In Nürnberg sah ich zum erstenmal Daguerreotyp-Bilder, innerhalb von zehn Minuten, so sagte man, kämen diese Portraits zustande, das erschien mir wie ein Zauber, die Kunst war neu und noch weit davon entfernt, was sie in unseren Tagen ist. Daguerrotyp[ie] und Eisenbahn, die zwei neuen Blumen dieses Zeitalters, waren für mich bereits allein eine Ausbeute des Reisens; mit der Eisenbahn flog ich nach München zu alten Bekannten und Freunden« [Übersetzung des Verfassers].11
10 Carl Heinrich Stratz: Die Körperpflege der Frau. Physiologische und ästhetische Diätetik für das weibliche Geschlecht. 13. verb. Aufl. Stuttgart 1927, S. 243f.; vgl. hierzu Christoph Daxelmüller: Erzählen über Technik. Der Wandel des technischen Bewußtseins im Spiegel der »artes technicae«-Literatur vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1993), S. 39-55, hier S. 39. 11 »I Nürnberg saa jeg første Gang Daguerreotyp-Billeder, i ti Minutter, sagde man, blev disse Piortraiter til, det forekom mig som en Trolddom, Kunsten var ny of endnu langt fra, hvad den er i vore Dage. Daguerreotyp og Jernbane, disse Tidsalderens to nye Blomster vare allerede et Udbytte for mig af Reisen; med Banetoget fløi jeg til München til gamle Bekjendte og Venner«; zitiert nach Hans Christian Andersen: Mit Livs Eventyr. København/Kristiania 1908, S. 254. Andersen irrte sich hier und verwechselte Nürnberg mit Augsburg; von dort aus hatte er in einem Brief Edvard Collin von seiner Auslandsreise und von einem Schweizer Maler erzählt, der ihm »eine Sammlung ausgezeichneter Daguerrotypen gezeigt« habe; die Portraits seien in fünf bis zehn Minuten fertig, in allen
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Der geniale Schriftsteller fasste in wenigen Worten bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen, was man erst mehr als ein Jahrhundert später grundsätzlich formulieren sollte: Das neue Medium der Fotografie ist zum einen »Zauber« (trolddom), zum anderen gerät sie zusammen mit der Eisenbahn zum ikonischen Symbol für die Industrialisierung. Andersen hatte bis dahin nur das gemalte Portrait gekannt, das den Menschen bis zur historischen Unverantwortlichkeit in idealisierender Manier abbilden, während die Fotografie ihn in all seiner Hässlichkeit mit schonungslos-realistischer Ehrlichkeit sezieren konnte. Die Fotografie als epochale Erfindung des technischen Zeitalters hat ihre Spuren in zahlreichen kulturellen Erscheinungsformen hinterlassen. Ihre Nähe zur abgebildeten Wirklichkeit scheint dem Abgebildeten die Seele zu entziehen und auf ein anderes Medium zu bannen. Daher schuf und verbreitete sie zuerst einmal Angst, zumindest im Jahr 1840. Die Fotografie zeigt, wie weit Vorstellung und Wirklichkeit auseinanderklaffen können. Wir vermögen nicht, uns Wolfgang Adam, Wolfgang Amadé, Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus oder einfach nur Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und seine Frau Konstanze (1763-1842) ohne schlohweiße Perücke vorzustellen. Unsere Vorstellungen sind geprägt von zeitgenössischen Portraits ebenso wie von den Reber’schen Mozartkugeln. Im populären Verständnis vertreten Mozart, seine Familie und seine Umwelt eine hypertroph-verspätete »barock«-höfische Kultur. Ob Kleidermode oder Messkomposition anlässlich der Krönung von Gnadenbildern, ob Stellung als Hof-Musicus in einem nachabsolutistischen fürstbischöflichen Staatswesen in Salzburg oder postbarocke Fäkalsprache – diese kulturellen Inszenierungen werden nur noch übertroffen von der Begegnung Kaiserin Maria Theresias (1711-1780) mit dem kindlichen (und später kindischen) Genie, eingebettet erneut in ein para- und absurdbarockes Outfit, das nicht allein mit dem habsburgischen Hofzeremoniell erklärt werden kann.12
Größen, und sie sähen aus wie Radierungen auf Stahlplatten. Das »Haar war hübsch wiedergegeben, das Auge völlig deutlich, auch das Glanzlicht in der Pupille« [Übersetzung des Verfassers]; zitiert nach Elias Bredsdorff: H. C. Andersen. Mennesket og digteren. København 1979, S. 169. Den Hinweis auf die Texte verdanke ich Frau Dr. Marie-Louise Thomsen. 12 Einen ebenso ungewohnten wie eigenwilligen, aber zugleich auch sehr instruktiven Einblick in den Alltag Mozarts und seines Vaters und Managers Leopold
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Die Kaiserin selbst aber steht für das Ende einer geistigen Periode und für einen Umbruch, der aus naivem frommen Glauben finsteren Aberglauben machte: Ihre enge Beziehung zu dem fränkischen Wallfahrtsort Amorsbrunn und seinem hl. Amor fand nicht nur Ausdruck in einer mit 1900 Gulden im Jahre 1769 noch einmal erhöhten Messstiftung, sondern auch in der Befolgung des Ratschlages des Beichtvaters, sich zur Behebung ihrer Kinderlosigkeit Wasser aus Amorsbrunn nach Wien kommen zu lassen.13 Auch Ignatius Gropp weiß zu berichten, dass »Ihro jetzt regierende Majestät die kayserin gegen den H. Amor Ihre Andacht bezeigt haben«14. Bis zum Ende der Monarchie 1918 wurden die Kaisermessen in Amorsbrunn gehalten.15 Die Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts hatte für solchen Glauben nur Spott übrig. Nicht dem Wasser der Quelle sei der Erfolg bei Unfruchtbarkeit zu verdanken, sondern einem in der Nähe der Quelle im dichten Gebüsch hausenden Eremiten.16 Der hl. Amor als Verbindung von Erotik und Sexualität, das Wasser aus der Quelle am Wallfahrtsort als gegenständliches und leicht verständliches Medium – bereits hier werden wir mit der Bildgewalt des Aberglaubens konfrontiert. Doch noch schwebt mir ein anderes Bild vor Augen, das mit der abgebildeten Person so gar nicht in jene Zeit passen will, in der die Akteure um Maria Theresia lebten.
Mozart vermittelt Kurt Palm: Der Wolfgang ist fett und wohlauf. Essen und trinken mit Wolfgang Amadé Mozart. Wien 2005. 13 S. Dieter Harmening: Fränkische Mirakelbücher. Quellen und Untersuchungen zur historischen Volkskunde und Geschichte der Volksfrömmigkeit. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 28 (1966), S. 25-240, hier S. 115. 14 Ignatius Gropp: Aetas mille annorum antiquissimi et regalis Monasterii B. M. V. in Amorbach. Frankfurt a.M. 1736, 8, 3, fol. 513v. 15 Zu Amorsbrunn s.u.a. Robert Plötz: Unsere Wallfahrtsstätten (= Deutschland – das unbekannte Land, Bd. 7). Frankfurt a.M. 1988, S. 41f. 16 Harmening, Mirakelbücher, S. 115; zu Amorsbrunn und zum hl. Amor s. auch Dieter Harmening: Heiligenleben und Wallfahrtsfrömmigkeit in Franken. Ausstellungskatalog Universität Würzburg. Würzburg 1967, S. 37f., ferner Hans Dünninger: Processio peregrinationis. Volkskundliche Untersuchungen zu einer Geschichte des Wallfahrtswesens im Gebiet der Diözese Würzburg, Teil I. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 23 (1961), S. 53-176, zu Amorbach: S. 111-118.
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2006 machte man im Stadtarchiv Altötting eine sensationelle Entdeckung. Es handelt sich um die bislang älteste bayerische, im Oktober 1840 entstandene Daguerrotypie. Sie zeigt den Komponisten Max Keller zusammen mit seiner Gattin (in der vorderen Reihe) und hinter ihnen die in ihre biedermeierlichen Kostüme gewandeten Töchter. Rechts neben Max Keller sitzt eine Frau, 78 Jahre alt. Wir kennen ihren Namen: Konstanze Nissen, geb. Weber, verwitwete Mozart (1762-1842), zwei Jahre vor ihrem Tod, eben jene Mozart, die ich mir nur mit Perücke und als nachbarocke Mozart-Kugel vorstellen kann. Abbildung 1: Constanze Mozart (1762-1842) im Alter von 78 Jahren, zwei Jahre vor ihrem Tod; Fotografie (Daguerrotypie) vom Oktober 1840 aus Altötting; untere Reihe, erste von links: Constanze Mozart, mit dem Zeigefinger der linken Hand das Böse der Fotografie von sich ableitend, neben ihr sitzt der Komponist Max Keller zusammen mit seiner Gattin
Foto (Daguerrotypie): Stadtarchiv Altötting.
Das Bild ist obszön, da es nicht in meine Vorstellungen von Zeit passen will. Es steht außerhalb jener Zeit, die man in der Erinnerung an und für Mozart geschaffen hat, und als wolle Konstanze Nissen diese Beobachtung bestätigen, hat sie den Zeigefinger der linken Hand in einer abwehrenden Geste nach unten gerichtet, als wolle sie all das Böse, das aus dem neuen Medium
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der Fotografie kommt, nach unten ableiten und dadurch unschädlich machen.17
F AMILIE M OZART
UND DER ABERGLAUBE DES AUFGEKLÄRTEN B ILDUNGSMENSCHEN Familie Mozart, ob Leopold, Wolfgang Amadeus, das Nannerl oder Konstanze, verkörpern den »abergläubischen« Menschen schlechthin, so wie dieser auch heute noch lebt und sich verteidigt: Natürlich sei man keinesfalls abergläubisch, und all das mit schwarzen Katzen, Freitagen mit der Zahl 13 oder Kaminkehrern sei blanker Unsinn. In diesem Sinne darf Wolfgang Amadeus als Prachtexemplar der reinen Vernunft gelten. Denn es liest sich wie eine Satire auf die um den Hals gehängten Breverl und den in der Hosentasche getragenen Talisman, wenn er seinem unter Schwindelanfällen leidenden Vater Leopold den ironischen Rat gibt: Nehmen sie »wagenschmier in ein Papierlen eingewicklt, und tragen sie es auf der Brust – und nehmen sie auch das kayserbeinl von einem kalbschlegel, und für einen kreutzer schwindlwurzel in einen Papier und tragen sie es bey sich im sack«18. Selbstverständlich gehen auch wir unbehelligt von jeglichem Aberglauben durchs Leben. Aber haben wir in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre den Kauf der neuen Computer-Generation nicht deswegen hinausgezögert, da es hieß, die Festplatten mit ihrer damals schwindelerregenden Größe von 30 bis 40 Megabytes seien zu locker gelagert und daher äußerst störungsanfällig? Wie stand und steht es mit jenen Strahlen, die einst von den Fernsehbildschirmen und heutzutage von den Handys und Sendemasten ausgehen? Und war das Nonplusultra der Pflugtechnik im 19. Jahrhundert, der Hohenheimer Pflug, nicht deswegen ein Verkaufsfiasko, weil die Bauern ihn für zu modern hielten und in ihren Dörfern nicht mit einem solchen Gerät bei ihresgleichen auffallen wollten?19 Wir vertrauen blind und tiefgläubig auf all die X-Faktoren der Werbung und Packungsauf- und -beischriften, auf den Weißfaktor, und unser Miss-
17 S. u.a. Klemens Diez: Constanze … gewesene Witwe Mozart. Wien 1982. 18 Palm, Der Wolfgang ist fett, S. 216. 19 Karl Heinrich Rau: Geschichte des Pfluges. Heidelberg 1845, S. 2; s. hierzu Daxelmüller, Erzählen über Technik.
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trauen gegenüber Neuerungen, über deren Nutzen oder Schaden wir nicht richten können, bezeichnen wir großzügig nicht als »Aberglauben«, sondern als »Technikangst«. Die abwehrend-ableitende Geste, mit der sich Constanze Nissen20 gegenüber dem Teufelsapparat des Fotografen wehrt, die Martin Scharfe bei Pietistinnen beobachtet und über die Wolfgang Brückner allzu abstrakt im Rahmen seiner Bildtheorie und der Bildmagie nachgedacht hat,21 ist zuerst nur ein Bild, das Angst vergegenständlicht. Zum Aberglauben aber geriet sie erst retrospektiv, nachdem sich das Fotografieren als ungefährliches Unterfangen herausgestellt hat. Konstanze von Nissen befand sich mit ihrer abergläubischen Angst vor der Fotografie und dem Verlust ihrer Seele an das Bild und an denjenigen, der dieses besitzen würde, in prominenter Gesellschaft. Denn auch der lange Zeit in Rom tätige dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen (1770-1844) war nicht ganz einverstanden, als man ihn in hohem Alter im Atelier fotografierte. Mit dem nach unten gerichteten cornuto der linken Hand versuchte er, die böse Macht der Fotografie von sich abzulenken. Fast schon zu viel des Zufalls: Wie die Daguerrotypie der Mozartwitwe entstand auch diese Fotografie im Jahr 1840.22
20 Der dänische Legationssekretär Georg Nikolaus (von) Nissen (1761-1826) und Constanze heirateten im Juni 1809, nachdem sie dem dänischen Legationssekretär 1797 in Wien einige Zimmer ihrer Wohnung vermietet hatte. Nissen schrieb unter aktiver Mitwirkung von Konstanze die erste Mozartbiografie, die vor allem die Rolle Konstanzes als treusorgende Ehegattin hervorheben sollte; Georg Nikolaus (von) Nissen: Biographie W. A. Mozarts. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Facsimile. Vierter Nachdruck der Ausgabe. Leipzig 1828. 21 Wolfgang Brückner: Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies. Berlin 1966; ders.: Überlegungen zur Magietheorie. Vom Zauber mit Bildern. In: Leander Petzoldt (Hg.): Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie (= Wege der Forschung 337). Darmstadt 1978, S. 404-419. 22 Iørn Piø: Den lille overtro. Håndbog om hverdagens magi. København 1973, S. 73-75, hier vor allem S. 74.
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Abbildung 2: Bertel Thorvaldsen vor der Staffelei, die linke Hand bildet ein nach unten gerichtetes »cornuto«, Daguerrotypie, 1840
Foto (Daguerrotypie): Thorvaldsens Museum, Kopenhagen.
ABERGLAUBE –
WAS IST DAS ?
»Aberglaube« schafft sich immer wieder von neuem: ohne Fotoapparat keine Abwehrgeste, ohne Uhr keine Todesansage bei plötzlich und ohne Grund stehen gebliebenen Uhren. Wir scheinen sehr genau zu wissen, was Aberglaube und wer abergläubisch ist: 1) immer der andere, und 2) das, was ich selbst nicht glaube. Der Glaube an Reinkarnation ist Humbug, ebenso der an den Teufel, an Wunder und daran, dass ein Schwein Glück brächte. Aber halt: Hätten dann die Juden niemals Glück, da für sie das Schwein unrein ist? Was ist mit den Hindus, die von der Wiedergeburt überzeugt sind, und mit den Katholiken, für die der Teufel nach der Aussage ihrer Theologen Realität sein soll? Versuchen wir es noch einmal: Aberglaube ist eine Abart des Glaubens, ein Derivat. Mit diesem »Glauben« will ich mich nicht festlegen: »Ich glaube, heute bekommen wir noch Regen«. Man könnte genauso sagen: »Ich aber-
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glaube, heute bekommen wir noch Regen«. Aber diese Formulierung sehen weder der Duden, das Grimmތsche Wörterbuch noch das Rechtschreibprogramm meines Computers vor. »Ich glaube«, »Ich aberglaube«, also: »Ich weiß nicht«. Glaube und Aberglaube schließen Wissen aus. Ich weiß nicht, wer Gott ist und wie er aussieht; das gilt im Übrigen auch für den Teufel. Ich schaffe mir daher ein Bild von ihm; doch damit begehe ich einen Verstoß, betreibe Götzendienst und mache mich der superstitio schuldig. Das Bild besitzt in den monotheistischen Religionen einen schwachen Stand, da es menschengeschaffen ist. Ikonoklastische Bewegungen kamen dann in Gang, wenn sich das Bild allzu sehr in den Vordergrund drängte und sich die Grenzen zwischen (Ur-)Bild und Abbild zu verwischen begannen, wenn dem Bild die gleiche Macht zugeschrieben wurde wie Gott. Für Juden stellt sich die Frage, ob Gott einen Bart trägt, nicht, für Christen insofern, warum er sich nie rasiert oder die schlohweißen Haare färbt. Das nennt sich dann sehr gelehrt Ikonografie. Jesus hat zwischen seinen ersten Darstellungen in den römischen Katakomben und der modernen Kunst viele Metamorphosen auch modischer Art durchmachen müssen. Dass sich am Bildhaften des populären Glaubens23 Kritik entzündet, mag einsichtig sein, doch warum nimmt das drohende Unglück die Gestalt einer schwarzen Katze an und warum fristet in vielen Poesiealben ein vierblättriges Kleeblatt sein kümmerlich-verdorrtes, aber – hoffentlich – glückspendendes Dasein? Glaube schafft sich Bilder – für die Ebene des Transzendentalen ebenso wie für die reale Welt, um verstehen zu können. Vorläufig bringt uns auch diese Erkenntnis nicht wesentlich weiter. Glaube schafft Distanz, ist Unterscheidungsmerkmal. Kein überzeugter katholischer Christ käme auf die Idee, Weihwasser, Weihrauch, Kreuzzeichen, Palmbuschen und Palmesel und vieles andere mehr, die Wallfahrt, die Verehrung wundertätiger Bilder oder die Aufstellung von Weihnachtskrippen und Heiligen Gräbern als »Aberglauben« zu diffamieren. Genau dies aber versuchten die Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Auf dem Augsburger Reichstag 1530 brandmarkte Philipp Melanchthon (1497-1560) namentlich »Palmen Esel, Palmen schiessen, Palmen schlucken, Palmen Creutzlin, Creutz kussen und anbeten, Creutz begraben, Halbe Messe am stillen freytag, Beym grabe Psalter singen, finster Metten, Vreutz aus dem grab heben und
23 Immer noch unübertroffen: Kriss-Rettenbeck, Bilder und Zeichen.
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spilen tragen« oder »Procession corporis Christi«.24 Sie beließen es allerdings nicht bei Auflistungen: Es kam die Qualität des Paganen, des Ethnischen hinzu. Daraus entstand der folgenschwere reformatorische Begriff vom papistischen (oder römischen) »Heidentum«. »Aberglaube« kennzeichnet einen Standpunkt, den man selbst nicht einnimmt. Er ist der Glaube des Anderen, des Anderen in einem anderen zeitlichen, kulturellen oder geistigen Raum. Glaube und Aberglaube begegnen sich intellektuell (und auch sozial) nicht auf Augenhöhe. Nach dem von Kaiser Nero veranlassten Brand von Rom schrieb Tacitus (um 55 bis nach 115) in den »Annalen«: »Um dieses Gerede aus der Welt zu schaffen, schob Nero die Schuld auf andere und bestrafte sie mit ausgesuchten Martern. Es waren jene Leute, die bei der ungebildeten Menge ›Christianer‹ heißen und sich durch ihr skandalöses Verhalten mehr als unbeliebt gemacht hatten. Dieser Name leitet sich von Christus ab, der unter Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war. Der für den Augenblick unterdrückte verhängnisvolle Aberglaube griff von Neuem um sich, nicht nur in Judäa, wo dieses Übel entstanden war, sondern auch in Rom, wo alle Scheußlichkeiten und Gemeinheiten sich ein Stelldichein geben und freudigen Anhang finden.«25
Glaube und Aberglaube verstoßen gegen die Vernunft. Aberglaube ist für Tacitus »Irrglaube«, doch im Gegensatz zu späterer christlich-mittelalterlicher Interpretation bedeutete superstitio dem Römer die häufig negativ beurteilte persönliche, religiöse Hingabe an eine Gottheit, religio hingegen die Einhaltung der Riten und Kulthandlungen ohne emotionale Bindung an die Gottheit.26 Daher denken und handeln sowohl der Katholik wie der Pro-
24 Zitiert nach Martin Luther: Werke. Abt. 2, Bd. 30. Weimar 1909, S. 350; vgl. Christoph Daxelmüller: Volksfrömmigkeit im Reformationszeitalter – Epochenschwelle oder Kontinuität (am Beispiel Regensburgs). In: Hans Schwarz (Hg.): Reformation und Reichsstadt. Protestantisches Leben in Regensburg (= Schriftenreihe Universität Regensburg U.R., NF, Bd. 20). Regensburg 1994, S. 100-133. 25 Tacitus, Annalen, XV; zitiert nach Leo G. Linder: Das Unternehmen Jesus. Wahrheit und Wirklichkeit des frühen Christentums. Köln 2009, S. 246. 26 Zur Begrifflichkeit von religio und pietas s. Christoph Daxelmüller: Volksfrömmigkeit. In: Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einfüh-
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testant unter der Hegemonie der Vernunft abergläubisch, da sie beide das Irrationale als physi(kali)sche Möglichkeit tolerieren. Das Beispiel Rom war mit Bedacht gewählt, da sich das junge Christentum auf seiner Identitätssuche eben mit jener Kultur auseinanderzusetzen hatte. Denn weder pietas noch religio trugen den emotionalen Bedürfnissen des einzelnen Menschen Rechnung, sondern bildeten tragende Säulen des römischen Staatswesens und der Tradition. Den persönlichen Glauben aber, der den Gefühlen Platz einräumte, beschrieben die Römer mit superstitio.27 Doch er pervertierte zum Schlachtfeld der Gefühle: Auf bleiernen, zusammengefalteten Täfelchen, den tabellae defixionum (Fluchtäfelchen), befinden sich Flüche gegen bestimmte Personen. Wut und Begierde bezeugen unter anderem mit Nägeln gespickte Figürchen, und gegen die negativen Kräfte schützte man sich mit Amuletten. Der Große Pariser Zauberpapyrus beschreibt das Verfahren bei einem Liebeszauber: Aus Wachs werden eine männliche und eine weibliche Figur geknetet, danach die Körperteile der Puppen mit Zauberworten beschriftet und Nägel in die Puppen gesteckt. Es folgt eine Beschwörungsformel. Zuletzt muss die weibliche Puppe mit 365 Knoten – für alle Tage des Jahres – unter Flüchen gebunden werden, um die Dargestellte zur Liebe zu zwingen.28 Man kann nur hoffen, dass der
rung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie (= Ethnologische Paperbacks). 2., überarb. und erw. Aufl. Berlin 1994, S. 397-420 (u.ö.). 27 Vgl. z.B. Der Soldat und die Götter. Römische Religion am Limes. Esslingen am Neckar: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, 2004, S. 10f. 28 Pap. Gr. Mag. IV Z; zu den Zauberpapyri s. u.a. Hans Dieter Betz: Magic and Mystery in the Greek Magical Papyri. In: Christopher A. Faraone/Dirk Obbink (Hg.): Magika Hiera. Ancient Greek Magic and Religion. New York/Oxford 1991, S. 244-259; Theodor Hopfner: Griechisch-Ägyptischer Offenbarungszauber. Mit einer eingehenden Darstellung des griechisch-synkretistischen Daemonenglaubens und der Voraussetzungen und Mittel des Zaubers überhaupt und der magischen Divination im besonderen (= Studien zur Palaeographie und Papyruskunde XXI), Bd. I. Amsterdam 1974 (alles Erschienene); Karl Preisendanz (Hg.): Papyri graecae magicae. Die griechischen Zauberpapyri. 2., verb. Aufl., mit Ergänzungen von Karl Preisendanz, durchgesehen und hg. von Albert Henrichs (= Sammlung wissenschaftlicher Commentare, Bd. I), Bd. I. Stuttgart 1973 (1. Aufl. Leipzig/Berlin 1928).
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männliche Hexer dem sexuellen Erwartungs- und Leistungsdruck eines gesamten Jahres standhalten konnte.29 Wenn wir vieles von dem, was uns als Aberglaube vertraut erscheint, bereits in der Antike festmachen können,30 dann beruht dies auf der Spezifik des Tradierungsgefüges. Auf der Suche nach eigener Identität hieß es für die judenchristliche Gruppe, sich einerseits vom Judentum, andererseits vom Synkretismus der spätantiken Weltmacht Rom abzusetzen.31 Römische Religion und römische Mythologie wurden den Kirchenvätern, allen voran Augustinus (354-430), zum Inbegriff des Aberglaubens und nun des Götzendienstes.32 Im VIII. Buch seiner Etymologien schrieb Isidor von Sevilla (um 560-636) verbindlich fest, was denn unter »Aberglauben« zu verstehen sei.33 Mehr als ein Jahrtausend später sollte Jacob Grimm (1785-1863) in einer ähnlichen, nun nationalistisch-antirömisch motivierten Distanzierung die germanische Kontinuitätstheorie schaffen und damit nicht unerheblich am Unheil der Volkskunde beitragen.
29 Zur Geschichte des antiken Zaubers mit Bildern s. Christoph Daxelmüller/MarieLouise Thomsen: Bildzauber im alten Mesopotamien. In: Anthropos. Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde 77 (1982), S. 27-64. 30 Dieter Harmening: Aberglaube und Alter. Skizzen zur Geschichte eines polemischen Begriffes. In: Volkskultur und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag, hg. von Dieter Harmening, Gerhard Lutz, Bernhard Schemmel, Erich Wimmer. Berlin 1970, S. 210-235. In seinem Beitrag »Superstition – ›Aberglaube‹« (in: Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch, hg. von Edgar Harvolk (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 25/Beiträge zur Volkstumsforschung, XXIII). München/Würzburg 1987, S. 261-292) prägte Dieter Harmening den Begriff »superstitiosologischer Verschiebebahnhof«. 31 Eindrucksvolle Beispiele dieses Prozesses bei Angela Donati (Hg.): Pietro e Paolo. La storia, il culto, la memoria nei primi secoli. Milano 2000. 32 Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979. 33 Isidor von Sevilla: Über Glauben und Aberglauben. Etymologien, VIII. Buch. Übersetzt und kommentiert von Dagmar Linhart. Dettelbach 1997.
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Es fällt auf, dass trotz aller Veränderungen der Aberglaube bis heute fast ausschließlich mit dem Magischen und Zauberischen in Zusammenhang gebracht wird, im Sinne der vor- und mittelalterlichen Diskussion über den Teufel, über den als Gegengott in den Heilsplan Gottes hereingeholten Satan, der mit Zulassung Gottes (deo permittente) den Menschen in Versuchung führen soll.34 Dieser Idee wird die magia daemoniaca (magia illicita) zugeordnet, jener operative, sich dank der Anrufung und Hilfe des Dämons vollziehende Zauber. Hinzu kommen die unterschiedlichsten Formen der Wahrsagung (superstitio divinatoria). Beide zusammen bilden die superstitio magica. Zuletzt siedelte die Zeitschrift skeptiker 2010 in ihrem Themenheft Gründe für Aberglauben & Co. diesen zwischen der Wahrnehmung paranormaler Phänomene35 und der Magie an.36 Die Schwierigkeiten aber beginnen damit, dass der Aberglaube in der Verbindung mit der Magie zur wichtigen und keinesfalls randständigen Diskursmaterie sowohl der Theologie wie der sich in der frühen Neuzeit emanzipierenden Naturwissenschaften geriet.37 Ein Stern weist den drei magoi, aus denen im Mittelalter Könige werden sollten, den Weg zum neugeborenen Erlöser, eine Sonnenfinsternis begleitet den Tod Jesu am Kreuz.
34 Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993 (u.ö.). 35 Wolfgang Hell: Von Schafen und Ziegen. Der Sechste Sinn und die unbewusste Wahrnehmung. In: skeptiker. Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken 2 (2010), S. 56-61. 36 Mario Iskenius/Jan Christopher Cwik/Günter Molz: Aberglaube, magisches Denken und paranormale Überzeugungen. Eine Teilreplikation der Studie von Lindeman und Aarnio. In: skeptiker. Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken 2 (2010), S. 71-75. 37 S. hierzu Christoph Daxelmüller: Disputationes curiosae. Zum »volkskundlichen« Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 5). Würzburg 1979; ders.: Bibliographie barocker Dissertationen zu Aberglaube und Brauch. Teil I. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 3 (1980), S. 194-238; Teil II. In: ebd. 4 (1981), S. 225-243; Teil III. In: ebd. 5 (1982), S. 213-224; Teil IV. In: ebd. (1983), S. 230-244; Teil V und Gesamtregister. In: ebd. 7 (1984), S. 195-240.
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Geburt und Tod Christi als Eckpunkte stehen unter dem Zeichen einer Natur, die sich dem Göttlichen unterordnet und – wenn man so will – zum Gottesbeweis antritt. Kann daher die Astrologie, die Zukunftsdeutung und Psychognostik mittels der Sterne, superstitio magica oder gar superstitio daemoniaca sein, auch wenn sich die Dämonen, so die von Augustinus übernommene Dämonologie der Neuplatoniker, in der sublunaren Zone bewegen? Die Astrologie entwickelte sich im Mittelalter zur ebenso legitimen wie weitreichenden Wissenschaft und zum einträglichen Nebenerwerb der meist gelehrten Verfasser von Christtags- und Neujahrsprognosen,38 von Geburtshoroskopen wie dem des Fürsten von Friedland und Generallismus Albrecht Wallenstein (1583-1634) durch den Astronomen Johannes Kepler (1571-1630). Die astrologische Determiniertheit bildete nicht nur einen zentralen Bestandteil medizinischer Deutungen, sondern auch der universalen Welt- und Naturerkenntnis. Ich denke etwa an die »Reihenbildung« durch Magietheoretiker wie Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535), die etwa das Brennende in der Brennnessel mit dem der Pflanze zugeordneten Planeten Mars erklärten.39 Hinzu kommt das weite Feld der magia naturalis, der schützenden Amulette, heilenden Steine,40 der dämonen- und krankheitsabwehrenden Segen und Beschwörungen,41 die sich auffallenderweise heute wieder gro-
38 S. vor allem Gerhard Eis (Hg.): Wahrsagetexte des Spätmittelalters. Aus Handschriften und Inkunabeln (= Texte des späten Mittelalters 1). Berlin 1956. 39 Agrippa von Nettesheim/Heinrich Cornelius: De occulta philosophia sive de magia libri tres. Antwerpen 1531 (Köln 1533); vgl. u.a. Wolf-Dieter MüllerJahncke: Magie als Wissenschaft im frühen 16. Jahrhundert. Die Beziehungen zwischen Magie, Medizin und Pharmazie im Werk des Agrippa von Nettesheim (1486-1535). Phil. Diss. Marburg 1973. 40 Lenz Kriss-Rettenbeck/Lieselotte Hansmann: Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte. München 1966; Neudruck Hamburg 1999. 41 Irmgard Hampp: Untersuchungen zum Zauberspruch auf Grund von Sammlungen aus Württemberg wie aus deutschen und ausländischen Vergleichsgebieten. Phil. Diss. Tübingen 1955; dies.: Beschwörung, Segen, Gebet. Untersuchungen zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde (= Veröffentlichungen des Staatl. Amtes für Denkmalpflege Stuttgart, Reihe C: Volkskunde 1). Stuttgart 1961.
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ßer Beliebtheit erfreuen,42 der Objekte alternativer Medizin, der Talismane und Breverl sowie anderer Schutzmittel.43 Ich zähle hierher auch die Versuche naturwissenschaftlicher Annäherung, die zur Entstehung der Parawissenschaften geführt haben. So reicht etwa die Erklärungsdiskussion über die Wirkung der virgula divinatrix, der Wünschelrute, die der Bergwerksfachmann Georg Agricola (1494-1555) als bergmännisches Hilfsmittel für die Aufspürung von Erzen lang und breit diskutierte, von der Lenkung der Rute durch einen Dämonen (magia daemoniaca) über die Bewegung dank der in ihr enthaltenen qualitates occultae, die ihr beim Schöpfungsakt verliehen worden waren, bis zur modernen Annahme von Erdstrahlen, Geomagnetismus, Wasseradern oder Kraftorten – alles zusammen Plastikbegriffe ohne nennenswerten Inhalt, aber beeindruckend jeweils dank der vermuteten Nähe zur Theologie oder Satanologie oder zu den exakten Naturwissenschaften. Wünschelrutengänger verstehen sich heute als physikalische Messkästen, im 16. und 17. Jahrhundert hätte ich ihnen angesichts des Hexenglaubens von ihrem Treiben abgeraten. Diese Bindung des Aberglaubens an Magica und – seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – an Occulta besteht bis heute, nur bezeichnet sie sich weitaus eindrucksvoller – und wird dadurch zum besten Beispiel für Wissenschaftsaberglauben: Die rPBS, die »revised Paranormal Belief Scale«, besteht aus sieben verschiedenen Subskalen: »Traditional Religious Belief«, »Psi«, »Witchcraft«, »Superstition«, »Spiritualism«, »Extraordinary Life Forms« und »Precognition«.44 Trotz allen modischen Sprachschnickschnacks ist dieser Aberglaubensbegriff letztendlich nicht über Augustinus, Isidor von Sevilla, die Auseinandersetzungen der Synoden und Konzilien oder über die Dekalogkatechese hinausgekommen. Doch mit Magie allein ist das Feld
42 Monika Herz: Alte Heilgebete. Gesundheit für Körper und Geist. München 2010. 43 Christoph Daxelmüller: Apotropäische Magie für alle Lebenslagen. In: Hexen. Mythos und Wirklichkeit. Speyer/München 2009, S. 86-93. 44 S. Erich Eder: Zwischen Glaube und Wissenschaft. Renaissance des Aberglaubens an Österreichs Gymnasien? In: skeptiker. Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken 2 (2011), S. 61-64, hier S. 62; vgl. auch Jörgen Lach: Eine kognitionstheoretische Analyse des Aberglaubens. Überlegungen zu einem aufklärerischen Praxiskonzept (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XIX Volkskunde/Ethnologie, Abt. A Volkskunde, Bd. 48). Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Wien 1999.
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des Aberglaubens nicht abgedeckt. Er schafft sich immer wieder neu und erstreckt sich von der »Poesie des Alltags« (Johann Wolfgang von Goethe) bis zur gefährlichen psychischen Macht.
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Salz zu verschütten bringe Unglück, sagt man. Salz ist ein durch das Jesuswort vom »Salz der Erde« geadeltes Quasi-Sakramentale. »Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen?« (Mt., 5,13), und: »Das Salz ist etwas Gutes […]. Habt Salz in euch und haltet Frieden untereinander« (Mk., 9,49-50; ähnlich Lk. 14,34 und Kol. 4,6).45 Der Priester segnet es im Rahmen der Dreikönigs-Liturgie am 5./6. Januar sowie an Ostern. Geweihtes Salz mischte man an den Feiertagen dem Essen für Mensch und Vieh bei. Die vor allem im alpinen Raum verbreiteten »Salzkirchl« enthielten geweihtes Salz, das zu einem skurrilen Brauch führte: Durch eine kleine Öffnung konnte man mit dem angefeuchteten Finger, aber auch mit der Zunge das Salz aufnehmen und schlucken. Salz, heute Billig- und Pfennigware, war einst teuer. »Weißes Gold« nannte man es. Sein Besitz garantierte nicht nur Reichtum, sondern auch Macht.46 Das Haselgebirge bei Salzburg, die religiöse und politische Rolle, die Salzburg und seine Bischöfe, allen voran der Salzpatron, der hl. Rupert, spielten, und das wenige Kilometer entfernte Berchtesgaden mögen hier als Beispiele genügen. Salz gehört auf den Tisch. Davon zeugen nicht nur Bildquellen und die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Salzbehälter, sondern auch der Umstand, dass es dem Diener oder der Magd die Stelle kosten konnte, wenn sie das Salzfass beim Decken des Tisches vergaßen. Im Salz verbildlichen sich Reichtum und zugleich Unglück. Fatal – beim letzten Abendmahl versammelten sich ausgerechnet 13 Personen um den Tisch; einer davon starb am folgenden Tag. Nun wird
45 Vgl. z.B. Daxelmüller, Das andere Salz. 46 Manfred Treml/Wolfgang Jahn/Evamaria Brockhoff (Hg.): Salz Macht Geschichte (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 29/95). Augsburg 1995.
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man Leonardo da Vinci (1452-1519), jenem Universalisten der Renaissance, der nicht nur die Malerei, sondern auch die Medizin, die Anatomie (verbotenerweise), die Ingenieurskünste, die Aeronautik und andere Künste beherrschte, nicht vorwerfen, ein ängstlich-abergläubischer, irrational denkender Mann gewesen zu sein. Mit einem seiner Hauptwerke, dem Mailänder Abendmahl von 1495 bis 1498 im Refektorium des Mailänder Klosters S. Maria delle Grazie haben sich die Kunsthistoriker ebenso wie die Spinner, die im androgynen Johannes Maria Magdalena, die Ehefrau Jesu und Mutter dessen Kinder sahen, intensiv auseinandergesetzt. Doch sie übersahen ein winziges Detail: Der Verräter Judas ist eingebunden in eine Dreiergruppe mit Johannes und Petrus zur Rechten Christi. Mit seinem rechten Unterarm stützt er sich auf dem Tisch ab, mit der Hand greift er nach dem Geldbeutel mit dem Judaslohn von 30 Silberlingen. Dabei hat er das Salzfässchen umgestürzt, dessen Inhalt sich über den Tisch verteilt. Durch das Abblättern der Farbe schon zu Lebzeiten Leonardos und durch zahlreiche spätere Restaurierungen verschwand dieses Detail und wurde übermalt. Doch frühe Kopien und Stiche überliefern die ursprüngliche Situation. In einem winzigen, leicht übersehbaren Bilddetail verweist der Maler auf das drohende Unglück. Das Bild gerät in zeitliche Bewegung, indem es vorwegnimmt, was passieren wird, und den Menschen der Renaissance ist dieses Detail sicherlich nicht entgangen.47
47 Birgit Löffler: Salz als Symbol. Zu seiner Bedeutung in der christlichen Kunst. In: Manfred Treml/Wolfgang Jahn/Evamaria Brockhoff (Hg.): Salz Macht Geschichte. Aufsätze (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 29/95). Augsburg 1959, S. 387-393. Nicht unerwähnt für die quasisakramentale Bedeutung des Salzes sei der bis heute ausgesprochene Ratschlag, der Schneckenplage im Gemüsegarten mittels Salz Herr zu werden. Diese Bekämpfung zeigen die 1627 in Rotterdam erschienenen Emblemata moralia et aeconomica des Jacob Cats (1577-1660): Eine »schleimigt arge Schnecken«, eine Personifikation der Sünde, kriecht durch einen Raum. Sie wird mit Salz bestreut, damit sie vergehe wie Schnee unter der Sonne: »Dann [nach dem Bemerken der sündhaften Gedanken] muß man sich selbst bequemen/Und das Saltz der Weisheit nehmen/Das uns aus der Schrift bewust/Und kann widerstehn der Lust.« Löffler, Salz als Symbol, S. 391.
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Abbildung 3: Leonardo da Vinci, Abendmahl; Kopie in der Abtei von Tongerlo 1507-1510 (Norbertijnenabdij, Tongerlo/Antwerpen); Ausschnitt mit umgestürztem Salzfass
Ich nehme hier weder die Zahl 13 noch das verschüttete Salz zum Anlass, um über den kleinen Aberglauben zu philosophieren. Plötzlich ist die Darstellung des Abendmahls nicht mehr nur ein Andachtsbild zum Thema der Eucharistie, sondern ein sehr menschlicher Hinweis auf die sich daran anschließende Tragödie, auf den Prozess, die Kreuzigung und den Tod Jesu. Doch war Leonardo da Vinci der einzige Maler, der sich zur Darstellung der Vorankündigung zukünftiger Ereignisse der Bildsprache des Aberglaubens bediente? Der silbrig glänzende Mond gilt in der westlichen Kultur als kalt, als gefährlich, als angsterregend. Ich will mich jetzt nicht mit Mondmythologien und Mondsüchtigen, mit Mondkalendern und dem Einfluss des Mondes auf das irdische Leben, auf Ebbe und Flut, auf die Menstruation und das Wachstum der Natur auseinandersetzen, das bereits Plinius d. J. (61/62-113) kannte. Festzuhalten ist vielmehr, dass der Mond eine wichtige Rolle bei den Vorstellungen über operative Magie spielte. Wer die Verbindung von Mond und Menstruationsblut kundig anzuwenden weiß, erhält kaum glaubliche zauberische Kräfte. Dies ist nicht hexerischer Unsinn, sondern bei Philipp Aureolus Theophrast Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541), nachzulesen. Der Mond verkörpert die Nacht und die Dunkelheit, sein Licht
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enthält, im Gegenteil zur Sonne, weder Leuchtkraft noch Wärme. Er besitzt seinen festen Platz im Glauben an Werwölfe und die Wesen der Nacht. In einem um 1500 entstandenen Freskenzyklus in der Kirche von Tågerup auf der dänischen Insel Lolland weisen in der Kreuzigungsszene Sonne und Mondsichel zusammen auf den Eintritt der Sonnenfinsternis beim Tode Christi hin. Doch die Anordnung der beiden Himmelskörper über dem Querbalken des Kreuzes ist in einer Kultur, in der rechts als gut, links als böse gilt, in der Christus zur »Rechten des Vaters«, der Gast zur Rechten des Gastgebers sitzt, nicht zufällig gewählt und wird durch weitere Bildinformationen unterstützt: Ein Engel nimmt die aus dem Mund ausfahrende Seele des zur rechten Seite Christi gestorbenen guten Schächers in Empfang, während zur Linken der »böse« Schächer seine Seele dem – wegen Platzmangels nicht mehr dargestellten Teufel – übergibt. Der Mond steht für eine Reihe eher negativ konnotierter Phänomene. Den Zusammenhang zwischen Mond und Menstruation hatten als Dichter bereits Homer in der Ilias (21, 483) und als Arzt Pseudo-Hippokrates beschrieben. Beim Schneiden der Haare und Nägel habe man sich nach dem Mond zu richten, so Cato (De agri cultura 37, 3-4). Erneut tritt das Bildhafte deutlich hervor: Im Zauber gilt nach dem Gesetz der Sympathie,48 dass – ähnlich wie die Schwundformel Abracadabra abnimmt – auch das Beschworene abnehmen muss. Der Schwund tritt ein bei abnehmendem Mond, der Zuwachs bei zunehmendem. Würmer, Ungeziefer, Hühneraugen, Hämorrhoiden, Gicht und Fieber vergehen bei abnehmendem, Pflanzen, Früchte, Tiere und Menschen wachsen und gedeihen bei zunehmendem Mond.49 Dennoch bleibt der Mond ambivalent. Er ist unheimlich. Dank der Überlieferung durch die Evangelisten stellen wir uns vor, dass das Letzte Abendmahl am Abend stattgefunden haben müsse, und kulturell bestätigen wir dies durch den Seder Pessach, der das Pessachfest nach Sonnenuntergang einleitet, wie es im Judentum bis heute gebräuchlich ist. Die Künstler symbolisierten die Dunkelheit des Abends und der Nacht häufig durch zwei Kerzen auf dem Tisch. Im dänischen Tønder und im benachbarten Ubjerg
48 S. Christoph Daxelmüller: Similia similibus. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 12, Lfg. 2. Berlin/New York 2006, Sp. 681-683; ders.: Sympathiezauber. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 13, Lfg. 1. Berlin/New York 2008, Sp. 101-105. 49 Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart 2005, S. 302-304, hier S. 304.
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aber hat der Maler die Szenerie weitaus eindrucksvoller ausgestaltet. Durch ein offenes Fenster scheint die fahle Mondsichel herein. Dieses Detail entstammt weder der künstlerischen Fantasie noch der Absicht, in einem Nachtbild Effekte von Licht und Dunkelheit zu erzeugen. Es ergibt sich vielmehr aus der Bildhaftigkeit und der Bildersprache, mit der Unglück dargestellt werden kann. Dies gilt auch für das Altarbild aus der Königheimer Pfarrkirche St. Martin, welches das Martyrium des hl. Johannes von Nepomuk (um 1350-1393), den gewaltsamen Sturz von der Moldaubrücke in Prag zeigt. Mond und Dunkelheit dienen hier nicht als (historische) Zeitangabe für ein widerwärtiges Spektakel, sondern sind Teil einer historischen Bildgrammatik, die Bilder auf mehrfache Weise zu verstehen hilft. Eine der Signifikanten von Aberglaube besteht darin, dass zwischen Objekt/Ursache und Wirkung kein physikalisch mess- und experimentell erklärbarer Zusammenhang besteht. Lenz Kriss-Rettenbeck formulierte dies – auf theologischer Ebene – am Beispiel der Breverl: »In Gebrauchsanweisungen dieser Art schlägt sich eine theologische Lehrmeinung nieder, die sich allerdings nicht als allgemeingültig durchsetzen konnte. Nach Analogie der Sakramente wird den auf den Zetteln geschriebenen Andachtsgebeten, heiligen Namen und Zeichen, Segensgebeten und Exorzismen eine Wirkung zuerkannt, die ihnen teils aus sich selbst, aber in den meisten Fällen doch auf Grund einer kirchlichen Segnung zukommt. Allerdings werden vielfach Einschränkungen, die die Wirkung abhängig machen von der moralischen und geistigen Haltung des Gebrauchenden, gemacht. Sowohl in den kirchlichen Lehrbüchern als auch in der kirchlichen Praxis gibt es aber mindestens seit dem 3. Jahrhundert die gegenteilige Auffassung, daß derartigen Dingen in keiner Weise eine Wirkung ex opere operato zuzusprechen ist.«50
BILD UND BILDUNG: BILDEN, NACHBILDEN, ABBILDEN – DAS F EST J OHANNES D . T. 1762, im Zeitalter der Verbote alles »Volksfrommen«, der Wallfahrten und der Krippen, der Prozession und der religiösen Spiele, entschloss man sich in Regen im Bayerischen Wald, auch weiterhin Passionsspiele aufzuführen.
50 Kriss-Rettenbeck, Bilder und Zeichen, S. 35.
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Man erhoffte sich dadurch eine Verstärkung der Frömmigkeit und einen »Seelennutzen« des »in hiesiger Walrefier wohnent grob und einfältigen Paurn volck«, so die Begründung der Gemeinde Regen. Je ungebildeter und dümmer das Volk, desto höher der Bedarf an Bildern und bildhaften Handlungen. Aberglaube hat über die Bilder hinaus sehr viel mit Bildung zu tun, und der Mensch benötigt Bilder so dringend wie Nahrung. Denn auch für Gebildete wie etwa die Jesuiten stößt das Vorstellungsvermögen häufig an seine Grenzen. So betonte Ignatius von Loyola (1491-1556) die Bedeutung von Bildern als Hilfsmittel etwa bei der Kontemplation, um etwa die Scheußlichkeit der Hölle oder die Leiden Christi am Kreuz nachempfinden zu können.51 Man könnte hier mit der Verbildlichung des Schmerzes als Frömmigkeitserlebnis direkt anschließen und auf die alljährlich am Karfreitag auf den Philippinen stattfindenden Kreuzigungen verweisen.52 Ich will es hier am Beispiel des Festes des hl. Johannes d. T. versuchen. Denn bekommt man in unseren Breitengraden bei der Taufe gerade einmal einige wenige Spritzer Weihwasser ab, werden auf den Philippinen schwere Geschütze aufgefahren: Bei der Feier des Heiligen rückt hin und wieder die Feuerwehr aus, um die kreischende und jubelnde Menge mit dem Wasserwerfer abzuspritzen. Begraben ist der Heilige der Überlieferung zufolge im Dom von Genua, mehrere Ampullen seines kostbaren Blutes werden in Neapel in der Kirche San Gregorio Armeno aufbewahrt. Sie sollen sich alle verflüssigt haben
51 Mabel Lundberg: Jesuitische Anthropologie und Erziehungslehre in der Frühzeit des Ordens (ca. 1540-ca. 1650) (= Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Doctrinae Christianae Upsaliensia, Bd. 6). Uppsala 1966, S. 164; vgl. hierzu Christoph Daxelmüller: Zauberlampen, Weihnachtskrippen, Jesuiten. Frömmigkeit und die Kunst der Illusion in der Gegenreformation. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 35 (2003/2004), S. 27-52; ders.: Illusionen, Ängste, Affekte. Das jesuitische Spiel mit der Wahrnehmung in der Gegenreformation. In: Michael Prosser-Schell (Hg.): Szenische Gestaltungen christlicher Feste. Beiträge aus dem Karpatenbecken und aus Deutschland (= Schriftenreihe des JohannesKünzig-Instituts, Bd. 13). Münster/New York/München/Berlin 2011, S. 125-156. 52 Zum Brauch der Kreuzigung (Selbstkreuzigung) s. Christoph Daxelmüller: »Süße Nägel der Passion«. Die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute. Düsseldorf 2001.
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(und sogar noch verflüssigen) – wie auch das Blut des Stadtpatrons San Gennaro.53 Johannes d. T. lebte in der Wüste nicht eben luxuriös und legte auch keinen großen Wert auf sein Äußeres. Härene Kleider soll er getragen haben. Um sich dieses asketische Leben vorstellen zu können und dem Heiligen durch Abbildung näher zu kommen, tragen die Gläubigen Kostüme aus getrockneten Blättern und reiben sich mit Dreck ein. Darüber, dass es das fröhlichste Fest auf den Philippinen sei, herrscht Einigkeit, mit Eimern und Schläuchen sorgen die Teilnehmer für klatschnasse Kleidung auch von Passanten und Autofahrern, und häufig arten die Prozessionen zu Schlammschlachten aus. Das Spektakel zieht alljährlich zahlreiche Touristen an. Einige tragen trotz des schwülwarmen Wetters Regenmäntel, um trocken zu bleiben. Die philippinische Amtskirche steht diesem volksfromm-vergnüglichen Treiben wie auch den Geißelungen und Kreuzigungen am Karfreitag mit äußerster Skepsis gegenüber. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hätten sich die Aufklärer über diese Bildhaftigkeit von Frömmigkeit mit beißendem Spott als Aberglauben lustig gemacht.
ABERGLAUBENSBEKÄMPFUNG ZWISCHEN AUFKLÄRUNG UND G EGENWART , V ERNUNFT UND T RADITION Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Neuerung zusammenkommen, um sich von hier aus in mehreren Wegen wieder in unterschiedlichen Richtungen zu verlaufen. »Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; deswegen schadet’s dem Dichter nicht, abergläubisch zu sein«, so Johann Wolfgang von Goethe in seinen Maximen und Reflexionen, aber: »Je weniger Aberglaube, desto weniger Fanatismus, und je weniger Fanatismus, desto weniger Unheil«, so Voltaire in seinem
53 Lucia Malafronte/Carmine Maturo: Urbs sanguinum. Itineraria alla ricerca dei prodigi di sangue a Napoli. Santa Patrizia, San Giovanni Battista, San Pantaleone, San Lorenzo, Santo Stefano Protomartire, Sant’Alfonso de’Liguori, San Luigi Gonzaga, San Gennaro. Napoli 2000.
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Philosophisches Wörterbuch über die Vorteile einer soliden aufgeklärten Bildung. Weder die Vernunft der Frühaufklärung an den Universitäten in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648)54 noch die Beschwörung des menschlichen Verstandes durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts waren in der Lage, die letzten Reste des Irrationalen zu beseitigen. Man schwankte zwischen den beiden Extremen. Wolfgang Amadeus Mozart hatte sich der Bildsprache des Aberglaubens bedient, um sich über seinen Vater Leopold lustig zu machen (s. oben), während dieser ausführlich eine Sonnenfinsternis beschrieb, die am 1. April 1764 Paris in Aufregung versetzte. Bereits 14 Tage zuvor hätten, so Leopold Mozart, »die Gläserer in Paris alle alte Trümmer von zerbrochenen Gläsern zusammengesucht […] und theils in form eines Octav-blätls, theils wie es der Glasscherbe gab, solche blau, oder vielmehr schwarz anlauffen« lassen. Verwundert zeigte er sich über den »pöbelhaften Aberglauben, daß diese Finsterniß so schwer seyn werde, daß ein Pest in der Folge zu beförchten seye«. Seinen Bericht über die Sonnenfinsternis schloss er mit der hämischen Bemerkung ab, dass »die Glaserer ihre Gläser nicht umsonst gemacht, aber die Käuffer ihr Geld umsonst ausgegeben« hätten, da es bei starkem Regen nicht wesentlich dunkler wurde als bei einer normalen Dämmerung.55 Die Unsicherheit der Deutung, die den »pöbelhaften Aberglauben« der einfachen Menschen ebenso betraf wie die Erklärungsversuche gebildeter Eliten, bezog sich vor allem auf die Spektrologie, die »Gespensterkunde«, und das Erscheinen von Geistern.56 Als Wilhelmine, Markgräfin von Bay-
54 Christoph Daxelmüller: Disputationes curiosae. Zum »volkskundlichen« Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 5). Würzburg 1979; Adolf Spamer: Zur Aberglaubensbekämpfung des Barock. Ein Handwörterbuch deutschen Aberglaubens von 1721 und sein Verfasser (Georg Christoph Zimmermann). In: Miscellanea Academica Berolinensia II, 1. Berlin 1950, S. 133-159. 55 Zit.n. Palm, Der Wolfgang ist fett, S. 47. 56 Johann Heinrich Jung-Stilling: Theorie der Geister-Kunde, in einer Natur- Vernunft- und Bibelmäsigen Beantwortung der Frage: Was von Ahnungen, Gesichten und Geistererscheinungen geglaubt und nicht geglaubt werden müße. Nürnberg 1808; vgl. zuvor Petrus Thyraeus: De apparitionibus spirituum tractatus duo.
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reuth (1709-1758) und Lieblingsschwester des Preußenkönigs Friedrich II. (1712-1786), in dem von ihr bewohnten Teil des Schlosses unerklärliche Geräusche hörte, kamen für sie zwei Erklärungen in Frage: Ratten, die unter den Bodendielen Lärm machten, oder Anzeichen für einen Todesfall innerhalb der Familie (der Hohenzollern).57 Zu bekannt war die vor allem mit der Kulmbacher Plassenburg verbundene Erzählung von der »Weißen Frau«,58 jener Agnes Gräfin von Orlamünda,59 deren Erscheinen einen Todesfall ankündigte und der Johann Heinrich Jung-Stilling das Titelkupfer seiner »Geister-Kunde« widmete.60
Köln 1600; ders.: Loca infesta, hoc est: De Infestis, obmolestantes daemoniorum et defunctorum hominum spiritus, locis liber unus. Köln 1598. 57 Wilhelmine von Bayreuth. Eine preussische Königstochter. Glanz und Elend am Hofe des Soldatenkönigs in den Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth. Aus dem Französischen von Annette Koln. Neu hg. von Ingeborg Weber-Kellermann (= insel taschenbuch 1280). Frankfurt a.M. 1990, S. 394. 58 Gustav Schmidt (Hg.): Auf den Spuren der »Weißen Frau«. Bayreuth 1994; Karl Stritzke: Die Weiße Frau und andere fränkische Sagen. Nürnberg 1948; Martin Wähler: Die weiße Frau. Vom Glauben des Volkes an den lebenden Leichnam. Kulmbach 1984 (Nachdruck der Ausgabe Erfurt 1931). 59 Lorenz Kraussold: Die weiße Frau und der orlamündische Kindermord. Eine Revision der einschlagenden Dokumente. Erlangen 1869. 60 Jung-Stilling, Geister-Kunde.
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Abbildung 4: Titelkupfer von L. Schlommer in: Johann Heinrich Jung, Theorie der Geister=Kunde, Nürnberg, 1808
Die Gemächer des Erbprinzen, so Wilhelmine von Bayreuth in ihren Memoiren, »bestanden aus zwei großen ineinandergehenden Zimmern und einem Nebenkabinett. Diese Zimmer hatten nur zwei Ausgänge; der eine durch mein Schlafzimmer, der andere durch einen kleinen Vorraum, wo sich zwei Schildwachen und ein Diener des Prinzen befanden. In der Nacht vom 7. auf den 8. November hörten die zwei Schildwachen und der Diener lange Zeit hindurch Schritte in dem großen Zimmer, worauf sie Klagen und endlich furchtbare Weherufe hörten. Wiederholt traten sie ein, um nachzusehen, ohne etwas zu finden, doch kaum waren sie draußen, so fing der Lärm von neuem an. Sechs Schildwachen, die einander in dieser Nacht ablösten, sagten alle dasselbe aus.«61
61 Wilhelmine von Bayreuth, Eine preussische Königstochter, S. 394.
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Ihr Bruder, dem sie sich anvertraute, tat die Erscheinungen entschieden ab. Die Zeugen seien unzuverlässig, die Geräusche rührten von einer Katze her, das Bayreuther Schloss sei alt, der Lärm könne von Ratten zwischen den Dielen stammen, und mit unverkennbarem Spott: »Das Geseufze rührte vielleicht von einem Windspiel her, das hinauswollte.«62 Obwohl sich Wilhelmine wie ihr Bruder auch der Vernunft als dem einzigen Erkenntnismittel des Seins verschrieben hatte, stand sie der Wirklichkeit der Geschehnisse keinesfalls nur skeptisch oder gar ablehnend gegenüber. Vielmehr entdeckte sie eine Grenze des Verstandes und schrieb hierüber an Friedrich: »Was die Geister betrifft, so finde ich überall nur Thomasse. Obwohl ich auch ein Thomas bin, kann ich Ihnen versichern, es sind hier so übernatürliche Dinge geschehen, daß man nicht weiß, was man davon halten soll. Man hat alles gründlich untersucht, und es gibt hier sehr beherzte Leute, die den Dingen auf den Grund kommen wollten, aber man hat nichts entdeckt. […] Da muß ich doch sagen, daß es viele geheime Dinge in der Natur gibt, die über unseren Verstand gehen und die wir nicht ergründen können.«63
Auf vergleichbare Verunsicherungen zwischen neuer Vernunft und altem Aberglauben, zwischen rationalen und irrationalen Erklärungen stoßen wir im 18. Jahrhundert allenthalben, nicht nur beim ungebildeten Volk, sondern auch bei der Bildungselite der Universitätsstädte, wie etwa der Fall der »Jenaischen Christnachtstragödie« von 1715 zeigt, der europaweit für Aufsehen sorgte. Doch ob in der »Volksaufklärung«64 oder in der Predigt – der Kampf gegen den Aberglauben bedeutete stets auch dessen weitere Verbreitung. Abergläubische sind »einfältige Leuth«, so der Dorfpfarrer Franz Anton Oberleitner,65 was als Aberglaube anzusehen war, hing vom jeweiligen Standpunkt, von den Vorgaben der Wissenschaft ab und war Wandlun-
62 Thiel, Wilhelmine, S. 160. 63 Ebd. 64 Z.B.: Die gestriegelte Rocken-Philosophie, Oder Aufrichtige Untersuchung derer Von vielen super-klugen Weibern hochgehaltenen Aberglauben. Chemnitz 1718. 65 Franz Anton Oberleitner: Simplicium Leges, Das ist: Geistliche und unfehlbare Bauren-Regeln. Augsburg 1748; s. Elfriede Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddeutscher Barockpredigten. Stuttgart 1991, S. 191.
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gen unterworfen.66 Aller Aberglaube sei alte Wissenschaft, jede Wissenschaft neuer Aberglaube, so Franz Strunz. Abbildung 5: Die gestriegelte Rocken-Philosophie, […] Das Erste Hundert, Chemnitz 1718, Titelkupfer und Titelblatt
Immerhin kam mit den Aufklärern, so etwa mit Bartholomäus Anhorn (16161700) und seiner Magiologia, endlich die Unterscheidung von »leichtsinnigem« Aberglauben und der den wahren Gott leugnenden und dem Teufel dienenden Zauberei.67 Anhorns Modell ging von Aberglaube und Zauberei als zwei dem Menschen an Leib und Seele schädlichen Lastern aus, die miteinander verwandt seien, nach Tertullian sogar so eng, dass sie auch als Schwestern gelten dürften. Der Aberglaube finde sich teils in der Religion, teils in bürgerlichen und weltlichen Angelegenheiten. Aberglaube in der
66 Moser-Rath, Kirchenvolk, S. 193. 67 Bartholomaeus Anhorn: Magiologia. Christliche Warnung für dem Aberglauben und Zauberey. Basel 1674; s. Ursula Brunold-Bigler: Teufelsmacht und Hexenwerk. Lehrmeinungen und Exempel in der Magiologia des Bartholomäus Anhorn (1616-1700) (= Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 12). Chur 2003, S. 63.
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Religion bezeichne einen Gottesdienst, der nicht auf dem heiligen göttlichen Wort beruhe, sondern demselben zuwiderlaufe. Der Aberglaube im weltlichen Leben hingegen sei die eingebildete Kraft und Wirkung einer Sache, die sie weder nach der Natur noch nach der Verordnung Gottes besitzen könne.
D IE R ÜCKKEHR DES ALTEN A BERGLAUBENS IN DIE NEUE Z EIT In der Gegenwart treibt der Aberglaube die wunderlichsten Blüten, gerade im Rahmen der Selbst- und Fremdmedikation. Über Jahrzehnte hinweg hatte die Schulmedizin, gefördert von Unsummen öffentlicher Forschungsgelder, vollmundig auf ihre Erfolgsaussichten verwiesen. Aber sie gewann nur einige kleinere Scharmützel, konnte jedoch dem Tempo neuer Virenerkrankungen kaum mehr folgen, weder Krebs und Kreislauferkrankungen ausrotten noch an die Stelle des Todes die ewige Jugend setzen. So verwundert die Verärgerung der Enttäuschten ebenso wenig wie ihre Rache, die verzweifelte Suche nach körperlicher Gesundheit in Wellness, Bauernbad, Reiki, Bach-Blüten, Heu- und Kräuterkur bis hin zur Wunder-, Selbst- und Spontanheilung: Alternative Medizin heißt derzeit das Zauberwort, mit dem sich Geld verdienen lässt, sogar in Medien, die eigentlich über anderes berichten müssten. So stellte die Fernsehzeitschrift Gong anlässlich einer einschlägigen Neuerscheinung (s. unten) über die »heilende Kraft der Gebete« fest: »Gläubige Menschen leben länger und bleiben gesünder. Das belegen zahlreiche Studien. Nun werden alte Heilgebete wieder entdeckt«.68 Man mag im postaufklärerischen Zeitalter zwar mit Vertrauen auf Gott und die magia naturalis weiterkommen, doch es schadet keinesfalls, zur Bestätigung einen irdischen Fachmann und eine aufgeklärte Institution auf seiner Seite zu wissen: »Der italienische Internist Luciano Bernardi von der Uni Pavia wies nach, dass Gläubige während des Rosenkranz-Betens ruhiger atmen und der Blutdruck sinkt. Letzteres bewies auch der Kardiologe Professor Wolfram Völker von der Uni Würzburg. Er ließ 26 Hochdruckpatienten regelmäßig im Benediktinerkloster Würzburg
68 Gong Nr. 41, 16.-22. Oktober 2010, S. 10f., Zitat S. 10.
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meditieren. Verblüffendes Ergebnis nach zwei Monaten: Der Blutdruck der Studienteilnehmer war im Schnitt um zwölf Prozent gesunken.«69
Man kann diese Art der Argumentation zur Bestätigung des Irrationalen als ärgerliche Irreführung des Lesers bezeichnen, was jedoch nichts daran ändert, dass sie die Renaissance des Aberglaubens als objektiv bestätigbarem Wissen und als Handlungsalternative in der modernen Gesellschaft zu befördern und zu beschleunigen hilft. Dennoch geht es mir weniger um Wunderheiler an der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg, sondern um die Art der von der Illustrierten vorgestellten und zur Anwendung empfohlenen Gebete. Bei diesen handelt es sich um Texte aus der Sammlung des Gebetheilers Georg Lory aus dem bayerischen Voralpenland, die er der 1956 geborenen Gebetsheilerin Monika Herz aus Hohenpeißenberg überlassen hatte.70 Was hier als »Gebet« bezeichnet wird, läuft ansonsten in der volkskundlichen Aberglaubensforschung, etwa bei Adolf Spamer71 oder Irmgard Hampp,72 unter der Rubrik
69 Gong Nr. 41, 16.-22. Oktober 2010, S. 10f. Das Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Würzburg für das Wintersemester 2010/2011 verzeichnet zwar auf Seite 92 den Toxikologen und Pharmakologen Dr. rer. nat. Wolfgang Völkel sowie eine Reihe von »Völker« mit völlig anderen Vornamen und Fachzuweisungen, doch dies will für sich allein noch nicht viel bedeuten. Allerdings gibt es auch kein »Benediktinerkloster« in Würzburg, und ein Haus in der Stadt, das dem Kloster Münsterschwarzach gehört hatte, war wegen Personalmangels und Nichtnutzung bereits vor einer Reihe von Jahren verkauft worden. 70 Herz, Heilgebete. 71 Spamer, Aberglaubensbekämpfung; vgl. auch Adolf Spamer: Romanusbüchlein. Historisch-philologischer Kommentar zu einem deutschen Zauberbuch. Aus seinem Nachlaß. Bearbeitet von Johanna Nickel (= Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Volkskunde 17). Berlin 1958. 72 Hampp, Zauberspruch; verwiesen sei hier auch auf den »Klassiker« F(rederik) Ohrt: Danmarks Trylleformler (= F.F. Publications, Northern Series 3). København/Kristiania 1917; vgl. ferner Ronald Grambo: Norske trollformler og magiske ritualer. Oslo/Bergen/Tromsø 1979; Karl-Peter Wanderer: Gedruckter Aberglaube. Studien zur volkstümlichen Beschwörungsliteratur. Phil. Diss. Frankfurt a.M. 1976.
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»Segen« oder »Beschwörung«, einer ins Mittelalter zurückreichenden, aus der kirchlichen Benediktionsliteratur73 entstandenen und dem Verständnis einfacher Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts angepassten »magischen« Literatur. Sie enthält meist eine ätiologisierende Erzählung, aus der sich dann die spezifische Heilanwendung ergibt. Eine Spezifik der Texte sind die mehr-, in der Regel dreifache Rezitation kanonischer Gebete (Vater unser, Ave Maria) oder die Anrufung der Dreifaltigkeit. Insbesondere die Wiederholungen unterscheiden sie von der kirchlichen Anwendung und verleihen ihr jenen drängend-zwingenden Charakter, den man gerne dem operativen Zauber zurechnet.74 Eines dieser Gebete aus der Sammlung Lory/Herz, dessen Inhalt so gar nicht in die Gegenwart passen will, sei hier in voller Länge wiedergegeben: »›Im Namen Gottes‹//Unser lieber Herr Jesus Christ//hat viele Beulen und Wunden gehabt//und keine verbinden.//Sie gären nicht, sie beschweren nicht, es gibt auch kein Eiter nicht.//Thomas war blind, sprach ich,//das göttliche Kind.//So wahr die heiligen fünf Wunden sind//geschlagen, sie gerinnen nicht,//gejähren und geschwären nicht//und es gibt auch kein Eiter nicht.//Daraus nehme ich Wasser und Blut, das ist für alle Wunden und Schäden gut.//Heilig ist der Mann, der alle Schäden und// Wunden heilen kann.//Im Namen Gottes,//der heiligsten Dreifaltigkeit,//Da hilft Gott Vater, Gott Sohn,//Gott Heiliger Geist.//Amen.«75
Hier bewegt sich der Aberglaube in einer Zeit, die ihm nicht zusteht. Man erinnert sich unwillkürlich an die Fotografie von 1840, die Mozarts Witwe zeigt. Das Bild hat – wie könnte es auch anders sein – mit der postbarocken Idylle, in die man unsere Vorstellungen vom Komponisten, seiner Umwelt und seiner Zeit gedrängt hat, nicht das Geringste zu schaffen.
73 Adolph Franz: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. 2 Bde. Freiburg i.Br. 1909 (Nachdruck Graz 1960). 74 Vgl. zusammenfassend Christoph Daxelmüller: Beschwörung. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. I. München/Zürich 1980, Sp. 2061f. 75 Herz, Heilgebete, S. 100.
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UND WAS SONST ?
Glaubt man den vornehmlich im deutschen Kulturwiederholungskanal 3sat ausgestrahlten, meist in Österreich und von Österreichern produzierten Dokumentationen über Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Esoterik und Schamanen, Kräuterfrauen und Kraftorten, Amuletten und Alpenindianern, dann ist dieses Land durchflossen von Energieströmen, gesegnet mit Wallfahrtsorten als buchstäblich modernen Kernkraftwerken, belebt von Menschen, die Kräuter räuchern, sich der Mühe unterziehen, Steine zu komplizierten Spiralen und Labyrinthen zusammenzulegen. In Österreich scheint keine Höhle, keine Felsformation, kein bronzezeitlicher Schalenstein vor tiefschürfenden Überlegungen über das Irrationale sicher zu sein. Sind daher die Österreicher besonders anfällig für Aberglauben? 2011 veröffentlichte der Biologe Dr. Erich Eder im Skeptiker, dem Zentralorgan der »Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften« (GWUP), einen methodologisch erschreckenden Beitrag.76 Eine groß angelegte Fragebogenstudie zeige, dass mehr als ein Viertel der Wiener Gymnasiasten an Hellsehen, Hexerei und Kontakte mit dem Jenseits glaube, und fast noch erschreckender: Die Studie zeige, dass traditionell religiöse Glaubensinhalte unter den Schülern weit verbreitet seien. Religion und Aberglaube gingen Hand in Hand. 2000 Wiener Gymnasiasten wurden befragt, und diese geringe Zahl ließ sich leicht hochrechnen: »Da in Österreich mehr als 82 Prozent aller jungen Erwachsenen die Matura (Abitur) haben, erlaubt eine Studie an AHS-Schülern (AHS = allgemeinbildende höhere Schule) sowohl einen interessanten Einblick in die aktuellen Vorstellungen der jüngeren Generation als auch eine ungefähre Einschätzung des (wenigstens urbanen) Meinungsspektrums der nächsten Jahrzehnte.«77
Aufgemerkt: Die Gefahr kommt nicht mehr aus dem Osten oder von den Atomkraftwerken, sondern aus uns selbst, und die Österreicher sind die ersten, die dies erkannt haben. Am häufigsten stimmten die Wiener Gymnasias-
76 Eder, Zwischen Glaube und Wissenschaft. 77 Ebd., S. 62.
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ten folgenden Frageeinheiten zu: »1. Ich glaube an Gott. 2. Es gibt Leben auf anderen Planeten. 3. Wenn der Körper stirbt, existiert die Seele weiter.«78 Arme Wiener Gymnasiasten, die von einem Biologen schonungslos als abergläubische Altlasten zum Fanal gezerrt werden; er gelangt zu der fast kabarettreifen Schlussüberlegung, dass im modernen Menschen die »alten Denkmuster des Australopithecus« tief säßen, und dass uns »mittelfristig […] wohl nichts anderes übrig« bliebe, »als mit dem Aberglauben leben zu lernen, ihn augenzwinkernd als fixen Bestandteil der conditio humana zu akzeptieren«.79 Schöner kann ein Schlusswort nicht sein.
L ITERATUR Agrippa von Nettesheim/Heinrich Cornelius: De occulta philosophia sive de magia libri tres. Antwerpen 1531 (Köln 1533). Hans Christian Andersen: Mit Livs Eventyr. København/Kristiania 1908. Bartholomaeus Anhorn: Magiologia. Christliche Warnung für dem Aberglauben und Zauberey. Basel 1674. Charlotte Appel: Læsning og bogmarked i 1600-tallets Danmark (= Danish Humanist Texts and Studies 23). 2 Bde. Kopenhagen 2001. Hermann Bausinger: Zum Beispiel. In: Volksüberlieferung (Festschrift Kurt Ranke), hg. von Fritz Harkort, Karel C. Peeters und Robert Wildhaber. Göttingen 1968, S. 9-18. Hans Dieter Betz: Magic and Mystery in the Greek Magical Papyri. In: Christopher A. Faraone/Dirk Obbink (Hg.): Magika Hiera. Ancient Greek Magic and Religion. New York/Oxford 1991, S. 244-259. Elias Bredsdorff: H. C. Andersen. Mennesket og digteren. København 1979. Wolfgang Brückner: Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies. Berlin 1966. Wolfgang Brückner: Überlegungen zur Magietheorie. Vom Zauber mit Bildern. In: Leander Petzoldt (Hg.): Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie (= Wege der Forschung 337). Darmstadt 1978, S. 404-419.
78 Ebd. 79 Ebd., S. 64.
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Ursula Brunold-Bigler: Teufelsmacht und Hexenwerk. Lehrmeinungen und Exempel in der Magiologia des Bartholomäus Anhorn (1616-1700) (= Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 12). Chur 2003. Christoph Daxelmüller: Disputationes curiosae. Zum »volkskundlichen« Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 5). Würzburg 1979. Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993 (u.ö.). Christoph Daxelmüller: »Süße Nägel der Passion«. Die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute. Düsseldorf 2001. Christoph Daxelmüller: Beschwörung. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. I. München/Zürich 1980, Sp. 2061-2062. Christoph Daxelmüller: Bibliographie barocker Dissertationen zu Aberglaube und Brauch. Teil I. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 3 (1980), S. 194-238; Teil II. In: ebd. 4 (1981), S. 225-243; Teil III. In: ebd. 5 (1982), S. 213-224; Teil IV. In: ebd. (1983), S. 230-244; Teil V und Gesamtregister. In: ebd. 7 (1984), S. 195-240. Christoph Daxelmüller/Marie-Louise Thomsen: Bildzauber im alten Mesopotamien. In: Anthropos. Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde 77 (1982), S. 27-64. Christoph Daxelmüller: Exemplum. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, 2/3. Berlin/New York 1983, Sp. 627-649. Christoph Daxelmüller: Zum Beispiel: Eine exemplarische Bibliographie (Teil I). In: Jahrbuch für Volkskunde NF 13 (1990), S. 218-244; Teil II. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 14 (1991), S. 215-240; Teil III und Nachtrag. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 16 (1993), S. 223-244. Christoph Daxelmüller: Narratio, Illustratio, Argumentatio. Exemplum und Bildungstechnik in der frühen Neuzeit. In: Exempel- und Exempelsammlungen, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger (= Fortuna Vitrea. Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert, Bd. 2). Tübingen 1991, S. 77-94. Christoph Daxelmüller: Erzählen über Technik. Der Wandel des technischen Bewußtseins im Spiegel der »artes technicae«-Literatur vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1993), S. 39-55.
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Für einen Wandel der Diskurse um Superstition – Irrationalität – Spiritualität A NGELA T REIBER
S ÄKULARISIERUNGSPARADIGMA UND R ATIONALITÄTSKONZEPTE Die mit Superstition und Spiritualität transportierten Semantiken vom Irrationalen, des rational nicht Begründbaren und »Unvernünftigen« verweisen auch als sachbezogene Verständigungsbegriffe auf die enge Bindung an westliche gesellschafts- und wissenschaftshistorische Deutungskontexte. Ihre Problematik liegt zum einen in der Verbindung von Rationalisierungsprozessen der letzten zweieinhalb Jahrhunderte und deren Deutung in Rationalitätstheorien mit Nutzentheorem und zum anderen in der Koppelung von Rationalisierungs- und Säkularisierungsparadigma im Rahmen modernisierungstheoretischer Überlegungen. Damit ging die These einher, dass der gesellschaftliche Stellenwert und der Einfluss von Religion, insbesondere der institutionalisierten Religion, entsprechend zunehmender Rationalisierung zurückgingen. Dies sei Resultat der zwischen Naturwissenschaften und Religion seit der Aufklärung herrschenden »kognitiven Systemkonkurrenz«1 im Hinblick auf das Deutungsmonopol von Welterklärung. Rationales Denken, dem der Fortschritt von Wissenschaft und Technik zu verdanken sei, lasse das Bedürfnis und das Erleben von Transzendenz ver-
1
Vgl. Friedrich. H. Tenbruck: Wissenschaft und Religion. In: Jacobus Wössner (Hg.): Religion im Umbruch. Stuttgart 1972, S. 217-244, hier S. 222.
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schwinden. Je modernisierter eine Gesellschaft sei, desto gesellschaftlich irrelevanter werde die Religion. Ein solchermaßen fundamentaler Geltungsanspruch der Säkularisierungsthese für die Gesellschaften der Moderne wird längst in Frage gestellt. Die empirischen Befunde der letzten Jahrzehnte lehren anderes. Die Pluralität religiöser Lehren, Angebote und Praktiken verweist eindrucksstark auf die weitere Präsenz religiös oder spirituell gedeuteter transzendenter Erfahrungen oder eine Offenheit dafür. Peter L. Berger sprach 1994 lange vor philosophischen Diagnosen von der »postsäkularen Gesellschaft«2, in Sehnsucht nach Sinn von einer »Wiederverzauberung der Welt« mit Bezug auf Max Weber.3 In der zur allseits bekannten Formel gewordenen »Entzauberung« hatte dieser für die moderne »Wissenschaft als Beruf« beschrieben: »Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.«4
Von einem rationalistischen Standpunkt interpretiert man die dort im letzten Jahrzehnt diagnostizierte »Wiederkehr« der Religionen, die sogenannte Rereligionisierung, Respiritualisierung, als Wiederkehr des Irrationalen oder des Vormodernen, als Schattenseite der Rationalisierungsprozesse der Moderne. Das Irrationale, die Unaufgeklärtheit und Unvernünftigkeit werden hier zur kognitiven Konstruktion einer fehlgeleiteten Informationsverarbeitung von Wahrgenommenem, Gedeutetem, Erkanntem. Jeweilige Standards moderner (Natur-)Wissenschaft und des herrschenden »Alltagsverstandes« bilden den Maßstab rationaler Weltdeutung. Wenn diese Standards nicht mehr gemeinsam geteilt werden, sind Deutungen und Handlungen nicht mehr kommunizierbar und damit nicht mehr verstehbar. Sie können nicht
2
Der Begriff der postsäkularen Gesellschaft wurde von Jürgen Habermas in seiner berühmten Friedenspreisrede 2001 eingeführt. Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Frankfurt a.M. 2001.
3
Peter L. Berger: Sehnsucht nach Sinn: Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt a.M. 1994.
4
Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1922, 7. Aufl. 1988, S. 594.
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mehr schlüssig gewertet werden, erscheinen »irrational«. Irrational ist dann dasjenige, das herrschenden gesellschaftlich anerkannten Kategorien und Maßstäben, einem normativen Ideal des Effizienten widerspricht. Ex negativo in Beziehung gesetzt, wird auch Rationalität zu einem normativen und präskriptiven Begriff, »weil in seiner Verwendung immer eine zumindest implizite Be- oder Verurteilung der entsprechenden Handlung, Meinung usw. enthalten ist«5. Welchen Erkenntnisgewinn besitzen also das Rationale/Irrationale als wissenschaftstheoretische Kategorien für die kulturwissenschaftliche Untersuchung religiöser, spirituell oder superstitiös bezeichneter Deutungen und Handlungsweisen? Verstellen sie nicht eher einen verstehenden und klärenden Blick und Zugang auf menschliches Welthaben und Weltgestaltung? Konsequent von einem wissenschaftlichen Rationalitätsanspruch gemessen, geht es um die Überprüfung der Rechtfertigungsfähigkeit von Glaubensansprüchen, an deren Ende die These von der intrinsischen Irrationalität der Religion, des Religiösen insgesamt steht. Hierher gehört auch die Position, dass »magisch-mythische Deutungs- und Bewertungssysteme [das gleiche gilt für religiöse] als solche entweder im Hinblick auf ihre Rationalität oder überhaupt nicht aufgefasst und erforscht werden können«6. Johannes Weiß stellte bereits 1981 im Rahmen der Diskussionen um eine verstehende Soziologie fest, diese Position gründe in einer Verwechslung, bei der Rationalitätsunterstellung gehe es darum, das betreffende Deutungssystem als »wahr« zu akzeptieren. Vielmehr gehe es um die Art und Weise des »Für-Wahr-Haltens« der Akteure.7
5
Stefan Gosepath: Rationalität. In: Enzyklopädie der Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1999, S. 1337-1343, hier S. 1337.
6
Johannes Weiß: Rationalität als Kommunikabilität. Überlegungen zur Rolle von Rationalitätsunterstellungen in der Soziologie. In: Walter Sprondel (Hg.): Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns. Stuttgart 1981, S. 39-58, hier S. 41.
7
Ebd.
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S OZIALES H ANDELN ALS RATIONALES H ANDELN . I ST DIE E THNOGRAFIE DER L EBENS - UND ALLTAGSWELT EINE E THNOGRAFIE DES I RRATIONALEN ? Johannes Weiß nimmt hier Bezug auf die von Max Weber entwickelten Handlungs- bzw. Rationalitätstypen des Zweck- und Wertrationalen. Für die Sozial- und Geisteswissenschaften erlangten sie besondere Deutungsmacht und Prägekraft für Rationalitätsdeutungen und besitzen sie noch heute in der großen Diversität der inzwischen entwickelten Rationalitätstypen und -konzepte.8 Weber ging von der prinzipiellen Sinnhaftigkeit sozialen Handelns aus, das umso verstehbarer sei, je rationaler, und das meint je absichtsvoller, bewusster, geplanter und erwartbarer, es verlaufe. Es handelt sich, wie er formulierte, um »geschaffene, begrifflich reine Typen, denen sich das reale Handeln mehr oder minder annähert«. »Das reale Handeln verläuft in den großen Massen seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit seines gemeinten Sinns […]. Wirklich effektiv, d.h. voll bewußt und klar sinnhaftes Handeln ist in der Realität stets nur ein Grenzfall.«9 Weber unterschied zwischen erstens zweckrationalem Handeln, das bestimmt sei »durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ›Bedingungen‹ oder als ›Mittel‹ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigene Zwecke«. Davon unterschied er zweitens wertrationales Handeln, das gekennzeichnet sei »durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg«.10 Rationales Handeln folgt damit Orientierungsprinzipien, die das Spektrum der zeitgenössischen »üblichen«, herrschenden Rationalitätszu-
8
Hans Lenk/Helmut F. Spinner: Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick. Zur Rationalismuskritik und Neufassung der »Vernunft heute«. In: Herbert Stachowiak (Hg.): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. 3. Hamburg 1989, S. 1-31.
9
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausg. Tübingen 1980, S. 10.
10 Ebd., S. 12.
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schreibungen über legitimierte Kausalitäten deutlich erweitern. Seine »Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns« aber »dient […] als Typus (Idealtypus) um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflusste Handeln als ›Abweichung‹ von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen«. In Opposition zu rationalem Handeln und damit dem Irrationalen zugeordnet entwickelte er noch zwei weitere Idealtypen, den des affektuellen und emotionalen Handelns durch »aktuelle Affekte und Gefühlslagen« und den des traditionalen Handelns »durch eingelebte Gewohnheit«.11 Vor allem Formen des nicht minder sozialen traditionalen Handelns werden als nicht rational bewertet: »ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein ›sinnhaft‹ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann. Denn es ist sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize.«12
Theodor Adornos späteres Urteil geht da konform: »Tradition steht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diese in jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Metier, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen; das hat unwillkürlich auf Geistiges sich übertragen.«13
Die Ethnografie der Lebens- und Alltagswelt mit ihren Entäußerungen wäre damit per se vorwiegend eine Ethnografie des Irrationalen.14 Weber verfolgte die Handlungstypen des Affektuellen und Traditionalen heuristisch an historisch sozialen Daten nicht weiter, obwohl traditionales Handeln auf sozialen Normen, Regeln, Zeichen, Symbolen beruht, die von den Mitgliedern gekannt, mehr oder weniger anerkannt werden, die zweck- und wertgebundene Bedeutung im gesellschaftlichen wie im individuellen Handeln
11 Ebd., S. 3. 12 Ebd., S. 12. 13 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft I (= Gesammelte Schriften Bd. 10/1+2). Darmstadt 1998, S. 310-320, hier S. 310. 14 Vgl. Weiß, Rationalität als Kommunikabilität, S. 45.
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erhalten können, allerdings ohne, dass dies den Handelnden immer bekannt oder bewusst sein muss. Die Zuerkennung von Eigenlogik des Handelns der anderen innerhalb ihrer eigenen kulturellen Bedeutungssysteme, ein Verstehen als ein Erkennen von Sinnhaftigkeit und damit eigentlich Rationalitätsgründen wird auf diese Weise wieder eingeschränkt.15 Forschungen zum adaptiven Verhalten (Anpassungsfähigkeit) und zu Kognition zeigen, dass es viele Situationen gibt, in denen intuitive Entscheidungen oft mit Hilfe von unbewussten Faustregeln (das, »was jedermann weiß«16) erfolgreicher als systematische Abwägungsprozesse zum Ziel führen.17 Das heißt im Alltag folgen wir bei emotionalen, intuitiven Entscheidungen oft implizitem Wissen, sogenannten fungierenden unbewussten Sinnkonzepten und Deutungsmustern, ohne deren Anteil für Problemlösungen und Alltagsbewältigung wahrzunehmen.18 Die Zweckfreiheit kreativen Handelns heißt nicht, dass es sich nicht um vernünftige und logische Gestaltungen handele. Nach Maßstäben der Wissenschaft mögen spezifische Praktiken irrational sein, folgen aber einer eigenen Logik. Sie begründen, ordnen, rechtfertigen, sind Erklärungsmuster zur Erschließung von Wirklichkeiten. Dort, wo sich die Akteure auf das Alte, Altbewährte, das Sichere und das Heilbringende beziehen, existiert allemal eine sinnhafte Bedeutung. Sinnentleert werden die Dinge dort erachtet, wo der Sinn nicht mehr geteilt werden kann, das Handeln nicht mehr verständlich und kommunizierbar ist, wo Plausibilitätsstrukturen verloren sind, weil sie einer anderen Sinnwelt angehören. In diesen anderen, neuen Sinnhorizonten gelten sie als überholtem Denken entstammend, werden in den historischen Prozessen der Modernen zuneh-
15 Angela Treiber: Interpretamente historischer Forschung über Superstitionen und magische Mentalitäten. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 19 (1996), S. 81-125, bes. S. 92-97. 16 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 70. 17 Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München 2007. Hier wird unterschieden zwischen »Bounded Rationality«, »Ecological Rationality« und »Social Rationality«. 18 Christoph Auffarth/Hans G. Kippenberg/Axel Michaels (Hg.): Wörterbuch der Religionen. Stuttgart 2006, Deutungsmuster S. 107-109, hier S. 107.
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mend »irrationale« Handlungen.19 Im geschichtlichen Fortgang zeigt sich zudem, dass normative Grenzziehungen zwischen magischer, naturwissenschaftlicher und christlicher Praxis in den als Aberglaube oder Superstitio benannten Handlungen unterlaufen wurden. Nicht nur aus eigenen empirischen Erfahrungen mit der Umwelt entwickelte man die Verfahrensweisen, sondern theologische, wissenschaftliche, physikalische oder medizinische Erklärungen wurden eingebunden. Dies geschah oft als »cultural lag«, als Nachhinken überholter Kenntnisse gemessen am herrschenden Wissensstand, und dies meist in missverstandener, verzeichneter abstrahierter Form, »befand sich das Rezipierte ehedem im systematischen Wirkzusammenhang, bewirkte es etwas nach Maßgabe seines systematischen Ortes, so bedeutet es nun etwas aufgrund seiner in der superstitiösen Rezeption entfalteten Zeichenhaftigkeit […]«20. Dieter Harmening charakterisiert den Prozess der Entstehung abergläubischer Formen als Analyse und Synthese, damit als Leistung: »[D]as, was zuerst nur und materiell als verstümmeltes und entleertes am Aberglauben erscheint, gewinnt als Rezipiertes eine neue, gültige Form von anthropologischer Gesetzlichkeit und somit von universeller Bedeutung, ist Ausdruck einer eigenen Weise des Welthabens geworden.«21
Irrationalitätszuschreibungen für kulturelle Praktiken, vor allem jene, die sich am wissenschaftlichen Weltbild Ursache – Wirkung orientieren, transformieren naturwissenschaftliche Maßstäbe von Gesetzmäßigkeiten in normative Wertmaßstäbe dessen, was erfolgreiche Problemlösung sei.22 Der Maßstab des Beobachters wird an den der Akteure gelegt, die Ebenen-Differenz verwischt. Die Begriffsverwendung besitzt damit normierende oder
19 Dagmar Fenner: Theoretische und praktische Rationalität. Eine Anwendung auf die aktuelle Suiziddebatte. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), S. 51-76; Stefan Gosepath: »Rationalität, Rationalisierung III. – analytische Philosophie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8. Basel 1992, S. 62-66. 20 Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart 2005, S. 13. 21 Ebd., S. 14. 22 Vgl. Bernhard Streck: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. Eine Einführung. Wuppertal 1997, S. 22ff.
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sanktionierende Funktion, wird präskriptiv. Das In-Bezug-Setzen zu einem gültigen Kriterienkatalog eines Vernünftigseins lässt die von Harmening benannte »eigene Weise des Welthaben[s]« aus dem Blick geraten und damit das Verstehen dieser soziokulturellen Welt.
Z UM S TELLENWERT VON (I R -)R ATIONALITÄTSUNTERSTELLUNGEN AN KULTURELLE P RAKTIKEN Ich greife drei Beispiele für verschiedene Praktiken zur Alltags- und Lebensbewältigung im Zusammenhang naturwissenschaftlichen technologischen Wissens und seiner Beherrschung heraus, um hier den oben diskutierten epistemologischen Stellenwert von Irrationalitätsunterstellungen an religiös, spirituell oder superstitiös gedeutete Praktiken nochmals kritisch zu reflektieren. Gabriele Goettele schildert in einer ihrer Reportagen des Bandes Ermittlungen in Ost und West unter dem Titel Strahlenschutz ihre Beobachtungen und Begegnungen auf dem Gelände des Kernkraftwerkes Greifswald.23 Es wurde 1990 stillgelegt, von der Treuhand abgewickelt und mit einer Ersatzwärmeversorgungsanlage mit Ölheizwerken ersetzt. Im Juli 1991, ein Jahr nach ihrem ersten Besuch, sind die einstigen Warnschilder verschwunden, die versperrten Tore stehen offen, in unmittelbarer Nachbarschaft das FDJ-Jugend-Objekt eine Großbaustelle, noch vor einem Jahr erholten sich dort Jugendliche am Strand und Meer. Die im Abklingbecken und im Zwischenlager liegenden Brennstäbe werden von Wachkommandos mit Hunden geschützt. Auffällig viele Katzen streunen auf dem Gelände, das Hobby des Betriebsarztes, wie sich herausstellen wird, ihr Gesundheitszustand diente als »Indikator für die radioaktive Belastung bzw. Nichtbelastung«. Ein Wegweiser führt nun zum »Informationszentrum«. Dort trifft sie einen ca. 50 Jahre alten Angestellten, der seit 1973 als Meßingenieur tätig war, unter anderem verantwortlich für die Vorbereitung der Generalinstandsetzung und Instandhaltung, und der nun mit kleinem Posten für Öf-
23 Gabriele Göttle: Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West. Frankfurt a.M. 1994, S. 120-130.
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fentlichkeitsarbeit dort arbeitet. Die Gesprächstranskription wird zur unkommentierten Erzählung. In den für uns zentralen Auszügen gebe ich sie wieder: »G: Und heute erklären sie den Besuchern in einem stillgelegten Atomkraftwerk die Vorzüge der Kernenergie. I: Na ja, da werde ich natürlich oft gefragt nach den Risiken, die es gab, und nach den Gefahren der Kernenergie überhaupt … was das KKW- Greifswald angeht, so waren unsere kraftwerksbedingten Radioaktivitätsabgaben sehr gering, und sie verursachten Strahlenbelastungen in der Umgebung, die um mehrere Größenordnungen unterhalb der natürlichen Strahlenbelastung lagen und somit weit unterhalb des in der Strahlenschutzverordnung festgelegten Grenzwerten. Aber mal meine persönliche Meinung dazu, sehnse mal, das ist doch eine ganz feine runde Sache, man schmeißt einmal im Jahr den Reaktor voll Brennstoff – legt ihm sozusagen ein Bündelchen Brennstäbe vor –, und schon läufts von alleine. Alle Unfälle, die passiert sind, waren rein subjektiv verschuldet. Wenn die Havarievorsorge stimmt und das Personal seine Sache versteht, ist das die sicherste und sauberste Energie der Welt. Übrigens, wir haben auch ein Kabinett zum Thema Sicherheit, in dem wir alle diese Fragen darstellen und erläutern können für fachlich vorgebildete Gruppen … und draußen im Vorhof dann noch die Exponate ›Kernenergie zum Anfassen‹ … […].«
Nach einiger Zeit kommt das Gespräch auf die Frage: »G: Sie gehen also nicht in den Westen, sondern werden hier ausharren? I: Ich glaube, ich bin zu alt. Aber man kann ja jetzt bei uns hier auch alles bekommen, alles kaufen überall hinreisen … jedenfalls könnte man, wenn das Geld da wäre. G: Die finanziellen Grenzen sind auch ziemlich undurchlässig. I: lacht Das stimmt, das haben wir gemerkt. Man hat uns eine Menge versprochen, damals. Naja ein paar Busfahrten haben wir bereits gemacht. Einmal ging’s nach Paris, drei Tage übers Wochenende, für Dreihundertfünfzig, sowas. Das war interessant, muss ich sagen, obwohl wir natürlich nicht viel gesehen haben. Und jetzt, waren wir noch in Venedig, Anfang März. Das ist ja eine sehr schöne Ecke da unten. Aber das waren eben solche Werbereisen, die sind viel zu kurz und oberflächlich, deshalb waren sie auch so billig. Trotzdem, es war schon ein Erlebnis für uns. G: Haben Sie was gekauft? I: Na, ja selbstverständlich! Solche Decken haben wir gekauft … G: Lamadecken!
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I: Ja, sehr warme, schöne Decken aus Lamahaar, allerdings waren sie nicht ganz billig … I: Im Kaufhaus hätten sie wesentlich weniger bezahlt dafür. G: Das ist schon klar, da ist ja dann auch keine Reise und nichts dabei. Wir haben uns eben gedacht, unsere Freunde und Nachbarn rechts und links die haben schon und sind zufrieden, da versuchen wir es einfach auch mal. Über Dreitausend für zwei Garnituren haben wir dann doch ausgegeben, weil je noch die Decken-Unterdecken dazu kamen, die mit dem Magnetstreifen … G: Magnetstreifen? I: Das soll irgendwie gegen Wasseradern abschirmen … G: Gegen Strahlen … I: Ja, ja, jedenfalls … wir sind sehr zufrieden mit den Lamabetten. Sie sind weich und hygienisch, ein ganz anderes Gefühl war das. Trotzdem, irgendwie haben wir früher besser geschlafen, aber wie soll man heute wissen, woran es liegt?«24
Die Überzeugungen von einer risikoarmen Nutzung der radioaktiven Strahlung als natürliche Energieressource mit sicheren Verfahrenstechniken durch Kontrollmechanismen, die auf rational eingestuftem Expertenwissen ruhten, sind hier in der Lebenswelt des routinierten alltäglichen Umgangs mit der Technik auch nach der Kernschmelze in Block Vier des Kernkraftwerkes Tschernobyl 1986 scheinbar ungebrochen. Der Sicherheit verheißende Platz, den die physikalisch messbaren Größen von Strahlen, Wellen und Strömen in der sozialen kommunikativen Ordnung der Dinge des technologischen Wissensraumes haben, gerät aber jenseits der empirisch feststellbaren Phänomene, jenseits der spezifischen Vernunft-Evidenz für den Ingenieur ins Wanken. Die Wissensordnung wird von einem anderen Feld mit entsprechenden, an die moderne Umwelt angepassten Techniken (Magnetstreifen), einer an die Moderne angepassten Magie der Radiästhesie überlagert. Die dort existierende unbekannte Strahlung passt nicht in die durch Spezialisten gesellschaftlich legitimierte »rationale« »physikalische« Wirklichkeit, kann in diesem Erfahrungshorizont (noch) nicht systematisiert, geordnet werden, um sie vorhersehbarer und beherrschbar zu machen. Die »superstitiöse« bzw. alltagsmagische Anwendung des parawissenschaftlichen Wissens, der Gebrauch der Lamabetten, geschieht über »Analogie der Selbsterfahrung des menschlichen Seelenlebens«. Magisches radiästhetisches Wissen erfährt eine abstrahierende Rezeption, nämlich gewohnheits-
24 Göttle, Deutsche Bräuche, S. 126f., S. 129f.
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gemäß und im damit »reflexionslosen Gefühl der Notwendigkeit dieser Zuordnungen«.25 »Bewirken« die Betten in der geordneten (natur-)wissenschaftlichen Welt gar nichts, in der magischen Welt der Radiästhesie nach Maßgabe ihres systematischen Ortes, zum Beispiel der Strahlungsnetze und ihres Einflusses, so bedeuten sie nun in ihrer rein technischen Anwendung etwas aufgrund ihrer Zeichenhaftigkeit der Abschirmung, des Schutzes. Doch auch die mag trügen, sagt das Gespür zum sinnlich nicht Spürbaren und verweist auf die tiefe Erschütterung selbstverständlicher Deutungssysteme: »Trotzdem, irgendwie haben wir früher besser geschlafen, aber wie soll man heute wissen, woran es liegt?« Noch im März 2011 erschien als konkrete Reaktion auf die Serie von Unfällen der Nuklearkatastrophe von Fukushima I seit dem 11. März die sechste Auflage des Homöopathischen Ratgebers Radioaktivität. Schutz vor Strahlenbelastung.26 Drei Monate nach dem Atomunfall in Tschernobyl am 26. April 1986 war er im Lage und Roy Verlag auf den Markt gekommen. Der Verlag ist Teil eines Unternehmens des sogenannten New-Age-Komplexes mit Onlineshop und einem Angebot alternativer Heillehren und Praktiken, so der Homöopathie, Bachblütentherapie, dem Vertrieb von Chakrablütenessenzen, Seminarangeboten und einem eingetragenem Verein »Surya, Gesellschaft zur Verbreitung der Homöopathie e.V.«.27 Das Vorwort eröffnet den Lesern die spezifische Weltdeutung des Autorenpaars. Sie zeigt die für das New Age charakteristische Kombination von magischen, esoterischen, okkulten Traditionen, therapeutischen Elementen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen und in diesem speziellen Fall einen Rückgriff auf die Tradition christlicher Spiritualität: Mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen im Jahr 1896 habe ein neuer Abschnitt in der Geschichte der Menschheit begonnen. Neue Welten hätten sich auf getan:
25 Dieter Harmening: Aberglaube. In: Kindlers Enzyklopädie »Der Mensch«. Zürich 1983, S. 706-718, hier S. 706, S. 716. 26 Ravi Roy/Carola Lage-Roy: Radioaktivität. Schutz vor Strahlenbelastung (Homöopathischer Ratgeber). 6. Aufl. Hagen bei Murnau 2011, S. 46. 27 Der Ratgeber ist inzwischen auch in japanischer Übersetzung erschienen und wird, wie es auf der Internetseite heißt, »in den von der Reaktorkatastrophe betroffenen Gebieten kostenlos verteilt«. Online: http://www.lage-roy.de/ [Abruf Oktober 2012].
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»Der Mikrokosmos gehörte nicht länger in den Bereich der Mystik, sondern wurde auch Domäne der Wissenschaft.« Der Mensch sei seither »auf dem Weg vom Makro- zu Mikrokosmos, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren«. Der unvernünftige Umgang mit den neu entdeckten Kräften führte unweigerlich zur Vernichtung im Makrokosmos. Das ist eine längst bekannte Tatsache in der Mystik: deshalb wurden die Lehren über den Mikrokosmos seit alters her nur wenigen offenbart, den Weisen und Mystikern wie es an anderer Stelle heißt. Zentral ist die ganzheitliche Vorstellung von den alles umfangenden inneren, verborgenen Zusammenhängen der Welt, vor allem von Strahlen als Kräften. Naturfeindliche Wissenschaft und Technik und materialistisches Streben stören die Erkenntnis von der Ganzheitlichkeit und das Einswerden der Menschen mit dem Universum. Eine künftige Aufgabe der Menschheit liege darin, mit diesen Kräften weise umgehen zu lernen: »Es ist uns gelungen, den Makrokosmos mit einer perfektionierten Technik zu beherrschen. Ohne das Gleiche Können im mikrokosmischen Bereich steht uns nur Vernichtung bevor. Dieses Können ist nur mit Liebe möglich.« Und diese Liebe habe die Botschaft Christi übermittelt. Auch wenn nicht jeder in der Lage sei, das Phänomen der Radioaktivität »intellektuell und wissenschaftlich« nachzuvollziehen, so verfüge doch »jeder über die Möglichkeiten, das Wesen der Radioaktivität emotional zu erfahren«. Geistig seelische Übungen sollen dabei helfen, das Wesen der Radioaktivität zu ergründen; der Kontakt mit der Seele als Verkörperung der Liebe so hergestellt werden: »Wenn wir der Radioaktivität mit gesunden Emotionen begegnen, stellt sich der ›Radioempfänger‹ in uns auf die Wellenlänge der Seelensprache ein.«28 Angestrebt wird die Transformation des Individuums, mittels Intuition sucht man in Einklang mit der Natur und der Gesellschaft zu kommen. In der spirituellen, transzendenten Erfahrung werden die verborgenen Zusammenhänge offenbar. Neben allgemeinen Informationen zur Radioaktivität, Begriffserklärungen, Auswirkungen verschiedener Strahlungsarten, Formen und Symptome der Strahlenbelastung und Strahlenkrankheit bei Mensch, Tier und Pflanzen werden allgemeine Maßnahmen bei Lebensmittelanbau und Ernährungstipps gegeben. Bei den homöopathischen Behandlungs- und Schutzmöglichkeiten finden sich schließlich unter »allgemeinen Maßnahmen« die »geistigen Kräfte« sowie »seelische und Bewusstseinsmaßnahmen«. Die Botschaft ist, nach Tschernobyl sich endlich
28 Roy/Lage-Roy, Radioaktivität, S. 5f.
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»vom ›goldenen Kalb‹, dem Materialismus«, abzuwenden und eine »Synthese von Technologie und geistiger und spiritueller Entwicklung her[zu]stellen«. 29 Atem- und Meditationsübungen und Gebete werden empfohlen, um angstfrei und geläutert den Umgang mit der radioaktiven Verseuchung zu lernen, zu erkennen, dass Krankheit durch den Widerstand gegen die Naturgesetze als »göttlichem Plan« erzeugt werde, und Kraft zu gewinnen, sich auch öffentlich gegen Umweltzerstörung zu artikulieren und zu wehren. Die Macht der spirituellen Kräfte wird unter anderem dokumentiert in einer »Experimenten-Folge«, bei der der Versuch, die Radioaktivität mit Hilfe geistiger Kräfte umzuwandeln, den größten Erfolg erzielte: »Wir entschlossen uns ganz spontan, diese Gelegenheit zu nutzen, hielten die Hände kurz segnend über die Milch (20-60 Sekunden) und baten um Auflösung der Radioaktivität. Die Messergebnisse ergaben bei der Bestrahlungsmethode eine Senkung der Radioaktivitätswerte […] um 10 Becquerel: Wir wiederholten diesen Versuch noch dreimal und erzielten immer dieselben Ergebnisse.«30
Ulrich Beck sprach von einem »anthropologischen Schock«, den die Katastrophe von Tschernobyl in der »Risikogesellschaft« ausgelöst habe.31 Zum einen grundlegend durch die »Unsinnlichkeit der radioaktiven Verseuchung«. Die physikalische Welt der Strahlen, die nicht zu sehen, zu tasten, zu riechen, zu schmecken sind, nur über technische Hilfsmittel wie dem Geigerzähler messbar, hörbar und medial vermittelbar, ist eine kognitiv zunächst nicht wahrnehmbare Gefahr für das Leben und ist daher eine tückische Bedrohung. Wir erfahren sie erst in ihren drastischen Auswirkungen von biologischen Zerfallsprozessen, Krankheit und Tod, kennen die Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge aufgrund rationalen naturwissenschaftlichen und technischen Expertenwissens. Zum anderen die Schockwirkung durch das »Versagen des Expertenwissens«. Die Überzeugung von umfassender Machbarkeit in einer systematisierten, geordneten, vorhersehbaren
29 Ebd., S. 57. 30 Ebd., S. 33. 31 Ulrich Beck: Der anthropologische Schock. Tschernobyl und die Konturen der Risikogesellschaft. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 40 (1986), S. 653-663, hier S. 655.
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und beherrschbaren technischen Welt wurde fundamental durch die Reaktorunfälle in Frage gestellt. Die durch die Katastrophen von globaler Wirksamkeit hervorgerufene Kontingenz wird je nach Vermögen auf ganz unterschiedliche verstandesmäßige Weise und mit unterschiedlichen Logiken bewältigt. Es spielt in unserem Argumentationszusammenhang keine Rolle, ob die »spontane« Segnung im geschilderten Beispiel durch Wirkkraft einer transzendenten Welt geschieht oder nicht, als Wunder gedeutet oder fauler Zauber entlarvt werden kann. Fassbar wird eine subjektiv geprägte Form des Religiösen, die auf eine transzendent erfahrene Wirklichkeit konzentriert ist und meist in Abgrenzung zu institutionell definierten Vorstellungen des Religiösen liegt. Sie kann mit Regina Polak als eine populäre Spiritualität beschrieben werden: »Spiritualität im Sinne gelebten Sinnes, womit alle Formen menschlicher Praxis gemeint sind, mittels derer der jeweilige Lebensweg erfahrungsbezogen, bewusst und reflektiert in einen größeren Deutungshorizont gestellt und integriert wird.«32 Das Beispiel vermittelt, wie Menschen mit Desorientierung und Krisen im religiösen Feld überlieferte Wissensbestände deutend transformieren und sie an ihr modernes Umfeld knüpfen. Dies zeigt sich einmal in der Selbstverständlichkeit, der Verinnerlichung der herrschenden Wissensordnung, von (natur-)wissenschaftlicher Rationalität, dass sich nämlich jegliche Praxis begründen muss, dass sie sich auf ihre Effektivität hin befragen lassen muss, mit der Möglichkeit der Falsifizierung. Die sinnhafte Handlung zur Umwandlung negativer radioaktiver Strahlung durch Segnung, die hier scheinbar durch den empirischen Fall verifiziert wird, dient der doppelten Absicherung, zunächst der äußeren Legitimierung.33 Sie bildet
32 Regina Polak: Spiritualität – neuere Transformationen im religiösen Feld. In: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.): Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive (= Studien zu Religion und Kultur 1). Berlin 2008, S. 89-110, hier S. 98. 33 Eberhard Wolff zeigte am Beispiel eines homöopathischen Vereins am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf, wie differenziert die Beziehungen innerhalb des so genannten Medikationsprozesses und die Positionierung zur Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der Medizin zu interpretieren sind. Auf der einen Seite die professionellen medizinischen unter dem Anspruch theoretischer Rationalität, andererseits das praktische Interesse und die Orientierung
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aber auch eine Rückversicherung mittels »naturwissenschaftlichen«, technisch nachvollziehbaren Wirksamkeitsmessungen der »Gnadengabe«, des Charisma, das nicht mehr wenigen religiösen Experten zuteil wird, sondern in veralltäglichter, mit von jedem erfahrbarer Intuition, die Wirkungskräfte des Alltags außer Kraft setzen kann. Im Zuge des Rückgangs oder Verlusts übergreifender und einheitlicher Weltdeutungen, eines »Lebens in überlieferten Ordnungen«, wird Weltdeutung für immer mehr Menschen viel stärker zur Aufgabe und zur Herausforderung des Einzelnen. Im Zentrum dieser populären, spirituellen Religiosität »steht das bewusste, gefühlte und konkret gelebte individuelle Sinnkonzept«.34 Es ist eine Möglichkeit von Menschen, sich gegen den verdinglichten Alltag wie gegen fremdbestimmte, expertendominierte Religionspraxis und radikale Wissenschaftspraxis der Naturbeherrschung auszudrücken.35 In diesem Sinne sind die populäre Religion und Spiritualität, (natur-)wissenschaftlichen, rationalistischen, wie (rational) theologischen, begründeten Weltbildern und ihren Wahrnehmungsorthodoxien widerständig. Unser letztes Beispiel würde kulturhistorisch systematisch besehen nicht den Dingwelten des Superstitiösen zugeordnet, es demonstriert aber besonders eindrucksvoll die Dynamik unserer Ordnungssystematiken und zeigt zugleich unsere Verstrickung in die eingangs skizzierten Rationalitätsdiskurse der Moderne auf. Wir sehen die »Steuerkonsole eines Kernreaktors, der auf Wunsch der Ingenieure gesegnet wurde«, so der Text zum Bild der Fotoreportage Hotel Ukraina von Andreas Müller.36
des Laienvereins, der mangels der entsprechenden Ausbildung den Anschluss an das wissenschaftliche Niveau suchte. Eberhard Wolff: Gesundheitsverein und Medikalisierungsprozeß. Der Homöopathische Verein Heidenheim/Brenz zwischen 1886 und 1945 (= Studien und Materialien aus dem Ludwig-Uhland-Institut, Bd. 2). Tübingen 1989. 34 Polak, Spiritualität, S. 98. 35 Hans-Günter Heimbrock: Welches Interesse hat Theologie an der Wirklichkeit? Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungswissenschaft. In: Wolf-Eckhart Failing/Hans-Günter Heimbrock (Hg.): Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis. Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 11-36, hier S. 33. 36 Online: http://www.andreasmueller-foto.de [Abruf Februar 2011].
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Abbildung 1: Steuerkonsole eines ukrainischen Kernreaktors
Foto: Andreas Müller.
Unter den Messanzeigen zu Turbinendruck und Generatorleistungen, die Instrumente und zugleich Zeichen für Kontrollmechanismen der Verfahrenstechniken zur Sicherung des reibungslosen Betriebes der Anlage und der Risikominimierung sind, hängt eine Ikone der Muttergottes als Wegweiserin (Hodigitria). Sichtbar wird in dem vermutlich geweihten Bild eine Praxis der Anheimstellung an eine höhere Macht, die wie die Sakralisierung des Gebäudes durch die symbolische Handlung der Segnung den Schutz und die Abwehr vor einem technischen Unfall und seinen fatalen Folgen bewirken soll – trotz aller Sicherheitsprogramme. Solche religiösen und kulturellen Schutztechniken sind uns zumindest aus der täglichen öffentlichen Berichterstattung von Zeremonien der Einweihung öffentlicher Einrichtungen, wie Krankenhäusern, Operationssälen, Brücken, Feuerwehrhäusern etc., selbstverständlich, und wir nehmen sie wohl ohne Erstaunen zur Kenntnis. Gehören sie zu den »Dingwelten des Irrationalen«? Die Menschen versichern sich hier wie dort, jenseits naturwissenschaftlichen und technischen Knowhows und der Beherrschung von Technologien durch weitere, anderen Sinnkonzepten zughörige Maßnahmen der Risikominimierung, der Unheilabwehr. Das Aufhängen der Hodigetria auf dem Arbeitsplatz Kernkraftwerk ist ein bewusst eingesetztes, im Lebensumfeld
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bekanntes und dort anerkanntes Mittel – damit zweckrational oder lediglich traditional irrational? Die selbstverständliche Verknüpfung zweier Deutungshorizonte von Welt, von naturwissenschaftlichem und religiösem, die im (natur-)wissenschaftlichen Rationalitätsdiskurs sich ausschließen, auch in den Lebenswelten meist miteinander konkurrieren, ergänzen sich in dieser Alltags- und Arbeitswelt. Diese Alltagsstrategie zur Bewältigung von Ängsten und Hoffnungen ist sinnhaft, – ob »sinnvoll« ist je nach Perspektive eine andere Frage – da sie intersubjektiv sozial verstehbares, kommuniziertes Wissen zum Ausdruck bringt und damit konstitutiv für eine sinnhafte Lebenswelt des Einzelnen und der Gruppe wird. Der Bild-Kommentar des Fotografen verweist auf die für ihn nicht auflösbaren Widersprüche menschlichen Handelns in unterschiedlichen ökonomischen, politischen, religiösen Feldern: »Wer eine Reise tut, der findet und empfindet. Neues und alt bekanntes und manchmal das eine im anderen. Eine Stadt mit 40.000 Einwohnern, die nur wegen eines Atomkraftwerkes lebt und existiert, […] und eine andere Stadt, die berühmt wurde und nun Tod ist, weil es hier den größtmöglichen Störfall in einem Kernreaktor gab. Der findet volle Kirchen und den Wunsch der Menschen zu glauben, an Gott, den Fortschritt und daran, dass die Zeiten besser werden.«37
Tschernobyl als »Sprachzeichen« für radioaktive Bedrohung, wie Helge Gerndt den Katastrophenkomplex in seinen Überlegungen zum Einfluss der Atomtechnik auf die Alltagskultur bezeichnete, muss hier gar nicht mehr genannt werden, er ist im kollektiven Gedächtnis zumindest der meisten Mitteleuropäer gegenwärtig, ein kollektives, »subjektiv akzentuiertes Bewusstseinsphänomen«.38 Das Beispiel frappiert und erhält eine Bedeutungstiefe in unserem gesellschaftspolitischen und kulturellen Umfeld angesichts der radikalen Erfahrungen der Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Die etablierten Wissenshierarchien sind durch sie stark ins Wanken geraten. Die
37 A.a.O. 38 Helge Gerndt: Tschernobyl als kulturelle Tatsache. In: Dieter Harmening (Hg.): Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag (= Quellen und Forschungen zur Europäischen Ethnologie 7). Würzburg 1990, S. 155-176, hier S. 162.
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Überzeugungen und Hoffnungen, die auf dem Glauben an wissenschaftlichen Fortschritt und Naturbeherrschung, einer risikoarmen Nutzung der radioaktiven Strahlung wurden durch die Reaktorunfälle für die direkt Betroffenen und zumindest einen Großteil der westlichen Gesellschaften grundlegend in Frage gestellt. Die Fotografie wird vor diesem Hintergrund zum Sinnbild für die Widerlegung der eingangs genannten Verquickung von Rationalisierungsprozessen und deren Deutung in Rationalitätstheorien. Mit dieser Bedeutungsaufladung griff die FAZ das Bild von Andreas Müller im April dieses Jahres für einen Artikel von Frank Rieger über die technische Beherrschung von Atomreaktoren auf.39 Als deutendes Symbol, das auf die Grenzen technischer Machbarkeit verweist, wird es zum Interpretament, es trägt die jüngere Zeitdiagnose Ulrich Becks von der »Krise der Rationalitätsunterstellungen« und der »Irrationalität des Rationalen« in sich, verweist auf das Versagen eines »Glaubens« an Rationalisierbarkeit, an die Erwartungen von der Beherrschung des Risikos durch Berechenbarkeit desselben.40 Riedels Schlagzeile »Wir haben Dämonen geschaffen« übernimmt die Interpretation von Technik- und Fortschrittsglauben als Religionsersatz. Von Kernkraftkathedralen ist da die Rede und die vermutlich nicht nur metaphorisch gemeinte Bezeichnung des wiederholt ins Feld gebrachten Arguments »Ohne Atomkraft werden wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen« als »Mantra«, mit dem »Weiterbetrieb und Neubau von Reaktoren gerechtfertigt werden«, verweist mit sarkastischem Grundtenor auf die geächtete Technikgläubigkeit. Die Gebets- und Anrufungsformeln: Als wesentlicher Bestandteil hinduistischer Religiosität sind sie längt in westliche Meditationspraxen der alternativen Religionen übernommen und bekannt. Die traditionale Handlung gewinnt in diesem Deutungszusammenhang eine neue Bedeutungsdimension. »Wo am Ende nur der Glaube«, so der Untertitel des Fotos, zeigt vom aufgeklärten, und im Grunde auch rationalistischen Standpunkt die Hilflosigkeit durch den Rückgriff auf Religion, auf das irrational magisch Reduzierte, längst Überholte, gegen den »irrationalen«, »abergläubischen« Technikglauben.
39 Frank Rieger: Wir haben Dämonen geschaffen. In: FAZ vom 12.04.2011, Nr. 86, S. 29. 40 Online: http://www.ulrichbeck.net-build.net/index.php?page=forschung-lehre [Abruf Oktober 2012].
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Mit Blick auf einen christlich sozialisierten Wertehorizont wird man das Aufhängen der Ikone als frommes Verhalten, von manch konfessionell geprägten Standpunkt als magischen oder auch abergläubischen und damit irrationalen Schutzzauber erklären, Rationalisten werden die religiöse Praxis ohnehin als Ausdruck von Irrationalität kennzeichnen, die lediglich Ohnmacht und reflexive Unfähigkeit gegenüber technischen, ökonomischen, politischen Bedingungen ausdrücke. Besonders in einer »Multioptionsgesellschaft« (Peter Gross)41 mit der Pluralisierung der Wissensbestände, Weltdeutungsangebote, Sinnhorizonte gibt es kein gemeinsames umfassendes Verstehen mehr. Sinnkonzepte und persönliche Sinnbildungen für das eigene Leben müssen eigenständig gefunden werden. Dies erfordert hohe Integrationsleistungen vom Einzelnen. So werden sich wohl auch die Irrationalitätsunterstellungen für die vielfältigen Phänomene des Welthabens vervielfältigen. Sie sind Deutungsmuster und Interpretationskonstruktionen. Sie in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Dynamik und Funktion zu beachten, sollte eine Aufgabe sein. Ein Verstehen der »Sinnhaftigkeit« von Verhaltens- und Handlungsweisen gelingt nur in den vorgegebenen Zusammenhängen, denn unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche bringen unterschiedliche Modalitäten hervor.
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Ich möchte an dieser Stelle noch an eine phänomenologische Empirie erinnern, bei der die Reflexion der eigenen Erfahrungen mit dem Paranormalen zu neuen Perspektiven und Erkenntnissen eingebunden wird. Nicht wenige Ethnologen im Feld machten Erfahrungen, die sich einer »rationalen«, positivistischen Erklärung entzogen, die verunsicherten oder verstörten. Es waren persönliche Erlebnisse, die in den seltensten Fällen in den Ethnografien eingingen. Eine grundlegende Negierung einer jenseits der empirisch feststellbaren Phänomene liegenden Wirklichkeit, die die Auseinandersetzung und Erörterung von Transzendenz unmöglich macht, wurde damit aufgege-
41 Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a.M. 1994.
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ben.42 Ein Aufsatz des schwedischen Religionswissenschaftlers und Ethnologen Åke Hultkrantz bildete bis weit in die 1980er Jahre eine seltene Ausnahme. Im Rückblick auf seine Aufenthalte bei den Shoshoni in Wyoming und der Teilnahme an Ritualen der Medizinmänner 1955 schrieb er 1981 in der von Hans Peter Duerr ausgelösten Debatte um den »Wissenschaftler und das Irrationale«: »Ich musste jedoch feststellen, dass irrationale Faktoren meine sorgfältig ausgetüftelten Vorkehrungen durcheinander brachten, und zwar vor allem auf dem Gebiet der Religion. […] Aber das war noch nicht alles: Es ereigneten sich Dinge, die man im Rahmen unseres gängigen wissenschaftlichen Wertesystems nicht als Faktum registrieren konnte. Es war eine eigentümliche Erfahrung, das Verhalten mancher meiner Kollegen in solchen Fällen zu beobachten: wenn sie darüber schrieben oder Vorlesungen hielten, leugneten sie das faktische Vorkommen derartiger Phänomene und führten deren angebliche Existenz entweder auf die Illusion eines bewussten Geistes oder auf subjektive religiöse Antizipation zurück. Privat äußerten jedoch genau dieselben Kollegen ihre Betroffenheit darüber, derartige Phänomene selbst beobachtet zu haben. Wie ich gestehen muss, war mein eigenes Verhalten nicht viel besser.«43
Die erlebten Phänomene wurden aufgrund wissenschaftlicher Vorentscheidungen aus den ethnografischen Texten verbannt, obwohl sie durchaus als zu untersuchende Gegenstände von Interesse seien, ja er war »geneigt, die Behauptung zu akzeptieren, dass es so genannte paranormale Phänomene gibt, die Teil unserer Realität sind«44. Den Blick auf die Binnenperspektive, auf Erlebens- und Erfahrenswirklichkeiten von Religion und ihren Ausdruckweisen, lenkte schon der umstrittene Ethnologe Adolf Ellegard Jensen:
42 Åke Hultkrantz ist vor allem durch seine Studien zu nativen nordamerikanischen Religionen bekannt und hier nicht zuletzt durch: General Ethonological Concepts. Kopenhagen 1960 (= International Dictionary of Regional European Ethnology and Folklore 2). 43 Åke Hultkrantz: Rituale und Geheimnis: über die Kunst der Medizinmännern, oder: was der Professor nicht gesagt hat. In: Hans Peter Duerr (Hg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. 1: Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie. Frankfurt a.M. 1981, S. 73-97, hier S. 74f. 44 Ebd., S. 94.
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»Jeder von uns weiß, dass es eine Fülle von Erlebnisgehalten gibt, die in dem durch unsere rationale Erkenntnis verkörperten Weltbild keinen Platz haben. Wir brauchen nur das weite Gebiet des Seelenlebens betrachten, um festzustellen, dass es dort Inhalte gibt […], deren Wirklichkeit durch die Evidenz des individuellen Lebens unbezweifelbar ist, und denen wir doch so gut wie keinen Platz in unserem Erkenntnisgebäude einräumen wollen und können.«45
Das auf seine Weise religiöse Weltverständnis einer letztgültigen (»göttliche[n]«) universalen Wahrheit hat ihm die Beurteilung eines »Mystagogen« eingebracht und die Bezeichnung seines Denkens als »lebensphilosophischer Irrationalismus«.46 Werner Petermann und Karl Heinz Kohl messen ihm aber zu Recht große Bedeutung zu, auch für die Einsicht, »dass die Kategorien der Zweckrationalität und Funktion allein nicht ausreichen, um Glaubensvorstellungen und religiöse Handlungen anderer Kulturen wirklich zu verstehen«47. Die »Aufdeckung der Vielschichtigkeit, Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit der bei uns gültigen Anschauungsweisen selbst hat die Kompatibilität, die Möglichkeit der Koexistenz im [wissenschaftlich rationalen Denken sich] einander ausschließender Rationalitäten gezeigt«48.
45 Adolf Ellegard Jensen: Hainuwele. Volkserzählungen von der Molukkeninsel. Frankfurt a.M. 1939, S. 5; vgl. Streck, Fröhliche Wissenschaft Ethnologie, S. 21f. 46 Hans Fuchs: Die Religions- und Kulturtheorie Ad. E. Jensens und ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln unter besonderer Berücksichtigung des Opferrituals: Eine geistesgeschichtliche Studie. Aachen 1999. 47 Karl-Heinz Kohl: Adolf Ellegard Jensen. In: Christian Feest/Karl-Heinz Kohl (Hg.): Hauptwerke der Ethnologie. Stuttgart 2001, S. 166-172, hier S. 171; Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal 2004, S. 635. Von theologischer Seite ist die Nähe zu romantischen Deutungen von Religion als Gefühl (Schleiermacher) und der Hermeneutik Diltheys und seiner Trias von Erleben, Ausdruck, Verstehen als Grundmodell interessant. 48 Vgl. hierzu das plastische Beispiel von Streck: »Der Widerspruch zwischen den Vorstellungen einer Gegenwart der Totenseelen einerseits und ihrem Fortleben in einer anderen Welt andererseits besteht wohl nur in unserem rationalen Denken […,] für die Sizilianer existiert er nicht: Beides ist offenbar gleichzeitig möglich und eine befriedigende Erklärung dieses Phänomens wird sich nur schwer geben lassen« (Helmut Petri mit Bezug auf Giovanni Pitré: Usi e costumi,
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Er nahm damit vorweg, was Lévi-Strauss in seiner Beschreibung »Wilden Denkens« von 1962 als anderes, aber nicht weniger »vernünftiges« Denken berühmt gemacht hatte. »Heute begreifen wir, das beide Formen das [Wilde und das Moderne] nebeneinander existieren und einander durchdringen können.«49
L ITERATUR Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft I (= Gesammelte Schriften, Bd. 10/1+2). Darmstadt 1998, S. 310-320. Christoph Auffarth/Hans G. Kippenberg/Axel Michaels (Hg.): Wörterbuch der Religionen. Stuttgart 2006. Ulrich Beck: Der anthropologische Schock. Tschernobyl und die Konturen der Risikogesellschaft. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 40 (1986), S. 653-663. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1992. Peter L. Berger: Sehnsucht nach Sinn: Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt a.M. 1994. Dagmar Fenner: Theoretische und praktische Rationalität. Eine Anwendung auf die aktuelle Suiziddebatte. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), S. 51-76. Hans Fuchs: Die Religions- und Kulturtheorie Ad. E. Jensens und ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln unter besonderer Berücksichtigung des Opferrituals: Eine geistesgeschichtliche Studie. Aachen 1999. Winfried Gebhardt: Charisma als Lebensform: zur Soziologie des alternativen Lebens (= Schriften zur Kultursoziologie 14). Berlin 1994.
credeneze e pregiudizi, bibliotheca delle tradizioni popolari siciliane XIV. Palermo 1889, Vol. IV, S. 224f.). Streck, Fröhliche Wissenschaft Ethnologie, S. 21. 49 Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1968, S. 255. In seiner Folge war ein großes Interesse für das so benannte »Irrationale« der Anderen gewachsen. Im wissenschaftlichen Milieu erregte dann in den 1970er Jahren Hans Peter Duerrs Traumzeit über die Grenze von Wildnis und Zivilisation 1978 Aufmerksamkeit und stieß die genannte Debatte 1981 an (vgl. Anm. 41).
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Helge Gerndt: Tschernobyl als kulturelle Tatsache. In: Dieter Harmening (Hg.): Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag (= Quellen und Forschungen zur Europäischen Ethnologie 7). Würzburg 1990, S. 155-176. Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München 2007. Stefan Gosepath: Rationalität, Rationalisierung III. – analytische Philosophie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8. Basel 1992, S. 62-66. Stefan Gosepath: Rationalität. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie der Philosophie. Hamburg 1999, S. 1337-1343. Gabriele Göttle: Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West. Frankfurt a.M. 1994. Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a.M. 1994. Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Frankfurt a.M. 2001. Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart 2005. Dieter Harmening: Aberglaube. In: Kindlers Enzyklopädie »Der Mensch«. Zürich 1983, S. 707-718. Hans-Günter Heimbrock: Welches Interesse hat Theologie an der Wirklichkeit? Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungswissenschaft. In: Wolf-Eckhart Failing/Hans-Günter Heimbrock (Hg.): Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis. Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 11-36. Åke Hultkrantz: Rituale und Geheimnis: über die Kunst der Medizinmännern, oder: was der Professor nicht gesagt hat. In: Hans Peter Duerr (Hg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. 1: Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie. Frankfurt a.M. 1981, S. 73-97. Adolf Ellegard Jensen: Hainuwele. Volkserzählungen von der Molukkeninsel. Frankfurt a.M. 1939. Karl-Heinz Kohl: Adolf Ellegard Jensen. In: Christian Feest/ders. (Hg.): Hauptwerke der Ethnologie. Stuttgart 2001, S. 166-172. Hans Lenk/Helmut F. Spinner: Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick. Zur Rationalismuskritik und Neufassung der »Vernunft heute«. In: Herbert Stachowiak (Hg.): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. 3. Hamburg 1989, S. 1-31. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1968.
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Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal 2004. Regina Polak: Spiritualität – neuere Transformationen im religiösen Feld. In: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.): Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive (= Studien zu Religion und Kultur 1). Berlin 2008, S. 89-110. Frank Rieger: Wir haben Dämonen geschaffen. In: FAZ, 12.04.2011, Nr. 86, S. 29. Ravi Roy/Carola Lage-Roy: Radioaktivität. Schutz vor Strahlenbelastung (= Homöopathischer Ratgeber). 6. Aufl. Hagen bei Murnau 2011. Bernhard Streck: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. Eine Einführung. Wuppertal 1997. Friedrich H. Tenbruck: Wissenschaft und Religion. In: Jacobus Wössner (Hg.): Religion im Umbruch. Stuttgart 1972, S. 217-244. Angela Treiber: Interpretamente historischer Forschung über Superstitionen und magische Mentalitäten. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 19 (1996), S. 81-125. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausg. Tübingen 1980. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1922, 7. Aufl. 1988. Johannes Weiß: Rationalität als Kommunikabilität. Überlegungen zur Rolle von Rationalitätsunterstellungen in der Soziologie. In: Walter Sprondel (Hg.): Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns. Stuttgart 1981, S. 39-58. Eberhard Wolff: Gesundheitsverein und Medikalisierungsprozeß. Der Homöopathische Verein Heidenheim/Brenz zwischen 1886 und 1945 (= Studien und Materialien aus dem Ludwig-Uhland-Institut, Bd. 2). Tübingen 1989.
Wider-Glaube Zum kulturellen Doppelcharakter der Superstition, und: Superstition als Gebärde einer rationalen Tendenz in der Kultur M ARTIN S CHARFE
V ORSPRÜCHE Man weiß es doch: Das Wort Aberglaube ist verdorben, und vom Tarnwort Superstition läßt sich nichts Besseres sagen. Vielhundertjährige Predigt, Exempelpädagogik, Indoktrination, Schmähung, Bestrafungspraxis haben es in Verruf gebracht und unbrauchbar gemacht; aber vielleicht ist es auch noch nie brauchbar gewesen. Denn das Wort ist kein Begriff, der etwas begreifen ließe – es ist vielmehr ein Saugwort, das alle möglichen Bedeutungen in sich hineinschlingt, durcheinanderrührt und alsbald unverdaut wieder ausspeit, und dieser animalischen Saugkraft hat bislang noch keiner der wissenschaftlichen Definitionsversuche widerstehen können. Das Wort Aberglaube, hat Freud in einem anderen Bilde gesagt, ist eine jener Konstruktionen, welche die Erkenntnis »wie Wandschirme abwehren«.1 Schon die sprachliche Herkunft scheint so unklar zu sein, wie der Sinn mehrdeutig ist: mein ehrwürdiges, gewiß zweihundert Jahre altes lateini-
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Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1912/1913). Frankfurt a.M. 1991, S. 148.
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sches Wörterbuch verzeichnet wenigstens zwei divergierende Bedeutungen für superstitio und superstitiosus – nämlich Aberglaube, abergläubig, und Religion, religiös; und auch die gelehrten Grundlagen- und Nachschlagewerke, die wir kennen, bringen uns nicht die nötige Aufhellung2 – es gilt weiterhin, was schon der Archäologe Ludwig Friedlaender (1824-1909) in seiner großartigen »Sittengeschichte Roms« festgehalten hatte: »Zu allen Zeiten muß […] der Begriff der Superstition nicht bloß überhaupt ein relativer, sondern auch nach individueller Auffassung unendlich verschiedener gewesen sein«; insbesondere hätten im antiken Rom wohl »manche Kulte deshalb länger für superstitiös gegolten«, »weil ihre Gebräuche besonders fremdartig und seltsam, abstoßend oder lächerlich erschienen« seien.3 Da ist, wenn man so will, der Superstition längst das Etikett ›Irrationalität‹ an die Sohlen geheftet, das bis heute klebt – wobei besonders putzig ist, diesen Seitenhieb kann man sich nur schwer verkneifen, daß es in der Regel die ›Gläubigen‹ sind, die anderen den Vorwurf der Irrationalität machen und dabei das Herrenwort aus der Bergpredigt vergessen: »Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?«4 An der Tatsache, daß ich Luther-Text zitiere, kann man unschwer die Spuren meiner konfessionellen Sozialisation erkennen, und die machen mir die Erfahrung merkwürdig: Nicht einmal Protestanten und Katholiken können affektiv ungehindert über Aberglauben kommunizieren, sie können sich nicht verständigen, schon der Gebrauch von Sakramentalien, beispielsweise, erweckt dem Protestanten den Superstitionsverdacht – am Ende kann vielleicht gar nur der Gottlose oder der sich als Atheist gebärdende Forscher einen sicheren Standplatz gewinnen. Insofern müßte sich ein Blick auf die Aufklärung lohnen: auf die Aufklärung als eine Epoche, die wir durch starke entmythisierende Tendenzen charakterisiert sehen.
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›Aberglaube‹ ist als »deskriptiver oder analytischer Grundbegriff unbrauchbar«, hat zuletzt B. Gladigow geurteilt. Burkhard Gladigow: Aberglaube. In: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias Laubscher (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 1. Stuttgart u.a. 1988, S. 387f., hier: S. 388.
3
Ich zitiere nach der Ausgabe: Ludwig Friedlaender: Sittengeschichte Roms. Ungekürzte Textausgabe. Essen o.J. (1996, nach der 10. Aufl.), S. 817 (Kap. 13: Die religiösen Zustände).
4
Matthäus 7,3.
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ABERGLAUBE
UND
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AUFKLÄRUNG
Man hat sich zwar daran gewöhnt, die Aufklärung als harsche Gegnerin des Aberglaubens wahrzunehmen; und es gibt nicht wenige Beispiele, die diese Sicht stützen. Doch die Nachdenklicheren unter den sogenannten Aufklärern haben den Aberglauben nicht einfach zurückgewiesen – sie haben vielmehr, wie gesagt, über ihn nachgedacht. Das lehren uns Titel wie derjenige zu einer Abhandlung Justus Mösers aus dem Jahr 1790: »Etwas zur Verteidigung des sogenannten Aberglaubens unsrer Vorfahren«5; das zeigt uns aber auch die so bedeutsame Studie Dieter Narrs zu den gar nicht seltenen Zeugnissen einer »Superstitio Tolerabilis«6, also zur hinnehmbaren, ja möglicherweise gar nützlichen und vernünftigen Superstition. Gewiß ist es kein Zufall, daß in unserem dämmrigen Erinnerungsbild der Aufklärung die Bestrebungen des Aufdeckens und des Entlarvens vorherrschen7 – es sind uns wohl allzu viel drastische Beispiele gegenwärtig, wie etwa diejenigen aus der unvollendeten »Geisterseher«-Geschichte Friedrich Schillers: einer Kriminalgeschichte, in der ein Betrug aufgedeckt wird (da hat, bevor der ›Geist‹ erscheinen kann, der ›Magier‹ die »Maschinen gehörig gerichtet«; das Kruzifix funktioniert als »Konduktor«; unter dem Altar befindet sich eine »Elektrisiermaschine«; und die vorgebliche Geistgestalt eilt, »sich elektrisch zu machen«)8; und die Linie dieser Art von Aufklärung reicht bis hin zu Conrad Ferdinand Meyers »Amulett«-Geschichte, wo es ja bekanntlich nicht das numinose Surplus des geweihten Medaillons ist, das
5
Abgedruckt z.B. in der Auswahl von Peter Klassen. In: Justus Möser: Deutsche Staatskunst und Nationalerziehung. Leipzig o.J., S. 427-430.
6
Dieter Narr: Superstitio Tolerabilis [1971]. In: ders.: Studien zur Spätaufklärung
7
Vgl. z.B. Ernst Ludewig Fischer: Das Buch vom Aberglauben. Leipzig 1790. –
im deutschen Südwesten. Stuttgart 1979, S. 169-181. Bezeichnend ist das gereimte Motto, das der Köthensche evangelische Pfarrer und Lehrerausbilder vorangesetzt hat: »Des Aberglaubens alte Rechte, / Erstrecken sich auf jedes Haupt: / Noch ist im menschlichen Geschlechte, / Ihr Einfluß grösser als man glaubt.« 8
Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Aus den Papieren des Grafen von O** [1787-1789]. In: ders.: Der Geisterseher. Erzählungen. Berlin 1997, S. 5-131; Zitate auf S. 49, S. 37 und S. 58, S. 36, S. 58.
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den tödlichen Schuß abhält, sondern seine ordinäre Existenz als metallische Materie.9 Aber daneben gibt es doch auch eine sehr viel umfänglichere Neugierde im Hinblick auf das Unbewußte als eigentlichem Urgrund der sogenannten Superstition – also ein tiefes Interesse an der Archäologie (das heißt: an Geschichte und Wesen) der menschlichen Seele: die Kuriositäten von Aberglauben und Schwärmerei, so Karl Philipp Moritz im Jahr 1791, sollten nicht Anlaß für Strafpredigten sein, sondern »Gegenstände der ruhigen Betrachtung«10; oder (dieses schöne Bild fiel dem Zeitgenossen Jean Paul in einer kleinen Betrachtung des Aberglaubens ein – ein Bild wie fürs Poesiealbum des volkskundlichen Museums entworfen): »die abentheuerlichen Krystallisationen und Tropfsteinbildungen des Unterreichs sollten in Einem weiten Gewölbe für das geistige Auge zusammen gestellet werden, wie es die Natur in unterirdischen Hölen mit schauerlicher Fülle für das leibliche gethan.«11 Doch blieb es keineswegs bloß bei Mahnungen und Appellen – wir stoßen im ausgehenden 18. Jahrhundert auch auf einen beachtlichen Grundstein, auf den sich eine Theorie der Superstition gründen läßt: ich meine die Hinneigung zum Örtlichen und Regionalen (welche die Aufklärung mit der frühen Volkskunde verbindet, die darob viel gescholten worden ist), die Neugier für Besonderheiten, das Interesse am eigenen Sinn, ja am Eigensinn lokaler Kulturen (das heute wieder neu auflebt)12 – Ausdrücke wie Lo-
9
Vgl. Conrad Ferdinand Meyer: Das Amulett [publiziert erstmals 1873]. In: ders.: Ausgewählte Novellen. Gedichte. Frankfurt a.M. 2009, S. 7-69.
10 Karl Philipp Moritz: Ueber den Endzweck des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde. In: K. Ph. Moritz zus. mit K. F. Pockels und S. Maimon (Hg.): Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte (10 Bde. 1783-1793), Bd. 8, 1. Stück. Berlin 1791, S. 1-5, hier: S. 4. 11 Jean Paul Friedrich Richter [sic!]: Vorrede. In: Friedrich Ludwig Ferdinand von Dobeneck: Des deutschen Mittelalters Volksglauben und Heroensagen. Hg. und mit einer Vorrede begleitet von Jean Paul [sic!], Bd. 1. Berlin 1815, S. XIX-XLII, hier: S. XXXIV. – Jean Paul, geb. 1763, war sieben Jahre jünger als Moritz. 12 Vgl. z.B. Rainer Alsheimer u.a. (Hg.): Lokale Kulturen in einer globalisierenden Welt. Perspektiven auf interkulturelle Spannungsfelder. Münster u.a. 2000.
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kalumstände, Lokalgründe, Lokalvernunft stehen für dieses Interesse, das erhebliche Konsequenzen hat sogar für die uralte Frage der Philosophen: Was ist Wahrheit? Was also ist Wahrheit?, fragt sich auch Georg Christoph Lichtenberg in einem seiner Aphorismen aus dem Jahre 1770. Was ist Wahrheit, und wie kommt sie zustande? Wahr ist, schreibt Lichtenberg, was alle für wahr halten; es wird, würden wir heute sagen, ausgehandelt; Lichtenberg nennt das den »Rat der Menschen«, der ›ausmache‹, was zu gelten habe.13 Die »Philosophie eines einzelnen gewissen Menschen« wird also durch die »Philosophie der andern« (»selbst der Narren«, fügt Lichtenberg ausdrücklich hinzu!) »korrigiert«. Neben dieser (so müssen wir den Mann des 18. Jahrhunderts ins heutige Denken und Deutsch übersetzen:) gesellschaftlich und kulturell allgemein akzeptierten Wahrheit gibt es andere ›Wahrheiten‹ – gibt es ›besondere Philosophien‹ oder ›Lokal-Philosophien‹, das heißt: von der Mehrheit vielleicht nicht zugelassene und nur in bestimmten Grenzen, in gewissen kulturellen Provinzen gültige Denk- und Empfindungssysteme. Eine solche »Lokal-Philosophie« ist, lesen wir bei Lichtenberg, der Aberglaube: »Aberglaube selbst ist Lokal-Philosophie«14, will sagen: Er folgt einer anderen als der üblichen Logik des Alltagshandelns; doch er hat seine Logik – seine eigene Logik, seine eigene Vernunft und Rationalität; er ist in sich schlüssig und für sich rational. Vielleicht war es dieser Umstand, der
13 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. Hg. von Wolfgang Promies, 2 Bde. München 2005, Bd. 1, S. 39 (§ 136). – Ganz ähnlich Möser zwei Jahre früher: »Die Frage: Was ist Wahrheit? ist sehr alt; und nachdem man einige tausend Jahre sich darüber gezankt hat, ist man endlich in den neuern Zeiten auf den alten Grundsatz zurückgekommen: der sicherste Probirstein sey die Mehrheit der Stimmen in der grösten Versammlung Sachverständiger Männer. […] Folgen Sie also der neuen Mode, eine Sache durch Raisonnements auszuführen, nicht.« Justus Möser: Schreiben eines alten Rechtsgelehrten über das sogenannte Allegiren. 1768. In: ders.: Patriotische Phantasien. Hg. von Heinrich Schierbaum, Bd. 1. München/Leipzig 1915, S. 107-109, hier: S. 108f. – In der Philosophie wird die Frage unter dem Stichwort ›Kriterium der Wahrheit‹ abgehandelt. 14 Alle Lichtenberg-Zitate wie Anm. 13.
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Jean Paul vom Aberglauben als einer »Poesie der Vernunft« reden ließ15 – Sigmund Freud in seiner nüchternen Sprache drückte den Sachverhalt der Lokalvernunft jedenfalls mit den Sätzen aus: Nur »in unserer modernen, naturwissenschaftlichen, aber noch keineswegs abgerundeten Weltanschauung« wirke der Aberglaube »so deplaciert« – »in der Weltanschauung vorwissenschaftlicher Zeiten und Völker« indessen sei er »berechtigt und konsequent« gewesen.16 Dieser unvoreingenommene, ja freundliche Blick auf die Superstition hat denn auch in der Folge dazu geführt, daß man sie als »eine Form kollektiver Beherrschung des Unbewußten«, also als Mittel gegen die Angst, zu begreifen lernte17 und als eine Kulturtechnik, die von »Lähmung und Hilflosigkeit angesichts der Naturgewalten« entlaste, indem sie, so hat es Arnold Gehlen ausgedrückt, »die Koordinaten der Welt« sozusagen »auf menschliche Maßstäbe« transformiere.18 Wir sind nun nicht mehr weit entfernt von einer Sichtweise, welche die Aufklärung keineswegs nur in strikter Opposition zum Aberglauben sieht, sondern im Gegenteil in wohlwollender Nähe; ja möglicherweise sehen wir schon den Gedanken vorbereitet, der Aberglaube könne vielleicht sogar als Projekt der Aufklärung begriffen werden. Jedenfalls trifft uns jetzt Nietzsches Diktum aus dem Jahre 1882 nicht mehr unvorbereitet: Aberglaube sei ein »Symptom der Aufklärung«.19
15 J. P. F. Richter: Vorrede (wie Anm. 11), S. XXIV. 16 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum [1901]. Frankfurt a.M. 2000, S. 323. – Hervorhebungen von mir, M. Sch. 17 Erik H. Erikson: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie. Frankfurt a.M. 1975, S. 65 (amerikanische Originalausgabe im Jahr 1958 erschienen). 18 Arnold Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek 1986, S. 159 (im Kapitel »Der Mensch und die Technik« des Buches ›Die Seele im technischen Zeitalter‹ aus dem Jahr 1957). 19 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Aufl. München/Berlin/New York 1988, Bd. 3, S. 343-651, hier: S. 395 (in § 23).
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ABERGLAUBE ALS MISSTRAUEN IN DEN KIRCHENGLAUBEN (W IDER -G LAUBE I) Ein solches Symptom sich freier fühlender Köpfe mag so manches Widerden-Stachel-Löcken gewesen sein – auch wenn es sich noch so sehr kleinmachen und verstecken mußte, so daß ›Aufbegehren‹ und ›Protest‹ zu große Worte für die in Frage stehende Sache wären; aber von Mißtrauen, ja von innerer Distanz wird man doch sprechen dürfen in vielen Fällen, die von den kirchlichen Sittengerichten als christliche Unbotmäßigkeit gerügt und bestraft wurden. Jacob Burckhardt war im spätmittelalterlichen Alltag der verbreitete »Wunsch« aufgefallen, »der verhaßten Kirche, wie sie war, innerlich nichts mehr zu verdanken«20, und man kann sich leicht vorstellen, daß sich die Lust zur Unbotmäßigkeit verschiedenste Schlupflöcher gesucht und ihren Ausdruck nicht nur in abweichenden Theologien – also in Ketzereien diverser Art21 – gefunden hat, sondern auch in Superstitionen. Wir besitzen Massen von Archivalien, in denen Gerichtsprozesse über Aberglaubenshandlungen dokumentiert sind; und mir ist in den Akten, die ich in der Hand hatte, stets das Unrechtsbewußtsein der Angeklagten aufgefallen: man habe doch nichts Unrechtes getan, nichts Ungerechtes, man habe nichts Böses dazu gesprochen22 etc. – wobei dahingestellt bleiben muß, inwieweit diese Position sich geschickt der Camouflage zu bedienen wußte, die viele der Superstitionsakte kennzeichnet: Camouflage oder schein-heilige Verlarvung mit geborgten kirchlichen Formeln, Zeichen und Gebärden.
20 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien [1. Aufl. 1860]. Reprint Essen o.J., S. 550. 21 Vgl. dazu Martin Scharfe: Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur. Köln/Weimar/Wien 2004, Teil III. 22 Vgl. z.B. die Protokolle zweier Verhandlungen wegen des Vorwurfs des Siebdrehens (das etwa einen vermeintlichen Dieb zwingen soll, das Diebesgut wieder abzuliefern) vor dem Kirchenkonvent der württembergischen (also evangelischen) Oberamtsstadt Waiblingen am 11. August 1715 und am 20. November 1724. Kirchenkonventsprotokoll Waiblingen 1053, fol. 171f. und 243f. – Die Strafen waren übrigens hart: ein Pfund Heller (viel Geld für arme Leute!), drei Tage und Nächte Gefängnis für die »große Sünde« und das »Verbrechen«!
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In auffälligem Gegensatz – und darauf kommt es an! – zu diesem Unrechtsbewußtsein aber stehen Beharrlichkeit und unnachgiebige Strenge (oder darf man gar sagen: Unerbittlichkeit und Wut?) der kirchlichen Verfolger; es muß uns der Verdacht aufsteigen, in den genannten Prozessen werde etwas ganz anderes belangt und bestraft, als was in Rede stehe; es werde eine Ruchlosigkeit geahndet, die niemand zu benennen wisse. »Der grausame Eifer, mit welchem zu allen Zeiten, die Kirche die Magie verfolgt hat«, hat Schopenhauer bemerkt, und wir dürfen das Wort Magie umstandslos durch Superstition ersetzen – dieser grausame Eifer, sagt er, scheint nicht bloß auf den der Magie zugeschriebenen »verbrecherischen Absichten, noch auf der vorausgesetzten Rolle des Teufels dabei, zu beruhen; sondern zum Theil hervorzugehn aus einer dunkeln Ahndung und Besorgniß, daß die Magie« – und ich setze nochmals Superstition statt Magie, also: daß Superstition – »die Urkraft an die richtige Quelle zurück verlege; während die Kirche ihr« – der Urkraft – »eine Stelle außerhalb der Natur angewiesen hatte«.23 Was heißt das? Es heißt, daß Aberglaube ein ärgerer Antipode des Glaubens ist als Unglaube; es heißt, daß Aberglaube Protest ist gegen Glauben an sich – ein Protest also, der es in sich hat. Das muß aufgefädelt werden.
ABERGLAUBE ALS P ROTEST GEGEN G LAUBEN AN SICH (W IDER -G LAUBE II) Das Christentum, die Religion – so muß ich Schopenhauer wiederholen – habe die »Urkraft« (also die Kraft, die die Welt wie das Menschenleben bewegt und steuert) an »eine Stelle außerhalb der Natur« verlegt: damit war nichts anderes gemeint als jene seelische Prozedur, die in moderner Diktion Projektion heißt und besagen will: der Himmel, das Jenseits (etwa mit der Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit) entsteht aus einem tiefen Wunsch und Bedürfnis des Menschen heraus, der die Gleichgültigkeit nicht
23 Arthur Schopenhauer: Ueber den Willen in der Natur [2. Aufl. 1854]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. Bd. 3 (= Kleinere Schriften), S. 169-321, hier: S. 304 (im Kapitel: Animalischer Magnetismus und Magie, S. 280-304).
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ertragen kann, welche Natur und Welt gegen ihn an den Tag legen24; und er bildet sich in gleichsam notwendiger Fantasie (aber in einer Fantasie, die natürlich auf seinen eigenen Lebensumständen aufruht und von ihnen aus sich entfaltet) Wesen, welche seine Geschicke lenken, und mit deren Hilfe er seine eigenen Geschicke lenken kann. »Denn«, so hat es Ludwig Feuerbach im Winter 1848/1849 in seinen öffentlich im Heidelberger Rathaus gehaltenen Vorlesungen über das ›Wesen der Religion‹ gesagt – Feuerbach, der Denker jener These, die wir heute Projektionsthese nennen: denn »nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heißt, sondern der Mensch schuf […] Gott nach seinem Bilde. […] Jeder Gott ist ein Wesen der Einbildung, ein Bild, und zwar ein Bild des Menschen«, und dann kommt der entscheidende Zusatz: »aber ein Bild, das der Mensch außer sich setzt und als ein selbständiges Wesen vorstellt.« Und, deutlicher noch: »die Götter sind die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen; ein Gott ist der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen.«25 Ich sehe es jetzt nicht als meine Aufgabe an, diesen Gedanken – als wohl einen der bedeutsamsten in der abendländischen Kulturgeschichte überhaupt – weiterzuverfolgen; weder will ich seine erste (noch durchaus zaghafte) Erscheinung skizzieren (etwa bei Hegel, der ihn nur erst auf die griechischen Götter – und nicht auf alle Götter! – anzuwenden wagen
24 Die »Gleichgültigkeit der Natur gegen ihn«: »das ist es, was der Mensch nicht erträgt«. David Friedrich Strauss: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Volks-Ausgabe in unverkürzter Form. 19. Aufl. Stuttgart o.J. [1872], S. 27. 25 Ludwig Feuerbach: Das Wesen der Religion. Hg. von Hanns Flörke. Berlin o.J. (1913), S. 205 (20. Vorlesung), S. 217 (22. Vorlesung). – Erstmals publiziert wurden die Heidelberger Vorlesungen 1851. – Die Thesen waren seit 1841 im Umlauf: »Das göttliche Wesen«, so Feuerbach in seinem Skandalwerk über das ›Wesen des Christentums‹, »ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d.h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d.h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens.« Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums [1. Aufl. 1841]. Stuttgart 1969 (nach der 3. Aufl. Leipzig 1849), S. 54f. (Einleitung). – Die Hervorhebungen Feuerbachs (in beiden zitierten Werken) habe ich weggelassen.
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konnte26) noch seine Konkretisierung und Verschärfung bei Karl Marx und Friedrich Engels (die von »Nebelbildungen im Gehirn« der Menschen sprachen als ›notwendigen Sublimaten‹ ihres »materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses«27); und schon gar nicht halte ich es für nötig, die breite Etablierung der Projektionsvorstellung in den Religionswissenschaften um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorzuführen (etwa bei Wilhelm Wundt28 und Sigmund Freud29) – ich beschränke mich auf eine einzige Stimme: es ist immerhin die Stimme Georg Simmels, der von der »banalen Selbstverständlichkeit« sprach, daß die Götter (und er meinte natürlich auch die christlichen ›Götter‹) kulturelle, also menschliche »Produkte« seien.30 Ich referiere den historischen Gang menschlicher Erkenntnis; ich referiere die Möglichkeiten dessen, was gedacht werden kann, und es ist völlig unerheblich, was ich als Autor glaube oder nicht glaube: vielleicht glaube ich die These der Projektion, vielleicht glaube ich sie auch nicht – aber ich muß sie doch denken dürfen. Denn sie ermöglicht mir, eine fundamentale Diffe-
26 Die griechischen Götter hatten »ihren Sitz nur in der Vorstellung und Phantasie« und »zu ihrem Gehalt die Substanzen des wirklichen menschlichen Lebens und Handelns«! Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. 1. und 2. Teil. Hg. von Rüdiger Bubner. Stuttgart 1971, S. 553 und S. 554. 27 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten (1845/46). In: dies.: Werke. Bd. 3. Berlin 1962, S. 9-530, hier: S. 26. 28 Vgl. z.B. Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Bd. 4, 2. Aufl. Leipzig 1910, S. 65 (hier »Projektion« sogar als Begriff, nicht aber im doch sehr differenzierten Register! 1. Aufl. 1905); vgl. ders.: Probleme der Völkerpsychologie. 2. Aufl. Stuttgart 1921, S. 119 (1. Aufl. 1911); vgl. ders.: Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. 2. Aufl. Leipzig 1913, S. 357, S. 360 (1. Aufl. 1912). 29 Die Religionen sind »nichts anderes« (ich straffe Freuds Satz:) »als in die Außenwelt projizierte Psychologie«. S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (wie Anm. 16), S. 203. 30 Georg Simmel: Die Religion. Frankfurt a.M. 1922, S. 40 (1. Aufl. 1912).
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renz zu erkennen, die zwischen Glauben und Aber-Glauben bestehen könnte, und sie ermöglicht mir außerdem, zu begreifen, warum der Aberglaube als Frontalangriff auf Religion verstanden wurde und vielfach auch noch wird.
ABERGLAUBE ALS V ERNEINUNG DER P ROJEKTION UND ALS MENSCHLICHE H ANDHABE UND T AT Denn der Aberglaube verneint die Projektion, welche die Basis der Religion ist; er lehnt sie ab oder vollzieht sie doch wenigstens nicht31; er bleibt bei sich und beim Menschen; er ist im Wortsinne human; denn er traut es dem Menschen zu, daß er sein Leben in die eigene Hand nehme, und er nimmt an, daß das Unterfangen gelingen könne. Während der religiöse Mensch die Macht, welche über die Natur herrscht, in einen »Gegenstand außer sich« versetzt – so hat es schon Feuerbach (aber Feuerbach als erster!) gesagt –, schreibt der Praktiker der Superstition sich diese Macht selbst zu.32 Er glaubt, er meint, ja er weiß, »dass die Entscheidung über die in Aussicht gestellten Ereignisse mehr oder weniger in die Hand des Menschen gelegt ist«33; der Mensch der Superstition ist der Mensch der Handhabung und der Tat, er ist der Mensch auf dem Kulturweg des zivilisatorischen Fortschritts; und er ist damit zugleich der Mensch, dessen Vorhaben dem Gott in die Quere kommt. Auch diesen Konflikt hat Feuerbach thematisiert als spezifisch abendländischen Kulturkonflikt: während unsere Kultur die »menschliche Selbsttätigkeit« als höchsten Wert angesetzt habe, habe doch ihr anderer höchster Wert – die christliche Religion – zugleich auch solche Eigenmächtigkeiten verdammt als »Eingriffe in das göttliche Regiment«34; als Beispiele nennt Feuerbach Schmerzmittel, Blitzableiter, Dammbau, Stromumleitung, Bergeinebnen, ja sogar die Rasur des Bartes.35 Wir
31 Auch wenn der Praktiker der Superstition Formeln der Religion verwendet (z.B.: »Im Namen Gottes« etc.), so sind sie doch bloße Formeln – also Handhabung eines als bewährt geltenden Rezepts. 32 L. Feuerbach: Das Wesen der Religion (wie Anm. 25), S. 226 (23. Vorlesung). 33 So hat es der Kenner Carl Meyer ausgedrückt: Der Aberglaube des Mittelalters und der nächstfolgenden Jahrhunderte. Basel 1884, S. 217. 34 L. Feuerbach: Das Wesen der Religion (wie Anm. 25), S. 186. 35 Vgl. ebd. S. 183-186.
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sehen also die Superstition als Versuch des Menschen, sich der Welt auf direktem Wege zu bemächtigen (im Unterschied zur Religion, die den indirekten Weg, den Umweg über ein projiziertes Jenseits, wählt); wir sehen sie auf der Linie der umstandslosen Untertanmachung der Welt; wir sehen sie, wenn auch undeutlich, antreten auf der Straße des zivilisatorischen Fortschritts. Wer es simpel haben will, kann sich also vier Weisen der Welthandhabung zurechtlegen: I. Außerweltlich, projektionsfundiert: 1. Religion (Gott, Teufel, Heilige …), 2. Volksmythologie (›Es‹, Geister …), II. Innerweltlich, erfahrungswissensfundiert: 3. Handwerk, Technik, Wissen, Wissenschaft, 4. Superstition.
Man hat der Superstition bislang den falschen Platz zugewiesen. Sie ist nicht, wie Wilhelm Heinrich Riehl gemeint hat, Geschwisterkind der Religion36; sie ist vielmehr Geschwisterkind der Technik. Aberglaube ist eine der menschlichen Bemühungen, die Welt zu beherrschen; Aberglaube ist Symptom der Idee von der Beherrschbarkeit der Welt.
ABERGLAUBE
ALS
S YMPTOM
DER
AUFKLÄRUNG
Wenn ich also behaupte, Superstition sei kulturgenetisch mit der Technik verwandt und nicht mit der Religion, so stellt sich ein solches Postulat herkömmlichen ethnologischen Deutungen entgegen, die in der sogenannten Magie-Ersatz-These kulminieren, wie sie etwa Frazer und Marett und, am
36 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie. 11. Aufl. Stuttgart 1897, S. 287. – Mit dem anderen Bild ebd. freilich – »Der Ahnherr beider«, das heißt: der Ahnherr von Glaube wie Aberglaube, sei »der Schauer der Kreatur vor Tod und Vernichtung« – hatte Riehl durchaus recht. Ich indessen muß eine frühere Äußerung präzisieren, in der ich vielleicht allzu flexibel gemeint hatte, man könne unter Umständen Religion und Superstition »aus Projektionsprozessen hervorgegangen« sehen. M. Scharfe: Über die Religion (wie Anm. 21), S. 156.
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eindeutigsten vielleicht, Malinowski vertreten hat: Magie sei eine Ersatzhandlung, welche notgedrungen an die Stelle der noch fehlenden Logik von Wissenschaft und Technologie trete37 – eine These, die, wie wir heute deutlich sehen, ihren dunklen Ursprung in der so ideologischen wie unhistorischen Überschätzung des modernen Fortschrittsgedankens hat: wie wenn Vernunft nur unserer heutigen Naturwissenschaft zukomme. Arnold Gehlen hat schon Anfang der 1950er Jahre versucht, diesen schielenden Blick zu korrigieren: beide – Superstition wie Wissenschaft und Technologie! – verdankten sich den »Herausforderungen der beleidigten Vernunft«38; Superstition (Gehlen spricht von Magie) sei »eine der ›Mitten‹ des menschlichen Verhaltens«, weil ihr der »Glaube an die Lenkbarkeit der Natur in der Verlängerung unserer Bedürfnisse« ein »instinktives apriori« sei; und dieser Glaube müsse als »die gemeinsame Wurzel der uralten Magie wie der modernen Naturwissenschaft und Technik« betrachtet werden.39 Diese Fortschrittslinie hatte freilich schon Nietzsche hellsichtig vorgezeichnet – Nietzsche, der in der ›abergläubischen Gesellschaft‹ viel »Lust am Individuellen« beobachtet hatte40; wir erinnern uns an die verschiedenen Ausdrücke von Wider-Glauben. »Von diesem Standpuncte aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein Fortschritt gegen den Glauben und als Zeichen dafür, dass der Intellect unabhängiger wird und sein Recht ha-
37 Sir G. James Frazer (1854-1941), Robert R. Marett (1866-1943), Bronislaw K. Malinowski (1884-1942). Vgl. z.B. Bronislaw K. Malinowski: Die Kunst der Magie und die Macht des Glaubens (engl. 1925). In: Leander Petzoldt (Hg.): Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie. Darmstadt 1978, S. 84-108, hier: S. 103; Edward E. Evans-Pritchard: Theorien über primitive Religion. Mit einer Vorlesung »Sozialanthropologie gestern und heute« als Einleitung (1965). Frankfurt a.M. 1968, S. 70, hier: S. 68-71 über Marett, S. 76f. über Malinowski. 38 A. Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen (wie Anm. 18), S. 97 (in Kap. 7 der Philosophischen Anthropologie: Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie, 1953). 39 Ebd. S. 96. 40 Wie Anm. 19.
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ben will.« Und wir lesen erneut den frappierenden Satz, der nun folgt: »Lernen wir«, sagt Nietzsche, lernen wir, »dass er ein Symptom der Aufklärung ist.«41
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ALS
V ORSPIEL
Symptom der Aufklärung – das heißt: ein Anzeichen, ein Vorzeichen, noch nicht die Sache selbst. Die Sache selbst bedarf langer Reifung, Goethe war es wieder einmal, dem das treffende Bild einfiel: das Bild des Samens und des Keimens. »Es gibt bedeutende Zeiten, von denen wir wenig wissen«, lesen wir in der ›Farbenlehre‹ von 1810, »Zustände, deren Wichtigkeit uns nur durch ihre Folgen deutlich wird. Diejenige Zeit, welcher [sic!] der Same unter der Erde zubringt, gehört vorzüglich mit zum Pflanzenleben.«42 Und es folgt die Mahnung: Seien wir also nicht »ungerecht gegen die stillen, dunklen Zeiten, in denen der Mensch, unbekannt mit sich selbst, aus innerm starken Antrieb tätig war«!43 Wir wollen uns dieses Bild des in dunkler Zeit reifenden Samenkorns merken, vielleicht auch noch jenes andere der Überwinterung heranziehen und versuchen, Superstition zu begreifen als alte überwinterte Kulturtechnik oder Kulturgebärde des zivilisatorischen Fortschritts, die längst von anderen Gebärden überholt, vielleicht auch abgelöst worden ist, aber dennoch zu würdigen wäre als Gebärde eines ursprünglichen kulturellen Aufbruchs. Sie hat ihre negative Markierung erst infolge der Entfaltung religiösen Virtuosentums aufgeprägt bekommen und aufgrund wachsender religiöser Spezialisierung, vor allem aber aufgrund der zunehmenden Nützlichkeit obrigkeitsdienlicher Religion. Superstition ist ein Palimpsest, auf dem fett und breit der Schmähung das Wort geredet wird, während die Worte der Würdigung unkenntlich gemacht sind. Keiner indessen hat die Notwendigkeit einer neuen Würdigung klarer gesehen als Friedrich Nietzsche, aus dessen ›Fröhlicher Wissenschaft‹ ich den Paragrafen 300 in fast völliger Länge zitiere; er heißt: »Vorspiele der Wissenschaft«:
41 Ebd. – Hervorhebungen von Nietzsche. 42 Aus der Farbenlehre, 1810. Ich zitiere nach Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. Text der Ausgabe von 1907. Frankfurt a.M. 1976, S. 241. 43 Ebd. S. 242.
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»Glaubt ihr denn, dass die Wissenschaften entstanden und gross geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchymisten, Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als Die, welche mit ihren Verheissungen und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und verbotenen Mächten schaffen mussten? Ja, dass unendlich mehr hat verheissen werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit überhaupt Etwas im Reiche der Erkenntniss sich erfülle? – Vielleicht erscheint in gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vorübungen der Wissenschaft darstellen, die durchaus nicht als solche geübt und empfunden wurden, auch irgend einem fernen Zeitalter die gesammte Religion als Uebung und Vorspiel: vielleicht könnte sie das seltsame Mittel dazu gewesen sein, dass einmal einzelne Menschen die ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der Selbsterlösung geniessen können: Ja! – darf man fragen – würde denn der Mensch überhaupt ohne jene religiöse Schule und Vorgeschichte es gelernt haben, nach sich Hunger und Durst zu spüren und aus sich Sattheit und Fülle zu nehmen? Musste Prometheus erst wähnen, das Licht gestohlen zu haben und dafür büssen, – um endlich zu entdecken, dass er das Licht geschaffen habe, indem er nach dem Lichte begehrte, und dass nicht nur der Mensch, sondern auch der Gott das Werk seiner Hände und Thon in seinen Händen gewesen sei? Alles nur Bilder des Bildners?«44
Daß solche Sicht schon vor über einem Jahrhundert zur Verfügung gestanden hätte, gehört, recht bedacht, auch zum Bild der dunklen Zeiten und des Samenkorns und des Überwinterns; heute indessen will und muß sie Programm werden – wissenschaftliches Programm. Alle unsere Quellen, unsere Überlieferungen, unsere Studien, unsere Museumsbestände wären also neu zu sichten. Die wiederentdeckten Anregungen von Denkern, die wir außer Kurs gekommen wähnten, wären – als im Humus oder Kompost unserer neuesten Anschauungen gereifte Keimungen – zu begreifen als Zaubersprüche, die einen verschwunden geglaubten Schatz wieder ans Licht bringen. Oder, noch mal anders gesagt – diesmal mit den farbigen Bilderworten Jean Pauls: »Ganze Jahrhunderte voll mündlicher Überlieferungen, und ganze Foliobände voll schriftlicher liegen als verfallene Schachte vor uns, des neuen Befahrens eben so würdig als bedürftig.«45
44 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (wie Anm. 19), S. 538f. – Hervorhebungen von Nietzsche. 45 J. P. F. Richter: Vorrede (wie Anm. 11), S. XXXVIf. – Hervorhebung von mir, M. Sch.
Diagnosen
Aberglaube in der psychotherapeutischen Praxis Aus Sicht der Psychoanalyse, Ethnologie und volkskundlichen Erzählforschung B ERND R IEKEN
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der sogenannte Aberglaube in einer psychoanalytischen Psychotherapie nichts verloren hätte, ist sie doch auf die Bedürfnisse des modernen westlichen Individuums nebst seinen prononcierten Abgrenzungs- und Selbstverwirklichungswünschen zentriert, in denen kaum Platz für Übernatürliches zu sein scheint. Und bereits Sigmund Freud hat auf den aufklärerischen Impetus seiner Theorie hingewiesen, als er die folgenden Worte formulierte: »Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit wie die Trockenlegung der Zuydersee.«1 Außerdem stand er in der Tradition der naturwissenschaftlichen Medizin und war durch seine Studien an der Wiener Universität »vom Materialismus, Naturalismus und Empirismus« geprägt,2 allzumal Strömungen, welche eng mit dem Gedankengut der Aufklärung verknüpft sind. Aber das ist nur die eine Seite
1
Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 15. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 1996 [1933a], S. 86.
2
Günter Gödde: Philosophischer Kontext. In: Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2006, S. 10-25, hier S. 10.
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der Psychoanalyse, denn sie ist ein in sich vielschichtiges und teilweise auch widersprüchliches Gedankengebäude, in dem ebenso ganz andere Denktraditionen ihren Platz finden, und dazu zählt in erster Linie die Romantik mit ihren teils emotionalen und irrationalen Anteilen.3 Psychotherapeuten bzw. Psychoanalytiker sind nämlich in mehrfacher Hinsicht auch Nachfahren der Zauberer und insbesondere der Schamanen, wobei die Bevölkerung beide Male ambivalente Gefühle ihnen gegenüber hegt, nämlich eine Mischung aus Ehrfurcht und Furcht, die mitunter Herabsetzungsbedürfnisse zur Folge hat.4 Psychotherapeuten sind deswegen Nachfahren der Zauberer, weil sie mit einem unsichtbaren Medium arbeiten: der Kraft der Worte. Ihnen werden Fähigkeiten zugeschrieben, an denen es »Normalsterblichen« gebricht, indem sie, gleichsam mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet, in Welten vordringen, die dem normalen Auge verborgen bleiben. Dort angekommen, begegnen sie oftmals »dämonischen Mächten« und müssen sich mit ihnen auseinandersetzen. Doch markiert dieser Punkt gleichzeitig einen Unterschied, denn »die Besessenheiten entsprechen unseren Neurosen«, wie es kurz, bündig und dogmatisch Freud in seinem Aufsatz Eine Teufelsneurose aus dem siebzehnten Jahrhundert formuliert hat.5 Und er führt weiter aus: »Die Dämonen sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregungen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere Welt ab, welche das Mittelalter mit diesen seelischen Wesen vornahm; wir lassen sie im Innenleben der Kranken, wo sie hausen, entstanden sein.«6
3
Bernd Rieken: Wertvorstellungen der Aufklärung und Romantik als ideengeschichtliche Grundlagen der Psychoanalyse. In: Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie 32 (2009) 3+4, S. 47-52; Bernd Rieken: Zur Vorgeschichte der Psychotherapie. In: ders./Brigitte Sindelar/Thomas Stephenson: Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie – Pädagogik – Gesellschaft. Wien/New York 2011, S. 13-21.
4
Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. 2. Aufl. Zürich 1996, S. 26-53; Rieken, Vorgeschichte, S. 4-10.
5
Sigmund Freud: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 13. 10. Aufl. Frankfurt a.M. 1998 [1923d], S. 317.
6
Ebd., S. 318.
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Freud ist, wie es der Historiker Ely Zaretsky treffend formuliert hat, der Entdecker des persönlichen, individuellen Unbewussten,7 nämlich eines Unbewussten, das wie sein Träger selbst eine ganz persönliche, von anderen unterscheidbare Lebensgeschichte hat, dessen psychodynamische – das heißt im Unbewussten als Konflikt (zwischen Es und Über-Ich, zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben) wirkende – Antriebe und Motive in der Kindheit entstanden sind. Damit wird der einzelne unverwechselbar und steht konturiert der Umwelt gegenüber. Begriffe wie Autonomie, Ich-Identität oder Selbstverwirklichung werden durch die Psychoanalyse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts populär und fügen sich in eine Tradition ein, die, mit Vorläufern in der Kultur der Renaissance, vor allem durch die Elitenkultur der Aufklärung ihre theoretische Fundierung fand. So wurde der Eindruck erweckt, die Entwicklung von Autonomie wäre primär oder ausschließlich eine Frage der individuellen Situation, nicht aber an eine bestimmte Gesellschaft oder Gesellschaftsschicht gebunden. Daher vernachlässigen Psychoanalytiker oftmals historische, gesellschaftliche oder kulturelle Aspekte, wenn sie sich mit Fragen befassen, die außerhalb ihres klinischen Horizonts stehen. Wenn zum Beispiel die Wiener Psychoanalytikerin Catherine Schmidt-Löw-Beer in einem Forschungsprojekt zur unterschiedlichen Entwicklung der Identität in Ost und West zu dem Ergebnis gelangt, osteuropäische Jugendliche wären durch das Konzept des »unpersönlichen Selbst« geprägt, das Gemeinsamkeiten mit BorderlineStrukturen aufweisen würde, dann werden unreflektiert individualistische Konzepte zu etwas Essentiellem stilisiert, sodass man allzu leicht ins Fahrwasser vorschneller Pathologisierungen gerät.8 Denn die Länder Osteuropas stehen nicht so sehr in der Tradition der Individualität, wie es in Westeuropa der Fall ist, da Aufklärungsphilosophie, individuelle Grundrechte und parlamentarische Demokratie – allzumal zu-
7
Eli Zaretsky: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse. Wien 2006, S. 29-64.
8
Catherine Schmidt-Löw-Beer: Verschiedene Welten, verschiedene Wahrnehmungen. Das »unpersönliche Selbst«, der Überlebensmodus der Verleugnung und die Annäherung an die psychischen Strukturen von Jugendlichen in Ost und West. In: Wilfried Datler/Ute Finger-Trescher/Johannes Gstach u.a. (Hg.): Annäherungen an das Fremde. Ethnographisches Forschen und Arbeiten im psychoanalytisch-pädagogischen Kontext. Gießen 2008, S. 124-144.
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sammenhängend – historisch betrachtet eine geringere Bedeutung haben. Sie sind stärker von traditionellen Werten geprägt, was bedeutet, dass weniger die Ich-Identität im Vordergrund steht, sondern eher das Wir oder die Familie bzw. die Kollektiv-Identität,9 weswegen sich in erster Linie persönliches Wohlergehen dann einstellt, wenn man in Einklang mit seiner sozialen Umwelt lebt. Damit ist der Mensch aber auch in einem stärkeren Ausmaß den Einflüssen derselben ausgesetzt. Er ist ein offenes, poröses System, und an diesem Punkt ergibt sich eine mögliche Erklärung dafür, dass in traditionellen Gesellschaften Magie weite Verbreitung findet, denn ihr Weltbild setzt einen Menschen voraus, der gerade nicht klar von der Außenwelt abgegrenzt, sondern offen und porös ist für mannigfache übernatürliche Einflüsse.10 Dies soll das folgende Beispiel aus der psychoanalytischen Praxis deutlich machen. Eine Patientin Ende 30 – ich nenne sie Frau Gheorgiu –, die aus einem osteuropäischen Land stammt, kommt auf Anraten ihres Neurologen in meine psychotherapeutische Praxis, da sie unter einer Panikstörung leidet.11 »Panik« leitet sich aus griechisch »pƗnikós« ab, und das heißt übersetzt »durch Pan bewirkt«. Die Griechen hielten das Auftreten Pans, des mit halbtierischem Kopf, Bockshörnern, -ohren und -beinen ausgestatteten Fruchtbarkeitsgottes, für Schrecken erregend.12 Im Allgemeinen war er zwar friedlich, doch störte man ihn in seinem Nachmittagsschlaf, »so rächte er sich durch einen lauten Schrei, der den Störenfrieden die Haare zu Berge
9
Rudolf Hernegger: Der Mensch auf der Suche nach Identität. Kulturanthropologische Studien über Totemismus, Mythos, Religion. Bonn 1978.
10 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Ernestine Wohlfahrt/Manfred Zaumseil (Hg.): Transkulturelle Psychiatrie – Interkulturelle Psychotherapie. Interdisziplinäre Theorie und Praxis. Heidelberg 2006. 11 Ausführlich in: Bernd Rieken: Schwarze Magie in der therapeutischen Praxis. Psychoanalytisch-ethnologische Zugänge anhand eines Fallbeispiels. In: Pit Wahl u.a. (Hg.): Die Magie des Bösen. Göttingen 2012, S. 97-116.; weiteres Beispiel aus einer Feldforschung: Bernd Rieken: Besuch aus dem Jenseits. Volksglaube im biographischen Kontext. In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 12 (1999), S. 221-235. 12 Vgl. Xaver Wassmann: Der Tod des grossen Pan. Zum Untergang des Naturgottes in der Antike. Küsnacht 2003, S. 151-155.
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stehen ließ«13. Wesentliche Merkmale der Panikstörung »sind wiederkehrende schwere Angstattacken (Panik), die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersehbar sind«, heißt es im ICD-10, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen.14 Aufgetreten sei diese, so Frau Gheorgiu, nachdem ihr Mann einen Schlaganfall erlitten habe. Im Verlauf der Anamnese stellt sich heraus, dass die Ehe unter keinem guten Stern steht, weil ihr Mann sich nicht allein als gewalttätig und autoritär entpuppt, sondern sie auch des Öfteren betrogen und viel Geld verprasst hat, weswegen die Patientin gegen ihren Willen ihre Heimat verlassen musste, um in Österreich so viel zu verdienen, dass die Schulden des Mannes beglichen werden können. Demnach könnte eine psychoanalytische Antwort auf die Frage nach dem Ursprung ihrer Panikstörung folgendermaßen lauten: Die unbewussten bzw. verdrängten Hassgefühle und Todeswünsche gegenüber ihrem Mann sind bis zu einem gewissen Grad in Gestalt seines Schlaganfalls in Erfüllung gegangen, weswegen sie darauf mit extremen Gefühlen der Angst reagiert. Die Panikattacke ist sozusagen die unbewusste Vergegenwärtigung ihrer geheimen Rachegelüste sowie ihrer Schuldgefühle. Das wäre aus psychoanalytischer Sicht eine hinreichende Erklärung, und fortan ginge es darum, die Psychodynamik, also den unbewussten Konflikt, zu bearbeiten, doch zeigte der weitere Verlauf der Behandlung, dass Frau Gheorgius Panikattacken aus einer weiteren Quelle gespeist wurden. Als sie in einer der folgenden Therapiestunden von ihrer Angst vor der Dunkelheit berichtet, frage ich sie, ob sie sich vor Dämonen fürchte – und diese Frage bejaht sie. In ihrem Dorf habe es zwei alte Frauen gegeben, die als Hexen schwarze Magie betrieben hätten. Das Haus ihres Mannes sei ebenso belastet, denn in der Elterngeneration sei eines der Kinder früh gestorben, weil eine Nachbarin ihm mit Hilfe des bösen Blicks etwas angetan habe. Ferner sei mit ihrer ersten Tochter etwas gewesen, denn diese habe als Kind fortwährend geschrien. Erst als eine weise Frau aus dem Dorf ihr
13 Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 89. 14 Horst Dilling u.a. (Hg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien/Weltgesundheitsorganisation. 2. Aufl. Bern u.a. 1993, S. 160.
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geraten habe, ihrer Tochter das Gewand verkehrt herum anzuziehen,15 sei sie ruhiger geworden. Bei dieser Maßnahme handelt es sich um einen üblichen Abwehrzauber in traditionellen Gesellschaften: Man verwirrt die böswilligen Geister, die man sich nicht unbedingt als kluge Wesen vorstellt, und macht sie dergestalt unschädlich. Weiterhin berichtet sie, dass ihr Mann mehrfach verflucht worden sei, unter anderem von einer Nachbarin seiner ersten Frau; das habe ein hellseherisch veranlagter »Zigeuner« herausgefunden. Meine sich anschließende Frage, ob sie selber ihren Mann auch einmal verflucht habe, beantwortet sie nach einigem Zögern ebenfalls mit »Ja«. Damit werden die Panikattacken als Folge des Schlaganfalls ihres Mannes noch verständlicher: Es geht nicht nur um unbewusste Wunscherfüllung im psychoanalytischen Sinn und das Erschrecken darüber, sondern auch um Wunscherfüllung und das Erschrecken darüber im Kontext des magischen Denkens. – Frau Gheorghiu lebt also von klein auf in einer Kultur, für die der traditionelle Volksglaube Teil des Alltags ist, und daran hat auch der Umzug nach Österreich nichts geändert. In der psychiatrischen Diagnostik gehören die Phänomene, um welche es hier geht, allerdings in den Bereich schwerer Psychopathologie.16 Wir finden sie vor allem im Bereich der paranoiden Schizophrenie, der Paranoia und der schizotypischen Störung, von der es unter anderem im DSM-IV, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, heißt, dass spezifische Merkmale derselben »seltsame Glaubensinhalte oder magisches Denken« seien, zum Beispiel »Aberglaube, Glaube an Hellseherei, Telepathie oder den ›sechsten Sinn‹«.17 Die genannten Klassifikationen gehen mit schweren Einschränkungen in der Bewältigung des Alltagslebens einher. Davon kann bei Frau Gheorghiu indes keine Rede sein, und auch Liebes-, Arbeits- und Gemeinschaftsfähig-
15 Vgl. Adelgard Perkmann: Berufen, beschreien. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin/Leipzig 1927 [Nachdruck Berlin/New York 1987], Sp. 1100; Bernd Rieken: Wie die Schwaben nach Szulok kamen. Erzählforschung in einem ungarndeutschen Dorf. Frankfurt a.M./ New York 2000, S. 165. 16 Vgl. dazu kritisch Stuart A. Vyse: Die Psychologie des Aberglaubens. Basel/Boston/Berlin 1999, S. 187-214. 17 Henning Saß u.a. (Bearb.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen –Textrevision – DSM-IV-TR. Göttingen 2003, Nr. 301.22.
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keit als Merkmale seelischer Gesundheit sind bei ihr durchaus vorhanden, was bei Patienten mit den genannten Störungen nicht der Fall ist. Gleichzeitig sind aber auch wichtige Kriterien des Wahns erfüllt, nämlich subjektive Gewissheit, Unkorrigierbarkeit und – aus rationaler Sicht – Unmöglichkeit des Inhalts.18 Auch ist der Wahn charakterisiert als eine private Wirklichkeit, durch die man aus der Beziehung zu Mitmenschen und zur Umwelt herausgerückt ist. Indes ist die Welt, in welcher Frau Gheorghiu lebt, zum einen durch normale soziale Kontakte geprägt, und zum anderen teilt sie ihren Volksglauben mit einer Vielzahl von Personen aus ihrem Heimatdorf sowie auch mit einigen Menschen in Wien. Also existiert ein Graubereich, den die psychiatrische Diagnostik nicht erfasst, weil sie auf individualistische Gesellschaften zugeschnitten ist und daher nicht jene traditionellen Kulturen berücksichtigt, in denen der Volksglaube Teil des Alltagslebens ist. Indes wäre es ein Missverständnis, zu glauben, dass magisches Denken nicht auch bei Patienten aus den individualistischen Gesellschaften Mittelwesteuropas vorkäme. Dazu die beiden folgenden Beispiele. Eine Pädagogin aus den Bundesländern, die ich Frau Hofbauer nennen möchte und die knapp 30 Jahre alt ist, erzählt, sie werde mitunter nächtens von der Angst geplagt, dass eine Hand, die unterm Bett hervorkomme, nach ihr greife oder dass eine numinose Gestalt durch das geöffnete Fenster hereinkomme und ihr etwas antun wolle. Im Laufe der analytischen Arbeit wird deutlich, dass diese Vorstellungen aus zwei Quellen der individuellen Lebensgeschichte gespeist werden: zum einen ein sexueller Übergriff vonseiten eines Erwachsenen während der Volksschulzeit, zum anderen die beständigen Grenzüberschreitungen der eigenen Mutter, welche von der Patientin als eine mächtige Instanz mit vehementen aggressiven Impulsen geschildert wird, der sie sich ausgeliefert gefühlt habe und gegen die sie nicht habe ankommen können. Es ist nicht ungewöhnlich, dass in der Fantasie reale Vorkommnisse, die erschreckend sind, entstellt werden, um sich nicht direkt an sie beständig erinnern zu müssen. Sexuelle Übergriffe in der Kindheit sind mit Schamund Schuldgefühlen besetzt, während die Beziehung zur Mutter in der Regel urtümlicher und archaischer ist als zu anderen Personen. Michael Balint bezeichnet sie als »primäre Liebe« und versteht darunter einen Zustand, der
18 Ewald Rahn/Angela Mahnkopf: Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf. Bonn 1999, S. 237; vgl. Rainer Tölle/Klaus Windgassen: Psychiatrie einschließlich Psychotherapie. 16. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 2011, S. 180.
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beim Säugling natürlich gegeben ist und sich äußert als Beziehung zum Objekt, das geliebt wird, weil es gebraucht wird.19 Daher ist es kaum erträglich, sich an die Mutter unaufhörlich als an ein Schrecken erregendes Wesen zu erinnern, weswegen es diesbezüglich, ähnlich wie bei sexuellen Übergriffen, entlastend wirkt, in der Fantasie von anonymen Gestalten in diffuser Weise bedrängt zu werden. Der Unterschied zu den vorigen Beispielen besteht darin, dass die Patientin nicht in einer Kultur aufgewachsen ist, in der das magische Denken Teil der Alltagsrealität wäre. Daher ist die Bezugnahme auf die individuelle Lebensgeschichte und das individuelle Unbewusste in dem Fall die plausiblere Alternative. Ähnlich verhält es sich mit dem folgenden Beispiel. Eine circa 25-jährige Frau, die in Wien Geisteswissenschaften studiert, das älteste Kind eines calvinistischen Predigers aus den Bundesländern ist und die ich Frau Mayerhofer nennen möchte, kommt wegen einer generalisierten Angststörung in Behandlung und erzählt in der 16. Stunde die folgende Geschichte: Als Schülerin habe sie stets dem sonntäglichen Gottesdienst ihres Vaters beiwohnen müssen, wobei ihr spätestens seit der Pubertät seine dogmatische Weltanschauung auf die Nerven gegangen sei. Während einer Predigt seien ihr ein Mann und eine Frau aufgefallen, gegen die sie zwar keine feindseligen Gefühle gehegt habe, doch sei ihr aufgestoßen, dass das Paar gleichsam an den Lippen ihres Vaters gehangen habe und vollkommen überzeugt gewesen sei von dem, was er predige. Daher habe sie gemeinsam mit ihrer ebenfalls den Gottesdienst besuchenden Freundin den Plan ausgeheckt, die beiden zu verfluchen. Zunächst hätten sie gewollt, dass der Mann bei einem Autounfall sterben möge, dann aber doch eine mildere Variante gewählt: Er solle knapp überleben und die am Unfall nicht beteiligte Frau eine Rachenentzündung bekommen. Am darauffolgenden Sonntag habe der Vater zu Beginn der Predigt verkündet, dass der Mann vor kurzem einen Autounfall gehabt und nur deswegen überlebt habe, weil er einen Schutzengel gehabt habe. Daraufhin habe die Patientin die Frau nach ihrem Wohlergehen befragt, und diese habe ihr mitgeteilt, dass sie derzeit an einer Rachenentzündung leide.
19 Michael Balint: Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. 2. Aufl. Stuttgart 1997; ders.: Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung. 2. Aufl. Stuttgart 1997.
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Aus Sicht der volkskundlichen Erzählforschung handelt es sich bei diesem Bericht um eine typische Sage aus dem Bereich des Übernatürlichen, die im Gegensatz zum Märchen von einem eher pessimistisch getönten Menschen- und Weltbild geprägt ist und oftmals kein positives Ende aufweist. Auch spielt Vergeltung eine große Rolle, weil unnachgiebig all das verfolgt wird, »was auf irgendeine Weise gegen religiös geprägte Wertvorstellungen […] verstoßen könnte«, so Lutz Röhrich und Hans-Jörg Uther im Artikel „Sage“ der Enzyklopädie des Märchens.20 Doch an dieser Stelle sollten wir einen Moment innehalten, weil das Zitat nicht zur Gänze auf unsere Erzählung angewendet werden kann; zwar wird gegen Wertvorstellungen verstoßen, indes nicht gegen jene der dominierenden Kultur oder, wie man früher gesagt hätte, der »überlieferten Ordnung«,21 sondern gegen die individuellen Wertvorstellungen der Patientin. Schwarze Magie gehört in Österreich nicht unbedingt zu den anerkannten Glaubensvorstellungen, ist meines Wissens kein dominierendes Element in der studentischen Kultur geisteswissenschaftlicher Fächer und gehört auch nicht zu den etablierten Praktiken calvinistischer Prediger. Wenn demnach die Bezugnahme auf den Einfluss soziokulturell geprägter Vorstellungen wenig ergiebig erscheint, bietet sich – ähnlich wie im Beispiel von Frau Hofbauer – als Alternative ein Blick auf die individuelle Lebensgeschichte und das individuelle Unbewusste an. Frau Mayerhofer sei mit Geistergeschichten aufgewachsen, da ihr Vater, der sich mit seiner Mutterkirche überworfen habe, eine sehr christlich-konservative Einstellung bewahrt habe, die vom Glauben an übernatürliche Schattenwesen und teuflische Mächte geprägt sei. Als ältestes von mehreren Kindern habe sie stets ein Vorbild sein und sich nicht nur um die jüngeren Geschwister kümmern, sondern auch dem Vater willfährig beiseite stehen müssen – ein Muster, das sich auch in ihren eigenen Intimbeziehungen widerspiegele. Bedenkt man all das, dann wird man nicht fehl in der Annahme gehen, dass die Helfer-Attitüde zur Unterdrückung eigener Bedürfnisse, Wünsche und Emotionen sowie zu einem erhöhten Aggressionspotenzial
20 Lutz Röhrich/Hans-Jörg Uther/Rolf Wilhelm Brednich: Sage: In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 11, hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/New York 2004, Sp. 1020. 21 Leopold Schmidt: Volkskunde als Geisteswissenschaft. In: Handbuch der Geisteswissenschaften, Bd. 2, Heft 1. Wien 1948, S. 14.
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im Unbewussten geführt hat. Gleichzeitig war die Kindheit von Ängsten geprägt, einerseits hervorgerufen durch das autoritäre Gebaren des Vaters, andererseits infolge der Vermittlung dämonischer Vorstellungen. Da aus Sicht der Ethologie und Psychologie ein enger Zusammenhang zwischen Angst und Aggression bzw. zwischen Frustration und Aggression besteht,22 erscheint der Umstand, dass Frau Mayerhofer einen Fluch ausspricht, weniger bizarr, als es auf den ersten Blick erscheint. An dieser Stelle kann erneut auf die volkskundliche Erzählforschung Bezug genommen werden, weil in der modernen Sage, den sogenannten Urban Legends, ebenso traditionelle Motive aus dem Bereich des Übernatürlichen vorhanden sind. Das gilt für alte Wiedergänger-Geschichten, die sich zum Beispiel in der weltweit verbreiteten Erzählung vom verschwundenen Anhalter am Leben erhalten,23 genauso wie für Todesankündigungen, etwa Blätter, die von einem kleinen Baum herabfallen, der sich im Zimmer eines Kranken befindet.24 Linda Dégh sieht den Zusammenhang zwischen traditioneller und moderner Sage primär in der Verletzlichkeit des menschlichen Lebens,25 und nach Rolf Wilhelm Brednich zeigen die Sammlungen moderner Sagen, dass »die Ergebnisse moderner Wissenschaft letzten Endes nicht in der Lage waren, den Glauben des Menschen an eine übernatürliche Sphäre zu zerstören«26. In der alten wie in der modernen Sage ist es das Andere, Fremde, Bedrohliche, das jederzeit in den Alltag eindringen kann, wobei es einerseits etwas völlig Gegenläufiges und Unvertrautes, aber gleichzeitig etwas ist, das Tür an Tür mit eben diesem Alltag lebt. Das macht Angst und fasziniert zugleich, weswegen Brednich in dem Zusammenhang von »Angst-
22 Bernd Rieken: Triebtheorie: Sexualität und Aggression. In: ders./Brigitte Sindelar/Thomas Stephenson: Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie – Pädagogik – Gesellschaft. Wien/New York 2011, S. 157-163. 23 Jan Harold Brunvand: The Vanishing Hitchhiker. American Urban Legends and Their Meanings. New York/London 1981, S. 24-46. 24 Rolf Wilhelm Brednich: Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute. München 1990, S. 135, Nr. 105. 25 Linda Dégh: What is the Legend after All? In: Contemporary Legend 1 (1991), S. 11-38, hier S. 24. 26 Brednich: Yucca-Palme, S. 16; vgl. Röhrich/Uther/Brednich, Sage, Sp. 1041-1049.
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lust« spricht27 – einem Begriff, der auf den ungarischen Psychoanalytiker Michael Balint zurückgeht28 – und hinzufügt: »Die Angstlust gegenüber dem Fremden und Bedrohlichen scheint eine Konstante menschlicher Kultur zu sein, und deshalb ist damit zu rechnen, dass die zugehörigen Horrorgeschichten auch in Zukunft weiterleben und dass nach den traditionellen Mustern immer neue Erzählinhalte entstehen werden:«29
Mit dem Begriff »Konstante menschlicher Kultur« haben die zeitgenössischen Geisteswissenschaften zugegebenermaßen ihre Probleme, weil sie dem Essentialismus der Humanwissenschaften nicht trauen und lieber auf die konkreten sozialen, historischen und kulturellen Einflüsse hinweisen, die für sie als hinreichende Erklärung fungieren. Das eine muss das andere indes nicht ausschließen, und da Wissenschaften, wie Paul Feyerabend plausibel gemacht hat, dazu tendieren, ihren Gegenstand zu verflachen, indem sie ihn »einförmiger, ›objektiver‹ und strengen, unveränderlichen Regeln zugänglicher« machen,30 kann es sinnvoll sein, auf multikausale Erklärungsmuster zurückzugreifen, was in dem Fall heißt, auch Fragen des menschlichen Seelenlebens zu berücksichtigen und sich ferner zu überlegen, ob neben soziokulturellen und historischen Einflüssen nicht auch ein von der Gesellschaft weniger abhängiger Grundbestand im Bereich menschlichen Verhaltens, Erlebens und Erkennens existiert. Während sich die Ethnologie im Sinne der früheren Völkerkunde mit diesen Fragen ernsthaft befasst,31 steht die Volkskunde überwiegend im kulturwissenschaftlich-konstruktivistischen Mainstream und verweist zum
27 Brednich, Yucca-Palme, S. 16. 28 Michael Balint: Angstlust und Regression. 5. Aufl. Stuttgart 1999. 29 Brednich, Yucca-Palme, S. 16f. 30 Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt a.M. 2003, S. 16. 31 Z.B. Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. Aufl. Darmstadt 2009; Marie-France Chevron: Anpassung und Entwicklung in Evolution und Kulturwandel. Erkenntnisse aus der Wissenschaftsgeschichte für die Forschung der Gegenwart und eine Erinnerung an das Werk A. Bastians. Wien 2004; Klaus E. Müller: Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriss. Frankfurt a.M./New York 1987.
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Beispiel darauf, dass sich »eine Vielzahl von abergläubischen Fakten als Fragmente hochkultureller Weltanschauungs- und Wissenschaftssysteme erweisen«32. Das ist zwar eine berechtigte Sicht, doch kann man sich gleichzeitig fragen, warum bestimmte hochkulturelle Anschauungen, wie etwa die antike Mikrokosmos-Makrokosmos-Lehre, in der Bevölkerung rezipiert wurden, andere hingegen nicht. Geht man, wie bereits anfangs ausgeführt, davon aus, dass der Mensch in traditionellen bzw. archaischen Gesellschaften offener gegenüber äußeren Einflüssen als in modernen individualistischen Gesellschaften ist, dann kann nämlich – und hierin folge ich dem Ethnologen Klaus E. Müller – ein Grund für die Verbreitung der Magie darin liegen, dass vielen ihrer Erscheinungsformen das »Gesetz der Sympathie« zugrunde liegt, nach welchem Mensch und Natur in einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen und in der Natur alles miteinander verwandt ist.33 Daraus leiten sich die magischen Grundsätze ab, allem voran die »zwei antithetischen Kraftprinzipien«34, nämlich die Ähnlichkeits- (similia similibus) und die Gegensatzregel (contraria contrariis), darüber hinaus die kontagiöse Magie (Einfluss durch Berührung), der Grundsatz pars pro toto und die imitative Magie (Analogiezauber). »Im Grunde genommen handelt es sich«, so Müller, »bei allen derartigen Anschauungen […] lediglich um Varianten ein und desselben Betrachtungsansatzes […]: den Bedingungen des Orientierungsvermögens, der daraus sich zwingend entfaltenden ego- bzw. ethnozentrischen Optik und der Notwendigkeit, den konstituierenden Orientierungssystemen Stabilität, d.h. der Erscheinungswelt in ihrer Gesamtheit Sinn zu verleihen – Voraussetzungen, die zwangsläufig zu irgendeiner Form von ›Panrelationismus‹ oder Allbeziehungslehre führen müssen«35.
32 Dieter Harmening: Superstition – »Aberglaube«. In: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 368-401, hier S. 397; vgl. Christoph Daxelmüller: Aberglaube, Hexenzauber, Höllenängste. Eine Geschichte der Magie. München 1996; Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979. 33 Siehe Müller, Das magische Universum, S. 202; vgl. Rieken, Szulok, S. 193-203. 34 Müller, Das magische Universum, S. 202. 35 Ebd.
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Müller nimmt mit dem Hinweis auf die »ego- bzw. ethnozentrische Optik« Bezug auf das Egozentrismus-Konzept des Entwicklungspsychologen Jean Piaget, das dieser unter anderem in seiner Monografie Das Weltbild des Kindes entfaltet hat.36 Wenn man davon ausgeht, dass die Lebenswelt sich als ein sinnvoll geordnetes Ganzes konstituieren muss, um sich verlässlich in ihr orientieren zu können, bedeutet das in erster Linie, dass sie für den Einzelnen bzw. die Gruppe sinnvoll sein muss und man die Dinge zu sich in Beziehung setzt. »Es vermittelt sich ihm der Eindruck, als ›drehe sich‹ letztlich ›alles um ihn‹, als habe er teil auch am Fluss der Kräfte, die in den Bewegungen seiner Umwelt wirksam sind.«37 Die Dinge um uns herum geschehen nicht zufällig, sondern wollen uns etwas mitteilen. Wenn ein Buschmann einem Chamäleon mit gekrümmtem Schwanz begegnet, muss er auf der Hut sein,38 und wenn ein Gewitter tobt, ist das ein Ausdruck göttlichen Zornes ob unserer Sündhaftigkeit. Im Weltbild des Kindes existieren dazu erstaunliche Parallelen, denn die Dinge dieser Welt werden vor allem magisch-animistisch und intentional interpretiert, das heißt ihnen wird Leben eingehaucht, und sie haben bestimmte Funktionen zu erfüllen. Die Sonne lebt, und sie ist dazu da, um den Menschen Licht zu bringen und sie zu wärmen. Wenn man einen Tisch zertrümmert, spürt er es, und wenn man ein Kraut ausreißt, ebenfalls, weil man an ihm zieht.39 Piaget erklärt das, ähnlich wie Müller, mit Hilfe der Tendenz, sich im Mittelpunkt der Welt zu sehen und all das, was sich um einen herum abspielt, auf sich zu beziehen. Gleichzeitig projiziert man aber auch seine eigene Vorstellungswelt auf die Umgebung: Weil ich mich selber als lebendiges Wesen betrachte, gilt das ebenfalls für die Objekte um mich herum. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass den Dingen auch ein Gefahrenpotenzial innewohnt, zumal sie es im Sinne des Egozentrismus auf mich abgesehen haben können. Eine Tür ist bösartig, weil ich mich an ihr gestoßen habe, und wenn ich nicht brav bin, straft mich am Vorabend des Nikolaustages der Krampus. Ähnlich wie es in traditionellen Gesellschaften der Fall ist, die von einem magischen Weltbild geprägt sind, ist das kindliche Erleben stärker von einer wechselseitigen Durchdringung zwischen Subjekt und Objekt charakteri-
36 Jean Piaget: Das Weltbild des Kindes. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980. 37 Müller, Das magische Universum, S. 198. 38 Ebd., S. 200. 39 Piaget, Weltbild, S. 149.
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siert, »sind Ich und Umwelt noch so innig eins«40. Demgegenüber sind für den heutigen Erwachsenen und in entsprechender Weise für das Selbstverständnis in individualistischen Gesellschaften die Differenz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Umwelt, konstitutive Faktoren. Die Theorie des Egozentrismus ist eine mögliche Erklärung dafür, dass nicht nur in traditionellen, sondern auch in modernen Kulturen magische Restbestände am Leben bleiben, denn sie macht deutlich, dass das magische Erleben ein Teil unserer individuellen Lebensgeschichte ist. Zwar ist es in traditionellen Gesellschaften verbreiteter, doch auch bei uns kann es in Zeiten seelischer Not sowie in Situationen, die mit Angst, Unsicherheit oder Stress einhergehen, wiederbelebt werden. Dadurch wird gleichzeitig Freuds eingangs zitierte Auffassung verständlicher, dass »die Dämonen […] böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregungen« seien: Sie sind Überbleibsel aus der magischen Phase der Kindheit.41 Nicht zuletzt macht auch eine Vielzahl von Untersuchungen aus dem Bereich der empirischen Psychologie deutlich, dass magisches Denken eine weitere Verbreitung findet, als man gemeinhin anzunehmen bereit ist.42 Doch vor allem in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen macht man eher einen Bogen um diesen Bereich. Das gilt für die Volkskunde der vergangenen Jahrzehnte,43 obwohl der Volksglaube einst selbstverständlicher Teil des »Kanons« war, und überdies ein wesentliches gemeinsames Anliegen zwischen ihr und der Psychoanalyse darin besteht, das »Unbedeutende«,
40 Martha Muchow: Psychologische Probleme der frühen Erziehung. Erfurt 1929, S. 46, zit.n. Jürgen Zinnecker: Recherchen zum Lebensraum des Großstadtkindes. Eine Reise in verschüttete Lebenswelten und Wissenschaftstraditionen. In: Martha Muchow/Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Bensheim 1978, S. 30. 41 Ausführlicher über die tiefen- und entwicklungspsychologischen Zugängen zum magischen Denken: Bernd Rieken: Tiefen- und entwicklungspsychologische Zugänge zum Verständnis des Numinosen, dargestellt am Beispiel der dämonologischen Sage. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXV/114 (2011), S. 1-26. 42 Vyse, Psychologie des Aberglaubens. 43 Siehe Dietz-Rüdiger Moser: Einleitung. In: ders. (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 1-9, hier S. 2.
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Alltägliche zum Sprechen zu bringen.44 Aber es gilt auch für die Entwicklungspsychologie, denn obgleich Piagets Theorie des epistemologischen Egozentrismus zum Grundlagenwissen im Fach zählt, wird seine Monografie Das Weltbild des Kindes nur selten zitiert, und man sucht in den Registern der Standardwerke zur Entwicklungspsychologie das Stichwort »Magisches Denken« vergeblich.45 Aus psychoanalytischer Perspektive liegt eine Erklärung dafür klar auf der Hand, nämlich Verdrängung: Man würde an seine eigene Kindheit erinnert werden, die oftmals von Ängsten gegenüber dämonischen Wesen geprägt war. Das indes bedeutet nicht allein eine Kränkung der Eigenliebe des Erwachsenen, sondern vermag auch Aggressionen auszulösen und macht daher verständlich, wieso am rationalen Denken geschulte Wissenschaftler oftmals affektiv ablehnend reagieren, wenn es um die Beschäftigung mit dem Bereich des magischen Denkens geht. Denn bereits Franz Grillparzer, der nicht nur ein hervorragender Dichter, sondern auch ein feinsinniger
44 Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin 2011, S. 7-57; Utz Jeggle: Inseln hinter dem Winde. Studien zum »Unbewussten« in der volkskundlichen Kulturwissenschaft. In: Kaspar Maase/Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Köln 2003, S. 25-44; Rolf Lindner: Spür-Sinn. Oder: Die Rückgewinnung der »Andacht zum Unbedeutenden«. In: Zeitschrift für Volkskunde 107 (2011), S. 155-169; Bernd Rieken: »Nordsee ist Mordsee«. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster/New York 2005, S. 26-55; Martin Scharfe: Bagatellen. Zu einer Pathognomik der Kultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 91 (1995), S. 1-26; ders.: Kultur als Oberfläche. Zur methodischen Not und Notwendigkeit, in die Tiefe zu gelangen. In: Elisabeth Timm/Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.): Kulturanalyse – Psychoanalyse – Sozialforschung. Positionen, Verbindungen und Perspektiven. Wien 2007 (Sonderdruck aus: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXI/110 [2007], S. 101-330), S. 149-156. 45 Siehe Michael Charlton/Christoph Käppler/Helmut Wetzel: Einführung in die Entwicklungspsychologie. Weinheim/Basel/Berlin 2003; Rolf Oerter/Leo Montada (Hg.): Entwicklungspsychologie. 6. Aufl. Weinheim/Basel 2008; vgl. auch Richard J. Gerrig/Philip G. Zimbardo: Psychologie. 18. Aufl. München 2008.
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Psychologe war, wusste: »Wir sind gegen keine Fehler an andern intoleranter, als welche die Karikatur unsrer eigenen sind«46. Wenn es daher in der Tagungsankündigung heißt: »Der sogenannte Aberglaube ist ein Gegenentwurf zu gesellschaftlich anerkannten Glaubensvorstellungen und Praktiken, der von den hegemonialen Instanzen wie Kirche, Schulmedizin oder Naturwissenschaften als Angriff gesehen und als irrational abgewertet oder bekämpft wird«
– dann kann hinzugefügt werden, dass das in feiner dosierter Form auch für die Geistes- und Kulturwissenschaften gilt. Dafür gibt es in diesem Fall zumindest zwei Indizien. Zum einen erscheint es mir aussagekräftig, dass zur Tagung kein Vertreter der Parapsychologie eingeladen wurde, obgleich man sie heutzutage nicht mehr in ein »esoterisches Eck« verbannen kann, weil sie sich als empirische Humanwissenschaft versteht, an einigen Universitäten vor allem im angloamerikanischen Raum gelehrt wird und eine sinnvolle Ergänzung des Themas dargestellt hätte, da sie nach einem möglichen materiellen Gehalt des Gegenstandes fragt.47 Zum anderen leistet die Einordnung in historische und kulturelle Zusammenhänge, verbunden mit einem konstruktivistischen Impetus, dem Glauben Vorschub, dass es sich beim magischen Denken um das ganz Andere und Fremde handele, welches man aus der Sicherheit bietenden Distanz des eigenen Schreibtischs kühl analysieren und dekonstruieren könne. Übersehen wird dabei indes, dass damit auch ein unliebsamer Teil von einem selber beiseitegeschoben wird.
L ITERATUR Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. Aufl. Darmstadt 2009.
46 Franz Grillparzer: Aphorismen. In: ders.: Grillparzers sämtliche Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, hg. von August Saurer. Stuttgart 1892, S. 166. 47 Walter von Lucadou: Psyche und Chaos. Theorien der Parapsychologie. Frankfurt a.M./Leipzig 1995; vgl. dazu Bernd Rieken: Die Angst des Wissenschaftlers vor dem Paranormalen. In: Psychoanalyse und Körper 11 (2012), S. 85-92.
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Michael Balint: Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. 2. Aufl. Stuttgart 1997. Michael Balint: Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung. 2. Aufl. Stuttgart 1997. Michael Balint: Angstlust und Regression. 5. Aufl. Stuttgart 1999. Rolf Wilhelm Brednich: Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute. München 1990. Jan Harold Brunvand: The Vanishing Hitchhiker. American Urban Legends and Their Meanings. New York/London 1981. Michael Charlton/Christoph Käppler/Helmut Wetzel: Einführung in die Entwicklungspsychologie. Weinheim/Basel/Berlin 2003. Marie-France Chevron: Anpassung und Entwicklung in Evolution und Kulturwandel. Erkenntnisse aus der Wissenschaftsgeschichte für die Forschung der Gegenwart und eine Erinnerung an das Werk A. Bastians. Wien 2004. Christoph Daxelmüller: Aberglaube, Hexenzauber, Höllenängste. Eine Geschichte der Magie. München 1996. Linda Dégh: What is the Legend after All? In: Contemporary Legend 1 (1991), S. 11-38. Horst Dilling u.a. (Hg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien/Weltgesundheitsorganisation. 2. Aufl. Bern u.a. 1993. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. 2. Aufl. Zürich 1996. Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt a.M. 2003. Sigmund Freud: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert. In: Gesammelte Werke, Bd. 13. 10. Aufl. Frankfurt a.M. 1998 [1923d], S. 315-353. Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 15. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 1996 [1933a]. Richard J. Gerrig/Philip G. Zimbardo: Psychologie. 18. Aufl. München 2008. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin 2011, S. 7-57.
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Günter Gödde: Philosophischer Kontext. In: Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/ Weimar 2006, S. 10-25. Franz Grillparzer: Aphorismen. In: ders.: Grillparzers sämtliche Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, hg. von August Saurer. Stuttgart 1892. Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979. Dieter Harmening: Superstition – »Aberglaube«. In: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 368-401. Rudolf Hernegger: Der Mensch auf der Suche nach Identität. Kulturanthropologische Studien über Totemismus, Mythos, Religion. Bonn 1978. Utz Jeggle (2003): Inseln hinter dem Winde. Studien zum »Unbewussten« in der volkskundlichen Kulturwissenschaft. In: Kaspar Maase/Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Köln 2003, S. 25-44. Rolf Lindner: Spür-Sinn. Oder: Die Rückgewinnung der »Andacht zum Unbedeutenden«. In: Zeitschrift für Volkskunde 107 (2011), S. 155-169. Walter von Lucadou: Psyche und Chaos. Theorien der Parapsychologie. Frankfurt a.M./Leipzig 1995. Dietz-Rüdiger Moser: Einleitung. In: ders. (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 1-9. Martha Muchow/Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Bensheim 1978. Klaus E. Müller: Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriss. Frankfurt a.M./New York 1987. Rolf Oerter/Leo Montada (Hg.): Entwicklungspsychologie. 6. Aufl. Weinheim/Basel 2008. Adelgard Perkmann: Berufen, beschreien. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin/ Leipzig 1927, Sp. 1096-1102 (Nachdruck Berlin/New York 1987). Jean Piaget: Das Weltbild des Kindes. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980. Ewald Rahn/Angela Mahnkopf: Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf. Bonn 1999.
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Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Reinbek bei Hamburg 1984. Bernd Rieken: Wie die Schwaben nach Szulok kamen. Erzählforschung in einem ungarndeutschen Dorf. Frankfurt a.M./New York 2000. Bernd Rieken: »Nordsee ist Mordsee«. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster/New York 2005. Bernd Rieken: Besuch aus dem Jenseits. Volksglaube im biographischen Kontext. In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 12 (1999), S. 221-235. Bernd Rieken: Wertvorstellungen der Aufklärung und Romantik als ideengeschichtliche Grundlagen der Psychoanalyse. In: Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie 32 (2009) 3+4, S. 47-52. Bernd Rieken: Tiefen- und entwicklungspsychologische Zugänge zum Verständnis des Numinosen, dargestellt am Beispiel der dämonologischen Sage. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXV/114 (2011), S. 1-26. Bernd Rieken: Zur Vorgeschichte der Psychotherapie. In: ders./Brigitte Sindelar/Thomas Stephenson: Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie – Pädagogik – Gesellschaft. Wien/ New York 2011, S. 1-21. Bernd Rieken: Triebtheorie: Sexualität und Aggression. In: ders./Brigitte Sindelar/Thomas Stephenson: Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie – Pädagogik – Gesellschaft. Wien/New York 2011, S. 157-163. Bernd Rieken: Schwarze Magie in der therapeutischen Praxis. Psychoanalytisch-ethnologische Zugänge anhand eines Fallbeispiels. In: Pit Wahl/ Ulrike Lehmkuhl (Hg.): Die Magie des Bösen. Göttingen 2012, S. 97-116. Bernd Rieken: Die Angst des Wissenschaftlers vor dem Paranormalen. In: Psychoanalyse und Körper 11 (2012), S. 85-92. Lutz Röhrich/Hans-Jörg Uther/Rolf Wilhelm Brednich: Sage. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 11, hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/ New York 2004, Sp. 1017-1049. Henning Saß u.a. (Bearb.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen –Textrevision – DSM-IV-TR. Göttingen 2003. Martin Scharfe: Bagatellen. Zu einer Pathognomik der Kultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 91 (1995), S. 1-26.
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Martin Scharfe: Kultur als Oberfläche. Zur methodischen Not und Notwendigkeit, in die Tiefe zu gelangen. In: Elisabeth Timm/Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.): Kulturanalyse – Psychoanalyse – Sozialforschung. Positionen, Verbindungen und Perspektiven. Wien 2007 (Sonderdruck aus: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXI/110 [2007], S. 101-330), S. 149-156. Catherine Schmidt-Löw-Beer: Verschiedene Welten, verschiedene Wahrnehmungen. Das »unpersönliche Selbst«, der Überlebensmodus der Verleugnung und die Annäherung an die psychischen Strukturen von Jugendlichen in Ost und West. In: Wilfried Datler/Ute Finger-Trescher/ Johannes Gstach u.a. (Hg.): Annäherungen an das Fremde. Ethnographisches Forschen und Arbeiten im psychoanalytisch-pädagogischen Kontext. Gießen 2008. Leopold Schmidt: Volkskunde als Geisteswissenschaft. In: Handbuch der Geisteswissenschaften, Bd. 2, Heft 1. Wien 1948, S. 7-30. Rainer Tölle/Klaus Windgassen: Psychiatrie einschließlich Psychotherapie. 16. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 2011. Stuart A. Vyse: Die Psychologie des Aberglaubens. Basel/Boston/Berlin 1999. Xaver Wassmann: Der Tod des grossen Pan. Zum Untergang des Naturgottes in der Antike. Küsnacht 2003. Ernestine Wohlfahrt/Manfred Zaumseil (Hg.): Transkulturelle Psychiatrie – Interkulturelle Psychotherapie. Interdisziplinäre Theorie und Praxis. Heidelberg 2006. Eli Zaretsky: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse. Wien 2006.
Aberglaube und Kriminalwissenschaft um 1900 Der Positivismus der Kriminologen und ihre Rationalisierung des Irrationalen C HRISTIAN B ACHHIESL
P OSITIVISMUS UND STRUKTURELLE S KEPSISVERGESSENHEIT DER KRIMINOLOGEN UM 1900 In diesem Beitrag geht es um den Umgang der Kriminalwissenschaftler um 1900 mit dem Aberglauben, um ihre epistemologische Verarbeitung von Denk- und Vorstellungsweisen, die meist als zweifellos irrational und als objektiv irreal angesehen wurden, die aber als sogenannte Tatmotive Handlungsketten in Gang setzten, die zu erschreckend realen Verbrechen führten. Meist führte also nicht direktes Interesse an Magie, Mythos und Okkultem1 zur kriminalwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Aberglauben, sondern die kriminellen Folgen, die angeblich aus abergläubischem Denken und Fühlen entsprungen sein sollen. Freilich war auch um 1900 die genaue Begriffsdefinition von Aberglauben nicht klar und unumstritten – wir werden noch darauf zurückkommen. Viele Kriminalwissenschaftler setzten
1
Zu diesen Begriffen vgl. Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart ²2009, S. 285-289 (s.v. Magie), S. 320f. (s.v. Okkultismus); vgl. auch allgemein Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München 2008.
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sich mit Definitionen erst gar nicht auseinander und setzten den Aberglauben als gegebenen Begriff ganz selbstverständlich voraus. Vielleicht hatten sie da aus ihrer Schulzeit her vertraute Definitionen aus der Antike im Hinterkopf.2 Jedenfalls wurde der Aberglaube zumeist als epistemologisch verhängnisvoll und für die Erlangung wahren Wissens hinderlich angesehen, als degenerierte oder atavistische Form des Denkens sozusagen.3 Um den Umgang der Kriminalwissenschaftler um 1900 mit dem Aberglauben verstehen zu können, sollen einleitend einige bestimmende Charakteristika der kriminalwissenschaftlichen Epistemologie um 1900 kurz umrissen werden: Den Kriminalwissenschaftlern ging es hauptsächlich darum, Faktenwissen zu produzieren. Sie versuchten, Kausalitätsverhältnisse zu ermitteln, die mit gleichsam naturgesetzlicher Gewissheit die Ereignisabläufe, Umstände und Motivlagen aller an einem kriminellen Akt Beteiligten einer möglichst lückenlosen Erklärung erschließen sollten. Dabei stand
2
Zu antiken Definitionen des Aberglaubens vgl. den Beitrag von Karl-Heinz Göttert in diesem Band. Zur Antikelastigkeit der Bildung um 1900 vgl. Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a.M./Leipzig 1999.
3
Um hier selbst kurz Stellung zu beziehen: So manche angeblich abergläubische Vorstellung wird von außen zugeschrieben, also von Menschen, die sich als betont rational präsentieren und den Aberglauben als Negativfolie für die eigene epistemische Zuverlässigkeit gebrauchen. Und dennoch kann man derlei abergläubische Vorstellungen nicht generell als inexistent oder bloß konstruiert abtun, nicht zuletzt, da derlei »rational« erfasste Vorstellungen von sogenannten Abergläubischen aufgegriffen werden können, wodurch, metaphorisch gesprochen, die Rationalisten erst das Böse in die Welt bringen, wie etwa jener Professor Abronsius in Roman Polanskis Film »Tanz der Vampire«. Ich möchte den Aberglauben als ähnlich irreal-real betrachten, wie dies Shane McCorristine mit den Geistern tut, indem er sagt »that the ghosts which really haunt us today should be considered as spectres of the self, ghosts which are less real, and at the same time more real, than the type of traditional, restless ghosts that we read about in Homer’s Odyssey or watch on popular television shows such as Most Haunted« (Shane McCorristine: Spectres of the Self. Thinking about Ghosts and GhostSeeing in England, 1750-1920. Cambridge u.a. 2010, S. 1). Der Aberglaube wird hier also nicht als etwas einfach Gegebenes betrachtet, dennoch möchte ich ihn – u.a. aus lesetechnischen Gründen – nicht unter Anführungszeichen setzen.
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das spätestens seit Francis Bacon als Muster naturwissenschaftlichen Arbeitens geltende positivistische, induktiv-empirische Modell von reproduzierbarem Versuch und überprüfbarer Beobachtung Pate für eine quasinaturwissenschaftliche Exaktheit. Mit Hilfe dieser Exaktheit sollten nicht nur Fakten der Natur erkennbar werden, sondern auch im Inneren des Menschen liegende unobservables wie etwa Emotionen, Willensstrebungen und Motive. Kurz, der Mensch wurde auf eine wie Objekte der unbelebten Natur erforschbare »Realie« reduziert. Dabei wurden die Kriminalwissenschaftler von dem Bewusstsein getragen, besonders verlässliche Ergebnisse erzielen zu können, da man ja nach den Vorgaben der exakten Naturwissenschaften, vor allem der klassischen Physik, zu arbeiten vermeinte. Anders als die zeitgenössische Physik, die sich vom unerschütterlichen Vertrauen in die eindeutige Korrektheit ihrer Erkenntnisse um 1900 verabschieden musste, wurden die Kriminalwissenschaftler kaum von einem drohenden »Wahrheitsgewissheitsverlust«4 geplagt; und dieses unerschütterliche Vertrauen in die eigene epistemische Leistungsfähigkeit führte zu einer strukturellen Skepsisvergessenheit, die bei all den hohen wissenschaftlichen Ansprüchen, die die Kriminalwissenschaftler an sich selbst stellten, bisweilen zu sehr fragwürdigen Ergebnissen führte.5 Sie suchten stets nach faktischen und eindeutigen Wahrheiten, auch dann, wenn es um Wahrheitsfragen ging, die, was die Erkennbarkeit anbelangt, das Faktische transzendieren. Auch und gerade im Umgang mit dem Aberglauben werden solche aus der erwähnten positivistisch (und auch biologistisch) fundierten strukturellen Skepsisvergessenheit herrührenden Fragwürdigkeiten deutlich sichtbar. – Diese kurzen Hinweise müssen hier genügen, um den historisch-epistemologischen Hintergrund der nachfolgenden Ausführungen zum kriminalwissenschaftlichen Umgang mit dem Aberglauben um 1900 zu umreißen.6
4
Vgl. Gregor Schiemann: Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtzތ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von klassischer zu moderner Naturphilosophie. Darmstadt 1997.
5
Vgl. Christian Bachhiesl: Bemerkungen zur strukturellen Skepsisvergessenheit biologistisch zentrierter Kriminalwissenschaft. In: Kriminologisches Journal 42 (2010) 4, S. 263-275.
6
Aus Platzgründen muss es hier bei diesen kurzen Ausführungen bleiben; eine eingehende historisch-epistemologische Untersuchung der frühen Kriminalwissenschaft findet sich in: Christian Bachhiesl: Zwischen Indizienparadigma und
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Den Kriminalwissenschaftlern um 1900 galt der Aberglaube grundsätzlich als ein epistemologisch minderwertiger Versuch, die Welt zu deuten. Und dennoch sah man sich gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, denn so manches unerklärliche Verhalten könne erst verständlich werden, wenn man die dahinter stehenden abergläubischen Denkmechanismen kenne. Der Aberglaube hatte also die Funktion einer an sich irrationalen Basisinformation, mit deren Hilfe rationale Erkenntnis erst ermöglicht wird – er wurde als ancilla rationis criminologicae in Dienst genommen. Darüber hinaus stellten sich zumindest manche Kriminalwissenschaftler die Frage, ob okkultes Denken nicht ein eigenständiges, epistemologisch wertvolles Phänomen darstellen könne. Und schließlich stellte sich die Frage, ob dem Aberglauben eine eigenständige Erklärungskraft als Motiv für kriminelle Handlungen innewohne, oder ob er nicht erst mit Hilfe konkreter Rationalisierungsstrategien kriminalwissenschaftlich aussagekräftig werde. Diese Fragestellungen sollen im Folgenden kurz erörtert werden.
R ATIONALISIERUNG DES I RRATIONALEN – BIS HIN ZUR » OKKULTISTISCHEN K RIMINOLOGIE « Einer wissenschaftsgläubigen und erkenntniseuphorischen Zeit, wie es die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war, stellte sich der Aberglaube als Relikt dunkler, primitiver Denk- und Lebenswelten dar. Da Aufklärung und Wissenschaft seit geraumer Zeit das Leben in immer helleres Licht tauchten, mussten die alten mythischen und okkulten Vorstellungskonglomerate eigentlich zum Aussterben verurteilt sein. Jedoch, so musste man feststellen, der Aberglaube trieb auch um 1900 seine reichen Blüten, und immer wieder vermeinte man, im Aberglauben die Ursache eines Verbrechens zu erkennen. Man musste sich also mit dem Aberglauben beschäftigen, weil derlei veraltete Vorstellungen in der Bevölkerung noch immer im Schwange waren; und ein guter Kriminalwissenschaftler versucht alles zu verstehen, auch wenn er darin prima vista keinen Sinn finden kann. Vor allem ging es
Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung. Wien u.a. 2012. Hier findet der interessierte Leser auch weiterführende Angaben zur Literatur über die Geschichte der Kriminalwissenschaft.
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darum, den Aberglauben als solchen zu kennen und zu erkennen, da abergläubische Vorgänge sonst nicht geklärt werden und die Lösung eines Falles erschweren oder verhindern könnten. Und gerade die Klientel, mit der es die Kriminalwissenschaftler zu tun bekamen, die Kriminellen also, galten einerseits als Leute, die den Aberglauben anderer geschickt für Betrug und andere Verbrechen auszunutzen wussten, andererseits aber auch als ein dem Aberglauben besonders verfallenes Volk. So schrieb etwa Hans Gross, einer der »Väter« der Kriminologie als selbständige Wissenschaft und Begründer der »Österreichischen Schule der Kriminologie«: »Es ist merkwürdig, welche Wirkung heute noch der Aberglaube auf eine Reihe von Menschen hat, welche sich gerade das Verbrechen zum Lebenszwecke gemacht haben. Verbrecher speculieren oft auf den Aberglauben anderer, oft stehen sie selbst in sehr arger Weise unter seiner Herrschaft und lassen sich durch ihren Aberglauben zu unerklärlichen Dingen verleiten.«7
Der Kriminologe musste also darum bemüht sein, sich mit den abergläubischen Praktiken des Volkes und besonders der Kriminellen vertraut zu machen, um durch Abergläubisches in der Ermittlung und Beurteilung von Gegenständen, Aussagen und Verhaltensweisen nicht in die Irre geführt zu werden. Manchmal stellte der Aberglaube auch das Wesentliche in einem Fall dar, sodass ohne seine Kenntnis und Verständnis ein Verbrechen nicht aufzuklären war: »Und der crasseste Aberglaube regt sich noch heute lebendiger im Gaunervolke, als man gewöhnlich annimmt. Ich selbst sah noch ›Schlummerlichter‹, die aus dem Fette unschuldiger Kinder geformt waren und dazu dienten, um zu sehen, ob noch jemand in dem zu beraubenden Hause wach sei. Ja selbst große Verbrechen können auch heute noch ihre Klärung nur im Aberglauben finden.«8
In den Augen Hans Gross ތhatte die Beschäftigung mit dem Aberglauben also vorwiegend den Sinn, abergläubisch agierende Menschen durchschauen bzw. ihr rational nicht verstehbares Verhalten vernünftig erklären zu
7
Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u.s.w. Graz ²1894, S. 349.
8
Ebd., S. 349f.
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können. Er strebte die Rationalisierung des Irrationalen an, um dieses der naturwissenschaftlichen Denkweise zugänglich und damit beherrschbar zu machen. Abergläubische Denk- und Verhaltensweisen wurden in mannigfacher Weise als kriminalwissenschaftlich relevant erachtet. Der Blutaberglaube in seinen vielfältigen Ausprägungen etwa wurde als Ursache für verschiedenste strafrechtliche Delikte erkannt. So konnten Vorstellungen, dass Tote den Lebenden Blut und Lebenskraft entziehen können – also Vorstellungen, die unter dem Begriff des allgemein verbreiteten, »universalen Vampyraberglaubens«9 zusammengefasst wurden – zum Öffnen von Gräbern und zur Enthauptung oder sonstigen Misshandlung von Leichen und damit zur Störung der Totenruhe und zur Leichenschändung führen.10 Bisweilen war der Vampirglaube mit Vorstellungen, dem Blut und anderen Körpersubstanzen von Menschen komme eine beachtliche Heilwirkung zu, aufs Engste verbunden, was zum Beispiel zur Enthauptung einer exhumierten Leiche geführt haben soll, um die dabei austretende Körperflüssigkeit als (Volks-) Medizin verwenden zu können.11 Die Vorstellung von der schädigenden Kraft der Untoten wurde bisweilen mit der Vorstellung verknüpft, dass Verstorbene – wenn sie nur wirklich tot und mit den Lebenden versöhnt seien – Nutzen bringen können, was zum Mord geführt haben soll. So wird berichtet, im Jahr 1905 hätten auf der Halbinsel Krim Dorfbewohner am Friedhof um einen ausgegrabenen, an einen Baumstamm gelehnten Leichnam getanzt, den sie als Vampir verdächtigten und für eine lang anhaltende Trockenheit verantwortlich machten. Als der Dorfpope zu der makabren Tanzveranstaltung hinzukam, jubelten ihm die Dörfler zu, weil sie dachten, er werde den Leichnam mit Weihwasser besprengen, um die Wirksamkeit des Zaubers zu verstärken. Der Pope aber schalt die Leute nur und bezichtigte sie der »gotteslästerli-
9
Albert Hellwig: Kriminalistische Aufsätze. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 31 (1908) 1-2, S. 67-113, hier S. 99.
10 Vgl. Albert Hellwig: Verbrechen und Aberglaube. Skizzen aus der volkskundlichen Kriminalistik. Leipzig 1908, S. 22-28; August Löwenstimm: Aberglaube und Strafrecht. Berlin 1897, S. 93-106. 11 Vgl. Th[eodor] Lochte: Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehung zum Verbrechen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 35 (1909) 3-4, S. 327-339.
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chen Barbarei«, er verfluchte ihren Aberglauben und weigerte sich, an einer derart heidnischen Zeremonie mitzuwirken. Das nahmen seine Schäfchen ihm übel: »Nun wurden die Bauern, die auch wohl schon etwas angetrunken und durch die Musik und den Tanz seltsam erregt waren, von Wut gegen ihren Priester erfüllt und schrien, es wäre der eigentliche Zauberer, denn der Geist des Toten wäre in seinen Körper gefahren und richtete neues Unheil an. Die fanatische Menge ergriff den Priester und stieß ihn in das offene Grab hinein, dann warf man die Leiche nach und schüttete Erde und Steine darüber.«12
Am Tag nach diesem Tanz um den Vampir benachrichtigten zwei Frauen den Polizeikommissar, und der ließ das Grab erneut öffnen und fand den erstickten Popen. Albert Hellwig, der dieser Geschichte bereitwillig Glauben schenkte, sah in diesem Falle ein »trauriges Kulturbild von dem Aberglauben und dem geistigen Tiefstand der russischen Landbevölkerung« und ein »klassisches Beispiel eines Kollektivverbrechens aus abergläubischem Fanatismus«.13 Auch das vergleichsweise banale Delikt des Diebstahls wurde als Folge des Blutaberglaubens festgestellt; junge Ungarinnen etwa waren, wenn sie sich einen Mann angeln wollten, zum Diebstahl von Kuchen angehalten, den sie mit Menstruationsblut verfeinern mussten: »Auch im Liebeszauber spielen gestohlene Sachen öfters eine Rolle. So stehlen bei den Magyaren die jungen Mädchen bei Neumond auch Kuchen, kochen dieselben mit ihren Menses und mischen einen Teil davon in Speisen der betreffenden Burschen.«14
Alternativ dazu konnte man auch eine geröstete Brotschnitte in eine gestohlene Männerunterhose stecken, aber das war dann keine Spielart des Blutaberglaubens mehr. Mit Blut konnte man also die Seligkeit der Liebe erlangen – aber sich auch dem Teufel verschreiben. Um jedoch den Teufel her-
12 Hellwig, Kriminalistische Aufsätze, S. 100. 13 Ebd., S. 100f. 14 Albert Hellwig: Diebstahl aus Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 26 (1906) 1, S. 37-49, hier S. 43.
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beirufen zu können, stahlen Menschen, die willig waren, sich dem personifizierten Bösen zu verkaufen, bisweilen Hostien aus einer Kirche – diese scheinen ein für den Teufel attraktiveres Lockmittel als das Blut simpler gefallener Menschen gewesen zu sein.15 Blut wurde aber nicht nur als zur Verübung von Diebstählen tauglich erachtet – der Glaube an die dem Blut innewohnenden magischen Kräfte wurde als ungemein vielgestaltig wahrgenommen: Der Genuss von rohem Blut sollte zum Beispiel das Wahrsagen ermöglichen. Es war dies eine Vorstellung, die »im Glauben an die a n i m i s t i s c h e B e l e b u n g d e s 16 B l u t e s « wurzelte und im Blut den Träger der Lebenskraft und den »Seelenträger«17 erkannte, und die zu Betrugszwecken und anderen kriminellen Handlungen benutzt werden konnte. Das Misshandeln von Frauen zum Beispiel, die man für Hexen hielt, führte man auf diesen Glauben, das Blut sei Träger der Seele einer Person, zurück; denn hielt man sich für behext, so konnte das Blut der Hexe den Fluch aufheben. Albert Hellwig, in Berlin wirkender Richter und einer der eifrigsten Erforscher des kriminell wirksam werdenden Aberglaubens, berichtet von einem Fall, »in dem eine Frau eine angebliche ›Hexe‹ mißhandelte, bis ihr Blut aus der Nase floß und dann mit diesem Blute ihren an Epilepsie erkrankten Sohn, dem die Krankheit von jener Hexe angetan war, zu bestreichen«18. Der Blutaberglaube konnte also vom Diebstahl über Betrug,19 Kurpfuscherei20 und Körperverletzung bis hin zur Leichenschändung und zum Mord21 alle möglichen Delikte zur Folge haben. Besonders eifrig im Be-
15 Ebd., S. 47. 16 Paul Näcke: Trinken von Blut zum Wahrsagen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 34 (1909) 3-4, S. 339-343, hier S. 341f. – Hervorhebungen im Original. 17 Albert Hellwig: Hexenglaube und Blutkuren. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 30 (1908) 3-4, S. 376f., hier S. 377. 18 Ebd., S. 376. 19 Vgl. z.B. Christian Bachhiesl: Aberglaube und Betrug. In: ders. u.a.: Räuber, Mörder, Sittenstrolche. 37 Fälle aus dem Kriminalmuseum der Karl-FranzensUniversität Graz. Graz ³2008, S. 39-43. 20 Vgl. Lochte, Über Kurpfuscherei und Aberglauben. 21 Zum Mord aus Blutaberglauben vgl. u.a. Hellwig, Kriminalistische Aufsätze, S. 88-93.
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richten von Fällen des kriminell relevanten Aberglaubens war, wie die bereits zitierten, aus seiner Feder geflossenen Beiträge zeigen, Albert Hellwig, der sich durch sein Interesse und teilweises Verständnis für den Aberglauben nicht daran hindern ließ, als Richter und Kriminalwissenschaftler kriminelle Formen des Aberglaubens mit aller Strenge zu verfolgen, um die Gesellschaft von selbst abergläubischen und den Aberglauben anderer ausnutzenden Verbrechern zu schützen. Dieser kurze Auszug der von den Kriminalwissenschaftlern festgestellten Formen des Aberglaubens – eine ausführliche Aufzählung könnte ganze Bände füllen22 – zeigt, wie erfolgreich sie im Aufspüren von okkulten Verhaltensweisen und Vorstellungswelten waren. Allerdings stellen diese Berichte nur sehr bedingt eine Quelle für die Rekonstruktion superstitiöser Lebenswelten dar. Aber eine solche Rekonstruktion ist auch nicht das Ziel dieser kurzen Betrachtung; hier soll der Umgang der Kriminalwissenschaftler mit dem, was sie für Aberglauben hielten, betrachtet werden. Die Informationen, auf die sich die Arbeit der Kriminalwissenschaftler stützte, stammen zum Teil aus Gerichtsakten, die zwar als recht verlässliche Quellen gelten dürfen, die aber doch auch nicht frei von Zuschreibungen und Wunschvorstellungen sind. Zum Teil wurden diese Informationen aber auch aus recht unreflektierten, stark europazentrischen ethnografischen Schriften oder aus Tageszeitungen und anderen Publikumszeitschriften entnommen, sodass der Quellenwert als fragwürdig zu bezeichnen ist. Dies sei vermerkt, ohne die Möglichkeit von bizarren, abergläubisch motivierten Delikten rundweg ausschließen zu wollen. Die Bereitwilligkeit, mit der die Kriminalwissenschaftler derlei teilweise aus weiter geografischer und zeitlicher Ferne herangeholten Informationen als wahr erachteten und sogleich in ihre Erforschung und Klassifizierung der kriminellen Psyche integrierten, lässt sich als aussagekräftiges Beispiel für die oben erwähnte strukturelle Skepsisvergessenheit der frühen Kriminalwissenschaft anführen.
22 Eine vom Hans Gross Kriminalmuseum in Kooperation mit dem Volkskundemuseum Graz durchgeführte Recherche ergab, dass allein in der kriminalwissenschaftlichen Fachzeitschrift »Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik«, die seit 1916 unter dem Titel »Archiv für Kriminologie« firmiert, in den Jahren 1898 bis 1938 mehr als 3000 Druckseiten abergläubischen Sujets gewidmet waren.
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Zu ergänzen ist, dass zumindest für manche Kriminalwissenschaftler eine gleichsam phänomenologische Erfassung und Kategorisierung der verschiedenen Erscheinungsformen des Aberglaubens und ihrer (zumindest potenziell vorhandenen) kriminellen Folgewirkungen nur einen, und nicht einmal den wesentlichen Grund für die Auseinandersetzung mit magischen und okkulten Denkformen darstellte. Albert Hellwig etwa traute der naturwissenschaftlichen Rationalität allein nicht zu, sämtliche kriminalwissenschaftlich relevanten Bereiche des menschlichen Verhaltens- und Vorstellungsrepertoires zu erkunden: »Mit Recht hält man für die beste Waffe gegen den Aberglauben die Aufklärung, den Einblick in das Naturgeschehen, wenngleich man ihren Einfluß doch bedeutend überschätzt.«23 Hellwig maß der Vernunft zwar die entscheidende Rolle in der Erkenntnisgewinnung zu, wollte aber als okkult und magisch stigmatisierte Vorstellungen nicht von vornherein aus der kriminalwissenschaftlichen Wissensproduktion ausschließen. Schon die Schwierigkeiten bei der Definition und Unterscheidung von Glauben, Wissen und Aberglauben zeigten, dass man hier nicht voreilig einem gar zu reduzierten Rationalitätsbegriff huldigen dürfe. Der Wandel des Wissens- und Wissenschaftsbegriffes mache dies nur zu deutlich: »Wenn aber Glaube und Wissenschaft durchaus nicht streng geschiedene, durch unveränderliche Normen ein für allemal scharf gesonderte Gebiete sind, so trifft dies natürlich auch zu bezüglich des Verhältnisses des Aberglaubens zur Wissenschaft. Die moderne Völkerpsychologie hat uns gezeigt, wie viel Glaube eigentlich in jeder noch so exakten Wissenschaft – mit alleiniger Ausnahme der Mathematik – vorhanden ist. Daß vieles, was in früheren Jahrhunderten als Wissenschaft galt, heutigentags allgemein als Aberglauben betrachtet wird, ist bekannt. Es braucht nur erinnert zu werden z.B. an die Astrologie, an die Alchimie, an die Chiromantie und vieles andere. Man hat daher nicht mit Unrecht den Aberglauben als die Wissenschaft vergangener Kulturperioden bezeichnet.«24
Mit solchen Ansichten stand Hellwig nicht allein; auch von anderer Seite wurde festgestellt, dass eine scharfe Trennung von Wissenschaft und Aberglauben
23 Hellwig, Verbrechen und Aberglaube, S. 4. 24 Ebd., S. 2.
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»oft sehr schwer ist, ohne die Grenzmarken von Rechtglauben und Aberglauben, Vernunft und Unvernunft, Wahrheit und Trug selber zu verrücken, und das als sich widersprechend oder gar feindselig einander gegenüberstehend zu bezeichnen, was wir mit tieferer Einsicht zuletzt als aus e i n e r Wurzel entsprungen und e i n e m Stamme angehörig, anerkennen müssen«25.
Man beharrte zwar auf rational-wissenschaftlicher Überprüfbarkeit, wollte aber auch rational grundsätzlich nicht Nachvollziehbares nicht prinzipiell ausschließen. Albert Hellwig konnte etwa dem Gedanken, dass mit besonderer Intuition begabte Individuen die Aufklärung von Verbrechen mittels Hellsehen vorantreiben könnten, durchaus etwas abgewinnen. Wenn die Kriminalwissenschaft sich den naturwissenschaftlichen Fortschritt zunutze machte, wieso sollte sie das bei okkulten Erkenntnisstrategien nicht ebenso tun? »Nur wenn auf allen Seiten die Besonnenheit bewahrt wird, besteht Hoffnung, daß es eines Tages gelingen wird, einwandfrei festzustellen, welche Bewandtnis es mit der Telepathie und mit dem Hellsehen hat. Zwar kann es zweifelhaft erscheinen, ob Telepathie und Hellsehen, auch wenn sie eines Tages vielleicht als Tatsachen gelten sollten, irgendeine erhebliche Bedeutung für die Kriminalistik gewinnen werden. Möglich ist es aber immerhin. Jedenfalls wird die Kriminalistik, die ständig alle Fortschritte der Naturwissenschaft in den Dienst der Verbrechensbekämpfung zu stellen sich erfolgreich bemüht, auch nicht zögern, sich okkulter Aufklärungsmethoden zu bedienen, sobald ihre Zuverlässigkeit erwiesen ist.«26
Vorsichtig wird hier die künftige Verbrechensaufklärung mittels Gedankenlesen und Hellseherei ventiliert – eine Form von »okkultistischer Kriminologie«, wenn man so möchte, die aber in der weiteren Entwicklung der Kriminalwissenschaft vorerst keine dominante Stellung erringen sollte, auch wenn so mancher Verbrecherjäger seine Erfolge nicht zuletzt seiner Intuition und einem gewissen »sechsten Sinn« verdanken mochte, zumindest in der Kriminalliteratur. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg allerdings sollten in der ganzheitlich ausgerichteten Kriminalbiologie irrationale und intuitive
25 W. [Vorname nicht näher angegeben] Mannhart: Zauberglaube und Geheimwissen. Berlin 51920, S. 7. – Hervorhebungen im Original. 26 Albert Hellwig: Okkultismus und Strafrechtspflege. Ueber die Verwendung von Hellsehern bei Aufklärung von Verbrechen. Bern/Leipzig 1924, S. 106.
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Erkenntnismethoden eine entscheidende Rolle spielen;27 um 1900 aber behielt die den Vorgaben exakter Naturwissenschaftlichkeit verpflichtete Methodik ihre beherrschende Stellung. Die Faszination für Okkultes und Abergläubisches, die hier von Albert Hellwig frei zum Ausdruck gebracht wird, kommt, wenn auch nicht so offen eingestanden, auch bei anderen kriminalwissenschaftlichen Autoren, die sich dieser Thematik widmeten, zum Vorschein. Freilich wird da meist in nüchternem, um objektive Schilderung der ermittelten Fakten bemühtem Ton über die unglaublichsten abergläubisch motivierten Handlungen berichtet; die sich hier gleichsam als Kulturwissenschaftler betätigenden Kriminalwissenschaftler verurteilen die Unvernünftigkeit der Menschen, die doch in der modernen Wissenschaft das Licht der Wahrheit erblicken könnten, wenn sie nur wollten, und sie äußern kopfschüttelnd ihr Unverständnis über die Leicht- und Abergläubigkeit der Menschen. Und doch wird immer wieder auch eine gewisse Faszination für derlei Dinge spürbar, die gerade ob ihrer haarsträubenden Vernunftlosigkeit eine Herausforderung für den um exakte Naturwissenschaftlichkeit bemühten Geist darstellen. Hier mag ein gewisser Selbstwiderspruch sichtbar werden, der, wie zumindest ein Teil der Kulturgeschichtsschreibung postuliert, die gesamte von Vernunftgläubigkeit und Aufklärung geprägte europäische Kultur kennzeichnet.28
27 Vgl. Christian Bachhiesl: Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit. Die Kriminalbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Hamburg 2005; Christian Bachhiesl: Der Fall Josef Streck. Ein Sträfling, sein Professor und die Erforschung der Persönlichkeit. Wien u.a. ²2010. 28 Zur Macht des Irrationalen und Okkulten in der europäischen Geistesgeschichte vgl. Doering-Manteuffel, Das Okkulte; Karen Gloy: Von der Weisheit zur Wissenschaft. Eine Genealogie und Typologie der Wissensformen. Freiburg/München 2007, S. 178-187; Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, Bd. 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. München 1996; Alfred Stohl: Der Narrenturm oder die dunkle Seite der Wissenschaft. Wien u.a. 2000; James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur und Okkultismus im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008; James Webb: Die Flucht vor der Vernunft. Politik, Kultur und Okkultismus im 19. Jahrhundert. Wiesbaden 2009.
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P ATHOLOGISIERUNG ALS Z EICHEN SCHWINDENDER E RKLÄRUNGSKRAFT DES ABERGLAUBENS Die Kriminalwissenschaftler waren intensiv darum bemüht, den Aberglauben in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu erfassen und zu kategorisieren und so, wenn schon eine »okkultistische Kriminologie« nicht realisierbar erschien, zumindest eine Phänomenologie der aus Aberglauben entspringenden Verbrechen zu erarbeiten. Es ist nun aber festzustellen, dass, anders als in früheren Zeiten, der Aberglaube allein um 1900 nicht mehr als erklärungskräftiges Verbrechensmotiv angesehen wurde. Nun musste zum Aberglauben ein weiterer, den naturwissenschaftlichen Ansprüchen genügender Faktor, nämlich die Psychopathie, hinzutreten, um ihn zu einem signifikanten Erklärungsmoment zu machen. Hans Gross meldete sich dazu mit einem umfangreichen Aufsatz zu Wort, der den Titel »Psychopathischer Aberglaube« trägt und anhand von vier besonders grausamen und mit dem Herumtragen oder Auflegen von Körperteilen und Kleidungsstücken verbundenen Mordfällen29 die Frage nach dem kriminalpsychologischen Erklärungspotenzial von abergläubischen Verhaltensweisen erörtert. Nach Gross läge es durchaus nahe, bei Fällen, die durch seltsame Verhaltensweisen der Täter und durch ungewöhnlichen, an Fetischismus erinnernden Umgang derselben mit Blut und Leichenteilen ausgezeichnet seien, Aberglauben als Ursache für ein Verbrechen anzunehmen. Man wisse sehr wohl, wie weit verbreitet und wirkmächtig der Aberglaube sei, dem man nicht umsonst »ein ganzes selbständiges Gebiet unserer Arbeit« gewidmet habe.30 Der Aberglaube dränge sich als Erklärung für unorthodoxes Verhalten von Mördern geradezu auf. Man dürfe aber die Motivationskraft des Aberglaubens auch nicht überschätzen: Der Aberglaube könne meist erst dann als Motiv für »eine lange Reihe sogenannter ›entsetzlicher‹ Verbrechen« in
29 Es handelt sich hierbei um den Fall Leopold Hilsner, den Fall Johann Hofer, den Fall Josef Maier und um den berühmten Konitzer Blutmord. 30 Hans Gross: Psychopathischer Aberglaube. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 9 (1902) 4, S. 253-282, hier S. 280. Dem Aberglauben und seinen Realien hat Gross auch eine eigene Abteilung des Grazer Kriminalmuseums gewidmet; hier finden sich Zauberkarten, Zauberbücher, Alraunen, wundersame Heilmittel usw., die auch heute noch im 2003 reanimierten Kriminalmuseum ausgestellt sind.
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Betracht gezogen werden, wenn zudem noch Psychopathie hinzutrete. Nur mit Psychopathie gemeinsam auftretender Aberglaube könne »Mordthaten an Kindern, zwecklose oder grausame Tödtungen von Erwachsenen ohne erkennbares Motiv, grauenhafte Misshandlung und Verstümmelung u.s.w.« erklären.31 Ansonsten, so Gross, wäre nicht zu erklären, warum der Aberglaube in der Bevölkerung so weit verbreitet, unerklärlich grausame Bluttaten hingegen dennoch relativ selten seien: »Dass man fliegen kann, wenn man das Blut unschuldiger Kinder trinkt, dass man Schätze findet, wenn man einem Anderen unter gewissen Zauberformeln den Hals abschneidet, dass Einem die Gerichte ›nichts anhaben‹ können, wenn man Fleisch vom eigenen Kinde verzehrt, dass ermordete unschuldige Kinder direct Engel Gottes werden und tausend andere grauenhafte Aberglauben bestehen überall im Volke und bilden erschreckend oft den Gegenstand von Gerichtsverhandlungen, aber unter normalen Verhältnissen ziehen die Leute doch n i c h t die letzten Consequenzen daraus; sie begehen den zur Erreichung der genannten Vortheile nothwendigen Mord doch so lange nicht, als die Idee nicht überwerthig wurde, gezwungen durch äussere oder innere Momente.«32
Mit anderen Worten, Aberglauben finde man allerorten, und er mag für Betrügereien und andere Vermögensdelikte von gewieften Kriminellen auch weidlich ausgenutzt werden, aber es wäre ein Fehler, auch bei scheinbar unerklärlichen oder unfassbar grausamen Bluttaten sogleich auf Aberglauben als bestimmendes Motiv zu schließen; in solchen Fällen sei man besser beraten, an einen psychopathischen Hintergrund zu denken. Gross warnt also vor der allzu leichtfertigen Befolgung eines Satzes, den die Archäologen als ironische Interpretationsanweisung bei unklaren Fundlagen geprägt haben: »Was man nicht anders deuten kann, das sieh getrost als kultisch an.«33 Dieses primäre Abstellen auf Psychopathie und damit die Reduktion der Erklärungskraft des Aberglaubens als Motiv für Blutverbrechen wurde in der Kriminalwissenschaft um 1900 breit rezipiert, wobei bisweilen auch Elemente abweichender Sexualität als Erklärungsfaktoren hinzugezogen
31 Ebd., S. 280. 32 Ebd., S. 280f. – Hervorhebung im Original. 33 Felix Müller: Götter, Gaben, Rituale. Religion in der Frühgeschichte Europas. Mainz 2002, S. 1.
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wurden. So berichtete ein Staatsanwalt aus Amberg von einem Pädophilen, der einen Knaben in sein Haus gelockt hatte, um ihn zu missbrauchen, dann aber aus Angst vor Entdeckung seiner Tat den Knaben bis zur Bewusstlosigkeit würgte und noch bei lebendigem Leib aufschlitzte, da er »in einem Zauberbuch gelesen hatte, man könne sich mit den getrockneten und zu Pulver verriebenen Eingeweiden eines Kindes unsichtbar machen und auch durch Beimischung solchen Pulvers zu Speis und Trank die Gunst der davon genießenden Frauenspersonen erwerben«34.
In diesem Fall wurden Homosexualität, Sadismus und psychopathischer Aberglaube gleichermaßen als bestimmend für die Tatbegehung angenommen.35 Die Pathologisierung ersetzte bei der Interpretation von grausamen Verbrechen ältere Deutungsmuster von irrational erscheinendem Verhalten. Bislang waren bei Morden mit Zerstückelung des Opfers und stückweisem Deponieren der Körperteile traditionellerweise auch religiös-abergläubische Motive in Betracht gezogen worden, wobei immer wieder religiöse Minderheiten und Randgruppen in Verdacht gerieten. Juden etwa galten von Alters her als »die üblichen Verdächtigen« bei solchen Untaten; noch um 1900 musste Hans Gross darauf hinweisen, dass zwar der Blutaberglaube »stets und auch heute pandemisch« sei,36 dass aber auch in solchen Fällen eher auf einen pathologischen als auf einen blutabergläubischen Hintergrund zu schließen sei. Heftig diskutiert wurde in diesem Zusammenhang etwa der »Konitzer Blutmord«: Am 11. März 1900 verschwand in der westpreußischen Stadt Konitz ein junger Mann, dessen Körperteile in den folgenden Monaten im ganzen Stadtgebiet verstreut auftauchten. Bald wurden antisemitisch
34 [Vorname nicht angegeben] Knauer: Mord aus Homosexualität und Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 17 (1904) 3-4, S. 214-220, hier S. 219. 35 Zu diesem Fall vgl. Bachhiesl, Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft, S. 427f. 36 Hans Gross: Rezension zu dem von Hermann L. Strack verfassten Buch »Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der Volksmedicin und des jüdischen Blutritus«. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 4 (1900) 3-4, S. 357f., hier S. 358.
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unterlegte Vermutungen laut, hier müsse es sich um einen »jüdischen Ritualmord« handeln, und es wurden zahlreiche kleinere Schriften und auch Bücher zu diesem Fall verfasst, die derlei Spekulationen teils fortspannen, teils zu entkräften suchten. Hans Gross vertrat die Auffassung, dass ein Ritualmord aus religiösen Gründen grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden könne, ein solcher könne aber ebenso gut von Christen wie von Juden verübt werden.37 Beim »Konitzer Blutmord« aber müsse der Täter wohl nicht primär in religiös-abergläubischen Kreisen gesucht werden: »Wer so handelt, handelt unter ›stärkerem Impuls‹ und als solcher muß psychopathischer Aberglaube angenommen werden.«38 Auch bereits weiter zurückliegende Fälle wurden im Lichte des psychopathischen Aberglaubens neu interpretiert. So wurde der berüchtigte Herzfresser von Kindberg, der Bauernknecht Paul Reininger, der von 1779 bis 1786 sechs Frauen durch gezielte Stiche in die Halsschlagader ermordet hatte, auf die Gründe für seine Mordtaten hin untersucht, und dabei kam angeblich arg Abergläubisches zu Tage:39 »Ein wesentliches Motiv gab jedoch die Erzählung eines Bauernknechtes ab, von dem Paul Reininger gehört hatte, ›daß derjenige, der die Herzen von dreien Menschen verzehre, Glück im Spiel und im Kegelscheiben habe, verschiedene Blendwerke und
37 Vgl. Hans Gross: Rezension zu dem anonym verfassten Buch »Der Blutmord in Konitz mit Streiflichtern auf die strafrechtliche Stellung der Juden im Deutschen Reiche«. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 6 (1901) 2, S. 216-219, hier S. 217. 38 Hans Gross: Rezension zu dem von Stabsarzt a. D. Dr. [Vorname nicht genannt] Zelle verfassten und 1904 in Braunschweig erschienenen Buches »Wer hat Ernst Winter ermordet?«. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 15 (1904) 4, S. 412-414, hier S. 414. Vgl. auch: Hans Gross: Rezension zu dem anonym verfassten Buch »Der Konitzer Mord. Ein Beitrag zur Klärung. Sine ira et studio«. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 4 (1900) 3-4, S. 363-365. 39 Zur Herzfresserei allgemein, ihren Motiven und den sich um sie rankenden Legenden vgl. Christa A. Tuczay: Die Herzesser. Dämonische Verbrechen in der Donaumonarchie. Wien 2007.
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sich unsichtbar machen könne, wenn man an solchen Tagen, an welchen man spielen wolle, nüchtern davon genösse‹.«40
Der Herzfresser konnte jedoch die durch den Verzehr dreier Herzen angeblich zu erwerbende Zauberkraft nicht empirisch überprüfen, da er lediglich zweien seiner Opfer das Herz entnahm, wobei er nur von einem »gelegentlich die Hälfte« verzehrte (die andere Hälfte »fand sich, nachdem er verhaftet worden war, in seiner Truhe«); auf den Genuss des zweiten Herzens verzichtete er aus »Ekel, weil es ganz blutig war; er warf es daher weg«.41 Auf die grausamen Details dieses auch in der Volksüberlieferung der Steiermark bis heute prominenten Falles einzugehen, ist hier weder der Platz noch ist dies notwendig. Von besonderem Interesse ist aber, dass bei der Interpretation der Beweggründe des »Herzfressers von Kindberg« der schrittweise Verlust der Erklärungskraft abergläubischer Vorstellungen sehr deutlich sichtbar wird:42 Der Aberglaube wurde noch im Jahre 1786, als das Urteil über den Kindberger Herzfresser gefällt wurde, als bestimmendes Motiv für seine Taten erachtet, und das, obwohl Spiel- und Trunksucht und Geldgier doch recht plausible Erklärungsansätze abgaben. Aber diesen Faktoren wurde offenbar keine grundlegende Motivationskraft zugemessen. Sie dienten eher dazu, seine Liederlichkeit, Amoralität und Verworfenheit zu illustrieren und können gewissermaßen als in einer abwegigen Existenz stets präsente Hintergrundmusik bezeichnet werden. Geldgier, Spiel- und Trunksucht wurden als Äußerungsformen eines verderbten Charakters herausgestellt, nicht aber als das Zustandekommen seiner Taten in ausreichendem Ausmaß erklärende Gründe. Ähnliches gilt für ein weiteres Motiv, das dem heutigen Publikum bei der Beschäftigung mit solchen Fällen wohl unwillkürlich in den Sinn kommt: Sexuelle Motive wurden im ursprünglichen Kontext offensichtlich nicht in
40 Gustav Pscholka: Der Herzfresser von Kindberg. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 48 (1912) 1-2, S. 62-73, hier S. 64. 41 Ebd., S. 64, S. 66. 42 Zu diesem Fall und zur im Laufe der Zeit schwindenden Bedeutung, die dem Aberglauben darin zugemessen wurde, vgl. Christian Bachhiesl: Das Böse, die Vernunft und das Verbrechen. Bemerkungen zur Interpretation eines Falles von Herzfresserei aus dem 18. Jahrhundert. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 41 (2011), S. 397-423.
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Betracht gezogen. Erst Gustav Pscholka, ein Kriminologe, der den Fall des Kindberger Herzfressers im Jahr 1912 zum Gegenstand der kriminalwissenschaftlichen Forschung machte, wollte in einer Äußerung des Paul Reininger wenigstens die Möglichkeit einer leisen Anspielung auf eine sexuelle Motivation der sechs Frauenmorde erkannt haben. Reininger soll nämlich bemerkt haben, »›sein Unglück komme von der Hurerei her, welcher er neun Jahre ergeben gewesen wäre.‹ Sollte dieser Passus darauf hindeuten, daß Reininger bei seinen Taten auch von einem sexuellen Motiv getrieben wurde?«43 Nun, Pscholka war wohl nicht zuletzt dank der Wirkung der Lehren von Richard von Krafft-Ebing,44 Sigmund Freud und Kollegen45 in seinem wissenschaftlichen Denken ausreichend sexualisiert, um diese Fragestellung als plausibel erachten zu können. Das war bei den Rechts- und sonstigen Gelehrten der Aufklärung ja noch nicht der Fall. Und so musste auch in der Hochblüte der Vernunftgläubigkeit ein irrationaler Beweggrund, eben der herzfressende Blutaberglaube, als Erklärung herhalten. Das Motiv des herzfresserischen Aberglaubens war auch für die Kriminalwissenschaft, die sich um 1900 wieder mit diesem Fall auseinanderzusetzen begann, das entscheidende Moment. Gustav Pscholka war der Auffassung, dass Reiningers Mordserie »vor allem durch die zwei Fälle von Herzraub Interesse bietet, die ins Kapitel ›Aberglaube‹ gehören«. Laut Pscholka war dieser Aberglaube auch um 1900 noch lebendig: »Der alte Aberglaube lebt also noch heutzutage weiter und kann jederzeit neues Unheil anrichten«;46 er führte noch weitere Beispiele an, in denen Menschen ermordet wurden, weil die Täter die Herzen ihrer Opfer verspeisen wollten, teils um unsichtbar zu werden, teils um Reichtum zu erlangen, teils um fliegen zu können.47
43 Pscholka, Der Herzfresser von Kindberg, S. 66. 44 Vgl. Heinrich Ammerer: Am Anfang war die Perversion. Richard von KrafftEbing, Psychiater und Pionier der modernen Sexualkunde. Wien u.a. 2011. 45 Zu Freuds Psychoanalyse, zu den Lehren von Freuds Schülern und zur Wirkung dieser Lehren vgl. Henri F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Zürich 2005, S. 567-995. 46 Pscholka, Der Herzfresser von Kindberg, S. 68. 47 Dass der Verzehr eines Herzens (und zwar eines Herzens von einem ungeborenen Kind) die Fähigkeit, fliegen zu können, verleiht, wurde angeblich auch in
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Etwa einhundert Jahre nach dem Fall des Herzfressers von Kindberg, um 1900, zeigte die Kriminalwissenschaft also nach wie vor ein auffallend großes Interesse am Aberglauben. Der Herzfresserei wurde nun mittels Pathologisierung ein rational nachvollziehbarer Sinn abgewonnen: »Vielleicht besteht dieser psychopathische Aberglaube darin, daß der Täter sich vor der Rache des Ermordeten fürchtet und ihn wie im Leben, so auch noch nach dem Tode unschädlich machen will.«48 Der herzfressende Aberglaube diene also, so Gustav Pscholka, der ultimativen Vernichtung des Opfers und somit auch dem Schutz vor dessen Vergeltungsgelüsten. In der Regel allerdings genügten den Kriminalwissenschaftlern um 1900 solche generellen Hinweise auf den Herz- und Blutaberglauben als Tatmotiv nicht mehr; man erörterte ausführlich das Abtrennen von Gliedmaßen, das in derlei Fällen häufig (so auch beim letzten Mord des Paul Reininger) zu beobachtende Auflegen oder Herumwerfen von Körperteilen und Kleidungsstücken und weitere kriminalpsychologisch auffällige Verhaltensweisen.49 Der Aberglaube allein galt nun nicht mehr als glaubwürdiges Motiv; sollte er das Zustandekommen eines Verbrechens erklären können, so musste er mit Psychopathie einhergehen. Nur noch ein psychopathischer Aberglaube war ein Aberglaube mit kriminalwissenschaftlichem Erklärungswert. Der Aberglaube als solcher ebenso wie das im 18. Jahrhundert in ihm noch als wirkmächtig erkannte Böse stellten, trotz allen Interesses daran, keine ernstzunehmenden Faktoren der ätiologischen Kriminalwissenschaft mehr dar.
Russland geglaubt; vgl. August Löwenstimm: Aberglaube und Gesetz. Ein Kapitel aus der russischen Rechts- und Kulturgeschichte. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 25 (1906) 1-2, S. 131-233, hier S. 135. 48 Pscholka, Der Herzfresser von Kindberg, S. 70. 49 Vgl. Gross, Psychopathischer Aberglaube. Zu den hier sich widerspiegelnden Pathologisierungstendenzen der Kriminalwissenschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Christian Bachhiesl: Das Verbrechen als Krankheit. Zur Pathologisierung eines strafrechtlichen Begriffs. In: Carlos Watzka/Marcel Chahrour (Hg.): Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, Bd. 7. Wien, S. 11-40; Rolf van Raden: Patient Massenmörder. Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse. Münster 2009.
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Und wieder hundert Jahre später scheint heute der Aberglaube als Erklärung für das Zustandekommen von Verbrechen, wie sie Paul Reininger beging, gänzlich verschwunden zu sein. Heute spricht man in solchen Fällen von Serienkillern mit Persönlichkeitsstörung, und wenn Aberglaube überhaupt noch erwähnt wird, dann als Ausfluss derselben seelischen Störung, die auch die Mordlust hervorgebracht hat. Der Aberglaube ist nun nicht mehr ein erklärender, sondern ein zu erklärender Faktor, aus einem Explanans ist ein Explanandum geworden. Die von menschenfressenden Serientätern heute begangenen Verbrechen sind nicht weniger grauenhaft als die des Herzfressers von Kindberg, und ähnlich wie dieser, der ja laut Gerichtsarzt bei »ziemlich guter Vernunft«, also schuldzurechnungsfähig war,50 werden auch die heutigen Menschenfresser als geistig gesund und an sich vernünftig erachtet, denn »leider sind viele der kannibalischen Serientäter verdächtig normal – nicht selten sogar gut angepasste Typen«51. Und ein Fall von Herzfresserei oder sonstigem Kannibalismus ist auch nichts mehr, was die Kriminalisten (und wohl auch die medienbedröhnte Öffentlichkeit) sonderlich verwundern könnte: »Die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile gehören Herzesser, wenngleich nach wie vor eine seltene Art, zum kriminalistisch Erwartbaren.«52 In der Kriminalwissenschaft hat sich die Bewertung des Aberglaubens im Laufe der Zeit graduell verringert: Konnte der Aberglaube im 18. Jahrhundert noch als sozusagen echtes Motiv mit ausreichender Erklärungskraft gelten, so hatte er diese Erklärungskraft um 1900 schon zu einem großen Teil verloren und galt nur mehr in Verbindung mit Psychopathie als Erklärungsgrund für das Zustandekommen eines Verbrechens. Und heute wird dem Aberglauben in der Kriminalwissenschaft keine Bedeutung als Motiv mehr beigemessen, und das obwohl heute die um 1900 bestimmende positivistische Wissensgewissheit und die damit verbundene Rationalisierungseuphorie nicht mehr die Denklandschaften beherrschen. Gerade die überschwängliche Wissensgewissheit aber und die allzu große Bereitschaft, jedes sich kundgebende Phänomen mit Hilfe der exakten Naturwissenschaftlichkeit rationalisieren zu wollen, räumten dem Aberglauben um 1900 noch einen nicht unbedeutenden Platz im kriminalwissenschaftlichen Denken
50 Pscholka, Der Herzfresser von Kindberg, S. 63. 51 Mark Benecke in seinem Vorwort zu Tuczay, Die Herzesser, S. 7-10, hier S. 9. 52 Ebd., S. 8.
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ein, bildete er doch eine willkommene Negativfolie für den exakt arbeitenden, sich stets von Vernunft und Objektivität geleitet wähnenden Kriminologen.
L ITERATUR Heinrich Ammerer: Am Anfang war die Perversion. Richard von Krafft-Ebing, Psychiater und Pionier der modernen Sexualkunde. Wien u.a. 2011. Christian Bachhiesl: Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit. Die Kriminalbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Hamburg 2005. Christian Bachhiesl: Der Fall Josef Streck. Ein Sträfling, sein Professor und die Erforschung der Persönlichkeit. Wien u.a. ²2010. Christian Bachhiesl: Das Verbrechen als Krankheit. Zur Pathologisierung eines strafrechtlichen Begriffs. In: Carlos Watzka/Marcel Chahrour (Hg.): Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, Bd. 7. Wien 2008, S. 11-40. Christian Bachhiesl: Aberglaube und Betrug. In: Christian Bachhiesl u.a.: Räuber, Mörder, Sittenstrolche. 37 Fälle aus dem Kriminalmuseum der Karl-Franzens-Universität Graz. Graz ³2008, S. 39-43. Christian Bachhiesl: Bemerkungen zur strukturellen Skepsisvergessenheit biologistisch zentrierter Kriminalwissenschaft. In: Kriminologisches Journal 42 (2010) 4, S. 263-275. Christian Bachhiesl: Das Böse, die Vernunft und das Verbrechen. Bemerkungen zur Interpretation eines Falles von Herzfresserei aus dem 18. Jahrhundert. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 41 (2011), S. 397-423. Christian Bachhiesl: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung. Wien u.a. 2012. Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München 2008. Henri F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Zürich 2005. Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a.M./Leipzig 1999.
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Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, Bd. 2: Die Geschichte des Ganzheitlichen Denkens. München 1996. Karen Gloy: Von der Weisheit zur Wissenschaft. Eine Genealogie und Typologie der Wissensformen. Freiburg/München 2007. Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u.s.w. Graz ²1894. Hans Gross: Rezension zu dem anonym verfassten Buch »Der Konitzer Mord. Ein Beitrag zur Klärung. Sine ira et studio«. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 4 (1900) 3-4, S. 363-365. Hans Gross: Rezension zu dem von Hermann L. Strack verfassten Buch »Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der Volksmedicin und des jüdischen Blutritus«. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 4 (1900) 3-4, S. 357f. Hans Gross: Rezension zu dem anonym verfassten Buch »Der Blutmord in Konitz mit Streiflichtern auf die strafrechtliche Stellung der Juden im Deutschen Reiche«. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 6 (1901) 2, S. 216-219. Hans Gross: Psychopathischer Aberglaube. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 9 (1902) 4, S. 253-282. Hans Gross: Rezension zu dem von Stabsarzt a. d. Dr. [Vorname nicht genannt] Zelle verfassten und 1904 in Braunschweig erschienenen Buches »Wer hat Ernst Winter ermordet?«. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 15 (1904) 4, S. 412-414. Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart ²2009. Albert Hellwig: Verbrechen und Aberglaube. Skizzen aus der volkskundlichen Kriminalistik. Leipzig 1908. Albert Hellwig: Okkultismus und Strafrechtspflege. Ueber die Verwendung von Hellsehern bei Aufklärung von Verbrechen. Bern/Leipzig 1924. Albert Hellwig: Diebstahl aus Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 26 (1906) 1, S. 37-49. Albert Hellwig: Hexenglaube und Blutkuren. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 30 (1908) 3-4, S. 376f. Albert Hellwig: Kriminalistische Aufsätze. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 31 (1908) 1-2, S. 67-113.
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[Vorname nicht angegeben] Knauer: Mord aus Homosexualität und Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 17 (1904) 3-4, S. 214-220. Th[eodor] Lochte: Über Kurpfuscherei und Aberglauben und ihre Beziehung zum Verbrechen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 35 (1909) 3-4, S. 327-339. August Löwenstimm: Aberglaube und Strafrecht. Berlin 1897. August Löwenstimm: Aberglaube und Gesetz. Ein Kapitel aus der russischen Rechts- und Kulturgeschichte. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 25 (1906) 1-2, S. 131-233. W. [Vorname nicht näher angegeben] Mannhart: Zauberglaube und Geheimwissen. Berlin 51920. Shane McCorristine: Spectres of the Self. Thinking about Ghosts and GhostSeeing in England, 1750-1920. Cambridge u.a. 2010. Felix Müller: Götter, Gaben, Rituale. Religion in der Frühgeschichte Europas. Mainz 2002. Paul Näcke: Trinken von Blut zum Wahrsagen. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 34 (1909) 3-4, S. 339-343. Gustav Pscholka: Der Herzfresser von Kindberg. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 48 (1912) 1-2, S. 62-73. Rolf van Raden: Patient Massenmörder. Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse. Münster 2009. Gregor Schiemann: Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtzތ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von klassischer zu moderner Naturphilosophie. Darmstadt 1997. Alfred Stohl: Der Narrenturm oder die dunkle Seite der Wissenschaft. Wien u.a. 2000. Christa A. Tuczay: Die Herzesser. Dämonische Verbrechen in der Donaumonarchie. Wien 2007. James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur und Okkultismus im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008. James Webb: Die Flucht vor der Vernunft. Politik, Kultur und Okkultismus im 19. Jahrhundert. Wiesbaden 2009.
»Anti-Aberglaubiana« oder Mittel wider den Aberglauben der Leute Zu einem volksaufklärerischen Diskurs im 18. und frühen 19. Jahrhundert N ICOLE W AIBEL
E INFÜHRUNG »Machen sie mir keinen Vorwurf, bester Prinz! Daß ich ihnen lange keine AntiAberglaubiana gemeldet habe. Ich will […] ihnen eine Geschichte mittheilen, bey welcher ich Schaden für ihr Zwergfell [!] befürchte. Eine wahre Geschichte, die selbst aus dem Munde des Predigers ist, der unschuldiger Weise die Veranlassung zu dem lächerlichsten Aberglauben gegeben hat, der je auf der Welt gewesen ist«1,
schrieb der Pfarrer, Naturforscher und Schriftsteller Johann August Ephraim Goeze (1731-1793) in einem fiktiven Brief an einen ungenannten Herzog. Im Folgenden berichtete er von einer Wunderdoktorin, die mit den Worten: »Castigigel Castigagel: hilfst du nich, so schadst du nich!«2 erfolgreich die Leute kurierte. Vom Dorfpfarrer zur Rede gestellt, entgegnete die alte Frau,
1
Johann August Ephraim Goeze: Lächerliche Entstehungsart einer abergläubischen Kur mit unverstandenen biblischen Worten: an den Herzog von H*** B***. In: ders.: Nützliches Allerley aus der Natur und dem gemeinen Leben für allerley Leser, Bd. 2. Leipzig 1786, S. 173.
2
Ebd., S. 178.
170 | NICOLE W AIBEL
dass sie die Kunst zu heilen von diesem selbst gelernt hätte. Der Pfarrer hatte nämlich in einer Leichenpredigt behauptet, dass er ein Universalmittel gegen alle Krankheiten besitze, und zum Beweis den 18. Vers aus dem 118. Psalm in lateinischer Sprache zitiert. »Sie können leicht denken, mein Prinz! wie sie die Worte mag ausgesprochen haben. Allein je wunderbarer es klingt; desto stärker ist der Glaube der Leute. Wie sollte sonst das Abrakadabra helfen, wenn es nicht wunderbar und geheimnisvoll klänge?«3,
kommentierte Goeze die Erzählung. Der verärgerte Dorfpfarrer klärte nun das Missverständnis auf und beschloss, zukünftig auf der Kanzel vorsichtiger zu sein. Die Wunderheilerin hielt an ihrem »Aberglauben« fest, da der Erfolg doch belegte, dass die Worte helfen würden. Da ist guter Rat teuer, weiß auch Pfarrer Goeze, denn Einbildung und das abergläubische Vertrauen der Leute zueinander vermögen manchmal mehr als Vernunft und Aufklärung. Das Schreiben stammt aus einer Reihe von fiktiven Briefen an Freunde und Bekannte, in denen Goeze öffentlich seine Methoden zur Aberglaubensbekämpfung darlegte.4 Doch konnte eine solche Geschichte wirklich geeignet sein, dem Volk seinen »Aberglauben« zu nehmen? Goeze schien weniger den »gemeinen« Mann – den er an anderer Stelle auch persönlich anspricht (ihr guten Landleute) – im Blick zu haben, als vielmehr den Volkslehrer selbst, dem er Hilfe zur Volksaufklärung bieten wollte. Der Aberglaubensdiskurs der Volksaufklärung war ein Elitendiskurs und blieb es bis ins 19. Jahrhundert. Zwar gab es zahlreiche Austausch- und Anpassungsprozesse zwischen Gebildeten und Volk, doch äußerten sich die Angehörigen der unteren sozialen Schichten selten zu ihren abergläubischen Ansichten; meist richtete sich der Blick von oben auf das Volk, dessen geistigen und kulturellen Äußerungen die Volkslehrer mit Skepsis, aber auch Bewunderung und dem Wunsch nach Veränderung begegneten.5 Ver-
3
Ebd., S. 175f.
4
Johann August Ephraim Goeze: Nützliches Allerley, 6 Bde. Leipzig 1785-1788.
5
Vgl. Anne Conrad: Aufgeklärte Elite und aufzuklärendes Volk? Das Volk im Visier der Aufklärung. Einleitung. In: Anne Conrad/Arno Herzig/Franklin Kopitzsch (Hg.): Das Volk im Visier der Aufklärung: Studien zur Popularisierung der Aufklärung
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mittler waren neben akademisch Gebildeten, Amtsleuten, Ärzten, Lehrern und Publizisten vor allem Pfarrer beider Konfessionen, denen es oblag, in ihren Gemeinden aufklärerisches Gedankengut zu verbreiten und praktische Reformen – in Abhängigkeit von kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten – durchzuführen.6 Die Kampfansage an Vorurteil und unsinnig gewordene Tradition einte die Debatten der Volksaufklärer, die im »Aberglauben« ein moralisches Vergehen des Menschen gegen die Natur, Gott und die öffentliche Ordnung erblickten. Der Begriff wurde pejorativ verwendet, emotional aufgeladen und der Beseitigung des »Aberglaubens« Heilscharakter für Staat und Gesellschaft zugesprochen.7 Der Utilitarismus der Volkslehrer bewirkte seine didaktische Instrumentalisierung, in der dem Landmann ökonomisches Denken, bürgerliche Tugenden, gesundheitliche Vorsorge und eine Rationalisierung des Arbeitsprozesses zur Steigerung der Agrarproduktion vermittelt
im späten 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte 1). Hamburg 1998, S. 1-15; Kai Detlev Sievers: Volkskultur und Aufklärung im Spiegel der Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichte (= Quellen und Forschungen zur Geschichte, Bd. 58). Neumünster 1970, S. 9-17. 6
Zur Volksaufklärung (Auswahl): Holger Böning (Hg.): Volksaufklärung: eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts (= Presse und Geschichte, NB 27). Bremen 2007; Heidrun Alzheimer-Haller: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780-1848. Habil., Berlin/ New York 2004; Annegret Völpel: Der Literarisierungsprozeß der Volksaufklärung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Dargestellt anhand der Volksschriften von Schlosser, Rochow, Becker, Salzmann und Hebel. Phil. Diss., Frankfurt a.M. 1996; Holger Böning/Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, 3 Bde. Stuttgart/Bad Cannstatt 1990ff.
7
Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 119). Phil. Diss., Tübingen 1992; Wolfgang Behringer: Wissenschaft im Kampf gegen den Aberglauben. Die Debatten über Wunder, Besessenheit und Hexerei. In: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 365-389.
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werden sollten.8 Seit den 1770er Jahren stellte die Aberglaubenskritik das wichtigste Einzelthema der Volksaufklärung dar.9 Als Medien dienten neben den vorwiegend oral vermittelten Kommunikationssituationen, wie Schulunterricht, Predigten, Volkslieder gegen den »Aberglauben« oder Hausbesuchen von Pfarrern auch polizeiliche Maßnahmen und obrigkeitliche Verordnungen sowie Druckschriften. Die zahlreich erscheinenden aufklärerischen Kinder-, Schul-, Lese- und Volksbücher, Katechismen, Kalender, Ratgeber, Predigten, Dorfgeschichten, Preis- und Streitschriften sowie die periodische Presse nützten nicht allein zur Aufklärung ungebildeter Schichten, sondern ermöglichten auch den Austausch der gebildeten Elite über die engen Grenzen der Territorialstaaten hinweg.10 Der volksaufklärerische Aberglaubensdiskurs wurde bislang kaum untersucht. Es existieren vor allem Einzelstudien, die sich auf eine spezifische Region oder Quellengattung beschränken oder dem Engagement einer gebildeten Minderheit in einem historisch eng gefassten Zeitraum widmen.11 Untersuchungen, die über die Schwelle von 1800 hinausgreifen und eine inhaltliche Konzeption des »Aberglaubens« und seiner Begriffsgeschichte in
8
Holger Böning/Ort Werner (Hg.): Das Goldmacherdorf oder wie man reich wird (= Presse und Geschichte, NB 25). Bremen 2007 (Nachwort), S. 247-293; Hartmut Heller: Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts im Konflikt mit Volksfrömmigkeit und Aberglaube. In: Max Liedtke (Hg.): Religiöse Erziehung und Religionsunterricht (= Schriftenreihe zum Bayerischen Schulmuseum Ichenhausen, Bd. 13). Ichenhausen 1994, S. 195-205.
9
Böning/Siegert: Volksaufklärung, Bd. 2.1, S. XXVII.
10 Holger Böning: Das Volk im Patriotismus der deutschen Aufklärung. In: Otto Dann/Miroslav Hroch/Johannes Koll (Hg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung, Bd. 9). Köln 2003, S. 63-98; Reinhart Siegert: Volksbildung im 18. Jahrhundert. In: Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2. München 2005, S. 459-470. 11 Vgl. Susanne Unglaub: Aufklärung und Aberglaube im Sechsämterland zu Ende des 18. Jahrhunderts. Johann Christoph Brandenburgs Wochenblattbeiträge 1787/1802. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 13 (1990), S. 123-149; Carl Wehn: Der Kampf des Journals von und zu Deutschland gegen den Aberglauben seiner Zeit. Eine volkskundliche Untersuchung auf geisteswissenschaftlicher Grundlage. Phil. Diss., Köln 1937.
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verschiedenen Medien im Blickfeld haben, sind rar in der deutschen Forschung.12 Es ist hier nicht der Raum, die volksaufklärerische Aberglaubenskritik umfassend darzustellen.13 Im Folgenden werden anhand von zwei Themenbereichen zentrale Methoden und Ziele des Diskurses aufgezeigt und abschließend sein Wandel im frühen 19. Jahrhundert diskutiert.
D IE B EDEUTUNG DER ABERGLAUBENSKRITIK IM NIEDEREN S CHULUNTERRICHT Die Volkslehrer vertraten die Ansicht, dass Erziehung und Bildung des Staatsbürgers bei der Jugend beginnen müsse, da »es leichter ist, dem Aberglauben den Eingang in die Köpfe zu versperren als ihn, wenn er einmal darin ist, wieder herauszubringen«14. Vielen Autoren galten die in der Kindheit erlernten Vorurteile als Quelle unseliger Gespensterfurcht und des »Aberglaubens«, die sich zeitlebens nicht mehr beseitigen ließ.15 Als Hauptursachen erkannten sie Unwissenheit in Natur und Religion sowie mangelndes Denken, die sie durch eigene Naturbeobachtung, Vermittlung praktischer und theoretischer Kenntnisse sowie die Fähigkeit zum Selbstdenken zu überwinden hofften. In den 1770er Jahren begann eine Diskussion um die Reform der Elementarschule, die mehrere Jahrzehnte anhielt und zur Neuordnung des Volksschulwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte.16 Die Kritik
12 Vgl. Martin Stute: Hauptzüge wissenschaftlicher Erforschung des Aberglaubens und seiner populärwissenschaftlichen Darstellung der Zeit von 1800 bis in die Gegenwart. Eine Literaturanalyse (= Europäische Hochschulschriften, Reihe IX, Volkskunde/Ethnologie, Bd. 45). Phil. Diss., Frankfurt a.M. 1997. 13 Die Verfasserin arbeitet an einer umfangreichen Studie zum Thema. 14 Johann Leonhard Carl Justi: Warnung vor dem Aberglauben, eine Predigt über Apostelgeschichte 17,22. Halle 1795, S. 8f. 15 Johann Heinrich Helmuth: Volksnaturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens: mit Kupfern. Braunschweig 1786, S. 17; Johann Adolph Liebner: Nöthiger Unterricht über den noch herrschenden schädlichen Aberglauben unter den Christen – ein Lesebuch besonders für die Jugend. Erfurt 1789, S. 91-95. 16 Holger Böning: Die Entdeckung des niederen Schulwesens in der deutschen Aufklärung. In: Peter Albrecht/Horst Hinrichs (Hg.): Kultur und Gesellschaft in
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betraf vor allem Ausbildung und Besoldung der Lehrer sowie Lehrmittel, Methodik und Inhalt des Unterrichts. Die Volkslehrer forderten eine Anpassung an die Lebensumstände der unteren Volksschichten sowie ein auf Nützlichkeit ausgerichtetes Lehrkonzept.17 Da der Unterricht in den deutschsprachigen Territorien große Unterschiede aufwies und neue Schulbücher oft fehlten, musste der Lehrer selbst entscheiden, welche Kenntnisse er geeignet fand. Seilers Lesebuch empfahl zum Beispiel aus dem Kapitel über den »Aberglauben« besonders »diejenigen Arten des Aberglaubens [zu] lesen, die im Dorfe am gangbarsten sind«18. Im Zuge der Reformen kamen neue Katechismen, Fibeln und Lesebücher in die Dorfschulen, wobei Letztere nicht nur dem Lesen lernen dienten, sondern auch nützliche Kenntnisse in den Realien sowie Aberglaubenskritik vermittelten.19 Berühmtes Beispiel ist Der Kinderfreund von Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805), der zahlreiche Neuauflagen und Bearbeitungen erfuhr und auch moralische Geschichten gegen den »Aberglauben« enthielt.20 In den Lesebüchern wurden die schädlichen Folgen des Volksglaubens exemplarisch vorgeführt. Idealtypisch spiegeln sich Lebensgewohnheiten, Ängste, falsch verstandene Frömmigkeit und mangelnde Bildung der Dorf- und Stadtbewohner wieder: Gespenster- und Kometen-
Nordwestdeutschland zur Zeit der Aufklärung (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 20). Tübingen 1995, S. 75-108; Notker Hammerstein: Elementarschulen als Träger von Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert. In: Lothar Gall/Andreas Schulz (Hg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert (= Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Bd. 6). Stuttgart 2003, S. 63-79; Gert Geißler: Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2011, S. 71-158. 17 Heinz Rommel: Das Schulbuch im 18. Jahrhundert (= Probleme der Erziehung, Bd. 9/10). Phil. Diss., Wiesbaden-Dotzheim 1968, S. 153-161 und S. 174-187; Böning, Die Entdeckung, S. 77. 18 Friedrich Georg Seiler: Allgemeines Lesebuch für den Bürger und Landmann vornehmlich zum Gebrauch in Stadt= und Landschulen. 2. verb. Aufl. Erlangen 1790, Vorrede (unpag.). 19 Rommel, Schulbuch, S. 216-238; Geißler, Schulgeschichte, S. 77. 20 Friedrich Eberhard von Rochow: Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen Teil I und II, 1776/1779. Nachdruck mit einer Einleitung, hg. von Jürgen Bennack. Köln/Wien 1988.
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furcht, Kalenderprophezeiungen, Betrug durch Schatzgraben, Wahrsagen, Hexen- und Teufelsspuk oder Quacksalberei bildeten gängige Themen, nicht nur in der Schulbuch- und Kinderliteratur.21 Oft sprachen die Autoren mehrere Leserschichten an, da sie methodische Anweisungen für Lehrer und Eltern enthielten oder zur Selbstbildung unwissender Leser gedacht waren; bis ins 19. Jahrhundert hinein fanden auch Texte in Kalendern, Zeitungen und Volksbüchern Verwendung im Schulunterricht.22 Dem Schulinspektor Johann Heinrich Helmuth (1732-1813) galt die Kenntnis der Naturlehre als »der stärkste Damm«23 gegen »Aberglauben«. Seine 1786 erstmals erschienene Volksnaturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens war so populär, dass sie bis 1855 16 Neuauflagen erfuhr. Ab 1813 besorgte Johann Georg Fischer (1782-1838) die Edition, wobei er eine Umgestaltung zum physikalischen Lehrbuch für die Lehrerausbildung vornahm.24 Die Reihenfolge des Lehrstoffes war beliebig und richtete sich nach den Vorgängen in der Natur: Der Volksaufklärer Johann Matthäus Bechstein (1757-1822) gab in seinen Ausserlesenen Gesprächen den Monat an, in dem die Geschichten zu lesen wären: Das Thema »Schwefelregen« empfahl er im Mai, da der Blütenstaub der Fichten – Ursache des Phänomens – nur zu dieser Jahreszeit zu sehen wäre.25
21 Ingrid Tomkowiak: Lesebuchgeschichten. Erzählstoffe in Schullesebüchern 1770-1920. Berlin/New York 1993, S. 13-17. 22 Alfred Messerli: Volkskalender als Lesestoff von Kindern und Jugendlichen: Eine Schweizer Fallstudie aus der Zeit zwischen Aufklärung und früher Moderne. In: York-Gothart Mix (Hg.): Der Kalender als Fibel des Alltagswissens (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, Bd. 27), Tübingen 2005, S. 189-212; Völpel, Literarisierungsprozeß, S. 25f. 23 Helmuth, Volksnaturlehre (Vorrede), S. X. 24 Johann Heinrich Helmuth: Volks-Naturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens, 8. Aufl. nach einem ganz veränderten, dem jetzigen Standpunkt der Physik angemessenen Plane für Lehrer, bearb. von J. G. Fischer: in 2 Theilen. Braunschweig 1834. 25 Johann Matthäus Bechstein: Ausserlesene Gespräche über Gegenstände aus der Naturlehre, Naturgeschichte und Oekonomie, zur bessern Belehrung und Vertilgung des so mancherley Naturaberglaubens und Verbreitung besserer Einsichten in die natürlichen Dinge [Nebentitel: Gespräche im Wirtshause zu Klugheim
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Bereits 1783 kritisierte Johann August Niemeyer (1754-1828), Direktor der Franckeschen Stiftungen zu Halle, das Fehlen einer populären Gesundheitslehre, da »diese für viele ohne Schulunterricht unüberwindliche Unwissenheit, auch wieder dem Aberglauben die Thür öfnet«26. Das Thema fand in Verbindung mit der Lehre vom Körper und der Seele seit Mitte der 1780er Jahre Eingang in die Schulbücher. Grundlegende Bedeutung im Kampf gegen den »Aberglauben« kam dem Religionsunterricht zu, der den Kindern nach Ansicht vieler Volkslehrer nicht nur unverständliche Vorstellungen vermittelte, sondern auch eine Abscheu gegen alle religiösen Lehren einflößte.27 Pastor Noemer (1752-1803) forderte deshalb eine schrittweise Hinwendung von der natürlichen zur geoffenbarten Religion, um den Kindern verständlich zu machen, wie jene auf das Leben angewandt und zu Sittenregeln dienen könnte.28 Die Grundsätze entsprachen weitgehend denen, die noch 38 Jahre später von dem württembergischen Schulmeister Christian August Schlipf (gestorben nach 1818) vorgebracht wurden. Er riet zudem, die christliche Religion mit dem »heidnischen Aberglauben« zu vergleichen, um die vielen »Ueberbleibsel« aufzuzeigen, »die sich bis auf unsere Zeit fortgeerbt« hätten.29 Die Kinder dürften nie etwas als wahr annehmen, »das nicht durch Gründe der Vernunft und der heiligen Schrift bewiesen werden«30 könnte. Die Kinder sollten die erworbenen Kenntnisse in die Häuser tragen und damit als potentielle Faktoren der Volksaufklärung wirken. Oft verfügten sie über eine bessere Lesefähigkeit als ältere Familienmitglieder, die sie
über allerley Nützliches und Belehrendes aus der Natur und Oekonomie], Bd. 1. Nürnberg 1796, S. 44. 26 August Hermann Niemeyer: Ueber den Aberglauben bey Ertrunkenen. Eine Zuschrift an Halloren und Fischer zu Halle. Mit einer Nachschrift an die Vorsteher von Bürger= und Landschulen. Halle 1783, S. 87. 27 Andreas Franz Noemer: Vollständiger systematischer Religionsunterricht. Ein Unterrichtsbuch für die Jugend und Lesebuch für das Volk, Bd. 1. München 1786, Vorrede (unpag.); Niemeyer, Aberglaube, S. 66-74. 28 Noemer, Religionsunterricht, Vorrede (unpag.). 29 Christian August Schlipf: Wie kann bei dem Schulunterricht dem unter dem Volke herrschenden Aberglauben auf die kräftigste Weise begegnet werden? Ulm 1818, S. 67. 30 Ebd., S. 87. – Hervorhebungen im Original.
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zum Beispiel zum lauten Vorlesen der Zeitung einsetzen konnten.31 Bechstein schrieb über die Wirkung seines Lesebuchs: »Es sind mir auch schon Beyspiele bekannt geworden, daß Kinder von zehn Jahren auf diese Art Glauben an Heckmännchen, wilden Jäger u.dgl. woran die Eltern noch hiengen, aus den Familien verbannt haben […].«32 Die Konzepte zur Bekämpfung des »Aberglaubens« im niederen Schulwesen änderten sich bis ins frühe 19. Jahrhundert kaum, auch wenn um 1800 neue inhaltliche Akzente, wie zum Beispiel die Vermittlung vaterländischer Geschichte, gesetzt wurden und sich die Rahmenbedingungen für die Volksbildungsbewegung nach 1789 verschlechterten.33
V ERMITTLUNG UND P OPULARISIERUNG DES ABERGLAUBENSDISKURSES IN DER P RESSE UND V OLKSLEKTÜRE Den Volkslehrern ging es zunächst darum, dem »gemeinen Mann« die Texte in die Hände zu spielen und seine Lesemotivation zu stärken. In den 1770er Jahren entstand die Konzeption des »unterhaltsamen Volksbuches«, in dem sich oft der ganze Wissensstoff der Zeit findet. Die Formen reichen von sachlicher Belehrung über moralische Geschichten, Anekdoten, Fabeln bis hin zu umfangreichen Erzählungen wie Dorfgeschichten oder Bauernromanen.34 Die Autoren forderten, wie im eingangs zitierten Beispiel, sich in Sprache, Inhalt und Vermittlungsweise den Gewohnheiten der Rezipienten anzupassen. Sie bedienten sich dabei auch traditioneller Volkslesestoffe, wie Kalender oder Zeitung, und versuchten, sie für ihre Zwecke einzusetzen.
31 Vgl. Siegert, Volksbildung, S. 445f. 32 Bechstein, Ausserlesene Gespräche, Vorrede (unpag.). 33 Böning, Entdeckung, S. 108; Siegert, Volksbildung, S. 472-480. 34 Holger Böning: Aufklärung für wen? Gedanken zu Universalismus und Adressaten der deutschen Volksaufklärung. In: Stefanie Averbeck-Lietz/Petra Klein/ Michael Meyen (Hg.): Historische und systematische Kommunikationswissenschaft (= Presse und Geschichte, NB 48). Bremen 2009, S. 389-413; Siegert, Volksbildung, S. 445f.; Alzheimer-Haller, Volksaufklärung, S. 66f. und S. 129-132.
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Reformen begannen – mit wechselndem Erfolg – um 1750 und hielten sich bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts.35 Die Volkslehrer zeigten die negativen Folgen des »Aberglaubens« auf, untersuchten seine natürlichen Ursachen und entdeckten Betrug und Irrtum. Wie in der Kinder- und Schulbuchliteratur wies das Beispiel den Weg zu vernünftigem und tugendhaftem Verhalten, an dessen Einübung der Mensch ein Leben lang arbeiten sollte; nahezu alle Bereiche der bäuerlichen und städtischen Arbeits- und Lebenswelt wurden kritisch hinterfragt. Die moralische Geschichte mit ihrer vielfältigen Erzählstruktur, Kürze und den profanen Inhalten schien besonders geeignet, aufklärerische Wertvorstellungen und Aberglaubenskritik zu transportieren. Soziale Tugenden sollten eingeübt werden, die den Anforderungen des heraufziehenden industriellen Zeitalters entsprachen: Fleiß, Sparsamkeit, Lernbereitschaft, Gesundheitspflege und moralische Disziplinierung.36 Wer sittsam und fromm lebt, kann ein bescheidenes, aber ehrbares Leben führen, lautete die Botschaft in den Geschichten. Der Abergläubische hingegen will ohne Anstrengung reich werden. Seine Denk- und Handlungsweise lästert Gott, der Vernunft und dem Nächsten; oft frönt er auch weiteren Lastern, wie Trunk- oder Spielsucht. Am Ende ereilt ihn der als gerecht dargestellte Lohn. Johann Ferdinand Schlez (1759-1839) nutzte abergläubische Vorstellungen, um sie für sein Reformprogramm zu instrumentalisieren. In der Er-
35 Holger Böning: Volksaufklärung und Kalender: Zu den Anfängen der Diskussion über die Nutzung traditioneller Volkslesestoffe zur Aufklärung und zu den ersten praktischen Versuchen bis 1780. In: York-Gothart Mix (Hg.): Der Kalender als Fibel des Alltagswissens (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, Bd. 27). Tübingen 2005, S. 137-173; Jan Knopf: Kalender. In: Ernst Fischer/ Wilhelm Haefs/York-Gothart Mix (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800. München 1999, S. 121-136. 36 Zur Gattung der moralischen Geschichte s.: Alzheimer-Haller, Volksaufklärung, S. 112-152; s. auch: Wolfgang Brückner: Stereotype Anschauungen über Alltag und Volksleben in der Aufklärungsliteratur. Neue Wahrnehmungsparadigmen, ethnozentrische Vorurteile und merkantile Argumentationsmuster. In: ders. (Hg.): Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Teil 1 (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 77). Würzburg 2000, S. 354f.
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zählung Ora et labora37 wird der populäre Glaube vom Schatzgraben zum Antrieb, das eigene Verhalten zu ändern. Dem Volkslehrer gelingt es in der Rolle eines Schatzgräbers mittels magischer Rituale, wie dem täglichen Sprechen der »Zauberformel« »ora et labora«, ökonomisches Denken durchzusetzen: Der Bauer verkauft unrentable Äcker und Luxusgüter, verzichtet freiwillig auf Genussmittel und stellt laufende Prozesse ein. Seine Arbeitskraft dient der höchstmöglichen Produktivität. Den Schatz erhält er in Form von wiedererlangter Kreditwürdigkeit und nötigem Wissen, sich sein Auskommen selbständig sichern zu können. Parallelen finden sich in der volksaufklärerischen Utopie Das Goldmacherdorf des Wahlschweizers Johann Heinrich Daniel Zschokke (1771-1848), in der der Teufelspakt zur Voraussetzung für die Neugestaltung eines ganzen Dorfwesens wird.38 Unter dem Eindruck der Hungerkrise 1817 entwirft Zschokke ein dauerhaftes Konzept zur Überwindung der Krise, das neben wirtschaftlichen Reformen demokratisch-emanzipatorische Ansätze beinhaltet. In der Rolle des Schulmeisters »Oswald« klagt er unehrliche Obrigkeiten als Verursacher bäuerlicher Not an. Am Ende kann er als Erster Gemeindevorsteher Verhältnisse mitgestalten, in denen Selbsthilfe möglich wird. In den Dorferzählungen nehmen Volkslehrer, meist Pfarrer, eine Vorbildfunktion ein; sie sind es, die Wege aufzeigen, die bäuerliche Bevölkerung aus sozialem und wirtschaftlichem Elend herauszuführen.39 Die periodische Presse berichtete regelmäßig über »Aberglauben«. Zwangsläufig gerieten Betrüger, Scharlatane und Wunderheiler ins Visier der Autoren, die nicht nur das Interesse ungebildeter Schichten auf sich zogen, sondern auch das der geistigen Elite. Bekannt ist der Fall des »Monddoktors«, der 1783 in der Berlinischen Monatsschrift die Gemüter beunruhigte, indem er behauptete, Kranke mit Mondlicht zu heilen.40 Auch herumziehende Planetenleser, »Urinpropheten«, Geisterbeschwörer oder Gold-
37 Johann Ferdinand Schlez: Ora et labora, oder: der glücklich gefundene Schatz. In: ders. (Hg.): Der Volksfreund. Eine Monatsschrift, deren Aufsätze auch einzeln, als Flugschriften, zu haben sind. Ansbach Juli/August 1799. 38 Zum Folgenden s. Böning, Goldmacherdorf, S. 247-293. 39 Böning, Die Entdeckung, S. 102-108. 40 Vgl. Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung von Gutenberg bis zum World Wide Web. München 2008, S. 112-119.
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macher erregten den Unmut der Autoren, da sie aus Profitgier die Dummheit und Leichtgläubigkeit der Leute ausnutzten. Protestantische Volkslehrer schlossen in ihren Kampf zudem katholische Dogmen und Riten ein, was ein einheitliches Vorgehen gegen den »Aberglauben« wesentlich erschwerte.41 Kosmische Ereignisse wie Mond- und Sonnenfinsternisse, Kometenerscheinungen oder seltene Wetterphänomene wurden häufig besprochen. Die Autoren zeigten abergläubische Ansichten auf und widerlegten sie durch naturwissenschaftliche Erklärungen, die sie von theologischen Vorgaben lösten: Sie erklärten zum Beispiel, dass Himmelserscheinungen keine Gotteszeichen wären oder Blitzableiter keinen Eingriff in die Vorsehung bedeuteten, sondern der Pflicht des Menschen zur gesundheitlichen Vorsorge dienten.42 Auch die Aufdeckung von Betrug, wie etwa die Offenlegung chemischer Tricks bei der Goldherstellung oder optischer Täuschungen durch die »laterna magica«, spielten eine wichtige Rolle in der volksaufklärerischen Kritik.43 Manchmal war es einfach die Bosheit der Nachbarn, die Menschen zu Opfern des »Aberglaubens« werden ließ. In den Texten verbindet sich Sensationsgier mit Abschreckung durch Strafe, wenn zum Beispiel über Prozesse gegen Dorfbewohner wegen blutiger Selbstjustiz an vermeintlichen Hexen noch am Ausgang des 18. Jahrhunderts berichtet wurde. Ein gängiges Thema bildete der Mord aus Aberglauben.44 Nicht immer lässt sich da-
41 Vgl. Behringer, Wissenschaft, S. 365ff.; Heller, Aufklärung, S. 200-203. 42 Periodische Kometenfurcht. In: Aufrichtig-deutsche Volkszeitung 1 (1798), 37. Stück, Sp. 508f. und 39. Stück, Sp. 588f.; Was mag der gemeine Mann für geheime Gründe haben, weshalb er gegen Blitzableiter und ähnliche Anstalten eingenommen ist? In: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 23 (1783), 9.-11. Stück, Sp. 65-84. 43 Christlieb Benedict Funk: Natürliche Magie oder Erklärung verschiedener Wahrsager- und natürlicher Zauberkünste. Berlin/Stettin 1783; Johann Konrad Gütle: Vermischte Beiträge zu Zauber-Belustigungen aus der Chemie, Optik, Musik und dem Schall: mitunter zu Geistererscheinungen brauchbar. Nürnberg 1806; s.a. Oliver Hochadel: Aufklärung durch Täuschung. Die Natürliche Magie im 18. Jahrhundert. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 27 (2004), S. 137-147. 44 Johann August Ephraim Goeze: Wie leicht es dem Aberglauben sey, eine Mordthat zu begehen? In: ders.: Mannigfaltigkeiten aus der Natur und dem Men-
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bei klar unterscheiden, ob es sich um ein literarisches Motiv oder um einen Tatsachenbericht handelte, da die Autoren aufklärerische Intentionen verfolgten und der Anspruch auf Faktizität zum Stilelement der moralischen Geschichte gehörte.45 Mitleid erwachte beim Menschenfreund, wenn Ertrinkenden, Selbstmördern oder Scheintoten aus »Aberglauben« die Hilfe zur Rettung verweigert wurde. Insbesondere der Scheintod, bis ins 17. Jahrhundert hinein Wunderzeichen und Mahnung zur Umkehr, geriet zum Sinnbild von Unwissenheit, Bosheit und Gespensterfurcht.46 Im Anschluss an das berühmte Noth- und Hülfsbüchlein von Zacharias Becker entstand eine eigene Gattung von Ratgebern zur Verhütung solcher Unglücksfälle, wobei bereits im späten 18. Jahrhundert die Errichtung von Leichenhäusern als geeignete Maßnahme vorgeschlagen wurde.47 Die Volkslehrer glaubten, dass man Land und Leute kennen lernen müsse, um Veränderungen erfolgreich durchzuführen. Kompendien, wie Kellers Grab des Aberglaubens48, Fischers Buch vom Aberglauben49 oder Lechleitners Werk Etwas über Aberglauben50, belegen das breite Interesse, das die Autoren dem Sammeln von Volksüberlieferungen entgegenbrachten. Bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann eine »volkskundliche« Beschäftigung, die sich mit Redewendungen, Mundarten, Charakter, Sitten und »Aberglauben« des »gemeinen Mannes« auseinandersetzte und zu einer
schenleben für allerley Leser. Altona 1792, S. 66-70; Johann Christoph Fröbing: Calender fürs Volk. Hannover 1787, S. 262-264. 45 Vgl. Alzheimer-Haller, Volksaufklärung, S. 126-129. 46 Vgl. Sabine Doering-Manteuffel: Medien, Märkte und Magie. Ein Augsburger Volkskundeprojekt zur kritischen Reflexion der Aufklärung. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2000), S. 1-14, hier S. 9f. 47 Johann Heinrich Pfaff: Unterhaltendes Historienbuch für Bürger und Bauersleute. Gotha 1794, S. 185f.; Vom Wiederbeleben der Scheintodten. In: Braunschweigisches Magazin 9 (1796), 24. Stück, Sp. 369-384. 48 Ernst Urban Keller: Das Grab des Aberglaubens. 6 Bde. Frankfurt a.M./Leipzig 1775-1786. 49 Heinrich Ludwig Fischer: Das Buch vom Aberglauben, Bd. 1. Leipzig 21791. 50 Thomas Lechleitner: Etwas über Aberglauben. Dem Landvolk zur Warnung und Belehrung gewidmet. Augsburg 1795.
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Aufwertung des Volksbegriffes und der Volkskultur führte.51 In der Presse erschienen ganze Verzeichnisse abergläubischer Sprichwörter und Praktiken, die sich meist den Erscheinungsformen einer bestimmten Region widmeten und auch heute noch eine reichhaltige Quelle für Volksglauben darstellen. Häufig erschöpften sich die Artikel aber in reinen Aufzählungen oder Deskriptionen.52 Mit der Sammlung populärer Überlieferungen und deren Gleichsetzung mit einer deutschen Nationalkultur am Ende des 18. Jahrhunderts war die Volksaufklärung in eine entscheidende Phase getreten: Zwar waren die Autoren weit entfernt von der mythologischen Forschung des kommenden Zeitalters, doch deuteten sich bereits jene Grundlagen an, die weitreichende Folgen für die spätere wissenschaftliche Auseinandersetzung haben sollten: Der »Aberglaube« stellte etwas »Althergebrachtes«, ein Relikt heidnischgermanischer Vorzeit, dar, das es nicht nur zu beseitigen, sondern auch zu bewahren galt.53
AUSBLICK : D ER W ANDEL DES ABERGLAUBENSDISKURSES IM 19. J AHRHUNDERT
FRÜHEN
Seit den 1780er Jahren diskutierten die Volksaufklärer intensiv über Methoden und Wirkung ihrer Aberglaubenskritik, Volkstäuschung und Grenzen und Ziele der wahren Aufklärung. Kaum ein Autor meldete sich zu Wort, der nicht auf mangelnde Bildung, Eigensinn und Misstrauen des Bau-
51 Sievers, Volkskultur, S. 75-150; Böning, Das Volk, S. 79-83. 52 Register abergläubischer Meinungen und Handlungen. In: Leipziger Sammlungen 11 (1755), Sp. 546-572; Volks-Aberglaube im Hildesheimischen. In: Journal von und für Deutschland 2 (1786), Sp. 339-342. 53 Christoph Daxelmüller: Konzepte des Magischen. In: Aurora 63 (2003), S. 35-47; Dieter Harmening: Aberglaube: Superstition – Ein Thema des Abendlandes zwischen Theologie, Wissenschaftsideologie und historischer Ethnologie. In: ders.: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens (= Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 10). Würzburg 1991, S. 115f. und S. 128-131.
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ern sowie seinen weitverbreiteten Hang zum »Aberglauben« hingewiesen hätte. Noch 1793 führte Heinrich Ludwig Fischer (1762-1831) an, dass der »Aberglaube in Deutschland so allgemein, und so groß, [wäre], daß man wol fragen dürfte, ob je ein andres Volk sich auf so mannigfaltige Art hierinn verirrt«54 hätte. Gegen Ende des Jahrhunderts mehrten sich die Zweifel, ob der »Aberglaube« in absehbarer Zeit ausgerottet werden könnte. In den 1790er Jahren wich der Fortschrittsoptimismus einer breiten Zivilisationskritik, und der Aberglaubensbegriff erfuhr eine Differenzierung und teilweise positive Aufladung. Die Volkslehrer versuchten, seine erkenntnistheoretischen und psychologischen Voraussetzungen zu klären und den Relikten des »Volksaberglaubens« in Sagen und Legenden auf die Spur zu kommen. Die seit den 1780er Jahren aufkommende »Seelenerfahrungskunde«, die sich empirisch mit abnormen Bewusstseinszuständen beschäftigte, intensivierte die seit der Frühaufklärung schwelenden Debatten um Einbildungskraft, Sinnestäuschung und dämonische Besessenheit.55 Heilkonzepte, wie der »tierische Magnetismus«, wurden in der Presse diskutiert und unterschiedlich bewertet. Die magnetischen und elektrischen Prozesse nährten den Glauben an universell fließende Kräfte, deren Wirkung spür-, aber nicht sichtbar waren. Medizinische Erfolge präsentierten die Volksaufklärer entweder als Scharlatanerie oder als »Merkwürdigkeit«, für die sie kein geeignetes Erklärungsmodell hätten, implizierten aber, dass dieses zukünftig zur Verfügung stehe.56 Die um 1800 auftretende Mode der »Geisterseherei« führte zu Debatten über den Zustand der Seele nach dem Tod, die sich auch in den Werken der Volksaufklärer niederschlug. Die aufgeklärte Gespenstergeschichte, an deren Ende eine rationale Auflösung schein-
54 Heinrich Ludwig Fischer: Naturgeschichte und Naturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens, Hamburg/Kiel 1793, Vorrede, S. 3. 55 Georg Eckardt: Anspruch und Wirklichkeit der Erfahrungsseelenkunde, dargestellt an Hand periodisch erscheinender Publikationen um 1800. In: Olaf Breidbach/Paul Ziche (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 179-202; Pott, Aberglaubenskritik, S. 324-396. 56 Beitrag zur Geschichte des thierischen Magnetismus. Vom Hrn. Prof. Hildebrandt. In: Braunschweigisches Magazin 1 (1788), 22.-24. Stück, Sp. 345-375.; C. G. Selle: Ueber den thierischen Magnetismus. In: Berlinische Monatsschrift 1 (1790), S. 135-149; Heinz Schott: Mesmerismus und Romantik in der Medizin. In: Aurora (2004), S. 41-56.
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bar unerklärlicher Phänomene stand, erlebte bis 1820 eine Blüte und hielt sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts; mit ihrer realistischen Schilderung und dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit des Erzählten trug sie weniger zur Beseitigung der Furcht bei, sondern führte vielmehr ins Spannungsfeld naturwissenschaftlicher Erklärung und spiritistisch-esoterischer Spekulation.57 Im frühen 19. Jahrhundert ging das breite Interesse an der Bekämpfung des Aberglaubens unter dem Eindruck der großen politischen, gesellschaftlichen und territorialen Veränderungen und dem zunehmenden Einfluss aufklärungsfeindlicher Strömungen zunächst zurück. Zwar führten die Volksaufklärer das didaktisch-moralische Programm des 18. Jahrhunderts fort, doch erfuhr der Aberglaubensdiskurs einen Wandel: Er zeigt sich in einer Differenzierung und Verwissenschaftlichung der Inhalte sowie in einer Literarisierung des medialen Wissenstransfers. Kompendien wie Fischers Buch vom Aberglauben58 wurden nach 1810 kaum noch verlegt; allenfalls Neuauflagen von Schul- und Lesebüchern erschienen auf dem Markt. Das Thema hielt sich jedoch in der periodischen Presse, in Kalendern oder aufklärerischen Volksschriften. Die theoretischen Diskurse wanderten weitgehend ab in Fachzeitschriften wie Erziehungs- und Schullehrermagazine oder wurden überlagert von den Anforderungen eines sich wandelnden, literarisierenden Buchmarktes.59 Ende der 1820er Jahre intensivierte sich die Beschäftigung mit dem »Aberglauben«: Besonders die Sammlung regionaler Volksüberlieferungen gewann an Bedeutung: Der »Aberglaube« erschien als Ausdruck einer längst vergangenen Kultur, die mit dem Bauerntum identifiziert wurde und sich in
57 Christina Gallo: »Gerade wenn es mit den Gespenstern aus ist, geht das rechte Zeitalter für ihre Geschichte an«. Untersuchung zum Gespensterbuch (1810-1812) von Friedrich Laun und August Apel. Phil. Diss., Taunusstein 2009, S. 37ff.; Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation (=Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, Bd. 37). Tübingen 2008. 58 Vgl. Anm. 49. 59 Jens Brachmann: Der pädagogische Diskurs der Sattelzeit. Eine Kommunikationsgeschichte (= Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Bd. 30). Bad Heilbrunn 2008, S. 169-330 ; Völpel, Literasierungsprozeß.
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einer germanisch-nationalen Ursprungssuche äußerte.60 Der Aberglaubensdiskurs hielt sich als bedeutendes Thema der Volksaufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In den 1840er Jahren fand er Eingang in die Volksbildungsbewegung, die die Volksaufklärung als Engagement einzelner Personen zunehmend ersetzte.61
L ITERATUR Heidrun Alzheimer-Haller: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780-1848. Habil., Berlin/New York 2004. Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem neuen Vorwort von Christoph Daxelmüller. Unveränderter photomechanischer Nachdruck. Berlin/New York 1987. Johann Matthäus Bechstein: Ausserlesene Gespräche über Gegenstände aus der Natur und Oekonomie zur bessern Belehrung und Vertilgung des so mancherley Naturaberglaubens und Verbreitung besserer Einsichten in die natürlichen Dinge. Ein Unterhaltungsbüchelchen für den Bürger und Landmann, auch für Bürger-und Landschulen [Nebentitel: Gespräche im Wirtshause zu Klugheim über allerley Nützliches und Belehrendes aus der Natur und Oekonomie. Als Pendant zu I.A.C. Götze nützliches Allerley und Menschenleben. Ein Lesebuch für den Bürger und Land-
60 Franz von Winckler: Sogenannte alte Bauernregeln oder theils auf Natur, Witterung und sonstige Erfahrung, theils aber auch auf blinden Aberglauben gestützte Meinungen unserer Vorfahren. In: Neue Zeitschrift für die Geschichte der germanischen Völker 1 (1832) 4, S. 1-20; Anton Tkány (Hg.): Mythologie der alten Teutschen und Slaven in Verbindung mit dem Wissenswürdigsten aus dem Gebiethe der Sage und des Aberglaubens. Nach alphabetischer Folge der Artikel. Znaim 1827; s.: Christoph Daxelmüller: Vorwort. In: Hanns Bächthold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Unveränderter photomechanischer Nachdruck. Berlin/New York 1987, S. XXVff. 61 Vgl. Alzheimer-Haller, Volksaufklärung, S. 103ff.; Michael Knoche: Volksliteratur und Volksschriftenvereine im Vormärz. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986), S. 1-130.
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mann in Schwaben], Bd. 1. Nürnberg 1796. Universitätsbibliothek Augsburg, 02/X.1.8.144-1. Wolfgang Behringer: Wissenschaft im Kampf gegen den Aberglauben. Debatten über Wunder, Besessenheit und Hexerei. In: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 365-389. Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen. Braunschweig 1781-1787. Online: http://www.digib.tu-bs.de [Abruf 20.01.2011]. Phillip Anton Sigismund von Bibra/Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (Hg.): Journal von und für Deutschland. Frankfurt a.M. 1784-1792. Online: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl./journdeut/journdeut.htm [Abruf 31.01.2011]. Johann Erich Biester/Friedrich Gedicke (Hg.): Berlinische Monatsschrift. Berlin 1783-1796. Online: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklber lmon/berlmon.htm [Abruf 31.01.2011]. Holger Böning/Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, 3 Bde. Stuttgart/Bad Cannstatt 1990ff. Holger Böning (Hg.): Volksaufklärung: eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts (= Presse und Geschichte, NB 27). Bremen 2007. Holger Böning/Ort Werner (Hg.): Das Goldmacherdorf oder wie man reich wird. Dazu einige Ideen zur Hungersnot von 1817 aus dem »Aufrichtigen und wohlerfahrenen Schweizerboten«, die Rede »Volksbildung ist Volksbefreiung!« und ein wenig Satirisches. Ein historisches Lesebuch von Heinrich Zschokke (= Presse und Geschichte, NB 25). Bremen 2007. Holger Böning: Die Entdeckung des niederen Schulwesens in der deutschen Aufklärung. In: Peter Albrecht/Horst Hinrichs (Hg.): Kultur und Gesellschaft in Nordwestdeutschland zur Zeit der Aufklärung (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 20). Tübingen 1995, S. 75-108. Holger Böning: Das Volk im Patriotismus der deutschen Aufklärung. In: Otto Dann/Miroslav Hroch/Johannes Koll (Hg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung, Bd. 9). Köln 2003, S. 63-98. Holger Böning: Volksaufklärung und Kalender: Zu den Anfängen der Diskussion über die Nutzung traditioneller Volkslesestoffe zur Aufklärung und zu den ersten praktischen Versuchen bis 1780. In: York-Gothart
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Mix (Hg.): Der Kalender als Fibel des Alltagswissens (= Hallesche Beyträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 27). Tübingen 2005, S. 137-173. Holger Böning: Aufklärung für wen? Gedanken zu Universalismus und Adressaten der deutschen Volksaufklärung. In: Stefanie Averbeck-Lietz/ Petra Klein/Michael Meyen (Hg.): Historische und systematische Kommunikationswissenschaft. Festschrift für Arnulf Kutsch (Presse und Geschichte, NB 48). Bremen 2009, S. 389-413. Jens Brachmann: Der pädagogische Diskurs der Sattelzeit. Eine Kommunikationsgeschichte (= Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Bd.30). Bad Heilbrunn 2008. Braunschweigisches Magazin. Wolfenbüttel 1788-1868. Online: http://www. digib.tu-bs.de. Wolfgang Brückner: Stereotype Anschauungen über Alltag und Volksleben in der Aufklärungsliteratur. Neue Wahrnehmungsparadigmen, ethnozentrische Vorurteile und merkantile Argumentationsmuster. In: Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Teil 1: Kultur und Volk. Begriffe, Probleme, Ideengeschichte (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 77). Würzburg 2000, S. 348-390. Anne Conrad: Aufgeklärte Elite und aufzuklärendes Volk? Das Volk im Visier der Aufklärung. Einleitung. In: Anne Conrad/Arno Herzig/Franklin Kopitzsch (Hg.): Das Volk im Visier der Aufklärung: Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte 1). Hamburg 1998, S. 1-15. Christoph Daxelmüller: Konzepte des Magischen. In: Aurora 63 (2003), S. 35-47. Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung von Gutenberg bis zum World Wide Web. München 2008. Sabine Doering-Manteuffel: Medien, Märkte und Magie. Ein Augsburger Volkskundeprojekt zur kritischen Reflexion der Aufklärung. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2000), S. 1-14. Georg Eckardt: Anspruch und Wirklichkeit der Erfahrungsseelenkunde, dargestellt an Hand periodisch erscheinender Publikationen um 1800. In: Olaf Breidbach/Paul Ziche (Hg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 179-202. Heinrich Ludwig Fischer: Das Buch vom Aberglauben, Bd. 1. Leipzig 21791. Online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de :bvb:12-bsb10132603-6 [Abruf 20.01.2011].
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Heinrich Ludwig Fischer: Naturgeschichte und Naturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens. Hamburg/Kiel 1793. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, 8 Phys Math I, 2786. Johann Christoph Fröbing: Calender fürs Volk, Hannover 1787. Universitätsbibliothek Augsburg, 02/I.5.8.48-1787. Christlieb Benedict Funk: Natürliche Magie oder Erklärung verschiedener Wahrsager- und natürlicher Zauberkünste. Berlin/Stettin 1783. Online: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12 -bsb10132610-5. Christina Gallo: »Gerade wenn es mit den Gespenstern aus ist, geht das rechte Zeitalter für ihre Geschichte an«. Untersuchung zum Gespensterbuch (1810-1812) von Friedrich Laun und August Apel. Phil. Diss., Taunusstein 22009. Gert Geißler: Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2011. Johann August Ephraim Goeze: Nützliches Allerley aus der Natur und dem gemeinen Leben für allerley Leser. 6 Bde., Leipzig 1785-1788. Universitätsbibliothek Augsburg, 02/I.3.320-1-6. Johann August Ephraim Goeze: Mannigfaltigkeiten aus der Natur und dem Menschenleben für allerley Leser, Altona 1792. Universitätsbibliothek Augsburg, 02/I.3.8.321. Johann Konrad Gütle: Vermischte Beiträge zu Zauber-Belustigungen aus der Chemie, Optik, Musik und dem Schall: mitunter zu Geistererscheinungen brauchbar. Nürnberg 1806. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, 8 Phys I, 422/h. Notker Hammerstein: Elementarschulen als Träger von Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert. In: Lothar Gall/Andreas Schulz (Hg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert (= Nassauer Gespräche der Freiherrvom-Stein-Gesellschaft, Bd. 6). Stuttgart 2003, S. 63-79. Dieter Harmening: Aberglaube: Superstition – Ein Thema des Abendlandes zwischen Theologie, Wissenschaftsideologie und historischer Ethnologie. In: ders.: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens (= Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 10). Würzburg 1991, S. 114-141. Hartmut Heller: Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts im Konflikt mit Volksfrömmigkeit und Aberglaube. In: Max Liedtke (Hg.): Religiöse Erzie-
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Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, Bd. 37). Tübingen 2008. August Hermann Niemeyer: Ueber den Aberglauben bey Ertrunkenen. Eine Zuschrift an Halloren und Fischer zu Halle. Mit einer Nachschrift an die Vorsteher von Bürger= und Landschulen. Halle 1783. Bayerische Staatsbibliothek München, Path.885x. Andreas Franz Noemer: Vollständiger systematischer Religionsunterricht. Ein Unterrichtsbuch für die Jugend und Lesebuch für das Volk, Bd. 1. München 1786. Universitätsbibliothek Augsburg, 02/XIII.9.8.102-1. Johann Heinrich Pfaff: Unterhaltendes Historienbuch für Bürger und Bauersleute. Gotha 1794. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, LD 5288. Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 119). Phil. Diss., Tübingen 1992. Friedrich Eberhard von Rochow: Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen Teil I und II, 1776/1779. Nachdruck mit einer Einleitung, hg. von Jürgen Bennack. Köln/Wien 1988. Heinz Rommel: Das Schulbuch im 18. Jahrhundert (= Probleme der Erziehung, Bd. 9/10). Phil. Diss., Wiesbaden-Dotzheim 1968. Johann Ferdinand Schlez: Ora et labora, oder: der glücklich gefundene Schatz. In: ders. (Hg.): Der Volksfreund. Eine Monatsschrift, deren Aufsätze auch einzeln, als Flugschriften zu haben sind. Ansbach Juli/August 1799. Universität Bremen, Deutsche Presseforschung, ja 2111. Christian August Schlipf: Wie kann bei dem Schulunterricht dem unter dem Volke herrschenden Aberglauben auf die kräftigste Weise begegnet werden? Ulm 1818. Heinz Schott: Mesmerismus und Romantik in der Medizin. In: Aurora (2004), S. 41-56. Friedrich Georg Seiler: Allgemeines Lesebuch für den Bürger und Landmann vornehmlich zum Gebrauch in Stadt= und Landschulen. 2. verb. Aufl. Erlangen 1790. Universitätsbibliothek Erlangen, H00/Paed.120. Reinhart Siegert: Volksbildung im 18. Jahrhundert. In: Notker Hammerstein/ Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 443-483.
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Ein steirischer Arzt des 17. Jahrhunderts als Quelle für die magischen Praktiken seiner Zeit E LFRIEDE G RABNER
Als eine wichtige, kaum genützte Quelle für die Eigentümlichkeiten des 17. Jahrhunderts, wie sie vor allem den sogenannten Aberglauben und Irrwahn in der Steiermark betreffen, kann das literarische Werk des lange in der Steiermark wirkenden Arztes Adam von Lebenwaldt (1624-1696) angesehen werden. Lebenwaldts Werke charakterisieren nicht bloß seine eigene Bildung, sein Wissen und seine Anschauungsweise, sondern sie sind auch eine reiche Fundgrube, um sich ein Bild vom Kulturleben seiner Zeit zu machen.1
1
Vgl. dazu: Elfriede Grabner: Adam von Lebenwaldt und die Volksmedizin. In: ZHVSt, Sonderband 11. Graz 1966, S. 1-18; dies.: Nochmals zum Thema »Die Gemse in der Volksmedizin des Alpenlandes«. Die »Damographie« des Adam von Lebenwaldt, eine wichtige Spezialstudie eines steirischen Arztes des 17. Jahrhunderts. In: Ethnomedizin II/1/2. Hamburg 1972, S. 147-154; dies.: Doktor Adam von Lebenwaldt. Ein steirischer Arzt des 17. Jahrhunderts zwischen Schul- und Volksmedizin. Medizin im Spiegel der Volkskunde. In: Österreichische Ärztezeitung. Wien, Dezember 1982; dies.: Schul- und Volksmedizin in den Werken zweier Ärzte des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ethnomedizin und Medizingeschichte. Beiträge zur Ethnomedizin, Ethnobotanik und Ethnozoologie VII. Berlin 1983, S. 253-279; dies.: »Von des Teufels List und Betrug«. Die »Tractä-
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Die biografischen Daten dieses für die damalige Zeit ungemein belesenen Mannes lassen sich kurz umreißen: Adam Lebaldt – das Prädikat »von und zu Lebenwaldt« erhielt er erst 1659 durch Erhebung in den Adelsstand – wurde am 25. November 1624 zu Sarleinsbach im oberösterreichischen Mühlviertel geboren. Sein Vater, Aegidius Lebaldt, Ratsbürger und Marktschreiber zu Sarleinsbach, starb schon 1640, als sich Adam noch in den unteren Klassen des Jesuitengymnasiums in Linz befand. Nach Abschluss seiner Gymnasialzeit 1645 begab er sich zum Studium der Philosophie an die Universität Graz, die er mit der Würde des Magisters verließ, um sich an der damals berühmten und besonders von Medizinern besuchten Universität zu Padua dem Studium der Medizin zu widmen. Im Jahre 1652 promovierte er in Padua feierlich zum »Doctor medicinae« und begann bald darauf in Graz die ärztliche Praxis. Der Abt des Stiftes Admont, Urban Textor, ernannte ihn 1655 zu seinem Leib-Medicus und Hausarzt des Stiftes. Daneben erhält er aber auch die Stelle eines Landschafts-Medicus für das Ennsund Paltental und wird schließlich von Kaiser Leopold I. für seine Kenntnisse und Verdienste im ärztlichen Beruf, besonders als Pestarzt, zum »Comes Palatinus« ernannt. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit widmet sich Lebenwaldt auch der Dichtkunst und der Musik und wird 1679 vom Kaiser mit dem Dichter-Lorbeer ausgezeichnet. Im Jahre 1671 löst er sein Dienstverhältnis zum steirischen Stift Admont und übersiedelt in das obersteirische Rottenmann. Wenige Jahre später erwirbt er 1674 den Stibichhof bei Trofaiach, um sich ganz dem literarischen Schaffen hinzugeben. Aber Pest, Aufstände der Bergknappen und Eisenarbeiter und schließlich auch die Türkeneinfälle verleiden dem Ruhesuchenden den Besitz. Noch wenige Jahre vor seinem Tod zieht er nach Leoben, wo er sich ein kleines Grundstück angekauft hatte. Aus solchen Tagen stammt wohl das in seinem stets ungetrübten Humor hingeworfene Bonmot: »Nicht selten wirft ein Kranker zum Honorar/Den lieben Doctor auf die Todtenbahr.« Ein Jahr vor seinem Tode erschien 1695 in Nürnberg sein bedeutendstes Werk, das Land-Stadt-Und Hauß-Artzney Buch, das fast vergessen ist, vor
tel« des steirischen Arztes Adam von Lebenwaldt als Quelle zum Volksglauben seiner Zeit. In: ZHVSt (76). Graz 1985, S. 173-191; dies.: Ein steirischer Arzt im Barock. Heilkunde und Volksglaube des 17. Jahrhunderts bei Adam von Lebenwaldt. In: ZHVSt (83). Graz 1992, S. 355-370.
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allem aber für die sogenannte Volksmedizin eine wahre Fundgrube darstellt. Dass das Buch schon nach seinem Erscheinen nicht mehr bekannt war, mag an der Überfülle der darin angeführten ärztlichen Ansichten und Heilpraktiken aller Zeiten gelegen sein, die geradezu erdrückend wirken mussten, sodass das Werk von den vielbeschäftigten medizinischen Praktikern mehr gemieden als gesucht wurde. Das Buch enthält alles, was überhaupt über Pest und pestartige Krankheiten in der damaligen Zeit gesagt werden konnte. Kaiser Leopold I. übernahm selbst die Widmung, und so konnte es auch unter dem Schutz des kaiserlichen Adlers im Druck erscheinen. Abbildung 1: Adam von Lebenwaldt (1624-1696), Portrait im Steiermärk. Landesarchiv Graz
In den letzten Jahren seines Lebens litt Lebenwaldt an verschiedenen Krankheiten und depressiven Verstimmungen. Er starb am 20. Juni 1696 im 72. Lebensjahr in seinem Haus in Leoben und wurde am 23. Juni in der dortigen Florianikirche der Dominikaner beigesetzt. Sein Grab ist heute unauffindbar, da die Kirche nach der Aufhebung des Klosters im Jahr 1811 verschiedene Verwendung fand und später auch bauliche Veränderungen er-
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fuhr. Ein genauer Hinweis auf den Standort des Grabmals fehlt auch in den Sterbematriken. Für Lebenwaldts Verhältnis zum Volks- und Aberglauben seiner Zeit sind vor allem seine acht Tractätl von deß Teuffels List vnd Betrug, die 1680-1682 bei Johann Baptist Mayr in Salzburg erschienen, von quellenkundlicher Bedeutung. Der volle Titel der Traktate belehrt uns hinlänglich über den Charakter dieser Abhandlungen und über die systematische Weise der Behandlung. Abbildung 2: Titelblatt zum achten Tractätl, Salzburg 1682
In diesen acht Traktaten bekundet Lebenwaldt seine außergewöhnliche Belesenheit in Werken der verschiedensten Zeiten, die von sonderbarsten Dingen handeln und deren Zahl wahrlich nicht gering ist. Er kennt und zitiert die bedeutendsten Gelehrten, welche für oder gegen eine Ansicht geschrieben haben, und zieht alles herbei, was er aus dem Volksleben erfuhr
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und auch selbst erlebte. Dabei handelt es sich aber nicht nur um den sogenannten Aberglauben des einfachen Mannes, sondern auch um jenen der gelehrten oder besser gesagt der gelehrt sein wollenden Welt des 17. Jahrhunderts. Lebenwaldt schrieb dieses Werk, zu dem er von guten Freunden, die er sich in seiner damaligen 27-jährigen ärztlichen Praxis erworben hatte, aufgefordert wurde, in einer sehr kritischen und oft geradezu fanatisch ausufernden Sprache. Er, der selbst als Kind seiner Zeit äußerst teufelsgläubig war, entschuldigt sich aber eingangs bei seinen Lesern für seine oft sehr scharfe Wortwahl, wenn »auff einem oder andern Orth die Feder zu sehr gespitzt« erscheinen sollte. Aber, fügt er abschließend hinzu, »der Teuffel ist schwartz/ er braucht eine scharffe Laugen«.2 Lebenwaldt ist also geneigt, allen menschlichen Unsinn, allen Irrtum und alles Böse dem Teufel unmittelbar in die Schuhe zu schieben. Er ist davon überzeugt, dass die bösen Geister nicht bloß durch Gesichtstäuschung, sondern auch körperlich erscheinen können. Er findet es nicht notwendig, darüber viele Worte zu verlieren, da man »genugsambe Zeugniß habe, daß bey vnfern Zeiten auff den Freythöfen/Gräbern/Oerthern wo Scharffrecht gehalten worden/oder Schlachten geschehen/in allen Gschlössern vnd Gebäuen, ja auch bewohnlichen Häusern abscheuliche Gesichte vnd Gespenste gesehen« worden sind. Es dürfte auch selten einer gefunden werden, der sagen könnte, er habe in seiner Lebenszeit nicht etwas Erschreckliches oder Unmenschliches gesehen oder gehört.3 Dieses Bekenntnis eines sonst nüchternen Denkers charakterisiert sehr deutlich die Anschauungen jener Zeit, selbst bei ganz natürlichen Dingen einen Teufelsspuk zu wittern, sobald sich der Zusammenhang nicht von selbst erklärte. Zwar verurteilt Lebenwaldt jeglichen Aberglauben, der für ihn Sünde ist, »da man einem natürlichen Ding vnnatürliche Wirckung« zuschreibe. Er zitiert dabei immer wieder die Werke der Jesuiten Martinus Delrio (1551-1608)4 und entnimmt ihnen wichtige Gedankengänge. Jedenfalls ist
2
Vorrede zum 1. Tractätl. Salzburg 1680.
3
1. Tractätl, S. 6.
4
Martin Antonio Delrio (Del Rio), 1551-1608, lehrte als Jesuit Philosophie und Moraltheologie in Douai, Lüttich, Löwen und Salamanca, war von 1601-1603 Professor an der Jesuitenuniversität in Graz. Sein bekanntestes Werk sind die
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für Lebenwaldt Aberglaube »der gerade Weeg zur Zauberey«, der in der Maske eines einfältigen Kindes mit Hilfe von heiligen Worten und Gebeten den Menschen betrüge. Denn »der Teuffel ist der Principal-Agent/welcher seine Fündl braucht«, um den Menschen von den natürlichen Sachen abzuwenden und auf andere »vngereimbte Mittl zuziehen«.5 Für die Verbreitung solcher abergläubischer Vorstellungen macht Lebenwaldt hauptsächlich, wie er betont, die »Weiber« verantwortlich, denn sie seien ein »schwaches Gefäß/wo judicii imbecillitas et credulitas« – also schwacher Verstand und Leichtgläubigkeit – wohnen, »man glaubt lieber/ als man recht vrtheilet/es vertrauts geschwind eine der andern«, und – was ihm am meisten schmerzt – sie bleiben fest bei ihrer Meinung »vnd lassens auß dem einfältigen Hirn nit herauß bringen/absonderlich wann sie schon alt seyn/vnd die deliramenta anilia im Kopff herumb tantzen«. Es sei leichter, dem Herkules seinen Streitkolben zu entwinden, als ihnen die eingepresste Meinung aus dem Herzen zu reißen.6 Lebenwaldt beschäftigt sich dann mit verschiedenen abergläubischen, vor allem magischen Praktiken, die er als »Fatzwerck« und »Pickelhärische Bossen«7 bezeichnet. Er kennt verschiedene Beschwörungssegen, etwa gegen Fieber und Zahnweh oder gegen den sogenannten Fingerwurm. Freilich unterscheidet er hier nicht zwischen wirklich alten Spruchüberlieferungen, Scherzrezepten und ausgesprochenem Studentenulk, die er in einem Atemzug anführt. So erzählt er von einem Studenten, der einer alten Frau gegen das Fieber einen Zettel gab, auf dem Folgendes stand: »Die Alte hat das Kalte, hol der Teuffel die Alte, so vergeht ihr das Kalte.«
Disquisitionum magicarum libri VI, ein gelehrtes, aber kritikloses Werk, das die Folteranwendung in den Hexenprozessen fordert. Es erschien 1599 in Löwen und erreichte 20 Auflagen. 5
8. Tractätl, S. 6.
6
Ebd., S. 6f.
7
Als »Pickelhering« bezeichnete man eine lustige Bühnenfigur (Possenreißer, »Hanswurst«); Niederländisch »Pickelharing« bedeutet »eingepöckelter Hering«. »Fatzwerk«, vom Verb »fatzen«, scherzhaft, possenhaft reden.
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Sogenannte Fieberzettel sollten, wenn man sie mit dem Kranken in Berührung brachte, Schutz und Heilung gewährleisten. Neben solchen, die der religiösen Sphäre angehörten und auch oft in lateinischer Sprache verfasst waren, gab es andere mit allerlei Sprüchen und Zauberformeln, die durch magische Kraft ihre Wirkung entfalten sollten. Mit solchen Fieberzetteln wurde natürlich viel Unfug getrieben. Die Barockprediger erzählen zum Beispiel mit Vorliebe – wohl um die Praktik lächerlich zu machen – von solchen um den Hals getragenen Zetteln, die unsinnige Anleitungen trugen. Das alles sei eine »teuflische Poeterey«, erfahren wir weiter, und »es werden die heilige Wort nit verschont/also daß durch die Schmertzen Christi die Colica außergesegnet wird/die verrenckten Glider richten sie wider mit verschrenckten Worten ein/welche per anagramma weiß niemand was bedeuten/als Matas Danatas, Pissa sissa, hax, pax, max, Deus adimax, da kombt auch das Wort Hocus pocus her/welches die Taschenspiler im Gebrauch haben, wiewolen andere vermainen daß es eines welschen Gaucklers rechter Nahm gewesen sey«.8 Die hier von Lebenwaldt angesprochene Zauberformel »Hax pax max Deus adimax«, die für lateinisch gehalten sein will, aber an Bildungen wie »Kribskrabs« anklingt, kann wohl als Schöpfung fahrender Schüler angesehen werden. Die Bezeichnung »Hocuspocus« hingegen versucht man aus der Taschenspielerlehre »Hocus Pocus Junior« von 1634 zu erklären, die in Holland verbreitet war und 1667 ins Deutsche übertragen wurde. Die übliche Herleitung aus den Konsekrationsworten in der katholischen Messe »Hoc est enim corpus meum« erscheint unglaubwürdig, weil Zauberkünstler der damaligen Zeit eine solche Lästerung wohl kaum hätten wagen dürfen.9 Für Lebenwaldt sind solche Zauberformeln »Zigeinerische Diebswörter/deren Sprachmeister der schwartze Casperl ist/welcher allzeit seine höllische Bratzen mit in dem Spil hat/vnd damit die leichtglaubigen Gemüther verruckt/verzuckt/vnd letzlichen in die Höllen truckt«. Auch das Zauberwort »Abracadabra«, das schon um 200 beim römischen Mediziner Q. Serenus Sammonicus belegt ist, im 16. Jahrhundert von den Nekromanten, etwa von dem Alchemisten Leonhart Thurneysser (1550-1596)
8
8. Tractätl, S. 12f.
9
Vgl. Friedrich Kluge/Walther Mitzka: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 18. Aufl. Berlin 1960, S. 313.
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wieder aufgegriffen wurde und als sogenannte Schwindformel Zahnweh und Fieber vertreiben soll, beschäftigt Lebenwaldt. Unter einer Schwindformel versteht man die Aneinanderreihung einzelner Buchstaben, wobei man in jeder Zeile einen weniger schreibt, bis zum Schluss nur mehr ein Buchstabe übrig bleibt. Durch die Reihe der allmählich abnehmenden Buchstaben sollte auch ein Zurückgehen des Fiebers bewirkt werden. Lebenwaldt hält jedoch nichts von der Buchstabenfolge ABRACADABRA und hält sie für einen »teufflischen Schuelzettl/welche auß der Cabalisten falschen Lehr herauß gezogen/vnd kein eintzige natürliche Krafft oder Wirckung habe«10. Als Pestarzt beschäftigt sich Lebenwaldt auch mit der angeblich unheilbringenden Wirkung der Kometen, die mit ihrem Erscheinen die Menschen immer wieder in Angst und Schrecken versetzten und die Ursache von Krankheiten, vor allem der Pest, sein können. Dies scheint ihm nicht ganz unglaubwürdig. Denn, so meint er, empfinden die meisten »des Cometen Malignität/welchen er über die Scheitel gehet/da wird die Lufft inficirt, hernach geht es auff die Kräuter/Bäum und Thier loß«. Er hält es für sicher, »daß die Himmel viel faule gifftige Dämpff haben, welche sie in die Lufft und Erden herab/als eine Kloacken lassen«.11 Dennoch scheint Lebenwaldt diesem Kometenglauben auch eine gewisse Skepsis beizumessen, wenn er, für die damalige Zeit geradezu ungewöhnlich, freimütig bekennt: »Ich für meinen Teil […] glaube nicht alles/ was den Cometen von theils Astrologis zugeeignet wird/«, denn, so meint er weiter, »wiewohlen dergleichen Übel auch ohne Cometen geschehen können/würcken offt mehre Ursachen zu einem Effeckt« zusammen. So lässt er auch die Frage offen, ob der im Pestjahr 1680 »abends nach der Sonnen Untergang mit jedermans Verwunderung vnd Gemüths−Bestürzung« erschienene Komet für die schreckliche Seuche, die damals auch Graz so verheerend heimsuchte, verantwortlich gewesen sei. In Graz sollen damals an die 2340 Personen gestorben sein. Groß war die Zahl der Opfer auch im übrigen Land, aber es sei niemand mediante aere, also durch verseuchte
10 8. Tractätl, S. 14. 11 Adam von Lebenwaldt: Land-, Stadt- Und Hauß-Artzney-Buch … Nürnberg 1695, S. 174.
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Luft, als vielmehr per contactum Physicum, durch die Berührung mit dem Arzt, angesteckt worden.12 Wir erfahren auch viel über weitere abergläubische Vorstellungen, wie sie Lebenwaldt wohl oft selbst als Landarzt erlebt haben mag. Er stellt dazu einige Beispiele vor, fügt aber jedem dieser Exempel, gleichsam mit erhobenem Zeigefinger, die Folgen und Strafen für diesen »sündhaften Aberglauben« an. Zum Brauch des Kugelgießens bemerkt er: »Man giest an eines gewissen Heiligen Namens-Tag/wann der Mond im Schützen ist Kugel/ welche vnfehlbar alles Verlangtes Treffen/aber man hat Exempel daß die Kugel auff den Schützen selbst ist loßgangen.«13 Der Andreastag (30. November) und der Johannistag (24. Juni) spielten im Volksbrauch schon früh eine Rolle. Besonders was das zauberische Erkunden in Bezug auf Liebe und Ehe betraf. Dazu bemerkt er: »Am Tag deß H. Andrae oder Johannis thun die Mannsichtigen Weibsbilder vor der Sonnen Auffgang die Stuben außkehren/vnd so sie zurück sehen erscheint ihnen ihr Liebster oder Bräutigamb; aber einer vorwitzigen Jungfrau erschine an statt des Bräutigams der Teuffel/in so häßlicher Gestalt/daß sie vor Schrecken nidergefallen/halb todter gefunden worden/vnd nit lang hernach gelebt.«14 Nach altem Volksglauben sprechen in der Heiligen Nacht die Tiere: »Die einfältigen Bauersleuth wollen in der H. Christ-Geburts-Nacht Ochsen vnd Esel reden hören/aber es geschach/daß solches Viech gantz rasent auff den Loser loßgangen/vnd ihne also zerstossen vnd zertretten/daß er den Geist bald hernach hat auffgeben müssen.«15 Wahrsagen und Zukunftsschau waren im 17. Jahrhundert besonders stark verbreitet. Sie bringen jedoch nach Lebenwaldts Meinung Tod und geistige Umnachtung. Auch dazu weiß er zu berichten: »Ein Baurenknecht/ […] der schauete bey einem Wahrsager in einen Cristall/sahe ein Todtenbahr voller Schlangen vnd Krotten darauff/wurde hernach gantz afterwitzig vnd verzweifflet.«16 Von einem schon eingangs angesprochenen Fieberzettel, den ein Knabe gegessen hatte und der angeblich Blindheit verursachte, weiß er aus eigener Anschauung zu berichten:
12 Ebd., S. 27. 13 8. Tractätl, S. 19f. 14 Ebd., S. 20. 15 Ebd., S. 20f. 16 Ebd., S. 21f.
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»Dises hab ich mit meinen Augen gesehen/daß ein Knab bey 13.Jahren ein geschribnen Zettel wider das dreytägige Fiber genossen/es ist ihm alsbald vorkommen/als wann er die Glocken der gantzen Welt leuten hörte/wurd alsbald stockblindt ohne eintzigen Augenfluß/es ist auch kein Artzney-Mittl ersprießlich gewest.«17
Lebenwaldt fügt dann an, dass er viele hundert Beispiele anführen könnte, wo jedes Mal auf den »leichtsinnigen Aberglauben« umgehend die Strafe Gottes erfolgt sei oder der Teufel selbst seine Opfer bedrängt hätte. Das von ihm zusammengetragene Material solcher abergläubischen Gebräuche und Meinungen ist sehr umfangreich, vieles davon fast allen Völkern Europas gemeinsam. Leider hat Lebenwaldt nicht immer vermerkt, was speziell der Steiermark eigen ist. Doch lässt sich einiges hervorheben, was er als »Fatzwerck« und »Pickelhärische Possen« bezeichnet. So hält er verschiedene volkstümliche Anschauungen, wie etwa jene, dass es nicht gut sei, »wann ein Messer auff dem Rucken ligen thut«, für »leichte Afterbossen«. Gleichsam wie jedes Land seine besonderen Sitten habe, so habe es auch seinen besonderen Aberglauben, denn »der Teuffel feyret niemahls«. 18 In der Obersteiermark war es üblich, dass man es nicht wagte, die Raubtiere bei ihren eigenen Namen zu nennen, denn sonst würden sie kommen und Schaden anrichten. So benannte man euphemistisch den Geier »Flieger« oder »Stämperl«, den Fuchs »Langschwantz«, den Wolf »Vnzifer« und den Bären »Braitschedl«.19 Viel erfährt man von den sogenannten Zauber- und Hexenkräutern, wie etwa Dorant, Weinkräutl (Raute), Farnkraut, Teufelsklau, vor allem vom Johanniskraut oder Hartheu (Hyperium perforatum), das schon im 14. Jahrhundert als »sant johannskrut« bezeichnet wird. Allgemein traute man diesem Kraut zu, die Mächte der Finsternis, die Bösen Geister, die Hexen, ja sogar den Teufel in die Flucht zu schlagen, daher der alte, schon im 16. Jahrhundert verbreitete Namen »Teufelsflucht« (fuga daemonum) für das Johanniskraut.20 Auch Lebenwaldt kennt diese Bezeichnung und erwähnt, dass sich mit ihm der Glaube verbinde, dass es, wenn man es zu bestimm-
17 Ebd., S. 22. 18 Ebd., S. 23-25. 19 Ebd., S. 25f. 20 Heinrich Marzell: Zauberpflanzen, Hexentränke. Brauchtum und Aberglaube (= Kosmos-Bibliothek, Bd. 241). Stuttgart 1964, S. 32.
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ten Zeiten ausgrabe und in den vier Ecken des Hauses aufhänge oder an dem Hals trage und das Pulver davon einnehme, vor jeder Zauberei schütze.21 Sehr geläufig war ihm der Gebrauch des sogenannten Wundholzes, wie man das Holz der Esche nannte und dem man wunderbare Kraft zuschrieb. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es als Heilholz angesehen, das bei allen Schäden Verwendung fand, besonders wenn es am Karfreitag geholt wurde.22 Er erwähnt auch, dass man dieses »Wundholz« auch zu Trinkgefäßen verarbeite, »vnd so man darauß trincket solle es ein Panacaea wider alle Kranckheiten seyn/andere thun solches Holtz auff die Wunden vnd Schäden binden/wollen also solche hailen ohne Pflaster vnd ohne Schmierung/ etliche machen in der Application drey Creutz thun ein Spruch durch Sonn vnd Mond/enden es im Namen Gottes«23. Das ist für Lebenwaldt natürlich wieder teuflischer Aberglaube, so dass er polternd bemerkt: »Wer da nicht ein Teuffelsgestanck riechet/der muß wol ein vnerhörte Strauchen«24 haben. Die Wunden werden jedoch, wie er meint, oft von der Natur geheilt, ein »abusus oder Mißbrauch sey es/daß man will zu gewissen Tägen/Zeiten vnd Stunden hauen/« oder die Wirkung den Einfluss von Planeten zuschreibe. »Also wird der Natur Werck in Aberglauben verkehrt/vnd den Leuthen ein blauer Dunst vor die Augen gemacht.«25 Auch die Alraune, die im Zauberglauben früherer Zeiten eine besondere Rolle spielte, beschäftigt den steirischen Pestarzt. Die auch als Mandragora bekannte Pflanze gehört zu den Nachtschattengewächsen und ist in den Mittelmeerländern beheimatet. Wie viele andere Nachtschattengewächse enthält sie Alkaloide, wie Hyoscin, Atropin, Skopolamin, die Aufregungszustände, Unruhe und Tobsucht verursachen. Die Mandragora officinarum besitzt weißlich-gelbe Blüten, kugelige Beeren und eine fleischige Wurzel, die oft gespalten ist und menschenähnliches Aussehen hat. Lebenwaldt sind solche Wurzelgebilde gut bekannt, wie sie auch in den Kräuterbüchern seiner Zeit oft beschrieben werden. Er weiß zu berichten, dass man die Alrau-
21 8. Tractätl, S. 33f. 22 Heinrich Marzell: Die heimische Pflanzenwelt im Volksbrauch und Volksglauben. Skizzen zur deutschen Volkskunde (= Wissenschaft und Bildung, Bd. 177). Leipzig 1922, S. 76. 23 8. Tractätl, S. 38f. 24 Strauche oder Strauke = Schnupfen; ahd. strûhên = gleiten, schlüpfrig sein. 25 8. Tractätl, S. 39-41.
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ne für besonders zauberkräftig hält und dass sie denjenigen, die sie besitzen, »etwas haimbliches/nemblich was sie thun sollen damit sie reich können werden/einblasen vnd also gleichsamb als ein kleines Haußgötterl oder spiritus familiaris« gelten und ihnen zukünftige Dinge offenbaren sollen. Auch die Geschichte, dass die Wurzel unter dem Galgen aus dem Harn eines gehängten Diebes wachse und daher »Galgenmännlein« heiße, ist ihm bekannt: »dieses Galgenmändl muß zu gewisser Zeit/mit aignen Ceremonien« und mit Hilfe eines schwarzen Hundes, der dann verendet, ausgegraben und hernach mit rotem Wein gewaschen werden. Diese Wurzel soll, so berichtet Lebenwaldt weiter, beim Ausreißen ein »grosses Geschrey« von sich geben, »von welchem die Zuhörenten erkrancken oder sterben/derowegen thuen sie die Ohren mit Wachs/Pech vnd Baumwolle verstopffen«.26 Natürlich wurde mit der Alraune, die bei uns ja nicht heimisch war, viel Schwindel getrieben. Schon 1584 wurde in der Steiermark ein gewisser Christoph Söll dem »Landprofosen« angezeigt, weil er die Bauern »mit gemachten Ruben, so er für Alrauenen verkauffet« betrog und dabei viel Geld verdiente.27 Auch Lebenwaldt beklagt sich über die »Landstürtzer vnd Leutbetrieger«, die aus »Steckwurtzen« Alraunen herstellen. Auch mit der sogenannten Gemswurz, einer von den Gämsen bevorzugten Pflanze, die nach dem Volksglauben diejenigen Menschen, die sie essen, unverwundbar machen soll, beschäftigt sich Lebenwaldt eingehend. Er kann die Pflanze zwar botanisch nicht eindeutig bestimmen und ordnet ihr verschiedene Benennungen zu, wie »Species Doronici«, »Sig-Wurtz«, »Gladiolus«, »Allermanns-Harnisch«, doch glaubt er nicht an das »Teuffels−Werck« der Unverwundbarkeit, wie er dieses auch an einem Beispiel aus den obersteirischen Bergen ausführt: »[…] mir selbst hat ein Jäger dergleichen Wurtzen offerirt/vnd sich zu einer Prob dargestellt/er wolle etwas darvon essen/ich solle hernach mit einer Kugel geladnen Pixen auff ihn schiessen/nein/sagte ich/weilen ich nichts darauff glaube/kundte ich dich todtschiessen/du wurdest also zum Teuffel fahren/vnd ich in eine Straffe kommen.« 28 Nun, teufelsgläubig war unser steirischer Arzt als Kind seiner Zeit wohl reichlich. Für ihn kommt alles Böse aus der »finstern Höll-Pfützen/allwo der
26 Ebd., S. 43-45. 27 Joseph von Zahn: Steirische Miscellen. Zur Orts- und Kulturgeschichte der Steiermark. Graz 1899, S. 439. 28 8. Tractätl, S. 48f.
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schwartze verführerische Welt-Gott regiert vnd seinen Discipuln als ein schwartzer Mann/schwartzer Hund/Katz/Bock/Beer/erscheinet/dann die Teuffel machen ihre Leiber auß den stinckfinsterischen Tämpffen/daher ist das Sprüchwort vom schwartzen Cäsperl vnd es stinckt wie der Teuffel«29. In allen abergläubischen Praktiken, die sich mit der Lehre der katholischen Kirche nicht vereinen lassen, sieht Lebenwaldt einen teuflischen Pakt. So etwa wenn man bei Krankheiten »wunderliche Sprüch haimblich oder offentlich vorbringt/mit anrühren, anblasen (welches das gemaine Volck anbetten nennet) oder sunst etwas appliciert, welches kein natürliche oder übernatürliche Krafft hat«30. Verwerflich sei es auch, »vnnutze Wort« anzuwenden, wie es etwa bei den Blutstillsegen geschieht, wo es heißt: »Sanguis mane in te, ut Christi sanguis in se«, oder wenn man die unsinnigen Worte gegen die Nachtgespenster, wie »Hax, pax, max Deus adimax«, gebraucht.31 Er habe oft bemerkt, dass solcher teuflische Aberglaube beim »gemainen Pöfel« stark verbreitet sei und von diesem auch nicht für verwerflich gehalten werde, da man ja heilige Worte gebrauche. So werde bei solchen angeblichen Heilhandlungen oft die heilige Dreifaltigkeit angerufen oder auch das Kreuzzeichen gemacht, »welches sonst für ein Teuffels−Gaißl« gehalten wird. Aber Lebenwaldt lehnt diese Mischung von Zauber und christlichem Segen entschieden ab, wenn er sehr drastisch dazu formuliert: »das haist aber wohl recht vnserm Herr Gott die Füß/vnd dem Teuffel den Hindern geküst«.32 Lediglich das sogenannte Benediktuskreuz lässt er gelten, das als Amulett weit verbreitet war und verschiedene Buchstaben und Zeichen trug, deren Auflösung dann folgenden Segen ergab: CRUX SACRA SIT MIHI LUX/ NON DRACO SIT MIHI DUX. Es werde, berichtet er, aus Papier, Silber, Messing oder anderen Stoffen hergestellt und mit Buchstaben gegen Zauberei, böse Geister versehen, gegen die Pest getragen oder in den Häusern aufgehängt.33 Dieses Benediktuskreuz sei also ein wirkliches geistliches Heilmittel, das schon »Gregor der Große« bezeuge. Tatsächlich hat Papst
29 Ebd., S. 76f. 30 Ebd., S. 96. 31 Ebd., S. 100. 32 Ebd., S. 56. 33 Ebd., S. 343.
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Gregor XIII. (P.M. 1572-1585) diesen Segen 1582 ganz besonders empfohlen und genehmigt. Einen großen Raum in Lebenwaldts achtem Tractätl von 1682 nimmt der Hexenglaube ein, der in der Steiermark gerade im 17. Jahrhundert seine Blüte- und Blutzeit gehabt hat. Dass die Hexen und Zauberer Hagelwetter machen, den Menschen und dem Vieh durch Anschauen, Anblasen oder Anrühren etwas Böses antun können, das war nicht nur gängiger Aberglaube, sondern davon war auch die damalige gelehrte Welt, besonders Juristen, Theologen und Mediziner und vor allem auch der Arzt Dr. Lebenwaldt überzeugt. So sei, wie er schreibt, unter den vielen »Wunderdingen welche die zauberische Teuffels−Gesellschaft« hervorbringe, das »Wettermachen« zu nennen. Denn der Teufel stachle die Hexen an, »daß sie ihre Bossen treiben/mit Steinwerffen vnd Reuttern/das Wasser mit Ruten hauen«.34 Als wirksames Mittel gegen diesen Zauber der Wetterhexen führt Lebenwaldt »betten/ein gutes Gewissen haben/geweichte vnd von der Catholischen Kirchen approbirte Sachen« an, aber wir erfahren im selben Atemzug auch, welche Mittel unerlaubt und eben wieder vom Teufel sind, so etwa das Sprechen von Wettersegen, »gewisse geschribne Wort ins Feuer werffen/oder der Zigeiner Wurtzel gebrauchen«, die, wie die Leute behaupten, sie sich zu gewissen Zeiten aus Ägypten bringen lassen.35 Um welche Wurzel es sich dabei gehandelt hat, wird allerdings botanisch nicht erklärt. Die im Ostalpenraum als »Zigeunerwurz« bekannten Pflanzen, wie die schwarze Teufelskralle oder das Zwerg-Seifenkraut, scheinen im Wetterglauben keine Bedeutung gehabt zu haben. Ausführlich wird dann der Ritt der Hexen zu ihren Versammlungen, die Gelage und die orgiastischen Tänze an bestimmten Plätzen geschildert, wobei die sogenannte Hexensalbe, mit der sich die Hexen vor ihrer angeblichen Fahrt durch die Lüfte einrieben, eingehend Erwähnung findet.36 Sie spielt vor allem bei den Hexenprozessen eine wichtige Rolle. Aber die Zusammensetzung dieser Hexensalbe suchen wir bei Lebenwaldt vergebens. Er erwähnt nur einmal, dass diese »Hexen-Schmier« zum größten Teil aus der »unmündigen getödten Kinder-Faisten« bestünde. Das war freilich wieder eines der gerade im 17. Jahrhundert für wahr gehaltenen Schauermärlein.
34 Ebd., S. 186. 35 Ebd., S. 195f. 36 Ebd., S. 229-231.
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Wir sehen also, wie der belesene und auch den Strömungen seiner Zeit aufgeschlossene Arzt mutig gegen den Aberglauben zu Felde zieht, andererseits aber wieder tief in den Wahnvorstellungen seines Jahrhunderts befangen bleibt, das an der Existenz von Hexen und Zauberern festhielt. Lebenwaldt hat den Hexen- und Teufelsglauben seiner Zeit gut gekannt und an Hexen und Teufel, wie viele seiner gelehrten Zeitgenossen, auch tatsächlich geglaubt. Sein sonst so kritischer Geist, der allem Einfachen und Natürlichen aufgeschlossen war, steht hier ganz im Banne seines hexengläubigen Jahrhunderts. Den übrigen Aberglauben hingegen, wie er ihn in den acht Tractätl von deß Teuffels List vnd Betrug so eifrig zusammengetragen hat, dass wir in ihnen eine ergiebige Quelle für das Magische Überlieferungswissen seiner Zeit besitzen, steht er freilich in einer wesentlich anderen Geisteshaltung gegenüber. So klingen seine mahnenden Worte auch noch in unser Jahrhundert herüber: »Ergo ist mein getreuer Rath vnd gute Mainung/daß sich ein jeder Christenmensch von dergleichen verdächtigen Sachen enthalte/damit der Spruch des weisen Salomons Proverb. 10. v. 13 an jhme nit erfüllt werde: ›Virga in dorso eius, qui indiget corde: Ein Ruten gehört auff den Rucken deß Jenigen/der Mangel am Verstandt hat.‹«37
L ITERATUR Elfriede Grabner: Adam von Lebenwaldt und die Volksmedizin. In: ZHVSt, Sonderband 11. Graz 1966, S. 1-18. Elfriede Grabner: Nochmals zum Thema »Die Gemse in der Volksmedizin des Alpenlandes«. Die »Damographie« des Adam von Lebenwaldt, eine wichtige Spezialstudie eines steirischen Arztes des 17. Jahrhunderts. In: Ethnomedizin II/1/2. Hamburg 1972, S. 147-154. Elfriede Grabner: Doktor Adam von Lebenwaldt. Ein steirischer Arzt des 17. Jahrhunderts zwischen Schul- und Volksmedizin. Medizin im Spiegel der Volkskunde. In: Österreichische Ärztezeitung. Wien, Dezember 1982. Elfriede Grabner: Schul- und Volksmedizin in den Werken zweier Ärzte des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ethnomedizin und Medizingeschichte. Bei-
37 5. Tractätl. Salzburg 1681, S. 137.
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träge zur Ethnomedizin, Ethnobotanik und Ethnozoologie VII. Berlin 1983, S. 253-279. Elfriede Grabner: »Von des Teufels List und Betrug«. Die »Tractätel« des steirischen Arztes Adam von Lebenwaldt als Quelle zum Volksglauben seiner Zeit. In: ZHVSt (76). Graz 1985, S. 173-191. Elfriede Grabner: Ein steirischer Arzt im Barock. Heilkunde und Volksglaube des 17. Jahrhunderts bei Adam von Lebenwaldt. In: ZHVSt (83). Graz 1992, S. 355-370. Friedrich Kluge/Walther Mitzka: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 18. Aufl. Berlin 1960. Adam von Lebenwaldt: Tractätl von deß Teuffels List vnd Betrug. Salzburg (Johann Baptist Mayr), 1680-1682. Adam von Lebenwaldt: Land-, Stadt- Und Hauß-Artzney-Buch … Nürnberg 1695. Heinrich Marzell: Die heimische Pflanzenwelt im Volksbrauch und Volksglauben. Skizzen zur deutschen Volkskunde (= Wissenschaft und Bildung, Bd. 177). Leipzig 1922. Heinrich Marzell: Zauberpflanzen, Hexentränke. Brauchtum und Aberglaube (= Kosmos-Bibliothek, Bd. 241). Stuttgart 1964. Joseph von Zahn: Steirische Miscellen. Zur Orts- und Kulturgeschichte der Steiermark. Graz 1899.
Krimineller Aberglaube im Umfeld von Schwangerschaft und Geburt S ONJA M ARIA B ACHHIESL
E INLEITUNG Die Kriminalwissenschaft um 1900 wies dem Aberglauben eine bedeutende Rolle bei der Aufklärung von Verbrechen zu. Die Kriminologen wurden dazu aufgefordert, sich mit diesem Phänomen eingehend auseinanderzusetzen: »Die Kenntnis des Volksglaubens ist ein wesentliches Erfordernis eines guten Verwaltungsbeamten, wie eines guten Kriminalrichters; auch hier muss ich hervorheben: wer ein Volk regieren, wer es beurteilen will, muss in seine intimsten Herzensgeheimnisse eindringen.«1
Um dem Aberglauben in der kriminologischen Beurteilung einer Straftat Gewicht zu verleihen, müsse er genau erforscht und rational erklärt werden. Der Grazer Kriminologe Hans Gross gab eine Empfehlung für richtiges Verhalten ab, wenn man die Vermutung hegte, dass Aberglauben bei einer Straftat von Bedeutung sein könnte:
1
Josef Kohler: Vorwort. In: August Löwenstimm: Aberglaube und Strafrecht. Berlin 1897, S. V-XV, hier S. XII.
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»Mancher Zusammenhang, manche Verdächtigung, manches unverständliche Gebaren eines Zeugen, auch manches Motiv für ein Verbrechen und der Vorgang hierbei wird klar, wenn man erst einmal Aberglauben mit in Rechnung zieht, und wenn es dann gelingt, die Art desselben, seine Bedeutung und sein Wesen zu entdecken.«2
Gross, der Begründer des ersten kriminologischen Universitätsinstituts, gestand zu, dass die Feststellung, ob bei einem Verbrechen der Aberglaube mitgewirkt habe, schwierig sei, was mitunter zu einer Fehlbeurteilung vor Gericht führen könne. Aus diesem Grund sprach er sich für eine Veröffentlichung von Kriminalfällen aus, die mit Aberglauben in Verbindung gebracht werden können.3 Der Aufruf von Gross fand ein breites Echo. In dem von ihm 1898 ins Leben gerufenen »Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik« (seit 1916 »Archiv für Kriminologie«) wurden zahlreiche strafrechtlich relevante Fälle von Aberglauben publiziert. Als besonders eifrige Sammler von kriminologisch wie ethnologisch wertvollem Material sind der am Justizministerium in St. Petersburg beschäftigte und später als Oberlandesgerichtsrat in Charkow tätige August Löwenstimm sowie der in Berlin und Potsdam als Richter wirkende Albert Hellwig hervorzuheben. Hellwig prägte den Begriff der volkskundlichen Kriminalistik, eines Gebiets, »das nicht nur für Volksforscher von theoretischem Interesse ist, sondern das auch für den kriminalistischen Praktiker von Bedeutung ist«4. Hellwig stellte heraus, dass es in den ersten fünfzehn Jahren des 20. Jahrhunderts vorwiegend die Kriminalisten waren, welche die Forschungen in diesem Grenzgebiet zwischen Volkskunde und Kriminalistik vorangetrieben haben.5 Gewiss könnte man die (autodidaktische) Forschungstätigkeit der Kriminalwissenschaftler kritisieren und die gesammelten Fälle in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt in Frage stellen. Zweifelsohne stellen etwa Zeitungsberichte über kriminellen Aberglauben eine fragwürdige Quelle dar. Dieser Problematik waren sich auch die Kriminologen bewusst. So wurde der Wunsch
2
Hans Gross: Ein forenser Fall von Aberglauben? In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 1 (1899), S. 306-313, hier S. 306.
3
Ebd.
4
Albert Hellwig: Volkskundliche Kriminalistik. In: Archiv für Kriminologie 67 (1916), S. 123-126, hier S. 123.
5
Ebd., S. 123f.
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geäußert, dass »die Kunde solcher Volksanschauungen nicht auf zufälligen Gerichtsnotizen und Zeitungsberichten« beruhen sollte, »sondern auf einer energisch unternommen systematischen Enquête«.6 Hellwig indes betrachtete Berichte über Gerichtsverhandlungen in Zeitungen neben verfügbaren oder anstelle nicht zugänglicher Gerichtsakten als eine »zuverlässige, brauchbare Quelle« zur Erforschung des kriminellen Aberglaubens, wenn sie nur sorgfältig überprüft wurden.7 Gross widersprach dieser Ansicht, denn ihm zufolge durften Zeitungsnotizen in wissenschaftlichen Abhandlungen nicht direkt, sondern »nur indirekt, also als Anregung für weitere Nachforschungen benutzt werden«8. Um abergläubische Vorstellungen zu konkretisieren, zogen die Kriminalwissenschaftler in ihren Arbeiten häufig ethnologische Literatur heran.9 Im vorliegenden Artikel ist weder die Frage nach der Qualität der Quellen und die damit einhergehende Quellenkritik ein Thema noch sollen neue ethnografische Quellen erschlossen werden. Hier geht es um die Präsentation und Interpretation von Kriminalfällen in der kriminalwissenschaftlichen Literatur. Die Sammelleidenschaft der sich mit Aberglauben beschäftigenden Kriminalwissenschaftler kann auf das Bestreben zurückgeführt werden, den Aberglauben überhaupt erst zum Thema zu machen. Richter, Verteidiger etc. sollten sensibilisiert sein, wenn sie mit einem Tatbestand konfrontiert werden, in dem Aberglaube mitgewirkt haben könnte. Ebenso sollten die forensischen Gutachter, welche die Zurechnungsfähigkeit des Straftäters festzustellen hatten, im Bereich des Aberglaubens kundig sein. Möglicherweise konnte durch Wissen in abergläubischen Belangen ein falsches Urteil verhindert werden. Im Folgenden wird eine Einteilung des Aberglaubens, wie sie in der kriminalwissenschaftlichen Literatur um 1900 üblich war, vorgestellt; schwan-
6 7
Kohler, Vorwort, S. XII. Albert Hellwig: Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundliche und kriminalistische Untersuchungen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 35 (1909), S. 276-292, hier S. 278, S. 284.
8
Hans Gross: Anmerkung der Redaktion. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 35 (1909), S. 276-278, hier S. 276.
9
Sehr oft finden sich Verweise auf die Werke des Ethnografen Wilhelm Mannhardt, z.B. auf sein Buch: Die praktischen Folgen des Aberglaubens unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Preußen. Berlin 1878.
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gere Frauen und kleine Kinder betreffende Kriminalfälle werden diesen Kategorien zugeordnet. Die behandelten Fallbeispiele stammen zumeist aus der Zeit von 1870 bis 1920 und werden überwiegend aus dem kriminalwissenschaftlichen Diskurs, zum Teil auch aus der ethnologischen Literatur herangezogen. Nebst einer knappen gleichsam phänomenologischen Zusammenschau soll der Umgang mit dem Aberglauben im Rahmen der forensischen und strafrechtlichen Beurteilung eines Verbrechens vor Gericht dargestellt werden. Am Begriff des Aberglaubens wird festgehalten, jedoch wird dieser nicht pejorativ, sondern rein deskriptiv verwendet. Da es um die strafrechtliche Bedeutung des Aberglaubens geht, wird der Begriff des kriminellen Aberglaubens gebraucht.
K RIMINELLER ABERGLAUBE RUND UM S CHWANGERE UND S ÄUGLINGE Aberglaube kommt als Ursache für ein Verbrechen in Betracht, wenn ein Verbrecher vom Nutzen oder Vorteil der abergläubischen Vorstellungen, welche die kriminelle Handlung bewirken, überzeugt ist.10 Gustav Aschaffenburg zufolge sind in Kulturstaaten (Russland und Süditalien gehören in seinen Augen nicht dazu) Fälle, in denen der Aberglaube die Ursache für eine kriminelle Handlung darstellt, selten. Häufiger hingegen trete der Aberglaube als ein »psychologisch wirksames und wichtiges Hilfsmittel« zur Begehung einer Straftat in Erscheinung, denn vielerorts wäre ohne den Aberglauben die Straftat aus Furcht unterblieben.11 Aberglaube kann das unmittelbare Movens für ein Verbrechen oder das Mittel zur Ausübung eines Verbrechens darstellen. Die abergläubischen Motive und die abergläubischen Mittel von Verbrechern fallen unter die Kategorie des kriminellen Aberglaubens im engeren Sinn.12 Darüber hinaus findet sich die verbrecherische Aus-
10 August Löwenstimm: Aberglaube und Strafrecht. Berlin 1897, S. 136. 11 Gustav Aschaffenburg: Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Einleitung in die Kriminalpsychologie für Mediziner, Juristen und Soziologen; ein Beitrag zur Reform der Strafgesetzgebung. 3. Aufl. Heidelberg 1923, S. 112f. 12 Alexander Elster/Heinrich Lingemann (Hg.): Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften, Bd. 1: Aberglaube – Kriminalpsychologie. Berlin/Leipzig 1933, s. v. Aberglaube, S. 1f., hier S. 2.
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nutzung des Aberglaubens Dritter durch Täter, die selbst nicht abergläubisch sind. In derartigen Fällen verübt der Abergläubische kein Verbrechen, sondern er wird zum Opfer eines Verbrechens, indem sein Aberglaube auf kriminelle Weise ausgebeutet wird. Auch hier tritt der Aberglaube als Mittel eines Verbrechens in Erscheinung.13 Schließlich wird die Gruppe des sogenannten antikriminellen Aberglaubens angeführt,14 denn Aberglaube kann auch eine schützende Funktion erfüllen und gewisse Personen, wie etwa Schwangere, von der Ausübung einer kriminellen Handlung abhalten. Im Folgenden sollen einzelne Delikte des verbrecherischen Aberglaubens sowie Maßnahmen zur Verhütung von Kriminalität, die mit schwangeren Frauen und Kleinkindern in Verbindung gebracht werden können, in der jeweiligen Kategorie dargestellt werden. In einer Kategorie »Sonstiges« werden noch weitere Themen angeschnitten, die einen Bezug zwischen Aberglauben und Kriminalität aufweisen.
ABERGLAUBE ALS M OTIV ODER M ITTEL ZUR AUSÜBUNG EINES V ERBRECHENS Dem menschlichen Leichnam und seinen Teilen wurden verborgene Kräfte zugeschrieben, und dieser Aberglaube führte zur Öffnung von Gräbern und zur Verstümmelung der Körper von Verstorbenen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Westpreußen Fälle bekannt, in denen Körperteile oder Blut von verstorbenen Säuglingen zum einen als Medikamente zur Heilung von Krankheiten, zum anderen als Gift oder zur Behexung von Menschen verwendet wurden. So wollte sich eine Frau an ihrem ehemaligen Liebhaber, der sie in schwangerem Zustand verlassen hatte, rächen, indem sie die rechte Handwurzel und die Geschlechtsteile ihres bald nach der Geburt verstorbenen Kindes in der Ofenröhre seines Wohnhauses versteckte. Sie war von der abergläubischen Vorstellung geleitet, dass ein lebender Mensch krank werden oder gar sterben müsse, wenn in seiner Wohnung Teile einer Leiche lägen, und hoffte, dass die Hand ihres ehemaligen Geliebten vertrocknen und sein Geschlechtsteil impotent werden würde. Im Jahre 1876
13 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 136, S. 153. 14 Elster/Lingemann, Handwörterbuch der Kriminologie, S. 2.
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wurde die Frau für ihre Tat vor dem Kreisgericht Schwetz zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.15 Verbreitet war der Aberglaube, dass Leichenteile Dieben und Räubern Glück brächten. Darunter fällt der Glaube an die einschläfernde Wirkung einer Leichenhand oder des Diebslichtes, welches aus Menschenfett hergestellt wurde. Es wurde angenommen, dass man im Schein des Diebslichtes unbehelligt einen Diebstahl begehen konnte, da dieses Licht die Menschen, die man bestehlen wollte, in einen tiefen Schlaf versetzen konnte.16 Christa A. Tuczay führt dazu aus: »Die Diebslichter etwa sollen verraten, ob alle Hausbewohner schlafen, oder sie schläfern diese ein, sie machen den Träger unsichtbar, öffnen die Schlösser, brennen von selbst und sind nur mit Milch zu löschen, wohl deshalb, weil gerade Kinderleichenhände bzw. die Glieder noch nicht genährter Kinder als besonders geeignet betrachtet wurden. Oft findet sich die Einschränkung, dass nur männliche Kinder und hier nur männlich [!] Föten zu brauchen sind.«17
In Ungarn wurden Kerzen mit dem Blut einer bei einer Zwillingsgeburt gestorbenen Frau geformt, da sie Diebe bei Ausübung ihrer Tat unsichtbar machen sollten.18 Auch durch Finger ungetauft verstorbener Kinder sollen Diebe unsichtbar werden.19 Gross gibt an, »Schlummerlichter« gesehen zu haben, die aus dem Fett unschuldiger Kinder angefertigt wurden.20 Um Men-
15 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 108ff., hier S. 112f. 16 Gustav Hermann Berndt: Krankheit oder Verbrechen? Eine gemeinverständliche Darstellung des Geschlechtslebens, des Mordes, der Körperverletzungen, Unfallerkrankungen, Geisteskrankheiten, des Hypnotismus etc. in ihren Beziehungen zum Gesetz und zur öffentlichen Moral, Bd. 1. Leipzig 1899, S. 322. 17 Christa A. Tuczay: Die Herzesser. Dämonische Verbrechen in der Donaumonarchie. Wien 2007, S. 59. 18 Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik, Teil I. 5. Aufl. München 1908, S. 465, Fn. 2. Dies soll sich um 1900 ereignet haben. Vgl. auch Tuczay, Die Herzesser, S. 64. 19 Oskar von Hovorka/Adolf Kronfeld (Hg.): Vergleichende Volksmedizin. Eine Darstellung volksmedizinischer Sitten und Gebräuche, Anschauungen und Heilfaktoren, des Aberglaubens und der Zaubermedizin, Bd. 2. Stuttgart 1909, S. 537. 20 Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter, S. 465.
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schenfett für die Herstellung eines Diebslichtes oder Leichenteile als Talismane zu erlangen, schreckten die abergläubischen Verbrecher auch vor der Begehung eines Mordes nicht zurück. Ein besonders furchtbarer Aberglaube ging davon aus, dass man durch den Verzehr des Herzens eines ungeborenen Kindes übernatürliche Kräfte erhalten und fliegen könne. Wer jedoch die Herzen von neun ungeborenen Kindern männlichen Geschlechts verspeise, der könne sich zudem noch unsichtbar machen.21 Diese Eigenschaften sind von Vorteil, um ungestraft ein Verbrechen begehen zu können.22 Von Hovorka und Kronfeld, denen hierzu Fälle aus Deutschland, Böhmen und Bosnien bekannt waren, führen dazu aus: »Für Räuber und Diebe galten früher als ein Schutzmittel die Herzen ungeborener Kinder; diese wurden roh, wie sie dem Leibe der Mutter und dem Körper des Kindes entrissen waren, in so viele Stücke geschnitten, als Teilnehmer waren, und deren eins von jedem genossen. Wer so von 9 gegessen, konnte welchen Diebstahl oder sonstiges Verbrechen er immer begehen mochte, dabei nicht ergriffen werden, und wenn er dennoch durch einen Zufall in die Gewalt seiner Gegner geraten sollte, sich unsichtbar machen und so seinen Banden sich wieder entziehen. Die Kinder mussten aber männlichen Geschlechts sein, weibliche taugten dazu nicht.«23
Gross nennt in Zusammenhang mit diesem Aberglauben den Mord an einer hochschwangeren Schwedin im Jahr 1878 in der Nähe von Hamburg sowie den Mord an einer hochschwangeren Frau Ende der 1880er Jahre in der Nähe von Wien.24 Hellwig stellte Nachforschungen im Fall der ermordeten Schwedin an und fand heraus, dass sie bereits vor ihrer Ermordung entbunden wurde. Somit konnte es sich nicht um einen Mord aus dem hier erörterten Aberglauben handeln. Gross bestätigte nach eigenen Nachforschungen Hellwigs Recherchen. Da jedoch der untere Teil des Körpers der Ermorde-
21 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 122f. 22 Berndt, Krankheit oder Verbrechen?, S. 34. 23 Oskar von Hovorka/Adolf Kronfeld (Hg.): Vergleichende Volksmedizin. Eine Darstellung volksmedizinischer Sitten und Gebräuche, Anschauungen und Heilfaktoren, des Aberglaubens und der Zaubermedizin, Bd. 1. Stuttgart 1908, S. 234. 24 Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u.s.w. 2. Aufl. Graz 1894, S. 350.
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ten (ab dem Nabel) unauffindbar blieb, rechnete er diese Tat weiterhin den Mordfällen aus Aberglauben zu.25 Gustav Pscholka nennt einige Fälle von Herzfresserei zu abergläubischen Zwecken aus früherer Zeit, in denen Schwangere und ihre ungeborenen Kinder zu Tode kamen.26 In diesem Zusammenhang soll auch auf das deutsche Volkslied von der verkauften Müllerin hingewiesen werden, in welchem der Müller seine schwangere Frau an drei Räuber verkauft.27 Die Ermordung Schwangerer steht auch in Zusammenhang mit dem Glauben an die Macht des Diebslichtes, denn manche Verbrecher waren davon überzeugt, dass das Diebslicht aus dem Fett ungeborener Kinder hergestellt werden müsse.28 In Böhmen und in der Steiermark galten die getrockneten Finger eines im Mutterleib verstorbenen oder ungeborenen Kindes als beste Kerzen für Einbrecher, denn durch diese würden sie unsichtbar.29 In Bosnien und Ungarn hielt sich die schreckliche Praktik, aus Ungeborenen Diebslichter anzufertigen, angeblich bis weit ins 20. Jahrhundert.30 Wie Löwenstimm ausführt, war der grausame Aberglaube, der zum Mord an schwangeren Frauen führte, den zuständigen Kriminalisten und Richtern nicht immer bekannt, und bei der Suche nach dem Motiv wurden die Täter entweder als geisteskrank oder besonders brutal charakterisiert; mitunter wurde sogar angenommen, dass sie die Lage des Kindes im Mutterleib eruieren wollten.31 Diese Fehleinschätzung seitens der Kriminalisten und Richter zeigt, wie wichtig eine Kenntnis des Aberglaubens für diese Berufsgruppen ist. Der Medizinalrat Paul Näcke erkennt in dem Aberglauben, dass der Finger eines ungetauft gestorbenen Kindes von Dieben als
25 Albert Hellwig: Fall Andersen (1878) kein Mord aus Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 22 (1906), S. 69f. 26 Gustav Pscholka: Der Herzfresser von Kindberg. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 48 (1912), S. 62-75, hier S. 68f. 27 Der Text der Ballade sowie Anmerkungen hierzu sind nachzulesen in Horst Steinmetz/Otto Holzapfel/Erich Wimmer (Hg.): Lieder aus dem Nachlass von Stephan Ankenbrand, Bd. 1. Simmershofen 1989, S. 29, S. 81. 28 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 125; Albert Hellwig: Verbrechen und Aberglaube. Leipzig 1908, S. 73. 29 Von Hovorka/Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, S. 537. 30 Tuczay, Die Herzesser, S. 64. 31 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 212f.
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Kerze verwendet wird, keinen Sinn.32 Ihm dürfte der Aberglaube, dass ein solcher mitgeführter Finger den Dieb unsichtbar machen solle, nicht bekannt gewesen sein. Auch der Glaube an sogenannte Wechselbälger führte zu strafrechtlich relevanten Handlungen. Bei germanischen, slawischen, romanischen und keltischen Völkern war der Aberglaube vorherrschend, dass böse Zaubergestalten neugeborene Kinder rauben und stattdessen ihre eigenen kranken oder missgestalteten Kinder in die Wiege legen. Die Eltern konnten sich ein schlechtes Gedeihen ihres Kindes oder ein missratenes Kind nur durch das Wirken einer »bösen Macht« erklären.33 Hauptsächlich wurden an Rachitis leidende oder geistesschwache Kinder, besonders Kretins, als Wechselbälger betrachtet.34 Um das richtige Kind wiederzuerlangen, gingen die Eltern oft äußerst brutal mit dem angeblichen Wechselbalg um. Die dämonischen Eltern sollten durch Misshandlung des Wechselbalges angehalten werden, ihn wieder zurückzunehmen und das geraubte Kind wieder herauszugeben. So sind Fälle aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dokumentiert, in denen das Kind mit einer Wachholderrute geschlagen und danach aus dem Fenster auf den Misthaufen geworfen oder in kochendes Wasser gelegt wurde oder in denen das Kind über glühende Kohlen gehalten wurde, bis es schließlich qualvoll starb.35 In Christine Lavants (1915-1973) berührender Erzählung »Das Wechselbälgchen« erkennt der Knecht Lenz im unehelichen, geistig beeinträchtigten Kind der Magd Wrga einen Wechselbalg und gibt ihr folgenden Rat: »Neunmal schlagen, und zwar so grob, dass es ganz jämmerlich schreit. Dann wird der alte Wechselbalg daherkommen und wird sagen: Ich hab deins gradelt und badelt, hab ihm neunmal ein Mehlmus kocht, du aber hast meins neunmal ghaut! […]
32 Paul Näcke: Kleinere Mitteilungen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 47 (1912), S. 155-171, hier S. 157. 33 Bruno Bosse: Einige verbreitete abergläubische Anschauungen und Gebräuche in der Geburtshilfe. In: Allgemeine Deutsche Hebammen-Zeitung 24 (1909), S. 509-515, hier S. 511. 34 Hellwig, Verbrechen und Aberglaube, S. 38. 35 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 28-30; Berndt, Krankheit oder Verbrechen?, S. 34.
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und wird dann dein Kind wieder dalassen und seins mitnehmen. Aber tus gleich und neunmal und sehr grob. Verstehst?!«36
Ein interessanter Fall, in dem ein Ehepaar sowie die Schwester der Frau des Mordes an zwei Kindern angeklagt waren, wurde am 16. Januar 1872 vor dem Schwurgericht in Ostrow verhandelt. Das Ehepaar Becker lebte in der Provinz Posen seit vierzehn Jahren glücklich zusammen und hatte fünf Kinder, mit denen es einen liebevollen Umgang pflegte. Im Jahr 1871 kam die Schwester der Frau mit ihrem fünfjährigen Kind zu Besuch. Marianne Cerniak war als Hexe verschrien und brüstete sich damit, vom Teufel Besessene erkennen sowie den Teufel in Menschen hineinbringen zu können. Eines Nachts im November 1871 wurde Frau Becker, die mit ihrem einjährigen Sohn im Bett schlief, gegen Mitternacht durch das Schreien ihrer Schwester aus dem Schlaf gerissen. Frau Cerniak rief ihrer Schwester zu, dass die Teufel ihr Kind mitgenommen und einen Wechselbalg ins Bett gelegt hätten, und forderte sie auf, den einjährigen Knaben zu schlagen, damit sie ihr Kind wiedererlangen könne. Frau Becker schlug auf ihren Sohn ein und überzeugte ihren Mann, der mittlerweile aufgewacht war, es ihr gleich zu tun. So schlugen die Eltern mit einem Ledergurt und einem Wacholderstock auf ihr Kind ein, bis es starb. Als der fünfjährige Sohn der Cerniak sich weinend über den Leichnam beugte, schrie seine Mutter ihrer Schwester zu, sie solle auch ihn schlagen, denn er sei nicht ihr Kind und es werden andere Kinder kommen. Daraufhin schlug das Ehepaar Becker auch diesen Knaben tot. Erst danach gingen sie auf die Schwester der Frau los, die inzwischen begonnen hatte, die Kacheln des Ofens zu zerschlagen und dabei brüllte, dass die Teufel in die Ofenröhre eingefahren seien. Frau Cerniak gelang die Flucht ins Freie, und die Ehegatten wurden weinend und betend neben den Leichen der Kinder aufgefunden. Nach diesem Vorfall verfiel Frau Becker mehrere Wochen hindurch in Tobsucht und gestand reumütig ihre Taten. Ihr Mann und ihre Schwester bestritten ihre Beteiligung an den Morden. Die juristische Beurteilung dieser Taten gestaltete sich äußerst schwierig. Der örtliche Gerichtsarzt in Ostrow hielt die Angeklagten im Zeitpunkt
36 Christine Lavant: Das Wechselbälgchen, hg. und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. 2. Aufl. Salzburg/Wien 2000, S. 12f.
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der Taten für zurechnungsfähig und stellte fest, dass weder beim Ehepaar Becker noch bei Frau Cerniak eine Geisteskrankheit vorgelegen habe. Hingegen befand das ärztliche Kollegium in Posen, dass alle drei bei Ausübung der Verbrechen nicht zurechnungsfähig gewesen seien. Das Obergutachten der wissenschaftlichen Deputation in Berlin hielt die Eheleute für zurechnungsfähig und nahm nur bei der Schwester zur Zeit der Ausführungen der Taten eine Geisteskrankheit an. Die Geschworenen schließlich erkannten dahingehend, dass das Ehepaar die Taten in einem die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustand, das heißt in einem krankhaften Anfall, begangen habe und von der völlig zurechnungsfähigen Schwester der Ehefrau bewusst getäuscht und zu den Taten verleitet worden sei. Des Weiteren legten sie der Schwester zur Last, dass sie selbst nicht an die Existenz von Wechselbälgern geglaubt und diesen Aberglauben nur dazu benutzt hätte, um sich von ihrem Kind zu befreien. Daraufhin sprach das Gericht das Ehepaar Becker frei und verurteilte Frau Cerniak wegen Teilnahme an einer vorsätzlichen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zu drei Jahren Gefängnis.37 Neben der diffizilen Bestimmung der Schuld- bzw. Zurechnungsfähigkeit war in diesem Fall auch die juristische Qualifikation der Tat problematisch. Hellwig hebt hervor, dass die Eltern der Meinung waren, nicht ihr eigenes Kind, sondern einen Wechselbalg zu schlagen. Deshalb könne auf Seiten des Ehepaares keine vorsätzliche Körperverletzung, sondern allenfalls eine fahrlässige Körperverletzung angenommen werden.38 Dieser Fall zeigt die unterschiedliche juristische Bewertung des Aberglaubens im Zuge der Ermittlung von Schuld und bei der Strafzumessung besonders deutlich.
K RIMINELLE AUSNUTZUNG DES ABERGLAUBENS D RITTER Löwenstimm erzählt von einem Betrugsfall, der sich im Jahr 1883 in der Stadt Lodz zugetragen hat. Eine Frau hatte kürzlich ein Kind geboren und schickte ihren Mann zur Besorgung eines Medikamentes in die Apotheke. Während der Mann abwesend war, tauchte eine als Teufel gekleidete Per-
37 Hellwig, Verbrechen und Aberglaube, S. 41-43; Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 31-34. Die Schreibweise der Namen wird von Hellwig übernommen. 38 Hellwig, Verbrechen und Aberglaube, S. 42f.
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son auf und forderte die Herausgabe des Neugeborenen von der jungen Mutter. Die verzweifelte Frau flehte den vermeintlichen Teufel an, er möge ihr das Kind lassen und gab ihm stattdessen eine Schatulle voller Geld. Dieser willigte ein und wollte das Zimmer verlassen, doch gerade in diesem Moment kehrte der Mann aus der Apotheke zurück und ergriff den Teufel. Hinter der Verkleidung verbarg sich der Nachbar, der den Aberglauben an das Erscheinen böser Geister, welche Neugeborene durch ihre Wechselbälger ersetzen, ausnutzen wollte.39 In diese Kategorie könnte gemäß den Ausführungen der Geschworenen auch der Fall Becker/Cerniak eingereiht werden, auch wenn keine materielle Bereicherungsabsicht vorliegt.
V ERBRECHEN
VERHINDERNDER
ABERGLAUBE
Eine abergläubische Schwangere hat zahlreiche Ge- und Verbote zu beachten, damit sie ein gesundes und anständiges Kind gebärt. So darf sie unter anderem nicht stehlen und auch keinen Eid vor Gericht leisten, weil ihr Kind sonst oft vor Gericht stehen werde.40 Im Vogtland wurde im Jahr 1909 ein Dienstmädchen als Zeugin in einem Betrugsverfahren einvernommen. Als sie ihre Aussage vereidigen sollte, verweigerte sie dies weinend mit Verweis auf ihren Zustand und auf das Verbot ihrer Eltern, den Eid abzulegen. Der vorsitzende Richter konnte die weinende Frau schließlich davon überzeugen, dass die Eidesleistung keinerlei Auswirkungen auf ihren Zustand respektive auf das Kind haben werde.41 Wenn die Schwangere jemandem etwas wegnimmt, so werde auch das Kind ein Dieb;42 und es
39 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 159f. 40 Bosse, Einige verbreitete abergläubische Anschauungen, S. 512; August Löwenstimm: Eid und Zeugnispflicht nach den Ansichten des Volkes. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 7 (1901), S. 191-212, hier S. 196, Fn. 1; Albert Hellwig: Kriminalistische Aufsätze. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 31 (1908), S. 67-113, hier S. 99. Hellwig führt an, dass angeblich in Dänemark aufgrund dieses Aberglaubens Schwangere die Leistung des Eides verweigern können. 41 Albert Hellwig: Kriminalistische Studien. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 61 (1915), S. 92-166, hier S. 112. 42 Von Hovorka/Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, S. 549.
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herrschte der Glaube, dass der Diebstahl einer schwangeren Frau als Muttermal beim Kind sichtbar würde, wobei das Mal dem gestohlenen Gegenstand ähnlich sähe und sich am Leib des Kindes an der Stelle wiederfinde, welche die Schwangere am eigenen Körper unmittelbar nach der Tat berührt hat.43 Zum Schutz der Wöchnerin und zum Schutz des neu geborenen Kindes gibt es unzählige Maßnahmen, darunter auch solche, die vor Kriminalität bewahren sollen. So darf die Wöchnerin das Kind nicht länger als 24 Stunden von der Brust fernhalten, weil es sonst keine Ruhe haben oder stehlen würde.44 Die Sitte, den Nabelschnurrest gemeinsam mit dem Geldgeschenk des Taufpaten, dem sogenannten Kresengelde, aufzubewahren oder zu verbrennen, wurde auch als Vorsichtsmaßnahme gedeutet, damit das Kind nicht stehlen lerne.45 Der Volksaberglaube verbot es auch, den Neugeborenen die Nägel zu schneiden, weil sie ansonsten Diebe würden;46 aus diesem Grund solle die Mutter die Fingernägel im ersten Jahr abbeißen und verschlucken.47 In einer Broschüre zur Pflege und Ernährung des Säuglings aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dazu zu lesen, dass dieser Aberglaube natürlich ein Unsinn sei.48
43 Ebd., S. 512, S. 537; Bosse, Einige verbreitete abergläubische Anschauungen, S. 512; Albert Hellwig: Kriminalistische Aufsätze. In: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 33 (1909), S. 11-38, hier S. 15f. Die genannte Anschauung fußt auf dem Volksglauben an ein psychisches oder physisches Versehen, nach dem Handlungen oder Wahrnehmungen während der Schwangerschaft den Charakter, das Schicksal oder gar den Körper des Kindes beeinflussen könnten. Den Widerspruch dieser abergläubischen Vorstellung zum ebenfalls herrschenden Volksglauben, dass Schwangeren, die auf einen Gegenstand Gelüste haben, dieser Gegenstand überlassen werden muss, erklärt Hellwig dadurch, dass der das Kind betreffende Aberglaube eine Reaktion auf die durch ältere deutsche Volksrechte begünstigte Stehlfreiheit der Schwangeren darstellt. Hellwig, Kriminalistische Aufsätze, S. 27. 44 Ebd., S. 515. 45 Von Hovorka/Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, S. 636. 46 Bosse, Einige verbreitete abergläubische Anschauungen, S. 510. 47 Von Hovorka/Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, S. 633. 48 Broschüre zur Pflege und Ernährung des Säuglings, gewidmet von der Nahrungsmittelfabrik Neuhauser & Obermeyr. Linz o.J., S. 16.
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S ONSTIGES Hebammen waren öfter dem Vorwurf ausgesetzt, die sogenannte Glückshaube von Neugeborenen gestohlen zu haben.49 Als Glückshaube wird die Eihaut bezeichnet, die bei der Geburt auf dem Kopf mancher Kinder liegen bleibt. Die Glückshaube soll dem Kind Glück bringen, etwa in Form eines Geldgewinns oder durch Beredsamkeit vor Gericht, und soll, getrocknet oder pulverisiert aufbewahrt, vom Kind als Amulett getragen oder gegessen werden. Geschieht das nicht, sterbe das Kind und ziehe die ganze Familie nach.50 In Hessen sollen die Hebammen dazu geneigt haben, die Glückshaube für ihre eigenen Kinder zu stehlen.51 Für die kriminalistische Praxis hat Gross noch einen Ratschlag parat: Bei der Vernehmung von Schwangeren und Wöchnerinnen sei besondere Vorsicht geboten, denn diese erzählten oft Dinge, die sich nie ereignet haben, obwohl sie sonst völlig wahrheitsgetreue und verlässliche Frauen seien.52 Am Ende dieses Kaleidoskops an strafrechtlich relevanten Fällen bisweilen besonders grausamen Aberglaubens soll eine Art kriminologisches Rätsel stehen: Untenstehend ist ein »Weiberzinken« aus der Zeichensprache der Kriminellen dargestellt; auf welche Weise dieses »Zeichen eines Weibes, das im 5. Monate schwanger ist« zur Kommunikation verwendet wurde, konnte von den Kriminologen allerdings nicht in Erfahrung gebracht werden.53
49 Bosse, Einige verbreitete abergläubische Anschauungen, S. 510. 50 Von Hovorka/Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, S. 188; Bosse, Einige verbreitete abergläubische Anschauungen, S. 510. Zur Glückshaube s. auch Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. 2. Aufl. Stuttgart 2009, s. v. Glückshaube, S. 180. 51 Von Hovorka/Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, S. 593. 52 Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter, S. 125; Hans Gross: Criminalpsychologie. Graz 1898, S. 669. 53 Hans Gross: Die Gaunerzinken der Freistädter Handschrift. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 2 (1899), S. 1-62, hier S. 30.
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Abbildung 1: Sogenannter Weiberzinken in Hans Gross: Die Gaunerzinken der Freistädter Handschrift, Tafel 14, Nr. 485
S CHLUSS Im vorangegangenen Kapitel wurden Straftaten angeführt, in denen ein Aberglaube als Verbrechensmotiv aufgetreten ist, und solche Straftaten, in denen der Aberglaube das Mittel zur Ausübung der Tat darstellte; nicht selten fielen beide Kategorien zusammen. Im Falle der Ermordung schwangerer Frauen etwa war der Aberglaube zugleich Motiv und Mittel. Schwangere und ihre ungeborenen Kinder wurden von Kriminellen umgebracht, die sich bestimmte Dinge aneignen und zu abergläubischen Zwecken verwenden wollten. Diese abergläubische Anschauung, zum Beispiel unsichtbar werden zu können, bildete das Motiv des Verbrechers für den Mord.54 Betreffend des angestrebten Diebstahls war der Aberglaube nur das Mittel zur Erreichung seines Ziels. Der Täter wollte ein Mittel erlangen, mit dessen Hilfe er sich in jedes Haus schleichen und ohne jemanden aufzuwecken ungehindert einen Diebstahl begehen könne. Sein Motiv war demnach »Eigennutz, Habsucht, Gier nach Geld, Streben nach mühelosem Erwerb«55. Um 1900 aber zeichnete sich dann in der positivistisch ausgerichteten Kriminalwissenschaft die Tendenz ab, dem Aberglauben die Erklärungs-
54 Hans Gross: Encyclopädie der Kriminalistik. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 6 (1901), S. 1-96, hier S. 4. 55 Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 227.
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kraft abzusprechen.56 Der Aberglaube wurde kaum mehr als eigenständiges Motiv eines Verbrechens angesehen, er konnte nur mehr rational erklärt werden, wenn man ihn pathologisierte. Gross sieht die einzige Erklärung für grausame Verbrechen wie Mordtaten an schwangeren Frauen und Kindern darin, dass die abergläubische Vorstellung durch äußere oder innere Momente überwertig wurde. Derartige Taten werden nur bei äußerster Armut oder Not, bei sittlichem Verfall oder von einem psychopathischen Täter begangen. Geistig ›normale‹ abergläubische Individuen überschreiten die Grenze zur Kriminalität nicht.57 Bei Psychopathen seien abergläubische Vorstellungen von suggestivem Einfluss als Verbrechensmotive besonders wirksam.58 Entgegen dem generellen Trend widerspricht Hellwig Gross ތAnsicht, nach der schwerwiegende, abergläubisch motivierte Verbrechen einer besonderen Kategorie des psychopathischen Aberglaubens zuzuordnen seien. Zweifelsohne trete der Aberglaube bei psychopathisch veranlagten Personen häufig in Erscheinung und verleite diese leichter zu kriminellen Taten als geistig gesunde Personen, doch gehe es nur um den Aberglauben von Psychopathen und nicht um eine besondere Gruppe von Psychopathen. Hellwig zufolge weist ein bei einer Straftat in Erscheinung tretender Aberglaube nicht von vornherein auf eine vorhandene Psychopathie des Täters hin.59 In unmittelbarem Zusammenhang mit dem kriminellen Aberglauben steht die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Verbrechers. Im Hinblick auf die Bedeutung des Aberglaubens für kriminelle Handlungen muss
56 Vgl. dazu den Beitrag von Christian Bachhiesl in diesem Band. 57 Hans Gross: Psychopathischer Aberglaube. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 9 (1902), S. 253-282, hier S. 280f.; Hans Gross: Zur Frage vom psychopathischen Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 12 (1903), S. 334-340, hier S. 339; vgl. auch Robert Gaupp: Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 28 (1907), S. 20-48. 58 Karl Birnbaum: Die psychopathischen Verbrecher. Berlin 1914, S. 242. Eine weitergehende kriminalpsychologische Charakteristik abergläubischer Vorstellungen findet sich in Karl Birnbaum: Kriminalpsychopathologie und psychobiologische Verbrecherkunde. 2. Aufl. Berlin 1931, S. 32f. 59 Albert Hellwig: Der Fall Bellenot (1861). In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 65 (1916), S. 252-277, hier S. 276.
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nach Gross thematisiert werden, »ob eine auf Aberglauben beruhende Ueberzeugung als entschuldigender Irrthum aufzufassen ist«60. Dann würde der Täter bei gewissen Delikten wie Mord, Totschlag oder Körperverletzung vom Vorwurf des Vorsatzes befreit und je nach Einzelfall höchstens wegen Fahrlässigkeit bestraft werden.61 Wie der oben dargelegte Fall des Ehepaares Becker zeigt, wurden aus abergläubischen Motiven handelnde Täter vor Gericht wegen Vorliegens einer geistigen Störung als unzurechnungsfähig befunden. Als Gegner einer solchen Vorgehensweise führt Hellwig an, dass ein abergläubisches Motiv zu einer Straftat nicht als Symptom oder Anzeichen einer Geisteskrankheit aufgefasst werden62 und man vom Aberglauben des Verbrechers nicht auf dessen Unzurechnungsfähigkeit schließen kann.63 Einem Menschen, der ein Verbrechen unter dem Einfluss eines Aberglaubens verübt hat, wurde gewöhnlich ein Recht auf besondere Nachsicht zugestanden.64 Gerade bei Straftaten an schwangeren Frauen oder kleinen Kindern war sowohl die juristische Einordnung der Tat als auch die Ermittlung der Schuld des Täters ein heikles Unterfangen. Der Aberglaube spielte bei der gerichtlichen Beurteilung auf Ebene der Schuld oder bei der Strafbemessung eine Rolle und kam bei abergläubischen Straftätern vielfach als Schuldausschließungsgrund, als Grund zum Ausschluss oder zur Minderung der Schuld- bzw. Zurechnungsfähigkeit und als Strafmilderungsgrund in Betracht.65 Aus philosophischer Perspektive hängt die Thematik der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit mit der Frage nach der Willensfreiheit zusammen. Kriminellen, die bei Ausführung einer Straftat unter Beeinflussung eines Aberglaubens standen, wurde oftmals die freie Willensbestimmung abgesprochen und in weiterer Folge wurden sie als nicht oder als nur vermindert zurechnungsfähig qualifiziert. Eine Determination durch Aber-
60 Gross, Psychopathischer Aberglaube, S. 282. 61 Vgl. auch Kohler: Vorwort, S. XI. 62 Albert Hellwig: Aberglaube und Zurechnungsfähigkeit. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 11 (1914-1918), S. 379-383, hier S. 380. 63 Hellwig, Der Fall Bellenot (1861), S. 274. 64 Vgl. Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 229. 65 In Fällen, in denen abergläubische Vorstellungen Dritter ausgenutzt wurden, konnte der Aberglaube auch zur Verhängung einer höheren Strafe führen. Vgl. Hellwig, Verbrechen und Aberglaube, S. 5.
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glauben fand im Rahmen der gerichtlichen Beurteilung in Gestalt einer psychischen Krankheit ihre Berücksichtigung. Bei Strafhandlungen schwangerer Frauen wurden die Gelüste und die Neigung zum Stehlen hinsichtlich ihrer Zurechnungsfähigkeit als relevant erachtet. Denn die Gelüste der Schwangeren können die Frau »in einen Zustand der Unfreiheit versetzen, in welchem sie sich der Vollziehung von Handlungen nicht erwehren könnte, die gegen Sittlichkeit und Gesetz seien«66. Abschließend lässt sich festhalten, dass die von den Kriminologen um 1900 angestrebte Einigkeit bei der Erforschung und Beurteilung des kriminellen Aberglaubens vorwiegend in der quasi phänomenologischen Aufbereitung des Materials zu konstatieren ist. Bei der Bewertung des Aberglaubens in Kriminalfällen finden sich unterschiedliche Wahrnehmungsweisen. Vor allem hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit eines vom Aberglauben beeinflussten Verbrechers sowie hinsichtlich der juristischen Qualifikation der Straftat ist Uneinigkeit und auch Unsicherheit im Umgang mit dem Thema Aberglauben zu erkennen. Der Fall Becker/Cerniak veranschaulicht die verschiedenen Zugänge der Kriminologen bei der Beurteilung des Aberglaubens besonders deutlich.
L ITERATUR Gustav Aschaffenburg: Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Einleitung in die Kriminalpsychologie für Mediziner, Juristen und Soziologen; ein Beitrag zur Reform der Strafgesetzgebung. 3. Aufl. Heidelberg 1923. Gustav Hermann Berndt: Krankheit oder Verbrechen? Eine gemeinverständliche Darstellung des Geschlechtslebens, des Mordes, der Körperverletzungen, Unfallerkrankungen, Geisteskrankheiten, des Hypnotismus etc. in ihren Beziehungen zum Gesetz und zur öffentlichen Moral, Bd. 1. Leipzig 1899. Karl Birnbaum: Die psychopathischen Verbrecher. Berlin 1914.
66 Hans König: Beiträge zur forensisch-psychiatrischen Bedeutung von Menstruation, Gravidität und Geburt. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 53 (1914), S. 685-894, hier S. 791. Ausführlich dazu Ernst Bischoff: Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 29 (1908), S. 109-163.
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Karl Birnbaum: Kriminalpsychopathologie und psychobiologische Verbrecherkunde. 2. Aufl. Berlin 1931. Ernst Bischoff: Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 29 (1908), S. 109-163. Bruno Bosse: Einige verbreitete abergläubische Anschauungen und Gebräuche in der Geburtshilfe. In: Allgemeine Deutsche Hebammen-Zeitung 24 (1909), S. 509-515. Alexander Elster/Heinrich Lingemann (Hg.): Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften, Bd. 1: Aberglaube – Kriminalpsychologie. Berlin/Leipzig 1933. Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u.s.w. 2. Aufl. Graz 1894. Hans Gross: Criminalpsychologie. Graz 1898. Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik, Teil I. 5. Aufl. München 1908. Hans Gross: Ein forenser Fall von Aberglauben? In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 1 (1899), S. 306-313. Hans Gross: Die Gaunerzinken der Freistädter Handschrift. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 2 (1899), S. 1-62. Hans Gross: Encyclopädie der Kriminalistik. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 6 (1901), S. 1-96. Hans Gross: Psychopathischer Aberglaube. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 9 (1902), S. 253-282. Hans Gross: Zur Frage vom psychopathischen Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 12 (1903), S. 334-340. Hans Gross: Anmerkung der Redaktion. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 35 (1909), S. 276-278. Robert Gaupp: Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 28 (1907), S. 20-48. Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. 2. Aufl. Stuttgart 2009. Albert Hellwig: Verbrechen und Aberglaube. Skizzen aus der volkskundlichen Kriminalistik. Leipzig 1908. Albert Hellwig: Fall Andersen (1878) kein Mord aus Aberglauben. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 22 (1906), S. 69f. Albert Hellwig: Kriminalistische Aufsätze. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 31 (1908), S. 67-113.
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Albert Hellwig: Kriminalistische Aufsätze. In: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 33 (1909), S. 11-38. Albert Hellwig: Zeitungsnotizen als Quelle für volkskundliche und kriminalistische Untersuchungen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 35 (1909), S. 276-292. Albert Hellwig: Kriminalistische Studien. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 61 (1915), S. 92-166. Albert Hellwig: Der Fall Bellenot (1861). In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 65 (1916), S. 252-277. Albert Hellwig: Volkskundliche Kriminalistik. In: Archiv für Kriminologie 67 (1916), S. 123-126. Albert Hellwig: Aberglaube und Zurechnungsfähigkeit. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 11 (1914-1918), S. 379-383. Josef Kohler: Vorwort. In: August Löwenstimm: Aberglaube und Strafrecht. Berlin 1897, S. V-XV. Hans König: Beiträge zur forensisch-psychiatrischen Bedeutung von Menstruation, Gravidität und Geburt. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 53 (1914), S. 685-894. Christine Lavant: Das Wechselbälgchen, hg. und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. 2. Aufl. Salzburg/ Wien 2000. August Löwenstimm: Aberglaube und Strafrecht. Berlin 1897. August Löwenstimm: Eid und Zeugnispflicht nach den Ansichten des Volkes. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 7 (1901), S. 191-212. Wilhelm Mannhardt: Die praktischen Folgen des Aberglaubens unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Preußen. Berlin 1878. Paul Näcke: Kleinere Mitteilungen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 47 (1912), S. 155-171. Gustav Pscholka: Der Herzfresser von Kindberg. In: Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik 48 (1912), S. 62-75. Horst Steinmetz, Otto Holzapfel, Erich Wimmer (Hg.): Lieder aus dem Nachlass von Stephan Ankenbrand, Bd. 1. Simmershofen 1989. Christa A. Tuczay: Die Herzesser. Dämonische Verbrechen in der Donaumonarchie. Wien 2007. Oskar von Hovorka, Adolf Kronfeld (Hg.), Vergleichende Volksmedizin. Eine Darstellung volksmedizinischer Sitten und Gebräuche, Anschauun-
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gen und Heilfaktoren, des Aberglaubens und der Zaubermedizin, Bd. 1. Stuttgart 1908. Oskar von Hovorka, Adolf Kronfeld (Hg.), Vergleichende Volksmedizin. Eine Darstellung volksmedizinischer Sitten und Gebräuche, Anschauungen und Heilfaktoren, des Aberglaubens und der Zaubermedizin, Bd. 2. Stuttgart 1909.
Das magische Narrativ T ONI D ISTELBERGER
D IE V ISION
EINER WESTSTEIRISCHEN
H ÄUSLERTOCHTER
Maria Zach wurde 1930 im steirischen Lasselsdorf als uneheliche Tochter einer jungen Mutter geboren, die seit ihrem sechsten Lebensjahr Halbwaise war. Maria Zach wuchs bei ihrer Mutter und ihrem Großvater auf dessen Kleinlandwirtschaft, einer sogenannten Keusche, auf und erlebte die politischen Ereignisse der 1930er Jahre, den nationalsozialistischen Juliputsch 1934 und »Anschluss« bzw. Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, als traumatische Einbrüche in ihre von katholischer Subsidiarität und kleinbäuerlicher Subsistenz geprägte Kindheitswelt. Eine schwere Lungenentzündung des zehnjährigen Mädchens im ersten Jahr des Krieges, im Frühjahr 1940, kulminierte in dem Erlebnis einer sogenannten Schlafparalyse, bei der dem Mädchen die Muttergottes erscheint. Als im Frühjahr 1944 der Großvater starb, der die wichtigste Bezugsperson des Mädchens war, bewirkte diese zentrale Verlusterfahrung im Leben von Maria Zach ein ähnliches Erlebnis. 2003 antwortete Maria Zach auf einen Aufruf der »Sammlung Frauennachlässe« der Universität Wien in einer steirischen Landwirtschaftszeitung und ließ sich von der Betreuerin der Sammlung, Li Gerhalter, dazu anregen, ihr Leben aufzuschreiben. »Ich habe eine unerklärliche Vision Es war gegen Abend, in der Stube war es schon etwas dumper, ich schlief. Auf einmal, als ich schon am Aufwachen war, stand zirka eineinhalb Meter von der Stuben-
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tür eine schöne junge Frau. Sie hatte ein sehr schönes, blasses Gesicht, ein bodenlanges blaues Kleid und war von schlanker Gestalt. Irgendwie schlief ich gar nicht mehr richtig, war sozusagen in Trance, wie man so sagt. Sie schaute zu mir, ich rief ihr zu: ›Mami, nimm mich mit!‹ Mein Großvater saß neben mir im Bett. Er und Mami hörten mich rufen, sahen und hörten aber diese schöne Frau nicht sprechen. Die schöne Frau sagte zu mir: ›Dich hole ich noch lange nicht. Du musst noch viel in deinem Leben tun‹, und war auf ein Mal spurlos verschwunden. Ich war wirklich schon wach, konnte aber nur das ›Mami, nimm mich mit!‹ rufen. Sobald diese Erscheinung weg war, erzählte ich, was ich gesehen hatte. Zwei Mal ist mir diese Frau erschienen, am darauffolgenden Tag auch wieder. Ich weiß aber nicht mehr, ob sie das zweite Mal auch etwas zu mir sprach. Wer war diese Frau? War es die Gottesmutter, was ich annehme, oder war es mein Schutzengel, der mir diese Botschaft brachte, dass ich noch lange leben werde? Nach diesen Erscheinungen hat sich mein schlechter Zustand erstaunlicherweise rasch gebessert.«1
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Die Kognitionsforschung hält für ein Erlebnis, wie es im Frühjahr 1940 dem zehnjährigen Bauernmädchen Maria Zach widerfuhr, den Begriff der »Schlafparalyse« bereit. Die beiden Kognitionsbiologen Sina Kühnel und Hans Markowitsch beschreiben diesen Zustand als den einer körperlichen Lähmung kurz vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen, wobei eine Reihe von Sinneswahrnehmungen auftreten, das Gefühl zu schweben, ein Kribbeln am Körper, laute Töne und grelle Lichtblitze empfunden und bei dem Gestalten, die in der Nähe des Bettes schweben, wahrgenommen werden können.2 Maria Zachs Angaben weisen sehr konkret auf eine Schlafparalyse hin. Auch wenn außer ihr keine der Personen, die gleichzeitig mit ihr im Raum anwesend waren, die »schöne junge Frau« sehen konnte, und sonst keiner deren Worte vernahm, sind solche Wahrnehmungen ganz real, finden kognitiv tatsächlich statt. Durch die Realität einer Wahrnehmung ist
1
Toni Distelberger (Hg.): Von der Liebe erzählen. Sechs Lebensgeschichten von Frauen (= »Damit es nicht verlorengeht ...«, Bd. 64). Wien/Köln/Weimar 2011, S. 145f.
2
Sina Kühnel/Hans J. Markowitsch: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg 2009, S. 100.
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aber noch nicht die Bedeutung der Wahrnehmung festgelegt. Denkbar wäre auch eine Verarbeitung als »Nahtod-Erfahrung« oder als Begegnung mit »Außerirdischen«. Zu diesen zeitgenössischen Formen eines Transzendenzerlebnisses besteht schließlich ein inhaltliches Naheverhältnis.3 Wenn aber die Bedeutung nicht durch die Wahrnehmung selbst bestimmt ist, so stellt sich die Frage, was stattdessen die Bedeutung festlegt.
D ER R AHMEN Der Sinn einer Wahrnehmung entsteht in der Verknüpfung mit einem gesellschaftlichen Bezugssystem. Zur Beschreibung der Verbindung zwischen der Wahrnehmung und ihrer Bedeutung griff 1974 der amerikanische Soziologe Erving Goffman den Begriff des »frame« auf, der von seinem Landsmann Frederic C. Bartlett schon 1932 als ein »Rahmen von Institutionen und Gebräuchen« beschrieben wurde, »der als schematische Basis für das konstruktive Gedächtnis dient«.4 Davor hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs im Jahr 1925 die zentrale Funktion des Rahmens für die Erinnerung erkannt.5 Als historischer und sozialer Kontext der Marienerscheinung der Maria Zach im Jahr 1940 im weststeirischen Lasselsdorf lässt sich die Serie euro-
3
Hubert Knoblauch: Berichte aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-
4
Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von All-
Erfahrung. Freiburg/Basel/Wien 1999. tagserfahrungen. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt a.M. 21980 (amerikan. Originalausgabe: Frame Analysis. An Essay on the Organizations of Experience, 1974); Frederic C. Bartlett (1886-1969) zit.n. Jerome Bruner: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfram Karl Köck. Heidelberg 1997 (Originalausgabe: Acts of Meaning, 1990), S. 73; Zu Bartlett und seinem Konzept des kommunikativen Rahmens von Wahrnehmung und Erinnerung siehe: John Shotter: The Social Construction of Remembering and Forgetting. In: David Middleton/Derek Edwards (Hg.): Collective Remembering. London 41997, S. 120-138. 5
Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Aus dem Französischen von Lutz Geldsetzer (frz. Originalausgabe: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925). Frankfurt a.M. 1985.
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päischer Marienerscheinungen des 19. und 20. Jahrhunderts ausmachen. David Blackbourn fasste die Sprache der Marienerscheinungen als ein spezifisches religiöses Idiom auf, das sich im Zeitraum der Erscheinungen im katholischen Raum verfestigt.6 Auf den Begriff einer »Sprache« aus kulturell vermittelten Mustern greift auch Hubert Knoblauch bei der Behandlung eines zu den Marienerscheinungen verwandten Phänomens zurück: »Die Menschen haben eine unverkennbare individuelle Stimme − aber sie sprechen die Sprache ihrer Kultur. […] Die Kultur […] ist die Sprache, in der jede einzelne Person ihre Erfahrung macht.«7 Die neue katholische Marienfrömmigkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot dafür eine ideologische Basis und machte nicht nur mit den Erscheinungen, sondern auch mit der Erscheinungsweise (im Sinne von Gestalt und Äußeres) der Jungfrau Maria bekannt. Mehrmals verweist Maria Zach in ihrem Erinnerungstext darauf, dass ihr persönlicher Taufname eine besondere Beziehung zu ihrer Namenspatronin herstellt, von der sie sich beschützt fühlt. Auch Maria Zach war als Kind vertraut mit dem »Auftreten« der Gottesmutter. Das katholisch dominierte Milieu der steirischen Häuslertochter schloss die typischen Formen der marianischen Frömmigkeit ein. Die Marienerscheinungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurden in diesen Kreisen in der religiösen Erziehung ausführlich thematisiert. Maria Zach überliefert in ihren Lebenserinnerungen die Reaktion des Großvaters auf das Nordlicht im Spätwinter 1938: »Mein Großvater sagte mit Sorge: ›Das bedeutet nichts Gutes, es ist eine Himmelserscheinung. Es wird ein Krieg kommen, wie es die Muttergottes in Fatima den Hirtenkindern 1917 vorausgesagt hat.‹«8 Der Rahmen ist ein Mittel der Kommunikation zur Herstellung von Bedeutung einer Wahrnehmung. Er sorgt dafür, dass die potentiell unterschiedlichen Wahrnehmungen verschiedener Menschen vergleichbar und als Erfahrungen austauschbar, also kommunizierbar sind. Viele Menschen haben ohnedies nie Wahrnehmungen oder Erlebnisse, die nicht in schon vorbereitete oder vorgefertigte Richtlinien passen. Doch wenn sie einmal
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David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen − Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Übersetzt von Holger Fliessbach. Reinbek bei Hamburg 1997 (engl. Originalausgabe: Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany, 1993), S. 77.
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Knoblauch, Berichte aus dem Jenseits, S. 116, S. 142.
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Distelberger (Hg.), Von der Liebe erzählen, S. 140f.
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unvorbereitet Augenzeugen einer Katastrophe, eines Verbrechens oder eines Unfalles werden, dann entsteht bei ihnen das spontane Bedürfnis, ihre individuelle Wahrnehmung sofort mit jener der übrigen Augenzeugen abzugleichen. Wir trauen solange unseren Augen nicht, als nicht durch Kommunikation mit anderen Augenzeugen die Richtigkeit des Wahrgenommenen bestätigt wird. Damit erreichen wir eine gesellschaftliche Kalibrierung unserer individuellen Wahrnehmung. Der gesellschaftliche Rahmen verknüpft die individuelle Wahrnehmung mit einem kollektiven Umfeld, korreliert, stimmt ab und ordnet zu. Der kommunikative Kontext liefert eine »Gebrauchsanweisung« − einen Bauplan, wie die einzelnen Wahrnehmungen zueinander passen.
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E RINNERUNG ?
Eine Vision, wie sie Maria Zach während ihrer Schlafparalyse im Jahr 1940 als zehnjähriges Mädchen widerfuhr, bedarf der Erinnerung, damit daraus eine Erzählung entstehen kann. Dass Erinnerung nicht wie ein mehr oder weniger zugängliches Archiv von Bildern oder Filmen funktioniert, darauf liefern unterschiedliche Disziplinen in den letzten Jahren vermehrt Hinweise.9 Doch noch immer finden wir häufig – vor allem im Alltagswissen – jenes Modell von der Erinnerung vor, das geistesgeschichtlich für sich das höchste Alter in Anspruch nehmen darf. Unter den zahlreichen Autoren, die Erinnerung als eine Art »Gedächtnisort« verstehen, sei Augustinus herausgegriffen. Im 10. Buch, 8. Kapitel, seiner Confessiones gibt er einen Abriss der antiken Vorstellungen, wonach Erinnerungen automatisch entstünden, abgeschlossen seien und in einem Bereich unseres Ichs »aufbewahrt« würden, wo sie auch dann weiterexistierten, wenn wir keinen Zugang mehr fänden.10 Erinnerung kann alternativ zum »Gedächtnisort« als schöpferi-
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David C. Rubin (Hg.): Remembering Our Past. Studies in Autobiographical Memory. Cambridge 21999; Daniel L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Übersetzt von Hainer Kober. Reinbek bei Hamburg 1999 (amerikan. Originalausgabe: Searching for Memory, 1996); Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004.
10 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Zürich 1970 (Originalausgabe 1950), S. 254-257.
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scher Prozess gedacht werden. Demnach verdankt sich Erinnerung einem gestalterischen Ablauf, der nie abgeschlossen ist. Erinnerung verändert sich von dem Moment an, wo sie entsteht. Wenn wir eine Erinnerung aufrufen, glauben wir bloß, es handle sich danach noch immer um die gleiche Erinnerung. Wir fügen der ursprünglichen Erinnerung unsere gegenwärtigen Kenntnisse, Meinungen und Gedanken hinzu. Der gegenüber der ursprünglichen Situation veränderte und erweiterte Wissensstand fließt in die Erinnerung ein, und die Erinnerung nimmt durch wiederholtes Aufrufen bzw. Erzeugen die Form einer Erzählung an. Diese verdrängt mit ihrer größeren Plastizität und Anschaulichkeit die originale Erinnerung. Die Erzählung wird uns zur gewohnten Erinnerung; es ist die Erzählung, die wir zu reproduzieren gelernt haben.
K INDHEITSERINNERUNG Das Beispiel der Kindheitserinnerung eignet sich besonders, um damit den prozessuellen Charakter von Erinnerung zu veranschaulichen. Kindheitserinnerungen sind fragmentarisch, sie bleiben lange Zeit latent, sie werden danach besonders oft hervorgeholt und aufgefrischt – und unser Bild von uns selbst ist von der Erinnerung an Erlebnisse und Ereignisse der Kindheit geprägt. Und doch bestehen Kindheitserinnerungen auch zu einem relevanten Anteil aus vermittelten Inhalten. Über zahlreiche Ereignisse aus der Kindheit weiß man nur Bescheid, weil sie einem von den Eltern oder von älteren Geschwistern erzählt wurden. Im Familiengespräch, bei der gemeinsamen Betrachtung und Erklärung von Familienfotos wird die Familiengeschichte rekonstruiert. Der prominente Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget überlieferte uns eine prägnante Erfahrung aus seinem eigenen Leben, wie Kindheitserinnerungen das Produkt fremder Beeinflussung sein können: Sein Kindermädchen hatte behauptet, dass der kleine Jean entführt hätte werden sollen, was sie durch ihr Dazwischentreten verhindert habe. Die Erzählung des Kindermädchens, die sich Jahrzehnte später als erfunden herausstellte, war Teil der persönlichen Erinnerung des Knaben gewesen. Jean Piaget konnte sich bis dahin direkt an die Entführer und das beherzte Eingreifen
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des Kindermädchens erinnern − auch wenn dieser Entführungsversuch niemals Realität war.11 Diese Geschichte zerstört die Illusion von der Erinnerung als verlässlichem Maßstab der Objektivität vergangener Wirklichkeit. Doch Erinnerung, die ihren Ausgangspunkt von der Bedeutung nimmt, diese mit weiteren Elementen ausstattet, die aus eigenen Abstraktionen stammen, und die verbliebenen Fehlstellen noch mit Information aus externer Quelle verbindet, erfüllt ihren Zweck. Sie ist stimmig, logisch, meistens zuverlässig und bestens auf Erinnerungen von Personen, die mir nahestehen, oder auf Autoritäten, auf deren Meinung ich etwas gebe, abgestimmt.
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K RAFT
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Für das Entstehen einer Erzählung ist die länger andauernde Beschäftigung mit der Erinnerung wesentlich, ob freiwillig wie bei der autobiografischen Erinnerungsarbeit oder induziert wie bei den Zeugenbefragungen (und insbesondere bei den als potenzielle Generatoren »falscher Erinnerungen« in Verruf geratenen aggressiven psychotherapeutischen Methoden).12 Die amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus hat sich besonders der Frage gewidmet, wie die Erinnerung von Augenzeugen von Verbrechen oder Unglücksfällen zustande kommt. Dabei ließ sich zeigen, dass generell Augenzeugen, je öfter sie befragt werden, immer sicherer in ihren Aussagen werden, seien diese falsch oder richtig.13 Diese Beobachtung wird durch Daniel
11 Jean Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Übersetzt von Leo Montada (= Gesammelte Werke, Studienausgabe, Bd. 5). Stuttgart 1975 (frz. Originalausgabe: La formation du symbole chez l´enfant, 1959), S. 240f., Anm. 1. 12 Richard Ofshe/Ethan Watters: Die missbrauchte Erinnerung. Von einer Therapie, die Väter zu Tätern macht. Aus dem Amerikanischen von Matthias Reiss und Birgit Brandau. München 1994 (amerikan. Originalausgabe: Making Monsters. False Memories, Psychotherapy, and Sexual Hysteria, 1994); Elizabeth F. Loftus/Katherine Ketcham: The Myth of Repressed Memory. False Memories and Allegations of Sexual Abuse. New York 1994. 13 Elizabeth F. Loftus: Eyewitness Testimony. London 21996 (Originalausgabe Cambridge, Massachusetts 1979).
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L. Schacter bestätigt.14 Der Grund ist, dass wiederholtes Aufrufen bzw. Erzeugen einer Erinnerung eine Erzählung schafft. Und Erzählungen besitzen eine eigenständige Dynamik. Es ist aber erst die Erzählung, die einem die Gewissheit verschafft, die Wahrheit zu sagen. Das Narrativ lebt von seinem Wahrheitsanspruch. Mittels unserer Geschichten überzeugen wir uns von unserer eigenen Wahrheit. Erinnern können wir uns nur an das, was wir uns einmal erzählt haben. Und irgendwann können wir das, was wir uns hinzugedacht haben, nicht mehr von der originalen Wahrheit unterscheiden. Die Erinnerungen unseres Lebens sind also nicht »plötzlich wieder da«, nachdem sie lange verschüttet waren. Wir müssen sie uns in einem andauernden − oft auch langwierigen − Erinnerungsprozess erarbeiten, bei dem wir beständig unsere vorhandenen Erinnerungen modifizieren. Jeder erneute Vorgang einer Erinnerung an ein Ereignis oder eine Wahrnehmung vernichtet die ursprüngliche Erinnerung. Paradoxerweise ist gerade das Erinnern der größte Feind der originalen Erinnerung − und nicht das Vergessen.
K AUSALBEZIEHUNGEN Durch einen chronologischen Ablauf werden in einer Geschichte kausale Verknüpfungen hergestellt, ohne dass diese explizit gemacht, begründet oder gerechtfertigt werden müssen. Die Erzählung von Maria Zach zeigt, dass sich die Erzählerin nicht festlegt, ob jetzt die Besserung des Gesundheitszustandes eine Folge der Marienerscheinungen war, oder aber von ihr nur angekündigt wurde und demnach die Erscheinung als eine indirekte Auswirkung der Genesung zu sehen wäre. Die kausalen Beziehungen bleiben in der Erzählung ungeklärt, trotzdem entsteht der Eindruck einer Verknüpfung. Es ist nicht eindeutig, weil es für den Sinn der Erzählung auch nicht wesentlich ist. Maria Zach kommt es darauf an, den Eindruck zu vermitteln, dass die Erscheinung in einem gerechtfertigten und notwendigen Zusammenhang mit der Genesung von der tödlichen Krankheit steht – wie immer sich das im Einzelnen auch zugetragen haben mag. Diese beiden Ereignisse, die theoretisch auch unabhängig voneinander verbleiben könnten, werden in einem Erinnerungsnarrativ von der Erzählerin verbunden und damit einander zuge-
14 Schacter, Wir sind Erinnerung, S. 184.
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ordnet. Genau das hätte Carl Gustav Jung mit seinem Begriff der »Synchronizität« gemeint, erinnert Bernd Rieken. Gotthilf Isler liefert ihm dazu das treffende Beispiel einer unheimlichen Geschichte, die diesem vom ehemaligen Senn Arnold Büchli erzählt wurde: »In der Sage sind zwei Ereignisse vorhanden, welche kausal nicht miteinander verknüpft sind, nämlich die unheimlichen Geräusche am Abend [auf der Alm] und der Schneefall am anderen Morgen. Sie werden aber vom Erzähler miteinander verbunden und für ihn dadurch sinnvoll.«15
Ob für Maria Zach die Krankheit die Erscheinung, oder die Erscheinung die Genesung bewirkt hat, ist für die Erzählung nicht wesentlich. Die Erscheinung könnte genauso gut als ein Vorzeichen der Genesung aufgefasst werden, und damit könnte auch die Genesung die Erscheinung hervorgerufen haben. Diese semantischen Feinheiten sind von der Erzählerin nicht intendiert. Ihr reicht es, zwei Ereignisse bzw. Erfahrungen so miteinander in Einklang zu bringen, dass diese Verknüpfung keiner weiteren Legitimation und Erklärung bedarf. Sie erscheint im Zusammenhang der Erinnerung und der Erzählung logisch und nachvollziehbar.
H EILUNGSGESCHICHTEN Der Aufgabe, zwei Ereignisse, die genauso gut auch für sich stehen könnten, in einer sinnfälligen Weise so aufeinander zu beziehen, dass die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhanges plausibel erscheint, stellt sich die klassische Heilungsgeschichte. So wie der Krankheit wird auch der Heilung in der Lebensgeschichte ein privilegierter Platz eingeräumt. In Heilungsgeschichten wird der Einsatz eines Mittels auf erzählerisch suggestive Weise mit einer Wirkung verbunden. Dass die Erzähler ihr eigenes Tun als sinnvolle und zielführende Krisenintervention begreifen können, darin drückt sich ihr Selbstverständnis aus – als Personen, die handelnd und gestaltend in ihr Leben eingreifen. Über dieses Verständ-
15 Bernd Rieken: Tiefen- und entwicklungspsychologische Zugänge zum Verständnis des Numinosen, dargestellt am Beispiel der dämonologischen Sage. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, NS 65/114 (2011) 1, S. 3-24, hier S. 17.
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nis als handelndes, gestaltendes und bewegendes Subjekt der eigenen Biografie gelingt die Integration der Erinnerung an Krisensituationen in die Lebensgeschichte. Geschichten und das Geschichtenerzählen leben davon, dass die Erzähler manchmal verblüffende und überraschende, manchmal auch geläufige und allgemein akzeptierte Verbindungen herstellen. Jeder, der bewusst eine Handlung setzt, und jeder, der in einer Krisensituation von sich aus aktiv geworden ist, der erwartet sich eine Wirkung seines Tuns. Sobald er getan hat, wozu er sich imstande sah, wird er den weiteren Verlauf des Geschehens evaluieren. Der Akteur wird eine Erwartungshaltung aufbauen und dazu tendieren, jeden gedeihlichen Fortschritt seiner vorangegangenen Aktivität zuzuschreiben.
D AS W UNDER Auf die Form einer Geschichte wirken sich entscheidend die Möglichkeiten aus, die der Erzähler vorfindet, wenn es darum geht, sich als Protagonist seiner Erzählung präsentieren zu können. Ich möchte zwei Ausschnitte aus der Lebensgeschichte meines Großvaters einander gegenüberstellen, deren erster erkennbar elaborierter ausfällt. Mein Großvater Markus Distelberger (1892-1979) war seit seinem zwölften Lebensjahr Vollwaise. 1924 kaufte er sich das »Teuschelhofhäusel« bei Purgstall in Niederösterreich. Bis 1927 lebte er dort als Fabriksarbeiter mit seiner Schwester als Haushälterin und seiner unehelichen Tochter. 1927 heiratete er im Alter von 35 Jahren meine um neun Jahre jüngere Großmutter. 1929 erwarben meine Großeltern einen Bauernhof in der Gemeinde Hochrieß. Im gleichen Jahr wurde dort mein Vater geboren. In seinen Lebenserinnerungen erzählt mein Großvater davon, wie sein Erstgeborener (mein Vater) 1937 an Kinderlähmung erkrankte und geheilt wurde. Mein Vater war damals acht Jahre alt. Mein Großvater betrachtete die Genesung seines Sohnes als wundersame Heilung, als eine direkte Folge des Gebets. Mein Großvater versteckt sich mit seiner Ansicht von der Sache hinter der Äußerung einer fremden Person: »Ich hab diese Sache einmal erzählt bei einer Bahnfahrt. Da hat eine Frau ausgerufen: ›Da ist ein Wunder geschehen!‹ Und so war es auch.«
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Erzählerisch ist das ein geschickter Zug. Die Interpretation der Genesung meines Vaters als Wunder wirkt dadurch glaubwürdiger. Die Stimme des vermeintlich neutralen Außenseiters und Beobachters, einer Frau, die mein Großvater zufällig bei einer Bahnfahrt trifft, lässt seine subjektive Auffassung von dem Geschehen erst zutreffend erscheinen. Die Entscheidung, welche Bedeutung ein Ereignis hat, fällt erst, wenn unser eigenes Erleben von anderen bestätigt wird. »Ich und die Mutter sind zu Maria Namen nach Maria Taferl gewallfahrtet. Am Abend haben die Kinder beim Bett vom Markus gebetet. Der Markus war ein bisschen krank. Da sagte er: ›Beten wir noch einen Vater unser, damit wir die böse Krankheit nicht bekommen.‹ Bei Nacht verlangt er aufzustehen. Ich machte Licht, er stand aber nicht auf. Da sagte ich: ›Max, steh auf, es brennt das Licht schon so lange.‹ Da sagte er: ›Vater, ich kann net.‹ Da hat es mir einen Riss gegeben. Ich wusste alles. Beim Morgengrauen bin ich dann mit dem Rad um den Doktor gefahren. Dieser stellte fest: Rückenmarklähmung. Wir fuhren sofort nach Scheibbs ins Spital. Dort haben sie mir gleich Blut abgezapft und ihm eingespritzt. Dann bin ich halt wieder heim. Das waren Ölbergstunden. Wir haben gesagt: Herr, dein Wille geschehe, und haben zum Gebet und besonders zum hl. Josef unsere Zuflucht genommen. Wir haben eine Novene zu ihm gehalten. Ich habe mich hingesetzt und habe einen Brief an meinen Bruder Michael [1933-1942 Ordinariatskanzler, 1942-1959 Generalvikar der Diözese St. Pölten, Erg. T.D.] geschrieben mit der Bitte um Gebet. Er hat diesen vervielfältigt und an alle meine Geschwister geschickt. Und alle haben gebetet. Der liebe Gott hat unser Gebet erhört. Nach 14 Tagen ist er [mein Vater ist hier gemeint, nicht Gott, Erg. T.D.] schon zum Fenster [des Spitalszimmers, Erg. T.D.] gekommen. Nach [weiteren, Erg. T.D.] 14 Tagen spannte ich das Bräundl ein und holte ihn nach Hause. Das war eine Freud! Lob und Dank dem Herrn! Ich hab diese Sache einmal erzählt bei einer Bahnfahrt. Da hat eine Frau ausgerufen: ›Da ist ein Wunder geschehen!‹ Und so war es auch.«16
Ein krankes Kind wird ins Spital eingeliefert und verlässt dieses nach vier Wochen geheilt. Ist dies ein Vorgang, der zwingend nach der Erklärung durch ein Wunder verlangt? Der Weg, den mein Großvater gefunden hat, um in der Krise zu intervenieren und seinem kranken Sohn Unterstützung zukommen zu lassen – er mobilisiert seine Verwandtschaftsnetzwerke und
16 Aus der unveröffentlichten Lebensgeschichte meines Großvaters.
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organisiert ein gemeinschaftliches Gebet, eine Novene – ermöglicht auch das Wunder. Nur wer darum bittet, dem kann auch ein Wunder gewährt werden. Die religiösen Verrichtungen von Vätern, deren Kinder erkrankt sind, wie die Novene meines Großvaters, haben vielleicht auch den Charakter von Bußübungen, mittels derer die latenten Schuldgefühle von Eltern, deren Kinder an den Folgen von Unfällen oder Krankheiten leiden, betäubt werden sollen. Entscheidend ist die emotionale Beteiligung meines Großvaters. Er, der am Alltag der Kindheit meines Vaters keinen großen Anteil nahm, tritt in der Krisensituation als Handelnder in Erscheinung. Er überspielt seine Position der Hilflosigkeit und Ohnmacht durch die Hinwendung zu Gott, er mobilisiert seine religiösen und Verwandtschaftsnetzwerke. Von zwei Strategien, um die gesundheitliche Krise des erstgeborenen Sohnes zu bewältigen, weiß mein Großvater zu erzählen: Erstens wurde ihm »Blut abgezapft und ihm [seinem Sohn] eingespritzt«, und zweitens betet er mit seinem Haushalt eine Novene und bittet seinen geistlichen Bruder sowie die Verwandten um Gebetsbeistand. Obwohl also auch materielle, medizinisch-rationale Strategien zur Anwendung kamen, legt der besorgte Vater sein Vertrauen hauptsächlich in die spirituelle Unterstützung. Dieser will der Chronist der Geschichte für den glücklichen Ausgang das hauptsächliche Verdienst zuschreiben, und nicht dem Bemühen der Ärzte. In den Kampf der Ärzte um die Gesundheit des Buben war er nicht involviert − diese mögen jenem das Leben gerettet haben − meinem Großvater ist es aber nicht wichtig, speziell darauf hinzuweisen. Sein aktiver Beitrag war der Appell an die himmlischen Mächte. Dem drohenden Unglück begegnete er mit den Strategien, die ihm zur Verfügung standen. Als Gestalter seines Schicksals, bzw. das seines Sohnes, als einer, der eingreift und nicht hinnimmt, rehabilitiert er sich in der Erinnerung. Der Arzt hat in der Sage von der wunderbaren Errettung von Kindern aus körperlicher Not keinen prominenten Platz. Was unternommen wurde, um die Krise zu meistern, wird durch den glücklichen Ausgang zur einzigen Option erklärt. In der Erinnerung sind die Erzähler selbstbestimmte Akteure, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Gewissheit des Erzählers, dass die Zusammenhänge unserer Welt individuell begreifbar und der persönlichen Wahrnehmung zugänglich sind, ist eine der Voraussetzungen für eine Geschichte. Damit der Erzähler daraus einen Sinn konstruieren kann, ist es nötig, dass er sich in seiner Erzählung als Handelnder, als aktiver Gestalter erleben kann.
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Dass der Erzähler dem erzählten Ereignis und insbesondere seinem glücklichen Ausgang Bedeutung zumisst, bedeutet, dass er nicht an den Zufall glaubt. Der Glaube an den Zufall ist schließlich genauso eine Religion wie der Glaube an transzendente Mächte. Zufall und Bedeutung schließen sich aus. Natürlich muss es für mich eine Bedeutung haben, dass mein Vater im Alter von acht Jahren nicht an Kinderlähmung gestorben ist. Ansonsten wäre mein Dasein nur eine Verkettung von Zufällen und »völlig bedeutungslos«, und wer hält das aus? Dem stelle ich eine Geschichte gegenüber, die sich knapp mehr als ein Jahr nach der Hochzeit meiner Großeltern ereignete, als sie noch im »Teuschelhofhäusel« wirtschafteten und wohnten. Meine Großmutter war mit meinem Vater schwanger, als ein Winter hereinbrach, der von legendärer Strenge war – der Winter 1928/1929, der in vielen Lebenserinnerungen Erwähnung findet. Mein Großvater hatte hinter seiner Keusche einen Rübenkeller ausgegraben, in dem seine Frau eine Kohlenmonoxidvergiftung erleidet. Obwohl das Überleben meiner schwangeren Großmutter bei minus 30 Grad erstaunlicher und bemerkenswerter erscheint als die Heilung eines Kindes im Krankenhaus, bemüht der Erzähler keine überirdische Fügung, sondern begnügt sich mit dem »besonderen Schutz von oben«. Der Ablauf bot für meinen Großvater keine Möglichkeit, aktiv zu werden. Seine Krisenintervention war nicht erforderlich. Als er von seiner Schichtarbeit in der metallverarbeitenden Fabrik Busatis in Purgstall heimkehrt, ist der Unfall glücklich ausgestanden. Damit entfällt auch das Wunder. Die Passage in den Lebenserinnerungen meines Großvaters zum Februar 1929 erwähnt nicht direkt die Schwangerschaft seiner Frau: »Im Jahre 1929 hat im Februar ein so ein furchtbarer Winter eingesetzt und es war Gefahr, dass es uns in den Keller einfriert. So habe ich halt Holzkohlen gekauft. Die Kathi [meine Großmutter, Erg. T.D.] hat sie dann auf Glut in den Keller gegeben, das hat ganz schön warm gemacht. Aber die Gase! Eines Nachmittages holte sie Rüben, schloss hinter sich die Tür. Wie sie es spürte [Kohlenmonoxidgase sind geruchlos, Erg. T.D.], strebte sie zur Tür und konnte noch hinauskommen. Draußen lag sie dann bei strenger Kälte 1 ½ − 2 Std. bewusstlos. Das war ein besonderer Schutz von oben, dass sie mit dem Leben [und ohne das Kind zu verlieren! Erg. T.D.] davon kam.«17
17 Aus der unveröffentlichten Lebensgeschichte meines Großvaters.
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Abbildung 1: Markus Distelberger (1892-1979) zum ungefähren Zeitpunkt der Abfassung seiner Lebenserinnerungen (um das Jahr 1970), rechts im Bild seine Frau Katharina Distelberger (1901-1974)
Foto: Anton Distelberger sen., Mostviertler Bauernmuseum.
Gerade der Umstand, dass seine Frau weder eine transzendente noch eine pragmatische Hilfe erhalten konnte, befreite meinen Großvater von der erzählerischen Aufgabe, aus der Errettung eine besondere Fügung zu konstruieren. Er kann es auch einfach zur Kenntnis nehmen. Das Überleben meiner Großmutter im Februar 1929 hatte für meinen Großvater keine metaphysische Bedeutung, wohingegen er acht Jahre später die Genesung meines Vaters von der Kinderlähmung als wundersame Heilung und direkte Folge des Gebets sehen möchte. Ich möchte damit zeigen, dass es nicht auf die Ereignisse selbst ankommt, ob zum Zweck der Verarbeitung die Erzähler daraus ein Wunder oder übersinnliche Fügung konstruieren. Wenn es für den glimpflichen Ausgang einer Krise weder nötig war noch sich die Gelegenheit bot, zu beten, zu wallfahrten, Gott oder den Heiligen ein Geschenk zu geloben
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oder zu einem Heiler zu pilgern, dann ist auch kein Wunder geschehen. Dann wurde Gott nicht gebraucht. Wenn hingegen die Hilfe Gottes angerufen wurde und tatsächlich ein positiver Erfolg zu erkennen ist, dann entspricht das einem Wunder. Nur wenn es ein Handeln gegeben hat, dann kann das glückliche Ende das Resultat der Handlung sein.
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Die Volksmedizin ist eine Heilkunde, die sich über die praktische Erprobung am therapiebedürftigen Patienten definiert. In den letzten Kriegsjahren erkrankte meine Tante Resi, die damals ein Volksschulkind war, an Lungenentzündung. Ihr wurde solange Topfen auf die Brust gepackt, bis sie gesund war, wie mir ihr älterer Bruder Toni erzählte: „Der Topfen hat den ganzen Eiter herausgezogen! Der Eiter war richtig auf dem vertrockneten Topfen zu sehen! Es hat geholfen.“ In solchen Geschichten wird ganz selbstverständlich der Einsatz eines Mittels mit einer Wirkung verbunden. Auch die Heilmagie folgt den gleichen experimentellen und empirischen Regeln wie die übrige Volksmedizin. Magie hat innerhalb der Gesamtheit volksmedizinischer Therapien den Stellenwert einer Ultima Ratio, einer Steigerungsform. Zu magischen Mitteln oder Ritualen greift man erst, wenn alles andere versagt und sich als wirkungslos herausgestellt hat. Auch der Übergang von den »schwachen« Hausmitteln zu den »kräftigeren« Medikamenten der akademischen Medizin entspricht dem Prinzip der Steigerung, einer climax. An den Lebensgeschichten des Oberkärntners Michael Unterlercher18 (geb. 1858) und der Weststeirerin Elisabeth Glettler19 (geb. 1940) lässt sich dieser Grundsatz studieren. Wenn nacheinander wahllos verschiedene Mittel ausprobiert werden, wie sie mangels einer exakten Diagnose von besorgten Verwandten und Nachbarn geraten werden oder zum »bewährten« (?) Hausmittelschatz ge-
18 Michael Unterlercher: In der Einschicht. Das Leben eines Kärntner Bergbauernbuben. Erinnerungen eines Siebzigjährigen. Klagenfurt 1976 (Reprint der Originalausgabe von 1932), S. 137-139. 19 Elisabeth Glettler: Kein siebenter Tag. Kindheit in der Einschicht (= »Damit es nicht verlorengeht ...«, Bd. 63). Wien/Köln/Weimar 2010, S. 117, S. 123f., S. 127.
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hören, entspricht das der empirischen Methode der Falsifikation. Davon unterscheiden sich Heilpraktiken, die dem Grundsatz der Wiederholung folgen: Ein Mittel, das für sich gesehen harmlos und weitgehend frei vom Risiko von Nebenwirkungen ist, wird so lange angewendet, bis sich der erwartete Erfolg einstellt. Wesentlich ist, dass die Vorgangsweise und das Mittel nicht gewechselt werden, solange die Kur andauert. Die 1915 geborene Lungauerin Maria Schuster beschreibt es in ihren Erinnerungen.20 Für eine »Rosskur« werden häufig alkoholische und andere Genussdrogen (Tabak bei Zahnweh) eingesetzt. Dem Alltag entnommene Mittel werden zweckentfremdet, zum Beispiel für Tiere bestimmte Medikamente auch für Menschen eingesetzt. Kennzeichnend ist, dass man sich von einer »Rosskur« schnelle oder sogar sofortige Wirkung erwartet. Sie wird also nur einmal angewendet. Ihre Radikalität schließt sich weitgehend mit einer Wiederholung aus. Die Medizinhistoriker sprechen von »heroischen Therapien«.21 Alle drei Vorgangsweisen − Falsifikation, Wiederholung und »heroische Therapie« − verraten empirisches Denken. In der Volksmedizin gibt es keine »Generalprobe«, kein harmloses Austesten. Es geht immer gleich um Erfolg oder Misserfolg. Für mich ist auch die Anwendung magischer Heilmethoden auf diesen Alltagsempirismus zurückführbar. In Volksmedizin und magischer Heilkunde manifestiert sich gleichermaßen die Vorstellung des Menschen, er und seine Umwelt wären der alltäglichen Wahrnehmung und seiner privaten Logik zugänglich. Persönliche Beobachtungen und Experimente könnten als Basis für seine Bemühungen dienen, den Gang der Dinge zu beeinflussen. Dabei setzt die Laienmedizin auf die Kraft des Individuums, sich seiner Umgebung erkennend zu bemächtigen. Der demokratische Charakter dieser »Eigenermächtigung« ist für mich evident.
20 Maria Schuster: Auf der Schattseite (= »Damit es nicht verlorengeht ...«, Bd. 40). Wien/Köln/Weimar 1997, S. 98. 21 Jens Lachmund/Gunnar Stollberg: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien. Opladen 1995, S. 215f.: Der Schriftsteller Berthold Auerbach empfiehlt Rauchen gegen Zahnweh.
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Als vor dem Ersten Weltkrieg in einem Dorf im Waldviertel von einem Häusler ein Schwein geschlachtet werden sollte, ließ sich dieses nicht so einfach vom Leben zum Tode befördern. Die emotionale Beziehung, die ein kleines Mädchen aus dem gemeinsamen Haushalt zu diesem Tier pflegt, ist es, die von dem in seiner Tötungsabsicht frustrierten Hausherren und Ziehvater für das vorläufige Misslingen der Tötungsaktion verantwortlich gemacht wird − und wofür er seine Ziehtochter zur Verantwortung zieht. Der Wegeinräumer aus dem Dorf Lichtenau im Gföhler Wald gestand der Empathie eines Mädchens die Wirkung zu, das Ableben eines Schweins verzögert zu haben. Die emotionale Bindung eines Menschen an sein Umfeld ist im »wilden Denken« die Grundlage für magische Übertragung. Wilhelm Szabo (1901-1986) erzählt hier über seine Kindheit als Ziehkind im niederösterreichischen Kremstal: »Endlich verröchelte es, und der Ziehvater ließ von ihm ab, um sich die blutüberronnenen Hände am Brunnen zu waschen. Da rührte sich die Sau plötzlich, sprang auf und entwich in den Hof. Die Ziehmutter sah es entgeistert, der Röhrl aber, ergrimmt, ging ins Haus, und man hörte ihn, wie er einer kleinen Ziehschwester, die über das arme Tier flennte, schallend den Hintern ausklopfte. ›Wenn’s der dummen Urschel derbarmt, kann das Vieh sein Lebtag nicht hinwerden!‹, polterte er, als er wieder zurückkam, und knallte die Haustür hinter sich zu. Das Schwein torkelte, sackte verendend zusammen.«22
Die Magie will Verbindungen knüpfen, will Beziehungen zwischen dem Körper des Schweins und dem Körper des Kindes, das ungerechterweise geschlagen wird, genauso herstellen wie zwischen einem Körper als dem vorläufigen Aufenthaltsort der Krankheit und einem Objekt – und schließlich zwischen magischem Ritual und Heilung. Die Ebenen, auf denen sich diese Beziehungen, die Bedeutung repräsentieren, von unsichtbaren zu realen Verbindungen verändern, sind Wahrnehmung, Erinnerung und Erzählung. Auf diesen Ebenen konstituiert sich der »magische Code«, durch den
22 Wilhelm Szabo: Zwielicht der Kindheit. St. Pölten/Wien 1986, S. 51 (Neuauflage unter dem veränderten Titel: Dorn im Himbeerschlag. Zwielicht der Kindheit. Weitra 2001, hier S. 50).
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erst die Symbole mit ihrer Bedeutung verbunden sind. Die Praktiken der Magie sind für mich Bestandteile eines eigenständigen Sinnsystems, das sich wie eine Sprache durch den Sinn rechtfertigt, den es autonom erzeugen kann. Diese Symbole erhalten ihre Bedeutung nicht durch die Beziehung zwischen einem Begriff und einer materiellen Tatsache, sondern durch die Beziehung zu anderen Symbolen. Ich plädiere dafür, Magie als Sprache aufzufassen, mit den Regeln einer Sprache, die sich aber ständig verändert und neue Begriffe integriert. Mit welcher Sprache wir unsere Umwelt erkennen, mit welchen Ausdrucksformen wir uns als handelnde Subjekte verstehen lernen, unterliegt weitgehend unserer persönlichen Entscheidung. Zur Unterstützung ziehe ich die Anmerkungen von Dieter Harmening heran, der damit auf den Stellenwert des »Bedeuten-Wollens« im symbolischen System der Magie aufmerksam machte. Die aus der Alltagswelt, aus religiösen oder anderen elitären Symbolsystemen entlehnten Dinge sollen in der Magie nicht unmittelbar etwas bewirken – wie in der Medizin, den Naturwissenschaften oder in der Technik – sondern mittelbar, infolge ihrer Bedeutung: »Befand sich das Rezipierte ehedem, in Kosmologie, Theologie oder Naturwissenschaft, in systematischem Wirkzusammenhang, bewirkte es etwas nach Maßgabe seines systematischen Ortes, so bedeutet es nun etwas aufgrund seiner in der superstitiosen Rezeption entfalteten Zeichenhaftigkeit. Es hat jene Ebene der Verknüpfung der Erscheinungen im Bewusstsein erreicht, auf der jedes zugleich ein anderes enthält. Es ist die Ebene, auf der das Symbolschaffen sich aufbaut. Nur, dass das sympathetische Welthaben im Symbol nicht ein anderes sich vorstellt, sondern mit Notwendigkeit gleich setzt. Die sympathetische Welt wird so als symbolische Welt verständlich, in der die Dinge, indem sie sich gegenseitig bedeuten, sich gegenseitig bedingen.«23
Magische Wirklichkeiten sind aus Bedeutungen zusammengesetzt. Bedeutungen bestehen aber nicht für sich, sondern benötigen Bedeutungsträger.
23 Dieter Harmening: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens (= Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 10). Würzburg 1991, S. 139. – Hervorhebungen im Original.
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Als Bedeutungsträger, als Semiophore24, können nicht nur die Laute, Begriffe und Symbole der Sprache, sondern auch Erzählungen, Dinge und Orte dienen. Alles, was mit Bedeutung aufgeladen werden kann, funktioniert auch als Zeichen. Es kränkt den Menschen, von Dingen umgeben zu sein, die keinen Sinn ergeben. Wenn über ihre Funktion hinaus Dinge nichts bedeuten, dann stellt sich der dringende Wunsch, ja sogar die Sehnsucht ein, dass diese Dinge auch als Zeichen fungieren mögen. Jene narzisstische Kränkung, die sich einstellt, »weil der Mensch die Gleichgültigkeit nicht ertragen kann, welche Natur und Welt gegen ihn an den Tag legen«, wie es Martin Scharfe ausdrückt, verlangt nach Kompensation.25 Analog zur »Gleichgültigkeit der Natur«, die den Menschen kränkt, möchte ich von einer »Gleichgültigkeit der Dinge« sprechen, die auf ähnliche Weise schmerzt. Aus diesem Grund bemüht der Mensch sich, alles mit Bedeutung zu versehen. Alles um ihn herum soll auf etwas Weiteres verweisen, soll nicht ausschließlich sich selbst enthalten, soll im Zusammenhang stehen. Wir verspüren das Bedürfnis, unser gegenständliches Umfeld mit Bedeutung aufzuladen und es auf eine Weise mit der eigenen Person in Beziehung zu setzen. Der Kränkung, dass die gegenständliche Welt uns als besondere Personen nicht zu benötigen scheint, soll damit abgeholfen werden. Der Erzähler – und insbesondere der autobiografische Erzähler – kann eine Welt schaffen, deren Schöpfergott, Bewohner und Historiograf er ist. Schließlich erlebt er, wie sich seine Wirklichkeit nach seinem Konzept von ihr zu richten beginnt. Genau dieser Fähigkeit rühmt sich auch die Magie. Magie ist die Herstellung von Wirklichkeit aus der Kraft der Vorstellung. Erzählen löst den Anspruch der Magie ein.
24 Konrad Köstlin: Die Verortung des Gedenkens. Kulturelle Emotionalisierung der Orte. In: Elisabeth Fendl (Hg.): Das Gedächtnis der Orte. Sinnstiftung und Erinnerung (= Schriftenreihe des Johannes-Künzig-Instituts, Bd. 8). Freiburg 2006, S. 13-29, hier S. 26. Köstlin übernimmt den Begriff aus dem Buch von Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1998 (Die Erstausgabe dieser Sammlung von Aufsätzen des Autors erschien 1988), S. 69, S. 84-90. 25 Martin Scharfe: Wider-Glaube. Zum kulturellen Doppelcharakter der Superstition, und: Superstition als Gebärde einer rationalen Tendenz in der Kultur. In diesem Band, S. 107-121.
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L ITERATUR Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Zürich 1970 (Originalausgabe 1950). David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen − Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Übersetzt von Holger Fliessbach. Reinbek bei Hamburg 1997 (engl. Originalausgabe: Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany, 1993). Jerome Bruner: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfram Karl Köck. Heidelberg 1997 (Originalausgabe: Acts of Meaning, 1990). Toni Distelberger (Hg.): Von der Liebe erzählen. Sechs Lebensgeschichten von Frauen (= »Damit es nicht verlorengeht …«, Bd. 64). Wien/Köln/ Weimar 2011. Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004. Elisabeth Glettler: Kein siebenter Tag. Kindheit in der Einschicht (= »Damit es nicht verlorengeht …«, Bd. 63). Wien/Köln/Weimar 2010. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt a.M. 21980 (amerikan. Originalausgabe: Frame Analysis. An Essay on the Organizations of Experience, 1974). Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Aus dem Französischen von Lutz Geldsetzer (frz. Originalausgabe: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925). Frankfurt a.M. 1985. Dieter Harmening: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens (= Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 10). Würzburg 1991. Hubert Knoblauch: Berichte aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung. Freiburg/Basel/Wien 1999. Konrad Köstlin: Die Verortung des Gedenkens. Kulturelle Emotionalisierung der Orte. In: Elisabeth Fendl (Hg.): Das Gedächtnis der Orte. Sinnstiftung und Erinnerung (= Schriftenreihe des Johannes-KünzigInstituts, Bd. 8). Freiburg 2006, S. 13-29. Sina Kühnel/Hans J. Markowitsch: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg 2009.
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Jens Lachmund/Gunnar Stollberg: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien. Opladen 1995. Elizabeth F. Loftus/Katherine Ketcham: The Myth of Repressed Memory. False Memories and Allegations of Sexual Abuse. New York 1994. Elizabeth F. Loftus: Eyewitness Testimony. London 21996 (amerikan. Originalausgabe Cambridge, Massachusetts 1979). Richard Ofshe/Ethan Watters: Die missbrauchte Erinnerung. Von einer Therapie, die Väter zu Tätern macht. Aus dem Amerikanischen von Matthias Reiss und Birgit Brandau. München 1994 (amerikan. Originalausgabe: Making Monsters. False Memories, Psychotherapy, and Sexual Hysteria, 1994). Jean Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Übersetzt von Leo Montada (= Gesammelte Werke, Studienausgabe, 5). Stuttgart 1975 (frz. Originalausgabe: La formation du symbole chez l’enfant, 1959). Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1998 (Erstausgabe 1988). Bernd Rieken: Tiefen- und entwicklungspsychologische Zugänge zum Verständnis des Numinosen, dargestellt am Beispiel der dämonologischen Sage. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, NS 65/114 (2011) 1, S. 3-24. David C. Rubin (Hg.): Remembering Our Past. Studies in Autobiographical Memory. Cambridge 21999. Daniel L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Übersetzt von Hainer Kober. Reinbek bei Hamburg 1999 (amerikan. Originalausgabe: Searching for Memory, 1996). Maria Schuster: Auf der Schattseite (= »Damit es nicht verlorengeht …«, Bd. 40). Wien/Köln/Weimar 1997. John Shotter: The Social Construction of Remembering and Forgetting. In: David Middleton/Derek Edwards (Hg.): Collective Remembering. London 41997, S. 120-138. Wilhelm Szabo: Zwielicht der Kindheit. St. Pölten/Wien 1986 (Neuauflage unter dem veränderten Titel: Dorn im Himbeerschlag. Zwielicht der Kindheit. Weitra 2001). Michael Unterlercher: In der Einschicht. Das Leben eines Kärntner Bergbauernbuben. Erinnerungen eines Siebzigjährigen. Klagenfurt 1976 (Reprint der Originalausgabe von 1932).
Das Ding dreht sich Die Wünschelrute, die Entzauberung und das Populäre1 H UBERT K NOBLAUCH
»ABERGLAUBE «
UND DIE POPULARE
R ELIGION
Auch wenn der Begriff des Aberglaubens im Titel dieses Bandes steht und noch immer eine weite Verbreitung in der Volkskunde genießt, sollte er in Anführungszeichen gesetzt werden. Denn es handelt sich um einen Begriff, der nicht nur bestimmte Glaubens- und Handlungsformen bezeichnet, sondern diese auch in einer wertenden Weise abtut. Ein solcher Begriff wird einer Sozial- und Kulturwissenschaft nicht gerecht, die ihren Gegenstand ernst nimmt und den für die Erforschung nötigen Respekt zeigt. Während die kirchliche Verurteilung des »Aberglaubens« (als »superstitio«) von Seiten der weltlichen Wissenschaft nicht geteilt werden kann, ist auch die vermeintlich wissenschaftlich-aufklärerische Vorstellung des »Aberglaubens« als eines Irrglaubens, die sich bis in die Gegenwart zeigt, von einem doch ebenso naiven Positivismus geleitet. Dieser Positivismus führt dazu, dass die Wissenschaft in die Machtposition aufrückt, die einst die Kirche einnahm.2 Dies mag für die Naturwissenschaft vielleicht angehen, die sich ja mit dem »sprachlosen« Wirken der Dinge beschäftigt; die Sozial- und Kul-
1
Ich danke Meike Hellmuth für wertvolle Kommentare und die Korrektur dieses
2
Hermann Bausinger: Aufklärung und Aberglaube. In: Deutsche Vierteljahreszeit-
Textes. schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), S. 345-362.
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turwissenschaften aber, die sich mit Handlungen und deren Deutungen durch die Beteiligten beschäftigen, würden sich damit einem Teil ihres Gegenstandes verschließen. Zumindest im Sinne des Thomas-Theorems – alles, was die Menschen für wirklich halten, muss untersucht werden, da es von den Menschen auch verwirklicht wird oder werden kann – gilt es, den Sinn des Wirkens der Handelnden (Haltungen, Vorstellungen und Urteile – kurz: Wissen) zum Bezugspunkt einer solchen Forschung zu machen. Um den Begriff des »Aberglaubens« zu vermeiden, scheint es deswegen angemessener, ihn als Teil eines größeren Komplexes zu betrachten, der als »populare Religion« bezeichnet wird. Unter der popularen Religion oder Volksreligion verstehen Ebertz und Schultheis etwas, das von den religiösen Formen unterschieden wird und sich von dem abgrenzt, was durch die Amtskirche, den Klerus und religiöse Organisationen monopolisiert wurde.3 »Unter ›popularer Religiosität‹ sind spezifische Konfigurationen religiöser Vorstellungen und Praktiken zu verstehen, die sich infolge einer Monopolisierung der Definition von und Verfügung über ›Heilsgüter‹ […] bei den von der Definition von und Verfügung über diese Heilsgüter Ausgeschlossenen herausbilden.«4
Das Populare ist also eine soziologische Unterscheidung zwischen den Handlungs- und Wissensformen der »offiziellen«, als religiös anerkannten Religion, legitimen Experten und denjenigen der nichtanerkannten religiösen Praktiken. Aus dieser Sicht ist der »Aberglaube« eine relativ einfache Zuschreibung von Seiten der Vertreter legitimen Wissens zur Ausgrenzung von nichtlegitimen religiösen Wissens- und Handlungsformen.5
3
Der Begriff der popularen Religiosität stammt aus dem romanischen Raum (»religion populaire«, »religiosità populare«). Im deutschsprachigen Raum ist er unter den Titeln Volks- und Aberglaube, Volksfrömmigkeit, Volksreligiosität bzw. religiöser Volksglaube bekannt, die sich jedoch wegen des vorbelasteten »Volks-« und »Volkstumsbegriffs« als problematisch erwiesen.
4
Vgl. Michael Ebertz/Franz Schultheis: Einleitung: Populare Religiosität. In: dies. (Hg.): Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur Soziologie popularer Religiosität aus 14 Ländern. München 1986, S. 11-52, hier S. 15.
5
In einem sehr breiten Rahmen wird diese Perspektive von Sharot vertreten. Vgl. Stephen Sharot: A Comparative Sociology of World Religions. Virtuosos, Priests, and Popular Religion. New York/London 2001.
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So hilfreich das Konzept der popularen Religion ist, so scheint das, was es bezeichnet, ebenso wie der »Aberglaube« einem Wandel zu unterliegen. Während der vorwissenschaftliche Begriff des Aberglaubens auf der Annahme eines »wahren Glaubens« auf Seiten der Kirche beruht und der moderne Begriff der popularen Religion auf jener der Existenz eines klar demarkierten legitimen Wissens (und auch auf der Annahme eines »wahren Wissens« der Wissenschaft), so zeichnet sich die gegenwärtige Situation dadurch aus, dass die Grenzen zwischen dem »legitimen« Wissen der Wissenschaft und dem des von ihr abgegrenzten Aberglaubens (bezeichnenderweise auch als »Grenzwissenschaften« gefasst) durchbrochen werden. An die Stelle der »popularen Religion«, die vom »legitimen« religiösen Wissen abgegrenzt wird, stellt sich eine »populäre Religion«, für die diese Grenzen keine entscheidende Rolle mehr spielen. Ich habe dies andernorts an verschiedenen Beispielen, wie etwa dem Aufstieg der einst »abergläubischen« alternativen Medizin, aufgezeigt (Knoblauch 2009). In diesem Beitrag möchte ich diese Entwicklung am Beispiel des Wünschelrutengehens veranschaulichen. In groben Zügen soll gezeigt werden, wie die Grenzen zwischen der abergläubigen »Magie«, der Religion und der Wissenschaft neu gezogen werden. Diese Grenzverschiebung ist keineswegs ein Abstraktum. Sie bezieht sich vielmehr sehr grundsätzlich auf das Wünschelrutengehen als eine Form des sinnhaften Handelns. Um also einen Begriff davon zu haben, was Wünschelrutengehen ist, möchte ich es einleitend kurz als eine Form des Handelns beschreiben. Danach soll in einem historischen Abriss gezeigt werden, wie sich der Sinn dieses Handlungsvollzugs verändert hat. Abschließend möchte ich versuchen, den Begriff des Populären, der das Wünschelrutengehen heutzutage umschreibt, etwas exakter zu bestimmen.
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ODER :
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BEWEGT SICH JA !
Die Frage, was »Dinge tun«, ist in den letzten Jahren sehr stark ins Blickfeld der Sozial- und Kulturwissenschaften gerückt. Ohne den Umweg über die Rezeption, etwa der »materialen Volkskunde«, haben sich zunächst im Bereich der Techniksoziologie und der Science and Technology Studies (STS) eine Reihe von Forschungsansätzen ausgebildet, die sich mit dem »Handeln der Dinge« beschäftigen. Während die Techniksoziologie vor al-
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lem den technischen Artefakten eine Art bedingte »Handlungsträgerschaft« einräumt6, geht die »Actor-Network«-Theorie davon aus, dass Techniken und Dingen dieselbe Rolle als »Akteure« eingeräumt werden sollte wie den menschlichen Handelnden.7 Diese theoretische Auseinandersetzung spielt, wie wir gleich sehen werden, eine sehr bedeutsame Rolle, wenn wir uns mit dem Wünschelrutengehen beschäftigen. In der Tat stellt sich die Frage nach der autonomen Handlungsmacht des Menschen nicht nur mit Blick auf die Technik; man könnte sagen, dass es auch Magie und Divination grundsätzlich immer um die Frage geht, ob und welche Akteure oder Kräfte (neben dem Menschen) tätig sind.8 Für den Fall der Wünschelrute steht diese Frage sogar im Mittelpunkt, geht es hier doch um den »Ausschlag der Rute«. Um zu verstehen, worum es sich bei diesem Ausschlag handelt, muss man sich das Wünschelrutengehen genauer ansehen. Ich möchte es im Folgenden kurz beschreiben. Dabei stütze ich mich zum einen auf meine eigenen Erfahrungen, die ich in mehrfachen Ausbildungen als Rutengänger bei unterschiedlichen Organisationen erworben habe. Zum Zweiten stützte ich mich auf Interviews mit Rutengängern. Zudem mache ich sie anhand der Videoaufzeichnung eines semiprofessionellen Rutengängers fest. Mit seiner eigenen Einwilligung habe ich im Rahmen meines Forschungsprojektes aufgezeichnet, wie er in einer Privatwohnung eine »Ausmutung« vorgenommen hat, das heißt eine Wohnung bzw. ein Zimmer einer Wohnung auf die Kräfte hin untersucht hat, die mittels einer Wünschelrute als aufspürbar gelten. Bevor ich auf die Ergebnisse dieser Ausmutung zu sprechen komme, sollte man sich zunächst das Ding deutlich ansehen. Bei der Rute handelt es sich um einen astähnlichen Stab, der von einem Punkt aus in einem spitzen Winkel auf zwei Enden zuläuft. Klassisch aus Ästen gewonnen, werden die Wünschelruten in den letzten Jahrzehnten häufig aus künstlichen Materia-
6
Vgl. Werner Rammert/Ingo Schulz-Schaeffer: Technik und Handeln. In: dies. (Hg.):
7
Bruno Latour: Re-Assembling the Social. An Introduction to Actor-Network
8
Dabei sollte man »Akteur« nicht unbedingt personalistisch verstehen. Diese
Können Maschinen denken? Frankfurt a.M. 2002, S. 11-64. Theory. Oxford 2008. Frage beschränkt sich auch nicht auf die funktionalistische Deutung der Magie, die sie als Vorläuferin der Technik ansieht. Vgl. Evon Z. Vogt/Ray Hyman: Water Witching USA. Chicago/London 1968.
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lien (Metall, Kunststoff) hergestellt, wie das folgende Bild zeigt, wobei die gezeigte Rute sogar eine Verdickung für den Handgriff aufweist. Abbildung 1: Wünschelrute nach Angerer
Die Form der Wünschelrute zeigt schon ihren Zuschnitt auf den menschlichen Träger: Sie wird in der Regel mit beiden Händen gehalten. Dabei werden die Endteile der Rute so in die Hand genommen, dass durch eine Dehnung der Rute (also eine Vergrößerung des Winkels) oder, wie das Bild unten zeigt, eine Überdehnung der Halterung eine Spannung der Rute entsteht.9 Abbildung 2: Haltung einer Wünschelrute
9
Es gibt auch andere Rutenformen, wie etwa Winkelantennen oder horizontal »angespannte« Ruten, deren Behandlung hier nicht weiter ausgeführt werden kann; sie lassen sich jedoch als Variante des Wünschelrutengehens ansehen.
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Die Spannung, die der Rute verliehen wird, ist von einer entscheidenden Bedeutung für das Wünschelrutengehen, denn deren Vollzug besteht im Wesentlichen darin, dass die Rute, früher oder später, in den Zustand der Entspannung zurückschlägt (also, im gezeigten Fall, nach hinten ausschlägt, wo der Winkel weniger spitz ist). Diese Bewegung der Rute wird als »Ausschlag« gedeutet und bildet den Kern des Rutengehens. Dabei sollte auch der Aspekt der Bewegungsform – das Gehen – ernst genommen werden. Denn das Wünschelrutengehen wird durchgeführt, indem der Rutengänger geht. Jeder Gang setzt aus dem Stand an; der Rutengänger spannt die Rute an, hebt den Blick über die Rute, die er mit den Händen etwa auf Hüfthöhe hält, und geht dann los. In der Regel sieht man nach ein bis drei Schritten, wie sich die Rute nach unten bewegt. An diesem Punkt bleibt der Rutengänger stehen und blickt, der nun nach unten weisenden Rute mit dem Blick folgend, auf die Stelle am Boden. Während die Spannung der Rute für Beobachter (und zwar auch für diejenigen, die dem Rutengänger in der eigenen Wohnung bei seiner Arbeit zuschauen) schwer sichtbar ist, ist leicht zu erkennen, dass die Wünschelrute eine deiktische Form aufweist, ja fast wie ein Pfeil aussieht. Diese Form ist keineswegs zufällig, denn die Rute dient auch als Hinweis: Sie verweist auf einen Ort, eine Stelle, an der die sie auslösende Kraft vermutet wird. Ich habe diese Formulierung sehr vorsichtig gewählt, denn an der Frage, welche Kraft es sein mag, die den Ausschlag verursacht, hängt der gesamte »Streit um die Wünschelrute«. Handelt es sich hier um eine Naturkraft, um okkulte Kräfte – oder geht es hier lediglich um »Aberglauben«, eine Illusion, die der Wünschelrutengänger selbst erzeugt? Auch wenn vielfach die Meinung vertreten wird, diese Frage ließe sich nur »naturwissenschaftlich« klären (was entweder zur »Überführung« der täuschenden oder sich selbst täuschenden Rutengänger oder zum Nachweis ihres »siebten Sinnes« bzw. der wissenschaftlich »noch nicht« nachgewiesenen Kräfte führen sollte), so scheint es, wie wir sehen werden, sehr viel angemessener, das Wünschelrutengehen als eine Form des Handelns, also eines menschlichen Verhaltens anzusehen, »wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden«.10 Das Rutengehen ist ein Handeln, insofern es
10 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1988 (1922), S. 1; dabei bewegt sich die oben gestellte Frage in dem von Max Weber gesteckten Rahmen, ob
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als ein Verhalten mit einem Sinn verbunden ist. Noch genauer haben wir es sogar mit einem kommunikativen Handeln zu tun, denn die Handlung ist mit einem »Zeichen« verbunden: Die Wünschelrute »zeigt«, und der räumliche Ort, auf den sie zeigt, ist auch das, was in der Handlung gesucht wird.11 Das Wünschelrutengehen als kommunikatives Handeln anzusehen, hat nicht nur den Vorteil, dass man die Rute nicht als ein separates Objekt betrachten muss und damit die Annahme einer magischen Eigentätigkeit verdinglicht (was in der Technik- und Wissenschaftsforschung zuweilen zu einer interessanten »Verzauberung« und »Magisierung« der Dinge führt). Sie hat vor allen Dingen den Vorteil, dass sie die zahlreichen Umdeutungen des »Sinns« des Wünschelrutengehens erklärt. In der Tat können wir eine große Bandbreite der »Deutung« des Sinns dieser Handlung beobachten, die sogar die Frage betrifft, wie die Wünschelrute oder der Rutengänger handelt. Diese Bandbreite variiert sowohl diachron historisch als auch synchron, wobei sich jeweils sehr klare soziale Ordnungen zeigen. Im folgenden Teil möchte ich mich zuerst mit den großflächigen historischen Veränderungen des Sinns dieser Handlung beschäftigen, bevor ich dann kurz die synchronen Unterschiede andeute.
W ANDLUNGEN
DES
W ÜNSCHELRUTENGEHENS
Der folgende historische Abriss soll kurz oben genannte Veränderungen skizzieren. Angesichts einer nach wie vor unzureichenden Forschung basiert er auf fragmentarischen Dokumenten und eigenen Überlegungen.12 Dabei möchte ich keineswegs meine These wiederholen, dass die vermeintliche Austreibung der »Magie« in der Moderne gar nicht stattgefunden hat und damit gute empirische Gründe dafür bestehen, die Weberތsche »Entzauberungsthese« anzuzweifeln (bezweifelbar werden, wie wir sehen, auch
man »Sich-Verhalten« als »äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden« fasst. 11 Dabei bezieht der Begriff des kommunikativen Handelns die körperliche Performanz des Wünschelrutengängers mit ein. Vgl. dazu z.B. Hubert Knoblauch: Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin/New York 1995. 12 Vgl. Hubert Knoblauch: Die Welt der Wünschelrutengänger und Pendler. Frankfurt a.M./New York 1991.
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die Annahmen Durkheims, die »Magie« kenne keine Kirche oder widerstehe einer Theoriebildung).13 Vielmehr möchte ich mich nur auf einige Veränderungen konzentrieren, die sich auf das Wünschelrutengehen beziehen. Diese Veränderungen betreffen (vermutlich) die Bewegungen und die Geräte wesentlich weniger, als den Sinn des Wünschelrutengehens. Dabei geht es jedoch nicht nur um eine oberflächliche »Umdeutung«; auch der Vollzug des Handelns, ja sogar die Frage, wer hier handelt (und was das Subjekt tut) wird von dieser Veränderung betroffen. Mit Blick auf die Volkskunde sollte ich hinzufügen, dass diese Veränderungen nicht notwendig bedeuten, dass »ältere« Formen vollständig ersetzt werden; häufig kommt es zu einem Nebeneinander, das auch mit den verschiedenen Geschwindigkeiten und der unterschiedlichen Ausbreitung der Modernisierung zu tun hat. Der Wünschelrute wird gerne eine »äonenalte Geschichte« zugeschrieben, doch handelt es sich um eine Art »invention of tradition«, einen erfundenen »Archaismus«, der die Wahrheit mit der Tiefe der Geschichte begründen will.14 Gesicherte Hinweise auf das Rutengehen finden wir erst seit der Renaissance und zunächst nur aus dem Deutschen Reich. Um 1430 erwähnt ein Bergbautechniker erstmals die Wünschelrute und spricht auch von einem Ausschlagen, das auf metallische Ausströmungen zurückgehe. Die älteste bekannte bildliche Darstellung findet sich in einer Handschrift im Wiener Hofmuseum aus dem Jahre 1420. Bemerkenswert ist tatsächlich der Kontext, in dem das Rutengehen auftritt: Es handelt sich um den Bergbau, der als die fortschrittlichste Industrie seiner Zeit angesehen werden kann. Eine detaillierte sprachliche Darstellung des gesamten Ablaufs, wie er oben geschildert wurde, stammt von einem der angesehensten technischnaturwissenschaftlichen Gelehrten seiner Zeit, Georgius Agricola.
13 Ich habe diese These schon ausgeführt in Hubert Knoblauch: Vom Wünschelrutengehen zur Radiästhesie – die Modernisierung der Magie. In: Jahrbuch für Volkskunde (1996), S. 221-240 sowie ders.: Der Mythos der Entzauberung, die populäre Religion und das Ende der Privatisierung. In: Gottfried Korff (Hg.): Alliierte im Himmel. Populare Religiosität und Kriegserfahrung. Tübingen 2006, S. 371-392. 14 Hubert Knoblauch: Bezaubernde Zeiten. Die Zeit der neuen Magie, dargestellt am Beispiel der radiästhetischen Geomantie. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 2 (1989), S. 301-319.
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Abbildung 3: Holzschnitt aus: Georgius Agricola, De re metallica libri XII, Basel 1556
Das Rutengehen verbreitete sich auch über den Bergbau hinaus und wurde mit allerlei Zierrat versehen, wie etwa Spruchzaubern und verschiedenen Ritualen, die an die Zeiten, Orte und Materialien des Schneidens der Rute gebunden sind. Seine große Ausweitung aber verdankt das Rutengehen wiederum einer sehr modernen Entwicklung. Nach der (krisenbedingten) Wanderung deutscher Bergleute (und darunter auch zahlreicher Rutengänger) erlangten im 17. Jahrhundert vor allem französische Rutengänger, die spektakuläre (und, wie immer, umstrittene) Erfolge vorweisen konnten, eine besondere Prominenz. Diese Popularität gründete sich indessen nicht mehr bloß auf einer Wanderung, sie verdankte sich der aufkommenden Presse, die das Rutengehen nun auch in den städtischen Gebieten verbreitete. Die Ausbreitung des Rutengehens vollzog sich allerdings gegen den scharfen Widerstand der Kirche, die sich lange und in zahllosen theologischen Streitschriften gegen diese Praxis wehrte. Die Wünschelrute wurde als Aberglaube abgetan und, wie eine Reihe von theologischen Arbeiten
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zeigt, in einen Zusammenhang mit dem Teufel gebracht. Doch mit der abnehmenden Bedeutung der Kirche im Zuge der Säkularisierung verstummte auch ihre Kritik immer mehr. Die Debatte über dieses Phänomen wurde ab dem 18. Jahrhundert von der Wissenschaft geführt, die sich mit den neuen experimentellen Methoden des Phänomens annahm. Eine Reihe von Experimenten wurde durchgeführt, unter anderem auch im Rahmen der neu entstandenen wissenschaftlichen Gesellschaften. Die Erklärungen des nun wissenschaftlich umstrittenen Phänomens änderten sich zwar mit den einander rasch abfolgenden wissenschaftlichen Paradigmen (von der Korpuskeltheorie über elektrisch-magnetische, tierisch-magnetische Theorien bis später zu Röntgenstrahlen oder Radioaktivität), doch machten diese Experimente immer mehr deutlich, dass die Rute sich nicht von alleine, sondern nur in den Händen der »Rutler« bewegte. Dies ist auch der Hintergrund für eine folgenreiche Neuerung des Rutengehens. Es überrascht nicht, dass diese Neuentwicklung von einem bedeutenden Vertreter einer als romantisch bezeichneten Wissenschaft vorgenommen wurde. Hatten die Rutengänger bis dahin den Ausschlag als weitgehend von außen bewirkt angesehen, so zeigte der Münchner Physiker Johann Wilhelm Ritter um die Wende zum 19. Jahrhundert anhand einer Reihe von Experimenten, dass der Rutenausschlag nicht auf äußere Kräfte zurückgeht, sondern seine Ursachen im Menschen zu suchen seien. Die romantisch verstandene Verbindung des Menschen (Mikrokosmos) mit dem (Makro-)Kosmos galt nun als der Quell für die magische Wirkung, da im Menschen das Wissen des Universums liege.15 Diese Subjektivierung des Rutenausschlags16 hatte Folgen, wie man an der »zarteren Schwester der Wünschelrute«, dem Pendel, erkennen kann. Nachdem Ritter den Philosophen Hegel auf das Pendel aufmerksam gemacht hatte, berichtete dieser in einem Brief an Schelling: »Goethen hab ich neugierig gemacht.« Und Goethe verlieh dieser Verinnerlichung denn auch den ersten literarischen Ausdruck. Wenige
15 Walter D. Wetzels: Dr. Johann Wilhelm Ritter, Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik. Berlin 1973. 16 Ganz offensichtlich nahm die Deutung der Verinnerlichung in der Folge wieder zwei Richtungen: Im einen Fall wurde sie naturalisiert und, auch im Rahmen der Parapsychologie, der Sinneswahrnehmung zugeschrieben; im anderen Falle wurde sie »geistig« (bzw., eher vermittelnd, »feinstofflich«) esoterisch oder okkult gedeutet.
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Jahre nach Ritters Münchner Versuchen schilderte er in den Wahlverwandtschaften, wie Ottilie körperliche Empfindungen über Kohleadern verspürte. Diese »Sensibilität« oder »Fühligkeit« (wie man die Ausprägung des magischen Charismas beim Wünschelrutengehen nennt) kann sie schon unter Beweis stellen, noch bevor ihr das Pendeln beigebracht wird. In der Romantik vollzieht sich so eine Verinnerlichung der Rutenreaktion, die den späteren Radiästheten als selbstverständlich gilt. Mit der Subjektivierung des Rutengehens ist sozusagen der »Akteur« neu bestimmt: Es ist nicht die Rute selbst, wie man magisch glauben würde, sondern eine im Innern des Menschen wirkende Kraft. Dabei sollte es sich keineswegs um die einzige Neubestimmung handeln. Während die Rutengänger im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend verstädterten, folgte dieser Entwicklung im 20. Jahrhundert eine wachsende formale (und scheinbar »rationale«) Organisation. Sie bildeten Vereine, Verbände und Betriebe aus, die nun auch eine eigene Öffentlichkeit bildeten (Zeitschriften wurden herausgegeben, Tagungen und Konferenzen fanden statt, zu denen bis zu 2000 Teilnehmer anreisten). Für die Handlung des Wünschelrutengehens kam es zu einer weiteren Veränderung: Nicht nur war das Subjekt der Suche neu definiert, auch das »Ziel« der Suche wurde nun neu bestimmt. Der allmähliche Bedeutungsverlust im Bergbau hatte zu einer Verlagerung in die Landwirtschaft und zu einer Ersetzung der Suche nach Erzadern zu Wasseradern geführt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch änderte sich dies wiederum. Vor allem im Zuge der Urbanisierung kamen nun neue Ziele in den Blick. Nicht mehr Wasser, Erzadern oder Schätze wurden gesucht, sondern vor allem gesundheitsschädliche Kräfte waren es, denen nun das Augenmerk galt. Die Umorientierung auf gesundheitliche Probleme förderte eine neue Form der Berufsausübung, die man als Medikalisierung bezeichnen kann. Seit Anfang der 1920er Jahre nämlich zeichnete sich eine privatwirtschaftliche Organisierung der Rutengänger in Betrieben ab, die sich mehr und mehr vom Wassersuchen abwandten. Im Mittelpunkt stand nun der medizinische Einsatz des Rutengehens. Dazu zählt nicht nur das Auffinden schädlicher Orte, deren Vermeidung geraten wurde (also Beratung). Die neue Heilprofession der Wünschelrutengänger wandte sich auch der Produktion zu: Sie stellten »Entstörer« bzw. »Entstrahler« her, die vor den gesundheitsschädigenden »Kräften«, »Strahlen« oder »Linien« schützen sollten, die mit der Wünschelrute gemessen bzw. »ausgemutet« wurden. Die Suche nach krankheitserre-
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genden Verwerfungen und deren Bekämpfung durch Entstrahler führte schon in den 1920er Jahren zur Ausbildung regelrechter Berufscodices, zur Entstehung eines »Entstrahlungsmarktes« und dessen, was in den USA »urban dowsing« genannt wurde.17 So stellte ein namhafter Rutengänger 1932 fest: »Man kann heute bereits von einer Erdstrahlen-Manie und von einer Entstrahlungs-Industrie sprechen«. Ein anderer bemerkt, »dass seit dem Jahre 1930 sich weit mehr Rutengänger und Pendler mit dem Aufsuchen und Unschädlichmachen solcher Reizstreifen befassen […] als mit der von früher her bekannten geologischen und hydrologischen Seite der Wünschelrute«.18 Diese Medikalisierung impliziert eine dramatische Veränderung für das magische Charisma: ihre Generalisierung. Nun gilt potenziell jeder Mensch (und andere Wesen) als »empfänglich« für diese Strahlen – wenigstens in der Form, dass er davon geschädigt werden kann. Und damit setzte sich auch zunehmend die Ansicht durch, ein jeder Mensch könne prinzipiell das Wünschelrutengehen erlernen. Neben der Urbanisierung, Organisation, Medikalisierung und Kommerzialisierung ist auch eine weiterer moderner Aspekt des Wünschelrutengehens hervorzuheben: die zunehmende Theoretisierung. Diese kommt nicht nur in der Durchsetzung der Bezeichnung »Radiästhesie« zum Ausdruck, sondern auch in der zunehmenden »Abstraktion« der Ziele, bei denen es sich immer seltener um konkrete Gegenstände (Erze, Wasser), denn vielmehr um unsichtbare Kräfte handelte, die man mit naturwissenschaftlichen und esoterischen und vor allem eklektisch aus beiden Wissensbereichen zusammengebauten Theorien zu erfassen und zu erklären versuchte. Auch hier sind die sozialen Logiken deutlich sichtbar. Abgesehen davon, dass in traditionelleren Regionen auch die etwas älteren Formen des »Wasserschmöckens« noch gängig waren, haben sich in der Radiästhesie verschiedene »Schulen« des Wünschelrutengehens ausgebildet, die jeweils unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten, welcher Art diese Kräfte sind und vor allem, welche Struktur und welche Ordnung im Raum diese, für
17 William Barret/Evon Z. Vogt: The Urban American Dowser. In: Journal of American Folklore 82 (1969), S. 195-213. 18 Franz Wetzel: Zur Praxis der Entstrahlungsgeräte. In: Die Heilkunst der Gegenwart. Homöopathische Rundschau 11 (1932), S. 165-168; Ludwig Oberneder: Entstörungsgeräte (1927-1967). In: Zeitschrift für Radiästhesie NF 41 (1967) 1, S. 3-21.
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andere unsichtbaren, Kräfte annehmen. Dabei zeigt sich die Nähe und Distanz der verschiedenen Schulen auch in der Ähnlichkeit dieser Strukturen. Einander verbundene Schulen bilden Strukturen aus, die miteinander verträglich sind. Scharfe Konflikte bestehen zwischen Schulen, die völlig andere Modelle vertreten. Dabei werden die jeweiligen (Teil-)Ordnungen häufig nach den Wünschelrutengängern benannt, die sie »erforscht« haben (die zumeist identisch mit den Leitern der Schulen oder ihnen »genealogisch« Nahestehenden sind). Das folgende Schaubild zeigt einige solche Strukturen verschiedener Vertreter, die miteinander kompatibel sind. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Bei diesen Strukturen handelt es sich keineswegs um abstrakte Größen, die nichts mit der »Praxis« des Rutengehens zu tun hätten. Ganz im Gegenteil leiten diese Vorstellungen das Handeln ganz konkret. Das kann man veranschaulichen, indem man an die Beschreibung des Wünschelrutengehens im Video erinnert. Denn nach jedem Ausschlag, den der oben beschriebene Wünschelrutengänger hat, beugte er sich zur Stelle am Boden, auf die die Rute hinwies, und zog einen Kreidestrich. Mit den Kreidestrichen, die er so bei jedem »Gang« zog, rekonstruiert er die Existenz von Linien der Struktur, die in der obigen Zeichnung enthalten sind. Abbildung 4: Strahlenfeld
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D ER »ABERGLAUBE «, DAS P OPULARE UND DAS P OPULÄRE Die knappe Skizze kann nur andeuten, wie sich das Wünschelrutengehen (im Zuge der Modernisierung) verändert hat. Während Rute und Gang vermutlich gleich blieben, wurde die wirkende Kraft der Rute in das handelnde Subjekt verlegt. Das von der Rute angezeigte Ziel wurde von Erzadern über Wasseradern zu Strahlen zunehmend abstrakter und nahm die Terminologie der modernen Naturwissenschaften an; zugleich wurde es als unsichtbare »primäre Qualität« begriffen, die sich sekundär allerdings sehr konkret auf Organismen auswirkt – bei Menschen durch Krankheiten, insbesondere Krebs. Damit wurde ein Handlungsproblem für die Wünschelrutengänger definiert. Die Verwendung der Wünschelrute durchläuft also eine ganze Reihe von Prozessen, die auch die Gesellschaft durchläuft und die man schlagwortartig zusammenfassen kann: Subjektivierung (Fühligkeit), Verwissenschaftlichung, »rationale« Organisation (Vereine, Verbände, Betriebe), Medikalisierung, Urbanisierung und Generalisierung. Man könnte auch von einer Modernisierung der Magie sprechen, doch stellt diese Verbindung fast ein Oxymoron dar, wird doch die Moderne wenn schon nicht durch den Schwund der Religion, so doch (wenigstens) durch die Austreibung der Magie definiert. Die Verbindung von Moderne und Magie weist denn auch einen eher »nachmodernen« Zug auf, der anfangs schon angedeutet wurde: Während nämlich die Magie (und der »Aberglaube«) in der Vormoderne durch die Religion ausgegrenzt wurde, sehen wir am Beispiel der Wünschelrute sehr schön, dass diese im Übergang zur Moderne nicht verloren geht, sondern nur die Referenz für ihre Legitimation wechselt. Nun ist es die moderne Naturwissenschaft und damit auch die Medizin, an der sich die Magie orientiert.19 Allerdings bleibt diese Orientierung in der Moderne einseitig. Die Magie ist eine nichtlegitime populare Handlungsweise außerhalb des etablierten Bürgertums und wird bestenfalls als nichtlegitime »Grenzwissenschaft« verhandelt. Diese Situation aber hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. In dem Maße, in dem die einst als »marginal medicine« behandelten alternativen Heilverfahren von der etablierten (nicht wissenschaftlich forschenden, sondern praktizierenden) Medizin aufgenommen
19 Dies wurde mustergültig nachgezeichnet von Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. Harmondsworth 1971.
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wird, rückt auch die medikalisierte Radiästhesie von ihrer ausgegrenzten Randstellung weg und erhält mehr und mehr Anerkennung, und zwar sowohl hinsichtlich der wissenschaftlichen Institutionen (wo sie etwa Teil der »Baubiologie« wird), wie auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Gruppen, die sie in immer größerer Breite akzeptieren. Weil sie nicht mehr hauptsächlich von den vorherrschenden Institutionen als illegitime Praxis niederer Klassen definiert wird und eine breiter werdende Anerkennung genießt, sollte die heutige Radiästhesie nicht mehr als populare Religion, sondern als populär bezeichnet werden. Populär ist sie auch in der Form, bemisst sich die Nachfrage doch nicht an einem »rationalen«, »wissenschaftlich belegten« Nutzen, sondern an den Geschichten und Legenden, die nach wie vor die populäre Kultur bis hinein in die »Wissenschaftsmagazine« in Zeitschriften und im Fernsehen bevölkern. Populär ist also das Wünschelrutengehen, wenn es allseits breite Anerkennung genießt, in den gängigen Formen kommuniziert werden kann und sozial (wenigstens formal) möglichst so uneingeschränkt zugänglich ist, dass auch die Grenzen und Strukturen des Wissens – sei es die Differenz zwischen Wissenschaft und Religion – nur begrenzt eine Rolle spielen. In der Wissensgesellschaft, die sich durch die Ausweitung des Wissens aus der Wissenschaft hinaus definiert, wird deswegen gerade das magische »grenzwissenschaftliche« Wissen populär, weil man es nun weder der Religion noch der Wissenschaft zuordnen muss.
L ITERATUR William Barret/Evon Z. Vogt: The Urban American Dowser. In: Journal of American Folklore 82 (1969), S. 195-213. Hermann Bausinger: Aufklärung und Aberglaube. In: Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), S. 345-362. Michael Ebertz/Franz Schultheis: Einleitung: Populare Religiosität. In: dies. (Hg.): Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur Soziologie popularer Religiosität aus 14 Ländern. München 1986, S. 11-52. Hubert Knoblauch: Die Welt der Wünschelrutengänger und Pendler. Frankfurt a.M./New York 1991. Hubert Knoblauch: Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin/New York 1995.
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Hubert Knoblauch: Die populäre Religion. Frankfurt a.M./New York 2009. Hubert Knoblauch: Bezaubernde Zeiten. Die Zeit der neuen Magie, dargestellt am Beispiel der »radiästhetischen Geomantie«. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 2 (1989), S. 301-319. Hubert Knoblauch: Vom Wünschelrutengehen zur Radiästhesie – die Modernisierung der Magie. In: Jahrbuch für Volkskunde (1996), S. 221-240. Hubert Knoblauch: Der Mythos der Entzauberung, die populäre Religion und das Ende der Privatisierung. In: Gottfried Korff (Hg.): Alliierte im Himmel. Populare Religiosität und Kriegserfahrung. Tübingen 2006, S. 371-392. Bruno Latour: Re-Assembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory. Oxford 2008. Ludwig Oberneder: Entstörungsgeräte (1927-1967). In: Zeitschrift für Radiästhesie NF 41 (1967) 1, S. 3-21. Werner Rammert/Ingo Schulz-Schaeffer: Technik und Handeln. In: dies. (Hg.): Können Maschinen denken? Frankfurt a.M. 2002, S. 11-64. Stephen Sharot: A Comparative Sociology of World Religions. Virtuosos, Priests, and Popular Religion. New York/London 2001. Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. Harmondsworth 1971. Evon Z. Vogt/Ray Hyman: Water Witching USA. Chicago/London 1968. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1980 (1922). Franz Wetzel: Zur Praxis der Entstrahlungsgeräte. In: Die Heilkunst der Gegenwart. Homöopathische Rundschau 11 (1932), S. 165-168. Walter D. Wetzels: Dr. Johann Wilhelm Ritter, Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik. Berlin 1973.
Schauplätze
»Gauckeleyen« und »ungeziemende abergläubische Seegensprüchereyen« Magische Praktiken um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett E VA L ABOUVIE
V ORBEMERKUNG Rituale um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett wurden gemeinsam von den verheirateten und verwitweten Frauen einer Dorfgemeinschaft ausgeführt. Die sich um Schwangerschaft und Geburt bildende weibliche Hilfsgemeinschaft war nicht nur eine heilende und helfende, sondern auch eine rituelle Gemeinschaft, die volksmagische Praktiken kannte und anwandte, sie in Brauch- und Merkbüchern, die aus dem 16. bis 19. Jahrhundert bis heute erhalten sind, aufzeichnete oder mündlich tradierte. Die von den Dorffrauen in einem Wahlgang aufgrund ihrer Fähigkeiten ins Amt berufenen Hebammen galten als besondere Kennerinnen und Bewahrerinnen heilkundiger wie magischer Anwendungen, weshalb Hebammenordnungen wie die für das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken aus dem Jahre 1632 ausdrücklich betonten, Geburtshelferinnen sollten weder »gauckeleyen« noch »ungeziemende abergläubische Seegensprüchereyen« oder – wie die kurtrierische Agende von 1574 – »keinerlei Zauberei oder Aberglauben« gebrauchen.1
1
AHWS (Archiv der Herzog-Wolfgang-Stiftung, Zweibrücken), Rep. VII, Nr. 139a, o. fol., Punkt 18; Johann J. Scotti: Sammlung der Gesetze und Verordnungen,
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Während man den examinierten und vom Amt angestellten Hebammen einen Eid mit dem Verzicht auf den Einsatz magischer Mittel abverlangte, konnten die auf dem Land zumeist nicht obrigkeitlich verpflichteten Hebammen nicht zu einem solchen Eid gezwungen werden.2 Als Vertrauenspersonen waren diese traditionellen »Hebemütter« nicht nur die Leiterinnen der Geburten, sondern auch die Anführerinnen der rituellen Frauengemeinschaften, die sich um jedes Geburtsereignis stets neu konstituierten.3 Präventive wie aktuelle magische Hilfe resultierte einerseits aus einem Schutzangebot für Schwangere, Gebärende, Kindbetterinnen wie Neugeborene während der gefahrvollen Phasen von Schwangerschaft, Niederkunft und Wochenbett, zum anderen aus der Überzeugung einer magischen Beeinflussbarkeit übernatürlicher Mächte durch Gegenzauber. Die Quellen vermitteln eine außerordentliche Fülle an volksmagischen Mitteln für unterschiedlichste Gefahren um Schwangerschaft, Geburt und Kindbett, mithin eine gehäufte magische Interpretation der Unwägbarkeiten und Beeinträchtigungen während dieser weiblichen Schwellenphasen. Sie galten als Zeiten besonderer Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit, in denen Mutter und Kind insbesondere übernatürlichen und dämonischen Angriffen ausgesetzt waren.4
welche in dem vormaligen Churfürstenthum Trier über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, vom Jahre 1310 bis zur Reichs-Deputations-Schluß-mäßigen Auflösung des Churstaates Trier am Ende des Jahres 1802, Teil 1. Düsseldorf 1832, S. 706; Nikolaus Fox: Saarländische Volkskunde. Saarbrücken 1979, S. 314f. 2
Vgl. Eva Labouvie: Beistand in Kindsnöten. Hebammen und ländliche Geburt (1550-1900). Frankfurt a.M./New York 1999, S. 197-233; LA (Landesarchiv) Speyer, Best. B2, Nr. 2875, fol. 35.
3 Vgl. Eva Labouvie: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln/ Weimar/Wien 22000, S. 198-278; Eva Labouvie: Weibliche Festkultur um die Geburt. Bräuche, Feiern und Rituale aus dem Saarraum, der Pfalz und Lothringen vom 16. bis 19. Jahrhundert. In: Eckstein. Journal für Geschichte 2 (1998), S. 4-16. 4
Vgl. Eva Labouvie: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16.-19. Jahrhundert). St. Ingbert 1992, S. 124-140; Labouvie, Andere Umstände, S. 67-77, S. 198-199; Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M./New York 1989.
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Abbildung 1: Das Kind, Radierung von Daniel Nikolaus Chodowiecki (1726-1801) aus der Zwölf-Blatt-Serie Totentanz, 1791
Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett.
S CHWANGERSCHAFT Sich »schwangeren Leibs befinden« beinhaltete in der frühneuzeitlichen Gesellschaft keinen medizinisch normierten Zustand, sondern eine individuelle wie kollektive Zuschreibung durch die Bewertung von Körpersignalen und -veränderungen.5 Die kulturellen Grenzen, die einer Schwangeren auf-
5
Vgl. Labouvie, Andere Umstände; Eva Labouvie: Der Leib als Medium, Raum, Zeichen und Zustand. Zur kulturellen Erfahrung und Selbstwahrnehmung des schwangeren Körpers. In: Paul Münch (Hg.): »Erfahrung« als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (= HZ, Beiheft 31). München 2001, S. 115-126; Wolf-
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gezeigt wurden, schlossen die ganze Umwelt mit ihren Ordnungsvorstellungen ein, basierten auf Kohärenzen zwischen dem Kosmos des Körpers und der kosmischen Welt, auf impliziten Analogien und metaphorischen Ähnlichkeiten zwischen Leibteilen und dinglicher Welt, die es nahelegten, die Schwangere durch eine besondere Verhaltensethik aus Abstinenz und »Unpässlichkeit« zu leiten und zu begrenzen. Man belegte schwangere Frauen mit Verboten und Regeln des Verhaltens, der Ernährung und des zeitlichen wie räumlichen Aufenthaltes, die – gepaart mit Exklusion und Isolation – diese besondere Phase ihres Lebens für sie selbst und ihre Umwelt deutlich markierten. So hatte es sowohl angesichts der populären Vorstellung vom nach innen und außen durchlässigen, materiellen wie immateriellen schwangeren Körper, der Kräfte übertragen und aufnehmen konnte und mit der dinglichen Welt in Wechselbeziehung stand, eine stringente Plausibilität, Sinneseindrücke und Imaginationen in diese populäre Körpervorstellung einzubeziehen und anzunehmen, dass über die Wahrnehmung ausgelöste Dispositionen durch den Körper der Mutter hindurch direkte Störungen der Entwicklung des Ungeborenen verursachen konnten.6 Der weibliche Körper erscheint als Brandeisen, der dem Körper des ungeborenen Kindes seinen Stempel aufdrückt, indem er äußere Einflüsse nicht in ihrer abstrakten Erscheinung als Schreck, Angst oder Furcht wirksam werden lässt, sondern sie materialisiert – im Kind oder in den Körpersäften seiner Mutter. Magische Schädigung trifft ihr Opfer ungefiltert durch das Auge mittels des bösen Blicks, die durch den Mund ausgesprochene Verwünschung dringt durch das Ohr in den Körper ein, ebenso die durch das Auge wahrgenommene An-
gang Eich: Medizinische Semiotik 1750-1850. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeichenbegriffs in der Medizin. Freiburg 1986. 6
Zur Imaginationslehre vgl. David Buchan: Folk Tradition and Folk Medicine in Scotland. The Writings of David Rorie. Edinburgh 1994, S. 70-77; Michael Simon: Heilige. Hexe. Mutter. Der Wandel des Frauenbildes durch die Medizin im 16. Jahrhundert. Berlin 1993, S. 66-73, S. 84-91; Tally F. Cattermole: From the Mystery of Conception to the Miracle of Birth. A Historical Survey of Beliefs and Rituals Surrounding the Pregnant Woman in Germany Folk Tradition. Los Angeles 1978, S. 125-128; Jacques Gélis: Die Geburt. Volksglaube, Rituale und Praktiken von 1500-1900. München 1989, S. 94-101, S. 113-115; Hilary Marland (Hg.): »Mother and Child were Saved«. The Memoirs (1693-1740) of the Frisian Midwife Catharina Schrader. Amsterdam 1987, S. 61-78.
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sicht einer dämonischen oder teuflischen Erscheinung, zu deren direktem Abbild das ungeborene Kind werden kann.7 Böse Worte, Blicke oder Impressionen, so die populäre Auffassung, würden sich auf die Beschaffenheit und den Fluss der Körpersäfte auswirken, sie zum Stocken, Fließen, Aufsteigen bringen oder vergiften und das Ungeborene schädigen.8 Schwangerschaft beinhalte aber auch eine festgesetzte Zeit und einen Ort der konkreten wie symbolischen Trennung, Loslösung und Umwandlung, bezogen auf Essgewohnheiten, tägliche Handlungen und Angewohnheiten bis hin zur Sexualität und gesamten Lebensführung. Sie umfasse eine Zeit und einen Raum der Regeln, Rechte, Pflichten und Privilegien und umschloss damit Aspekte von Macht und Ohnmacht. Die Macht des Geheimnisvollen und Schutzbedürftigen, das die Schwangere umgab, resultierte neben ihrer eigenen Sonderstellung aus dem undefinierbaren Status ihres ungeborenen, unsichtbaren Kindes. Im Unberechenbaren aber lag stets eine Kraftquelle zum Guten wie zum Bösen, eine Ambivalenz der Erfahrung des schwangeren Körpers als nahrungsverderbend, fruchttötend, lebensspendend und heilend zugleich. Vor allem existierte ein Bereich aus Orten und Räumen, aus Zeiten und Dingen, den eine Schwangere meiden sollte, wenn sie sich keinen Gefahren oder Schädigungen aussetzen oder sie verursachen wollte. Wie in Minot für die Menstruierende9 galten im Saar-Pfalz-Raum eingelegte oder gegorene Nahrungsmittel als vom »Umschlagen« bedroht, wenn eine Schwangere sie berührte; vermeiden sollte die werdende Mutter sowohl Kreuzwege, was eine schwere Geburt nach sich ziehen konnte, die
7
Vgl. Waltraud Pulz: Graphische und sprachliche Tierbildlichkeit in der Darstellung von Mißgeburten des menschlichen Körpers auf Flugblättern der frühen Neuzeit. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1989), S. 63-81; Paul-Gabriel Boucé: Imagination, Pregnant Women, and Monsters in Eighteenth-Century England and France. In: Georges Sebastian Rousseau/Roy Porter (Hg.): Sexual Underworlds of the Enlightenment. Manchester 1987, S. 86-100; David Wilson: Signs and Portents. Monstrous Births from the Middle Ages to the Enlightenment. London 1993.
8
Vgl. Eva Labouvie: Lebensfluss – Schwangerschaft, Geburt und Blut (16.-19. Jahrhundert). In: Christina von Braun/Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes. Frankfurt a.M./New York 2007, S. 204-226.
9
Vgl. Yvonne Verdier: Drei Frauen. Das Leben auf dem Dorf. Stuttgart 21984, S. 17, S. 20, S. 41.
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Teilnahme an Begräbnissen und den Besuch von Kranken, was Tod und Krankheit zur Folge haben konnte, abendliches oder gar nächtliches Ausgehen, das sie dem Einwirken übernatürlicher Kräfte aussetzte.10 Andererseits suchte die Schwangere sich und das Ungeborene vor geheimnisvollen Mächten zu schützen. Präventive Rituale, wie das Waschen der Kleider, die zur Geburt getragen werden sollten, in heiligen Quellen, Wallfahrten für eine »schöne« Geburt oder Opfergaben an Brunnen und vor Altären, galten einem ganzen Komplex von unkontrollierbaren Gefahren um Schwangerschaft und »Leibesfrucht«. In der Pfalz war schwangeren Frauen der Genuss etwa von Raubvögeln untersagt, weil diese dem Ungeborenen »den Boden« durchstießen und damit eine Frühgeburt auslösen konnten; von Früchten mit harter Schale hingegen war eine raue Haut beim Ungeborenen zu erwarten. In Lothringen wurde das Trinken aus einer beschädigten Tasse mit einer Hasenscharte beim Kind, das Essen von Brombeeren mit Hautausschlag des Neugeborenen in Verbindung gebracht. Der Schwangeren war es dort bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts untersagt, ein Spinnrad zu berühren, unter einer Leine hindurchzugehen, ein Wagenrad oder eine Deichsel zu überschreiten, Halsketten oder Ringe zu tragen, weil sich dann die Nabelschnur um den Kopf des Ungeborenen wickeln würde.11 Der rigide Umgang mit Frauen, die eine dieser Regeln missachteten und ein missgestaltetes oder totes Kind zur Welt brachten, verweist auf eine intensive kollektive Kontrolle und Sanktionierung.12
10 Vgl. Labouvie, Andere Umstände, S. 65-67; Françoise Loux: Das Kind und sein Körper in der Volksmedizin. Eine historisch-ethnographische Studie. Frankfurt a.M. 1991, S. 61f.; Nachlass Angelika Merkelbach-Pinck: Manuskripte und Handschriften zu Brauchtum, Geburt, Taufe, Kindbett und Aussegnung in Lothringen, Mitte 19./Beginn 20. Jahrhundert, Universität Göttingen, Volkskundliches Institut, o. Nr. 11 Vgl. Labouvie, Andere Umstände, S. 67-77; Nachlass Merckelbach-Pinck, o. Nr.; George L’hôte: Vie quotidienne. In: Christine Bonneton (Hg.): Lorraine. Cadre naturel – Histoire – Art – Littérature – Langue – Economie – Traditions populaires. Nancy 1980, S. 105-151. 12 Vgl. LHA (Landeshauptarchiv) Koblenz, Best. 1c, Nr. 11335, Kirchenvisitation Archidiakonat Tholey, Landkapitel Merzig, Wadrill, Remich, 1631, fol. 1355;
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Abbildung 2: Kreuzchen an der Kapelle am Heiligenborn im Saarland; die Quelle wird bis heute von Frauen vor und nach einer Geburt aufgesucht, ihr Wasser soll auch gegen Unfruchtbarkeit helfen
Foto: Eva Labouvie.
G EBURTSMAGIE Volksmagische Praktiken um die Geburt wurden meist als Gemeinschaftsrituale von Hebammen und helfenden Frauen durchgeführt.13 Dabei galt der Abwehr von Krankheitsdämonen, Hexen, Zauberern, Widergängern und Unholden ein eigenes Repertoire an Schutz- und Abwehrpraktiken. Ritualen, die der Krankheitsbekämpfung dienten, fehlte die bannende Komponente fast nie, selbst Rezepturen auf Kräuterbasis verzichteten selten auf einen »abergläubischen« Segen, ein Bestreichen oder Beblasen der kranken Körperstelle oder einen Abwehrspruch. Formen des Analogiezaubers und der sympathetischen Magie spielten eine ebenso große Rolle wie Bannzau-
ebd., Kirchenvisitation 1651, fol. 1410; BAT (Bistumsarchiv Trier), Abt. 40, Nr. 4k, Pfarrvisitationen 1631, fol. 144. 13 Vgl. Eva Labouvie: Art. Geburtsrituale. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4. Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 231-234.
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ber gegen Krankheitsverursachern – etwa das bei vielen Geburten gefürchtete »Herzgespenst«, eine Verengung des Brustkorbs, die zu Atemnot und Erstickungstod während der Geburt führen konnte und als eine Art Plagegeist personifiziert wurde. Zu seiner Abwehr wurde der mit einem Gleichnis aus dem Neuen Testament in Beziehung gesetzte Spruch: »Herzgeschbänn geh aus dieser Rippen, wie der Herr Jesus aus der Krippen + + +« gebraucht, oder aber die profane magische Abwehrformel: »Herzgespänn ich schmäre [schmiere] dich, du sollst weichen aus der Rippen!«14 Hebammen oder bei der Geburt anwesende Dorffrauen verwandten, nachdem sie über den Leib der Gebärenden gestrichen hatten, Spruchsequenzen mit der Dreifaltigkeitsformel wie den folgenden »Dreiblumensegen« aus einer pfälzischen Handschrift des 18. Jahrhunderts gegen das »Herzgeblüt«, starke Blutungen, die nach einer Niederkunft einsetzten und Lebensgefahr bedeuten konnten: »Es wachsen drei Lilien in deinem Herzen, die erste heißt Gott der Vater, die andere heißt Gott der Sohn, die dritte heißt Gottes Wille, ich sag dir Herzgeblüt, steh stille + + +«.15 Neben dem »Besprechen« eingetretener Erkrankungen oder Schädigungen existierten präventive Schutzmaßnahmen zumeist in Form substantieller Magiemittel: »So ein frau in Nöthen [Geburtswehen] ligt«, lautet die Anweisung für ein aus Einzelbuchstaben bestehendes Zettelamulett aus Hellenhausen/Rheinland-Pfalz, »nem sie den brief zu ihr, es hift gewis«.16 Zur Beschleunigung der Nachgeburt hängte man im Lothringischen getrocknete Kröten im Geburtszimmer auf, legte der Gebärenden Johanniszweige und geweihte Medaillons ins Bett, umschlang sie mit einem besonders gezeichneten Gürtel, dem Hochzeitsgürtel oder einem gesegneten Tuch und stellte die an Mariä Lichtmess geweihten Kerzen auf. Noch im 19. Jahrhundert war es hier üblich, vor einer Geburt ein weißes Kreuzzeichen an die Haustür zu malen, um Dämonen das Eindringen zu verwehren, einer
14 Zit.n. Fox, Saarländische Volkskunde, S. 298; die drei Kreuzzeichen am Ende vieler Sprüche bedeuten, dass nach dem »Besprechen« ein dreifaches Kreuzzeichen über die Erkrankten gemacht werden sollte. 15 Zit.n. Fritz Heeger: Pfälzer Volksheilkunde. Ein Beitrag zur Volkskunde der Westmark. Neustadt/Weinstraße 1936, S. 72. 16 Merkbuch des Johann Feld, Hellenhausen 1771-1775, handschriftlich, Privatbesitz; ähnlich ein Amulett zum Schutz gegen feindliche Mächte, das Heeger: Pfälzer Volksheilkunde, S. 72, erwähnt.
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Gebärenden Papierstreifen mit Bibelsprüchen oder magischen Formeln unterzulegen, ihr gesegnetes Eisenkraut ins Bett zu geben und dem Neugeborenen einen durchbohrten Zahn zum Schutz gegen übelwollende Mächte umzuhängen. Abbildung 3: Weißes Kreuz an einem Haus in der Vendée zur Abwehr von Dämonen
Foto: Hervé Filipettei, Janine Trotereau.
Eine mit der Schneide nach oben im Bett der Gebärenden befindliche Sichel oder Axt sollte im saarländischen Hochwald eine gute Geburt garantieren, einer zwischen Maria Himmelfahrt und Maria Geburt gefangenen und getrockneten Kröte sprach man in der Pfalz die Eigenschaft zu, das Gift aus Geschwülsten an sich binden zu können.17 Alternativ oder zusätzlich zum volksmagischen Repertoire, dessen Bannund Abwehrcharakter intensiv auf die Annahme einer Bedrohung durch übernatürliche Feinde und ein personifizierendes Krankheitsverständnis ver-
17 Vgl. Labouvie, Andere Umstände, S. 114f., S. 127; Loux, Das Kind, S. 87f.; Nachlass Merkelbach-Pinck, Das Kind im Brauchtum in Deutschlothringen, Manuskript o. S.; Fritz Heeger: Merkwürdiges aus der Säuglingsbehandlung des pfälzischen Volkes. In: Blätter zur bayerischen Volkskunde und Mundartforschung 11 (1927), S. 55-67, hier S. 66; Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 14.
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weist18, griff die Landbevölkerung auch auf das Hilfsangebot der Kirchen zurück. Einer besonderen Beliebtheit erfreute sich das an Dreifaltigkeitssonntag, Dreikönigs- oder Sankt Hubertustag, am Sonntag nach Fronfasten oder in den Quartembertagen gesegnete Salz19, das aus volksreligiöser Sicht zusammen mit geweihtem Brot zu den der Zersetzung entgegenwirkenden, lebenserhaltenden Substanzen gehörte und deshalb vor allem vom Teufel, von Hexen und von Dämonen gemieden wurde.20 Diesem Salz, das in Verbindung mit dem Geburtsereignis eine rein magische Verwendung als materieller Kraftträger erfuhr, sprach man die Eigenschaft zu, Frühgeburten oder Abtreibungen zu verhindern21, das Austreten der Nachgeburt zu befördern und Mütter wie Kinder vor bösen Mächten zu schützen.22 Schwangeren und Wöchnerinnen würzte man mit geweihtem Salz ihre Speisen und die Kindbettsuppen, ließ sie einen Teil davon essen, den anderen hinter sich
18 Vgl. zum Krankheitsverständnis: Labouvie, Verbotene Künste, S. 95-110; Eva Labouvie: Individuelle Körper. Zur Selbstwahrnehmung »mit Haut und Haar« (1500-1750). In: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/Weimar/Wien 2001, S. 163-195; Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München/Zürich 1991; Christian Probst: Fahrende Heiler und Heilmittelhändler. Medizin von Marktplatz und Landstraße. Rosenheim 1993, S. 114-118; Rudolph Schenda: Der »gemeine Mann« und sein medikales Verhalten im 16. und 17. Jahrhundert. In: Pharmazie und der gemeine Mann. Hausarznei und Apotheke in deutschen Schriften der frühen Neuzeit, Ausstellung. Wolfenbüttel 1982, S. 9-20. 19 Zur Segnung von Wasser, Wein, Brot, Salz, Kräutern und Korn: BAT, Abt. 40, Nr. 109, fol. 18, 24, 28, 64, 103, 161, 177; ebd., Nr. 142, fol. 137, 177, 221, 237; ebd., Nr. 110, fol. 130, 152. 20 Vgl. Eva Labouvie: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 21993, S. 108-110. 21 Etwa: AHWS, Rep. VII, 110, Nr. 316, 1772. 22 Pfarrer Spangenberg von Zweibrücken berichtete 1723 an das Oberkonsistorium, es sei in der ganzen Gegend üblich, »aberglauben […] mit Salz und brod zu treiben«; AHWS, Rep. VI, Nr. 448, o. fol.
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werfen, oder füllte es mit weiteren heil- und schutzbringenden Substanzen in ein Säckchen, das als Abwehramulett diente.23 Abbildung 4: Eine Hexe braut aus der Leiche eines ungetauften Neugeborenen ihren Hexentrank, Titelbild zum Hexentraktat des Trierer Weihbischofs Petrus Binsfeld, Tractat von Bekanntnuß der Zauberer und Hexen, München 1591
Mit dem Ereignis der Geburt verbanden sich kollektive Handlungen, die der Konservierung der mit einem hohen symbolischen, magischen und heilenden Wert belegten stofflichen Substanzen des Geburtsvorganges dienten. Die Nabelschnur wurde in den saar-pfälzischen und lothringischen Gebieten getrocknet, in ein Säckchen genäht und dem Kind als Talisman umgehängt. Nachgeburt als bluthaltige Nahrung des Ungeborenen und Nabelschnur als Verbindung zwischen Mutter und Ungeborenem wurden entweder im Haus oder im Garten vergraben, denn wollte man Unglück vermeiden, musste man sie aufbewahren. Beide Substanzen würden ihre fruchtbringenden und nahrungsspendenden Funktionen auch außerhalb des weiblichen Leibes aufrechterhalten und sowohl die Fruchtbarkeit der Familie, das Gedeihen des Kindes wie der Pflanzen garantieren.
23 Vgl. Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 18f., S. 50; Walsheimer Handschrift 1793, S. 70f.; Gélis, Die Geburt, S. 296.
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Abbildung 5: Tontopf mit Deckel, 1650, das Gefäß diente zur Aufbewahrung und zum Vergraben der Nachgeburt und wurde im Keller eines Wohnhauses in Bönnigheim/ Rheinland-Pfalz neben weiteren 50 Töpfen, deren Datierung bis Ende des 19. Jh. reicht, gefunden
Foto: Museum im Steinhaus Bönnigheim.
Dabei scheint die ältere Form der Aufbewahrung im Haus oder Keller seit der Mitte des 17. Jahrhunderts einem Vergraben außerhalb des Hauses gewichen zu sein. Direkt nach der Niederkunft legten die Dorffrauen in der Pfalz die Plazenta in einen neuen Topf, den sie bis Sonnenuntergang im Haus bewahrten und danach unter einem fruchttragenden Baum vergruben. In den lothringischen Dörfern war man davon überzeugt, dass sich die Eigenschaften des Baumes, unter welchem Mutterkuchen und Nabelschnur vergraben wurden, auf die Charakterzüge und körperlichen Eigenschaften des Neugeborenen oder auf das Geschlecht nachfolgender Geschwister auswirken würden. Sollte das nächste Kind ein Mädchen sein, legte man Nach-
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geburt und Nabelschnur unter einen Apfelbaum, sollte es ein Junge werden, unter einen Birnbaum.24 Die symbolischen Funktionen und Kräfte dieser Substanzen machten sie denn auch zum Mittel gegen Leberflecken, Hautkrankheiten, Epilepsie, Unfruchtbarkeit, Probleme bei der Milchbildung und beim Stillen. Das Blut der Nachgeburt galt in Verbindung mit seiner ursprünglichen Funktion als lebenserhaltende Nahrung des Ungeborenen als Kraftspender, Frucht- und Glücksbringer.25 Besonders wirksam war seine lebenserhaltende Kraft bei Epilepsie: »Nimm vom Blut der Nachgeburt einer Frau und von eines Menschen Totenbeinen auf dem Kirchhof, dieses verpulvere, davon gib dem Patienten drei Messerspitzen voll ein«, so lautet die Anweisung aus einem pfälzischen Brauchbuch aus dem 18. Jahrhundert gegen die »fallende Sucht«.26 Gegen Sterilität, deren Ursache häufig im Einwirken von Hexen und Zauberern vermutet wurde, halfen die Einnahme von Plazentastücken und des Nabelschnurblutes.27 Regeln von Analogie und Sympathie, die eine Übertragbarkeit von Eigenschaften annahmen, lagen der Nutzung gerade der Plazenta als magisierendem Mittel auch außerhalb der Krankheitsmagie zugrunde. So grub Hans Wilhelm Becken aus St. Wendel im heutigen Saarland 1658 eine »Sprengwurzel«, mit welcher man zwecks Diebstahls Türen und Schlösser öffnen könne, »an St. Jacobß Nacht zwischen 11. und 12. uhren mit silber« aus und bewahrte sie zusammen mit einem Stück von der Nachgeburt einer Erstgebärenden auf.28 Ähnlich wie bei der »fallenden Sucht«, wo sie die geschwundenen Kräfte eines Menschen auffrischen sollte, war es hier ihre Aufgabe, die Wirksamkeit eines Magiemittels zu verstärken. Be-
24 Vgl. Labouvie, Andere Umstände, S. 126f., S. 202; Auguste Bitsch: Coutumes de naissance et de baptême, autrefois dans le Sundgau. In: Annuaire de la Société d’histoire sundgauvienne (1990), S. 33-51, hier S. 39f.; André Jeanmaire: Superstitions populaires dans la Lorraine d’autrefois. Sarreguemines 1985, S. 100, S. 205. 25 Vgl. Gélis, Die Geburt, S. 253-262; Loux, Das Kind, S. 115f.; Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 116f. 26 Zit.n. Labouvie, Verbotene Künste, S. 107. 27 Vgl. Labouvie, Andere Umstände, S. 202; Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 16, S. 69, S. 73, S. 116f., S. 120f.; ders.: Frauenrechtliches im fränkischen Brauchtum. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 20 (1963), S. 133-143; Jeanmaire, Superstitions, S. 174. 28 STA (Stadtarchiv) St. Wendel, Best. A 57, fol. 302-309.
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zeichnenderweise sollte die mit der Geburt aus ihrer Gefangenschaft im Mutterleib befreite Nachgeburt eine magische Öffnung verschlossener Räume befördern können. Umgekehrt bildeten auch das Neugeborene, seine Körperteile, sein Blut und die Glückshaube Substanzen zur Bereitung von magischen Präparaten. Eine Vermittlerperson für derartige Stoffe war die Hebamme, ein Blick in die Medikamententaxe etwa der nassau-saarbrückischen Medizinalordnung von 1743 verrät allerdings, dass man auch in den Apotheken der Grafschaft ohne weiteres »präparierte Nachgeburten«, gebrannte oder gedörrte Kröten, Menschenhirnschale, »wilde Schweinszähn«, gebrannte Igel, präparierte Wolfsleber, Adler-, Blut- und Magnetsteine oder pulverisierte Regenwürmer erstehen konnte.29 Leichenteile Neugeborener sind im Bereich der schwarzen Magie als Ingredienzien der Hexentränke und Zaubersalben bekannt, dienten aber auch der Geisterbannung, dem sich unsichtbar oder hieb- und stichfest machen oder der Rückverwandlung vom Werwolf zum Menschen.30 In der weißen, heilenden Magie sollte das Bestreichen eines Leberflecks oder Muttermals mit der Hand eines verstorbenen Neugeborenen deren Verschwinden bewirken.31 Schon das in den Eihäuten geborene Kind galt als Glückskind, seine »Glückshaube« erfuhr vielfache Verwendung als Amulett, wie auch der im Trierer Raum tätige Volksprediger Nikolaus Cusanus bestätigt: Den Brauch, »das Heublein, damit ein Kind geboren, als ein Glückszeichen« für das Neugeborene aufzubewahren, zählt der Jesuitenpater zu den regional geläufigsten abergläubischen Praktiken um Geburten.32 Ebenso wie die Nabelschnur wurde die Glückshaube in den saar-pfälzischen und lothringischen Gebieten getrocknet, in ein Säckchen genäht und dem Kind
29 AeK (Archiv der evang. Kirchengemeinde) Ottweiler, Nr. 00/1, fol. 37, 45, 53, 58, 61, 71. 30 Vgl. Labouvie, Zauberei, S. 112f. 31 Vgl. Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 118; Françoise Loux: Frauen, Männer und Tod in den Ritualen um die Geburt. In: Jürgen Schlumbohm/Barbara Duden/Jaques Gélis u.a. (Hg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. München 1998, S. 50-65, hier S. 55-59. 32 Zit.n. Nikolaus Kyll: Die »Christliche Zuchtschul« des Nikolaus Cusanus S. J. als volkskundliche Quelle des westtrierischen Raumes. In: Rheinische Vierteljahresblätter 29 (1964), S. 223-293, hier S. 229.
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als Talisman umgehängt.33 Nach einer Lettweiler Handschrift sollte ein pulverisiertes Stück von einer Glückshaube, vermischt mit dem verbrannten Teil eines Männerhemdes und dem Rost eines auf dem Friedhof gefundenen Totennagels gleichwohl ein bewährtes Fiebermittel abgeben.34
K INDBETT Die Zeit des Wochenbettes als die Endphase eines mit dem Bemerken der Schwangerschaft beginnenden langen Übergangs beinhaltete die physische und soziale Rückkehr einer verheirateten Frau als einer vollwertigen Frau und Mutter in die Gemeinschaft, die spätestens sechs Wochen nach ihrer Niederkunft abgeschlossen war. Da es dabei sowohl um eine Reintegration in Familie, Dorfgesellschaft und religiöse Gemeinschaft als auch um eine Integration in die Gruppe der verheirateten Mütter ging, spielten wie während der Schwangerschaft auch in der Zeit des Wochenbettes Vorkehrungen, Anweisungen und Riten der Trennung als auch der Angliederung eine entscheidende Rolle. Nach kirchlichen Bestimmungen sollte jede Frau, die geboren hatte und daher unrein war, zwischen vier bis sechs Wochen im Kindbett bleiben, sich also einer sozialen und räumlichen Isolation unterziehen, die das Haus zum einzig erlaubten Aufenthaltsort deklarierte, und sich danach vom Geistlichen aussegnen lassen.35 Ihre Person, ihre Verhaltens- und Handlungsweisen unterlagen auch jetzt wieder besonderen Gefah-
33 Vgl. Labouvie, Andere Umstände, S. 203; Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 73, S. 116; Jeanmaire, Superstitions, S. 174. 34 Vgl. Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 35. 35 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. Frankfurt a.M./New York 1986, S. 50-55; Labouvie, Andere Umstände, S. 198-217; Labouvie, Weibliche Festkultur, S. 14-16; Nikolaus Kyll: Das Kind in Glaube und Brauch des Trierer Landes. Trier 1957, S. 19; Friedrich von Zglinicki: Geburt und Kindbett im Spiegel der Kunst und Geschichte. Aachen 1990; Andrea Reichart: Wochenbett und Kindtaufe. Die Privatisierung des Alltags in den Satzungen der spätmittelalterlichen Stadt Essen. In: Bea Lundt (Hg.): Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen, 800-1800. Köln/Weimar/ Wien 1992, S. 131-173.
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renzonen und Einflüssen, galten umgekehrt als Träger, Überträger oder Auslöser spezieller Kräfte und Wirkungsweisen. In den Pfalzdörfern brachte man der Wöchnerin so wenig wie möglich in die Stube, weil es hieß, die Hexen und Druden würden mit hineinkommen. Kalkkreuze, in die Tür gesteckte Messer, unter der Türschwelle vergrabene geweihte Medaillons, Weihwasser oder umgedrehte Brotlaibe schützten vor dem Einfluss böser Mächte, vor allem am neunten und letzten Tag des Wochenbettes und nach dem Läuten der Nachtglocke, Zeiten, die als die gefährlichsten galten.36 So sehr viele dieser Anweisungen dem Schutz der jungen Mutter dienten, lag ihnen doch ebenso der Gedanke eines Schutzes der Außenwelt vor ihren unheilvollen Kräften zugrunde. Denn für die Wöchnerin galten sowohl im Haus wie außerhalb »Sperrbezirke«, Bereiche, mit denen ihr Körper nicht in Berührung kommen sollte.37 Wäsche zu waschen, das Spinnrad anzufassen, in den Stall, den Keller oder in die Scheune zu gehen war ihr ebenso wenig gestattet, wie jegliche Arbeit, außer für sich selbst und das Kind. Hinter diesen Verboten eine »Schonzeit« für die Mütter zu vermuten, wäre unzutreffend, denn andere Beweggründe erforderten ihren Ausschluss: Ihre Berührungen ließen beabsichtigte Tätigkeiten missraten, verdarben eingekochte, gesäuerte und konservierte Lebensmittel, schädigten das Vieh im Stall und die Ernte in der Scheune. Und kein Gegenstand aus dem Haus einer Kindbetterin sollte das Haus verlassen, wollte man Unheil bei anderen vermeiden. Wagte sich die nicht ausgesegnete Kindbetterin »vnder dem Tach herauß«38, verließ sie also den geschützten Hausbereich und wollte am Brunnen Wasser schöpfen, sollte das Wasser Würmer und sie selbst die Krätze bekommen oder der Brunnen versiegen; ging sie über Felder oder Äcker, so glaubte man in der Pfalz, der Hagel würde das Land verwüsten; in Lothringen verband man mit ihrem frühzeitigen Ausgang über bebautes Land Unfruchtbarkeit und Unglück. Schritt sie über das Grab einer Wöchnerin, löste sie an ihrem eigenen Körper einen unstillbaren Blutfluss
36 Vgl. Kyll, Zuchtschul, S. 260; Nachlass Merkelbach-Pinck: Geburt, Manuskript o. S.; Gerda Grober-Glück: Volksvorstellungen über die Wöchnerin. In: Matthias Zehnder (Hg.): Atlas der deutschen Volkskunde NF, Bd. 2. Marburg 1982, S. 457-521; W. van Engelenburg: Beschützung der Wöchnerinnen im vorigen Jahrhundert. In: Janus 8 (1903), S. 436-438. 37 Cusanus: Christliche Zuchtschul, 436,71, zit.n. Kyll, Zuchtschul, S. 231. 38 Cusanus, Christliche Zuchtschul, 92,12, zit.n. ebd.
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aus, übernahm sie ein Patenamt, schädigte sie damit den Täufling. Selbst die das Haus zur Aussegnung verlassende Wöchnerin machte nach Auskunft des Volkspredigers Cusanus im Kurfürstentum Trier während des 17. Jahrhunderts »im außgehen/ein Creutz mit dem lincken Fuß/vber die Schwell«, eine Geste, die durch die bannende Kraft der linken Seite und die Bekreuzigung der schützenden Grenzstelle zur Außenwelt einen unbeschadeten ersten Kirchgang gewährleisten sollte.39 Mit dem Verständnis der Kindbettzeit als einer Phase des doppelten Schutzes – einmal der Wöchnerin selbst und zum anderen vor ihr – verband sich eine soziale Ausgrenzung und Sonderbehandlung ihrer Person. Der den Kindbetterinnen abverlangte räumliche und soziale Rückzug, die Ausnahmesituation der mehrwöchigen Bindung ans Haus, der Übergabe eigener Zuständigkeits- und Arbeitsbereiche an andere Frauen und des fehlenden persönlichen Einbezugs in Geschehnisse außerhalb des Hauses belasteten Wöchnerinnen in sehr unterschiedlichem Maße. So schien die Phase des Kindbettes eher eine Zeit der Beunruhigung, der Ängste und Zweifel für die Mütter, die sowohl aus volksmagischen Vorstellungen vom Einwirken dunkler Mächte als auch aus der Furcht, Grenzen zu überschreiten oder Erwartungen zu widersprechen, resultierten. Untätigkeit, Abschirmung von der Außenwelt, Abstinenz und gesteigerte Sensibilität schienen vor allem Angst- und Lustfantasien zu begünstigen, die in symbolischen Bildern auf Vorstellungen von der Schutz- und Wehrlosigkeit, der Angreifbarkeit und einer besonderen Affinität der Kindbetterin zu jenseitigen Mächten rekurrierten. In nicht wenigen Hexenprozessprotokollen schildern gerade Kindbetterinnen den Angriff des Teufels oder Ausfahrten mit dem Teufelsbuhlen auf Hexentanzplätze, wo man all das tat, was ihnen während der kargen Zeit des
39 Zit.n. Kyll, Zuchtschul, S. 259f.; vgl. Nachlass Merkelbach-Pinck: Geburt, Manuskript o. S.; Walter Brückner: Altes Brauchtum um Geburt und Taufe im Holzland. In: Heimatkalender. Das Pirmasenser Land (1979), S. 154-158, hier S. 158; Loux, Das Kind, S. 121; Robert Müllerheim: Zur Kulturgeschichte der Wochenstube vergangener Jahrhunderte. In: Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie 7 (1903), S. 466-476; Quellensammlung des Historischen Vereins für die Saargegend, Stadtbibliothek Saarbrücken H.V.70.171, Nachlass Fürst, Verzeichnis der Taufpaten aus den Taufregistern1623-1654, etwa Nr. 878, 1642: »weil sie Kindbetterin war, stand für sie […]«.
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Wochenbettes verboten war.40 Junge Mütter fürchteten insbesondere den Milchzauber durch Hexen, der ihnen die Muttermilch entzog und damit das Stillen des Neugeborenen verhinderte. Er konnte aufgrund der Berührung, des bloßen Ansehens oder Anblasens der Brüste durch eine der Hexerei verdächtigte Frau verursacht werden. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass Hexen zur eigenen Nahrung die Milch von Tieren oder Frauen benötigten und sie sich durch Zauberei verschafften, was freilich für das Neugeborene den Nahrungsentzug und seinen Tod bedeutete. Vermuteten die Dörflerinnen Milchzauber durch Hexen oder das im Lothringischen mehr noch gefürchtete »Druckmännel«, schütteten sie die verhexte Muttermilch auf den Ofen oder ins Feuer und hackten mit Sicheln oder Messern darauf ein.41 Im Kindbett zu Tode gekommene Mütter waren besondere Verstorbene, was sich im Umgang mit ihrer Grabstätte manifestierte, an die sich spezielle Imaginationen und Rituale knüpften.42 Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert war es weder durch kirchliche noch gerichtliche Strafen zu verhindern, dass in den protestantischen Gebieten die Gräber von Wöchnerinnen mit weißen Laken bedeckt, in den katholischen Regionen mit kleinen Kreuzen aus Ästen oder mit Garn umrandet wurden, um sie für alle kenntlich zu machen. Keine Schwangere sollte ein solches Grab überschreiten, um nicht demsel-
40 ADMM (Archives départementales de Meurthe et Moselle) Nancy, Best. B 741, Nr. 27, o. fol., 1593; HSTA (Hauptstaatsarchiv) Wiesbaden, Abt. 369, Nr. 412, fol. 12; STA Trier, Best. 2180b/124, Bündel VIII, Sammlung Musiel (1588-1594), fol. 3-6. 41 ADMM Nancy, Best. B, Nr. 9221, 1598; ebd., Best. B 741, Nr. 27, 1593; ebd., 1593. 42 Vgl. Eva Labouvie: Geburt und Tod in der Frühen Neuzeit. Letzter Dienst und der Umgang mit besonderen Verstorbenen. In: Jürgen Schlumbohm/Barbara Duden/Jacques Gélis [u.a.] (Hg.): Rituale der Geburt, S. 289-307; Labouvie, Andere Umstände, S. 158-197; Max Hippe: Die Gräber der Wöchnerinnen. In: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 7 (1905) 13, S. 101-105; Hugo Hebding: Das Begräbnis der Wöchnerin. In: Volkskundliche Beiträge. FS für Richard Wossidlo. Neumünster 1939, S. 151-165, hier S. 159-161; David Cressy: Birth, Marriage and Death. Ritual, Religion and the Life-Cycle in Tudor and Stuart England. Oxford 1999; Christoph Mörgeli/Uli Wunderlich: »Über dem Grabe geboren«. Kindsnöte in Medizin und Kunst, Begleitband zur Ausstellung. Bern 2002.
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ben Unglück anheimzufallen.43 Da Kreuze in der volksreligiös geprägten Magie eine bannende Funktion erfüllten, spielte möglicherweise bei der Umrandung der Begräbnisplätze mit Kreuzen auch der Widergängerglaube, der die verstorbene Mutter nachts an die Wiege ihres Kindes zurückkehren ließ, eine Rolle.44 Tabuisierung und Ritualisierung der bei der Geburt oder im Kindbett verstorbenen Frauen deuten darauf hin, dass sie ebenso wie die während einer Schwangerschaft gestorbenen Frauen zu jener Gruppe von besonderen Toten gehörten, die auf ausgesprochen tragische Art und durch Unglück einen frühzeitigen, unnatürlichen Tod erlitten hatten. Deren Grabstätten waren ebenso wie die der verstorbenen Wöchnerinnen mit besonderen Tabus belegt; ein Kontakt mit ihnen konnte nach dem volksmagischen Verständnis des Analogiezaubers jenes Unglück aktivieren, das den Toten selbst widerfahren war. Die »Weiber, so im Kinder gebären/vnd Kindbett sterben«, so beschreibt es Nicolaus Cusanus für das 16. und beginnende 17. Jahrhundert, könnten »die Himmliche Frewd allein hören/aber nit geniessen«.45 Erst nach vier bis sechs Wochen, so nahm man in Analogie zur Dauer des Kindbetts der Lebenden an, ging von ihren Gräbern kein Unheil mehr aus, kehrten sie nicht mehr als Widergängerinnen zurück, waren ihre Sünden im Fegefeuer abgebüßt.
43 Vgl. Labouvie, Andere Umstände, S. 193-197; AHWS, Rep. II, Nr. 230, fol. 16, 1671; ebd., Nr. 214, fol. 21, 1671. 44 Vgl. Franz Neiske: Vision und Totengedenken. In: Frühmittelalterliche Studien 20 (1986), S. 137-185; Daniel Fabre: Le retour des morts. In: Etudes Rurales (1987), S. 9-35; Jean-Claude Schmitt: Bilder als Erinnerung und Vorstellung. Die Erscheinung der Toten im Mittelalter. In: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag 1 (1993) 3, S. 347-358. 45 Zit.n. Kyll, Zuchtschul, S. 232; vgl. auch Grober-Glück: Volksvorstellungen über die Wöchnerin. In: Matthias Zender (Hg.): Atlas der deutschen Volkskunde NF, Bd. 2. Marburg 1982, S. 457-521.
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Abbildung 6: Gebärband (12 cm breit, 80 cm lang) mit dem Heiligen Ursus und abwehrkräftigen Vogelmotiven, Steiermark, Österreich, Ende 18. Jahrhundert
Foto: Helmut Nemec.
N EUGEBORENE Die nach der Niederkunft von den Helferinnen praktizierten rituellen Handlungen dienten auch dem Schutz des neugeborenen Kindes vor bösen Mächten. Zwar kannte man im 16. Jahrhundert und der späteren Zeit kaum mehr komplexe Zeremonien ähnlich denen, die Jean-Claude Schmitt für den Austausch von Wechselbälgen für das 13. Jahrhundert aus der Nähe von Lyon schildert,46 wohl aber war die Vorstellung des von Dämonen oder Hexen nach der Geburt vertauschten Kindes und der Glaube, das eigene Kind durch magische Praktiken zurückgewinnen zu können, noch bis ins 18. Jahrhundert lebendig. In der Kuseler Gegend wurden schwächliche Kinder, die man für vertauschte Dämonenkinder hielt, ganz wie es Schmitt für die älteren
46 Vgl. Jean-Claude Schmitt: Der heilige Windhund. Die Geschichte eines unheiligen Kults. Stuttgart 1982, S. 96-116.
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Kulthandlungen beschreibt, mit Öl eingerieben, unter den Armen gegriffen und von der Mitte des Raumes aus in alle vier Ecken »geschlenckert«. Im Lothringischen legte man, um einen solchen Austausch zu verhindern oder ihn rückgängig zu machen, dem Neugeborenen gesegnete Kräutersträuße und Palmen unter das Kopfkissen, band ihm ein gesegnetes Medaillon oder einen Wolfszahn um, untersuchte Federbett und Kissen auf Hexenzeichen, etwa ineinander verflochtene Federkiele. Abwechselnd wachten die Frauen in den ersten Nächten nach der Geburt bei brennender Kerze über seiner Wiege, sprachen magische Sprüche und führten Rituale sowohl gegen das Auswechseln als auch gegen das gefürchtete »Erdmännchen« durch, das dem Kind des nachts an der Brust saugte. Gegen das »Berufen« oder »Beschreien«, eine Form des rückwärts gekehrten Schadenzaubers,47 hängte man im pfälzischen Großbundenbach dem Neugeborenen ein Säckchen mit abwehrkräftigen Substanzen um und sprach dazu eine magische Abwehrformel.48 In Dierbach in der Pfalz tat man an drei folgenden Morgen mit der Zunge ein Kreuzzeichen auf die Stirn des Neugeborenen und setzte in einer Spruchformel den drei falschen Zungen, die das Kind beschrien hatten, drei gute Zungen entgegen, die ihm sein Blut und Fleisch zurückgeben würden.49 Ebenso wenig wie man vor der Taufe den späteren Taufnamen des Kindes nennen durfte, um es nicht bösen Geistern und Hexen auszuliefern50,
47 Vgl. Nachlass Merkelbach-Pinck: Kurze Berichterstattung der Hebamme Adam aus Hambach bei Sarreguemines über ihre Tätigkeit als Geburtshelferin um die Mitte des 19. Jahrhunderts; ebd., Das Kind, Manuskript o. S.; Gélis, Die Geburt, S. 116-126, S. 293-296; Eva Labouvie: Verwünschen und Verfluchen. Formen der verbalen Konfliktregelung in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 15 (1993), S. 121-145, hier S. 127-129. 48 So etwa in einer Handschrift von Walsheim, um 1793; ähnliche Sprüche finden sich in einer Dierbacher Handschrift um 1791 und im Wanderbuch des Wiebelskicher Schmiedegesellen Lemmes von 1834, alle handschriftlich und in Privatbesitz. 49 Zit.n. einer Handschrift um 1800 bei Heeger, Pfälzer Volksheilkunde, S. 78. 50 Im Saarländischen, Trierischen und Pfälzischen lauteten die Zwischennamen »Pannestielche« oder »Panestiatzjen« (Bachstelze) für Jungen und »Rosenstielche« oder »Bohnenblättchen« für Mädchen; vgl. Kyll, Das Kind, S. 12; Richard
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sollte das Neugeborene vor dem Gang zur Taufe das Haus verlassen. Neugeborene erhielten Salzkörner auf die Zunge oder wurden in Salzwasser gebadet, um sie vor dem »Beschreien«, vor dem »bösen Blick« und vor Verhexungen zu schützen. Hebammen verwandten auch das Taufwasser, auf das sie als ständige Begleiterinnen von Taufen gute Zugriffsmöglichkeiten hatten, zum Schutz der Kinder. Zwar verboten Kirchenordnungen und Visitationsprotokolle immer wieder dessen Missbrauch, wie etwa die reformierte Kirchenordnung des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken von 1679: »Nachdeme auch offtmals abergläubische Leute, das taufwasser zu haben begehren, so sollen Pfarrer ihnen solches rund abschlagen.«51 Dennoch hatte noch 1723 die lutherische Hebamme von Zweibrücken vom Glöckner das bei einer Taufe gebrauchte Wasser begehrt, »um dasselbe wo nicht zu Hex- und teuffelsbannerey, doch wenigstens zu einem solchen aberglauben anzuwenden, wodurch dem teuffel gedienet wird«. Bei der späteren Vernehmung der Hebamme, die, wie sich herausstellte, nicht die einzige Geburtshelferin war, die derartige »bey dem gemeinen und unwissenden volck im schwange gehende aberglaubische dinge« verwandte, stellte sich heraus, dass die Frau das geweihte Wasser erbeten hatte, »umb an einem knaben eine Cur zuthun« und weil sie glaubte, dass »im taufwasser eine verborgene krafft seye«. 52 Gleiches wurde von Heilquellen und -brunnen angenommen. Ihr Wasser heilte Kinderkrankheiten, verhalf zu guter, ungiftiger Muttermilch und schützte vor bösen Mächten. Nach Gebrauch oder Schöpfen des Quellwassers hinterließen die Pilgerinnen Windeln, Häubchen oder Jäckchen der Kinder, oft gefüllt mit Opfergaben aus Getreide, oder man wusch die Kleider der Neugeborenen im Wasser, um sie ihnen zur Abwehr unheilvoller Einflusse anzuziehen.53 Im lothringischen Dorf Gremecey befand sich noch
Laufner: Zur Entstehung der Personen- und Familiennamen im Trierer Land. In: Trierisches Jahrbuch (1950), S. 49-53; Fritz Beyschlag: Pfannenstielchen und Bohnenblättchen. In: Pfälzisches Museum 39 (1922) 5/6, S. 150f. 51 AHWS, Rep. VI, Nr. 1075, o. fol., Kapitel 5: Von Verrichtung der heiligen Sacramenten, Abschrift 1768; vgl. auch BAT, Abt. 40, Nr. 142, fol. 237; ebd., Nr. 109, fol. 18, 24, 161. 52 AHWS, Rep. VI, Nr. 448, o. fol. 53 Vgl. Gabriele Oberhauser: Wallfahrten und Kultstätten im Saarland. Von der Quellenverehrung zur Marienerscheinung. Saarbrücken 1992, S. 16-19, S. 24-26; Fritz Beyschlag: Volksglaube und -brauch im Herzogtum Zweibrücken. In: Blät-
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1709 auf dem Friedhof eine heilige Quelle, »ou les bonnes femmes viennent plonger les enfans«, eine skandalöse Versündigung »superstitieusement«, die der Pastor sofort unterbinden wollte.54 Die im Gegensatz zu den Verordnungen und Anweisungen der Hebammen- oder Kirchenordnungen sowohl von »Hebemüttern« wie anderen Frauen betriebene volksmagische Praxis um das Geburtsereignis schien im ländlichen Bereich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unverzichtbar. Ihre Formenvielfalt und Handlungsbreite, die in diesem Beitrag nur in Ausschnitten vorgestellt werden konnte, resultierte einerseits aus einem Schutzbedürfnis dieser für Mütter und Kinder besonders gefahrvollen Phasen ihres Lebens, andererseits aus dem optimistischen Glauben an die Möglichkeit der magischen Gegenwehr gegen übernatürliche Einflüsse. Sprüche, Amulette oder Rezepturen, die für fast jeden erdenklichen Zwischenfall bei Gravidität, einer Entbindung oder für die Zeit des Kindbettes existierten und in ihrer Zahl nur noch von magischen Praktiken der Hexenabwehr übertroffen werden, verdeutlichen nicht nur ein besonders ausgeprägtes »Krisenbewusstsein« im Kontext von Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Un- und Neugeborenem, sondern auch den besonderen Stellenwert dieser Übergangsphasen im volksmagischen Denken. Da in ihnen menschliche Grunddispositionen kulminieren – Glück und Unglück, Freude und Leid, Leben und Tod, Schmerz und Erlösung, männlich und weiblich – können sie als Schlüsselfelder für die Untersuchung volksmagischer und »abergläubischer« Vorstellungen wie Praktiken gelten.
L ITERATUR Fritz Beyschlag: Volksglaube und -brauch im Herzogtum Zweibrücken. In: Blätter zur bayerischen Volkskunde 9 (1921), S. 1-24. Fritz Beyschlag: Pfannenstielchen und Bohnenblättchen. In: Pfälzisches Museum 39 (1922) 5/6, S. 150f.
ter zur bayerischen Volkskunde 9 (1921), S. 1-24, hier S. 9; François Hacquin: Les grandes et les petites heures de l’art des accouchements en Lorraine. In: Annales médicales de Nancy et de l’Est 18 (Dez. 1979) 15, S. 1369-1382, hier S. 1369, S. 1371f. 54 ADM (Archives départementales de la Moselle) Metz, Best. 29 J, Nr. 90, o. fol.
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Benediktus-Medaille, Benediktus-Kreuz und Benediktus-Segen Frömmigkeitsgeschichtliche und theologische Bemerkungen zum »Benediktinischen Kreuzamulett« J OHANN T OMASCHEK
V ORBEMERKUNG Es war ursprünglich meine Absicht, mich ausschließlich auf einige theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Implikationen der Benediktus-Medaille zu beschränken. Bei der Ausarbeitung des Referats für die Tagung schien es mir dann aber doch erforderlich (und nunmehr für die Leserinnen und Leser des vorliegenden Beitrags wohl auch von zusätzlichem Interesse) zu sein, das Augenmerk in verstärktem Maße auf ein unverkennbares Forschungsdefizit in Bezug auf die Umstände der Entstehung dieses Kreuzamuletts zu richten. Der inhaltliche Akzent meines Beitrags hat sich somit ein wenig in Richtung einer spezielleren historisch-kritischen Fragestellung verschoben, doch bewegt sich auch diese immer noch im Rahmen jener Themenstellung, wie sie in der Formulierung des Titels zum Ausdruck kommt.1
1
Es ist mir eine angenehme Pflicht, mich an dieser Stelle aufrichtig zu bedanken: Bei Frau Dr. Eva Kreissl für die freundliche Einladung, als »Nicht-Volkskundler« auf der Tagung ein Referat zu halten, und bei Herrn Dr. Michael Greger für so manches anregende Gespräch über superstitiöse Themen sowie für
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E IN K REUZAMULETT
MIT VIELEN
B UCHSTABEN
Die Benediktus-Medaille (in den älteren Publikationen auch »BenediktusPfennig« genannt) ist in kulturwissenschaftlichen Kreisen nicht unbekannt,2 wenngleich dazu in jüngerer Zeit – jedenfalls im deutschen Sprachraum – keine Publikationen von volkskundlicher Seite vorgelegt wurden.3 Es dürfte aber, vor dem näheren Eingehen auf die damit verbundenen historischen und theologischen Aspekte, von Nutzen sein, sich das Aussehen dieses Amuletts in seiner »gewöhnlichen« Ausführung zunächst einmal kurz in Erinnerung zu rufen, wobei wir uns auf die Vorderseite (den Avers) der Medaille beschränken können.4 In der Mitte dominiert im eingeschriebenen Oval ein Kreuz, dessen vier Balken sich nach außen hin verbreitern und in den Winkeln die vier Buchstaben C S P B (für »Crux Sancti Patris Benedicti«) einschließen. Das Kreuz selbst ist sowohl in senkrechter als auch in waagrechter Linie mit je fünf Buchstaben belegt. Deren Lesung beginnt oben mit den senkrechten Balken, also mit den Buchstaben C S S M L – das steht für »Crux Sacra Sit Mihi Lux« (Das heilige Kreuz sei mir das Licht); in den Querbalken stehen die
seine Informationen über die von ihm inventarisierten Benediktus-Medaillen in der volkskundlichen Sammlung des Stiftes St. Lambrecht. 2
Siehe dazu den informativen und in seinen wesentlichen Aussagen bis heute gültigen Artikel »Benediktussegen« von A. Jacoby. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. I. Berlin/Leipzig 1927, Sp. 1035-1040. – Vgl. weiterhin die kurz gefassten Ausführungen zum Stichwort »Benedikt«. In: Richard Beitl/Klaus Beitl (Bearb.): Wörterbuch zur deutschen Volkskunde. 3. Aufl. Stuttgart 1974, S. 74f.
3
In den einschlägigen Periodika ist im deutschen Sprachraum offenbar seit über 50 Jahren keine spezielle Publikation erschienen. Zuletzt befasste sich damit, ohne über den von Jakoby dargelegten Wissensstand hinauszugehen: Hans Niedermeier: Die Benediktus-Medaille. In: Bayerische Zeitschrift für Volkskunde 11 (1960), S. 73-81. Monografische Darstellungen (durchwegs in Form von Broschüren, wie die in der folgenden Anmerkung genannte, die 46 Seiten umfasst) gibt es zum Thema bisher lediglich von kirchlicher Seite.
4
Siehe dazu (außer den einschlägigen Artikeln in den Fachlexika) die detaillierte Erläuterung in: Beda Danzer: Die Benediktus-Medaille. Ihre Geschichte und Wirkungen. St. Ottilien 1928, S. 16-20.
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Buchstaben N D S M D für den Satz »Non Draco Sit Mihi Dux« (Nicht sei der Drache mir der Führer); das »S« für das sowohl im waagrechten als auch im senkrechten Text enthaltene »Sit« steht am Kreuzungspunkt der beiden Buchstabenreihen und kommt somit nur einmal vor. Beim Lesen der beiden Satzteile wird deutlich, dass sie zusammen einen klassisch gebauten leoninischen Pentameter5 ergeben – die zweite Hälfte des Verses reimt sich in bester poetischer Manier auf die erste. Ein ähnliches Phänomen können wir auch an der Umschrift links und rechts vom inneren Oval feststellen, wobei der Vollständigkeit halber noch darauf hingewiesen sei, dass diese beiden Reihen von je sieben Buchstaben oben durch das bekannte Jesus-Monogramm I H S (eigentlich I E S6) getrennt werden. Die Lesung beginnt rechts oben und lautet V R S N S M V; dahinter verbirgt sich der Satz »Váde Retró Satána Numquám Suadé Mihi Vána« (Weiche zurück, Satan; niemals rede mir etwas Nichtiges ein). Hier handelt es sich wieder um einen leoninischen Vers, diesmal aber um einen Hexameter, der sich wegen seiner anders gearteten Struktur (und der hiermit verbundenen Betonungsregeln) nicht ganz so elegant anhört wie der Pentameter im Inneren des Kreuzes. Auf der linken Seite lesen wir, unten
5
Unter einem Leoninischen Vers (»Versus Leoninus«) versteht man einen binnengereimten Hexameter oder Pentameter; beim ersteren (der keine strukturelle Zäsur aufweist) kommt der Reim nicht so organisch zur Geltung wie bei zweiterem, der von sich bereits aus zwei Halbversen besteht. Ob die Bezeichnung »leoninisch« von Papst Leo I. oder einem namensgleichen mittelalterlichen Dichter abgeleitet ist, scheint noch kontrovers zu sein. Siehe dazu den Artikel »Leoninischer Vers« von Trude Ehlert und Renate Vogeler. In: Peter Dinzelbacher (Hg.): Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart 1992, S. 478f.
6
Es handelt sich hier um die ersten drei Buchstaben der griechischen Schreibweise des Namens »Jesus«. Das vermeintliche H ist in Wirklichkeit ein E. Diese Form der Abkürzung hat im Laufe der Zeit zu mancherlei lateinischen Fehldeutungen geführt, so etwa »In hoc signo« (»In diesem Zeichen«), »Iesus hominum salvator« (»Jesus, Erlöser der Menschen«) wie auch zu der im deutschen Sprachraum volkstümlich gewordenen Lesung »Jesus, Heiland, Seligmacher«. Zur Entwicklung des Monogramms und weiteren Deutungen siehe: Dorothea Forstner: Die Welt der christlichen Symbole. 3. Aufl. Innsbruck 1977, S. 40.
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beginnend: S M Q L I V B – das steht für »Súnt Mala Quae Libás, Ipse7 Venéna Bibás« (Böse ist das, was du anbietest; mögest du die Gifte selber trinken). Der lateinische Wortlaut ergibt wieder einen formvollendeten leoninischen Pentameter, und der Reim kommt auch diesmal (durch die erforderliche Betonung der Endsilben »-as«) sehr gut zur Geltung. Abbildung 1: Die Benediktus-Medaille in der »gewöhnlichen« Ausführung, Laurenz Hecht, Medaille oder Kreuz des heiligen Benedikt, Vorsatzblatt
D IE
SPÄTMITTELALTERLICHE
T EXTVORLAGE
An dieser Stelle darf ich ganz kurz auf einen späteren Abschnitt8 meiner Ausführungen vorgreifen und schon jetzt darauf hinweisen, dass sich die Benediktus-Medaille in dieser uns geläufigen Form (als Verbindung der drei genannten Verse mit dem Kreuz auf einer Medaille) erst seit den 1660er
7
In der spätmittelalterlichen Textvorlage (siehe dazu den nächsten Abschnitt) steht nicht das Maskulinum »ipse«, sondern das Femininum »ipsa«, weil die dämonische Gestalt als Personifikation des Bösen, an die sich die Worte des heiligen Mönches richten, als weibliches Wesen dargestellt ist.
8
Siehe unten den dritten und vierten Abschnitt der vorliegenden Ausführungen.
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Jahren nachweisen lässt. Der »Pfennig« als solcher begegnet uns jedenfalls nicht vor der Mitte des 17. Jahrhunderts – doch wie verhält es sich mit dem lateinischen Text, der in abgekürzter Form auf dem Avers der Medaille zu finden ist? Die Spur der drei leoninischen Verse lässt sich tatsächlich in eine noch viel frühere Zeit zurückverfolgen und führt zu einem Bild in einer Pergament-Handschrift, die 1414 im niederbayerischen Benediktiner-Kloster Metten9 entstanden ist und sich nun in der Staatsbibliothek in München befindet.10 Auf der unteren Hälfte einer insgesamt vierteiligen Bildseite ist links ein mit einem Nimbus versehener Mönch (also offenbar ein Heiliger) zu sehen, der in der rechten Hand einen Kreuzstab trägt und mit der Linken
9
Zur ersten Information über dieses im Landkreis Deggendorf an der Donau liegende Ordenshaus ist immer noch heranzuziehen: Josef Hemmerle: Die Benediktinerklöster in Bayern (Germania Benedictina II). Augsburg/Ottobeuren/ München 1970, S. 143-148. Dort findet sich zwar (S. 143), Bezug nehmend auf den Anschluss des Klosters an die Melker Reform im frühen 15. Jahrhundert, ein allgemein formulierter Hinweis auf die »erhaltenen kunstvollen Handschriften« als Zeugen der »blühenden Buchmalerei dieser Mönche«, nicht aber auf den für die Entstehung der Benediktus-Medaille bedeutsamen Kodex.
10 Es handelt sich um clm 8201 (Metten 1) der Bayerischen Staatsbibliothek; die beschriebene Darstellung ist auf Blatt 95r zu finden. Eine sehr knapp gehaltene Beschreibung der Handschrift bietet: Carolus Halm/Gulielmus Meyer: Catalogus codicum latinorum Bibliothecae regiae Monacensis. Tomi II Pars I. Wiesbaden 1968, S. 7. – Von der Existenz einer handschriftlichen Vorlage für den Text der Medaille wusste man zwar schon im späten 19. Jahrhundert (so etwa Paul Piolin in einer französischen Abhandlung von 1880) und hat sie auch mit dem Kloster Metten verbunden; man sprach damals aber nur von einem Buch, »worin die Erklärung der Buchstaben gegeben war«. Über den (mit legendarischen Motiven noch weiter bis ins 11. Jahrhundert zurückgeführten) Ursprung der Medaille siehe: Fidelis Busam: Die S. Benediktusmedaille. In: Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner und Zisterzienserorden 24 (1903), S. 82-92, hier S. 84. – Genaueres über die genannte Handschrift bietet erstmals: Henrik Cornell: Neue Forschungen zur Geschichte des St. Benediktuskreuzes. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 42 (1924), S. 1-9. Das Bildmotiv (»Aus der Mettener Bibel von 1414«) ist dort als Fig. 1 wiedergegeben.
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ein Schriftband hält. Auf dem Schaft des Kreuzes (nicht aber auf dem Kreuz selbst) ist der erste der drei Medaillen-Verse zu lesen, also »Crux sacra sit mihi lux, non draco sit mihi dux«; die beiden anderen Verse verlaufen parallel untereinander auf dem Schriftband. Abbildung 2: Federzeichnung von 1414
Bayerische Staatsbibliothek München.
Dem Mönch gegenüber steht eine von ihrem Aussehen her als diabolisches Wesen zu deutende Frauengestalt, die an verschiedenen Stellen ihres Körpers die lateinischen Bezeichnungen für die sieben Hauptsünden trägt: An der Stirn »superbia« (Hochmut), am Hals »luxuria« (Unkeuschheit) und an dem Gefäß in ihrer rechten Hand »gula« (Unmäßigkeit); am linken Unterarm ist »acidia« (Trägheit) zu lesen, an den beiden aus dem Gürtel heraus blickenden Tierköpfen steht »ira« (Zorn) und »avidia« (Neid), und am Gürtel selbst ist die noch ausständige siebente Hauptsünde »avaritia« (Geiz) zu finden. Von den beiden als Schlange und Vogelkralle ausgebildeten Beinen ist das linke mit »mors« (Tod), das rechte mit »vita« (Leben) beschriftet; wie man sieht, ist der Tod im Begriff, das Leben zu verschlingen.
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In der Kunstgeschichte ist dieses Bildmotiv als »Frau Welt« bekannt (früher sprach man vom »Sieben-Laster-Weib«)11, und es ist hier nicht erforderlich, auf die übrigen ikonografischen Besonderheiten dieser Darstellung einzugehen – ebenso wenig wie auf bestimmte Text- und Bildvorlagen, die für meine weiteren Überlegungen nicht relevant sind. Die Aussage der ganzen zweiteiligen Szene ist eindeutig: Der Mönch (wegen des Nimbus darf man ihn wohl als den hl. Benedikt, den Ordens-Heiligen schlechthin, ansehen) tritt der personifizierten Versuchung zur Sünde entgegen; er sieht in ihr den Satan selbst und bedient sich des Kreuzes in Verbindung mit den drei Versen, um ihn abzuwehren und zurückzudrängen (oder, in liturgischer Sprache ausgedrückt: ihm zu widersagen). Was in dieser Darstellung an Bild und Text zu finden ist, trägt zwar allegorischen Charakter, hat aber mit irgendwelchen superstitiösen Vorstellungen ganz gewiss nichts zu tun: In dem heiligen Ordensmann tritt uns eindeutig als handelndes Subjekt ein Mensch entgegen, der sich mit dem dreimaligen »mihi« ausdrücklich auf eben diese Subjektivität bezieht und sich aktiv den Verführungen des Bösen (das in der Gestalt des Satans oder des »Drachen« an ihn herantritt) bewusst entgegenstellt; er handelt selbst mit Hilfe des Kreuzes (das er aber nicht als Waffe, sondern als sein Licht bezeichnet), und er lässt dieses nicht etwa als einen magisch wirkenden Gegenstand aus sich heraus handeln. Somit ist es auch zumindest fraglich, ob die drei leoninischen Verse12 nach ihrer aus dem Wortlaut ersichtlichen Intention tatsächlich als »Schutz und Abwehrgebet« zu verstehen sind.13
11 Siehe dazu den Artikel »Laster« von Michael Evans. In: Engelbert Kirschbaum (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Allgemeine Ikonographie/Dritter Band. Freiburg i.Br. 1971, Sp. 15-27; speziell zum »Lasterweib« und zur »Frau Welt« Sp. 23-26. 12 Jacoby, Benediktussegen, Sp. 1035, spricht nicht von drei Versen, sondern von einem »Doppelspruch«, da er sowohl das am Rand der Medaille umlaufende Distichon als auch den ins Kreuz eingeschriebenen Pentameter als zweizeiligen Spruch ansieht. 13 Diese Deutung gibt: Anselm Manser: Benediktus-Kreuz. In: Michael Buchberger (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2. Freiburg i.Br. 1931, Sp. 162f. (die zitierte Stelle auf Sp. 162). Manser hat hier offenbar nicht den Text in der Handschrift, sondern die abgekürzten Verse auf der Medaille im Blick.
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Aus dem Wortlaut der genannten Verse wird darüber hinaus auch deutlich, dass wir es hier nicht mit einem »Segen« im volkskundlichen oder gar im theologischen Sinn dieses Wortes zu tun haben: Ein solcher Segen14 müsste ja die eine oder andere an Gott selbst oder an einen Heiligen gerichtete Bitte enthalten, wie etwa beim sogenannten Zacharias-Segen15, der in der Kulturwissenschaft ebenfalls kein unbekanntes Phänomen ist und uns später noch in anderem Zusammenhang begegnen wird. Dort wird eine solche Bitte, nämlich um Bewahrung vor und um Befreiung von der Pest, mehr als ein Dutzend Mal an Christus herangetragen; genau das ist jedoch bei dem aus nur drei Sätzen bestehenden »Benediktus-Segen«, der sich als ausgesprochen moralische Sentenz darstellt, ganz offenkundig nicht der Fall. Dieses Faktum wurde von benediktinischer Seite von jeher sehr bewusst wahrgenommen, da man den Benediktus-Segen und den Zacharias-Segen, auch wenn sie mitunter gemeinsam auf einem Kreuz zu finden sind, deutlich auseinandergehalten hat.16
14 Zu diesem mehrdeutigen Begriff, dessen inhaltliches Spektrum sich im Spannungsfeld von kirchenamtlich-liturgischem Handeln bis zur Wortmagie bewegt, ist zur grundlegenden Information aus volkskundlicher Sicht nach wie vor heranzuziehen: F. Ohrt: Segen. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. VII. Berlin/Leipzig 1935/1936, S. 1582-1620. Der Autor verweist unter der Überschrift bezeichnenderweise auch gleich auf die Artikel »Beschwörung«, »Besprechen« und »Zauberei«. – Aus theologischer und speziell liturgiewissenschaftlicher Sicht informiert dazu: Rupert Berger: Segen/Segnung. IV. Liturgisch. In: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9.. Freiburg i.Br. 2000, Sp. 397-399. 15 Grundlegende Informationen bietet: E. Hoffmann-Krayer: Zachariassagen. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. IX. Berlin 1938/1941, Sp. 875-877; dort sind allerdings nicht alle auf dem »Zachariaskreuz« vorkommenden Buchstaben angegeben. 16 Siehe etwa: Adalbert Schippers: Ein Zacharias-Benediktuskreuz. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 34/NF 3 (1913), S. 545-547, wo auf S. 545 ausdrücklich auf die häufige (beim Gebrauch des Benediktus-Kreuzes hingegen nicht vorgesehene) Verwendung des Kreuzzeichens beim Zacharias-Segen hingewiesen wird.
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V OM »B ENEDIKTUS -S EGEN « »B ENEDICTUS -P FENNING «
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ZUM
Es stellt sich demnach die zentrale Frage: Wann und unter welchen Begleitumständen hat die im theologischen Verständnis so durchaus rationale, auf selbständiges und somit auch eigenverantwortliches Handeln bezogene und damit eben nicht superstitiöse Botschaft der drei leoninischen Verse ihren Weg in abgekürzter Form auf die Vorderseite einer Medaille gefunden und ist damit zum grafischen Bestandteil eines Kreuzamuletts geworden, das sich dann sehr wohl eines abergläubischen Gebrauches erfreut hat? Die Frage nach dem »Wann« lässt sich (wie schon oben angedeutet) ziemlich genau auf die 1660er Jahre eingrenzen. Den frühesten bisher bekannt gewordenen datierten Beleg für die Existenz der Benediktus-Medaille und zugleich für deren Verwendung als Abwehrmittel gegen »Hexerei und Zauberei« stellt ein als Flugblatt konzipiertes, aber nur eine bedruckte Seite umfassendes Einzelblatt dar, das in der Literatur17 als »Einblattdruck« bezeichnet wird. Es handelt sich hier aber nicht um ein (mit beweglichen Lettern hergestelltes) Erzeugnis des Buchdrucks, sondern um einen Kupferstich18, den der Innsbrucker Siegelschneider und Kupferstecher Johann Baptist Jezel19 im Auftrag des Benediktiner-Stiftes St. Georgenberg20 (das später nach Fiecht im unteren Inntal verlegt wurde) im Jahre 1664 hergestellt hat.
17 So etwa von Hans Otto Münsterer: Amulettkreuze und Kreuzamulette. Studien zur religiösen Volkskunde, hg. von Manfred Brauneck unter Mitarbeit von Hildegard Brauneck. Regensburg 1983, S. 130 (in der Bildlegende zu Abb. 60). 18 In der deutschsprachigen Literatur bisher nur genannt und publiziert von Münsterer, Amulettkreuze, S. 176 mit Anm. 86 (S. 210) und Abb. 60 auf S. 130; Münsterer hat jedoch die erste Textzeile links unter der Abbildung der Medaille (»Abriß deß Pfennings […]«) irrtümlich für die Überschrift gehalten; diese ist aber als solche leicht erkennbar: Sie ist in viel größeren Buchstaben gehalten, zentriert angebracht und lautet: »Anfang und Ursprung deß hochnutzlichen Benedict-Pfennings«. 19 Siehe den Artikel »Jezl (Jetzl, Uetzl)« von Hans Hochenegg. In: Hans Vollmer (Hg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker, Bd. 18. Leipzig 1925, S. 548f. Beim Schöpfer des Kupferstiches von 1664 handelt es sich demnach um Johann Baptist I. (geboren 1610 in Hall in Tirol, gestorben 1666 in Innsbruck). Sein
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Dieses Blatt, das offenbar der Bekanntmachung und Verbreitung des »Pfennings und Kreuz des H(eiligen) V(aters) Benedicti« dienen sollte, zeigt ganz oben, neben dem Bild des Ordens-Vaters, die beiden Seiten der Medaille; diese unterscheidet sich zwar in ihrer grafischen Gestaltung ein wenig von der späterhin üblichen Form, stimmt aber bezüglich ihrer Aussage in allen wesentlichen Punkten damit überein. An diese bildhaften Darstellungen schließt sich in deutscher Sprache ein acht Zeilen umfassender Bericht über »Anfang und Ursprung des hochnutzlichen Benedict-Pfennings«; hierauf folgt die Wiedergabe der Medaillen-Aufschrift, sowohl der Rückals auch der Vorderseite, im vollen lateinischen Wortlaut mit einer (nicht ganz korrekten) deutschen Übersetzung. Im unteren Teil des Blattes wird der Leser auf zehn Zeilen, wieder in barockem Deutsch, über »Krafft und Würkung dises Pfennings« unterrichtet, wobei er genaue Anweisungen zu dessen superstitiösem Gebrauch erhält. »Anfang« und »Ursprung« der Medaille werden mit einem Hexenprozess in Verbindung gebracht, der 1643 in Straubing in Niederbayern stattgefunden haben soll. Die Hexen und Zauberer, die der Folter unterworfen und dann zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden seien, hätten bekannt, dass sie auch einem adeligen Herrn und seinem Vieh schaden wollten; dies hätten sie aber nicht vermocht, weil in seinem Schloss (wovon er angeblich gar nichts wusste) ein Pfennig verborgen war, der ihre böse Kraft zunichte machte. Hierauf habe man, ohne dass der Grund dafür genannt wird, im »uralten Kloster Metten« nachgeforscht und dort »unter andern Antiquitäten« auch diesen Pfennig »samt seiner Auslegung« gefunden.
gleichnamiger Sohn (geboren 1642) war ausschließlich als Siegelschneider, nicht aber als Kupferstecher tätig. 20 Einen informativen Überblick über die Geschichte dieser Abtei bietet neuerdings: Thomas Naupp: Fiecht-Georgenberg. In: Ulrich Faust/Waltraud Krassnig (Bearb.): Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Österreich und Südtirol (Germania Benedictina III/1). St. Ottilien 2000, S. 434-500.
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Abbildung 3: Kupferstich von Johann Baptist Jezel, Innsbruck 1664
U NTERSCHIEDLICHE Ü BERLIEFERUNGEN ÜBER DEN U RSPRUNG Diese Erzählung steht nun allerdings in einer gewissen Spannung zu jenem anderen Bericht über den »Ursprung« der Benediktus-Medaille, der zunächst in einer anonymen, wohl in Salzburg entstandenen und angeblich auch schon seit der Mitte der 1660er Jahre verbreiteten Schrift21 zu finden ist
21 Von diesem Traktat ist bisher aber kein Originalexemplar zum Vorschein gekommen; er dürfte in mehreren Ausgaben in Salzburg und Einsiedeln erschienen sein und ist nur indirekt durch Nennungen und Zitate in späteren Publikationen
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und späterhin von dem Weingartner Benediktiner Gabriel Bucelinus22 1679 in sein Buch Benedictus redivivus (Der wieder auflebende Benedikt)23 in lateinischer Zusammenfassung aufgenommen wurde. In dem Salzburger Büchlein und demnach auch bei Bucelinus wird das Aufkommen des wundertätigen Benediktus-Amuletts zwar ebenso mit einem Hexenprozess in Verbindung gebracht, doch soll sich dieser nicht 1643 und auch nicht in Straubing, sondern erst vier Jahre später auf dem Schloss Natternberg in der Nähe von Metten abgespielt haben. In dieser etwas jüngeren Darstellung ist überdies nicht ausdrücklich von einem »Pfenning« (also einer Medaille), sondern stets von einem Kreuz (lateinisch »Crux«) die Rede, und die verurteilten Personen erzählten nichts von einem adeligen Herrn, dem sie Schaden zufügen wollten: Sie sprachen zunächst nur allgemein von Orten, denen Sie nichts anhaben konnten, weil dort besagtes Kreuz, ob sichtbar oder verborgen, ihrer Macht jeden Erfolg nahm, und sie brachten dann das nahe gelegene Kloster Metten mit namentlicher Nennung ins Spiel. Dort habe man zunächst aber gar kein solches Kreuz finden können; erst in einem Kodex, der mit einem kostbaren Einband versehen war, sei des Rätsels Lösung zum Vorschein gekommen: In dem alten Buch habe man nämlich die Erklärung
nachweisbar; detaillierte bibliografische Angaben sind bei Münsterer, Amulettkreuze, S. 207f. (Anm. 54) zu finden. 22 Zur Biografie und insbesondere zum literarischen Werk dieses vielseitig versierten Ordensmannes (geboren 1599, Eintritt in Weingarten 1616, gestorben 1681): Pirmin Lindner: Professbuch der Benediktiner-Abtei Weingarten. Kempten/ München 1909, S. 40-51; im bibliografischen Teil (ab S. 44) werden 21 in Druck erschienene Publikationen und 77 handschriftlich überlieferte Werke verzeichnet. »Bucelinus« ist die latinisierte Form des ursprünglichen Familiennamens »Buzlin«. – Siehe weiterhin auch: Thomas J. Stump: Mit Stift und Zirkel. Gabriel Bucelinus (1599-1681) als Zeichner und Kartograph, Architekt und Kunstfreund. Sigmaringen 1976 (Zeittafel zur Biografie S. 9f., bibliografische Hinweise S. 129f.). 23 Dieses Werk wird von Lindner, Professbuch, S. 47, unter den Publikationen als Nr. 17 mit seinem vollständigen Titel angeführt; der Band war in Feldkirch bei Johannes Hübschlin gedruckt worden und umfasst 320 Seiten. Der Autor widmete das Werk dem zu dieser Zeit regierenden Abt von Admont, Adalbert Heuffler von Rasen und Hohenbühel.
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über »Crucis istius mysteria et characteres« (die Geheimnisse dieses Kreuzes und seiner Buchstaben) gefunden. Die Gemeinsamkeit der beiden, in den Einzelheiten doch recht unterschiedlichen Geschichten besteht also, neben der Bezugnahme auf einen Hexenprozess, einerseits darin, dass jede von ihnen auf das Kloster Metten hinweist, und andererseits in der Behauptung, dass zum Zeitpunkt des Hexenprozesses der Benediktus-Pfennig bzw. das Benediktus-Kreuz bereits existiert habe; bis dahin sei dieses Phylakterium gar nicht bekannt gewesen, und erst die Aussagen der verurteilten Malefizianten hätten es nun an den Tag gebracht. Auffällig ist weiterhin an beiden Varianten der Geschichte, dass die Initiative zur Propagierung des Benediktus-Kreuzes (bzw. des »Pfennings«) nirgendwo den Benediktinern von Metten zugeschrieben wird, obwohl sie doch angeblich die Medaille und tatsächlich den ominösen Kodex in ihrem Besitz hatten. Der Umstand, dass der Prozess das eine Mal in Straubing und das andere Mal in Natternberg lokalisiert wird, hat dazu geführt, dass man die beiden voneinander so deutlich abweichenden Berichte von volkskundlicher Seite24 in das Reich der Fabel und sogar des frommen Betrugs verwiesen hat; der vermeintliche Widerspruch lässt sich aber ganz einfach mit der Annahme erklären, dass es eben zwei solcher Prozesse gegeben hat. Frei erfunden können sie nicht sein, weil die Zeitspanne von nur etwa 20 Jahren zwischen den Prozessen einerseits und den beiden hierüber in Druck veröffentlichten Berichten andererseits so kurz ist, dass bei deren Abfassung zweifellos noch Zeugen der Aufsehen erregenden Ereignisse am Leben gewesen waren.
24 So etwa von Jacoby, Benediktussegen, Sp. 1037, der allerdings in missverständlicher Weise von einer »Wiederentdeckung des Kreuzamuletts« spricht (für dessen Existenz es ja in früherer Zeit noch gar keine Belege gegeben hatte) und die darauf bezüglichen Angaben »ins Reich der frommen Legende oder gar des frommen Betrugs« verweist. Diese Ansicht wird von Münsterer, Amulettkreuze, S. 174, übernommen und mit dem Hinweis auf das 1678 erfolgte offizielle kirchliche Verbot des oben genannten Salzburger Büchleins noch weiter zu begründen versucht.
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F RAGEN UM Z EIT UND Ö RTLICHKEITEN DER E NTSTEHUNG Nun gilt es freilich noch zwei Fragen zu beantworten: Warum hat man nicht schon in den 1640er Jahren solche Ursprungsberichte (und damit auch die wegen ihrer Wundertätigkeit so hoch gepriesenen Medaillen) in Umlauf gebracht, und welche Rolle spielten die Klöster Metten und St. Georgenberg in dieser Angelegenheit? Die erstgenannte Frage lässt sich zumindest teilweise mit einem Hinweis auf die bewegten politischen Zeitumstände beantworten: Die Endphase des Dreißigjährigen Krieges, als fast ganz Süddeutschland von den (protestantischen) Schweden besetzt war25 (in den Jahren 1633 und 1641 waren diese sogar in das Kloster Metten eingedrungen26), bot für die Kreierung und Publizierung eines neuen Phylakteriums (und darauf läuft die Sache ja letzten Endes hinaus) nicht unbedingt die geeigneten Rahmenbedingungen. Ebenso bedeutsam dürfte jedoch auch der Umstand gewesen sein, dass ab den 1650er Jahren ein anderes derartiges Gebilde in Umlauf kam – das vorhin schon erwähnte Zacharias-Kreuz27, das seinen Weg von Westen her, höchstwahrscheinlich über Trier und Mainz,28 in den südostdeutschen Raum gefunden
25 Bayern war bereits 1632 von den Schweden besetzt worden und hatte bis 1648 unter den Kriegswirren schwer zu leiden. Siehe dazu: Walter Ziegler: Reformation und Gegenreformation 1517-1648/Altbayern. In: Walter Brandmüller (Hg.): Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 2. St. Ottilien 1993, S. 1-64, insbesondere den kurzen, aber informativen Abschnitt »Staat und Kirche im Dreißigjährigen Krieg« (S. 62-64). 26 Michael Hartig: Die niederbayerischen Stifte. Mächtige Förderer deutscher Kunst. München 1939, S. 52; der Autor weist darauf hin, dass in dieser Zeit auch die Bautätigkeit in Metten völlig zum Erliegen kam. 27 Eine vollständige Wiedergabe des umfangreichen lateinischen Textes bietet Münsterer, Amulettkreuze, S. 213f./Anm. 146. – In deutscher Übersetzung ist dieser Text bereits in einer sehr viel älteren Publikation zu finden: Richard Peinlich: Geschichte der Pest in Steiermark, Bd. 2. Graz 1878, S. 524-527. 28 Diesen Weg der Verbreitung nennt jedenfalls: Wolfgang Brückner: Zachariassegen, Zachariaskreuz. In: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10. Freiburg i.Br. 2001, Sp. 1362. In der älteren Literatur wird dieser Ausbreitungsweg nicht genannt. Vgl. etwa (außer dem bereits genannten Artikel
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hat. Mit seinem überaus wortreichen Segen (in dem jeweils ein ganzer langer Satz durch einen Buchstaben wiedergegeben wird) galt es als spezielles Abwehrmittel gegen die Pest – und eine »Seuche« eigener Art stellten ja in der Sicht der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit (durch die sich wiederum deren Untertanen in ihren abergläubischen Einstellungen bestärkt sehen konnten) zweifellos die vermeintlichen Umtriebe der »Hexen« und »Zauberer« dar. Als sich nach der Mitte des 17. Jahrhunderts die äußeren Zeitumstände beruhigt hatten, muss es in breiten Kreisen der Bevölkerung als dringendes Erfordernis erschienen sein, nun auch gegen die gefürchteten zauberischen Praktiken, die offenbar in zunehmendem Maße als bedrohlich empfunden wurden, ein Mittel nach dem Vorbild des Zacharias-Kreuzes29 zu finden: Es bestand ganz offensichtlich ein Bedarf an einem ähnlichen (aber womöglich etwas einfacher gestalteten und in seiner Handhabung praktikableren) Kreuzamulett, das mit einer möglichst prominenten Heiligengestalt als Namensgeber und natürlich ebenfalls mit einem besonders kräftigen »Segen« ausgestattet sein sollte. Das Grassieren des Hexenwahns in Niederbayern,30 wie es aus den Berichten über die beiden Prozesse ersichtlich ist, hat dann allem Anschein nach im Kloster Metten dazu geführt, dass man sich der Handschrift von
von Hoffmann-Krayer): Konrad Hofmann: Zachariassegen. In: Michael Buchberger (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10. Freiburg i.Br. 1938, Sp. 1024. 29 Auch wenn es sich hierbei um ein ausgesprochenes Abwehrmittel gegen die Pest handelt, was beim Benediktus-Kreuz von Anfang an nicht intendiert war, sind diese beiden Kreuzamulette doch schon früh in enger Verbindung miteinander aufgetreten. Siehe dazu den oben genannten Aufsatz von Adalbert Schippers. Auch in der älteren Literatur wird das Benediktus-Kreuz mitunter geradezu als »Pestkreuz« bezeichnet, so etwa von Peinlich, Geschichte der Pest, S. 528. 30 Eine gute Übersicht zum Thema »Hexenverfolgung in Bayern« bietet: Romuald Bauerreiss: Kirchengeschichte Bayerns, 7. Bd. 2. Aufl. München 1970, S. 346-360. Sehr viel kürzer, aber mit Hinweisen auf neuere Publikationen, informiert: Alois Schmid: Vom Westfälischen Frieden bis zum Reichsdeputationshauptschluß. Altbayern 1648-1803. In: Walter Brandmüller (Hg.): Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 2. St. Ottilien 1993, S. 293-356, zu den Hexenverfolgungen S. 342f.
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1414 mit ihrer einprägsamen Darstellung des Kampfes gegen das Böse erinnert hat. Die ehemals ganz anders gemeinten (nämlich auf eine Person als sprechendes und handelndes Subjekt bezogenen) mittelalterlichen Verse31 wurden nunmehr in einer theologisch zumindest missverständlichen barocken Umdeutung zu einem aus sich selbst wirkenden »Segens-« und Bannspruch. Dazu kommt aber noch ein weiterer transformierender Eingriff: Diese Verse hatten ihren ursprünglichen »Sitz im Leben«32 in einem klösterlichen Ambiente und waren deshalb ehemals auch nur einem verhältnismäßig kleinen, ausgesprochen monastischen (und damit natürlich auch lateinkundigen) Personenkreis zugänglich; durch ihre neuzeitliche »Zweitverwendung« kamen sie in eine breite Öffentlichkeit und wurden damit auch in soziologischer Hinsicht in einen völlig anderen Kontext gestellt. Die verkürzte Wiedergabe durch die Anfangsbuchstaben in dem Kreuz hat diesen »Profanierungseffekt« in gewisser Hinsicht zwar etwas eingeschränkt, der Medaille
31 Diese lassen sich, wie oben bereits angedeutet, in ihrer Textgestalt (aber in einem vom Mettener Kodex etwas abweichenden graphisch-literarischen Umfeld) sogar noch weiter bis ins 14. Jahrhundert zurückführen. In einer Handschrift der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel (Cod. Helmst. 2° 35/a) sind die drei Verse des Benediktus-Kreuzes als Teil eines insgesamt 16 Verse umfassenden Textes zu finden. Siehe dazu den Aufsatz von Henrik Cornell von 1924 mit einer Abbildung der entsprechenden Seite aus der Wolfenbütteler Handschrift auf Fig. 2. Derselbe Autor hat sich wenig später noch ein weiteres Mal zu dieser frühen Textvorlage geäußert: Forschungen zum Benediktuskreuz. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 43/NF 12 (1926), S. 191-193 (mit Rekonstruktionsversuch des zum Teil schwer lesbaren Textes der Wolfenbütteler Handschrift auf S. 193). 32 Dieser aus der formgeschichtlich und formenkritisch arbeitenden Bibelwissenschaft stammende Begriff bezeichnet die Rahmenbedingungen und Situationen, in denen bestimmte (biblische) Texte entstanden sind. Ursprünglich vor allem auf (kultische) Institutionen bezogen, wird »Sitz im Leben« nunmehr in einem weiteren Sinn verwendet und bezieht in einer rollen- und funktionsbestimmten Sicht auch die von den Texten erstrebte Wirkung mit ein. Siehe dazu: HansPeter Müller: Formgeschichte/Formenkritik I. In: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, 11. Bd. Berlin 1983, S. 271-285; zum Begriff »Sitz im Leben« S. 279-282.
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auf diese Weise aber jene Aura des Mysteriösen verliehen, die sie vollends zu eben jenem »hochnutzlichen Pfenning« werden ließ, wie er sowohl auf dem Kupferstich von 1664 als auch in dem Salzburger Büchlein und bei Buzelin beschrieben wird. Angesichts dieser ganz offenkundig in Metten erfolgten Transformation des »Benediktus-Segens« fragt man sich: Warum ist dieser »Pfenning« dann aber nicht unmittelbar von dieser Abtei in Umlauf gebracht und propagiert worden? Auch darauf lässt sich eine plausible Antwort geben: Eine solche direkte Vorgangsweise hätte die Benediktus-Medaille um ihren wundersamen und geheimnisumwitterten »Anfang und Ursprung« gebracht; es sollte ja in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass sie nicht erfunden, sondern vielmehr, und zwar unter mirakulösen Umständen, gefunden worden war, und dass sie bereits von Anfang an ihre ganze »Krafft und Würkung« entfaltet hat.
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DES
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Das ebenso unbestreitbare wie auffallende Faktum, dass hierbei das Tiroler Benediktiner-Kloster St. Georgenberg eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat, versuchte man in der volkskundlichen Literatur33 mit dem Hinweis darauf zu begründen, dass zwischen diesem Ordenshaus und der niederbayerischen Abtei eine Verbindung durch die vom Erzbischof von Salzburg initiierte »Benediktinerkonföderation« bestanden habe. Nun gab es allerdings im Laufe des 17. Jahrhunderts sowohl im süddeutschen als auch im österreichischen Raum sogar mehrere Zusammenschlüsse von Benediktinerklöstern, darunter eine »Salzburgische«34 und eine »Bayeri-
33 Auch hier ist es Hanns Otto Münsterer, der mit seinem Hinweis auf die Klöster, »die sich der 1653 von (Erzbischof) Paris Lodron ins Leben gerufenen Benediktinerkonföderation angeschlossen hatten« (Amulettkreuze, S. 180), eine falsche Spur gelegt hat – abgesehen davon, dass es sich um eine Kongregation und nicht um eine »Konföderation« (das ist ein Zusammenschluss von Kongregationen) handelte; siehe dazu im Einzelnen die in den beiden folgenden Anmerkungen genannten Belege. 34 Nachdem bereits 1625 eine »Österreichische Kongregation« entstanden war (sie umfasste die in Ober- und Niederösterreich gelegenen Abteien), schlossen sich die
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sche Kongregation«35, doch haben sich ausgerechnet Metten und St. Georgenberg keiner dieser Vereinigungen angeschlossen. Darin bestand also das »verbindende« Element zwischen den beiden Abteien. Womöglich wäre es auch gar nicht zur Entstehung des »benediktinischen Kreuzamuletts« gekommen, wenn diese beiden Klöster einer Kongregation angehört und deren Oberen die merkwürdigen Vorkommnisse um das Kreuz und die Medaille einen strengen Prüfung unterzogen hätten. Darüber hinaus ist auch noch zu bedenken, dass in Tirol gerade in den 1640er Jahren und dann wieder ab der Mitte der 1660er Jahre die Hexenverfolgungen einen traurigen Höhepunkt36 erreicht hatten. Auch dort bestand somit – ebenso wie in Niederbayern – ein Bedarf an einem Wundermittel, um nach dem Wortlaut des Kupferstiches »der Zauberer und Hexen teuflische Kunst zunicht zu machen«. St. Georgenberg hat übrigens ganz unverkennbar auch einen speziellen Beitrag zum Erscheinungsbild der Benediktus-Medaille geleistet. Den aufmerksamen Betrachtern dieses »Schau-Pfennings« ist schon immer aufge-
im Gebiet der Erzdiözese Salzburg liegenden Klöster 1642 zur »Salzburger Kongregation« zusammen. Siehe dazu: Friedrich Hermann: Die Salzburger Kongregation. In: Ulrich Faust/Franz Quarthal (Bearb.): Die Reformverbände und Kongregationen der Benediktiner im deutschen Sprachraum (Germania Benedictina, 1. Bd.). St. Ottilien 1999, S. 567-590; zum nicht erfolgten (wahrscheinlich vom Bischof von Brixen verweigerten) Beitritt von St. Georgenberg S. 571. 35 Die »Bayerische Kongregation« ist erst 1684 zustande gekommen. Siehe dazu: Beda Menzel: Die bayerische Benediktinerkongregation. In: Ulrich Faust/Franz Quarthal (Bearb.): Die Reformverbände und Kongregationen der Benediktiner im deutschen Sprachraum (Germania Benedictina, 1. Bd.). St. Ottilien 1999, S. 621-652; das Kloster Metten (das in der Diözese Passau lag) war der Kongregation »vor allem aus Furcht vor bischöflicher Ungnade« (S. 625) nicht beigetreten. Nach Hartig, Stifte, S. 52, soll der Abt sogar von Papst und Kurfürst zum Beitritt seines Klosters zur Kongregation aufgefordert worden sein, diesen aber verweigert haben. 36 Hansjörg Rabanser: Die Hexen- und Zaubererverfolgung in Tirol: neue Ergebnisse. Im Internet verfügbar in: Storicamente 4 (2008):http://www.storicamente. org/05_studi_ricerche/streghe/rabanser. Die Graphik 1 in Abschnitt 3/a (S. 3 der Druckversion) bietet eine Chronologie der Hexen- und Zauberer-Verfolgungen in Tirol 1485-1785.
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fallen, dass die vier Balken des Kreuzes auf der »gewöhnlichen« (also der ursprünglichen) Ausführung37 des Amuletts nicht von geraden, sondern von gebogenen Linien gebildet werden. Hier haben wir es offenkundig mit dem sogenannten Tatzenkreuz38 zu tun, das häufig in Verbindung mit dem hl. Florian, vor allem aber mit dem hl. Georg auftritt. Weil nun das Kloster St. Georgenberg – der Name sagt es schon – diesem Ritter-Heiligen geweiht ist,39 führt es in seinem Wappen das Tatzen- oder Georgs-Kreuz40, wie es ganz unten auf dem Kupferstich zu sehen ist. In ein solches Kreuz sind jedenfalls von Anfang an die zehn Initial-Buchstaben des ersten der drei leoninischen Verse eingetragen worden. Die Fragen nach den Voraussetzungen, der Herkunft und Entstehung des »benediktinischen Kreuzamuletts« dürften mit den hier vorgelegten Erörterungen im Wesentlichen beantwortet sein, was im Rückblick noch einmal die Diskrepanz zwischen der spätmittelalterlichen, auf ein handelndes Subjekt bezogenen klösterlichen Moralität und der barocken, auf ein Objekt
37 So wird sie im Unterschied zur sogenannten Jubiläums-Medaille bezeichnet, die 1880 anlässlich der 1500-Jahr-Feier der Geburt des hl. Benedikt geprägt wurde. Diese unterscheidet sich von der »gewöhnlichen« (ovalen) Ausführung durch ihre kreisrunde Form und vor allem durch die vom Beuroner Benediktiner P. Desiderius Lenz künstlerisch gestaltete Vorder- und Rückseite. Das Kreuz auf dem Avers hat hier nicht die charakteristische Form des Georgs- oder Tatzenkreuzes, sondern weist geradlinige Balken mit gespaltenen Enden auf. Siehe dazu: Danzer, Benediktusmedaille, S. 14f. und S. 19 (Abbildung). 38 Über die heraldische Verwendung dieses Kreuzes im Allgemeinen und speziell in Wappen von österreichischen Ordenshäusern informiert: Franz Gall: Österreichische Wappenkunde. Handbuch der Wappenwissenschaft. Graz 1977, S. 11f. (Formen des Kreuzes), S. 228 (Fiecht-Georgenberg und Göttweig), S. 232 (Neukloster), S. 234 (St. Florian und St. Gotthard/Ungarn). 39 Zum Georgs-Patrozinium dieser Abtei, das schon seit dem späten 10. Jahrhundert nachweisbar ist, und zur Georgs-Verehrung: Naupp, Fiecht-Georgenberg, S. 435-437. 40 Dieses Kreuz erscheint ab dem späten 15. Jahrhundert im Wappen des Klosters (auf den Siegeln der Äbte kommt es schon um die Jahrhundertmitte vor), in tingierter Wiedergabe ist es erstmals 1480 als rotes Kreuz auf silbernem Grund nachweisbar. Siehe dazu: Naupp, Fiecht-Georgenberg, S. 497-500 mit Darstellung des Wappens (schwarz-weiß mit Angabe der Tingierung) auf S. 500.
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fixierten abergläubischen Gesinnung deutlich werden lässt. Dass aus der selbstbewussten Aufforderung des Ordensmannes an den bösen Feind, ihn nicht zu sündigem Handeln zu verführen, ein ganz allgemein im Volk verbreitetes Mittel gegen die Verzauberung von »Kuh, Pferd, Kalb oder anderem Vieh« geworden ist, mutet jedenfalls befremdlich an. Es liegen ja doch ganze Welten zwischen dem im Kodex von 1414 ausgesprochenen Bekenntnis, sein Leben im Licht des Kreuzes zu gestalten, und der Anweisung auf dem Kupferstich von 1664 zur Benützung der Medaille, wo es heißt: »[W]an der Rahm nit kann zu Butter werden, so legt man einen […] solchen Pfenning in den Rührkübel; so wird der Rahm zu Butter und das Vieh gesund werden.«41
B ERICHTE ÜBER » BENEFICIA ET AUS DEM 17. J AHRHUNDERT
MIRACULA «
Die Anweisungen auf dem von der Abtei St. Georgenberg in Auftrag gegebenen Kupferstich legen die nicht unbegründete Vermutung nahe, dass der »hochnutzliche Pfenning« nach dieser von kirchlicher Seite erfolgten Propagierung insbesondere im ländlichen und vor allem im süddeutschen Raum auch wirklich in superstitiöser Verwendung war; man könnte daher die Erwartung hegen, aus zeitgenössischen Berichten etwas über die wundersamen Wirkungen dieser Medaille zu erfahren. Es gibt nun tatsächlich in dem oben schon in anderem Zusammenhang zitierten Werk des Gabriel Bucelinus42 einen solchen Bericht, der eine Serie von insgesamt elf »beneficia et miracula« (Wohltaten und Wunder) überliefert, die sich, soweit sie datiert sind, in den Jahren 1665 und 1666 zugetragen haben sollen. Das Erstaunliche an dem Bericht ist allerdings, dass sich diese elf der Benediktus-Medaille zugeschriebenen wundersamen Begebenheiten nicht etwa in Tirol oder in Niederbayern, sondern im Elsass und in Burgund zu-
41 Großer Textblock im unteren Drittel des Kupferstiches, 3. und 6.-8. Zeile. 42 Benedictus Redivivus, S. 267-269. Eine ausführliche Wiedergabe, teils mit wörtlicher Übersetzung des Bucelinus-Textes, bietet Danzer, Benediktusmedaille, S. 30-32. Eine kurze Notiz ist bei Münsterer, Amulettkreuze, S. 175 und S. 209/ Anm. 69 zu finden, wo jedoch als Quelle versehentlich S. 207 im Buch des Bucelinus angegeben wird.
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getragen haben sollen; darüber hinaus fällt auf, dass sie nur wenig mit landwirtschaftlichen Dingen zu tun haben und sich zumeist gar nicht in einem bäuerlichen Umfeld, sondern in Städten abgespielt haben, unter anderem in Luxeuil und Besancon. Zuvor hatte unser Gewährsmann aber noch ausdrücklich angemerkt, dass man diese Medaille (»tale numisma«) für gewöhnlich (»non alias«) am Hals trage (»in colle suspendatur«), in Wassergefäße lege (»in vas aquae dejiciatur«), aus denen die Tiere trinken und gewaschen werden (»unde animalia potentur et laventur«), und dass sie an den Türschwellen und -pfosten angebracht (»imponatur ad limina vel postes«) oder auf andere Weise befestigt oder vergraben werde (»aut alias affigatur vel defodiatur«). Er war also mit jener Praxis der Verwendung des Kreuzamulettes, wie sie uns von den Anweisungen auf dem Innsbrucker Kupferstich von 1664 bekannt ist, sehr wohl vertraut. Schließlich weist er noch darauf hin, dass dies alles im festen Vertrauen auf die Verdienste des hochheiligen Benedikt getan würde (»cum firma fiducia in meritis Sanctissimi Benedicti«). Bei jenen elf »beneficia et miracula«, bei denen es Bucelinus der Mühe wert hielt, in seinem Werk darüber zu berichten (»quorum aliqua hoc loco referre operae pretium esse duximus«), handelt es sich um recht unterschiedliche Begebenheiten: Es sind darunter sowohl Heilungen von kranken Personen (und nur in einem einzigen Fall von kranken Kühen, die Blut statt Milch gaben), Austreibungen von Dämonen, Vertreibung böser Geister aus einem Schloss sowie die Beendigung einer Serie von Bränden zu finden. In zwei Fällen war eine Hexe (»maleficium«) im Spiel, deren Macht durch die Medaille unschädlich gemacht wurde. Was bei der aufmerksamen Lektüre dieser Begebenheiten außerdem noch auffällt, ist der Umstand, dass die Personen, an denen mit Hilfe der Medaille ein »miraculum« geschehen war, in dieser Sache in keinem einzigen Fall von sich aus aktiv wurden, indem sie etwa nach dem »numisma« mit dem »crux S. Benedicti« verlangt oder sich im Gebet an den Heiligen um Hilfe gewandt hätten. Sie haben das Kreuzamulett stets von anderer Seite erhalten, und dieses hat seine heilkräftige Wirkung ohne weiteres Zutun der hiervon betroffenen Personen gleichsam – um einen Terminus aus der scholastischen Sakramententheologie in etwas abgewandelter Bedeu-
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tung zu verwenden – als »opus operatum«43 entfaltet. Von jenem angeblich so festen Vertrauen (»firma fiducia«) auf die Verdienste des hl. Benedikt, wie es Bucelinus in seiner Vorbemerkung zu den elf Wundergeschichten als Grundlage für die Wirksamkeit der Medaille angibt, ist in der Schilderung der einzelnen Mirakel jedenfalls keine Rede. Abbildung 4: Gabriel Bucelinus, posthum entstandenes Portrait, 1781
43 Unter diesem Begriff (»das [bereits] vollbrachte Werk«) versteht man – im Unterschied zum »opus operantis« (»das Werk des Vollbringers«) – das gnadenhafte und heilsame Wirken einer dinglich vorgestellten Handlung als solcher, ohne Bezugnahme auf die moralische Intention oder Disposition der handelnden Person. So gesehen lässt sich superstitiöses Handeln insgesamt in einem weiter gefassten Sinne dieses theologischen Diktums als »opus operatum« verstehen. Zur ursprünglichen Bedeutung des Begriffes, der als eigenes Stichwort in den jüngeren theologischen Fachlexika nicht mehr vorkommt: Johann B. Sasse: Opus operatum. In: Joseph Hergenröther/Franz Kaulen (Hg.): Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon. 2. Aufl., Bd. 9. Freiburg i.Br. 1895, Sp. 940-948.
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OPERATUM « ZURÜCK ZUM » OPUS OPERANTIS « Auf weitere Berichte über die wundertätige Wirkung der Benediktus-Medaille muss hier nicht näher eingegangen werden – abgesehen davon, dass solche in der Folge für nahezu zwei Jahrhunderte ohnedies recht spärlich überliefert sind: In einer lateinischen Schrift aus dem Jahre 1743 sollen zwar ebenfalls Belege für die »wunderbare Kraft« des benediktinischen Kreuzamuletts zu finden sein, doch geht der hierüber nur kurz berichtende Gewährsmann44 auf keine diesbezüglichen Einzelheiten ein. Derselbe Autor weiß dann allerdings recht ausführlich45 über eine stattliche Reihe von »Wirkungen der Benediktusmedaille« aus der Zeit ab 1858 zu berichten. Er stützt sich dabei vor allem auf die Schriften von zwei französischen Benediktinern46, die sich im 19. Jahrhundert überaus erfolgreich um die Verbreitung der Medaille bemüht hatten, und er fügt dann noch aus dem frühen 20. Jahrhundert einige Begebenheiten hinzu, die ihm aus seinem eigenen Bekanntenkreis zugetragen worden waren. Was bei der Lektüre dieser (in manchen Fällen freilich noch recht mirakulös und dem Geist der Entstehungszeit des Kreuzamuletts nicht allzu ferne stehend anmutenden) Berichte aber auffällt, ist im Unterschied zu den Schilderungen des Bucelinus die mehrmals ausdrücklich hervorgehobene
44 Danzer, Benediktusmedaille, S. 32. 45 Ebd., S. 32-39. 46 Es handelt sich um Leo Dupont und Prosper Guéranger, von denen der erstere mit dem von ihm gegründeten »Oratorium« ein regelrechtes »Institut zur Verbreitung der Benediktusmedaille« geschaffen hat, während der zweitgenannte das von ihm wieder errichtete Kloster Solesmes zu einem »Brennpunkt der Verehrung des großen Ordensstifters« gemacht und diese »durch die Benediktusmedaille in die weitesten Kreise des gläubigen Volkes« getragen hat; Näheres bei Danzer, Benediktusmedaille, S. 12f. – Guérangers Büchlein war schon bald nach dessen zweiter Auflage in einer deutschen Bearbeitung erschienen: Laurenz Hecht, Bedeutung, Ursprung und Privilegien der Medaille oder des Kreuzes des heiligen Benedikt, dargestellt von Dom Prosper Guéranger, Einsiedeln 1863; demnach kannte Guéranger nach den von Bucelinus beschriebenen »wunderbaren Wirkungen« der Medaille (S. 39-43) solche erst wieder ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (S. 43-87).
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aktive Beteiligung der betroffenen Personen. Hier ist nun tatsächlich jenes bewusste und zielgerichtete Vertrauen auf den hl. Benedikt festzustellen, das der barocke Autor zwar auch schon als Grund für die von ihm geschilderten »beneficia et miracula« postuliert hatte, aber in keiner einzigen der von ihm geschilderten Wirkungen der Medaille ausdrücklich damit verbunden hat. Nunmehr sprach man allerdings auch nicht mehr von Wundern, sondern von Gebetserhörungen auf die Fürsprache des hl. Benedikt. Neben erstaunlichen Heilungen von Verletzungen, Wunden und Gebrechen sowie der Bewahrung vor Schadensfällen geht es auffallend häufig um die wiedergewonnene Religiosität von Menschen, die sich vom Glauben abgewandt oder doch dem kirchlichen Leben entfremdet hatten. Bezüglich dieser Wirkungen der Medaille wird unmissverständlich darauf hingewiesen, dass »Hilfe in den Anliegen des Leibes und der Seele« nicht »von dem toten Metall«, sondern ausschließlich »vom Gebete und Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und auf die Fürbitte des Heiligen Benedikt« erwartet werden kann, denn »an der geweihten Medaille ist der Segen der Kirche und ihr Gebet wirksam«.47 Den Wandel vom »opus operatum« zum »opus operantis« zeigt dann vollends die sich anschließende Formulierung des benediktinischen Autors an: »Wie bei allen Sakramentalien48 wirkt auch diese Medaille nicht unfehlbar und aus sich, sondern die Wirksamkeit derselben wird sich im ganzen nach dem Glauben und nach der Herzensreinheit des Betenden […] richten.« Es hatte sich somit zwischen der Mitte des 17. und des 19. Jahrhunderts im Umgang mit der Benediktus-Medaille ganz unverkennbar ein Paradig-
47 Danzer, Benediktusmedaille, S. 30. 48 Mit der formellen Qualifizierung der Medaille als Sakramentalie, als die sie ja durch die kirchliche Weihe zu betrachten ist, wird sie sowohl in einen grundsätzlichen theologischen Verständnishorizont als auch in einen spezifischen liturgischen Kontext hineingestellt. Zum erstgenannten Aspekt des Begriffes siehe: Arno Schilson: Sakramentalien, I. Begriff und Geschichte/II. Systematischtheologisch. In: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8. Freiburg i.Br. 1999, S. 1452-1454. – Zwischen Sakramenten und Sakramentalien besteht eine qualitative Differenz, doch führen Letztere das fort, »was die Sakramente und letztlich die Kirche selbst als Grundsakrament bleibend wirkmächtig bezeugen: Die Rettung und Heiligung der Welt und der Menschen im Zeichen des Christusereignisses« (Sp. 1454).
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menwechsel vollzogen, der natürlich vor dem Hintergrund der allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklung zu sehen ist, aber zugleich zu jenem ursprünglichen Verständnis hinführt, wie wir es bei der aus dem Jahre 1414 stammenden Textvorlage festgestellt haben. Die Botschaft, die seinerzeit ein Mönch des Klosters Metten in den drei leoninischen Versen zum Ausdruck brachte, indem er das Kreuz als orientierendes Licht im persönlichen und aktiven Kampf gegen die Verlockungen des Bösen erklärte, ist zwar weiterhin nur durch die Anfangsbuchstaben auf der Medaille präsent; diese hat jedoch nunmehr in kirchlicher und theologischer Betrachtung ihren früheren Charakter als ein von sich aus wirkmächtiges Objekt eingebüßt, da sie als Trägerin der genannten Botschaft angesehen wird, die den Menschen zu einem auf grundlegenden moralischen Prämissen beruhenden bewussten Handeln aufruft.
L ITERATUR Romuald Bauerreiss: Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 7, 2. Aufl. München 1970 (über Hexenverfolgungen und -prozesse in Bayern S. 346-360). Richard Beitl/Klaus Beitl (Bearb.): Benedikt. In: Wörterbuch der deutschen Volkskunde. 3. Aufl. Stuttgart 1974, S. 74f. Rupert Berger: Segen IV. Liturgisch. In: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9. Freiburg i.Br. 2000, Sp. 397-399. Wolfgang Brückner: Zachariassegen, Zachariaskreuz. In: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10. Freiburg i.Br. 2001, Sp. 1362. Gabriel Bucelinus: Benedictus Redivivus, hoc est benedictini Ordinis vetustissimi amplissimique nostra ac supera aetate immarcescibilis vigor … (Der wiederbelebte Benedikt. Das ist des überaus altehrwürdigen und weitverbreiteten Benediktiner-Ordens unverwelkliche Kraft in unserer und früherer Zeit … [Der vollständige Titel umfasst noch weitere acht Zeilen]. Veldkirchii (Feldkirch in Vorarlberg) 1679. Fidelis Busam: Die St. Benediktusmedaille. In: Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und Zisterzienser-Orden 24 (1903), S. 82-92 und S. 321-339. Henrik Cornell: Neue Forschungen zur Geschichte des St. Benedikuskreuzes. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 42/NF 11 (1924), S. 1-9.
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Henrik Cornell: Forschungen zum Benediktuskreuz. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 43/NF 12 (1926), S. 191-193. Beda Danzer: Die Benediktusmedaille. Ihre Geschichte, Gebrauch und Wirkungen. St. Ottilien 1928 (Geschichtliches: S. 5-15; Erklärung: S. 16-20; Ablässe und Weihe: S. 21-29; Von den Wirkungen: S. 30-40; Gebetsübungen: S. 41-45). Trude Ehlert/Renate Vogeler: Leoninischer Vers. In: Peter Dinzelbacher (Hg.): Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart 1992, S. 478f. Michael Evans: Laster. In: Engelbert Kirschbaum (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 3: Allgemeine Ikonographie. Freiburg i.Br. 1971, Sp. 15-27. Dorothea Forstner: Die Welt der christlichen Symbole. 3. Aufl. Innsbruck 1977 (Monogramme und Kurzformen: S. 39-46). Adolph Franz: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, 2. Bd. Freiburg i.Br. 1909. 13. Abschn./§ 3: Die religiösen Heilmittel. II. Beschwörungen, Inkantationen und Amulette: S. 420-438; speziell über Amulette: S. 435-438. Franz Gall: Österreichische Wappenkunde. Handbuch der Wappenwissenschaft. Graz 1977. Carolus Halm/Gulielmus Meyer: Catalogus codicum latinorum Bibliothecae regiae Monacensis (Katalog der lateinischen Handschriften der Königlichen Bibliothek in München). Tomi II Pars I (Des zweiten Bandes erster Teil), Monachii (München) 1874. Unveränderter Nachdruck. Wiesbaden 1968. Michael Hartig: Die niederbayerischen Stifte. Mächtige Förderer deutscher Kunst. München 1939 (über Metten: S. 45-57). Laurenz Hecht: Bedeutung, Ursprung und Privilegien der Medaille oder des Kreuzes des heiligen Benedikt, dargestellt von Dom Prosper Gueranger. Nach der 2. franz. Ausgabe bearbeitet. Einsiedeln 1863. Josef Hemmerle: Die Benediktinerklöster in Bayern (Germania Benedictina, Bd. II). Augsburg/München/Ottobeuren 1970 (Metten: S. 143-148). Friedrich Hermann: Die Salzburger Kongregation. In: Ulrich Faust und Franz Quarthal (Bearb.): Die Reformverbände und Kongregationen der Benediktiner im deutschen Sprachraum (= Germania Benedictina, Bd. I). St. Ottilien 1999, S. 567-590.
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Hans Hochenegg: Jezl (Jetzl, Uetzl). In: Hans Vollmer (Hg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker, 18. Bd. Leipzig 1925, S. 548f. E. Hoffmann-Krayer: Zachariassegen. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. IX. Berlin 1938/1941, Sp. 875-877. Konrad Hofmann: Zachariassegen. In: Michael Buchberger (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10. Freiburg i.Br. 1938, Sp. 1024. A. Jacoby: Benediktussegen. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. I. Berlin/ Leipzig 1927, Sp. 1035-1040. Pirmin Lindner: Professbuch der Benediktiner-Abtei Weingarten. Kempten/ München 1909 (über Gabriel Bucelinus: S. 40-51). Anselm Manser: Benediktus-Kreuz. In: Michael Buchberger (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2. Freiburg i.Br. 1931, Sp. 162f. (mit Verzeichnis der gesamten bis dahin erschienenen Forschungsliteratur, auch der französischen Publikationen). Beda Menzel: Die bayerische Benediktinerkongregation. In: Ulrich Faust/ Franz Quarthal (Bearb.): Die Reformverbände und Kongregationen der Benediktiner im deutschen Sprachraum (= Germania Benedictina, Bd. I), St. Ottilien 1999, S. 621-652. Hans-Peter Müller: Formgeschichte/Formenkritik I. In: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. XI. Berlin 1883, S. 271-285; zum Begriff »Sitz im Leben«: S. 279-282. Hanns Otto Münsterer: Amulettkreuze und Kreuzamulette, hg. von Manfred Brauneck unter Mitarbeit von Hildegard Brauneck. Regensburg 1983 (Benediktussegen und Benediktuskreuz: S. 170-182 mit Abb. 59-63). Thomas Naupp: Fiecht-Georgenberg. In: Ulrich Faust/Waltraud Krassnig (Bearb.): Die Benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Österreich und Südtirol (= Germania Benedictina III/1). St. Ottilien 2000, S. 434-500. Hans Niedermeier: Die Benediktusmedaille. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 11 (1960), S. 73-81. F. Ohrt: Segen. In: Hanns Bächtold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. VII. Berlin/Leipzig 1935/1936, S. 1582-1620.
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Richard Peinlich: Geschichte der Pest in Steiermark, Bd. II. Graz 1878 (zum Zacharias-Segen und zum Benediktus-Kreuz: S. 524-532). Hansjörg Rabanser: Die Hexen- und Zaubererverfolgung in Tirol: neue Ergebnisse. In: Storicamente 4 (2008). Online: http://www.storicamente. org/05_studi_ricerche/streghe/rabanser [Abruf 27.01.2012]. Arno Schilson: Sakramentalien, I. Begriff und Geschichte/II. Systematischtheologisch. In: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8. Freiburg i.Br. 1999, S. 1452-1454. Adalbert Schippers: Ein Zacharias-Benediktuskreutz. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 34/NF 3 (1913), S. 545-547. Alois Schmid: Vom Westfälischen Frieden bis zum Reichsdeputationshauptschluss. Altbayern 1648-1803. In: Walter Brandmüller (Hg.): Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 2. St. Ottilien 1993, S. 293-356. Thomas J. Stump: Mit Stift und Zirkel. Gabriel Bucelinus (1599-1681) als Zeichner und Kartograph, Architekt und Kunstfreund. Sigmaringen 1976. Walter Ziegler: Reformation und Gegenreformation 1517-1648 in Altbayern. In: Walter Brandmüller (Hg.): Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 2. St. Ottilien 1993, S. 1-64 (§ 6. Staat und Kirche im Dreißigjährigen Krieg: S. 62-64).
Perlmilch, Krötenfuß und Menschenfett Magische Elemente in der steirischen Volksmedizin des 18. und 19. Jahrhunderts E LKE H AMMER -L UZA
Wenn im Folgenden von »Magie« und »Volksmedizin« gesprochen wird, so zeigen sich bald die Schwierigkeiten klarer Zuschreibungen und die Unmöglichkeit einer präzisen Systematik. In der historischen Wirklichkeit gab es vielmehr verschwimmende Grenzen, die nicht nur zeitlich, sondern auch regional differieren konnten. Diese Unsicherheit in der Begrifflichkeit wird noch erschwert durch die Quellenlage. Die Perspektive ist stets jene der Obrigkeit, die eine höchst negative Bewertung der Volksmedizin sowie ihrer Objekte und Handlungsweisen vornahm, diese aber nur unzureichend beschrieb. Im Besonderen gilt das für Gerichtsakten, die dieser Untersuchung vornehmlich als Basis dienen. Trotz dieser Einschränkungen soll ein Abriss der volksmedizinischen Praxis in der Steiermark im 18. und 19. Jahrhundert gegeben werden. Dabei stehen die zur Anwendung gelangten magischen Heilmittel im Zentrum der Betrachtung. In einem zweiten Schritt wird dem betrügerischen Umgang mit diesem Volksglauben nachgegangen. Ein Blick auf die behördlichen Sanktionen zeigt schließlich den Wandel, den die Einschätzung von Volksmagie und Aberglauben im Zeitalter der Aufklärung durchlaufen hat.
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S TEIRISCHE V OLKSMEDIZIN IM 18. UND 19. J AHRHUNDERT Die medizinische Versorgung für die steirische Landbevölkerung war bis weit in das 19. Jahrhundert hinein höchst unzureichend. Universitär ausgebildete Ärzte gab es kaum, die gesundheitliche Betreuung der Menschen lag zum Großteil in den Händen von Chirurgen, Wundärzten und Badern, die ihre Tätigkeit als Handwerk erlernt hatten und deren medizinisches Fachwissen im Allgemeinen mangelhaft war.1 Aufgrund der geringen Dichte an Heilkundigen ließ eine Behandlung oft tagelang auf sich warten und wurde teuer verrechnet. All das ging zu Lasten der bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten, die sich weitgehend hilflos Krankheit und Tod ausgeliefert sahen. Sie nahmen in der Folge Zuflucht zur Volksmedizin und zu jenen Personen, welche im Rufe standen, um die Geheimnisse der Naturheilmittel zu wissen.2 Damit stießen sie jedoch auf erbitterte Gegnerschaft, einerseits
1
Vgl. Gudrun Weinberger: Die Bader und Wundärzte in der Steiermark im 17. und 18. Jahrhundert. Dipl.-Arb. Graz 1990; Fritz Heppner: Frühe Medizin in Graz und auf dem Lande. In: Beiträge zur steiermärkischen Medizingeschichte. Wien/Köln/Graz 1988, S. 5-50; Werner F. List: Die Entwicklung der Chirurgie in Graz und der Steiermark bis zur Gründung der medizinischen Fakultät an der Karl-Franzens Universität. In: Beiträge zur steiermärkischen Medizingeschichte. Wien/Köln/Graz 1988, S. 51-72; Herbert Hans Egglmaier: Das medizinischchirurgische Studium in Graz. Ein Beispiel für den Wandel staatlicher Zielvorstellungen im Bildungs- und Medizinalwesen (= Dissertationen der Universität Graz 50). Graz 1980, S. 72-104; Gustav Mittelbach: Das Handwerk der Bader, Barbiere und Wundärzte. In: Das steirische Handwerk. Katalog zur 5. Landesausstellung 1970. 1. Teil: Handbuch. Graz 1970, S. 533-546; Elfriede Turk: Der Ausbau des Sanitätswesens in Steiermark unter Maria Theresia und Josef II. (mit Ausnahme des Spitalwesens). Phil. Diss. Wien 1952, S. 31-42, S. 49-58.
2
Durchaus kritisch meinte etwa ein aufgeklärter Beamter aus dem Murtal, dass die Kurpfuscherei nur dann verschwinden würde, »wann denen Badern auf das schärfste aufgetragen und feste Hand darüber gehalten würde, daß mehreren Fleiß und weniger Geiz bei denen Patienten anwenden sollten, dann ist nicht ein armer Kranker gezwungen, anderweit Hilfe zu suchen«. StLA, Weißkirchen, Markt, Sch. 102, H. 192: Ärzte und Chirurgen, 1739-1825. Zur unbefriedigenden ärztlichen Situation in der Weststeiermark im 19. Jahrhundert vgl. u.a.
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von Beamten und Schulmedizinern, die in ihnen eine Gefahr für die Gesundheit des Volkes sahen, andererseits von praktizierenden Badern und Chirurgen, die ihre wirtschaftliche Konkurrenz ausschalten wollten.3 Die daraus entstehende einseitige Quellenüberlieferung, in der Naturheiler meist als dilettierende Kurpfuscher abqualifiziert werden, kann ihrer tatsächlichen Bedeutung nicht gerecht werden.4 Die Volksmediziner bildeten eine feststehende Alternative zum örtlichen Wundarzt und stellten einen unverzichtbaren Bestandteil der ländlichen Gemeinschaft dar. Man setzte großes Vertrauen in sie und schätzte ihre Kenntnisse in manchen Bereichen sogar höher ein als die der zugelassenen Mediziner. Die meisten sogenannten Bauernärzte hatten einen festen Wohnsitz und übten ihre Heilkunst neben anderen Tätigkeiten aus.5 Ihren Lebensunterhalt verdienten sie in erster Linie mit einer bescheidenen Landwirtschaft als Keuschler oder Kleinhäusler, bisweilen gar nur als Inwohner, die sich mit Gelegenheitsarbeiten fortbrachten. Mehrfach in den Quellen zu finden sind auch Wasenmeister bzw. deren Angehörige. Abdecker spielten im Gesundheitswesen der frühen Neuzeit eine wichtige Rolle. Bedingt durch ihren Be-
Bernd E. Mader: Naturheiler, Zahnreißer und Viehdoktoren. Bäuerliche Heiltraditionen. Graz/Wien/Köln 1999, S. 94f. 3
Nicht zufällig erfolgte die Anzeige von ansässigen Bauernärzten durchwegs durch den örtlichen Wundarzt bzw. Chirurgen. Vgl. Elke Hammer-Luza: Kurpfuscher und Bauernärzte vor den Schranken des Gerichts. Aspekte der steirischen Volksmedizin im 18. und 19. Jahrhundert. In: Josef Riegler (Hg.): Bauern, Bürger, hohe Herren (= VStLA 34). Graz 2005, S. 51-72, hier S. 57f. Ebenso Klaus O. Mayr: Kriminalität in einer ländlichen Gesellschaft. Rechtsprechung in Kärnten im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus 1740-1792. Dipl.-Arb. Klagenfurt 1986, S. 201.
4
Zur Quellenlage (für Deutschland) vgl. Nils Freytag: Quellen zur Geschichte von Aberglauben und Magie im 18. und 19. Jahrhundert. In: Der Archivar 53 (2000) 4, S. 326-329. Als Überblick über die volksmedizinischen Forschungen und ihre Grundlagen in der Steiermark vgl. Elfriede Grabner: Von der Volksmedizin zu den Wunderheilern. Kulturhistorische Aspekte um Krankheit und Heilen in der medikalen Laienkultur. In: ZHVSt 91/92 (2000/2001), S. 521-540, hier S. 521-525. Beispiele für die negative Einschätzung der Bauernärzte vgl. Elfriede Grabner: Naturärzte und Kurpfuscher in der Steiermark. In: ZHVSt 52 (1961), S. 84-99, hier S. 96-98.
5
Vgl. Hammer-Luza, Kurpfuscher, S. 54-56.
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ruf erwarben sie ein gewisses medizinisches Grundwissen, das den Menschen durch magische Vorstellungen noch verstärkt erschien.6 Eine spezielle Position nahmen schließlich noch unbefugt praktizierende Geistliche und Apotheker ein. Die meisten dieser Naturheiler verfügten in der Regel über kein oder nur ein äußerst geringes Vermögen. Die Bauernärzte verschafften sich durch ihre volksmedizinische Praxis ein Zubrot zu ihren sonstigen Einkünften, ja einige waren auf diese Einnahmen regelrecht angewiesen. Großen Gewinn machten die »Afterärzte« durch den Verkauf ihrer Arzneien ohnehin nicht. Je nach Zusammensetzung und Menge einer Salbe oder eines Trankes erhielten sie dafür nur einige Kreuzer, manchmal wurden sie von den Bauern auch in Naturalien bezahlt. Unter den ansässigen Volksmedizinern waren – zumindest im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert – Männer und Frauen in ungefähr gleichem Verhältnis vertreten. Interessant ist, dass das Durchschnittsalter der wegen Kurpfuscherei angeklagten Bauernärzte relativ hoch war. Offenbar stieg das Vertrauen in einen ländlichen Heiler oder in eine Heilerin mit zunehmendem Lebensalter in der Annahme eines im Laufe der Jahre erweiterten Kenntnisstandes und Erfahrungshorizontes. Auch der Ruf als Naturarzt brauchte eine gewisse Zeit, um sich in der Gesellschaft zu festigen. In der Regel war die Reichweite von ansässigen Heilpraktikern nicht sehr groß, sondern beschränkte sich auf ein Gebiet, das noch zu Fuß erreicht werden konnte, also auf Entfernungen bis 10, maximal 15 Kilometern. Zu ihrem Patientenkreis zählte in erster Linie die ländliche Bevölkerung und damit Bauern, Dienstboten und Taglöhner. In kleineren Städten und Märkten suchten aber genauso Handwerker und Gewerbetreibende Rat und Hilfe, ja selbst sozial höherstehende Personen finden wir bisweilen unter ihren Patienten, was die Bauernärzte stets mit großem Stolz herausstrichen. Neben den ansässigen Volksmedizinern spielten die nicht sesshaften Kurpfuscher eine zwar geringere, aber umso auffälligere Rolle. Unter ihnen gab es einige Wanderhändler, die Arzneien für Mensch und Tier verkauften und in Verbindung damit auch ärztliche Ratschläge erteilten. Den örtlichen Behörden wurde oftmals eingeschärft, die Waren solcher vorgeblicher »Ölträger« zu kontrollieren und verdächtige Hausierer unnachsichtig zur An-
6
Vgl. Victor Fossel: Volksmedicin und medicinischer Aberglaube in Steiermark. Ein Beitrag zur Landeskunde. Graz 1885, S. 42f.; Hans Matschek: Der verfemte Beruf der Wasenmeister. In: Carinthia I 180 (1990), S. 401-435.
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zeige zu bringen.7 In ganz Österreich kannte man die Tiroler Ölträger, von überregionaler Bedeutung waren außerdem die ungarischen »Schwefelträger«, die Schwefelöl, Schwefelblüten, Petroleum, Terpentin und ähnliche Substanzen in ihrem Angebot hatten. Daneben versuchten sich aber auch Vaganten aller Art, seien es nun Personen mit einem ambulanten Gewerbe, Hadernsammler oder Bettler, mehr oder weniger versteckt als Wunderheiler. Bei einem Blick auf die Palette der von den Volksmedizinern behandelten Leiden begegnen wir fast allen menschlichen Gebrechen, beginnend von der berüchtigten Fraisen und der »Fallsucht« über Beinfraß und »Goldene Ader« bis hin zu »Blutgang« und »Mutterzuständen«.8 Doch nicht jeder Heilkünstler konnte bei jeder Art von Krankheit helfen, manche gaben dezidiert zu Protokoll, nur »äußere Kuren« vorzunehmen, also in erster Linie bei Wunden und Knochenbrüchen aktiv zu werden, von »innerlichen Krankheiten« jedoch die Hände zu lassen. Einige Naturheiler hatten medizinische Spezialgebiete, in denen sie sich besonders gut auskannten und wo sie die meisten Erfolge verbuchen konnten.
7
Vgl. Erna Lesky: Österreichisches Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus (= Archiv für österreichische Geschichte 122/1). Wien/ Graz 1959, S. 95.
8
»Fallsucht« steht für Epilepsie. Zum vielfältigen Krankheitsbild der »Fraisen« vgl. Elfriede Grabner: Krankheit und Heilen. Eine Kulturgeschichte der Volksmedizin in den Ostalpen. 2., korrig. u. erw. Aufl. Wien 1997, S. 55-62. »Goldene Ader« meint Hämorriden, »Blutgang« vermutlich die rote Ruhr. »Mutterzustände« bezeichnen kollektiv die Hysterie mit all ihren Erscheinungen.
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Abbildung 1: Alte Frau mit Kropf, Gouache von Johann Lederwasch als Illustration von Johann Felix Knaffl: Versuch einer Statistik vom kameralischen Bezirke Fohnsdorf im Judenburger Kreise, 1813
Steiermärkisches Landesarchiv, Hs. 580.
Die vor Gericht gestellten Kurpfuscher waren – wie aus den Verhörprotokollen ersichtlich ist – vielfach Analphabeten und des Lesens und Schreibens unkundig. Nur wenige konnten daher ihre medizinischen und pharmazeutischen Kenntnisse aus Büchern gewinnen, umso wichtiger waren daher mündliche Überlieferung sowie eigene Naturbeobachtung. Die von den Bauernärzten verwendeten Heilmittel waren mannigfaltig, sowohl in ihrer Zusammensetzung als auch in ihrer Anwendung.9 Äußerlich wurden in ers-
9
Beispielhaft etwa die Heilmittel und Methoden des Bauerndoktors Mathias Schicklgruber aus Großlobming Anfang des 19. Jahrhunderts: StLA, Hs. 580:
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ter Linie Salben zum Einreiben und Schmieren verabreicht bzw. Pflaster aufgelegt, für innere Leiden verordnete man häufig verschiedene Laxierund Purgiermittel, also Substanzen, denen abführende Wirkung zukommen sollte. Durch die Entleerung und Reinigung erhoffte man zugleich, die Krankheit aus dem Körper zu vertreiben. Oftmalige Verwendung fanden ebenso »niederschlagende Pulver« oder »Hitzpulver« zur Fieberbekämpfung. Neben altbekannten Pflanzen, Kräutern und Gewürzen griff man auch zu organischen und anorganischen Stoffen, die sich mit dem kritischen Blick von heute nicht unbedingt als Arzneimittel zu eignen scheinen, wobei selbst vor dem Einsatz stark giftiger Elemente nicht zurückgeschreckt wurde.10
M AGISCHE E LEMENTE IN DER V OLKSMEDIZIN
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P RAKTIKEN
Historisches volksmedizinisches Wissen ist neben der Sammlung von Erfahrungen untrennbar mit Magie und Aberglauben verbunden. Wie Richard van Dülmen postuliert, lässt sich ein adäquates Magieverständnis nur aus mentalen und sozialen Zusammenhängen der feudal-ständischen Gesellschaft gewinnen, wobei Magie nicht bloß mit heidnisch-vorchristlicher Tradition oder vorwissenschaftlichem Denken gleichgesetzt werden darf, ebenso nicht als konstruierter Gegensatz zur Religion. Unbestritten ist allerdings, dass sich im 18. Jahrhundert ein bemerkenswerter Wandel vollzog. Dem aufklärerischen Geist erschien Magie zunehmend irrational und abergläubisch, er definierte sie als spezifisch primitiv-unterschichtische Denkform und begann zwischen magischen, religiös-christlichen und wissenschaftlichen Vorstellungen zu differenzieren. Aberglaube erschien aus dieser Perspektive heraus nicht nur als Abweichung von der kanonisierten christlichen Lehre, sondern auch von Rationalität und Verstandesdenken.11 Dieser Prozess wies je-
Joh. Felix Knaffl: Versuch einer Statistik vom kameralischen Bezirke Fohnsdorf im Judenburger Kreise, 1813, fol. 329-341. 10 Vitriolöl (Schwefelsäure) oder Arsen wurden beispielsweise ohne Bedenken verabreicht. Vgl. StLA, Murau, Stadt, K. 87, H. 2296: Bader, Kurpfuscher 1768; StLA, Bezirksgericht Eibiswald, K. 11: Polizeiübertretungen Burgstall 1808-1847. 11 Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung 16.-18. Jahrhundert. München 1994, S. 78-96.
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doch viele Inkonsequenzen auf, was manche Widersprüchlichkeiten zur Folge hatte. Das gilt es auch für die folgende Darstellung zu beachten. Viele Heilmittel und Behandlungsmethoden, die aus heutiger Sicht magisch determiniert scheinen, wurden in der Schulmedizin des 19. Jahrhunderts noch nicht angezweifelt, sondern stellten anerkannte Bestandteile der gelehrten ärztlichen Praxis dar. Robert Jütte versteht unter magischer Heilkunde ganz allgemein jene Heilmethoden, die sich auf geheimnisvolle Naturkräfte im Kosmos berufen, welche zum Zweck der Genesung mit bestimmten Techniken und »Medien« auf den kranken menschlichen Körper gelenkt werden.12 Unter diesem Gesichtspunkt trug Magie einen zutiefst instrumentalen Charakter als Inbegriff menschlicher Handlungen, die auf gleichnishafte Weise ein gewünschtes Ziel zu erreichen suchten.13 Ausgehend von der Definition einer Krankheit als ein von außen geschicktes Übel erschien auch die Anwendung magischer Praktiken in ihrer Abwehr schlüssig.14 Im Hinblick auf den medizinischen Standard der frühen Neuzeit darf es nicht verwundern, dass Menschen in ihrer Hilflosigkeit Konstrukte entwickelten, die es ihnen möglich machten, den Alltag zu bewältigen. Elementarer Aspekt der Volksmagie ist der Glaube an Sympathie, also die Vorstellung, dass alle Menschen und Tiere, aber auch alle Pflanzen und anorganischen Stoffe miteinander in Verbindung stünden, wobei sich Übereinstimmungen und spezielle Verwandtschaften an der Ähnlichkeit bestimmter Signaturen erkennen ließen.15 Grundlegend für die Volksmedizin ist auch die Anwendung des Prinzips der Analogie, dass also Gleiches durch Gleiches bewirkt werden könnte. Ausgehend von diesen Grundsätzen bediente man sich vieler weiterer Elemente aus Volksmagie, Volksfrömmig-
12 Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. München 1996, S. 66f. 13 Vgl. Leander Petzoldt: Magie und Religion. In: Volksfrömmigkeit. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1989 in Graz, hg. von Helmut Eberhart, Edith Hörandner und Burkhard Pöttler (= Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde NS 8). Wien 1990, S. 331-350, hier S. 333f. 14 Vgl. Eva Kreissl/Roswitha Orac-Stipperger/Jutta Trafoier: Heilsam. Volksmedizin zwischen Erfahrung und Glauben. Sonderausstellung Volkskundemuseum am Landesmuseum Joanneum. Graz 2006, S. 31. 15 Vgl. Fossel, Volksmedicin, S. 21f.
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keit und Religion. Gepaart mit dem Überlieferungsschatz des medizinischen Wissens der Zeit, ergab dieses Konglomerat im 18. und 19. Jahrhundert ein überreichliches Reservoir an Gegen- und Abwehrmitteln – sowohl gegen Krankheiten als auch dahinterstehende böse Mächte. Im Sinne einer sympathetischen Therapie schrieb man dem menschlichen Körper besondere Heilkraft zu, entweder als Ganzes in Form der berühmten Mumie oder aber in Form einzelner Körperteile bzw. -produkte.16 Im Angebot der steirischen Bauernärzte und Kurpfuscher stand unter anderem das Menschenfett, dessen Verwertung in Zedlers Universallexikon Mitte des 18. Jahrhunderts noch ausführlich beschrieben wird.17 Äußerlich als Salbe angewandt, sollte es bei vielerlei Leiden Abhilfe schaffen.18 Der Vagant Mathias Rosser verkaufte es 1784 in der Untersteiermark – mit Branntwein vermischt – für teures Geld als Mittel gegen Seitenstechen. Vor Gericht darum befragt, musste er freilich zugeben, dass die Salbe nur aus Branntwein, Schweineschmer und Bilchfett bestand.19 Auch das in den Apotheken noch bis ins 19. Jahrhundert angebotene Menschenfett ging wohl in erster Linie auf tierische Fette zurück, was dem Glauben an seine positive Wirkung keinen Abbruch tat.
16 Elfriede Grabner weist darauf hin, dass im 17. Jahrhundert nicht weniger als 24 Teile des menschlichen Körpers als wunderkräftige Heilmittel in jeder Apotheke vorrätig sein sollten. Grabner, Krankheit und Heilen, S. 199. 17 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. Leipzig 1739, Bd. 20, Sp. 749. Zur besonderen Wirkkraft des Menschenfetts vgl. Elfriede Grabner: »Menschenfett« und »Mumie« als Heilmittel. Volksmedizin, Volksglaube und Schauermärlein um die medizinische Verwertung menschlicher Leichen. In: Neue Chronik zur Geschichte und Volkskunde der innerösterreichischen Alpenländer Nr. 64 (1961) (= Eigenbeilage zu Nr. 107 der Südost-Tagespost, 10.05.1961). 18 Vgl. Hartmut Heller: »Siegelerden, Tartüffel, Einhorn und Mumia«. Aberglaube in Volksernährung und Volksmedizin. In: Aberglaube, Magie, Religion, hg. von Max Liedtke im Auftrag des Matreier Kreises. Prof. Dr. Walter Hirschberg zur Vollendung des 90. Lebensjahres (= Matreier Gespräche). Graz 1995, S. 46-64, hier S. 56f. 19 StLA, Gutenhaag, Herrschaft, K. 4, H. 42: Kurpfuscherei 1781-1785. Zu den Bilchen, auch Schläfer oder Schlafmäuse genannt, zählen in unseren Breiten vor allem der Siebenschläfer und die Haselmaus.
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Aus dem Tierreich stammte ebenfalls eine Reihe von Pharmazeutika, denen in erster Linie magische Bedeutung zukam. Eng mit dem Volksglauben verbunden war die Kröte, die man in die Nähe des Zauber- und Hexenwesens rückte.20 Kröten und ihre Bestandteile waren universell einsetzbar, sie fanden Anwendung gegen Abzehrung (Atrophie) genauso wie gegen Heiserkeit oder Hämorrhoiden. Als der Hausierer und Bettler Paul Steinhuber 1788 von der Grundherrschaft Donnersbach aufgegriffen und vor Gericht gestellt wurde, traten in seiner Butte eine Reihe bedenklicher Handelswaren zu Tage, darunter ein Krötenfuß: »Den Krötenfuß aber gebrauchen wir für die Kolik.«21 Victor Fossel bestätigt – insbesondere für das Ennstal – die Einnahme von gedörrten und zerstoßenen Kröten als tradiertes Heilmittel gegen das »Leibschneiden«, auch von Krötenextrakten sowie von Krötensuppen versprach man sich Erleichterung.22 Was der Kurpfuscher Steinhuber tunlichst nicht zur Sprache brachte, war die Tatsache, dass Krötenpulver genauso als Abwehrzauber gegen das Verhexen oder Verschreien gebraucht werden konnte, womit sich sicher bessere Geschäfte machen ließen. Die Anwendung des Analogieprinzips zeigt sich bei den als Heilmittel gebrauchten Krebsaugen, eigentlich Krebssteinen (lapides cancrorum) besonders deutlich. Darunter versteht man steinige weiße oder gelbe Körperchen, die sich zwischen den Magenhäuten des Flusskrebses bilden und aus kohlensaurem und phosphorsaurem Kalk sowie Gallert bestehen. Aufgrund ihrer äußeren Form schienen diese Steinchen aus magischer Sicht prädestiniert zum Einsatz gegen Augenkrankheiten,23 doch verselbständigte sich dieser Glaube an ihre Heilkraft, sodass sich »Krebsaugen« als Bestandteile vieler verschiedener Medizinalmischungen finden lassen. So ging man davon aus, sie würden wegen ihres Kalkgehaltes alle Säuren dämpfen und entziehen und gebrauchte sie unter anderem gegen Fieber, Kopfweh und Epi-
20 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (= HDA), hg. von Hanns BächtoldStäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer, Bd. 5. 3. Aufl. Berlin/ New York 2000, Sp. 608-635. 21 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 58, H. 204: Landgerichtsprotokolle, 1788-1799. 22 Vgl. Fossel, Volksmedicin, S. 65, S. 85, S. 99, S. 117f., S. 123. 23 Vgl. Ida Pohl-Sennhauser: Rattenschwanz und Schneckenschleim. Aberglaube oder vergessene Volksmedizin? Wien/Köln/Weimar 2007, S. 48-52.
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lepsie.24 Die Weißkirchner Bauernärztin Theresia Scheiber bereitete Ende des 18. Jahrhunderts mit Hilfe der Krebsaugen »niederschlagende Pulver«, die das Fieber senken sollten: »Ich nehme dazu präparirte gute Perl, dann rohe und präparirte Krebsaugen, Magnesi, Zucker, Weinstein und Lemonischallen.«25 Ihre Arznei entfaltete jedoch nicht die erhoffte Wirkung, und die solcherart behandelte Patientin starb. Ebenfalls eine lange Tradition als medizinisches Heilmittel kommt dem »Spermaceti« zu, sowohl in der innerlichen als auch äußerlichen Anwendung.26 Dieses Walrat oder Walöl, das man ursprünglich – wie der Name belegt – irrtümlicherweise für Samenflüssigkeit hielt, ist eine fett- und wachshaltige Substanz, die in großer Menge im Vorderkopf von Pottwalen enthalten ist. Für den Einsatz in der Volksmedizin spielt sicherlich die sagenumwobene Herkunft dieses Mittels aus dem Körper des riesenhaften, im Meer lebenden Säugetieres eine Rolle. Auch im steirischen Bergland war man mit dem Walrat gut vertraut. Elisabeth Migitsch, die ihren sich als Feldscher ausgebenden Mann begleitete und auch den einen oder anderen ärztlichen Ratschlag gab, wandte dieses Mittel Ende des 18. Jahrhunderts bei einer schwangeren Frau an, die sie um Hilfe wegen ihrer Bauchschmerzen bat. Eine »rote Sparmazet Salbe« sollte gegen den vermuteten »Brand« helfen, unterstützt von Kümmelöl und »Katharinenöl«, vermutlich oleum petrae album, also Petroleum. Als Gegenleistung für ihre Medizin erhielt die Vagantin für sich und ihre Kinder ein Essen, ein Nachtlager und ein
24 HDA, Bd. 5, Sp. 458f.; Grabner, Naturärzte, S. 90f.; Grabner, Krankheit und Heilen, S. 58. Das gilt noch für die Schulmedizin des 19. Jahrhunderts: Theoretisch-praktisches Handbuch der Chirurgie, mit Einschuss der syphilitischen und Augen-Krankheiten; in alphabetischer Ordnung, hg. von Joh. Nep. Rust, Bd. 3. Berlin/Wien 1830, S. 567f. 25 StLA, Weißkirchen, Markt, Sch. 87, H. 169: Strafsachen 1830-1835. Zur Präparierung wurden die Krebssteine mit heißem Brunnenwasser übergossen, getrocknet und pulverisiert. Vgl. Vincenz Kletzinsky: Compendium der Pharmakologie, als kurze Erläuterung der neuen österreichischen Pharmakopoe und der darin enthaltenen Arzneimittel. Nach dem gegenwärtigen Stande für Ärzte und Pharmaceuten. Wien 1857, S. 502f. 26 Vgl. Georg Friedrich Most: Encyklopädie der gesammten Volksmedicin. Leipzig 1843 (Nachdruck 1984), S. 577; HDA, Bd. 9, Sp. 66; Pohl-Sennhauser, Rattenschwanz, S. 263.
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Maß Schwarzbeerbranntwein. Trotzdem zeigte sich die behandelte Frau nicht sehr dankbar: »Es ist mir wohl besser worden, ich glaube aber, dass es mir ohne diesem auch gut worden wäre, weil das wenige Brennen meiner Meinung nur die s. v. Wind getan haben mögen.«27 Abbildung 2: Auszug aus dem Verhörprotokoll der Bauernärztin Theresia Scheiber mit dem Verweis auf gebrauchte Heilmittel, 10. Februar 1835
Steiermärkisches Landesarchiv, Weißkirchen, Markt, Sch. 87, H. 169.
27 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784.
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Abbildung 3: Steirische Gebirgsgegenden als bevorzugte Gebiete betrügerischer Wunderheiler
Steiermärkisches Landesarchiv, OBS-Donnersbachwald-II-001.
Das bisher Gesagte gilt auch für pflanzliche Heilmittel. Nur zu oft finden sich Rezepte, deren Ingredienzien und Zusammenstellungen einer wissenschaftlich-logischen Überprüfung nicht standhalten können. Aus dieser Fülle seien nur die ärztlichen Ratschläge von Johann Schulter aus dem weststeirischen Preding herausgegriffen. 1801 musste er sich nach der Anzeige von drei dort ansässigen Chirurgen über seine Kuren rechtfertigen, im Zuge dessen auch seine Behandlung eines gallenkranken Mannes zur Sprache kam: Dafür habe er ein Bad bereiten lassen, das aus »beiläuffig 1 Maaß Ameisbrut, 5 Rubschalen, 1 Handvoll Kleiben, 1 Handvoll Hollerne Beiss Rinden« bestand.28 Leuchtet die Verwendung der Ameisensäure noch durch
28 StLA, Hornegg, Herrschaft, K. 39, H. 96: Verhör- und Strafprotokoll; K. 40, H. 97: Politisches Verhör- und Strafprotokoll. Interessant ist, dass ausgerechnet einer dieser Chirurgen dem in Frage stehenden Patienten vorher zur Heilung empfahl, sich »neun Tage in eine frische Erde bis auf die Arme, aber allzeit in ein neues Loch eingraben« zu lassen, was nicht sehr viel fachkundiger anmutet.
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ihre hautreizende und damit durchblutungsfördernde Wirkung ein, fehlt für die übrigen Elemente jede Erklärung: Kleie half gegen ein ganz anderes Krankheitsbild, Holunderrinde entfaltete nur innerlich seine Heilkraft, und die Wirkstoffe der Weißen Rübe sind pharmazeutisch nicht bekannt.29 Vielerlei Herleitungen und krause Zuschreibungen führten letztlich zu einem Gemisch, das wohl ohne befriedigendes Ergebnis bleiben musste. Nicht zuletzt trug auch die volksmedizinische Nutzung vieler anorganischer Stoffe einen magischen Charakter in sich. In besonderem Maß erwartete man von Edelsteinen aufgrund deren Kostbarkeit und Schönheit eine positive Wirkung für die Gesundheit des Menschen. Als Talisman sollten sie nach außen gegen die Mächte des Bösen schützen, als Essenzen oder Pulver innerlich genossen das Gleichgewicht der Kräfte wieder herstellen. Stellvertretend sollen an dieser Stelle die bereits angesprochenen Perlen – auch wenn es sich dabei streng genommen um organisch gewachsene Substanzen handelt – erwähnt werden. Die Perlenmedizin hatte schon im Mittelalter einen überaus hohen Stellenwert und fand selbst in den Lehrbüchern der Pharmazie noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren festen Platz. Perlen wurde unter anderem eine fiebersenkende und entgiftende Wirkung zugeschrieben, sie sollten das Verkalken von Arterien verhindern und gegen hohen Blutdruck wirken.30 In der Steiermark ging die Anwendung im 18. und 19. Jahrhundert quer durch alle soziale Schichten. Selbst in adeligen, städtischen Haushalten griff man zu »Mixturen mit guten Perlen«,31 genauso wie auf dem flachen Land. 1842 holte die »Afterhebamme« Katharina Ollautz aus Neumarkt Perlmilch aus der Apotheke, um die Fraisen eines Neugeborenen zu lindern. Dieses »aqua perlata«, das in der Regel aus Perlenpulver, Essig oder Zitronensaft, Zucker und Kräutern bereitet wurde, konnte bei dem erkrankten Säugling aber keine Wunder mehr wirken. 32
29 Vgl. zu diesem Fall: Bernd E. Mader: Eine Untersuchung gegen Johann Schulter vulgo Müllerhansl aus Kleinpreding wegen Kurpfuscherei. In: ZHVSt 96 (2005), S. 352-354. 30 In diesem Sinne wurde sie von der Bauernärztin Theresia Scheiber angewandt. StLA, Weißkirchen, Markt, Sch. 87, H. 169: Strafsachen 1830-1835. 31 StLA, Batthyány, Familie: K. 1, H. 4: Sigmund Graf von Batthyány: Rechnungen und Quittungen 1741-1770. 32 StLA, Neumarkt, Markt, K. 5, H. 114: Strafsachen: Kur- und Hebammenpfuscherei 1842.
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Noch deutlicher als an einzelnen Objekten lassen sich magische Elemente an volksmedizinischen Praktiken festmachen.33 Besonders häufig begegnet man in der Steiermark der sogenannten Transplantation, also der Übertragung von Krankheiten auf organische oder anorganische Stoffe, seien es nun Menschen, Tiere, Pflanzen oder die unbelebte Natur.34 Ein besonders interessanter Fall, bei dem gleich mehrere sympathetische Verfahren zusammenlaufen, findet sich 1778 in Donnersbach. Ein vorgeblicher Feldscher und sein Gehilfe verkauften als Mittel gegen die von ihnen diagnostizierten Krankheiten ein »wundertätiges Pflaster«, das die beiden Kurpfuscher in der Regel aus einigen Messerspitzen Roggenmehl, Salz, Asche, Eiklar, Schmalz, zwei verschiedenen Ölen sowie etwas »Stupp« bereiteten.35 Diese Salbe wurde auf drei Leinenstücke aufgestrichen. Das erste Pflaster sollte drei Tage und drei Nächte auf den Körper gelegt und dann verbrannt, das zweite Pflaster sechs Tage und sechs Nächte aufgelegt und später ins Wasser geworfen, das dritte Pflaster endlich neun Tage und neun Nächte aufgelegt und anschließend unter einem grünen Baum vergraben werden. Nach dem Verdorren des Baumes würde die Heilung eintreten.36 Man begegnet damit sowohl der reinigenden Kraft des Feuers, des Wassers als auch der Übertragung des Krankheitsstoffes auf einen anderen Organismus, der anstelle des Leidenden zugrunde geht.37 Nicht zuletzt ist auch die volkstümliche Zahlensymbolik nicht zu übersehen, in der die Zahl Drei eine tragende Rolle einnahm.
33 Als Beispiele vgl. Elfriede Grabner: Das »Zapflheben«. Volksmedizin und magische Heilmethode um das Gaumenzäpfchen. In: BlHK 37 (1963), S. 23-28; Elfriede Grabner: Mondglaube und Mondkraft in der Volksmedizin. In: ZHVSt 54 (1963), S. 79-89. 34 Vgl. Elfriede Grabner: Die »Transplantatio morborum« als Heilmethode in der Volksmedizin. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XXI/70 (1967), S. 178-195; Grabner, Krankheit und Heilen, S. 232-241. 35 Die zugrunde liegenden Pulver bestanden u.a. aus Sassafras, Sassaparille und Lignum sanctum. 36 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784. 37 Vgl. Grabner, Transplantatio, S. 178; Elfriede Grabner: Heilende Wasser in Volksmedizin und Naturheilkunde. In: BlHK 74 (2000), S. 154-164; Fossel, Volksmedicin, S. 25.
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Neben diesen Ritualen war für die Wirksamkeit der Medizin aber noch ein weiteres Element entscheidend: »Für die Armen Seelen müsste man auch beten, so oft man die Pflaster hinweg werfe.«38 Damit wird ein weiterer Bereich der magischen Volksmedizin angesprochen, nämlich die Verbindung zu Religion und Gebet. Die extremste Ausformung erfuhr diese Heilmethode durch das sogenannte Abbeten, bei dem eine Krankheit durch Wort und Gebärde vertrieben werden sollte.39 In der Regel geschah das ebenfalls durch religiöse Anrufungen, an ihre Stelle konnten aber auch nur schwer verständliche, mitunter sinnentleerte magische Beschwörungen und Formeln treten. Auf die Heilkraft des Wortes vertraute etwa die 1788 in der Obersteiermark herumziehende Krämerin Eleonora Lafortun. Sie näherte sich dem Übel indirekt an, indem sie einfache Wurzeln durch Gebete und Segenssprüche zu Abwehrmitteln für Mensch und Tier umdeuten wollte: »Ich aber gab ihr drei Wurzen unter Aussprechung der Heiligen Dreifaltigkeit, befahl ihr mit diesen Wurzeln das Vieh zu bestreichen.«40 Den Erfolg abzuwarten, hatte die Frau keine Zeit mehr, da sie der Gerichtsdiener gleich darauf wegen ihres unbefugten Praktizierens abholte. Im Alltag verschwamm das Wissen um magisch aufgeladene Objekte und symbolische Handlungen, manches wurde falsch verstanden, manches nur verstümmelt weitergegeben. In der volksmedizinischen Praxis war für alles Platz. Symptomatisch für diese Vielfalt darf der Inhalt der Kraxe des Kurpfuschers Paul Steinhuber gelten. Darin fanden sich Rezepte für Medikamente, mehrerlei Wurzeln als pflanzliche Heilmittel, verschiedene Arzneien in Pulverform für Mensch und Tier, ein Krötenfuß zum magischen Gebrauch, Wünschelruten und schließlich ein »Loreto-Glöckl – zum Wettersegnen«.41 Damit hatte der Wanderhändler quasi ein Rundum-Paket für jedes menschliche Bedürfnis geschnürt.
38 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784. 39 Vgl. Hermann Steininger: Über das »Abbeten« oder Wenden« in der nordöstlichen Steiermark. Ein Beitrag zur Volksmedizin. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XIX/68 (1965), S. 1-37; Elfriede Grabner: Das »Abbeten«. Magische Heilmethoden und Beschwörungsgebete in der Steiermark. In: ZHVSt 53 (1962), S. 359-370. Als Überblick: Jütte: Alternative Medizin, S. 90-103. 40 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 64, H. 214: Kriminalprozesse 1784-1795. 41 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 58, H. 204: Landgerichtsprotokolle 1788-1799.
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B ETRÜGERISCHER U MGANG MIT
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V OLKSGLAUBEN
Das Fortdauern althergebrachter magischer Vorstellungen in der steirischen Volksmedizin konnte trotz aller Bemühungen der Aufklärung nicht so einfach beseitigt werden. Anfang des 19. Jahrhunderts klagten Behörden und Mediziner einhellig über das »leichtgläubige Landvolk«, dem übel meinende Betrüger die absonderlichsten und wirkungslosesten Produkte aufschwatzen könnten.42 Diese Sichtweise ist allerdings zu kurz gegriffen und wird dem Urteilsvermögen der Menschen nicht gerecht. Richtig ist zwar, dass die steirische Landbevölkerung keinerlei Unrechtbewusstsein hatte, wenn sie volksmedizinische und damit auch magische Praktiken anwandte, was dazu führen konnte, dass man behördlich verfolgte »Wanderärzte« und deren Utensilien vor den Landgerichtsdienern versteckte und ihnen die Flucht ermöglichte.43 Richtig ist allerdings auch, dass die Menschen nach einer Zeit der Überlegung betrügerische Vorspiegelungen sehr wohl erkannten oder zumindest erahnten und auch selbst zur Anzeige brachten. Auffällig ist dabei, dass die Bereitschaft, volksmagischen Vorstellungen anzuhängen, in entlegenen Gebieten noch deutlich ausgeprägter war; nicht zufällig haben sich etwa gerade im Landgerichtsbezirk Donnersbach mit seinen abseitigen Höhen und Bergtälern besonders viele einschlägige Quellen erhalten. Die Frage, ob vorgeblich heilkundige Personen ihre Mittel und Methoden in betrügerischer Absicht unter das Volk brachten, ist nicht so leicht zu beantworten. Die zur Verantwortung gezogenen Angeklagten leugneten vor Gericht natürlich jeden bösen Vorsatz und beteuerten im Gegenteil, von der Wirkkraft ihrer Präparate überzeugt gewesen zu sein. Tatsächlich war die Bandbreite zwischen dem festen Glauben an die eigene Kunst und einer absichtlich begangenen betrügerischen Handlung sehr groß. Das hauptsächliche Ziel vieler »Wanderärzte« war es, Geschäfte zu machen und sich ihr Brot zu verdienen, die eigentliche Heilung stand dabei im Hintergrund. Um den Absatz zu verbessern, wurde das Produkt für den Konsumenten attraktiver gemacht, wobei die Grundsubstanz aber in der Regel erhalten blieb.
42 Vgl. z.B. J. P. Frank: System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 6, Teil 1: Von der Heilkunst und den medicinischen Lehranstalten im Allgemeinen. Wien 1817, S. 233; Mathias Macher: Medizinisch-statistische Topografie des Herzogtumes Steiermark. Graz 1860, S. 191f. 43 StLA, Weißkirchen, Markt, Sch. 95, H. 178: Polizeiliche Übertretungen 1756-1824.
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Die Grenze zwischen Wunderglauben und inszenierter Gaukelei verschwamm dabei. Unbestreitbar ist, dass alle vor Gericht gestellten Betrüger über volksmedizinische Kenntnisse verfügten. Sie besaßen ein – mehr oder weniger beschränktes – Repertoire zum Erkennen von Krankheitsbildern und damit verknüpften Heilmitteln. Der Wanderhändler Jakob Migitsch wollte bei einer Bäuerin etwa den »Weißen Herzbrand« wahrgenommen haben, denn: »Sie hat ja das Drucken auf der Brust gehabt«; einem anderen Bauern prophezeite er, dass ihn bald der Schlag träfe, denn »wenn einem die Dämpf aufgingen, den Menschen die Gewalt Gottes treffen könnte«. Sein jugendlicher Komplize Johannes wusste wiederum, dass bei großen Augenadern die Gefahr des Schlaganfalls drohen würde, während bei gelben Augenadern die »Weißflüchtige Galle« Ursache wäre.44 Geschickt verstanden es die Männer, die Symptome der Menschen auf die ihnen bekannten Krankheiten hinzudeuten und magische Vorstellungen aufzugreifen und zu verstärken. Als ein Bauer Zweifel über die gestellte Diagnose äußerte, konterte der Wanderarzt sofort mit der Lehre von den drei schwebenden Blutstropfen: Jeder Mensch trüge demnach drei Blutstropfen im Kopf. Beim Herabfallen des rechten bzw. linken Blutstropfens würde die rechte bzw. linke Körperseite eines Menschen gelähmt sein, beim Herabfallen des mittleren Tropfens aber müsste er sterben.45 Damit konnte er den Bauern so verunsichern, dass er ihm schließlich die Medizin abkaufte. Der Weg von der Manipulation bis zur bewussten Irreführung war jedoch kein weiter. Im genauen Wissen um die Wünsche der Landbevölkerung machten die Wanderhändler auch grundlegend falsche Angaben über das Wesen und die Zusammensetzung ihrer Heilmittel, um den Bedürfnissen besser entsprechen zu können. Mit dem Vorgeben, seine Salbe aus Menschenfett bereitet zu haben, wollte der Vagant Mathias Rosser das einfache Hausmittel mit magischer Heilkraft ausstatten und damit den Absatz fördern.46 Auch die »Galgenmännl«, welche die wandernde Ärztin Anna Schmidt in ihrer Kraxe mit sich führte, und die als Glücksbringer nicht nur gegen jede
44 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784. 45 Vgl. dazu Elfriede Grabner: Die drei schwebenden Blutstropfen im Kopfe des Menschen. Von Ursache und Entstehung der Apoplexie in der Volksmedizin. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1961, S. 72-75. 46 StLA, Gutenhaag, Herrschaft, K. 4, H. 42: Kurpfuscherei 1781-1785.
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Art von Krankheit, sondern gegen alle Wechselfälle des Schicksals helfen sollten, hatten mit einer Alraune (Mandragora) nicht das mindeste zu tun; sie waren Imitate, gefertigt aus der abgezogenen Haut eines Frosches.47 Den End- und zugleich Gipfelpunkt dieser Entwicklung bildeten jene Wunderheiler, die zumindest versteckt mit Zauberei operierten. Dieses gefährliche Spiel mit dem Aberglauben wagte man jedoch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert, als die reale Gefahr, als Hexe oder Zauberer erbarmungslos verfolgt und vernichtet zu werden, gebannt war. Katharina Richter versuchte 1776 in Donnersbach, ihr kärgliches Einkommen als wandernde Krämerin dadurch aufzubessern, dass sie Wurzeln verkaufte, durch die man »von aller Zauberei sicher sein solle« und überdies innerhalb von acht Tagen einen glücklichen Zufall erleben würde.48 Nicht minder verheißungsfroh klangen die Versprechungen der zwölf Jahre später durch Donnersbach wandernden Eleonora Lafortun. Sie wusste genau, woher die Krankheit und das Unglück der Bauernfamilie vulgo Prantstetter herrührten, hätte man sie doch vor neun Jahren verzaubert. Damals wäre der vom Hochgericht geholte Arm eines armen Sünders, halb verbrannt und mit Haaren der Familie und Mist aus dem Stall bestreut, im Keller des Bauernhauses eingegraben worden.49 Diesem Schadenzauber gelte es nun zu begegnen. Alle Vorbereitungen waren bereits getroffen, als Lafortun vom Landgerichtsdiener eingezogen wurde – sehr zum Leidwesen des Bauern: »Ich hätte nur gern gewusst, ob sie in meinem Keller wohl was finden würde, wenn sie einmal gegraben hätte, würde ich sie nicht verschwiegen haben.«50 Um die Landbevölkerung zu beeindrucken und an die Wirkmächtigkeit ihrer Mittel und Praktiken glauben zu lassen, mussten sich die vermeintlichen Wunderheiler inszenieren. Das taten sie mit einem entsprechend selbstsicheren Auftreten, häufig gepaart mit dem Verweis auf ihre angebliche berufliche Ausbildung. Männer gaben vor, zumindest Bader, wenn nicht gar Feldschere oder Militärärzte zu sein,51 aber auch Frauen ließen sich als
47 StLA, Rothenfels, Herrschaft, K. 181, H. 610: Vaganten, Bettler und Landstreicher 1625-1837. Zur Alraune vgl. zusammenfassend: HDA, Bd. 1, Sp. 312-324. 48 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 62, H. 212: Kriminalprozesse 1772-1777. 49 Zur Zauberkraft der Leichenteile eines Hingerichteten vgl. HDA, Bd. 4, Sp. 43-53. 50 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 64, H. 214: Kriminalprozesse 1784-1795. 51 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784; Gutenhaag, Herrschaft, K. 4, H. 42: Kurpfuscherei 1781-1785; Weißkirchen,
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»Doctorin« titulieren. Prädestiniert für dieses Geschäft waren in erster Linie Vaganten, die von Ort zu Ort zogen und allein durch ihre Eigenschaft als Fremde gewisse magische Kräfte erwarten ließen.52 Sie zeichneten sich durch eine gewisse Weltgewandtheit und Gewitztheit aus, wobei sie den unbedarften, abseitig lebenden Bauern in jeder Hinsicht überlegen waren. Dazu kam noch der Vorteil ihrer Beweglichkeit: Im Gegensatz zu den ansässigen Bauernärzten, die bei Versagen ihrer Heilkuren zur Verantwortung zu ziehen waren, konnten sie jederzeit die Flucht ergreifen, sollte der Misserfolg ihrer Anwendungen allzu offenbar werden. Nicht zufällig sind daher alle in den steirischen Gerichtsakten fassbaren Angeklagten wegen betrügerischer Heilpraktiken Angehörige des fahrenden Volkes, also in erster Linie Wanderhändler und Krämer, aber auch Ölträger, Zotenträger oder Wurzengräber. Durch ihre gute Menschenkenntnis verstanden sie es, auf ihre jeweiligen Gesprächspartner einzugehen und ihnen gleichsam für jede Situation maßgeschneiderte Konzepte anzubieten. Ein eingespieltes Team waren hier Jakob Migitsch und sein Komplize Johannes Meygy, die einander bei ihren Streifzügen durch Donnersbach mit großer Flexibilität die Bälle zuspielten und rasch die schwachen Seiten ihrer potenziellen Opfer ausmachten. Die Zeichen von Krankheit oder Mangel – schlechtes Aussehen, körperliche Unbeholfenheit – wurden von ihnen bald gedeutet oder suggestiv erfragt. Dass der Bauernknecht Mathias Schmerzen am linken Fuß hatte, blieb ihnen nicht lange verborgen, und mit wachen Augen erkannten sie die Kinderlosigkeit, unter der die 42-jährige Bäuerin am Fischagut zu leiden hatte und gegen die sie just Abhilfe anbieten konnten. Auch wenn keine genauen Symptome vorhanden waren, erklärte der angebliche Feldscher im Brustton der Überzeugung, was Sache wäre: »Er hat mir aber angekennt, dass ich aller miserabel ausschaue, ich hab selbst nicht gewusst, was mir fehlt, der Arzt hat aber zu mir gesagt, ich hätte den weißen Brand.« Wollten Gesprächspartner partout keine körperliche Schwäche zugeben, musste man sie »krank reden«, also schlechterdings erfinden, »es fehlt ihnen dies und
Markt, Sch. 85, H. 167: Strafsachen 1823-1824; Aussee, Markt, K. 231, H. 296: Gerichtswesen, Strafprozesse 1756-1764. 52 Vgl. Gerhard Ammerer: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancién Regime (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29). Wien/München 2003, S. 446-449.
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jenes«. In ihrer Wortwahl waren die beiden Betrüger durchaus nicht zimperlich; drastisch führten sie dem uneinsichtigen Landbewohner vor Augen, welch trauriges Schicksal ihm ohne ihre Hilfe bevorstünde: »Ihn würde in Kürze der Schlag treffen.« Scheinbar uneigennützig nannten der Feldscher oder sein Komplize dann in rascher Folge eine Reihe von kompliziert klingenden Ingredienzien, die für eine Heilung notwendig wären, mit dem immer gleichen Ergebnis: »Der Bauer hat sich diese Stück nicht merken können, darauf hab ich ihm es zu geben versprochen.«53 Die Methode der Einschüchterung und Überrumpelung praktizierten auch andere Wunderheiler mit Erfolg. Gezielt suchten sie sich von einem Ehepaar das schwächere Opfer aus, um es bearbeiten zu können. Bei ihrer Station auf dem Kulmergut in Donnersbach hatte Katharina Richter die Bäuerin schon so weit gebracht, dass ihr diese für eine wundertätige Wurzel aus Furcht eine halbe Elle Leinwand geben wollte. Erst als die Krämerin noch mehr verlangte, wusste sich die in die Enge getriebene Frau nicht mehr anders zu helfen, als um ihren Mann zu rufen, der die vermeintliche Zauberin sogleich vom Hof expedierte.54 Am Zintengut war wiederum die Frau widerständiger (»Ich hab meinem Mann mit den Augen gedeutet, er sollte diesem Menschen nichts glauben«), worauf kurzerhand so lange gewartet wurde, bis man den Bauern allein zu sprechen bekam.55 Um Angst zu erzeugen, griff man zu weitreichenden Prophezeiungen, die für die Betroffenen nicht nur schwere Krankheit und Tod erwarten ließen, sondern überhaupt allgemeines Unglück vorhersahen: »Es würden nicht nur drei Rinder umstehen, sondern auch unsere Kinder wieder elendig werden und wir selbsten wieder krank und müheselig werden.« Um die eigene Glaubwürdigkeit und damit den Schrecken zu erhöhen, wurde – auf der Volksmagie aufbauend – zu manchem Taschenspielertrick gegriffen. Eleonora Lafortun wandte bei dem von ihr heimgesuchten Bauernpaar das sympathetische Verfahren des Messens an:56 Bauer und Bäuerin wurden mit einem Zwirnsfaden abgemessen, der Faden wurde dann in kleine Stücke geschnitten, mit
53 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784. Zu diesem Rollenwechsel des Vaganten zum allwissenden Helfer vgl. Ammerer, Heimat Straße, S. 364f. 54 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 62, H. 212: Kriminalprozesse 1772-1777. 55 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784. 56 Vgl. Grabner, Krankheit und Heilen, S. 102-116.
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Knöpfen versehen und in einen Weihbrunnen getunkt. Würden sich die Knöpfe auflösen, so erklärte die Wunderheilerin, könnte sie dem Ehepaar noch helfen. Tatsächlich vertauschte die Frau in der Folge aber heimlich die Fäden, um ihre Opfer hinters Licht zu führen und gefügiger zu machen.57 Die bereits angesprochene Verbindung zum christlichen Glauben und zu christlichen Ritualen wurde auch von den Betrügern aufgegriffen. Geradezu beispielhaft für die Vermischung von Religion und Magie ist die Person der Katharina Richter, die als Wanderhändlerin für »geistliche Waren« durch die Obersteiermark zog, wobei sie neben Rosenkränzen und »Jerusalem Kreuzeln« ganz selbstverständlich auch »Vieh-Zetteln«, also magische Schluckbildchen für Tiere, feilbot. Damit nicht genug, trat sie als Zauberin in Erscheinung, die mit einer unscheinbaren, geweihten Wurzel allen Schaden abhalten könnte.58 Auch die Krämerin Lafortun wurde nicht müde zu betonen, dass sie ihre Wissenschaft nur »von Gott« hätte, um nur ja nicht in den Geruch von schwarzer Magie zu kommen. Ihre Wurzeln gab sie »unter Aussprechung der Heiligen Namen Gottes und Maria« weiter, musste aber einschränken, dass deren wundertätige Wirkkraft noch vom Lesen von 57 Messen abhängig wäre. Ihre Strategie ging auf, was eine Bäuerin, die »derlei abergläubische Sachen« von ihr gekauft hatte, nur so zu erklären wusste: »Weil sie soviel das Maul gemacht hat und sich so heilig gestellt.«59 Es waren also nicht die magischen Beschwörungen selbst, so unwahrscheinlich sie auch klingen mochten, welche die Menschen bewogen, letztendlich eine Anzeige an die Behörde zu erstatten oder gegen eine vermeintlich wundertätige Person auszusagen. Die in Frage stehenden Betrüger und Betrügerinnen waren schlichtweg zu gierig gewesen. Nicht der Verkauf von Wundermitteln oder der heimliche Zweifel an deren Wirksamkeit, sondern deren horrender Preis waren der Anlass für die Landbevölkerung gewesen, sich zur Wehr zu setzen. Besonders übel nützten Jakob Migitsch und sein Komplize Johannes Meygy die Gutgläubigkeit der Donnersbacher Bauern aus. Die vorher abgemachte Geldsumme verstand sich nach der Zubereitung der Medizin plötzlich »pro Natur«, also pro Pflaster oder pro Gewichtseinheit, und machte damit ein Vielfaches des ursprünglich genannten Betrages aus. Eine solcherart geprellte Inwohnerin erzählte:
57 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 64, H. 214: Kriminalprozesse 1784-1795. 58 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 62, H. 212: Kriminalprozesse 1772-1777. 59 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 64, H. 214: Kriminalprozesse 1784-1795.
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»Darüberhin hab ich ihm die anvor anverlangten 16 x auf den Tisch gezählt, der Bub aber sagte hierauf, das wäre zu wenig, das Lot kostet 16 x, zehn Lot hat er hiezu verbraucht, somit müssen zehn Mal 16 x, also 2 fl 40 x, sein. Ich bin darauf erschrocken, hab auch mit ihm etwas gezankt, allein es hat nichts genutzt, der Bub sagte, ich sollte nur machen und das Geld hergeben.«60
Wollte die eingeforderte Gegenleistung von den Bauern nicht erfüllt werden, schreckten die Betrüger vor unverhohlenen Drohungen nicht zurück, sei es mit dem diesseitigen Gericht, sei es aber auch mit der Rache der jenseitigen Macht. Damit hatten sie den Bogen überspannt, und die Landbewohner versuchten, ihre hart erarbeiteten Kreuzer mit Hilfe der Obrigkeit wieder zurückzubekommen.
B EHÖRDLICHE S ANKTIONEN Noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts konnte es lebensgefährlich sein, der Verwendung magischer Mittel in der Volksmedizin bezichtigt zu werden.61 Selbst die Constitutio Criminalis Theresiana von 1768 kannte noch das Delikt der »Zauberei, Hexerei und Wahrsagerei«. Allerdings wurde nunmehr sehr genau unterschieden, »ob zauberisch anscheinende Handlungen aus Betrug, aus Wahnwitz, oder aus blossen Versuch herrühren, oder aber ein wahres Zauber- und Hexenwesen auf sich tragen.«62 Während betrüge-
60 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 63, H. 213: Kriminalprozesse 1778-1784. 61 Noch 1744 bis 1746 fand in der Steiermark ein regelrechter Zaubereiprozess alten Stiles in Oberradkersburg statt, der erst durch das Eingreifen der Regierung zugunsten der Angeklagten beendet wurde. Vgl. Fritz Byloff: Hexenglaube und Hexenverfolgung in den österreichischen Alpenländern (= Quellen zur deutschen Volkskunde 6). Berlin/Leipzig 1934, S. 156-159; Fritz Byloff: Der Ausklang der Zaubereiprozesse in Steiermark. In: BlHK 4 (1926), S. 77-78, S. 94-96; Helfried Valentinitsch (Hg.): Hexen und Zauberer. Die große Verfolgung – ein europäisches Phänomen in der Steiermark. Graz/Wien 1987. Zu einer 1673 hingerichteten Wunderheilerin und ihren Praktiken vgl. Grabner, Naturärzte, S. 91. 62 Constitutio Criminalis Theresiana oder der Römisch=Kaiserl. zu Hungarn und Böheim etc. Königl. Apost. Majestät Maria Theresiä Erzherzogin zu Oesterreich etc. peinliche Gerichtsordnung (= CCTh). Wien 1769, Art. 58.
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risch agierende Täterinnen und Täter mit einer Leibesstrafe belegt werden sollten und bei »gotteslästerischen Ausdrücken« sogar mit der Todesstrafe bedroht waren, behielt man sich für Fälle, bei denen »ein wahrhaft-teuflisches Zauber- und Hexenwesen gemuthmasset werden müsste«, die allerhöchste Entscheidung vor. Damit wollte man zwar in erster Linie jeder unkontrollierten Verfolgung scheinbarer Teufelskünstler auf dem flachen Lande gegensteuern, schloss aber zugleich die Möglichkeit solcher übersinnlicher Phänomene nicht aus.63 Abbildung 4: Zauberei als Tatbestand bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts: Constutio Criminalis Theresiana, 1769 (Titelbild)
63 Zu dieser Ambivalenz in der Theresianischen Rechtsprechung vgl. Regina Pörtner: »De crimine magiae«: Das Verbrechen der Zauberei im theresianischen Strafrecht nach Akten des Diözesanarchivs Graz. In: ZHVSt 94 (2003), S. 149-160; Byloff, Hexenglaube, S. 161f.
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Tatsächlich präsentierte sich die Strafpraxis aber um einiges unspektakulärer und wurde in erster Linie durch das Gutdünken der jeweiligen Richter und weniger durch die Buchstaben des Gesetzes geprägt. Im Landgericht Donnersbach machte man etwa um die festgenommenen Wunderheiler nicht viel Aufhebens. Die »Zauberin« Katharina Richter wurde 1776 wegen »Betrug und ausgestoßenen Schreck-Worten« eine halbe Stunde lang mit der umgehängten Tafel »Betrügerin« auf der Schandbühne ausgestellt und anschließend aus dem Landgerichtsbezirk gewiesen.64 Ganz anders konnte die Geschichte freilich ausgehen, wenn man das Verbrechen des gewerbsmäßigen Betrugs für erwiesen ansah. Paul Rosser musste auf diese Weise 1784 im untersteirischen Gutenhaag für seine »abergläubischen Kuren« mit einem Jahr Arbeit in Eisen büßen.65 Konnte sich die Theresianische Gesetzgebung von traditionellen Vorstellungen noch nicht lösen, war das Josephinische Strafgesetzbuch von 1787 vollkommen vom Geist der Aufklärung durchdrungen. Magische Delikte gab es nicht mehr, unbefugtes Medizinieren galt entweder als politisches Verbrechen, das »dem Leben oder der Gesundheit der Mitbürger Gefahr oder Schaden« brachte, oder – in Verbindung mit abergläubischen Handlungen – als »Verbrechen des Truges«. Aufgrund der Vielfältigkeit der möglichen Sachverhalte wurde keine bestimmte Strafe festgesetzt, sodass der Strafrahmen für Wunderheiler theoretisch von einem Tag Arrest bis zu 15 Jahren Kerker reichen konnte.66 Im Allgemeinen zeichnen sich die Urteile in dieser Zeit aber überwiegend durch Milde aus. So spannte sich der Bogen von einer bloßen Verwarnung über die Abschiebung aus dem Landgerichtsbezirk bis hin zu einer mehrwöchigen öffentlichen Arbeit.67 Nur im Wiederholungsfall waren strengere Strafen zu erwarten. Vor
64 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 62, H. 212: Kriminalprozesse 1772-1777. 65 CCTh, Art. 72: Von denen, die allerhand Falsch begehen (»crimen stellionatus«). StLA, Gutenhaag, Herrschaft, K. 4, H. 42: Kurpfuscherei 1781-1785. 66 Allgemeines Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung, Wien 1787, 2. Teil, 3. Kapitel; 1. Teil, § 149, 155. Vgl. Gerhard Ammerer: Devianz, Marginalisierung und Kriminalität. Bemerkungen zum Delinquenzverhalten und zum Umgang mit Angehörigen nichtseßhafter Randgruppen. In: historicum, Herbst 2001, S. 22-31, hier S. 26f. 67 StLA, Waldegg, Herrschaft, K. 3, H. 28: Kurpfuscherei 1801; Pfannberg, Herrschaft, K. 20, H. 72: Politisches Verhörprotokoll 1792-1798; Wasserberg, Herr-
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der Entlassung in die Freiheit wurde freilich darauf geachtet, dass die vorgeblichen Ärzte ihre »abergläubischen Medikamente« bei der Behörde hinterlegten.68 Besonders interessant stellt sich der Fall der Eleonora Lafortun dar, die 1788 in Donnersbach wegen »Laster des Betrugs und Verführung zum Aberglauben« vor Gericht gestellt wurde. Nicht allein die Täterin wurde verurteilt, sondern auch ihre Opfer, da diese auf die Vorspiegelungen der Krämerin eingegangen waren. Während die Vagantin mit zehn Ochsenstreichen gezüchtigt und dann entlassen wurde, mussten die gutgläubigen Bauern, die ihren Worten vertraut hatten, zumindest für eine Stunde bis hin zu einem Tag bei Wasser und Brot in den Arrest.69 Damit sollten sie wohl dazu erzogen werden, künftig magischen Vorstellungen nicht mehr anzuhängen. Im 19. Jahrhundert werden die Fälle seltener, in denen Kurpfuscher allein mit der Kraft des Übersinnlichen Heilung und Besserung vorgaukeln wollten. So betrafen die meisten erhaltenen Gerichtsurteile nur Bauernärzte, die in erster Linie auf den Erfolg der ihnen bekannten organischen und anorganischen Mittel vertrauten und nur ergänzend magische Praktiken zur Hilfe nahmen. Damit erfüllten sie nach dem Strafgesetzbuch von 1803 den Tatbestand der Kurpfuscherei. Jeder, der »ohne nach der gesetzlichen Vorschrift dazu berechtiget zu seyn, sich mit Behandlung der Kranken als Arzt oder Chirurgus bemenget, und daraus ein Gewerbe macht«, war je nach Dauer seiner Tätigkeit und des Ausmaßes des daraus erwachsenden Schadens mit strengem Arrest im Ausmaß von einem bis zu sechs Monaten zu bestrafen.70 Doch auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewiesen die Richter Nachsicht. Kam es nicht überhaupt zu einer Aufhebung des Prozesses wegen Beweismangels, so wurde kaum eine längere Arreststrafe als die Mindestdauer verhängt, meist kamen die Angeklagten sogar mit Freiheitsentzug von acht Tagen bis maximal zwei Wochen davon.71 In Anbe-
schaft, Sch. 25, H. 54: Protokollum in politicis de anno 1785; Sch. 28, H. 94: Kurpfuscherei 1791; Sch. 73, H. 217: Untertanen Strafsachen und -verträge 1551-1800. 68 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 58, H. 204: Landgerichtsprotokolle 1788-1799. 69 StLA, Donnersbach, Herrschaft, K. 64, H. 214: Kriminalprozesse 1784-1795. 70 Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uibertretungen, und dem Verfahren bey denselben. Wien 1803, 2. Teil, § 98. 71 Vgl. z.B. StLA, Rothenfels, Herrschaft, K. 178, H. 593: Kurpfuscherei 1633-1843; Stubenberg, Familie, K. 101, H. 622: Verhörprotokolle Landgerichtsdelikte be-
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tracht der schlechten ärztlichen Versorgung auf dem Lande schienen die Behörden den Nöten der Bevölkerung zumindest teilweise Rechnung zu tragen.
R ESÜMEE Die ländliche Bevölkerung der Steiermark war im 18. und 19. Jahrhundert zweifellos auf Volksmediziner und Volksmedizinerinnen angewiesen. Magische Heilmittel und Praktiken gehörten im Sinne eines ganzheitlichen Weltbildes zum selbstverständlichen Alltag der Menschen und äußerten sich in vielerlei schillernden Facetten, die nur bedingt auf Erfahrungswerte zurückgeführt oder gar logisch-wissenschaftlich erklärt werden können. Durch den Fokus auf den betrügerischen Umgang mit diesem magischen Volksglauben wird die Doppelbödigkeit vieler Mechanismen sichtbar; die Trennlinien zwischen gelebter Tradition, eigener Reflexion und bewusster Manipulation beginnen sich aufzulösen. Die durch die Aufklärung gebrochene Überzeugung von der Wirkkraft der Volksmagie findet schließlich in der Rechtsprechung seinen Niederschlag, in der Wunderheiler nicht mehr als Zauberer, sondern sehr prosaisch als Polizeiübertreter gegen die Sicherheit des Lebens angesehen wurden.
L ITERATUR Gerhard Ammerer: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancién Regime (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29). Wien/München 2003.
treffend 1792-1831; Bezirksgericht Eibiswald, K. 11: Polizeiübertretungen Burgstall 1808-1847; Mürzzuschlag, Stadt, K. 105, H. 454: Untersuchungs- und Strafakten 1830; Weißkirchen, Markt, Sch. 87, H. 169: Strafsachen 1830-1835; Bezirksgericht Pöllau, K. 88: Herrschaft Pöllau, Polizeiübertretungen 1832-1839; Bezirksgericht Feldbach, K. 77: Magistrat Feldbach, Polizeiübertretungen 1839-1850; Neumarkt, Markt, K. 5, H. 112: Strafsachen: Kurpfuscherei, Klara Ertl, 1841; Neumarkt, Markt, K. 5, H. 114: Kur- und Hebammenpfuscherei 1842; Bezirksgericht Fürstenfeld, K. 15: Polizeiübertretungen A–M bis 1850.
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Gerhard Ammerer: Devianz, Marginalisierung und Kriminalität. Bemerkungen zum Delinquenzverhalten und zum Umgang mit Angehörigen nichtseßhafter Randgruppen. In: historicum, Herbst 2001, S. 22-31. Fritz Byloff: Hexenglaube und Hexenverfolgung in den österreichischen Alpenländern (= Quellen zur deutschen Volkskunde 6). Berlin/Leipzig 1934. Fritz Byloff: Der Ausklang der Zaubereiprozesse in Steiermark. In: BlHK 4 (1926), S. 77-78, S. 94-96. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung 16.-18. Jahrhundert. München 1994. Herbert Hans Egglmaier: Das medizinisch-chirurgische Studium in Graz. Ein Beispiel für den Wandel staatlicher Zielvorstellungen im Bildungsund Medizinalwesen (= Dissertationen der Universität Graz 50). Graz 1980. Victor Fossel: Volksmedicin und medicinischer Aberglaube in Steiermark. Ein Beitrag zur Landeskunde. Graz 1885. Nils Freytag: Quellen zur Geschichte von Aberglauben und Magie im 18. und 19. Jahrhundert. In: Der Archivar 53 (2000) 4, S. 326-329. Elfriede Grabner: Krankheit und Heilen. Eine Kulturgeschichte der Volksmedizin in den Ostalpen. 2., korrig. u. erw. Aufl. Wien 1997. Elfriede Grabner: »Menschenfett« und »Mumie« als Heilmittel. Volksmedizin, Volksglaube und Schauermärlein um die medizinische Verwertung menschlicher Leichen. In: Neue Chronik zur Geschichte und Volkskunde der innerösterreichischen Alpenländer Nr. 64 (1961) (= Eigenbeilage zu Nr. 107 der Südost-Tagespost, 10.5.1961). Elfriede Grabner: Die drei schwebenden Blutstropfen im Kopfe des Menschen. Von Ursache und Entstehung der Apoplexie in der Volksmedizin. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1961, S. 72-75. Elfriede Grabner: Naturärzte und Kurpfuscher in der Steiermark. In: ZHVSt 52 (1961), S. 84-99. Elfriede Grabner: Das »Abbeten«. Magische Heilmethoden und Beschwörungsgebete in der Steiermark. In: ZHVSt 53 (1962), S. 359-370. Elfriede Grabner: Das »Zapflheben«. Volksmedizin und magische Heilmethode um das Gaumenzäpfchen. In: BlHK 37 (1963), S. 23-28. Elfriede Grabner: Mondglaube und Mondkraft in der Volksmedizin. In: ZHVSt 54 (1963), S. 79-89. Elfriede Grabner: Die »Transplantatio morborum« als Heilmethode in der Volksmedizin. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XXI/70 (1967), S. 178-195.
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Die Heilerin vom Strader Wald Eine Sonderbestattung des 17. Jahrhunderts aus Tarrenz in Tirol (Vorbericht) H ARALD S TADLER
E INLEITUNG Erstmalig in Tirol wurde eine Bestattung archäologisch erschlossen, die aufgrund ihrer Ausstattung mehrere grundsätzliche Elemente für ein Erklärungsmodell als heilkundige Frau erfüllt. Somit ist der durch einen Sondengänger entdeckte Befund im Strader Wald eine Sternstunde der alpinen Neuzeitarchäologie. In einer Zeit, wo Bücher aller Genres über geheimnisvolle Heilerinnen1 boomen, stellt es eine besondere Herausforderung dar, sich als Wissenschaftler diesem Thema zu widmen.
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Romane, Auswahl: Hans Haid: Die Landgeherin. Innsbruck 2011; Ulrike Renk: Die Heilerin. Berlin 2011; Helga Maria Buchner: Die Gottesgabe: Die Geschichte einer Heilerin. Berlin 2008; Susanne Eder: Die Heilerin von Worms. München 2011; Lezea Toti: Die Heilerin. Frankfurt a.M. 2005; Posie GraemeEvans: Der Eid der Heilerin. München 2009; Melanie Dickerson: The Healer’s Apprentice. Michigan 2010; oder Sachbücher, wie Elisabeth Brooke: Die großen Heilerinnen. Von der Antike bis heute. Berlin 1997; Diane Stein: Heilerinnen: Weg und Geheimnis weiblicher Heilkunst. München 1998; Annerose Sieck und Jörg-Rüdiger Sieck: Heilerinnen im Mittelalter: Das verlorene Wissen der Frauen. Hessen 2008; Jeanne Achterberg: Die Frau als Heilerin. Die schöpferische
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F UNDGESCHICHTE In einem Studentenzimmer im Hertford College von Oxford ereilte mich im März 2008 ein Anruf, dass man im Strader Wald, Gemeinde Tarrenz eine Entdeckung gemacht hätte. Der Gewährsmann berichtete von vier Näpfchen aus Buntmetall, die an Schnapsgefäße erinnerten und die Form von Sturzbechern hätten. Die Objekte seien rund um einen von den Findern nicht weiter angetasteten menschlichen Schädel gelegen. Diese Entdeckung gelang ca. 6 m nördlich eines Weges in einer Tiefe von 40 bis 60 cm. Auffällig war die Tatsache, dass der Ausgräber angab, auf das Hinterhaupt eines Schädels gestoßen zu sein, die Bestattung also auf dem Bauch lag und mit dem Gesicht nach unten wies. Ob dieses eigenartigen Befundes war das wissenschaftliche Interesse aufs höchste entfacht, erste Notizen wurden angefertigt und ein Lokalaugenschein gleich nach der Rückkehr in Tirol vereinbart. Am 8. April 2008 kam es im alten Institutsgebäude am Innrain 52 in Innsbruck zum Treffen mit den Findern Jochen Reheis, Christian Deutschmann und Franz Neururer. Im ehemaligen Dienstzimmer im sechsten Stock des sogenannten GEIWITurmes wurden die fein säuberlich in feucht gemachten Küchenrollen eingepackten Kleinfunde begutachtet. Es handelte sich um eine waagrecht gerippte konische Blechscheide mit einer Kette, beides aus Eisen gefertigt, für die Befestigung am Gürtel und anhaftenden Geweberesten aus Leinen, eine Haftel aus Eisen, ein Lederriemen mit eingefasstem Buntmetallring und verziertem rechteckigen Gegenbeschlag sowie vier Schröpfköpfe aus Buntmetall. Als Datierungsansatz wurde zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Zierelemente auf dem Gürtelteil und der Hafteln das 15.-17. Jahrhundert vorgeschlagen und die Objekte zur Restaurierung vom Institut für Archäologien in Innsbruck übernommen.
Rolle der heilkundigen Frau in Geschichte und Gegenwart. Bern/München/ Wien 1991; Hermann Denz/Manfred Tschaikner: Alltagsmagie, Hexenglaube und Naturheilkunde im Bregenzer Wald: ein Begleitbuch zur Ausstellung Göttin – Hexe – Heilerin – zu einer Kulturgeschichte weiblicher Magie, Frauenmuseum in Hittisau (Juni-Oktober 2004). Innsbruck 2004 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Sonderheft 117); Susanne Dieterich: Weise Frau: Hebamme, Hexe und Doktorin; zur Kulturgeschichte der weiblichen Heilkunst. Leinfelden-Echterdingen 2001.
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Der Fundort befindet sich im sogenannten Strader Wald, Gemeinde Tarrenz2 und ist tatsächlich auch heute noch mitten im Wald und Teil der römischen Hauptverkehrsader, der Via Claudia Augusta. Der Bestattungsplatz ist ungewöhnlich, befindet sich doch kein christlich geweihter Ort in der Nähe und die Kirche von Tarrenz liegt in ca. 2 km Entfernung. Im engeren Umfeld des Fundortes gibt es aber mehrere verschliffene Hügel, die von den Gewährsleuten3 als Öfen unbekannter Verwendung und Datierung angesprochen wurden. Nach Akquirierung der nötigen Finanzmittel, der Abklärung mit dem Grundbesitzer, dem Land Tirol4, und der Erteilung der Grabungsgenehmigung durch das Landeskonservatorat Tirol konnte mit den Arbeiten begonnen werden. Die archäologische Nachuntersuchung5 unter meiner Leitung wurde auf zwei Tage, im Mai 2008 anberaumt.
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Für die Hilfestellung in Topografie und archäologischem Umfeld wird Frau Barbara Kainrath und Herrn Gerald Grabherr herzlich gedankt. Vgl. Barbara Kainrath: Neues zur Infrastruktur an der Via Claudia Augusta. In: Marion Meyer/ Verena Gassner: Standortbestimmung. Akten des 12. Österreichischen Archäologentages vom 28.02. bis 01.03.2008 in Wien. Wien 2010, S. 181-186; Barbara Kainrath: Zur Interpretation einer römischen Fundstelle an der Via Claudia Augusta im Gurgltal. In: Gerald Grabherr/Barbara Kainrath (Hg.): conquiescamus! longum iter fecimus. Römische Raststationen und Straßeninfrastruktur im Ostalpenraum. Akten des Kolloquiums zur Forschungslage zu römischen Straßenstationen. Innsbruck 4. und 5. Juni 2009. IKARUS 6. Innsbruck 2010, S. 215-239; Barbara Kainrath: Ein römisches Gasthaus im Strader Wald. Extra Verren. Jahrbuch des Museumsvereins des Bezirkes Reutte 5, 2010, S. 7-15; Fundberichte: OG Strad (KG Tarrenz VB Imst). Fundberichte aus Österreich 46, 2007, S. 712f. OG Strad (KG Tarrenz VB Imst); Fundberichte aus Österreich 47, 2008, S. 596-598. OG Strad (KG Tarrenz VB Imst); Fundberichte aus Österreich 49, 2010, in Druck.
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Freundliche Mitteilung Franz Neururer, Wenns. Ohne archäologische Untersuchungen kann zum Alter der als »Öfen« angesprochenen Strukturen keine Angabe gemacht werden. Auch eine römische Zeitstellung wäre möglich, als Öfen unbekannter Verwendung und Datierung vgl. Kainrath, Ein römisches Gasthaus.
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Herrn Dr. Paul Meyer vom Justiziariat des Landes Tirol sei für die rasche Ausstellung der Genehmigung für die archäologischen Aktivitäten herzlich gedankt.
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Mein besonderer Dank gebührt Mag. Michael Schick, Innsbruck, Franz Neururer, Wenns, Dr. Stefan Dietrich, Telfs, Jochen Reheis, Mötz und Simon Stadler,
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Die Fragestellung bestand darin, den Befund und das genaue Alter dieser Sonderbestattung6 zu erheben. Sind doch gerade für das 17. Jahrhundert in Tirol Gräber mit Kleinfunden, sieht man von Trachtbestandteilen ab, außerhalb von Friedhöfen und Adeligen- bzw. Priester-Grüften, die zumeist später datieren7, noch eine große Seltenheit.
Volders; vgl. auch Harald Stadler/Michael Schick: Die Heilerin vom Straderwald. Eine Sonderbestattung aus dem 17. Jh. in Tarrenz in Tirol. In: Jahresberichte Zentrum für Archäologien 2, 2011, S. 35. 6
Vor Beginn der archäologischen Aktivitäten wurde noch ein Massengrab für möglich gehalten.
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Dieser könnte mit Vorsicht als symbolträchtiges Objekt der von fahrenden und zigeunerischen Schmieden wesentlich beeinflussten Volksmedizin angesprochen werden. Vgl. Karl Olbrich: s.v. Eisen. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HDA), Bd. 2, 1929/1930, Sp. 717-729. Marie Andree-Eysn berichtet von aus Eisennägeln (Sargnägel?) gefertigten Amulettringen, die als Schutz gegen Krankheiten und vor Gespenstern schützen sollten. In: Volkskundliches aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet. Braunschweig 1910 (Neuauflage Hildesheim/New York 1978), S. 136. Alexander Zanesco: Ausgrabungen in der alten Kirche St. Jodok und Lucia. In: St. Jodok und Lucia in Völs, Nordtirol: Spätrömisches Gebäude und gotische Kirche Nearchos, Sonderheft 4 (2000), S. 62-64, S. 78-84; aus dem 19. Jahrhundert stammen 75 Rosenkränze, 70 Pilgermedaillen, 60 Kreuze, Reliquienbehälter, Münzen, Bekleidungsreste, Sargholzstücke, Schmuck und persönliche Gegenstände, vgl. dazu Alexander Zanesco: Friedhöfe im alten Innsbruck. Die Grabungen am Adolf-Pichlerplatz. In: Zeit – Raum – Innsbruck. Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchivs. 1. Innsbruck 2001, S. 7-30; George McGlynn/Alexander Zanesco: The Skeletal Series from the Hospital Cemetery at Adolf-Pichler Platz, Innsbruck, Tirol, Austria. In: Documenta Archaeobiologiae, Skeletal Series and their Socio-Economic Context. Rahden/ Westfalen 2007, S. 57-66; zu den geöffneten Adelsgräbern der Tiroler Landesfürsten und ihrer Familienmitglieder gibt es nur knappe Restaurierungsberichte, vgl. dazu Mag. Josef Ziegler: Restaurierungsbericht – Innsbruck, Jesuitenkirche hl. Dreifaltigkeit, Krypta, Sarkophag Erzherzogin Claudia von Medici vom 20.07.1993, Zl. 1547/2/93; Mag. Josef Ziegler: Restaurierungsbericht – Innsbruck, Jesuitenkirche hl. Dreifaltigkeit, Krypta, Zinnsarkophag von Maria Magdalena vom 28.12.1995, Zl. 205/250; Mag. Josef Ziegler: Fotodokumentation – Innsbruck, Jesuitenkirche hl. Dreifaltigkeit, Krypta, Restaurierung der Zinnsärge von
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B EFUND
Das vom Finder Jochen Reheis ausgehobene »Sondierloch« hatte einen Durchmesser von 45 cm und eine Tiefe von 40-60 cm. Die Auffüllung war für die Archäologen klar ersichtlich und es kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, dass die Erstentdecker nach Auffindung des Schädels die Arbeit stoppten und den Spezialisten verständigten. Nach der Negativaushebung des »Sondierloches« stieß man auch gleich auf den Schädel, der mit einem Nylonsäckchen abgedeckt war. Abbildung 1: Rekonstruktion des vom Sondengänger erhobenen Befundes
Grafik: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Leopold V. und Maria Magdalena vom 07.01.1995, Zl. 205/231; Werner Zimmermann: Dokumentation über die Wiedereinsetzung des Sarges von Maria Magdalena und Abholung des Prunksarges von Sigismund Franz vom 30.01.1996, Zl. 205/249; Mag. Josef Ziegler: Restaurierungsbericht – Innsbruck, Jesuitenkirche hl. Dreifaltigkeit, Krypta, Zinnsarkophag von Leopold V. vom 24.11.1994, Zl. 205/228; Mag. Josef Ziegler: Restaurierungsbericht – Innsbruck, Jesuitenkirche hl. Dreifaltigkeit, Krypta, Zinnsarkophag von Ferdinand Karl vom 30.04.1998, Zl. 205/279.
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Mit dieser Sondage erfassten wir die Stratigrafie sowie Lage des Skelettes und steckten in der Folge einen Quadranten mit zwei mal zwei Metern ab. Im Bereich der angenommenen unteren Extremitäten wurde ein 20 cm breiter Steg belassen, um so ein Profil durch die Grabgrube zu erhalten. In etwa 40 cm Tiefe war auch die Grabgrube im Planum deutlich auszumachen, die wir dann negativ aushoben. In den obersten Schichten stieß das Ausgrabungsteam knapp oberhalb des Skelettes auf einen geschmiedeten Eisennagel8. Bezüglich der Beigaben waren zwei Fundballungen festzustellen. Sie konzentrierten sich einerseits um den Schädel, wie eine Scharnierschere aus Eisen, Beschlag aus Eisen und Messing links, zwei weitere Schröpfköpfe, eine dicke große Perle aus Keramik und Bergkristall, ein fassförmiger Behälter aus unbestimmtem Material, Glas-, Gagat- und Buntmetallperlen mit Kettchengehänge, kleine Hafteln und Ösen aus Silber sowie eine große Haftel aus Eisen verdeutlichen. Eine zweite Konzentration zeigte sich im Bereich der rechten Hüfte und bestand aus einem wohl organischen Behälter unbekannter Form, der einen Fingerhut aus Buntmetall enthielt, fünf Eisenschlüsseln, zwei Silbermünzen und weiteren nicht genauer definierbaren Objekten, die im Block geborgen wurden. Verschiedene Teile einer Kette sowie ein in Kastenfassung gebetteter Glasschmuck, Fayence-, Gagat- und Kupferperlen etc. waren vom Schädel bis in den Beckenbereich verteilt. Zu diesem vorläufigen Befund bedarf es allerdings noch einer Zusatzinformation. Im Jahre 2003 empfing ein Handwerker aus Wenns9 auf dem Weg im Strader Wald mit der Metallsonde ein Signal, das sich im Zuge der Bergung als Eisenpfanne mit ca. 40 cm Durchmesser, 8 cm Höhe und ca.
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Dieser könnte mit Vorsicht als symbolträchtiges Objekt der von fahrenden und zigeunerischen Schmieden wesentlich beeinflussten Volksmedizin angesprochen werden. Vgl. Karl Olbrich: s.v. Eisen. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HDA), Bd. 2, 1929/1930, Sp.717-729. Marie Andree-Eysn berichtet von aus Eisennägeln (Sargnägel?) gefertigten Amulettringen, die gegen Krankheiten und vor Gespenstern schützen sollten. In: Volkskundliches aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet. Braunschweig 1910 (Neuauflage Hildesheim/New York 1978), S. 136.
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Herrn Christian Deutschmann, Wenns, wird für seine ausführliche Schilderung des Befundes herzlich gedankt.
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35-40 cm langem Stiel entpuppte. Einsetzende Dunkelheit veranlasste ihn dazu, seine »Grabungsarbeiten« einzustellen. Außer der Pfanne fand der Ausgräber auch einen in der Dunkelheit als hölzernen Stiel interpretierten Gegenstand, der sich aber bei genauerer Betrachtung als menschlicher Oberschenkel erwies. Der Finder verbrachte beide Objekte in sein Haus, wo sie aber derzeit nicht mehr auffindbar sind. Die Dokumentation unseres Grabungsprofils ergab eindeutig die Grabgrube, aber nicht nur dies, sondern man konnte auch eindeutig das Sondierungsloch von 2003 klar erkennen und die Flächengrabung ergab, dass der linke Oberschenkel (vgl. Abb. 2) fehlte. Distal des Profilsteges wurde die Erde bis auf das Niveau des Skelettes abgetieft. Alsbald entdeckte man die Zehenknochen, stieß aber auf keine weiteren makroskopischen Funde etwa von der Fußbekleidung (Schuhe, Strümpfe?). Die Bestattung Der Erhaltungsgrad der Knochen des Skelettes ist ausgezeichnet, Schädel und Unterkiefer sind komplett (Abb. 2). Die durch die Funde eindeutig als Frau ausgewiesene Tote lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bauch, der rechte Arm war spitz abgewinkelt, der linke lag abgewinkelt unter dem Bauch. Der linke Oberschenkel (vgl. oben und Abb. 2) fehlte. Abbildung 2: Das Skelett mit fehlendem linken Oberschenkel, Hautteile (?) auf dem Schlüsselbein (Pfeil 1), schwarze, teerartige Auflagen (Pfeil 2) am Schädel
Foto: G. McGlynn, Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie, München.
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Die anthropologischen Ergebnisse Laut Auskunft des Anthropologen George McGlynn10 von der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie in München ist es ungewöhnlich, dass eine Bestattung im Wald nach dieser Zeit (300 Jahre!) nicht schon längst vergangen ist. Sind doch normalerweise angereicherte Huminsäuren dafür verantwortlich, dass in diesem Milieu die Knochensubstanz rasch vergeht. Das sehr gut erhaltene Skelett stammt von einer Frau mit ca. 161,0 cm ± 4,1 cm Körperhöhe und einem geschätzten Sterbealter von ca. 30-40 Jahren. Das Individuum wird durch eine mäßig robuste Knochenstruktur charakterisiert, wobei die oberen Extremitäten wesentlich kräftiger im Vergleich zu den Unterextremitäten ausgebildet sind. Aufgrund der schlanken Struktur der Langknochen und weiterer Skelettelemente ist die Frau im allgemein als grazil zu bezeichnen. Pathologien Eine Knochenhautentzündung, welche durch eine leichte Auftreibung der vorderen Seite des linken Schienbeinschaftes gekennzeichnet ist, dürfte möglicherweise durch eine oberflächliche Verletzung verursacht worden sein. Weiterhin waren degenerative Veränderungen der Wirbelsäule im Bereich der Deckplatten von L2-L5 sowie kleine Osteophyten (Knochenneubildungen) festzustellen. Bei insgesamt neun Zähnen konnte ein Kariesbefall beobachtet werden, welcher teilweise die gesamte Krone zerstört hat und die offene Wurzel hinterließ. Drei periapikale Abszesse sind im linken Oberkiefer vorhanden. Ein massives Abszess (17 x 21 mm) ist oberhalb und buccal zum zweiten und dritten Molarzahn, ein zweites großes Abszess (10 x 10 mm) findet sich oberhalb und buccal zum zweiten Prämolarzahn. Ein drittes, kleineres Abszess konnte oberhalb und buccal zum ersten Prämolarzahn entdeckt werden. Der Alveolarknochen ist stark entzündet und zurückgebaut.
10 Dank gilt Dr. George McGlynn, München, für die Bereitstellung der vorläufigen Ergebnisse. Eine ausführliche Darstellung seiner Forschungen mit Vergleichsfunden wird für die Sammelpublikation zur Heilerin vom Strader Wald vorbereitet.
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Todesursache Eine Blutvergiftung (Sepsis) anhand dieser kumulativen Abszesse kann als Denkmöglichkeit in Betracht gezogen werden. Die Todesursache ist aber definitiv nicht festzulegen, jedenfalls wurden keine Spuren von Gewalteinwirkung detektiert. Sonstige Beobachtungen An sämtlichen Knochen haften Teile von einem noch unbestimmten Wurzelgeflecht. Mögliche Hautreste auf einem Schlüsselbein (Abb. 2, Pfeil 1) wurden entfernt und für entsprechende Untersuchungen gesichert. Eine große Menge an Myzel infiltrierte alle Knochenelemente, besonders dort, wo Öffnungen vorhanden waren. Diverse Knochen wie zum Beispiel am Schädel zeigen eine schwarze, teerartige Verfärbung auf (Abb. 2, Pfeil 2). Eine mikroskopische Untersuchung ergab noch keine genaueren Aufschlüsse. Eine Verkohlung kann allerdings ausgeschlossen werden, da die Verfärbung eher wie eine Auflagerung erscheint. Möglicherweise sind diese Flecken organische Reste. In Frage kämen Textilreste, metallhaltige Textilfarben (z.B. Chromium), ein Pilz oder Haut. Und menschliche Haut würde auch in den Fundkontext passen, weil sie über schriftliche Quellen für das 17. Jahrhundert als Ausstattung für Heilerinnen und Hebammen für die Geburtshilfe11 überliefert ist.
11 Robert Jütte: Haut als Heilmittel. In: Ulrike Zeuch (Hg.): Verborgen im Buch, verborgen im Körper. Haut zwischen 1500 und 1800 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 82). Wiesbaden 2003, S. 161f, S. 167 m. Abb. 1.
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D IE B EIGABEN Schröpfköpfe Im Bereich des Schädels der Bestattung von Tarrenz konnten insgesamt sechs Schröpfköpfe aus Buntmetall12 geborgen werden, wobei zwei Formen unterschieden werden können: • Zwei waagrecht gerippte Schröpfköpfe mit profiliertem Knopf (Abb. 3) • Vier glatte Schröpfköpfe mit eingerissenen Riefen und eingekerbtem
Knopf (Abb. 4, 1-4) Abbildung 3: Gerippter Schröpfkopf aus Messing
Dokumentation: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Alle glatten Formen weisen auf der Unterseite auch eingeritzte Zeichen (Abb. 4, 1-4) auf, für deren Bedeutung wir noch keine Erklärung haben.13
12 Angenommen wird vorderhand Messing, aber das Metall ist bezüglich seiner Legierung noch nicht untersucht. 13 Angedacht werden vorerst Besitzerzeichen oder solche für den Anwendungsbereich an verschiedenen Körperpartien ähnlich der chinesischen Nadelmedizin (Akupunktur). Vgl. für eine Übersicht von 21 solcher auf Schröpfköpfen aus Metall eingeritzter Zeichen Heide Bosin: Befunde und Funde neuzeitlicher Buntmetallschröpfköpfe aus Tirol und angrenzenden Gebieten. Unpubl. Bakkalaureatsarbeit Innsbruck 2011, S. 54, Taf. 3.
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Bei der Untersuchung anderer Schröpfköpfe aus Buntmetall im Rahmen der Recherche ergab sich, dass fast alle mit solchen Zeichen versehen waren, was den Bearbeitern aber nicht immer aufgefallen ist. Dies gilt für einen Schröpfkopf aus dem Bergwerksmilieu Schwaz,14 der bisher in römische Zeit datiert wurde, genauso wie für Schröpfköpfe aus einer spätmittelalterlichen/ frühneuzeitlichen Badstube in Wangen, Badstubengässle15, wo selbst ein Keramikexemplar auf der Bodenunterseite Ritzzeichen16 aufweist. Eine Herstellung dieser Schröpfköpfe im damaligen Tirol wäre in der Messinghütte der dem Fundort benachbarten Gemeinde Nassereith17 sowie in Pflach bei Reutte18 durchaus denkbar. Aber auch Achenrain bei Kramsach, Fritzens19 oder Bruneck oder andere Herstellungsorte wären durchaus möglich. Eine genaue Zuweisung lässt sich aber aufgrund fehlender Marken- bzw. Spurenanalysen beim derzeitigen Forschungsstand nicht festlegen.
14 Hanspeter Schrattenthaler/Brigitte Rieser: Prähistorischer Bergbau im Raum Schwaz-Brixlegg. Reith i. Alpachtal 2002, S. 50, Abb. 57. 15 Birgit Tuchen: Öffentliche Badehäuser in Deutschland und der Schweiz im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Petersberg 2003, S. 293, Abb. 22, S. 12f. u. S. 298, Abb. 130 u. 131; Peter Eggenberger: Willisau, Archäologie einer Kleinstadt. In: Beiträger zur Mittelalterarchäologie Österreichs, Beih. 6/2003, S. 120, Abb. 18. 16 Tuchen, Öffentliche Badehäuser, S. 295, Abb. 126, 7. Dazu kommen noch unstratifizierte Schröpfköpfe aus zwei Waldviertler und einer Mühlviertler Burg wie Burg, Prandegg, ÖO, freundliche Mitteilung Thomas Kühtreiber, Wien. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: ein Exemplar aus der Ruine Bachsfall, Bischofshofen, freundliche Mitteilung Fritz Moosleitner, Salzburg; ein Sondenfund aus Ampass, waagrecht gerippte Variante, freundliche Mitteilung Reinhold Lachberger. Zur Zusammenstellung von Schröpfkopffunden aus archäologischem Kontext vgl. Bosin, 2011. Ihr wertvoller Beitrag wird auch Teil des Sammelbandes zur Heilerin vom Strader Wald sein. 17 Claus Priesner: Bayerisches Messing. Franz Matthias Elmayers Mößing Werkh AO 1780. Studien zur Geschichte, Technologie und sozialem Umfeld der Messingerzeugung im vorindustriellen Bayern. Stuttgart 1997, S. 51-53. 18 Georg Mutschlechner/Rudolf Palme: Das Messingwerk bei Pflach in Reutte. Ein bedeutsames Industrieunternehmen am Beginn der Neuzeit. Innsbruck 1976. 19 Die Fritzener Messinghütte wird schon 1481 schriftlich genannt, wie Priesner, Bayerisches Messing, S. 51.
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Abbildung 4: Vier glatte Schröpfköpfe mit eingerissenen Riefen und eingekerbtem Knopf
Foto und Grafik: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Von den vier Schröpfköpfen, die bei der ersten Kampagne geborgen wurden, waren zwei mit Erde gefüllt und zwei mit der Öffnung nach unten deponiert. Deren makroskopische und mikroskopische Untersuchungen20 führten zu folgendem Ergebnis: Der Inhalt des Schröpfkopfes lässt sich in einen körnigen und einen fasrigen Teil unterteilen, wobei sich ersterer aufgrund der physikalischen Beschaffenheit als Bodensatz absetzt. Die mikroskopische Untersuchung zeigte dabei einen hohen Anteil an mineralisch-kristallinen Bestandteilen, wie sie in sandigem Erdreich häufig zu finden sind. Der mengenmäßig größere Anteil setzt sich aus organischem Material zusammen, das einen stark fasrigen Charakter besitzt. Daran haften Verunreinigungen natürlichen Ursprungs, wie etwa Insektenlarven21 und verschiedene Pollen. Die Existenz von zahlreichen Asteraceenpollen (Korbblütlern), wie sie charakteristisch für die Gattung Matricaria (Kamille) sind, weisen entweder auf eine Grablegung zu deren Blütezeit (Mai bis September) bzw. auf eine entsprechende Grabbeigabe in frischer oder getrockneter Form (Kamillenstrauß, -kranz) hin.
20 Die Analyse mit Bilddokumentation wird Frau Dr. Judith Rollinger vom Institut für Pharmazie der Universität Innsbruck verdankt. 21 Eine detaillierte entomologische Bestimmung ist vorgesehen.
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Der organische Teil des Schröpfkopfinhalts ist stark versetzt mit Pilzfäden, sogenannten Hyphen22. Die mikroskopische Analyse des organischen Anteils weist zahlreiche unterschiedliche Fasern und Haare auf. Viele davon sind Textilfasern, die in unserer Region zur Herstellung von Kleidung verwendet wurden und werden. Interessanterweise handelt es sich beim Inhalt sowohl um unbehandelte als auch um aufgearbeitete (z.B. gebrechelte) und unterschiedlichst gefärbte Baumwollfasern und Haaren von Schafwolle. Ihr geballtes Vorliegen in den Schröpfköpfen weist stark auf eine bewusste Verwendung dieser Fasern zur Beschickung von Schröpfköpfen hin. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden zerzupfte Baumwoll- und Leinenfasern zu Scharpie23 verarbeitet. Dieses leichte und voluminöse Material wurde aufgrund der hohen Saugfähigkeit vorwiegend als Wundverbandsmaterial24 verwendet und schließlich durch die Entwicklung der Verbandswatte verdrängt. Es liegt nahe, dass die in den Schröpfköpfen von Tarrenz vorgefundenen Fasern als Scharpie verwendet wurden, wobei in diesem Zusammenhang nicht die gute Saugfähigkeit, sondern die leichte Entflammbarkeit im Vordergrund gestanden sein dürfte. Das Abbrennen der Scharpie ermöglicht ein rasches Aufheizen des darin befindlichen Luftgemisches, ohne dass dabei der Schröpfkopf aus Messing allzu stark erhitzt wird. Erst dadurch kann der Schröpfkopf ohne Hautverbrennungen problemlos am Körper aufgesetzt werden. Durch das allmähliche Abkühlen des nun an der Haut luftdicht abgeschlossenen Schröpfkopfs verdichtet sich das darin befindliche Gasgemisch und erzeugt dadurch den beim Schröpfen gewünschten Unterdruck. Wie der makro- und mikroskopische Befund des analysierten Schröpfkopfinhalts zeigt, ist das fasrige Material zwar verunreinigt und stark von Pilzhyphen durchwachsen, aber noch nicht entflammt worden. Offensichtlich wurden – dieser Hypothese folgend – die im Grab gefundenen Schröpfköpfe sozusagen »gebrauchsfertig« dem Leichnam mit auf die Reise gege-
22 Es ist anzunehmen, dass diese saprophytisch nach der Grablegung entstanden. Eine genauere und eindeutige Identifizierung durch eine Mitarbeiterin der Mikrobiologie ist in Arbeit. 23 Vom lat. carpere für »zupfen«. 24 Markus Plehn: Verbandstoff-Geschichte. Die Anfänge eines neuen Industriezweiges. In: Heidelberger Schriften zur Pharmaziegeschichte und Naturwissenschaftsgeschichte 1990.
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ben. Das Schröpfen25 wurde vor allem zur Förderung der Durchblutung und des Stoffwechsels sowie gegen Muskelverspannungen eingesetzt und fand sowohl im Mittelalter als auch in der Neuzeit reichliche Anwendung, wie existierende Druckgrafiken und archäologische Nachweise in Badestuben oder Feldlagern des Dreißigjährigen Krieges26 beweisen. Kompositamulettkette Der nächste Fundkomplex, der wohl in Zusammenhang mit den Schröpfköpfen gesehen werden muss, besteht aus einer Halskette aus einem dünnen Lederriemen mit vorerst 15 Einzelgliedern: Dazu gehören drei massive Fayenceperlen mit blauer Streifenbemalung, ein herzförmiger Anhänger aus Bergkristall oder Glas, ein ovaler Anhänger bestehend aus einer in Buntmetall gefassten Schneckenverschlussklappe einer Turbo- oder Stachelschnecke und mit einem ovalen Spiegel auf der Rückseite, einer Anordnung von rasselnden Ringlein sowie einer gelbstichigen Ringperle aus Glas. Weiterhin gehören dazu ein ovales Medaillon aus Buntmetall (noch unrestauriert), zwei tropfenförmige Pechkohle- oder Gagatperlen (noch unrestauriert) und sechs zylindrische Kupferperlen (Abb. 5). Die verschiedenen Substanzen weisen auf eine bewusste Auswahl von »stoffheiligen« Objekten hin, denen eine gewisse Schutz- bzw. Abwehrreaktion zugemessen wurde. Für einen Anhänger wird vermutet, dass es sich um ein sogenanntes Breverl-Etui oder eine Breverl-Büchse27 handelt. Das sind oft schön verzierte Behälter aus Metall, gepunztem Leder, Holz, Pappkarton oder Brokat, die zur Aufbewahrung von »Breverln« gedient haben. Diese meist in Kupferstich ausgeführten zusammengefalteten Schutzbriefe gegen Schaden, Feuer, Pest und Ungewitter hatten Amulettcharakter, waren im Mittelalter immer fest verschlossen und der Besitzer kannte ihren Inhalt nicht. Die katholische Kirche kämpfte immer wieder gegen den Kult um
25 Mhd. schrepfen = ritzen, zur Ader lassen, vgl. dazu Hans Hoeting: Schröpfen: eine praktische Einführung in eine alte Volksheilmethode. München 1998. 26 Manfred Benner: Ein ungewöhnlicher, genau datierter Fundkomplex –Trinkgeschirr der kaiserlichen Belagerungsarmee von Heidelberg 1622. In: Archäologische Nachrichten aus Baden, Heft 58, 1998, Abb. 2, Mitte. 27 Zur Forschung über Breverln siehe Roland Halbritter: Südtiroler Breverln – Amulette zwischen Magie und Glaube? In: Der Schlern 72/1998, Heft 1, S. 39-64.
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Breverln an, die meist mit Beschwörungstexten und Zauberformeln versehen waren. Später wurden mit den Breverln vor allem Schutz- und »Helferheilige« angerufen sowie dargestellt und die Breverln dann von der Kirche toleriert und in Wallfahrtsstätten als »Gweichtel« auch feilgeboten. Abbildung 5: Lage der Fraisenkettenteile im Grab
Dokumentation: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Auch dem Anhänger bestehend aus einem gefassten Schalendeckel (operculum) einer Meeresschnecke, der sogenannten Turboschnecke, und ovalem Spiegel auf der Rückseite kann Amulettbedeutung28 zugesprochen werden. Die oben angeführten verschiedenen Einzelglieder sprechen für eine sogenannte Fraisenkette29, mundartlich »Froasenketten«. Es handelt sich dabei
28 Georg Schifko: Zur Kulturgeschichte von Schneckenschalendeckeln (Opercula) aus archäologischer und ethnologischer Sicht. In: Ethnographisch-archäologische Zeitschrift (EAZ), Bd. 45. Berlin 2004, 4, S. 531-537. Zur genauen Bestimmung der Gattungsart der Meeresschnecke, ihrer Verbreitung, Handel und verschiedenen Anwendung vgl. Armin Torggler, 2013 (i. Vorbereitung). 29 Fràis, froas, pl. fraisen: krampfhafter Zufall, Epilepsie, fras: Fallsucht, vgl. Johann Schöpf: Tirolisches Idiotikon (Reprint von 1866, Vaduz 1985), S. 149f., ist eine historische Bezeichnung für Epilepsie oder Krampfanfälle; unter Fraisenkette versteht man ein Schutzamulett, bestehend aus aufgereihten Schutzzeichen und Amuletten auf einem Band oder einer Schnur; Hermann Maurer: »Sonntag-
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um Universalamulette mit meist ungerader Anhängerzahl. Sie können auch sakramentale (Reliquien) und devotionale Typen (Schutzbriefe) beinhalten und in der Übersetzung mit reinen Amulettformen (Samenkörner, Steine, Wurzeln, Knochen, Münzen) in eindeutige Amulettwertigkeit überführt werden. Fraisenketten hatten den Anspruch, die Risikoräume im täglichen Leben zu füllen. Schere Eine geschmiedete Scharnierschere aus Eisen (Abb. 6) lag im Kopfbereich der Bestattung, war aber nicht geöffnet. Die Schere zählt zu den typischen Grabbeigaben für Wöchnerinnen.30 Das Phänomen ist auch bei Frauenbestattungen des hohen und späten Mittelalters insbesondere in Südwestdeutschland häufig.31
bergsteine« aus dem Waldviertel. Ein Beitrag zur den Schab- und Fraisensteinen vom Sonntagberg. Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 78, 2007, S. 43-47; Fraisenkette. In: Das große Kunstlexikon von Peter W. Hartmann. Sersheim 1997, S. 502; Heiner Meininghaus: Von Fraisketten und -hauben. In: Weltkunst 71, Jg. Nr. 15, 2001, S. 2395-2397; Zu Fraisketten vgl. Lenz Kriss-Rettenbeck: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. München 1963, S. 48 und Kat.-Nr. 153; Liselotte Lansmann/Lenz Kriss-Rettenbeck: Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte. München 1966, S. 226, Kat.-Nrn. 750-756; Helmut Nemec: Zauberzeichen. Magie im volkstümlichen Bereich. Wien/München 1976, Kat.-Nrn. 40, 52, und 53; zu sogenannten Wenderketten vgl. Anita Chmielewski-Hagius: Wenderkette. In: Lorenz Söhnke (Hg.): Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten. Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums, 2 Bde. Karlsruhe 1994, Bd. 1, S. 48-50, Katalognummern 77 u. 78; Roland Halbritter: Mythos Stallbetn – volkskundlicher Antiquitätenfirlefanz. Eine erste Annäherung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 104/2 (2001), S. 177-183. 30 Rainer Sörries: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Braunschweig 2002, S. 271. 31 Günther Fehring: Einführung in die Archäologie des Mittelalters. Darmstadt 1987, S. 80; vgl. auch Susi Ulrich-Bochsler: Anthropologische Befunde zur Stellung von Frau und Kind im Mittelalter und Neuzeit. Soziobiologische und soziokul-
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Abbildung 6: Scharnierschere aus Eisen
Dokumentation: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Fingerhut Es handelt sich um eine konische Form, die aus einem runden Buntmetallblech gezogen bzw. gestanzt wurde und deren Kerben nachträglich eingearbeitet wurden. Manufakturhinweise am Objekt in Form von Marken oder Zeichen konnten nicht festgestellt werden. Gerade im 17. Jahrhundert wurden auf den Fingerhüten aus Silber32 gerne Initialen und Sprüche angebracht, bedauerlicherweise nicht auf dem Exemplar der Bestattung vom Strader Wald. Fingerhüte aus Kupferlegierungen finden sich nicht nur in weiblichem Umfeld, sondern des Öfteren auch als Ausrüstungsgegenstand von Soldaten in Lagern33 und auf Schlachtfeldern des 17. Jahrhunderts. Metallköcher mit Kette aus Eisen Dieses Objekt war mit der Öffnung nach unten um den Schädel platziert und hatte eine Eisenkette zur Befestigung am Gürtel. Es handelt sich um den Bestandteil eines Segmentgürtels für Frauen, wie Vergleichsbeispiele
turelle Aspekte im Lichte von Archäologie, Geschichte, Volkskunde und Medizingeschichte. Berner Lehrmittel- und Medienverlag 1997, S. 1-208. 32 Bridget McConnel: Fingerhüte. Erlangen 1996, S. 26, oben. 33 Ein archäologischer Survey ergab 14 Fingerhüte, vgl. André Schürger/Eva Szabó: Katalogbeitrag. In: Gustav Adolf König von Schweden. Die Kraft der Erinnerung 1632-2007 (Dößel 2007), S. 230, Abb. oben.
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aus dem Volkskunstmuseum in Innsbruck34 deutlich demonstrieren. In dem Metallköcher befanden sich ursprünglich Messer, Gabel und Wetzstahl, die aber im Befund der Toten vom Strader Wald fehlen. Diese Objektkombination mit Behältnis wird zeitgenössisch als Mundzeug35 bezeichnet. Es ist ein alter Ausdruck für eine oder zwei Garnituren Essbesteck. Für das Mundzeug waren eigene Etuis zur Aufbewahrung von Messern, Gabeln, Löffeln und oft auch für Becher in Gebrauch. Abbildung 7: Metallköcher mit Kette aus Eisen
Foto und Grafik: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Heute wird dafür meist der Ausdruck »Reisebesteck« verwendet. Seit dem 16. Jahrhundert war es üblich, dass Personen, die oft außer Haus aßen, auch
34 Herlinde Menardi: Um Liebe und Hochzeit. Katalog zur Sonderausstellung des Tiroler Volkskunstmuseums Thaur 1981, S. 18, Nr. 108, 109. 35 Peter Wolf Hartmann: Das große Kunstlexikon. Salzburg 1996, S. 1039f.; Bernd Heitmann/Carlos Boerner: Historischer Bestecke: Aus der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe. Hamburg 2007, S. 76f.
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in Gasthäusern ihr eigenes Besteck benützten. Die sogenannten »Fuhrmannsbestecke« befinden sich gewöhnlich nicht in einem verschlossenen Behälter, sondern in einem Lederköcher, und bestehen im Allgemeinen aus Messer und Gabel sowie einem Pfriem zur Instandsetzung des Pferdegeschirrs. Der Pfriem diente auch als Streichstahl zum Schärfen des Messers. Schlüssel Die Bestattung aus Tarrenz hatte gleich einen ganzen Bund Eisenschlüssel, fünf Stück mit demselben Griff aber verschiedenen Bartformen, an ihrem Gürtel.36 Der Schlüssel wird immer als Symbol der weiblichen häuslichen Gewalt angesehen. Neben der Versperrung von Truhen und Haustüren wurden Schlüssel aber auch im magischen Bereich eingesetzt. Aus Kirchdorf in Tirol37 stammt ein sogenannter Hexenschlüssel aus Eisen, dessen Material in Verbindung mit Kreuzen und Pentagrammen die angestrebte Wirkung verstärken sollte. Im volksmedizinischen Einsatz standen solche Schlüssel bei Epileptikern, gegen Mundsperren und Kinderkrankheiten.38 In Frauental, in der Steiermark, wurde noch im 20. Jahrhundert ein ins kalte Wasser getauchter großer Schlüssel, zwischen Oberlippe und Nase geklemmt, zur Stillung von Nasenbluten39 empfohlen. Beutel? An der rechten Hüftseite befand sich eine braune verrundet-rechteckige Verfärbung, die vorerst als Beutel (aus Leder?) angesprochen wird. Sein In-
36 Drei weitere Schlüssel kleinerer Formate sind inzwischen im Bereich der Hüfte entdeckt worden, befinden sich aber noch in der Restaurierung. 37 Anonymus: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum Jahrbuch 28 (1860): Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, Jahresbericht 28, unter: Spezielles Verzeichnis aller dem Museum in den Verwaltungsjahren 1857, 1858 und 1859 zugewachsenen Gegenstände S. 62, S. 28: »Ein s. g. Hexenschlüssel mit verschiedenen Sprüchen und Zeichen. Aus der Kirche zu Kirchdorf im Unterinnthal«. 38 Zum volksmedizinischem Einsatz von Schlüsseln vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 7 1935/1936, S. 1224-1226, s. v. Goldmann: Schlüssel. 39 Freundliche Mitteilung Gerhard Sommer, Deutschlandsberg/Innsbruck 2011.
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halt wurde bis auf zwei Silbermünzen noch nicht untersucht. Für die Datierung der Bestattung sind diese beiden Geldstücke von besonderer Bedeutung. Bei einem Exemplar handelt es sich um eine Prägung des 17. Jahrhunderts aus Schaffhausen, Stadt Schaffhausen. Abbildung 8: Silbermünze, Groschen (Dreier), 1611. Münzmeister: Hans Ludwig Haas aus Rottweil; Auktion LHS 101 (Oktober 2007), Zürich Nr. 298; VS MO NO SCAFVENSIS. 1611; Widder springt aus gezimmertem Gebäude; RS I DEVS SPES NOSTRAEST; Doppelköpfiger Reichsadler mit Nimben und Wertzahl 3 (= 3 Kreuzer) auf dem B.; die numismatische Bestimmung wird Helmut Rizzolli, Bozen verdankt; eine detaillierte Behandlung der beiden Münzen zur Währungsgeografie, Nominale und möglicher Verwahrung innerhalb der Kleidung ist in Vorbereitung
Dokumentation: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Auch bei der zweiten Silbermünze40 handelt es sich um einen Dreier.
40 Ulrich von Berg: Die Münzen und Medaillensammlung weiland des Artur Grafen von Enzenberg, Bd. II, landesfürstliche Prägungen aus der Zeit von 1519-1665. München o.J., S. 172, Nr. 157 bis 186; Bestimmung Helmut Rizzolli, Bozen.
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Abbildung 9: Silbermünze, Dreier, Erzherzog Leopold V. 1619-1632; AV Brustbild nach rechts; RV drei Wappen mit Nominal oben über Adlerwappen; Münzstätte Hall i. Tirol, zwischen 1626 und 1632 geprägt; Groschen (Dreier = 3 Kreuzer-Stück); AV gekröntes Brustbild nach rechts Erzherzogs Leopold V. Umschrift: LEOPOlDVS: D(ei): G(ratia): ARCH(i): DVX. A(ustriae): RV Wappen von Österreich, Burgund und Tirol in Kleeblattstellung; Umschrift von Wertzahl 3 in Kreis geteilt: DVX: BVRGVND(iae): COMES: TYROLIS
Dokumentation: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Stielpfanne Besonders eigenartig mutet der Fund einer Eisenpfanne an, der im ersten Moment an ein alpines Essgeschirr für Mehl- oder Bratenmus denken lässt. Im Kontext mit den anderen Beigaben ist die Funktionsmöglichkeit einer Räucherpfanne41 naheliegend. Aber auch als Krankheiten wie Pest und Zauber abwehrendes Mittel sowie zur Ernte- und Wetterprognose wurde die Räucherpfanne benutzt. Während heute hauptsächlich Weihrauch und Myrrhe verwendet werden, legte man früher Schlehdornzweige in die Räucherpfanne. Räuchern als Mittel gegen Pest findet sich in Tirol schon im Rotten-
41 Als Reminiszenz kennt der inneralpine Bereich noch die sogenannten Rauchoder Losnächte, das sind Nächte, in denen Abergläubische die Zukunft zu erforschen pflegen. In Tirol gibt es vier (6. und 25. Dezember, 1. und 6. Januar) Hauptrauchnächte, in denen man, um »böse Geister« abzuhalten, Wohnungen und Ställe ausräuchert und mit Weihwasser besprengt.
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burger Pestformular von 1399. Von Odarico dArco, einem Arzt aus Trient,42 empfohlen, wurde das Räuchern bis zum Einsetzen der modernen Krankheitsprophylaxe im 19. Jahrhundert als Methode zur Krankheitsabwehr eingesetzt. Solche Pfannen standen aber nach einem Gerichtsprotokoll von St. Gallen, Schweiz um 1600 auch zur Fettgewinnung aus menschlichen Leichen43 in Verwendung. Diese Nachricht ist uns deshalb erhalten, weil eine Privatperson in das Monopol des örtlichen Scharfrichters eingegriffen hatte. Eisen- und Kupferpfannen mit Stiel finden sich in Tirol in Nachlassinventaren seit dem 16. Jahrhundert.44 Auch im Gepäck von Marketenderinnen und Vagantinnen des 16. und 17. Jahrhunderts45 wird man diesbezüglich fündig. Segmentgürtel mit mehrteiliger Anhängerkombination Mehrere verzierte Beschläge und ein Ring an einem Lederriemen46 (Abb. 10, 1-2) dürften zu einem Segmentgürtel47 zu ergänzen sein. Solche Gürtel kom-
42 Thomas Naupp: Präventivmaßnahmen gegen die Pest – Ein Schreiben des Odoricus de Arccho [sic!] an Heinrich [IV.] von Rottenburg im Georgenberger Codex HS 167 aus dem Jahr 1399. In: Der Schlern 62, 1988, S. 63. 43 Die Fettgewinnung wird mittels Pfannen angenommen, vgl. dazu Robert Jütte: Menschliche Gewebe und Organe als Bestandteil einer rationalen Medizin im 18. Jahrhundert. In: Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century, hg. von Jürgen Helm und Renate Wilson, 2008, S. 144-146. 44 Franz Unterkircher: Aus dem Urbar der Herrschaft Lienz vom Jahre 1583. In: Schlern Schriften 98, 1952, S. 104. 45 François Deserps: Illustrations de Recueil de la diversité des habits qui sont de présent usage tant es pays d’Europe, Asie, Afrique et isles sauvages, hg. von R. Breton. Paris 1567, Fig. S. 33 mit Pfanne und Bratspieß dargestellt. 46 Das Leder vom Gürtel wird bezüglich verwendeter Tierart und Gerbeverfahren von Serge und Marquita Volken, von der Fachstelle für Calceologie in Lausanne, Schweiz untersucht; Die vor allem durch die mikrobiotisch-toxische Wirkung in der Nähe von Eisen und Buntmetall konservierten Textil- und Lederreste sind noch in Bearbeitung. Dasselbe gilt für die bei den botanischen Untersuchungen geborgenen Fragmente, vgl. dazu Claudia Ottino: Variabilität der Pflan-
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men im späten 16. Jahrhundert in Mode und verschwinden am Ende des 17. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas wieder. Nur im Alpengebiet leben bestimmte Formen aus Metall noch bis ins 19. Jahrhundert48 weiter. Haken und Verschlüsse Grundsätzlich ist festzuhalten, dass wir für Tirol über geringe Kenntnisse zur Bekleidung des 17. Jahrhunderts, vor allem Randgruppen betreffend, verfügen. Das wenige Dingliche erschöpft sich in einer Handvoll archäologisch erschlossener Bestattungen in Kirchen und Friedhöfen49 sowie in manchen Zwischenbodenfunden.50 Die Rekonstruktion von Kleidungsstücken aufgrund der Fundlage von Verschlüssen wie Haken und Ösen von Hemd, Leibchen, Hemdsärmel (Abb. 10, 3) gestaltet sich als schwierig. Der beste Vergleich zu Gürtelgehänge und Haken (Abb. 10, 1-3) der Tarrenzer Bestattung konnte bisher auf einem Ölgemälde von Pieter Cornelisz van Ryck von 1604 aus dem Bereich des Küchengenres (Abb. 10, 4) des frühen 17. Jahrhunderts im Herzog-AntonUlrich-Museum von Braunschweig51 beigebracht werden. Sowohl in Form als auch im Material des dort abgebildeten Segmentgürtels findet sich in diesem Bild vorläufig die beste Parallele.
zenreste aus den Bodenproben der Heilerin von Tarrenz im Grabungskontext (in Vorbereitung). 47 Jörg Harder: Segmentgürtel mit mehrteiliger Anhängekombination – Ein Frauenschmuckgürtel aus der Renaissance. In: Historische Archäologie 3, 2010, S. 9, Abb. 16. 48 Menardi, Um Liebe und Hochzeit, S. 18. 49 Zanesco, Friedhöfe im alten Innsbruck. 50 Irene Tomedi: Ein Bauarbeiterhemd des 16./17. Jahrhunderts aus Schloss Tirol. In: Zur Geschichte der Turris Parva, Nearchos Sonderheft 1, 1998, S. 145-149; Beatrix Nutz: Bras in the 15th Century? A Preliminary Report. NESAT XI (2012 in Druck). 51 Norbert Schneider: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit. Köln 1999, S. 42f.
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Abbildung 10: Vergleich zu Segmentgürtel der Bestattung vom Strader Wald auf einem Küchengemälde von 1604
Dokumentation: M. Schick, Institut für Archäologien, Innsbruck.
Fehlende Objekte und Ausrüstung Der leere Mundzeugköcher macht den Verlust von Messer, Gabel und Wetzstahl, Pfriem, wahrscheinlich. Außerdem fehlt ein Feuerzeug, bestehend aus Feuerschläger, Silex und Zunderschwamm. Eventuell hätte man auch mit einem Schröpfschnepper für das blutige Schröpfen rechnen können. Von kulturgeschichtlicher Relevanz könnte das Fehlen der Schuhe sein.
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Chronologie Die Ausstattung der Toten vom Strader Wald, vor allem der mehrteilige Gürtel mit Metallköcher und die acht kleinen und eine große Mantelhaftel, weisen typologisch in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das wichtigste Indiz für diese zeitliche Einordnung bilden aber die zwei oben vorgestellten Silbermünzen, deren jüngstes Prägedatum einen terminus post von 1626 angibt.
Z USAMMENFASSUNG Wir können vorläufig nur eine Zwischenbilanz ziehen. Vieles ist vom breit gefächerten Forscherteam52 noch zu untersuchen, zu analysieren und zu interpretieren. Und wir befinden uns auf schwierigem Terrain zwischen Volksmedizin und Volksmagie. Wobei sich hier die Frage stellt, ob die Zeitgenossen von damals mit dem Begriff Magie dasselbe wie wir in der Rückschau meinten. Ungewöhnlich bei unserer weiblichen Toten ist die Bestattung auf dem Bauch.53 Laut historischer Quellen sind solche Lagen in der Neuzeit vor allem für Selbstmörder54 überliefert. Nach Auler wurden in Deutschland Enthauptete zu 50 Prozent in Bauchlage55 verlocht. Mit Gesicht nach unten Bestattete werden unter anderem in Zedlitz/Schlesien als Vampire oder Hexen56 angesprochen.
52 Im Moment arbeiten elf Kollegen/innen an dem Fundkomplex. 53 Caroline Arcini/Prone Burials. In: Current Archaeology 231 (June 2009), S. 30-35; Joachim Wahl: Zur Ansprache und Definition von Sonderbestattungen. Beiträge zur Archäozoologie und Prähistorischen Anthropologie. Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 53, 1994, S. 85-106. 54 Thies Evers: Hingerichtete und Selbstmörder im Spiegel der Richtstättenarchäologie. In: Archäologie zwischen Befund und Rekonstruktion. FSf. Renate Rolle. Hamburg 2007, S. 375-383. 55 Jost Auler: Richtstättenarchäologie. Dormagen 2008, S. 31; allein in Ellwangen wurden neun in dieser Weise behandelte Individuen beobachtet. 56 Claude Lecouteux: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter. Köln/Wien 1987; Anett Stülzebach: Vampir- und Wiedergängererscheinungen
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Anzuführen wären noch Argumente für eine besondere Form des Strafvollzugs, nämlich das lebendig begraben werden. Diese Tötungsart wurde vor allem bei Frauen für nachgewiesene Unzucht57 angewandt. Tarrenz wird auch wiederholt in einem Verhörprotokoll58 eines Hexenprozesses aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges genannt. Die 1634 auf dem Piperbühel hingerichtete Anna Mezgerin aus Immenstadt59 erwähnt neben Zirl, Imst und Landeck im Oberinntal Tarrenz fünf Mal, was die Frage aufwirft, ob der Ort für fahrendes Volk eine zentralörtliche Funktion hatte. Wichtig erscheint uns auch der Hinweis, dass die aus den Prozessakten überlieferte Anna Metzgerin gerade in Tarrenz einer Bäuerin einen Messene Ketn Girtl (= Messing-Kettengürtel)60 entwendet hat, womit uns auch die zeitgenössische Bezeichnung dieses Accessoires überliefert ist. Die ungewöhnlich zahlreichen echten Beigaben dieser völlig atypischen Bestattung, etwa die sechs Schröpfköpfe aus Messing für das trockene Schröpfen und die Kompositamulettkette (»Fraisenkette«) veranlassten uns, in der Frau vom Strader Wald eine Heilerin mit magischem Hintergrund zu vermuten. Es sind zwei Fundkonzentrationen zu konstatieren: Eine Ansammlung um den Schädel, die die Hinterlegung der persönlichen Habe in einem organischen Behälter (Sack, Beutel aus Stoff) wahrscheinlich macht. Und eine zweite Ansammlung an Kleinfunden, die nach der anatomischen Lage wahrscheinlich in einem Lederbeutel am Gürtel befestigt (Schlüssel, Fingerhut, Münzen etc.) verstaut war. Ösen und Haken unter anderem aus Zinn, sowie der mehrteilige Gürtel mit verzierten Buntmetallbeschlägen weisen
aus volkskundlicher und archäologischer Sicht. In: Concilium medii aevi 1, 1998, S. 97-121; Auler, 2008, S. 380, Abb. 1; Strehlen/Dankwitz/Auler 2008, S. 381; Sebastian Brather: Wiedergänger und Vampir? Bauch- und Seitenlage bei westslawischen Bestattungen des 9. bis 12. Jh. In: FS Gringmuth-Dallmer 2007, S. 114f. 57 Vgl. Helmut Schuhmann: Der Scharfrichter: seine Gestalt, seine Funktion (= Allgäuer Heimatbücher 27). Kempten 1964, S. 81. 58 Für die Interpretation der Prozessakten ist es wesentlich, dass der größere Teil der Nennungen vor der peinlichen Folterphase erfolgte. 59 Ingrid Mair: Die »Hexe« Anna Mezgerin: ein Frauenschicksal aus dem 30jährigen Krieg. Unpubl. Diplomarbeit Universität Innsbruck 2003, S. 101-103, S. 121. 60 Mair, Die »Hexe« Anna Mezgerin, S. 102.
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auf eine Person mit aufwändigerer Kleidung hin, die aber, wenn man die Schuhe nicht vorsätzlich entsorgt hat, barfuß unterwegs war. Die Befunde und Funde erlauben uns vorläufig vier unterschiedliche Interpretationen: Hinter der Bestattung von Tarrenz verbirgt sich eine Marketenderin oder Vagantin aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die auf dem Weg durch das Gurgltal natürlich zu Tode gekommen ist und neben der Straße verscharrt wurde. Oder wir haben eine Zigeunerin, oder Jenische bzw. Karrnerin, also Angehörige des »fahrenden Volks«61, vor uns, die nach ihren Riten (Pfanne als standesspezifischer Beigabe?) in die Erde gekommen ist. Für die damalige Bevölkerung galt sie ja als Heidin und würde auch als solche bestattet werden. Es wäre aber auch eine Überschneidung beider ethnischen Randgruppen möglich. Oder es handelt sich um eine einheimische Frau, die Selbstmord begangen hat und deshalb nicht in geweihter Erde, sondern abseits davon und mit dem Gesicht nach unten bestattet wurde. Für alle drei Modelle sind aufgrund der Ausstattung (Schröpfköpfe, Fraisenkette) Kenntnisse der Verstorbenen in der Volksmedizin vorauszusetzen. Neben einem natürlichen Tod erscheint aber auch noch eine vierte Variante möglich, dass nämlich die Frau im Strader Wald einer Tötung mit rituellem oder abergläubischem Hintergrund oder einer kriminellen Tötung ohne Bereicherungsabsicht (im privaten/persönlichen Bereich) zum Opfer fiel. Vieles ist noch offen. Aber wir hoffen, durch breite interdisziplinäre Forschung in naher Zukunft Licht in das Schicksal der geheimnisvollen Toten vom Strader Wald zu bringen, die Mitte des 17. Jahrhunderts abseits jeder menschlichen Siedlung am Straßenrand bis zu unserem Eintreffen ihre letzte Ruhe fand.
61 Landfahrende Heiler, vgl. Robert Jütte: Bader, Barbiere, Hebammen. In: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller, 2001, S. 103-109; es ist aber auch zu bedenken, dass bisher archäologische Nachweise von Bestattungen von Randgruppen wie Jenische, Zigeuner etc. in Tirol noch fehlen. Vom Autor werden in einem Kleinprojekt die von den Gemeinden ausgewiesenen Plätze, Wiesen, wie das »Karrner Waldele« bei Landeck, Grins oder das »Korner Weidl«, Wald in Angath, Gemeinde Wörgl, wo fahrendes Volk gelagert hat – freundliche Auskunft Albert Kofler, Angath – gesammelt und kartiert.
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L ITERATUR Anonymus: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum Jahrbuch 28: (1860): Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, Jahresbericht 28, spezielles Verzeichniß aller dem Museum in den Verwaltungsjahren 1857, 1858 und 1859 zugewachsenen Gegenstände, S. 37-123. Caroline Arcini: Prone Burials. In: Current Archaeology, 231 (June 2009), S. 30-35. Jost Auler (Hg.): Richtstättenarchäologie. Dormagen 2008. Manfred Benner: Ein ungewöhnlicher, genau datierter Fundkomplex – Trinkgeschirr der kaiserlichen Belagerungsarmee von Heidelberg 1622. In: Archäologische Nachrichten aus Baden, Heft 58, 1998, S. 39-44. Ulrich von Berg Ulrich: Die Münzen und Medaillensammlung weiland des Artur Grafen von Enzenberg, Bd. II, landesfürstliche Prägungen aus der Zeit von 1519-1665. München o.J. Heide Bosin: Befunde und Funde neuzeitlicher Buntmetallschröpfköpfe aus Tirol und angrenzenden Gebieten. Unpubl. Bachelorarbeit, Innsbruck 2011. Sebastian Brather: Wiedergänger und Vampir? Bauch- und Seitenlage bei westslawischen Bestattungen des 9. bis 12. Jh. In: FS Gringmuth-Dallmer. Rhaden 2007, S. 109-117. Anita Chmielewski-Hagius: Wenderkette. In: Lorenz Söhnke (Hg.): Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten. Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums, 2 Bde. Karlsruhe 1994, Bd. 1, S. 48-50. Peter Eggenberger: Willisau, Archäologie einer Kleinstadt. In: Beiträger zur Mittelalterarchäologie Österreichs, Beih. 6/2003, S. 105-123. Thies Evers: Hingerichtete und Selbstmörder im Spiegel der Richtstättenarchäologie. In: Archäologie zwischen Befund und Rekonstruktion. FSf. Renate Rolle. Hamburg 2007, S. 375-383. Günther Fehring: Einführung in die Archäologie des Mittelalters. Darmstadt 1987. Deserps François: Illustrations de Recueil de la diversité des habits qui sont de présent usage tant es pays d’Europe, Asie, Afrique et isles sauvages, hg. von R. Breton. Paris 1567. Roland Halbritter: Südtiroler Breverln – Amulette zwischen Magie und Glaube? In: Der Schlern 72, Heft 1 1998, S. 39-64.
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Roland Halbritter: Mythos Stallbetn – volkskundlicher Antiquitätenfirlefanz. Eine erste Annäherung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 104/2 (2001), S. 177-183. Jörg Harder: Segmentgürtel mit mehrteiliger Anhängekombination – Ein Frauenschmuckgürtel aus der Renaissance. In: Historische Archäologie 3, 2010, S. 1-20. Wolf Peter Hartmann: Das große Kunstlexikon. Salzburg 1996. Bernd Heitmann: Boerner Carlos: Historischer Bestecke: Aus der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe. Hamburg 2007. Hans Hoeting: Schröpfen: eine praktische Einführung in eine alte Volksheilmethode. München 1998. Eduard Hoffmann-Krayer: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens 7, hg. von Hans Bächtold-Stäubli. Berlin-Leipzig 1935/1936. Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. München 1996. Robert Jütte: Bader, Barbiere, Hebammen. In: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller. Warendorf 2001, S. 90-121. Robert Jütte: Haut als Heilmittel. In: Ulrike Zeuch (Hg.): Verborgen im Buch, verborgen im Körper. Haut zwischen 1500 und 1800 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 82). Wiesbaden 2003, S. 161-174. Robert Jütte: Menschliche Gewebe und Organe als Bestandteil einer rationalen Medizin im 18. Jahrhundert. In: Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century, hg. von Jürgen Helm und Renate Wilson. Stuttgart 2008, S. 144-146. Barbara Kainrath: Zur Interpretation einer römischen Fundstelle an der Via Claudia Augusta im Gurgltal. In: Gerald Grabherr/Barbara Kainrath (Hg.): conquiescamus! longum iter fecimus. Römische Raststationen und Straßeninfrastruktur im Ostalpenraum. Akten des Kolloquiums zur Forschungslage zu römischen Straßenstationen. Innsbruck 4. und 5. Juni 2009. IKARUS 6. Innsbruck 2010, S. 215-239. Barbara Kainrath: Ein römisches Gasthaus im Strader Wald. Extra Verren. Jahrbuch des Museumsvereins des Bezirkes Reutte 5, 2010, S. 7-15. Barbara Kainrath: Neues zur Infrastruktur an der Via Claudia Augusta. In: Marion Meyer/Verena Gassner: Standortbestimmung. Akten des 12. Ös-
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terreichischen Archäologentages vom 28.02. bis 01.03.2008 in Wien. Wien 2010, S. 181-186. Lenz Kriss-Rettenbeck: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. München 1963. Liselotte Lansmann/Lenz Kriss-Rettenbeck: Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte. München 1966. Claude Lecouteux: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter. Köln/Wien 1987. Ingrid Mair: Die »Hexe« Anna Mezgerin: ein Frauenschicksal aus dem 30jährigen Krieg. Unpubl. Diplomarbeit, Universität Innsbruck 2003. Hermann Maurer: »Sonntagbergsteine« aus dem Waldviertel. Ein Beitrag zu den Schab- und Fraisensteinen vom Sonntagberg. In: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 78 (2007), S. 43-47. Bridget McConnel: Fingerhüte. Erlangen 1996. George McGlynn/Alexander Zanesco: The Skeletal Series from the Hospital Cemetery at Adolf-Pichler Platz, Innsbruck, Tirol, Austria. In: Documenta Archaeobiologiae, Skeletal Series and their Socio-Economic Context. Rahden/Westfalen 2007, S. 57-66. Heiner Meininghaus: Von Fraisketten und -hauben. In: Weltkunst 71. Jg. Nr. 15, 2001, S. 2395-2397. Herlinde Menardi: Um Liebe und Hochzeit. Katalog zur Sonderausstellung des Tiroler Volkskunstmuseums. Thaur 1981. Georg Mutschlechner/Rudolf Palme: Das Messingwerk bei Pflach in Reutte. Ein bedeutsames Industrieunternehmen am Beginn der Neuzeit. Innsbruck 1976. Thomas Naupp: Präventivmaßnahmen gegen die Pest – Ein Schreiben des Odoricus de Arccho [sic!] an Heinrich [IV.] von Rottenburg im Georgenberger Codex HS 167 aus dem Jahr 1399. In: Der Schlern 62 (1988), S. 59-68. Helmut Nemec: Zauberzeichen. Magie im volkstümlichen Bereich. Wien/ München 1976. Beatrix Nutz: Bras in the 15th Century? A Preliminary Report NESAT XI 2012 i. Druck. Karl Olbrich: s.v. Eisen. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HDA), Bd. 2, 1929/1930, Sp.717-729.
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390 | HARALD STADLER
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Zwischen den Kulturen
Der magische Kreis – Wissen ohne Zufall Kulturanthropologische Überlegungen zur Säkularisierung von Wissensbeständen A NDREAS J. O BRECHT
G RENZEN
UND
F RAGEN
Wodurch unterscheiden sich »neuzeitlich-rationalistische« von »magischen« Wissenswelten? Gibt es unsichtbare Grenzen zwischen »vormodernen« und »modernen« Weltbildern, deren reale Konsequenzen dennoch wahrnehmbar sind? Und in welchem ideengeschichtlichen Verhältnis steht eine Welt, in der der Zufall regiert, zu einer Welt, in der nichts zufällig sein kann? Anhand der folgenden Dimensionen, die grundlegende Transformationen von Wissenswelten beschreiben, möchte ich diese Fragen und die hinter diesen Fragen stehenden Grenzen ausloten: •
•
Aufhebung traditioneller, an den sozialen Raum gebundener Zeitwahrnehmung – wir beziehen uns evolutionär auf den Anfang des Universums, begreifen Zeit und Raum als voneinander abhängige Variable, fühlen, denken und handeln in Fortschrittsparadigmen, die einem linearen Zeitverständnis verpflichtet sind, generelle Abstraktion des Gewussten von der sinnlichen, damit auch empirischen Erfahrung des Wissenden – womit auch gemeint ist, dass wir uns mitunter ein Leben lang mit Wissensbeständen beschäftigen, die keine direkte Entsprechung, kein erfahrbares Analogon in unserer Alltagswirklichkeit zu haben brauchen,
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•
und Säkularisierung, die Verweltlichung der Wissensbestände – es sind nicht mehr die Magie oder Gottes Offenbarung, die Basis und Grenzen des Wissens vorschreiben, sondern empirische Erkenntnis. Damit ist dem »Zufall« Tür und Tor geöffnet, er wird zu einer dominanten Idee unserer auf »Wissenschaftlichkeit« basierenden Wissensgesellschaft.
Zeitwahrnehmung, Abstraktion und Säkularisierung sind die drei wesentlichen Begriffe, anhand derer ich auf die Suche nach einer Welt ohne Zufall gehen will.
IN
ETHNOGRAFISCHEN
R ÄUMEN
Wer die Genese der eigenen Kultur und Gesellschaft – und damit die Basis der Wissensproduktion – verstehen will, der sucht am besten menschliche Räume auf, die von der seit Kindheit an gewohnten Wirklichkeit möglichst weit entfernt liegen. Verborgene, stille, oft auch dunkle Gänge führen zu den ethnografischen Räumen. Denn es ist nicht leicht und auch mit so mancher Beschwernis verbunden, sich intensiv – oder besser: hingebungsvoll – mit anderen Kulturen zu befassen, die oft schwer verständlich und in ihrer Fremdheit vorerst auch bedrohlich sein mögen. Besuchen wir freilich in regelmäßigen Abständen die ethnografischen Räume, so lernen wir mit den dunklen Gängen, die dahin führen, und ihrer Angst erzeugenden Stille immer besser umzugehen. Lernen wir, angstlos durch sie zu schreiten, so können wir in den ethnografischen Räumen umso gelassener und länger verweilen. Umgeben von den Bewohnern Amazoniens, von Nomaden des subsaharischen Afrika, von mongolischen Hirten, südostasiatischen Bauern und melanesischen Jägern und Sammlern beginnen diese »fremden Welten« allmählich vertraut und bewohnbar zu werden. Alltagshandlungen, Rituale, Initiationsriten, religiöse Konzepte, getrennte Geschlechtersphären, die Macht der Alten und die wiederkehrenden Ahnenkulte sind dann nicht länger eigenartig erscheinende Relikte einer anderen, fernen Zeit, einer durch »Modernisierung« längst überwunden geglaubten menschlichen Vergangenheit, sondern erfühlte, erfahrene und erlebte Realität. Im Eintauchen in diese Wirklichkeit ereignet sich zweierlei: Erstens begreifen wir, dass all das, was einem an dem eigenen Tun und damit an dem Tun der jeweils anderen
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in der eigenen Kultur selbstverständlich vorgekommen ist – Normen, Werte, Handlung, Glaube, Ziele, Konsens etc. – keineswegs selbstverständlich ist, dass all dies eben auch anders beschaffen sein und somit auch die Gesellschaft anders »ticken« könnte, als sie das in unserer Wahrnehmung tut; und zweitens erkennen wir, dass Regeln, Gesetze, Normen in unterschiedlichen Kulturen sehr verschieden sein mögen, dass aber die hinter diesen »Handlungsanleitungen« stehenden menschlichen Bedürfnisse sehr ähnlich sein und einander wesentlich gleichen dürften. So unterschiedlich die Art und Weise ist, durch die diese Bedürfnisse geregelt, befriedigt und zueinander auch in soziale Beziehungen gesetzt werden, so ähnlich sind die menschlichen Anliegen, die durch unterschiedlich ausgeprägte Institutionen in die jeweils sozial erwünschte Richtung kanalisiert und kontrolliert werden. In den ethnografischen Räumen werden wir mit der Relativität unserer eigenen und der uns umgebenden Selbstverständlichkeiten konfrontiert. Auch wird unser Wissen in Frage gestellt und so mancher Probe unterzogen: Normativität und Funktionalität des eigenen Wissens verschwimmen oft angesichts der Selbstverständlichkeiten »fremder Welten«. Wir können uns unser Wissen und die daraus ableitbaren Handlungskonsequenzen nur schwer partikularistisch vorstellen, unser Denken tendiert grundlegend zur Verallgemeinerung, was zweifellos eine Folge der tendenziellen Ausweitung – durchaus auch im räumlich-geografischen Sinn – universalethischer Prinzipien und der »Objektivitätsparadigmen« in den Wissenschaften ist. Das, was hier Gültigkeit hat, sollte auch dort gültig sein! Und hat es keine Gültigkeit, so muss das Wissen selbst in Frage gestellt werden. Das Wissen, das uns Bestand gibt, soll auch anderen Menschen Bestand geben können. Ein schöner Gedanke vielleicht – aber mit Sicherheit eine Illusion! Kulturelle Wirklichkeiten sind durch je unterschiedliche Wissenshorizonte definiert, und diese sind gegeneinander nicht verrechenbar. Wenn für die Bewohner im Hochland von Neuguinea der Mond deshalb leuchtet, weil auf ihm Krieger mit Fackeln sitzen, dann hat unser Erklärungsmodell für das Licht auf dem Mond eben keine wie immer geartete Gültigkeit. Dort wird diese Wirklichkeit anders gesehen. Gehen die Kinder dieser Hüter traditionellen Wissens freilich in die Schule, dann wird ihnen mit rigoroser Autorität vermittelt, dass der Mond des Nachts von der hinter der Erde stehenden Sonne angestrahlt wird. Die Krieger haben ausgedient, sie hat es vielleicht niemals gegeben. Diese Kinder wachsen dann in einem Weltbild auf, das mit den traditionellen Vorstellungen ihrer Väter und Mütter nicht vereinbar
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ist. Es findet eine Abstraktion statt – ein gar nicht einfaches Erklärungsmodell löst ein Wissen ab, das möglicherweise Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende existiert hat. Erklärungen geraten in Konflikt zueinander. Und vielleicht wird sich eines dieser Kinder dann irgendwann fragen: Vielleicht haben die Alten doch Recht gehabt, denn ich habe noch nie die Sonne des Nachts scheinen gesehen!
D IE W ELT
VOLLER
Z UFALL
Die Idee, aus purer Zufälligkeit entstanden zu sein, ist für rationalistische Menschen zumindest ebenso beunruhigend wie die Idee, »logische« Folge eines strikten Determinismus zu sein. Bei erster wird der Individualismus der Beliebigkeit, bei zweiter der prinzipiellen Vorhersagbarkeit geopfert. Beiden Ideen haftet ein verstörendes Maß an Unfreiheit an, denn wir Menschen wollen einerseits planvoll in Szene gesetzt sein, andererseits aber auch unser Handeln selbst bestimmen und unsere Welten selbst erbauen. Die subjektive Perspektive erlaubt uns ein Höchstmaß an Freiheit anzunehmen, auch wenn wir in jedem Augenblick unseres Seins erfahren, wie begrenzt unser Tun im Verhältnis zu den unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten unseres Denkens – und wohl auch Träumens – ist. Die Rahmenbedingungen organischer Lebewesen sind eng gesteckt. Zufall oder sich deterministisch aus den kosmologischen Strukturprinzipien ergebende Ordnung? Um die Idee der Freiheit aufrechtzuerhalten, können wir uns selbst einreden, ein Gutteil dieser Rahmenbedingungen als Menschen selbst gesetzt zu haben – soziale, ökonomische, normative Regeln spiegeln dann Prozesse des Aushandelns, die zwischen prinzipiell frei entscheidenden und handelnden Individuen stattfinden, denen mehr oder weniger Macht oder Verfügungsgewalt innerhalb einer sozialen Gruppe zugeschrieben werden. Die Frage, welchen Anteil der »Zufall« oder dem sozialen Handeln inhärente Gesetzmäßigkeiten an den jeweiligen Übereinkünften über die – unsere Freiheit beschränkenden – Rahmenbedingungen haben, brauchen wir uns in diesem Fall nur bedingt stellen. Denn wir befinden uns mit dieser Vorstellung in einer ganz und gar anthropozentrisch gedachten und erfahrenen Welt. Schwieriger wird es, wenn uns diese Rahmenbedingungen als Objekte gegenübertreten, die grundsätzlich von uns – den Subjekten – getrennt sind. Diese Vorstellung wurde in den letzten 200 Jahren insbesondere in den auf-
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kommenden Gesellschaftswissenschaften problematisiert, die das »Eigengesetzliche« der Rahmenbedingungen auf Basis einer erkenntnistheoretischen Distanzierung zwischen Beobachter und Beobachteten zu erkennen trachten. Aufgrund welcher Strukturprinzipien und aufgrund welcher Gesetze schauen unsere soziale Welt und die Art und Weise, wie wir in ihr leben, so und nicht anders aus? Und welche Rolle spielt dabei der Zufall? Noch schwieriger und undurchsichtiger freilich wird die Sache, wenn wir uns den biophysiologischen Rahmenbedingungen unserer Existenz zuwenden, denn die Vorstellung, dass auch diese selbst gesetzt sind, erodiert spätestens dort, wo die eigene Vergänglichkeit realisiert und antizipiert wird. Die Entstehung der exakten Wissenschaften und damit die teilweise Durchsetzung eines rationalistischen Weltbildes verdanken sich eines operativen erkenntnistheoretischen Eingriffs, der den Beobachter in großer Radikalität von den Gegenständen der Beobachtung trennt. Wie Wesen von einem anderen Planeten müssen wir Phänomene distanziert analysieren, damit wir deren Gesetzmäßigkeit erfassen können. Wer in Gedanken mit dem Apfel vom Baum fällt, der kann die Gesetze der Schwerkraft, die dieses Fallen erklären, nicht ergründen. Das Subjekt als Beobachter trennt sich zusehends von den Erscheinungen der Welt, um sie zu »erklären«. Es bleibt lediglich das eine gemeinsame Merkmal, sich innerhalb des gleichen »Raumes« der Wahrnehmung zu befinden. Dem wissenschaftlich beobachtenden Blick darf nichts entgehen, denn bleibt etwas unerklärlich und damit unerklärt, so hat das System der Welterklärung durch eben diesen Blick, so hat die Wissenschaft grundsätzlich versagt. Die Subjekt-Objekt-Trennung ist die Voraussetzung für die Schaffung einer Welt, die als etwas erfahren wird, was prinzipiell unbegrenzt genutzt und manipuliert werden kann. Jeder Erkenntnis folgt die Exekution des Erkannten. Deshalb wird alles, was gemacht werden kann, früher oder später tatsächlich auch realisiert – die »Selbstzensur« der Wissenschaften ist in allen Bereichen eine fromme Selbsttäuschung. Im letzten Jahrhundert waren es die exakten Wissenschaften – allen voran die Physik – die die Vorstellung der durch Beobachtung objektiv analysierbaren Welt gehörig ins Wanken gebracht haben. Einerseits führte der Einfluss des Beobachters auf die Ergebnisse der Beobachtung, der Jahrhunderte lang unentdeckt geblieben war, und die Interdependenz zwischen Raum und Zeit zu einem Paradigmenwechsel und zu einer sukzessiven Demontage des Newtonތschen Weltbildes, andererseits erlebte – insbeson-
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dere in der Quantenphysik – das Konzept des Zufalls eine Renaissance sprichwörtlich kosmologischen Ausmaßes. Albert Einstein versuchte sich angesichts der »wilden Welt der Quanten« noch mit dem bekannten Zitat »Der liebe Gott würfelt nicht« zu beruhigen. In einer physikalisch geordneten Welt darf dem Zufall nicht zu viel Gestaltungsspielraum eingeräumt werden. Dennoch ist der Zufall – als Erklärungsprinzip – zwei Wissenschaftler/innengenerationen nach Einstein aus dem analytischen Repertoire der Wissenschaften, allen voran der Quantenphysik, der Evolutionsbiologie, der Genetik und Kybernetik etc. – nicht wegzudenken. Der Zufall als Erklärungsprinzip hat etwas Ungeheuerliches an sich und stellt eine Absage an das klassische deterministische Weltbild dar, das sowohl in religiösen als auch in wissenschaftlich-mechanistischen Konzepten bestimmend war. Es könnte sich nämlich herausstellen, dass die Welt und deren Bewegungen in ihr bei weitem nicht so planbar sind, wie wir uns das als Ordnung und Strukturen schaffende Wesen wünschen. Die Idee oder vielleicht besser die Methode des Zufalls stellt eine enorme menschliche Denkleistung dar – eine Abstraktion von der und eine Transformation der geordneten, »geschlossenen« Welt, deren Zentrum vor gar nicht allzu langer Zeit in jedem Einzelnen von uns lag. Sie ist aber auch eine Irritation und Beunruhigung, denn mit welchen wissenschaftlichen und methodischen Strategien – außer dem Errechnen von »Zufallswahrscheinlichkeiten« – kann gegen die mitunter unerwünschten Folgen von Zufällen vorgegangen werden? Vielleicht ist der Zufall das letzte Unerklärliche, das im Zuge der wissenschaftlichen Welteroberung einzig und allein dadurch erklärt wird, dass dessen Existenz überwiegend anerkannt ist! Was der Zufall ist, wissen wir zwar nicht, welche Funktionen der Zufall als Erklärungsprinzip erfüllt, können wir aber mit – zuweilen hoher Präzision – angeben. Die erkenntnistheoretische Trennung von Subjekt und Objekt hat der Zufall nicht wirklich geholfen zu überwinden. Im Gegenteil: in einer auch durch Zufall maßgeblich gestalteten Welt steht der Beobachter mitunter noch hilfloser den Gegenständen seiner Beobachtung gegenüber, nicht zuletzt deswegen, weil auch diese Beobachtungssituation ein Resultat puren Zufalls sein könnte. Ein Schlag ins Gesicht des auf Systematik, Nachvollziehbarkeit und Planbarkeit angelegten menschlichen Denkens.
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W IEDERKEHR
UND
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L INEARITÄT
Warum haben wir uns – trotz aller vorerst empfundenen Fremdheit – in den ethnografischen Räumen so gerne und so lange aufgehalten? Weil wir hier einerseits die Relativität unserer eigenen Vorstellung von menschlichem Leben erfahren und in den jeweils anderen Welten auch Teile unserer eigenen gespiegelt gefunden haben. Und weil wir in diesen Räumen in Welten getreten sind, die keinen Zufall kennen! Das ist uns erst nach und nach bewusst geworden. Aber je intensiver wir den ethnografischen Strukturen und Wissenswelten gefolgt sind, desto mehr haben wir darin auch einen verloren geglaubten Teil unserer eigenen Geschichte zu erkennen vermeint. In dem unauflösbaren Paradoxon zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, Ich und Gesellschaft, Endlichkeit und Unendlichkeit sind wir – vielleicht tatsächlich auch Produkte des Zufalls – zu beliebigen Wesen geworden. Diese Beliebigkeit hat uns zwar der wissenschaftlichen Erkenntnis untergeordnet – die Erfüllung einer Sehnsucht nach ganzheitlicher Erklärung und nach einem Sinn, der sich nicht nur aus temporär definierten Rahmenbedingungen ableiten lässt, ist dabei aber vernachlässigt worden. In den ethnografischen Räumen hingegen sind wir Welten ohne Zufall begegnet, in denen sich die Zeit und unsere Sehnsucht nach sinnhaftem Sein zu einem magischen Kreis schließt. Zukunft wird im ethnografischen Feld auch als Raum der Wiederkehr von Vergangenem gedacht und erlebt. Ereignisse, Handlungen, Wesen – Zeiten! – dürfen sich in ihrem Eigensein wiederholen. Tote kehren wieder im Tanz, im Ritual, in der Erzählung; beraten, treffen Entscheidungen, drohen oder schützen hilfreich die Schwächsten. Die Zukunft, in der sich der Schöpfungsmythos als Spiegel der Bedingung des individuellen und kollektiven Seins zyklisch wiederholt, spannt einen »unendlichen« Raum auf, in den hinein sich die Gemeinschaft der Lebenden, Vergangenen und Zukünftigen bewegt und reproduziert. Es ist gut und Sinn gebend zu wissen, dass die Zukunft auch aus Vergangenem besteht und dass sich Zyklen wiederholen – Erntezyklen, Jagdzyklen, Kriegs- und Friedenszyklen, lebensbiografische Zyklen wie Geburt, Initiation, Verheiratung, Elternschaft, Altwerden, Tod. Die Welt braucht sich nicht grundsätzlich zu verändern und den jeweils Alten wird ein hohes Maß an Respekt gezollt, da sie über die Summe jenes lebensweltlichen Wissens verfügen, das für die Bewältigung der Zukunft – auch als Teil der eigenen Vergangenheit – notwendig ist.
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In modernen Gesellschaften hingegen sind es die Jungen, die »wissen, wo es lang geht«. Einerseits grenzt sich »Moderne« stets gegenüber »Traditionalem« ab – »modern« ist das, was in der Vergangenheit nicht vorhanden war –, andererseits bedingen die enorme Beschleunigung aller Lebensund Wissensbereiche und die Tatsache, dass wir unseren Leben Fortschritts- und Vervollständigungskonzepte zugrunde legen, eine niemals zuvor dagewesene Begrenzung der Zukunft. Die Vorstellung, in 20 oder 30 Jahren die- oder derselbe zu sein, die oder der man heute ist, grenzt an eine Zumutung und an eine eklatante Lebensverfehlung: Wir müssen weiterkommen – und das in allen Lebensbereichen – privat, beruflich, gesellschaftlich, spirituell. Wiederkehr und vor allem Stillstand werden von dem »modernen« Menschen oft schlichtweg als persönliches Desaster erlebt. Die Gegenwart wird zu einem Durchgangsstadium für hinkünftige Zielerreichung. Jeder Moment muss genutzt sein, um sich selbst – dem linearen Vervollständigungskonzept folgend – gerecht zu werden. Wir wissen zwar nicht, wohin die Reise geht, aber das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass die Fahrt immer schneller wird, dass die Geschwindigkeit mit Produktivität und der Akkumulation vielfältiger »Mehrwerte« korreliert – die mögen ökonomisch, politisch, wissenschaftlich etc. definiert sein. Die »Moderne« lebt durch Beschleunigung sui generis – schneller, effektiver, mobiler, durchlässiger, jetztzeitlicher! Aus einer seltsamen Mischung unterschiedlicher Ideensurrogate hat sich insbesondere nach der Zerstörung Europas und vieler anderer Teile der Welt durch zwei Weltkriege enormes Wirtschaftswachstum generieren lassen. Wenn das stete Wachstum – wie erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 2009 – innehält, wenn die Maschine zu stottern beginnt, dann folgt daraus Verelendung, Massenarbeitslosigkeit und Untergangsstimmung. Die Leere meldet sich zurück und mit ihr die Gegenwart – was, wenn die Gegenwart für künftige Zielerreichung, Beschleunigung, die Erhöhung der Produktivität und damit für eine »bessere Zukunft« nicht mehr genutzt werden kann? Müssen wir uns dann etwa mit ihr arrangieren? Noch wollen wir uns nicht dieser Frage stellen, noch sind permanente Veränderung und Reaktion auf sich beschleunigt verändernde Rahmenbedingungen angesagt; und während alle rennen, um von dieser exponentiellen Dynamik nicht überrannt zu werden, verengt sich der Raum, in den hinein gerannt wird. Obgleich wir maßlos zukunftsorientiert scheinen, hat sich die Zukunft selbst unserem hektischen Treiben entzogen: Sie ist zu einem
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unbekannten Raum geworden, dessen Beschaffenheit oder Qualität zu prognostizieren niemand mehr wagt. Wie wird die Welt in 20, 30, 100, 1000, 10.000 Jahren aussehen? Niemand antwortet, denn sie wird sich grundlegend von all dem unterscheiden, was wir heute zu kennen glauben. Je intensiver und kunstfertiger wir die Zukunft zu planen trachten, desto weniger wird sie unseren Planspielen folgen. Sie zeigt uns – schon jetzt – die Grenzen der Beschleunigung, des Wachstums, die Konsequenzen der linearen Fortschrittsstrategie, und sie scheint umso weniger begehbar, je mehr wir die Lebensmöglichkeiten hinkünftiger in unserer Gegenwart beschneiden. Vielleicht verabschiedet sich die Zukunft von den Lebenden, wenn sie nicht wiederholt sein darf; und vielleicht ist es mehr als purer Zufall, dass die Menschen auf unserem Planeten – wenn überhaupt – einer mehr als nur besorgniserregenden Zukunft gegenüberstehen.
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OHNE
Z UFALL
Der Zufall ist eine Erfindung oder Entdeckung – je nach Weltbild – des wissenschaftlichen Denkens. In dem magischen Kreis freilich ist die Natur beseelt: Geister, Dämonen, Kobolde, Verstorbene, Göttinnen und Götter bevölkern die magische Welt. Magie bedeutet die kultische und rituelle Besänftigung dieser metaphysischen Wesen ebenso wie deren aktive Einbindung in die sichtbare Welt und damit Ordnung der Dinge. Kunstfertig werden sie zu Hilfe gerufen, wenn es um die Vermeidung von Unglück, wenn es um Heilung oder aber um einen Liebeszauber geht. Die rituelle Spezialisierung im Umgang mit diesen metaphysischen Wesen findet in diversen Formen des Schamanismus statt. Als älteste religiöse Praxis die wir kennen, steht der Schamanismus im epistemologischen Gegensatz zu heutigen religiösen – insbesondere auch christlichen – Überzeugungen, denn in ihm gibt es keinen »Glauben«, ausschließlich »Wissen«. Der Skeptizismus religiöse Belange betreffend ist auch eine Folge der Dekonstruktion der Symbiose zwischen Natur und Kultur. Die Bewohner magischer Welten wissen um die Strukturprinzipien ihrer Welt Bescheid, und sie wissen auch, dass es in dieser Welt keinen Zufall gibt. In den vielen tausenden sogenannten indigenen Sprachen, die heute noch existieren, findet sich kein einziges Wort, das »Zufall« in jenem Sinn beschreiben würde, wie er uns in unserem eigenen Denken geläufig ist. Eine Welt ohne Zufall
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ist eine Welt, in der alle sie konstituierenden Teile ursächlich, also kausal miteinander verknüpft sind und zueinander in Beziehung treten. In einer solchen Welt muss Sinn nicht erklärt werden, sie ist per se sinnvoll. Jedem Ereignis – glückliche Fügung, Unfall, Krankheit, Naturkatastrophe, Verliebtheit, Gewalttat etc. – wird eine metaphysische Ursache zugeschrieben, eine Erklärung, die gleichermaßen individuelles wie kollektives »Schicksal« begründet. In unserer Welt gehen wir gerne davon aus, dass man eben »Pech« haben kann, dass es Zufall war, dass der Bekannte ausgerechnet in jenem Flugzeug gesessen ist, das in Südostasien abgestürzt ist, dass es eben Zufall ist, wenn wir barfüßig auf eine Biene steigen und uns ihren Stachel eintreten oder einen Traum träumen, der dann doch irgendwie in der Wirklichkeit Bestätigung findet. Ereilen uns aber schwere Schicksalsschläge, so greifen wir in den allermeisten Fällen die Erklärungen einer Welt ohne Zufall – oft ziemlich linkisch – wieder auf. Muss nicht alles letztlich seinen Sinn gehabt haben, auch wenn wir den Sinn, die Ursache, die Folge und Wirkung des Ereignisses nicht mehr adäquat auszudrücken vermögen? In der säkularen Welt verfügen wir oft über keine Sprache, die aus tatsächlichen oder vermeintlichen Zufällen jenes Wissen macht, in dem das Unfassbare eine Erklärung findet und somit fassbar wird. Die Welt ohne Zufall erscheint wohltuend, weil sie vor dem »Irrsinn« der Beliebigkeit schützt und Sinn vermittelt, den es in Bedingungen des Zufalls schwerlich geben kann. Freilich lässt sich – in der griechischen Tragödie etwa – der Zufall derart kunstfertig überhöhen, dass der Zufall selbst nicht mehr zufällig ist. Es muss das, was nicht geschehen darf, geschehen – aus Zufall wird Schicksal. Die ganze Verletzbarkeit und Abhängigkeit des Menschen von letztlich nicht ergründbaren »Kausalitäten« wird abermals vor Augen geführt: Das Orakel spricht, aber prophezeit das Orakel die Zukunft, oder folgen die Ereignisse der Zukunft dem Spruch des Orakels? Die Prophetie will dem Zufallsprinzip zuvorkommen, indem sie künftige Ereignisse voraussagt. Oder aber festlegt! In dem Moment, wo die Idee des Zufalls vom Menschen Besitz ergreift, beginnt sich etwas in ihm zu verselbständigen, was mit »existentieller Verunsicherung« umschrieben werden kann. Friedrich Nietzsche ruft den Tod Gottes aus. Damit ist der Siegeszug der Idee des Zufalls endgültig besiegelt, auch wenn der Mensch in dieser Philosophie derart überhöht wird, dass er glaubt, sich selbst Anfang und Ende, Gesetz und Sinn sein zu können. Der postulierte Gottestod stellt glei-
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chermaßen einen Skandal wie eine revolutionäre Befreiung aus den Ketten menschlicher Geschichte und Abhängigkeit dar. Jahrtausende lang waren Gott und Götter in das Wissen der Menschen eingeschrieben, ein Wissen, das aufgrund der neuzeitlichen Vorstellung von Natur und Kultur, Ich und Gesellschaft im 19. Jahrhundert schließlich radikal dekonstruiert wird. Der Siegeszug der wissenschaftlichen Verfahrensweise mit der Welt ging nicht von ungefähr seit dem späten 18. Jahrhundert Hand in Hand mit permanenter philosophischer und auch institutioneller Religionskritik. Die »Herrschaft des Menschen über sich selbst im Namen seiner selbst«1 konnte ihre normative Kraft nur auf Kosten der überlieferten Gottesbilder entfalten. Und Ende des 19. Jahrhunderts – das Jahrhundert der großen materialistischen und religionskritischen Gesellschaftsphilosophien und -utopien – wird Friedrich Nietzsche schließlich zu einem der meistgelesenen Autoren in Europa – der kränkelnde Popstar einer gottfernen, antimetaphysischen Philosophie.2 Solange Gott, verschwommen zwar, aber doch irgendwie präsent war, war dem »Irrwitz des Zufalls« noch nicht Tür und Tor geöffnet. Jetzt aber, wo der Tod Gottes festzustehen scheint, könnten wir verloren sein, wenn wir nicht lernen, dem Zufall einen neuen Sinn zu geben oder noch besser: ohne Sinn zu leben lernen!
E NDLICHES
IN
U NENDLICHEM
Die antike Kosmografie stellt sich das Universum als ungeworden und nicht endend vor. Die christliche Scholastik hat die Unendlichkeit des Universums in Ableitung der biblischen Schöpfungsgeschichte der relativen Endlichkeit zugeführt: Gott hat die Welt als Mittelpunkt des sichtbaren Universums erschaffen und wird die Welt und mit ihr das Universum in einem Akt, der »Apokalypse« genannt wird, – willentlich und aktiv – transformieren. Damit endet die Zeit, die mit der aktiven und willentlichen Schöpfung begonnen hat. Mit den astronomischen Entdeckungen der Neu-
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Dieses Zitat wird Montesquieu zugeschrieben. Dass er einmal der meist gelesene Philosoph sein würde, hatte Friedrich Nietzsche seinem Verleger schon in jungen Jahren prophezeit. Aufgrund seiner Geisteskrankheit, die ihn ab den 1890er Jahren ans Bett fesselte, konnte er das Eintreffen seiner Prophezeiung freilich selbst nicht mehr bewusst erleben.
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zeit und der Kopernikanischen Wende rückt die Welt aus dem Mittelpunkt des sichtbaren Universums und die Philosophen stellen sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts in zunehmend radikaler Weise die Frage, ob diese Welt und das Universum überhaupt Gott bedürfen, um zu existieren. Freilich darf zu dieser Zeit an dem Schöpfungsakt und damit an der Existenz Gottes noch nicht »offiziell« gezweifelt werden.3 Die Gott-ist-totDoktrin setzt sich erst mit der radikalen Religionskritik – auch als politisches Instrument – und dem Aufkommen des historischen Materialismus im 19. Jahrhundert durch. Seitdem ist alles offen. Zwar schien die Urknalltheorie und die räumliche Expansion des Universums im 20. Jahrhundert die Endlichkeit dieses Universums – so wie sie uns auch in der christlichen Eschatologie gegenübertritt – zu bestätigen, doch gibt es mittlerweile wieder eine Reihe namhafter Physiker, die überzeugt sind, dass das Universum keinen zeiträumlichen Anfang und kein zeiträumliches Ende zu haben braucht, um zu existieren.4 Auch wird die Möglichkeit der Existenz von »unendlich vielen« Paralleluniversen keineswegs ausgeschlossen, womit die christlichen Kirchen einmal mehr Schwierigkeiten haben, das lineare, sich von dem Anfang der Schöpfung bis zu deren Ende spannende Kontinuum der Zeit – das die Existenz Gottes zu begründen hilft – zu rechtfertigen. Es scheint als wäre die alte theologische Vorstellung einer »creatio continua«5 – Gott muss der Welt und dem Universum permanent Bewegungsenergie zuführen, damit diese nicht zum Stillstand kommen – von einer säkularen Variante abgelöst worden: Der Mensch ist – anstelle von Gott – dazu auserkoren, den »Fortschritt« voranzutreiben und permanent »neue Entwicklungen« in Szene zu setzen. Diese säkulare Apotheose – nunmehr ist es der Mensch, der den Weltengang aufrecht erhält und nicht mehr Gott – wurzelt in der antiken Philosophie und in der Scholastik ebenso wie in der Philosophie der Aufklärung, die den Menschen als selbstverantwortlichen Weltenerschaffer und »Motor des Fortschritts« neu entdeckt. Die Welt darf
3
Eine schöne, unlängst erschienene historische Darstellung der »Radikalisierung« des atheistischen Denkens und auch der Strategien der Geheimhaltung, bzw. auch der Verklausulierung desselben findet sich bei Phillip Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2010.
4
Prominentes Beispiel dafür ist der gelähmte Physiker Stephen Hawking.
5
Das spätmittelalterliche kosmologische Konzept der »creatio continua« geht auf Thomas von Aquin (1225-1274) zurück.
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nicht sie selbst bleiben. Sie wird bebaut, besiedelt, gestaltet, genutzt, manipuliert, domestiziert und dem Wunsch und Willen des – vorerst einmal »abendländischen« – Menschen unterworfen. Natur und Kultur treten als Antagonismen auf, geraten in Konflikte zueinander, werden schließlich gar als Widerspruch erlebt – der auch biblische Auftrag, sich die Welt untertan zu machen, geht mit der sich steigernden Produktivität, die schließlich im Zeitalter der Industriellen Revolution durch den Einsatz fossiler Energien global entfesselt wird, eine intensive, bis heute fortwirkende Symbiose ein. Die Maschine Welt wird von dem Maschinisten Mensch in Gang gesetzt und in Gang gehalten. Gleichzeitig erfolgt eine ständige Optimierung nach Kriterien von Leistungsfähigkeit. Dem rastlosen Vorwärts liegt ein lineares Zeitkonzept zugrunde, das – tief verinnerlicht – die Welt und das Individuum als Sich-Entwickelndes begreift. Das, so könnte man einwenden, verwundert auch keineswegs, ist doch die gesamte uns umgebende organische Umwelt in stetem Werden, Wachsen und Vergehen begriffen. Die Natur kommt aber ohne uns aus, sie existiert und reproduziert sich in zyklischen Eigenzeiten, wohingegen wir glauben, in unsere Entwicklung stets von neuem aktiv eingreifen zu müssen. Im linearen Zeitkonzept sind wir es selbst, die unsere Entwicklung permanent vorantreiben. Wir sind es, die die Maßstäbe für Entwicklung setzen, und wir sind es, die diese zu erfüllen haben. Das oben beschriebene Bild, dass die »Zeit stillstehen« könnte – ein Bild, das vielen von uns Angst macht –, verrät einiges über unsere Getriebenheit: Denn in diesem Bild sind wir es selbst, die die Zeit »in Gang setzen«, was ununterbrochenes Tun und gezielte Intervention in den Ablauf unseres Lebens voraussetzt. Mischen wir uns einmal nicht in unsere Zeit ein, so droht sie sich vor dem Hintergrund einer unermesslichen Leere in Nichts aufzulösen. Im ethnografischen Raum füllt sich diese – von uns so wahrgenommene – Leere mit Leben. Denn im ethnografischen Raum hat es diese Leere niemals gegeben. Besuchen wir die kleine Insel Masahet im Südpazifik.6 Etwa 600 Menschen leben hier in zwei Dörfern, sie sprechen ihre eigene Spra-
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Die sich östlich von Neuirland (New Ireland) befindende Inselgruppe Lihir besteht aus den Inseln Lihir, Mali, Masahet und Mahur. Neuirland gehört heute zu dem 1975 unabhängig gewordenen Nationalstaat Papua Neuguinea und stellt die Hauptinsel der etwa zwischen dem 2. und 5. Grad südlicher Breite und dem 150. und 153. Grad westlicher Länge gelegenen Gruppe im Südpazifik dar.
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che, brandroden, bauen Yams und Kassava an, gehen fischen, bestellen die Gärten, flechten Körbe, bessern ihre Häuser aus, feiern Feste und benötigen aufgrund der reichhaltigen Natur im Durchschnitt nicht mehr als drei Stunden pro Tag für die »materielle Reproduktion«. Es gibt viel Zeit und wenig Veränderung. Heute wissen wir, dass diese Inseln seit etwa 20.000 Jahren besiedelt sind und dass sich die Produktionsformen nur unwesentlich verändert haben. Unweigerlich fragen wir uns als Besucher aus der »westlichen« Welt: »Was tun die denn da?«, und für uns stellt die offensichtliche Antwort eigentümlicherweise ein Höchstmaß an Abstraktion dar: »Die Menschen hier leben einfach – von der Geburt bis zu ihrem Tod, ohne sich, ihre Gesellschaft, die sie umgebende Natur grundlegend verändern zu müssen!« Der magische Kreis hat sich geschlossen, die zyklische Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft, auch deren lebensweltliche Folgen für die menschliche Existenz irritieren und lassen uns einigermaßen fassungslos zurück. Hier existiert Endliches in Unendlichem. Das individuelle Leben vergeht, die Natur, das Kollektiv bleibt scheinbar für immer. Wie ist es möglich, zufrieden zu sein, wenn sich – gemessen an unseren eigenen Fortschrittsprogrammen – nichts tut, nichts verändert, wenn nichts Neues, Modernes entsteht? Gibt es ein Eigensein, von dem wir bislang nichts gewusst haben und das unsere Lebenskonzepte relativiert? Oder lassen sich diese Fragen einfach dadurch beiseitelegen, dass wir es hier in Masahet mit vormodernen, um nicht zu sagen archaischen Lebensformen zu tun haben, die wir auf der zivilisatorischen Leiter steter menschlicher »Entwicklung« schon lange evolutionär zurückgelassen haben? Und ist die magische Ordnung, in der die Menschen von Masahet leben, nicht ein Beweis dafür, dass sie in eben jenen Abhängigkeiten zu leben genötigt sind, die wir aufgrund unseres rationalistischen Denkens längst überwunden haben? Und wäre es überhaupt möglich, dass wir – moderne, rational orientierte Menschen – uns wieder in zyklische Zeitkreise, in die Allbeseelung der Natur und in die sich daraus ergebende Begrenzung unserer Lebensweise einfinden, dass wir wieder Teil einer Welt ohne Zufall werden, ungeachtet der Errungenschaften vergangener Jahrhunderte? Oder entspringen die Bilder, denen wir auf der Insel Masahet begegnen, ohnedies nur unserer Sehnsucht nach mehr Geborgenheit und Sinn, einer Sehnsucht nach Wissen, das Morgen auch noch gültig ist? Und sind wir, wenn dem so ist, nicht bloß purer EthnoRomantik aufgesessen?
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ATHEISTISCHE E MPIRISTEN SPIRITUELLE S INNSUCHER
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UND
Zwar können wir all diese Fragen nicht beantworten, aber sie haben uns einmal mehr gezeigt, dass es diesen fundamentalen Unterschied zwischen magisch-religiösen und wissenschaftlichen Weltbildern tatsächlich zu geben scheint. Dieser Unterschied wird seit Beginn der Neuzeit leidenschaftlich verhandelt und ist oftmals auch zu gewaltsamen Konflikten eskaliert, die – bis heute – insgesamt Millionen Menschen das Leben gekostet haben. Im »Westen« scheint der Weltbilderstreit weitgehend befriedet. Der gängige Konsens im Diskurs zwischen Religion und Wissenschaft ist das Argument, dass sie zwei unterschiedliche Erfahrungs- und Realitätsebenen betreffen. Zwar hat die Religion Deutungshoheit über existenzielle Fragen des Lebens verloren und musste Deutungshoheit über die empirisch erfahrbare Welt an die Wissenschaft abgeben, aber den zuweilen mit hohem Blutzoll ausgetragenen Kämpfen zwischen Religion und Wissenschaft ist eine Art von Pattstellung oder sollte man sagen »Waffenstillstand« gefolgt: beide Symbolund Erklärungssysteme – in ihrer Weise mächtig und soziale Wirklichkeit setzend – wollen einander nicht mehr wirklich »in die Quere« kommen. Die als grundsätzlicher Wert in vielen – insbesondere den ökonomisch stark entwickelten – Teilen der Welt begriffene »Toleranz« hat in dieser Konfliktbeilegung eine wesentliche Rolle gespielt. Um sich letztlich konsequent aus dem Weg zu gehen, wird entgegen aller holistischen Vorstellungen über das terrestrische Leben und unsere Rolle darin so getan, als bewegten wir uns durch grundsätzlich voneinander unterscheidbare Sphären, deren Qualität durch die Methoden unseres Erkennens definiert ist. In einer radikal konstruktivistischen Perspektive bezüglich der Konstruktion von menschlichen Wirklichkeiten würde dieses Konzept sogar durchaus Sinn machen, nur wird es von religiösen und wissenschaftlichen Vertretern, die ständig betonen, Wissenschaft ließe sich nicht durch Religion und umgekehrt widerlegen oder bestätigen, nicht in dieser Perspektive gesehen. Hier herrscht die unspezifische, auf der abendländischen Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Psyche und Physis, Spiritualität und Empirie basierende Vorstellung, dass Religion und Wissenschaft einander solange nicht den Garaus machen können, solange ihre Geltungsbereiche, also die Bereiche innerhalb derer jeweils »gültige« Aussagen getroffen werden können, strikt voneinander abgegrenzt und – durchaus auch in einem epistemologi-
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schen Sinn – definiert sind. Diesseits und jenseits dieser pragmatischen gegenseitigen »Unantastbarkeit« regt sich freilich heftiger Widerstand, der die alten Diskussionen zwischen Wissenschaft und Religion wieder und wieder aufgreift und – zumeist nicht wirklich mit neuen Argumenten – austrägt. Den Kreationisten7 ist der Offenbarungsgott als Schöpfer und Weltenlenker ebenso erhalten geblieben wie den atheistischen Empiristen das mittlerweile auch in die Jahre gekommene Argument, wissenschaftliche Erkenntnis widerlege per se die Annahme der Existenz Gottes und damit die Möglichkeit eines göttlichen Schöpfungsaktes.8 Trotz Kreationisten, »intelligent design« und wissenschaftlichem Atheismus folgt der »Mainstream« einer einfachen Strategie: Man will voneinander in Ruhe gelassen werden und hat ein berechtigtes Misstrauen davor, dass religiöse, spirituelle und wissenschaftliche Aussagen gegeneinander verrechnet und somit – jeweils einer bestimmten Ideologie folgend – funktionalisiert werden. Trotzdem treibt die Verwirrung um die Geltungsbereiche von Wissenschaft und Religion oder – weniger institutionell ausge-
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Insbesondere in den Vereinigten Staaten haben kreationistische Debatten in den letzten Jahren wieder vermehrt Aufmerksamkeit erregt. Dabei geht es nicht nur um eine grundsätzlich religiöse Standortbestimmung, sondern auch um eine Verteidigung »offenbarten Wissens«, das gegen die »Relativität« menschlicher Erkenntnis zu Felde zieht. Auch diese Strategie hilft, dem Druck der »Modernisierung« und »Säkularisierung« aller Lebensbereiche einiges, und sei es – aus wissenschaftlicher Perspektive – Skurriles, entgegenzuhalten. In stark abgeschwächter und – »offiziell« – theologisch begründeter Form hat sich die Kreationismusdebatte in jüngster Vergangenheit in der Diskussion um das »intelligent design« fortgesetzt. Rund um das Schlagwort »intelligent design« können sich Theologen mit insbesondere Naturwissenschaftlern wieder an einen Tisch setzen, um jene Grenzen erneut auszuloten, die Wissenschaft von Religion trennen.
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Vor allem auch durch die Arbeiten des britischen Zoologen und Evolutionsbiologen Richard Dawking und dem damit verbundenen – politischen? – atheistischen Aktionismus gerieten die Positionen des wissenschaftlichen Atheismus wiederum verstärkt in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. So startete Dawking etwa im Oktober 2008 die »Atheist Bus Campaign«, indem er auf den Werbeflächen der Londoner Busse folgendes Zitat anbringen ließ: »There’s Propably No God. Now Stopp worrying and enjoy your life.« Offizielle Webseite der „Atheist Bus Campaign“: http://www.atheistbus.org.uk/ [Abruf 02.02.2013].
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drückt – Spiritualität zuweilen seltsame Blüten. Das mag damit zusammenhängen, dass in einem holistischen Verständnis von Welt diese Geltungsbereiche tatsächlich ziemlich willkürlich gezogen werden. Eine biogenetische Interventionsstrategie hat angeblich nichts mit religiösen Fragen zu tun, die ethische Beurteilung dieser genetischen Manipulation, die Umsetzung also dieser Interventionsstrategie, aber angeblich schon. Die Prinzipien der biologischen Evolution und – neuerdings – der Epigenetik folgen wissenschaftlicher Erkenntnis, die Konsequenzen dieser Erkenntnis freilich, die Festlegung der Rolle des Menschen in der »organisch wachsenden« Welt, tangiert unmittelbar religiöse bzw. spirituelle Fragestellungen. Nicht nur die religiöse Interpretation wissenschaftlichen Wissens unter dem säkularen Begriff der »Ethik« verwischt die Grenzen zwischen Religion und Wissenschaft, sondern auch die wissenschaftliche Interpretation spirituellen Wissens: In jedem zweiten, sich derzeit auf dem Markt befindenden Esoterikbuch kann man nachlesen, dass die zeiträumlich nichtlinearen Phänomene der Quantenphysik oder etwa die »Teilchenverschränkung« angeblich ein Beleg dafür sind, dass der Mensch auch in einer »feinstofflichen« Dimension zu Hause ist, dass er telepathische Fähigkeiten besitze und überhaupt – wie dies die »Teilchenverschränkung« nahelegt – mit dem gesamten Universum verbunden ist und deshalb in intimer »kosmischer« Beziehung mit allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen und natürlich »Wesen« stünde. Damit sei die Subjekt-Objekt-Trennung, die uns die abendländische Wissenschaft fälschlicherweise oktroyiert habe, nicht nur »wissenschaftlich« entkräftet, sondern bedingungslos aufgehoben. Dieses Argument – das einer Vereinnahmung der Wissenschaft durch »Sinnsucher« gleichkommt – wird mit der gleichen Naivität vorgetragen, mit der Wissenschaftler-/innen zu beweisen suchen, dass »wirkliche wissenschaftliche Erkenntnis« – in dieser Perspektive Empirie – die Existenz metaphysischer Dinge, Wesen und auch magischer Bezugssysteme widerlegt. Dies wiederum kommt einer Vereinnahmung der Religion durch »atheistische oder antimetaphysische Empiristen« gleich. Beide Positionen projizieren ihr Wissen auf die individuelle Sehnsucht nach Sinnverortung in einer – zugegebenermaßen – recht unüberschaubar gewordenen Welt. Dem wissenschaftlichen Atheisten ist es ein Anliegen, mit religiöser Strenge die Nichtexistenz Gottes und metaphysischer Umwelten zu »beweisen«, dem spirituellen Sinnsucher ist es ein Anliegen, mit wissenschaftlichen Argu-
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menten den »Realitätsstatus« der eigenen metaphysischen Sehnsüchte zu »bestätigen«. So wird die »Teilchenverschränkung« zu einem – »wissenschaftlichen« – Beweis für die Legitimität des eigenen spirituellen Weltbildes, für die existenzielle Verbindung mit dem gesamten Universum. Natürlich sind wir mit dem Universum, in dem wir leben, existenziell verbunden – wäre dem nicht so, würden wir nicht leben und könnten uns auch nicht diese Gedanken machen –, aber diese Feststellung impliziert weder die Existenz Gottes noch die Existenz »metaphysischer« Umwelten. Und auch die viel zitierte »Teilchenverschränkung« sagt nicht mehr über die Welt aus, als dass das mechanistische physikalische Weltbild nicht umfassend, sondern bedingt die Welt als Modell erklärt hat, und dass wir möglicherweise – in Verbindung zwischen Quantenmechanik und Relativitätstheorie – zu Modellen gelangen, die die empirische Faktizität unserer Welt hinreichender – aber ebenfalls temporär begrenzt – erklären als die bislang in der Geschichte der Menschheit entwickelnden physikalischen Weltbilder.
ABSTRAKTION
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S CHÖPFUNGSMYTHOLOGIEN
Wir Menschen wollen den Zufall ausschließen und leben dennoch in zufälligen Welten. Ob wir den Tag, den wir optimistisch beginnen, letztlich auch einigermaßen gesund und zufrieden beschließen können, hängt von wesentlichen Dingen ab, die wir ganz und gar nicht beeinflussen können. Möglicherweise macht uns der Zufall einen Strich durch unsere Rechnung. Der Wunsch nach Sicherheit resultiert aus der uns ständig umgebenden existenziellen Unsicherheit. »Gesichertes« Wissen beruhigt und scheint uns die Verunsicherung und die Zufälligkeit unseres Daseins kurz vergessen zu lassen. In der Entdeckung »objektiver« Gesetze wird unsere Abhängigkeit von Zufälligkeiten auf eine Metaebene der Verlässlichkeit transzendiert – wir berufen uns dann gerne auf den »Lauf der Dinge«, der nicht veränderbar, aber vor dem Hintergrund unserer Erkenntnis zumindest einigermaßen verständlich wird. Aber wo sind die Grenzen, die Ränder dieses Verständnisses, dieses Wissens, das jenseits der Zufälligkeit und damit auch Unzuverlässigkeit unserer individuellen Existenz Gültigkeit und Zuverlässigkeit besitzen? Wie viel »unbekanntes Wissen« ist hinter unserem Wissen verborgen?
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Und könnte es sein, dass die Generierung unseres Wissens – und damit unser Wissen selbst – dem Prinzip des Zufalls folgt? Wenn das Universum unendlich ist, dann ist auch die im Universum enthaltene Information unendlich – dem Wissen sind keine immanenten Grenzen gesetzt. Wenn das Universum endlich ist, dann gehen uns all jene Informationen verloren, die das Universum in seiner Gesamtheit beschreiben könnten – unser Wissen wäre dann den gleichen zeiträumlichen Beschränkungen unterworfen wie die sichtbare Materie in den herkömmlichen physikalischen Theorien. Auch unser Wissen stöße auf bereits beschriebene oder aber auf unsichtbar bleibende Grenzen. Die Grenzen der zeiträumlichen Expansion hätten entweder den Kollaps, die Implosion zur Folge – die Richtung der Zeit würde sich umkehren – oder eine stete Verlangsamung, die schließlich in der radikalen Erkaltung und dem Stillstand des Universums endet. Die astronomische Zyklizität wäre an ihr Ende gelangt, eine Wiedergeburt der Sterne wäre gleichermaßen ausgeschlossen wie ein erneutes Entstehen von organischem Leben. Jetzt könnte mit Fug und Recht eingewendet werden, dass uns das alles ziemlich egal sein kann, weil unsere hier alles Leben ermöglichende Sonne ohnedies ihr Ablaufdatum hat – nämlich in etwa fünf Milliarden Jahren. Die Zukunft des Universums ist uns aber – trotz, oder vielleicht gerade aufgrund unserer zeiträumlichen Grenzen – keineswegs egal! Denn als Teil des Universums sind das Schicksal und die Zukunft des Universums auch Teil nicht nur unserer biophysiologisch-genetischen Existenz, sondern auch Teil unseres Denkens und damit unserer Wissenssuche. Womit wir einmal mehr zu jener Paradoxie zurückgekehrt sind, der wir oft begegnen, wenn wir uns mit grundsätzlichen Aspekten der menschlichen Existenz befassen: dass nämlich wir es sind, die jene Fragen stellen, die – aller Wahrscheinlichkeit nach – niemals beantwortet werden können. Diese Paradoxie stellt eine zentrale Abstraktion von der biophysiologischen, lebensweltlichen Grundlage menschlichen Lebens dar. Es geht dabei nämlich um weit mehr als um Lebenserhalt und genetische Reproduktion. Es geht um die Frage, was vor dem Hintergrund unser aller Leben erkannt oder eben niemals erkannt sein kann. In der christlichen Genesis wird diese Erkenntnissuche mit der Versuchung bebildert, das große und einzige Gottestabu zu brechen und vom Apfel – verführerisch dargeboten – zu naschen. Dem Erwachen aus der Simplizität eines geschlossenen Paradieses folgt die Vertreibung, die Entlassung in eine leidvolle Welt – voller Widersprüche,
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Nacktheit und Unsicherheit. Auch in den meisten ethnischen Gesellschaften lassen sich Vorstellungen von »Vorweltzuständen« finden, in denen es weder Bedrohung noch Tod gab. In diesen Schöpfungsmythologien beginnt das wirkliche Leben – auch nicht selten in einem Akt des Ungehorsams – mit dem Eintritt in jene Ordnung des Seins, an die die Menschen bis heute gebunden sind. Wie lässt sich der Sündenfall sühnen? Wie lassen sich die unerhörten Fragen, die sich die Menschen selbst zumuten, ungeschehen machen? Jahrtausendelang war die Reintegration des menschlichen Denkens in die zyklischen Kreisläufe einer magischen Welt ohne Zufall ein probates Mittel, mit der Gefährdung durch existenzielle Leere und der Paradoxie menschlichen Denkens umzugehen. Hominisation und Ich-Identifikation setzen das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, der eigenen Verletzbarkeit, des existenziellen Ausgesetztseins voraus. In dem Moment, in dem wir uns unserer bedingungslosen Endlichkeit bewusst werden, beginnen wir die uns umgebende Welt spirituell und metaphysisch zu befrieden. Wir lassen die Toten in uns und durch uns weiterleben, sprechen mit Geistern, erzeugen hilfreiche kultische Objekte, deren Eigensein uns helfen wird, mit der Paradoxie unseres Bewusstseins besser umzugehen, wir rufen schließlich Göttinnen und Götter an und konstruieren hoch komplexe Symbolsysteme, die uns die Sinnhaftigkeit unserer Welt aufgrund metaphysischer Annahmen bestätigen. Die religiöse und spirituelle Reintegration in geschlossene zyklische Vorstellungswelten ist eine Folge der Abstraktion des menschlichen Denkens von der endlos scheinenden Sicherheit geschlossener Paradiese, in denen es keine Fragen gegeben hat, die nicht beantwortet werden konnten.
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UND DAS
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Zeitwahrnehmung, Abstraktion und Säkularisierung sind jene ideengeschichtlich bedeutsamen und wissenssoziologisch notwendigen Ereignisse, die definitive Grenzen zwischen »neuzeitlich-rationalistischen« und »magischen« Wissenswelten charakterisieren. Gerade in der Befähigung, Fragen zu stellen, die niemals beantwortet werden können, liegt ein unerhörtes Potenzial von Wissensaneignung, denn diese Fragen ermöglichen ein weites Schweifen durch bislang ungekannte Wissenssphären, die – wenn schon nicht die Antworten auf »letzte« Fragen – so doch unüberschaubar gewor-
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dene Details vielfältigster Wissensbestände freigeben. Diese Details und deren Grad an Abstraktion sind heute – global gesehen – extrem ungleich verteilt. Auch hier, in der territorialen Zuordnung der Möglichkeit, neues Wissen zu erfahren, scheint der Zufall bestimmend zu sein. Trotz Cyberspace und World Wide Web determinieren der »Zufall der Geburt« und die jeweils kulturell erworbene Identität zu einem Gutteil die Zugänge zu – insbesondere stark abstrahierten und sich durch elaborierte Symbolsysteme artikulierenden – Wissenswelten. Die Mehrheit der Weltbevölkerung ist von diesen »modernen« Wissenszugängen ebenso ausgeschlossen wie von dem wesentlichen Diskurs, was unser »neuzeitlich-rationalistisches« Wissen in Zukunft gestalten soll. Ungeachtet der selbstbewusst und global dominant auftretenden säkularen Wissenskultur des »Westens« lebt die Mehrheit der Menschen nach wie vor in religiös, spirituell und auch magisch bedeutsamen Wissensbezügen, in denen viele Antworten auf jene Fragen gegeben werden, die im wissenschaftlichen Kontext nicht beantwortet werden können. Eine dieser Fragen, der eine zentrale Bedeutung zukommt, gerade weil sie die Menschheit seit Anbeginn beschäftigt, ist die Frage nach dem Verbleib verstorbener Menschen. Vertrieben aus den geschlossenen Paradiesen erfahren die Menschen ihre eigene Sterblichkeit. Zyklische Zeitwahrnehmung reintegriert die Toten in die Ordnung der Lebenden. Der Tod erscheint damit nicht als Abbruch, als Ende einer linearen Bewegung, die von dem Moment der Geburt bis zu jenem des Ablebens reicht, sondern als Durchgangsstadium zu einer neuen Seinsqualität oder aber auch – wie in den reinkarnativ gedachten Eschatologien – als zyklische Wiederholung irdischer Bewegung. Es gab und gibt keine vorindustrielle Gesellschaft auf unserem Planeten, die nicht gültige und sinnstiftende Erklärungen als Teil kollektiven kulturellen Wissens produziert hätte. In ethnischen Gesellschaften liegt das Reich der Toten in der Regel nahe dem Reich der Lebenden. Die Toten wohnen »jenseits des Flusses« oder in bestimmten Bergen oder auf Inseln oder gleich direkt unter den Lebenden. Man pflegt Kontakt zu ihnen, besänftigt sie, holt sich Rat, lädt sie zu kultischen Feiern ein, lässt sie in schwitzenden, atmenden, in Trance fallenden Körpern an der Gemeinschaft der Lebenden teilhaben. Diese Reintegration der Toten, die die Toten selbst zum Leben erweckt, stellt eine radikale Absage an die Vorstellung dar, dass das individuelle Leben mit dem Tod für immer beendet ist und sich in Nichts transformiert.
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Auch Jesus hat Tote erweckt, hat Krankheiten geheilt, war Schamane und Künder eines Weltendes, das im Urchristentum als bald bevorstehend gedacht wurde und das die zyklische Vereinigung der Lebenden mit den Toten in einer göttlich transformierten neuen Welt – in einem Himmel – bedeutete. Die Erfüllung der apokalyptischen Prophetie ist ausgeblieben und das eschatologische Heil – die Befreiung aus der Paradoxie des menschlichen Denkens – wurde seit Beginn der Neuzeit zusehends auf eine abstrakte Ebene projiziert. Heute weiß – auch in »christlichen Ländern« – niemand mehr so recht, wo denn der Himmel ist und ob es ihn überhaupt noch gibt. Auch die Existenz des Himmels hat sich dem Prinzip des Zufalls untergeordnet. Der Himmel, als utopischer Ort zyklischer Reintegration eines abstrahierten und zusehends säkularen Denkens, hat sich zeitgleich mit einer bestimmbaren, kalkulierbaren und demnach einigermaßen gelassen zu erwartenden Zukunft von der Weltbühne verabschiedet. Geblieben ist Verunsicherung und Raserei. Bleiben uns als atmende, denkende, lebende Wesen nur die paar Jahre zwischen Geburt und Tod, dann können wir der allgemein um sich greifenden »Erfüllungsversessenheit« wenig entgegenhalten. Was muss nicht alles in dieses kurze Leben verpackt sein, um uns die Angst vor dem Abbruch in das große Nichts hinein zu nehmen? Und selbst wenn das Leben als bloße Unterhaltung empfunden oder durchlitten wird, so scheint dies allemal besser zu sein, als sich der Paradoxie und der ihr folgenden Leere zu stellen. Der Himmel ist verschwunden und das Nichts macht uns als Zwillingsbruder des Zufalls schwer zu schaffen. Mit der unglaublichen Verlängerung der Lebenserwartung in den reichen Ländern hat sich eine Verkürzung der qualitativ empfundenen Lebenszeit eingestellt. Die Mehrheit der Menschen in den OECD-Ländern, die sich auf Erwerbsmärkten bewegen, leben mit dem Gefühl, »zu wenig Zeit zu haben«. Jene, die von den Arbeitsmärkten freigesetzt sind, leiden wiederum – neben oft materieller Not – an dem Gefühl, »unnütz« für die Fortschrittsgesellschaft geworden zu sein. Auf den Golfplätzen der reichen Welt finden sich fitte 80-Jährige, die trotz ihres Alters das Gefühl nicht loswerden, ihr Leben »versäumt« zu haben. Aufgrund der vielen, zueinander in Konkurrenz stehenden Erfüllungsoptionen und aufgrund des bald drohenden Abbruchs individueller Erfüllungsversessenheit in das große Nichts hinein wird das Leben als vertan und damit als sinnlos erlebt. Ungeachtet dieser Einsichten bedauern wir einen tansanischen Bauern, der mit 60 Jahren im Kreis seiner Familie stirbt und gar nicht
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auf die Idee käme, zu kurz gelebt zu haben. Er ist durch Kindheit, Jugend, Eltern- und Großelternschaft gegangen, er hat genug Zeit gehabt, sein Leben im Diesseits in dem Wissen zu beschließen, dass er ohnedies in die ihn tragende Gemeinschaft zurückkehren wird. In unserer Perspektive freilich ist er das Opfer der Armut und einer nicht rechtzeitig und effizient fortgeschrittenen Volkswirtschaft. Es ist ein Sonderbares um das Verständnis menschlichen Denkens: Da, wo sich religiöse, spirituelle und magische Wissenssysteme tendenziell auflösen, beginnt zwar die Freiheit – die Herrschaft im Namen metaphysischer Begründung scheint gebrochen –, aber auch die Knechtschaft, auf jene Begrenzung zurückgeworfen zu sein, aus der uns vor langer Zeit die Welt ohne Zufall befreien wollte: Die Knechtschaft der menschlichen Paradoxie, die uns Fragen stellen lässt, die wir nicht beantworten können, und die uns stets von neuem jenen Sinn vorenthält, nach dem wir uns offenbar noch immer sehnen!
Alltagslogiken der Popularmagie im Kulturvergleich A NDREAS H ARTMANN
Angelegentlich meiner diesjährigen Gastdozentur an der RamkhamhaengUniversität in Bangkok sprach ich in einer der Vorlesungen über Funktion und Arbeitsweise von Gedächtnis und Erinnerung. Wie ich es gelernt und hierzulande unzählige Male schon vermittelt hatte, bezeichnete ich Gedächtnisse – physische wie künstliche, individuelle wie kollektive – als nach internen Regeln organisierte Speichersysteme, die es erlauben, Vergangenheit rekonstruktiv zu repräsentieren. Dieses Wieder-Gegenwärtig-Machen nenne man je nachdem individuelle, kollektive oder kulturelle Erinnerung. Meine thailändischen Studenten erhoben unisono einen Einwand, auf den ich nicht gefasst war und der mich geradezu verwirrte. Wie käme ich zu der Behauptung, die Erinnerung beschränke sich ausschließlich auf die Vergangenheit, es sei doch evident, dass wir uns genauso an die Zukunft erinnern können, dass das Gedächtnis nicht minder prospektiv als retrospektiv arbeite. So greife zum Beispiel der Träumende in die Archivbestände seines Gedächtnisses hinein, um Erinnerungen an die Zukunft zu generieren. Diese seien ebenso real und gesichert wie unsere Erinnerungen an Vergangenes. Was gewesen ist und was gewesen sein wird, unterscheide sich nicht substanziell, deshalb mute die Behauptung willkürlich an und widerspreche im Übrigen der Erfahrung, das Gedächtnis habe nicht auf beides gleichermaßen Zugriff. Es ist unmittelbar klar: Ein solches Verständnis von Gedächtniszeit ist mit dem uns vertrauten Konzept von Erfahrungswirklichkeit nicht deckungsgleich.
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Ich stelle dieses irritierende Beispiel aus zwei Gründen an den Anfang meiner Ausführungen. Erstens ist es unserer eigenen Alltagslogik zutiefst fremd und spannt insofern eine robuste Kontrastfolie auf, und zweitens bezieht sich diese Fremdheit auf den empirischen Gehalt und die Bewertung des temporalen Wissens (Was ist gewesen? Was wird sein?) und damit auf einen Kernbereich des sogenannten Aberglaubens. Im Hinblick auf die kulturvergleichende Perspektive dieser Präsentation habe ich mich in Bangkok ein wenig umgesehen und umgehört und bin außerdem meine Beobachtungen während langjähriger Feldforschungen im laotisch besiedelten Nordosten Thailands nochmals durchgegangen. Für die hiesigen Verhältnisse stütze ich mich hauptsächlich auf ein Projektseminar über das Thema »Zufall, Schicksal, Glück. Kausalität im Alltag«, das ich mit Studierenden an der Uni Münster im Wintersemester 2008 durchgeführt habe. Angeregt wurde ich dazu übrigens durch eine im Jahre 1928 von Hamburger Psychologen aufgelegte Forschungsumfrage über Individualmagie im Alltagsleben. Wie damals Martha Muchow und Heinz Werner fragte auch eine unserer kleinen Arbeitsgruppen nach – irrationalen – persönlichen Bräuchen, nach symbolisierenden Umweltdeutungen und protorituellen Handlungen, nach der Verwendung von Objekten aller Art usw., von denen sich die Befragten Sicherheit, Schadenabwehr, Glück, gutes Gelingen, Entscheidungshilfen, Einblick in zukünftiges Geschehen und manipulative Einflussnahme darauf versprechen. Die Umfrage verlief schwerfälliger und in den Ergebnissen blasser als erwartet. Solche privaten Praktiken prälogisch-symbolisierender Natur sind unserer Einschätzung nach einerseits meist ganz und gar in die unbewussten Alltagsroutinen eingebaut und figurieren eher als lässliche und weitgehend bedeutungslose Marotten. Sie zu Rudimenten oder gar zu lebendigen Belegen abergläubischen Denkens und Verhaltens zu stilisieren und als solche abzurufen, erschien vielen Befragten nicht angemessen, zu marginal seien solche Überreste infantiler Analogiespiele für die Strukturierung und Problembewältigung des Alltags. Andererseits können sie natürlich auch den Charakter von Zwangsneurosen annehmen, was sie der Außenwahrnehmung nach eher dem Feld der Psychopathologie als der superstitiösen Realitätsbearbeitung zugehören lässt. Zwischen diesen beiden Polen der automatisierten Routine und der mehr oder weniger offenkundigen Devianz liegen die Maskottchen, privatrituellen Handlungen und Schicksalsmanipulationen, von denen die Befragten – oft mit einer gewissen Selbstironie – berichteten. Wenig verwunderlich ist
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dabei der Befund, dass sie in Momenten der Lebensanspannung, bei Schicksalsentscheidungen, in Liebesdingen, bei Krankheit, Bewerbungen, Prüfungen und der Kalkulierbarkeit entzogenen Situationen des Hoffens und Bangens sichtbarer hervortreten. Ein Student befasste sich beispielsweise mit den Glück versprechenden Beschwörungshandlungen beim Würfelspiel, eine Studentin unter dem schönen Titel »Magiedoping« mit privatem Aberglauben im Sport. Unabhängig vom Grad der Konventionalisierung abergläubischer Handlungen und Objekte im Alltag und selbst auch unabhängig vom Grad der Ernsthaftigkeit ihrer Beherzigung ist – übrigens bis hinein in esoterische Kreise – eine Art von Bifurkation oder Aufspaltung festzustellen, die erst im kulturellen Kontrastvergleich deutlicher zu erkennen ist. Es geht dabei nur sekundär um jene Gabelung, die in dem regelmäßig zu beobachtenden Paradoxon liegt, dass man der sichernden, schützenden, divinatorischen oder manipulativen Kraft solcher Handlungen und Objekte bisweilen voraussetzungsloses Vertrauen zu schenken bereit ist und sie zugleich, besonders im Versagensfalle, als Verursachungs- und Wirkungsprinzipien gewissermaßen nicht ganz für voll nimmt. Mit anderen Worten, dass die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit ihres Wirkungsfeldes individuell und situationsgebunden verhandelbar bzw. interpretierbar sind, was sie beispielsweise von den als unaufkündbar empfundenen Gültigkeitsvorstellungen bezüglich physikalischer Kausalitätszusammenhänge im Alltagsleben deutlich unterscheidet. Die Gesetze der Schwerkraft gelten dort anerkanntermaßen immer, die der symbolischen oder übernatürlichen Schicksalsverknüpfung nur nach Gusto. Nach Gusto, dies bedeutet Spielraum, das bedeutet Freiraum, umzuschalten, und in der Tat, unseren Erkundungen nach haftet Superstitiösem in unserer Gegenwart oft etwas frei gewählt Spielerisches, mal experimentell, mal bierernst Spielerisches an. Primär bezieht sich die genannte Aufspaltung abergläubischer Handlungen und Objekte auf ihren Wirklichkeitsbezug selbst. Denn während sie dazu dienen, in der Alltagswirklichkeit zu wirken, und obwohl sie in ihrer Stofflichkeit sozusagen von dieser Welt sind, gehören sie in Bezug auf ihre Wirkungsweise nicht genuin zu den anerkannten Ordnungsprinzipien der alltäglichen Lebenswelt. Insofern stehen sie außerhalb, und insofern beziehen sie ihre Kraft auch von außerhalb und greifen sie von außen in den Alltag ein. Dies verleiht ihnen oftmals den Nimbus des Geheimnisvollen, Seherischen, Wunderwirkenden und Transzendenten. Weil Aberglaube zwar in
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den Alltag hineinwirkt, seine logischen Prämissen jedoch keine legitime Basis des Alltagshandelns bilden, repräsentiert er in scheinbar inkommensurabler Opposition zu Rationalität und Naturgesetzlichkeit die Sphären des Irrationalen und Übernatürlichen. Diese Sphären sind sein Machtbereich, und die Präsenz dieses Machtbereichs in einer in ihren Grundfesten als rational gedachten und von physikalischen Naturgesetzen durchwalteten Welt enthält ein Versprechen, ein übrigens nicht selten Trost und Sicherheit spendendes Versprechen: das Versprechen nämlich, dass diesseits der sakralen auch in der profanen Welt physikalisch nicht hinreichend erklärbare Kausalzusammenhänge existieren, die kraft ihrer quasi tieferen Sinnhaftigkeit die offiziöse Vernunftlogik des Alltags zu unterlaufen oder in die Schranken zu weisen oder zumindest zu relativieren vermögen. Damit erzeugen sie Widersinn und fordern – unaufgeklärt, wie immer sie erscheinen mögen – ein Mitsprache- und Vetorecht in vielerlei Lebenslagen: Sie vermitteln Orientierung, Wissen, Kraft, zeigen Alternativen auf, greifen korrigierend oder affirmierend ein. Diese Funktionen sind selbstverständlich auch in meinem thailändischen Vergleichsmilieu zu gewärtigen. Kartenlegen und Handlesen, Horoskop und Traumdeutung, die Verwendung von Glücksbringern, apotropäischen Zeichen und Objekten, Farb-, Namens- und Zahlenaberglaube, Liebesorakel und Liebeszauber und ganz besonders Geisterglaube sind offenkundige und allgegenwärtige Begleitphänomene des thailändischen – übrigens städtischen wie ländlichen und auch schichtenübergreifenden – Alltags. Meinen Erkundungen nach stellen Aberglaubenspraktiken dieser Art ebenso wie hierzulande ergänzende und zur Alltagsempirie nicht durchweg widerspruchsfreie Maßnahmen der Realitätsbearbeitung dar. Zugleich jedoch zeitigen sie einen deutlich stärker ausgeprägten realitätsfundierenden Charakter. Schon ihre unübersehbare, selbstverständliche und kollektiv akzeptierte Präsenz spricht dafür. Erweist sich die These vom realitätsfundierenden Charakter des Aberglaubens als stichhaltig, so ist dies von beträchtlicher Tragweite und bezeichnet zugleich den Kern der kulturellen Differenzen. Terminologisch ist diese These übrigens nicht ganz sauber, meint das Wort Aberglaube bekanntermaßen doch im Sinne einer Kampfformel immer auch falschen Glauben bzw. falsches Weltverständnis und vermag insofern Realität weder zu begründen noch zu durchschauen. In kulturübergreifender Perspektive gilt zwar, dass Glaube und Aberglaube, Logik und Aberlogik jeweils distinkten, miteinander sogar unver-
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einbaren Systemen angehören und deshalb nicht ohne weiteres wechselseitig konvertierbar sind. Aber meiner These nach stehen sich im eigenkulturellen Fall diese beiden Systeme oppositionell und einander ausschließend gegenüber, im fremdkulturellen Fall gehören sie in der Art zweier ungleicher Geschwister ein und derselben Wirklichkeit an. Mit anderen Worten, im einen Fall ist das Konzept des Systems Aberglauben kulturell exogener, im anderen kulturell endogener Natur. Aberglaube, auch Aberglaube in seinem privaten Hausgebrauch, bewohnt zwar unseren Alltag, genießt jedoch als das epistemisch Andere, Fremde, nicht den offiziellen Status der Integrierbarkeit. Er lässt sich unserem Verständnis von Rationalität nicht anverwandeln, ist damit nicht homogenisierbar. Seine Andersartigkeit gilt als unüberwindbar, entwicklungspsychologisch gesprochen als infantil-präoperativ, und genau dieser Umstand ist es, der ihm die Legitimität in der erwachsenen Welt abspricht. Vielleicht übrigens sind auch die diversen Bemühungen – ich denke etwa an das Beispiel Homöopathie –, dem System Aberglauben verhaftete Praktiken wissenschaftlich zu fundieren, sie vermittels einer Technologie der Entalterisierung zu legitimieren und ihnen Dignität zu verleihen, demselben Umstand zu verdanken. Auf Abergläubischem lastet, um es salonfähig zu machen, in der thailändischen Gesellschaft ein solcher latenter Druck zur Entalterisierung und Deinfantilisierung ganz offenkundig nicht. Seine Andersartigkeit mag ebenfalls als unüberschreitbar gelten und mit dem offiziell dominierenden thailändischen Verständnis von Rationalität nicht kompatibel und homogenisierbar sein, dies aber stellt allem Anschein nach kein Problem und auch kein grundsätzliches Ausschlusskriterium dar. Homogenität der kausallogischen Begründung von alltäglichen Handlungsprinzipien ist demnach dort nicht oder nicht im gleichen Maße notwendiges Erfordernis für vernünftiges oder angemessenes Verhalten. Epistemische Alterität bzw. unüberschreitbare Heterogenität sind als kognitiv systemimmanent konzeptualisiert und anerkannt. Deren Alltagsintegration ist gerade dadurch gewährleistet, dass ihnen der Status der Andersartigkeit, der Fremdheit, belassen bleibt. Nur am Rande sei bemerkt, dass nach dem gleichen Modell auch die Fremden, die Farang (das ist der Sammelbegriff für den weißen europäischen Menschentyp, ursprünglich Franken), als Fremde, das heißt weil sie (und nicht etwa obwohl sie) Alterität verkörpern, innerhalb der thailändischen Gesellschaft einen legitimen, ja sogar hochwillkommenen Platz einnehmen können. Nicht Ho-
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mogenität, sondern eher schon Komplementarität ist hier das Vervollständigungsprinzip. Diese hier nur angedeutete Überlegung bezüglich einer Strukturäquivalenz zwischen der soziokulturellen Positionierung von Aberglauben einerseits und von kultureller, ethnischer, physiognomischer Fremdheit andererseits erlaubt zumindest die Frage, ob zwischen diesen beiden Feldern nicht auch in unserer eigenen Gesellschaft eine Strukturäquivalenz besteht. In Thailand ist es zum Beispiel ganz üblich, die Lottozahlen der kommenden Ziehung zu träumen oder einen heiligen Baum aufzusuchen, dessen Rindenstruktur die Lektüre der Gewinnzahlen erlaubt. Geht der Spieler leer aus, wird er dennoch keinen Zweifel an der divinatorischen Macht von Träumen oder heiligen, von Geistern bewohnten Bäumen hegen – ebenso wenig, wie fehlgeschlagene Sintflutprognosen im 16. Jahrhundert grundsätzliche Zweifel an der Autorität astronomisch-astrologischer Prognostik aufkommen ließen oder wie wir heutzutage die operativen Grundlagen ökonomischer oder meteorologischer Vorhersagen in Frage stellen, wenn die Wirtschaftsweisen oder die Meteorologen mit ihren Prognosen falsch liegen. Warum ist das so? Nun, ein solcher Zweifel würde jeweils an den Bauplänen und Wirkungsprinzipien der Welt selbst rütteln, er wäre im eigentlichen Wortsinne verrückt. Dies besagt aber nichts anderes, als dass sich die offensichtlichen historischen und kulturellen Unterschiede zwischen den für gültig gehaltenen Erkenntnisprämissen den Differenzen verdanken, die zwischen modernen, vormodernen und außereuropäischen kosmologischen Systemen bestehen. Eine solche Diagnose ist eigentlich selbstevident, wir müssen sie uns dennoch bewusst vor Augen halten, um uns fragen zu können, ob die im deutsch-thailändischen Vergleich feststellbare Kluft zwischen der exogenen, realitätsfernen, und der endogenen, realitätsfundierenden Stellung abergläubischen Denkens und Handelns nicht nur gradueller, sondern elementar kosmologischer Natur ist. Und in diesem Kontext möchte ich nochmals an mein anfängliches Beispiel anknüpfen. Meine thailändischen Studenten teilten selbstverständlich die Auffassung, dass Erinnerung und Gedächtnis sich auf die Vergangenheit beziehen. Aber in dem Einwand, Erinnerungen könnten ebenso auf die Zukunft bezogen sein, deutet sich an, dass hier möglicherweise zwei Modi der Konzeptualisierung von Zeit und damit auch zwei Modelle der Generierung von Vorhersagewissen koexistieren. Ich blende nun hinüber nach Isan, den mehrheitlich von ethnischen Laoten besiedel-
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ten Nordosten Thailands, in die dörfliche Umgebung von Kantharalak an der Grenze zu Kambodscha, in unmittelbarer Nähe zu den Tempelruinen von Phra Wiharn gelegen, um die es in der letzten Zeit militärische Auseinandersetzungen gab. Schon in der Provinzstadt von der Vorstellung finsteren Aberglaubens umnebelt und in Bangkok nur in der abschätzigen Wortbedeutung der bösen zauberischen Hexe bekannt, gilt Mae Mot auf diesen Dörfern als kosmogonische Demiurgin, mythische Kulturschöpferin, schamanische Heilerin, helfende, aber auch strafende Göttin. Im Verlaufe von weiblich dominierten Besessenheitsritualen, die der Reproduktion und Regeneration sozialer Beziehungen und sozialen Ordnungswissens dienen und oft im Kontext von Krankheit und Heilung stehen, besetzt Mae Mot den Körper einer ausgewählten Frau. Die anderen Ritualteilnehmerinnen fallen ebenfalls in Trance, während die Ahnengeister von ihnen Besitz ergreifen. Im Zustand dieser Besessenheit tanzen die Frauen auf dem Zeremonialplatz von Sonnenuntergang bis in die Morgenstunden. Im Laufe dieser Nacht erleben und reaktualisieren die Tanzenden verschiedene Urszenen der Menschwerdung und der sozialen Kosmisierung. Sie kehren realsinnlich an die Anfänge der Menschheit zurück, durchqueren die endlose Generationenkette vergangener Leben, erneuern ihr Dasein, indem sie in die Tiefen der Vergangenheit zurückkehren, während zugleich die Geister der Vorfahren und die demiurgischen Ahnen in der Gegenwart gegenwärtig sind. Für die Dauer des Rituals bewegen sich die Frauen in einer kosmologischen und nicht in einer historischen Zeit. In dieser kosmologischen Zeit existiert zwar Vergangenheit, die Schöpfungszeit als ideale und seither von Degeneration bedrohte und deshalb immer wieder zu memorierende Ordnung, aber zugleich fallen darin Gegenwart und Vergangenheit zusammen, sie existieren gleichzeitig. Zum Zeitpunkt des Eintritts der Ahnen in die weiblichen Körper legen die Frauen seidene Tücher an, deren Muster nach einer komplizierten IkatTechnik eingewebt wurden. Diese Tücher sind die Kleidung der Ahnen, ja mehr noch, in ihnen sind die Ahnen selbst präsent. Solche Tücher dienen zugleich als Hochzeitsgabe, die von der Brautmutter an die Braut und mit dieser als Gabe an die Familie des Bräutigams wandert – sie sind zutiefst sozialreproduktive Textilien. Doch nicht nur das: Denn ebenso wie die Tochter und später deren Töchter und Töchterstöchter die Reproduktion des Lebens durch die Generationenreihe hindurch garantieren, stellt auch die Seide, die den Weg der Töchter geht, eine lebendige Verbindung der Generationen
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durch die Zeiten hindurch sicher. Die Zucht der Seidenraupen – der Kinderaufzucht in sprachliche Analogie gesetzt –, die Gewinnung der Seide, das Abbinden, Färbern und das Weben sind ihrerseits in Kategorien der Fertilität, der Reproduktion und des Lebens konzeptualisiert. Diesem Konzept folgend gelten die Stoffe – jedenfalls in ihrem sozialkosmologischen und rituellen Einsatz – nicht als bloß materielle Objekte, sondern als Objekte, denen wie auch den Seidenraupen und wie auch den Menschen Leben, spirit – laotisch khuan – innewohnt. Folglich kann Seide, zum Beispiel bei Nichtbeachtung bestimmter Vorschriften oder bei bevorstehendem Tod, auch »sterben«. Folglich muss man Vorkehrungen treffen, die ein Entweichen der khuan aus der Seide verhindern. Die Kramerތschen Ausdrücke »Dingbedeutsamkeit« und »Dingbeseelung« greifen hier zu kurz, treffender wäre es, von »Dinglebendigkeit« zu sprechen. Die Frau webt sich selbst in die Seide ein, sie ist darin im Sinne einer vitalen Realpräsenz zugegen. Und sie wird mit ihrem Leben und ihrem Wissen auch in der Seide ihrer Töchter, Enkel und Urenkel bis in alle Zukunft zugegen sein. Wenn sie schon längst die Welt der Ahnen bewohnen wird, wird sie vermittels der lebendigen Seide mit den Töchterstöchtern aller Generationen unmittelbare, lebendige Zwiesprache halten. Genauso wie sie jetzt selbst mit ihren eigenen Ahnen bis hinauf zu den ersten Abstammungsmüttern lebendige Zwiesprache zu halten vermag. Ich habe Ihnen dieses Beispiel etwas ausführlicher erörtert, weil es anschaulich darüber Aufschluss gibt, dass im Modus der kosmologischen Ritual-Zeit oder der beschriebenen Seiden-Zeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zwar in ein genealogisches Deszendenzverhältnis zueinander gesetzt sind, ihre Unumkehrbarkeit nun aber durch Rekurrenz aufgehoben ist. Dadurch wird Zukunft qua Erinnerung einsehbar und erfahrbar. Auch die Objekte, in die das Wissen um Herkunft und um Zukunft gleichermaßen eingeschrieben ist, treten dabei in einen zweiten Existenz-Modus. Auf dem Warenmarkt etwa zirkuliert die Seide als ökonomisch bewertetes materielles Tauschgut, im Kontext der sozialen Reproduktion zirkuliert sie hingegen als vitalistisch bewertetes Medium der Regeneration des Lebens und des sozialen Wissens über alle Zeiten hinweg. Nur am Rande sei bemerkt, dass ich hinsichtlich einer angemessenen Musealisierbarkeit solcher Objekte deshalb eher skeptisch bin, weil es anhand der Anschauung toter Materie schwierig sein dürfte, aufzuweisen, was Leben bedeutet.
Die Heil bringende Mazza Jüdische und christliche Vorstellungen von der Wirkung des ungesäuerten Brotes A NNETTE W EBER
V ORBEMERKUNG Der Beitrag entstand aus der Beschäftigung mit den Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen im Mittelalter und diskutiert Fragen zum Kulturtransfer von Magie am Beispiel von Hostie und Mazza, dem ungesäuerten Pessach-Brot der Juden. Dabei geht es weder um die Definition von Aberglauben aus jüdischer Sicht noch um einen empirisch-anthropologisch orientierten Entwicklungsdiskurs, sondern um Fragen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte magischer Praktiken im interkulturellen Austausch. Wie sehr kulturhistorisch-hermeneutische und ethnologisch-anthropologische Perspektiven differieren können, kam in der Schlussdiskussion der Tagung »Superstition – Dingwelten des Irrationalen« zum Ausdruck, als traditionelle Geburts- und Wöchnerinnenamulette mit modernen Talismanen, zum Beispiel gegen Prüfungsstress, als anthropologisch vergleichbar diskutiert wurden, während sie hermeneutisch ihrer Genese und Bedeutung nach unterschiedlich gewichtet werden müssen. Kulturgeschichtlich kann man Amulette und magische Praktiken als Glaubensderivate betrachten, die angesichts mangelnden Wissens zu Manipulationszwecken von Natur und Mensch eingesetzt werden. In diesem Sinne bedeuteten Wöchnerinnen- und Geburtsamulette, gleich ob jüdisch, christlich oder muslimisch, jahrhundertelang die Ultima Ratio gegen den Tod, von dem jede Gebärende und Wöch-
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nerin aufgrund unzureichender medizinischer Versorgung und wissenschaftlicher Unkenntnis bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ganz konkret bedroht war. Hingegen stellt ein moderner Talisman, zum Beispiel gegen Prüfungsstress, lediglich ein Placebo persönlicher Befindlichkeit dar, da jeder weiß, dass nicht der Talisman, sondern die Beherrschung des Prüfungsstoffes Voraussetzung für den Erfolg ist. Beide Male begründet Angst die Verwendung von Schutzamuletten, aber die Angst vor dem Tod resultierte im ersten Fall aus grundsätzlichem Kenntnis- und Verständnismangel und führte deshalb zu Amulettformen, die allgemein erkennbar und anerkannt sein mussten. Im zweiten Fall entsteht Angst aus persönlicher Unsicherheit und kann dementsprechend auch zu individuellen und damit unverbindlichen Formen des Amuletts führen.
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Im Folgenden soll diskutiert werden, auf welchem Wege die Mazza, die Juden acht Tage lang während des Pessachfestes in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gemäß biblischem Gebot essen (vgl. Exodus 12:18), zu einem jahrhundertelang eingesetzten Feuerabwehrzauber werden konnte und welche magischen Vorstellungen jüdischer- wie christlicherseits zu einer solchen »Zweitverwendung« beitrugen. Nach dem Handbuch des deutschen Aberglaubens gab es noch im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert die weit verbreitete Ansicht, dass eine sogenannte »Judenmatz« ein christliches Haus vor Blitzschlag und Feuer schütze könne.1 Belegt sind derartige Vorstellungen aus dem ganzen deutschen Sprachraum, sie verdichten sich aber in solchen Gegenden, wie etwa im schwäbischen Hettingen und in Neumarkt in der Oberpfalz, aber auch sonst in Franken und Hessen, in der Pfalz und im Elsass, wo es zahlreiche Landjudengemeinden gab und Mazzen zu haben waren, zumal wenn sie an Pessach an die christliche Dorfbevölkerung unmittelbar nach dem Backen wie in Altenkunststadt als Ge-
1
Vgl. Artikel zu Brot. In: Handbuch des deutschen Aberglaubens (im Folgenden HDA), hg. von Hanns Bächtold-Stäubli u.a., Bd. I. Neuauflage Berlin 1987, col. 1621-1622.; Artikel zu Feuersbrunst. In: HDA, Bd. II, col. 1423-1434 (dort jeweils zitierte Sekundärliteratur mit teilweise fehlerhaften Angaben).
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schenk ausgeteilt wurden.2 Im Elsass ist der Brauch seit dem Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert belegt, und die dortigen Bauern brachten ein Stück der sogenannten Judenmatz über der Tür des Hauptwohnraumes an, um das Haus vor Feuer zu schützen.3 Zustand und Form der Matzen variieren in den Berichten, mal wird behauptet, dass sie mit Christenblut gebacken seien, mal würden sie beschriftet, mal handele es sich überhaupt um normales Brot, in das ein Zauber eingebacken worden sei, zum Beispiel in Form eines auf Papier gezeichneten Davidsterns.4 Die nachfolgenden Berichte verdeutlichen, dass es in der Regel Christen waren, die von Juden derartigen Abwehrzauber verlangten, und dass es dabei auf die Beschaffenheit des Brotes und den ursprünglichen Verwendungszweck genauso ankam wie auf die den Juden generell unterstellte Fähigkeit zur Magie bzw. auf die angeblich besondere Wirkmächtigkeit ungesäuerten Brotes. Bei Letzterem ist aber zu fragen, ob es sich nicht um einen Transfer von ursprünglich christlichen Vorstellungen handelt, denn auch
2
Heinrich Loewe: Jüdischer Feuersegen. Ein Beitrag zum jüdischen und deutschen Aberglauben, Jahresgabe der Soncino-Gesellschaft. Berlin 1930, S. 1-16; Horst Heldmann: Jüdische Feuerbeschwörungspraktiken. Ein Beitrag zur fränkischen Volkskunde. In: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 8 (1961), S. 2-25.
3
Freddy Raphael: Rites de naissance et medécine populaire dans le judaisme rural. In: Ethnologie Française 1/3-4 (1971), S. 83-94, hier S. 92. Zu Altenkunststadt vgl. Joseph Motschmann: Es geht Schabbes ei. Vom Leben der Juden in einem fränkischen Dorf, hg. vom SPD-Kreisverband Lichtenfels. Lichtenfels 1988; Klaus Guth u.a. (Hg.): Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800-1942). Ein historisch-topographisches Handbuch. Bamberg 1988 (zu Altenkunstadt S. 62-77).
4
Vgl. die Aufzählungen in HDA, Bd. I und II, sowie bei Loewe und Heldmann (wie Anm. 2). Zum Feueramulett aus Papier vgl. Loewe a.a.O., S. 12. Danach wurde noch 1928 im hessischen Sarnau im Kreis Marburg-Biedenkopf in einem Heustadel unterm Dach ein derartiges, offenbar von einem Juden für seinen christlichen Nachbarn verfertigtes Feueramulett gefunden. Es handelte sich um einen vierfach gefalteten Zettel, der einen mit Besitzernamen und Segensspruch hebräisch beschrifteten Davidstern trug.
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christlich geweihtes Brot, insbesondere die Hostie, konnte als Feuerabwehrzauber dienen.5 Jüdischem Abwehrzauber wurde jedoch eine besonders starke Wirkungsmacht zugeschrieben, und so listet Bartholomäus Anhorn von Hartwiss in seinem 1674 in Basel erschienenen Buch Magiologica mehrere »erfolgreiche« Praktiken auf: »Juden besprechen Brot: dass sie so das geheime Zeichen Magen David auf den Boden eines Brotes schreiben, oder welches kräftiger sein soll, auf einen Zedul geschrieben in das Brot backen. Dasselbige nachher auf behalten und in einer aufgehenden Feuersbrunst, dasselbige wider umb zu löschen, mit einem besonderen Segensspruch ins Feuer werffen; wie dergleichen von dem himelischen Donner und Stralfewr angezündte Brunst vor ungefehr dreizehn Jahren an einem Fürstlichen Hof von einem Juden auf herrschafftlichen Befelch mit einem solchen eingeworffenen Brot wiederumb gelöschet worden. Und diesen letzten zauberischen Aberglauben haben die Türken mit den Juden gemein.«6
Eine bergische Sage berichtet, dass man Juden holte, um eine Feuersbrunst zu löschen, weil man ihnen, ähnlich wie den Zigeunern, magische Fähigkeiten zur Feuerbannung unterstellte.7 Ähnliches ist aus Nürnberg überliefert, wo ein extra aus Fürth herbeigerufener Jude die 1615 die Stadt bedrohende Feuerbrunst gelöscht haben soll, indem er ein mit einem Davidstern bezeichnetes Brot und ein Ei ins Feuer warf.8 Den ausführlichsten Bericht über derartige Amulette gegen Feuersbrunst liefert der Frankfurter Gymnasialdirektor Johann Jakob Schudt, den er nach dem Brand der Judengasse von 1711 verfasste. Damals allerdings vermochten die Juden den Brand mit keinem Zauber zu löschen, sodass die in Schutt und Asche gelegte Judengasse danach neu aufgebaut werden musste.
5
HDA, Bd. I, col. 1622.
6
Bartholomäus Anhorn von Hartwiss: Magiologica. Basel 1674, 2. Theil, Kap. 8, § 2, S. 786-796.
7
HDA, Bd. I, col. 1622.
8
Friedrich Bock: Zur Volkskunde der Reichstadt Nürnberg. Würzburg 1959, S. 76 zum Datum 1615.
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»Es ist auch bekannt und unleugbar, daß die Juden auf Brod oder andere Dinge Characteres machen, solche ins Feuer werfen und selbiges damit löschen wollen. Auch offt würcklich damit gelöschet, wie dann H r Pfarrherr Waldschmidt seel. In seinen Hexen-predigten Conc. 2.p.29 bezeugt, daß sie hier zu Franckfurt anno 1645 an eines Beckern-Hauß nicht fern von dem Bockenheimer Thor solches geleistet und ich mich noch wohl erinnere, daß bey dem großen Brandt hinter der schlimmen Mauer anno 1678 den 29. October die Juden an die Thüren einiger Häuser mit Kreiden hebr. Characteres geschrieben, welche Häuser auch conservieret worden, und anno 1704 Nachts zwischen dem 25. und 26. April ist von ihnen bey Abrennung eines Brauhauses ein anstossendes Gebäude errettet worden, indem ein Jud nahe bey dem Feuer auff ein Laiter gestiegen, den Mogen David auf ein Brod geschrieben, ins Feuer geworffen und nachmals dreymal um das Feuer gegangen.«9
Darüber hinaus beruft sich Schudt auf eine weitere, angeblich jüdische Quelle: Herz Wülfer seel. in Animadversion ad R Salom Zvi Theriac Jud., S. 74, und berichtet: »[E]s habe ein Jude ein Brod geschickt, so am OsterAbend gekneten und gebacken gewesen, welches er für ein gewisses Mittel wider das Feuer ausgegeben.« Statt Brot würde gelegentlich aber auch ein Ei zum Beschriften verwendet.10 Schudt stellt einige derartige jüdische Feueramulette auch in Abbildung vor (Abb. 1-3).11 Zunächst gibt er die bei Herz Wülfer beschriebene Mazza (Abb. 1) in hostienähnlicher Form, beschriftet mit den hebräischen Akronymen ʠʬʢʠ ʤʺʠ ʤʡʬʠ, wieder. Dabei steht das Akronym ʠʬʢʠ (Agla) als Abkürzung für ʩʰʣʠ ʭʬʥʲʬ ʸʥʡʢ ʤʺʠ (Du bist mächtig in Ewigkeit, HERR) aus dem Achtzehnbittengebet, während die beiden nachfolgenden Worte ʤʺʠ ʤʡʬʠ, Gottes Kommen in direkter Ansprache der zweiten Person Singular ankündigen. In einer weiteren Nachzeichnung (Abb. 2) folgt er einer Beschreibung des Davidsschildes in Wilhelm Schickhards Tarich und zeigt einen Davidsstern, in dessen Mitte wiederum das hebräische ʠʬʢʠ steht, während die Zacken das Tetragramm tragen. Die Umschrift besteht aus einem Bibelzitat aus
9
Johann Jakob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten. Frankfurt 1714-1718, Theil II, Frankfurt 1718: Grosser Juden-Brande zu Franckfurt, S. 73-78, hier S. 75.
10 Ebd., S. 76f. 11 Ebd., § 5 und § 6, S. 75-78.
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4. Moses 11:2: »Da schrie das Volk zu Mose, und Mose bat den HERRN; da verschwand das Feuer.« Abbildung 1: Johann Jakob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, Theil II, S. 76, Nachzeichnung eines Feueramuletts aus einer beschrifteten Mazza aus: Wilhelm Schickhard, Tarich seu Serie Regum Persiae, Tübingen 1628
Foto: Sebastian Brenneis.
Abbildung 2: Johann Jakob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten; Theil II, S. 77, Feueramulett aus einer beschrifteten Mazza
Foto: Sebastian Brenneis.
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Das dritte und aufwendigste Amulett reproduziert Schudt unter Berufung auf Buxtorfs Synagoga Judaica, wonach auch die rituell gebotene Teighebe vom Schabbatbrot (Challah) als Feueramulett dienen könne (Abb. 3). Dieses bestünde aus Brotrinde, die auf der Vorderseite den Davidstern mit dem Akronym ʠʬʢʠ und die Tetragrammata in den Zacken trüge, und auf der Rückseite wiederum das Zitat aus 4. Moses 11:2. Dies sei eine Beschwörung zum Verschwinden des Feuers mit Hilfe des Wortes ʲʔʷ ʍˇ ʑˢʔʥ (verschwand) des Bibelverses, indem die Buchstaben in jeder Zeile verringert würden und die Gebetsformel ʕ ʯˣʶʸʕ ʩʑʤʍʩ ʪʩʓʰʴʕ ʬʍ ʑʮ (Jehi razon.) eingefügt sei mit der Bitte, das Feuer auszulöschen. Abbildung 3: Johann Jakob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, Frankfurt 1718, Theil II, S. 78, Feueramulett, Vorder- und Rückseite
Foto: Sebastian Brenneis.
Das klingt alles sehr konkret und detailliert, aber es macht doch stutzig, dass Schudt selbst sich nur an wenige Zeichen erinnert, die Juden auf Haustüren geschrieben hätten, und alles andere nur vom Hörensagen und dazu noch aus mehrheitlich christlichen Quellen berichtet. Seine Quellen sind unter anderem Johann Andreas Eisenmengers antijüdisch ausgerichtete Schrift Entdecktes Judenthum, die 1700 in Frankfurt erschienen war, wenige Jahre vor Schudts eigener Schrift Jüdische Merckwürdigkeiten, Wilhelm Schickhards Tarich seu serie Regum Persiae von 1628 und Buxtdorfs 1603 zunächst auf Deutsch und später auf Latein erschienene Schrift Synagoga Ju-
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daica (s.o). Dabei handelt es sich um Schriften christlicher Orientalisten oder Hebraisten, die sich aus theologisch-kirchlicher Perspektive mit Judentum auseinandersetzen.
D ER W UNDERGLAUBE AN DIE M AZZA ALS D OKUMENT CHRISTLICH - JÜDISCHEN K ULTURTRANSFERS Ist der Feuerbann mit Hilfe der sogenannten Judenmatz oder der Challah damit originär jüdische Magie oder basiert er auf christlichem Aberglauben, der Juden wie Zigeunern als dämonisch betrachteten Außenseitern geradezu abverlangt wurde, weil sie angeblich mit dem Teufel als dem Herrn der Hölle und des Feuers in Verbindung stünden? Der Hinweis bei Anhorn und andernorts, dass ein Jude geholt wurde bzw. auf fürstlichen Befehl das Feuer mit dem Zaubermittel bannen musste, deutet in diese Richtung. Oder ist es auch denkbar, dass hier aus unterschiedlichen magischen Vorstellungen etwas Neues entstand, gewissermaßen ein besonders wirksames magisches Mittel durch Kulturtransfer? Tatsächlich sind Belege für die Nutzung von Matzen als Feuerbann in den einschlägigen Büchern zu Magie im Judentum nicht aufgeführt, vielmehr spricht der Schlusstext des populären Zauberbuches Sefer Raziel HaMalach (Buch des Erzengels Raziel) darüber, dass die Macht des Gotteswortes, auch als Geisthauch (Ruach) bezeichnet, Feuer und Wasser bannen könne.12 Das im 13. Jahrhundert entstandene Buch, von dem zahlreiche unterschiedliche Manuskriptfassungen existieren, geht ausführlich auf die Macht des Gottesnamens ein und entwickelt eine spezifische Buchstabenund Zahlenmagie für Beschwörungen. Diese Vorstellungen und die in der Amsterdamer Ausgabe von 1701 abgedruckten Siglen (Abb. 4) haben die weitere Entwicklung des jüdischen Amulettwesens in Europa maßgeblich bestimmt. Sie belegen, dass Juden Feuer- und Wasserzauber ausübten und im Laufe der Zeit auch ein umfangreiches Amulettwesen besonders im Bereich der Gefahrenabwehr ausgebildet haben.
12 Zur engl. Übersetzung eines Sefer Raziel im Internet: http://emol.org/kabbalah/ seferraziel/seferraziel.pdf [Abruf 12.06.2012]. Zum Feuer vgl. Text bei Anm. 58 und 59.
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Abbildung 4: Magische Siglen aus dem Sefer Raziel Ha-Malach, gedruckt Amsterdam 1701, S. 78
Aber dabei wurde zunächst vor allem ein Schriftzauber durch Aufzeichnung besonderer Gottes- und Engelnamen oder dämonischer Wesen angewandt, die teilweise ästhetisch sehr aufwendig gestaltet wurden, wie zum Beispiel bei Wöchnerinnenamuletten, die vor der Dämonin Lilith schützen sollten (Abb. 5).13
13 Falk Wiesemann (Hg.): Genisa – Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden, deutsch/englischer Ausstellungskatalog. Gütersloh 1992, Kat. Nr. 116-119.
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Abbildung 5: Wöchnerinnenamulett aus dem Sefer Raziel Ha-Malach, Amsterdam 1701, S. 76, The Gross Family Collection Tel Aviv
Bezeichnenderweise sollten die magischen Fähigkeiten jedoch von den handschriftlichen oder gedruckten Texten durch Namensbeschwörung ausgehen und nicht vom Trägermaterial, sei es Papier oder Pergament. Dieses bestätigt auch der Gebrauch von Mesusa und Misrach, die als sichtbare Gebotszeichen auch Amulettcharakter annehmen konnten. Die Mesusa ist die Textkapsel, die den auf Pergament geschriebenen Text des jüdischen Glaubensbekenntnisses aus Deuteronomium 6:4-9 und 11:13-21 enthält, verbunden mit dem Gebot, sich allezeit daran zu erinnern (Abb. 6), und die rechts oben an Türrahmungen eines jüdischen Hauses angebracht ist. Der Text konnte nach Meinung mittelalterlicher Rabbinen und des Sefer Raziel auch das jüdische Haus vor Unheil bewahren, zumal die Kapsel der Mesusa das hebräische Wort ʩʣʹ (Schaddai) trägt, diejenige Gottesbezeichnung, die nach Sefer Raziel auch zum Schutz gegen das Böse angerufen werden kann.14
14 Vgl. http://emol.org/kabbalah/seferraziel/seferraziel.pdf (wie Anm. 11), zur Bedeutung des Shaddai, Text bei Anm. 11-14.
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Abbildung 6: Modernes Mesusa mit Shaddai-Zeichen (hebr. Buchstaben ʩʣʹ)
Bei den Juden Osteuropas konnte auch die ab dem 17./18. Jahrhundert oft aufwendig gestaltete Tafel, die an der Ostwand des Hauses die Gebetsrichtung anzeigte (Misrach-Tafel), Schutzfunktion übernehmen, indem sie auf Gottes Präsenz verwies (Abb. 7).15 Die Nutzung dieser beiden Objekte als Amulette belegt einen Verständniswandel in der jüdischen Ritualkultur, die für magische Umdeutungen genauso empfänglich war wie die christliche. Sie verdeutlicht aber auch, dass im Judentum magische Wirkung zunächst mit Textformeln und weniger mit Trägermaterial assoziiert wurde.
15 Vgl. die mit Shiviti bezeichneten Misrach-Tafeln. In: Joy Ungerleider-Mayerson: Jewish Folk Art. From Biblical Days to Modern Times. New York 1986, S. 61f. The Home, hier S. 80.
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Abbildung 7: Galizischer Misrach mit Shiviti, Papierschnitt, coloriert, 19. Jahrhundert, ehemals Slg. Einhorn Tel Aviv
Dagegen spricht einiges dafür, dass sich die Vorstellung von der sogenannten Judenmatz als wirksamer Feuerabwehrzauber zunächst im mittelalterlichen Christentum entwickelt hat, denn sie geht analog zur Hostie von der Mazza als einer Materie aus, der durch den Ritus des Pessachfestes magische Fähigkeiten zuteil würden. Das heißt, ihre Stofflichkeit unterlag einer von den Christen angenommenen, spirituellen Transformation, die der Transsubstantiation glich. Diese Überlegungen werden dadurch gestützt, dass bei Christen gleichzeitig sowohl geweihtes Brot als auch Hostien als Feuer- und Wetterabwehrzauber gebräuchlich waren (s.o.), und zwar nicht nur seitens der bäuerlichen Bevölkerung, sondern auch beim Klerus. Die Hostie wurde besonders ab dem späteren Mittelalter zu vielfältiger Magie eingesetzt: Sie galt als Liebeszauber, als Wunderheilungsmittel für Mensch und Vieh und sollte unverwundbar machen. Insbesondere wurde sie auch als Wetterzauber zur Bannung von Unwetter und Blitz verwendet und zum Beispiel im Kirchhof
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vom Priester feierlich umgetragen, wenn Gewitter drohte.16 Im Salzburgischen bestimmte das Provinzialkonzil 1456, dass das Sakrament bei Feuersgefahr Überschwemmungen, Pest- und Kriegsgefahr sowie allgemeinen Unglücksfällen umgetragen werden dürfe.17 So ähnlich klingen dann auch die Berichte von Franz Schönwerth aus Falkenstein in der Oberpfalz im 19. Jahrhundert: »Ist in einem Hause Feuer ausgekommen, so wird es bemeistert, wenn man einen Laib Brot, dreimal geweiht, hinwirft oder den Backtrog entgegen stellt.«18 Auch ein ausgehöhlter Laib Brot, vom Priester hineingeworfen, ein geweihtes Osterei, ein Kruzifix auf dem umgekehrten Tisch aufgestellt sind wirksame Mittel gegen Feuersbrunst.19 Im gleichen Kontext wird zum Ort Neuenhammer aber auch der Aberglaube berichtet: »Wo ein Judenmatzen im Hause aufbewahrt wird, ist es vor Feuer sicher.«20 Schönwerts Aberglauben-Fazit lautet: »Niemand vermag aber das mehr Gewitter unschädlich zu machen als die Juden; diese schneiden einen Laib Brot auseinander, kleben ihn wieder zusammen und schieben ihn unter Hermurmeln gewisser Worte rücklings in den Ofen.«21 Diese Parallelen verdeutlichen, dass Hostie und Mazza in ihrer Wirkung analog betrachtet wurden. Das kann man zum einen auf diejenigen christlichen Glaubensvorstellungen zurückführen, denen zufolge das erste Abendmahl anlässlich der Pessachfeier Christi stattgefunden habe, sodass Mazza und Hostie gleichen Ursprungs seien. Zum anderen aber scheint diese Vorstellung auch von den angeblich magischen Fähigkeiten des geweihten Hostienlaibes mit geprägt. Nach Peter Browe aber gibt es in Europa vor dem 11. Jahrhundert keine Belege dafür, dass man Hostien magische Kräfte zuschrieb. Vielmehr hätten sich diese Vorstellungen etwa in der gleichen Zeit wie die Legenden von Eucharistiewundern und blutenden Wunderhostien
16 HDA, Bd. IV: Artikel Hostie, col. 414; vgl. dazu auch Peter Browe: Die Eucharistie als Zaubermittel im Mittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 19 (1930), S. 134-154, wieder abgedruckt in: Peter Browe: Eucharistie im Mittelalter, liturgiehistorische Forschungen. Münster 2011 (6), S. 296. 17 HDA, Bd. IV, col. 415. 18 Franz Xaver von Schönwerth: Aus der Oberpfalz: Sitten und Sagen, 3 Bde. Augsburg 1869, hier Bd. 2, Augsburg 1858, S. 84. 19 Ebd., S. 85. 20 Ebd., S. 87. 21 Ebd., S. 119, Nr. 6.
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ab dem 12. Jahrhundert ausgebreitet.22 Damit entstanden diese Vorstellungen in der Zeit der Kreuzzüge, die maßgeblich zur Intensivierung des christlichen Glaubenslebens in Europa beitrugen, die aber auch zu antijüdischen Pogromen und heftigen christlich-jüdischen Auseinandersetzungen führten, was die Dämonisierung der Juden im Mittelalter zusätzlich begünstigte.
D IE E NTWICKLUNG DES W UNDERGLAUBENS AN H OSTIE UND M AZZA Welche genauen Umstände können nun den Transfer der mit der Hostie assoziierten magischen Vorstellungen auf die Mazza begünstigt haben? Bei diesem Prozess scheint die Intensivierung der Eucharistie-Verehrung eine bedeutende Rolle gespielt zu haben, denn sie führte letztlich zur Erhebung der Transsubstantiation in den Rang eines Dogmas auf dem IV. Laterankonzil 1215 und machte damit Zweifler zu Häretikern, die der Inquisition verfielen. Ebenso scheinen aber auch die ab der Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzenden Ritualmordbeschuldigungen, dass Juden für die Pessachriten, insbesondere für das Mazzebacken, das Blut von Christenkindern benötigten und sie deshalb schlachten würden, zum Wunderglauben an die Mazza beigetragen zu haben.23 In der Tat galten die Juden immer wieder unterstellten Ritualmorde und Hostienfrevel als ultimativer Beleg für die Realität der Transsubstantiation, denn Juden würden dadurch, dass sie Christenkinder um des Blutes willen töteten bzw. Hostien schändeten, immer wieder vergeblich versuchen Christi Tod zu vollziehen und so umgekehrt die Echtheit der Wandlung und damit Christus als den wahren Messias bezeugen. Damit begünstigte der von der Kirche geforderte Glaube an die Transsubstantiation die Wahrnehmung jüdischer Ritualpraxis als Magie. Dementsprechend beginnt sich bereits Mitte des 13. Jahrhunderts die dann vor allem im Volksglauben verbreitete Vorstellung durchzusetzen, dass Juden speziell Christenblut benötigen würden, um sich durch dessen Genuss in Form der Verspeisung einer blutgetränkten Mazza von körperlichen Gebre-
22 Browe, Die Eucharistie als Zaubermittel. 23 Israel Yuval: Zwei Völker in Deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Göttingen 2007, S. 178-180.
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chen zu kurieren.24 So berichtet der bayerische Sprachforscher Johann Andreas Schmeller (1785-1852) in seinem Bayerischen Wörterbuch von 1827 zu »Maz/Der Matzen« unter Berufung auf das Gemeinderegister der Stadt Regensburg von 1476, dass im Jahre 1429 Juden Christenblut auf Mazzen gestrichen und als Mittel gegen Aussatz zu sich genommen hätten.25 Damit wurden ab dem Spätmittelalter der angeblich mit Blut affizierten Mazza ähnlich wie der Hostie im Moment der Transsubstantiation magische, heilende Kräfte zugeschrieben. Diese Vorstellungen entwickeln sich, als christliche Theologen Ende des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts zur Durchsetzung einer vertieften eucharistische Frömmigkeit auch bewusst den Glauben an die mystischen Elemente der Eucharistie-Verehrung befördern. Zu ihnen gehören Papst Innozenz III. (1160-1216) mit seiner einflussreichen, noch als Kardinal verfassten Schrift De sacro altaris mysterio sowie Eudes de Sully (1196 Bischof von Paris, gest. 1208), der das Gebot der Elevatio der Hostie während der Messe per Synodalbeschluss promulgierte.26 Innozenz III. betont in seiner Einleitung zu De sacro altaris mysterio27 die Mysterienfülle des Göttlichen, insbesondere während der Eucharistiefeier, deren liturgischen Ablauf er detailliert beschreibt, unter das Primat des Papstes stellt und damit zugleich institutionalisiert. Nach ihm vereinigte sich der Gläubige im Moment der Messe nicht nur körperlich mit dem Leib Christi, sondern im mystischen Sinne auch mit der Kirche als Institution. So heißt es im IV. Buch, Kap. 14: »De duobus modis Eucharistiam comedendi: in corpore: Verum quod de virgine traxit et in cruce pependit, & mystice quod est Ecclesia, Christi spiritu vegetata.« Das Glaubensmysterium müsse tatsächlich und real aufgefasst werden und dürfe nicht nur als Zeichen verstanden werden. Dies sei vielmehr ein Irrtum wider Gott und die Autorität der Schrift: »Qui profecto laqueum erroris incurrunt, quia nec
24 So etwa die Behauptung des Dominikaners Thomas de Cantimpré (1201-1270) in seinem Werk Bonum Universale de Apibus, 2.29.23. Vgl. dazu auch Annette Weber: Antijüdische Blutlegenden und Frauen-Blutbilder. In: Christine Knust/ Dominik Groß (Hg.): BLUT – Die Kraft des ganz besonderen Saftes in Medizin, Literatur, Geschichte und Kultur. Kassel 2010, S. 17-27, hier S. 22f. 25 Vgl. dazu Johann Andreas Schmeller (1785-1852): Bayerisches Wörterbuch. Nachdruck München 1985 (zu Maz/Der Matzen Sp. 659). 26 Browe, Eucharistie im Mittelalter, Kapitel: Die Elevation in der Messe, S. 476-478. 27 Jacques Paul Migne: Patrologia latina, Bd. 217. Paris 1855, col. 773-916.
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sacramenta dei reverenter suscipiunt, nec auctoritates scripturae convenienter intelligent, nescientes scripturas neque virtutem Dei.« Den Gläubigen wird die Akzeptanz des Mysteriums in den Grenzen der Ratio sogar zur Pflicht gemacht: »Tutius est in talibus citra rationem subsistere, quam ultra rationem excedere.«28 Offensichtlich in Abstimmung mit Papst Innozenz III. hat dann Bischof Eudes de Sully in seinen 1208 promulgierten Episcopalstatuten für NotreDame de Paris durchgesetzt, dass die Hostie nach der Konsekration und den Worten »Hoc est corpus meum« emporzuheben sei, damit sie von allen verehrt werden könne.29 Nach Browe wurde die Schau und Anbetung der Hostie ab dem 13. Jahrhundert zu einem so zentralen Glaubensmoment, dass sie sogar die Kommunion selbst überbot, denn die Leute rannten während der Messe von Kirche zu Kirche, um der Schau als besonderen Heilsund Gnadenmoment teilhaftig zu werden. Zugleich scheint diese Schau wesentlich magische Vorstellungen befördert zu haben, denn die volkstümliche Zauberformel »Hokuspokus« entwickelte sich aus der Verballhornung des Hoc est corpus meum.30 Hostienverehrung und Hostienmagie waren also seit Mitte des 13. Jahrhunderts eng miteinander verbunden, zumal das gesteigerte Interesse an ihrer Schau die Legendenbildung begünstigte. Dazu gehörte auch die antijüdische Hostienfrevellegende, als seien die Juden, denen man heimlichen Hostienglauben unterstellte, die ultimativen Zeugen für die Wahrheit dieses Mysteriums, das auch den christlichen Gläubigen immer wieder Verständnisschwierigkeiten bereitete. Aus der gesteigerten Eucharistieverehrung entwickelte sich ab 1263 das Fronleichnamsfest mit der Hostienprozession als Höhepunkt, wozu oftmals Juden in ihre Häuser bzw. in ihre Gasse eingesperrt wurden, damit sie nicht etwa durch Zuschauen oder Spott die Heiligkeit der Hostie beeinträchtigten.31 In der gleichzeitigen scholastischen
28 Ebd., IV. Buch, Kap. 14, col. 861-868. 29 Browe, Eucharistie im Mittelalter. 30 Browe, Eucharistie als Zaubermittel, zur volkstümlichen Verehrung, bes. S. 479-482 und S. 500-509. 31 Eine derartige Unterstellung, dass Juden die in der Fronleichnamsprozession zur Schau gestellte Hostie verspotten würden, führte der Legende nach 1336 zu den in ganz Süddeutschland einsetzenden sogenannten Armleder-Pogromen. Ritter Arnold von Uissigheim, genannt König Armleder, habe Rache für diese angeb-
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Theologie führte dies auch zu einem verstärkten Interesse an den Pessachriten als dem historischen Ursprung des eucharistischen Opfers. Wie Israel Yuval gezeigt hat, wurden fortan Juden bei ihren Pessachvorbereitungen, insbesondere beim Mazzebacken und der Verwendung der Mazza, zunehmend argwöhnisch beobachtet, was Misstrauen zwischen Juden und Christen begünstigte und letztlich zu einem von Hass und Furcht geprägten Dialog führte, der dem beiderseitigen Aberglauben weiteren Vorschub leistete.32 Insbesondere auf dem Dorf wurden Christen zu Zeugen der symbolischen Verkaufszeremonie von allem Gesäuerten, das laut biblischem Gebot (2. Buch Mose 12:15) vor Pessach aus dem Haus geschafft werden musste, und waren womöglich auch selbst die Käufer. Mit aller Sicherheit kannten sie außerdem die außer Haus stattfindende Zeremonie des rituellen Verbrennens von einem Rest Gesäuerten mit einem Segensspruch unmittelbar vor Pessachbeginn (Biur Chametz) zum Zeichen, dass alles Gesäuerte aus dem Hause geschafft sei. Brot unter Segenssprüchen ins Feuer zu werfen, musste Christen als magischer Akt vorkommen, vor allem dann, wenn sie selbst die Hostie als Feuerabwehrzauber verwendeten. Dass derartige Magievorstellungen insbesondere mit der Zeremonie des Biur Chametz assoziiert wurden, bestätigt eine an Rabbi Chaim Or Zarua gerichtete Anfrage aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts: Ob man die Suche nach Gesäuerten dort unterlassen solle, wo ein Loch in der Wand zum christlichen Nachbarn führe, da dieser einen womöglich der Hexerei bezichtigen könnte. Die Antwort des Rabbiners ermutigt den Fragesteller, den Ritus des Biur Chametz zu befolgen, fährt jedoch fort: »[W]enn wir aber den Vorwurf der Hexerei beim Aufsuchen des letzten Gesäuerten zu fürchten hätten, würden wir es gewiss unterlassen, wie man es in der Provence unterlassen hat den Ofen zu kaschern wegen Hexereiverdacht.«33
liche Verspottung des Fronleichnamssakramentes nehmen wollen. Vgl. dazu: Klaus Arnold/Arnold von Uissigheim (um 1290-1336). In: Erich Schneider (Hg.): Fränkische Lebensbilder, Bd. 20. Gesellschaft für Fränkische Geschichte. Würzburg 2004, S. 1-15. 32 Yuval, Zwei Völker in Deinem Leib, Kapitel V: Hostie vs. Mazza, S. 211ff., hier bes. S. 214f. 33 Yuval, Zwei Völker in Deinem Leib, zu Biur Chametz S. 232f., zu Chaim Or Zarua S. 235.
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Ein weiterer Vorwurf betraf das Gebot des Absonderns und Verbrennens der Teighebe, das nicht nur für die Challah, sondern auch für das Backen der Mazza galt. In der Disputation mit Rabbi Jomtov Lipman Mühlhausen im 15. Jahrhundert unterstellte der Konvertit Peter, dass Juden dieses Gebot mit Gotteslästerung verbinden würden, da sie das verbrannte Teilstück mit der Hostie gleichsetzten.34 Die Assoziation, dass Juden in magischer Weise mit Brot umgingen, war also in den Augen der mittelalterlichen Christen ein Faktum. Noch mehr galt die Unterstellung schwarzer Magie für den Ritus des Eruw Chatzerot. Dieser Ritus wurde ab dem 14. Jahrhundert so gehandhabt, dass ein Stückchen Mazza, weil lange haltbar, in einem jüdischen Haus oder in der Synagoge selbst aufgehängt bzw. an die Wand genagelt oder auf einem Hängetablett präsentiert wurde (Abb. 8), um anzuzeigen, dass in diesem Gebäudekomplex und den umliegenden jüdischen Wohneinheiten bei einer Festtagsperiode über mehrere Tage doch Speisen zubereitet und hin und her gebracht werden konnten, was als Arbeit an Feiertagen ansonsten untersagt war. Über die gemeinsame Mazza stellte man dabei im religionsrechtlichen Sinne Gemeinschaft her. Israel Yuval interpretiert diese öffentliche Zurschaustellung der Mazza als Analogie zur der seit dem Spätmittelalter üblichen Hostienpräsentation in der Monstranz und zeigt auf, dass diese öffentliche Zurschaustellung christliches Misstrauen verstärkte, weil man hier erneut Gotteslästerung unterstellte und annahm, dass die Mazza den Leib des Herrn bedeute, der zum Spott an die Wand genagelt und damit erneut gemartert werde, so der kryptische Bericht im Minhagbuch des Rabbi Schalom Neustadt aus dem 14. Jahrhundert.35
34 Ebd., S. 236. 35 Ebd., S. 238f.
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Abbildung 8: Eruw Chatzerot (Unterseiteeines holzgeschnitzten, bemalten Hängetabletts zur Präsentation der Mazza) für die Synagoge Jungholz/Elsaß, datiert 1770; Dépôt de la SHIAL au Musée Alsacien de Strasbourg
Foto: A. Plisson, Musées de Strasbourg.
Was offenbar im christlichen Gedächtnis haften blieb, war die Vorstellung, dass Juden ihre Synagogen mit einem angeblich geweihten, hostiengleichen Stück Brot heiligten und sie damit schützten. Dies konnte angesichts der geradezu wuchernden Hostienmagie kaum anders denn als magischer Ritus wahrgenommen werden und mag dazu geführt haben, dass man von den Juden derlei angeblich magische Mittel geradezu abforderte, um sie gegen dasjenige Element einzusetzen, mit dem Juden als Zauberer und Teufelsanhänger am ehesten assoziiert wurden: dem Feuer. Die Verwendung der Hostie als christlicher Feuerabwehrzauber kann also durchaus als Kulturtransfer unter negativem Vorzeichen verstanden werden, denn den gegenseitigen Respekt förderten diese magischen Praktiken nicht. Im Gegenteil, gerade deswegen blieben Juden ebenso wie Zigeuner die immer misstrauisch beäugten Außenseiter.
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Erfolgte der Kulturtransfer auf der Ebene der Magie aber nur einseitig? Israel Yuval hat in einer umfassenden Analyse aufgezeigt, dass der jüdische Umgang mit dem Afikoman, einem besonderen Teil der zum Pessachmahl verzehrten Mazzen, sich wie das Gegenstück zur mittelalterlichen Hostienliturgie zu Ostern lesen lässt, weshalb hier seine Ergebnisse zusammenfassend referiert seien.36 Afikoman ist der griechisch bezeichnete, abgesonderte Teil der mittleren der drei Mazzen, die beim Pessachmahl verzehrt werden müssen und für das Pessach-Opfer selbst stehen. Dieses Reststück wird bis heute nicht während des symbolischen Mahles verzehrt, sondern erst kurz vor Abschluss der Feier, wobei ähnlich wie bei der Hostie keine Krümel zerstreut bzw. übrig bleiben dürfen und das Verspeisen mit besonderer Andacht zu geschehen hat. Zudem wird dieser Rest zuerst in ein Tuch gehüllt und sofort nach dem Teilen der mittleren Mazza verborgen, und es ist bis heute Sitte, dass die Kinder ihn suchen und auslösen gehen. Zum Abschluss der Zeremonie verteilt der Hausherr dann die Stückchen unter die Mahlgemeinschaft. Nach Israel Yuval betrachteten aschkenasische Juden den Afikoman ab dem 12. Jahrhundert als Ersatz für das Pessach-Opfer und verbanden damit mystische Erwartungen auf messianische Erlösung. So äußerte sich etwa der Kabbalist Chaim ben Abraham haCohen im 17. Jahrhundert, dass der Verzehr des Afikoman auf das künftige Festmahl verweise, »das der Heilige, gelobt sei Er, für die Gerechten bereiten wird«, und dies sei auch der Grund, weshalb der Afikoman zu Beginn der Mahlzeit verhüllt werde, da die Erlösung noch verhüllt sei.37 Das Verbergen des verhüllten Afikoman, sein Wiederauffinden und die Austeilung verbunden mit dem gemeinsamen, andächtigen Verzehr erinnern deutlich an die Osterzeremonien mit der Hostie am Gründonnerstag, Karfreitag und Ostersamstag. Am Gründonnerstag wurden nach mittelalterlichem Ritus zwei Hostien geweiht, mit der einen fand die Kommunion statt, die andere wurde rituell verborgen, am Karfreitag hervorgeholt und in vielen katholischen Kirchen ab dem 13. Jahrhundert in feierlicher Prozession
36 Ebd., S. 239-248. 37 Ebd., Zitat S. 243.
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in ein sogenanntes Heiliges Grab eingebracht, dessen Zentrum eine manchmal lebensgroße Liegefigur des toten Christus bildete (Abb. 9). Abbildung 9: Sog. Heiliges Grab, Sandstein, erste Hälfte 14. Jahrhundert, Münster/Freiburg i.Br., Liegefigur des toten Christ mit verschließbarer Öffnung auf der Brust zum Aufnehmen der Hostie
Foto: Thomas Kunz.
Diese Skulptur besaß oftmals eine so weit geöffnete Seitenwunde, dass dort hinein die verhüllte Hostie gesteckt werden konnte (sog. depositio-Zeremonie). Am Ostersonntag wurde diese Hostie zum Zeichen der Auferstehung feierlich zurückgeholt und auf den Altar gelegt, somit die Auferstehung anschaulich nachvollzogen. Um Anschaulichkeit und bewusstes Nachvollziehen geht es in der Pessachfeier schon seit biblischen Zeiten; aber erst als der Afikoman ab dem 12. Jahrhundert nicht mehr nur als Sinnbild historischer Erlösung aus der ägyptischen Sklaverei fungierte, sondern auch zum Symbol künftiger Errettung in messianischer Zeit wurde, scheint es zur Adaptation christlicher eucharistischer Elemente gekommen zu sein. In dieses Bild passt der Hinweis, dass der Afikoman gleich der Hostie auch zu
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magischen Zwecken verwendet wurde, indem man ihn trotz des Gebotes nicht gänzlich verzehrte, sondern als Amulett zum Beispiel gegen den bösen Blick verwendete, indem man ihn immer bei sich trug oder sogar in der Stube annagelte, ähnlich wie die Judenmatz als Feuerzauber, oder ihn sogar wie ein Wöchnerinnenamulett als Abwehrzauber für Gebärende nutzte.38 Am deutlichsten wird die Parallele zur Hostienmagie in dem Glauben, dass ein sieben Jahre lang aufbewahrter Afikoman gegen Flut und Naturkatastrophen helfe.39 Hier ist es nun nicht mehr der Namenszauber, sondern die analog zu christlichen Vorstellungen rituell genutzte Materie, von der angeblich magische Kräfte ausgehen. Damit treffen sich die beiden monotheistischen Religionen in einer Form der Magie, die sich jeweils aus der Forderung entwickelte, das historische Geschehen des Auszuges aus Ägypten bzw. des Abendmahls rituell nachzuvollziehen, indem man es sich buchstäblich »einverleibte«.
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FÜR DIE K ONGRUENZ CHRISTLICHEN UND JÜDISCHEN W UNDERGLAUBENS Diese magischen Vorstellungen entwickeln sich offensichtlich in Abhängigkeit voneinander und zu einer Zeit, als beide Religionen in großer Spannung zueinander stehen und um ihr eigenes Selbstverständnis ringen. Angesichts der Bedrohung durch Kreuzzüge und Kirche suchten aschkenasische Juden nach neuen Formen der Selbstvergewisserung, um sich als religiöse Gemeinschaft zu behaupten, denn Papst Innozenz III. hatte auf dem IV. Laterankonzil 1215 nicht nur die Transsubstantiation in den Rang eines Dogmas erhoben, sondern gleichzeitig auch die Marginalisierung von Juden und Muslimen in der christlichen Gesellschaft durch die Zwangskennzeichnung durchgesetzt. Dies wurde mit der Sorge um den christlichen Glauben begründet und der Abwehr von Häresie, die von Andersgläubigen ausginge. Mindestens ebenso sehr ging es dabei aber auch um das Deutungsmonopol der katholischen Kirche in Bezug auf die gesamte Heilsgeschichte. Dies
38 Joshua Trachtenberg: Jewish Magic and Superstition. Nachdruck New York 1984, S. 134 sowie Anm. 4 auf S. 295. 39 Geoffrey W. Dennis: The Encyclopedia of Jewish Myth, Magic and Superstition. Woodbury/Minn. 2007 (zu Unleavened Bread S. 269).
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suchte sie mit gewaltigem propagandistischem Aufwand durchzusetzen, indem sie das Alte Testament in Wort und Bild als christliche Vorgeschichte vereinnahmte und gleichzeitig dem Laienvolk das Bild des zeitgenössischen Juden als archetypischen, dämonischen Glaubensgegner präsentierte, so etwa in den aufwendig illustrierten Ausgaben der Bible moralisée, die für den französischen Königshof in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschaffen wurden.40 Dabei war es erklärte Kirchendoktrin, dass spirituelle Erfahrung historischem Wissen und Verständnis in Glaubensdingen überlegen sei. So fordert etwa Guillaume d’Auvergne, Bischof von Paris von 1228-1248 und Hausherr von Nôtre-Dame de Paris, in seinem Traktat De fide et legibus zur Einsicht auf, dass die Ausstattung der Kirche dem archaisch-bescheidenen Ritus der Hebräer überlegen sei, was sich für jeden so nachvollziehbar anschaulich manifestiere, dass er aus Bewunderung und von Herzen bekennen müsse, dass ihr (Bilder-)Schmuck keine Erfindung menschlicher Kunstfertigkeit sei, sondern Zeugnis göttlicher Offenbarung und himmlischer Vorgeherschaft: »[E]tsi enim cultus Hebraeorum aliquid decoris habuit, modicum illud & initiale solum fuit. Adeo enim ea, quae diximus, sensu manifesta sunt, ut quicumque vident decorem domus domini exteriorem apud nos, ipsum incredibiliter admirentur & corde confiteantur cultum istum non esse inventum instinctu humani artificii, sed divinae revelationis & caelesti magisterii documentum.«41
Der Traktat schließt mit der Bemerkung, dass deshalb neue Themen wie etwa die Frauen am Grabe und die Auferstehung Christi in Schauspiel, Malerei und Skulptur für Feierlichkeiten neu erfunden würden: »Apud nos quoque simila multa inveniuntur in sacris nostris, qualis est repreaesentatio Dominicae resurrectionis & sacrum mulierum collocutio, ac sollicitudo ungendi
40 Vgl. Bible moralisée, Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek. Kommentar von Reiner Haussherr. Übersetzung der französischen Bibeltexte von Hans-Walter Stork, Graz 1992. Vgl. dazu auch Sara Lipton: Images of Intolerance. Berkeley 1999. 41 Guillaume d’Auvergne: De fide et legibus, Teil III, Kapitel XXIX. In: Guilielmi Alverni Opera Omnia. Parisis 1674, unveränderter Nachdruck Frankfurt a.M. 1963, S. 101f.
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eum cum aromatibus, qualis est representatio gestorum, quae apparet in sculpturis & picturis Ecclesiastarum nostrarum.«42
Guillaume d’Auvergne verweist hier auf den mystagogischen Anspruch christlich-mittelalterlicher Kunst, der sich während seiner Amtszeit in der Weiterentwicklung von Liturgie, Musik und bildender Kunst für die Kathedrale von Nôtre-Dame de Paris manifestierte und durch den sinnlich erfahrbaren Aufwand den Gläubigen geradezu überwältigen sollte.43 Dadurch, dass Religion zunehmend sinnlich nachvollzogen und über das Ritual verinnerlicht werden sollte, wurde magischen Vorstellungen der Weg bereitet, denn jedes Ritual benötigt liturgisch definierte Objekte, die zu Wirkungsträgern werden, indem sie den Menschen spirituell konditionieren. Das Beispiel von Hostie und Mazza hat gezeigt, dass dabei die Übergänge zur Magie fließend sein können und über Jahrhunderte jüdischen und christlichen Alltag geprägt haben. Stellen magisch aufgeladene Objekte aber nur ein Phänomen der Vormoderne dar? Schon die eingangs erwähnte Talisman-Diskussion hat die Virulenz moderner Objektmagie als psychisch-emotionale Orientierungshilfe gezeigt, auch wenn sich diese im Moment nur auf der Ebene des Esoterischen bzw. aus den Besitzritualen zeitgenössischer Konsumwelt entwickelt.
L ITERATUR Guilielmi Alverni: Opera Omnia. Parisis 1674, unveränderter Nachdruck Frankfurt a.M. 1963. Bartholomäus Anhorn von Hartwiss: Magiologica. Basel 1674. Bible moralisée, Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek. Kommentar von Reiner Haussherr. Übersetzung der französischen Bibeltexte von Hans-Walter Stork. Graz 1992. Friedrich Bock: Zur Volkskunde der Reichstadt Nürnberg. Würzburg 1959.
42 Ebd. 43 Bruno Boerner: Par Caritas, par meritum: Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich – am Beispiel des mittleren Westeingangs von Notre-Dame in Paris. Fribourg/Suisse 1998, S. 291-310.
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Bruno Boerner: Par Caritas, par meritum: Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich – am Beispiel des mittleren Westeingangs von Nôtre-Dame in Paris. Fribourg/Suisse 1998. Peter Browe: Eucharistie im Mittelalter, liturgiehistorische Forschungen. Münster 2011 (6). Geoffrey W. Dennis: The Encyclopedia of Jewish Myth, Magic and Superstition. Woodbury/Minn. 2007. Klaus Guth u.a. (Hg.): Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800-1942). Ein historisch-topographisches Handbuch. Bamberg 1988. Handbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli u.a. Neuauflage Berlin 1987 mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller. Horst Heldmann: Jüdische Feuerbeschwörungspraktiken. Ein Beitrag zur fränkischen Volkskunde. In: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 8 (1961), S. 2-25. Christine Knust/Dominik Groß (Hg.): BLUT – Die Kraft des ganz besonderen Saftes in Medizin, Literatur, Geschichte und Kultur. Kassel 2010. Sara Lipton: Images of Intolerance. Berkeley 1999. Heinrich Loewe: Jüdischer Feuersegen. Ein Beitrag zum jüdischen und deutschen Aberglauben, Jahresgabe der Soncino-Gesellschaft. Berlin 1930. Jacques Paul Migne: Patrologia latina, Bd. 217. Paris 1855. Joseph Motschmann: Es geht Schabbes ei. Vom Leben der Juden in einem fränkischen Dorf, hg. vom SPD-Kreisverband Lichtenfels. Lichtenfels1988. Freddy Raphael: Rites de naissance et medécine populaire dans le judaisme rural. In: Ethnologie Française 1/3-4 (1971), S. 83-94. Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch. Nachdruck München 1985. Erich Schneider (Hg.): Fränkische Lebensbilder, Bd. 20: Gesellschaft für Fränkische Geschichte. Würzburg 2004. Franz Xaver von Schönwerth: Aus der Oberpfalz: Sitten und Sagen, 3 Bde. Augsburg 1858-1869. Johann Jakob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten, 2 Bde. Frankfurt 1714-1718. Joshua Trachtenberg: Jewish Magic and Superstition. Nachdruck New York 1984. Joy Ungerleider-Mayerson: Jewish Folk Art. From Biblical Days to Modern Times. New York 1986. Annette Weber: Antijüdische Blutlegenden und Frauen-Blutbilder. In: Christine Knust/Dominik Groß (Hg.): BLUT – Die Kraft des ganz besonde-
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ren Saftes in Medizin, Literatur, Geschichte und Kultur. Kassel 2010, S. 17-27. Falk Wiesemann (Hg.): Genisa – Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden, deutsch-englischer Ausstellungskatalog. Gütersloh 1992. Israel Yuval: Zwei Völker in Deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Göttingen 2007.
Museale Präsentationen des Aberglaubens
Museen und Aberglaube Früher, heute, morgen A DELA P UKL
ABERGLAUBE
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Aberglaube ist ein außerordentlich breites Gebiet, das in fast alle Bereiche unseres Lebens eingebettet ist. Er ist Teil der Bräuche und Sitten im Lebens- und Jahreskreis und bei der Arbeit, er ragt in die Mythologie und Semiotik und ist in Volksglauben und Alltagsleben zu finden. Die slowenische Sprache kennt zwei Ausdrücke für den Glauben an das Übernatürliche, Wunderbare, Außergewöhnliche, das nicht zur Religion gehört. Das sind praznoverje (etwa: »leerer Glauben«) und der häufiger verwendete Begriff vraževerje (Aberglaube). Das Slowenische Ethnologische Lexikon behandelt beide Begriffe unter dem Schlagwort praznoverje. Nach christlichen Ansichten wird alles, was zur vorchristlichen Zeit gehört, das heißt heidnische Glaubensinhalte und Bräuche, als Aberglaube bezeichnet. Nach der Ansicht einiger religiöser Institutionen ist Aberglaube all das, was außerhalb ihrer Religion liegt. Aberglaube zeigt sich besonders bei den wichtigsten Schritten im Leben, im Glauben an Dämonen, an die außergewöhnlichen Kräfte einzelner Menschen, Pflanzen, Tiere, Gegenstände, magischer Taten und Wahrsagerei.1 Nach Ansicht einzelner Slowenischen Autoren ist Aberglaube der Magie sehr ähnlich, weil beim Aberglauben wie bei der Magie Rituale und
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Angelos Baš (Hg.): Slovenski etnološki leksikon. Ljubljana 2004, S. 463.
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Handlungen gepflegt werden, um Unglück abzuwehren oder Glück anzuziehen. In seiner Deutschen Mythologie von 1835 unterschied Jakob Grimm zwischen aktivem und passivem Aberglauben.2 Für die slowenische Diktion ließe sich anführen, dass es sich um aktiven Aberglauben (vraževerje) handelt, wenn man mit Hilfe von Ritualen, Taten, Gegenständen usw. aktiv versucht, das eigene Schicksal zu beeinflussen. »Leerer Glauben« ist passiver Aberglaube, wozu alles andere gehört. Forschungen auf dem Gebiet des Aberglaubens, der Mythologie, des Volksglaubens und der Magie gibt es in Slowenien reichlich. Unterschiedliche Forscher (Ethnologen, Folkloristen, Anthropologen, Soziologen, Historiker und Archäologen) betreiben Feldforschung und zeichnen Erzählungen, Erinnerungen und Ereignisse auf. Aufsätze und Monografien umfassen fachliche sowie wissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse zu den verschiedenen Gebieten des Aberglaubens oder Volksglaubens. Umfangreiche Erforschungen der Bräuche und Sitten belegten schon in der Vergangenheit eine Menge von abergläubischen Elementen, die insbesondere mit dem Vorhersagen des Schicksals oder dem Wenden des Schicksals zu eigenen Gunsten verbunden sind. In der letzten Zeit wächst das Forschungsinteresse auf dem Gebiet des Aberglaubens, der Magie und der Mythologie deutlich. Unter den Zeitgenossen sticht Zmago Šmitek3 hervor, der Mythologie im Vergleich mit nichteuropäischen Kulturen und Religionen untersucht. Mirjam Mencej4 schreibt über Hexerei, Volksglauben, vergleichende slawische und europäische Mythologie. Die Forschungsgebiete von Monika Kropej5 sind Mythologie, Volksglauben und Volksmedizin. Katja Hrobat6 er-
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Helmut Hiller: Sve o praznovjerju. Zagreb 1989, S. 241. Eine der bedeutendsten Studien von Zmago Šmitek ist das Buch Mitološko izroþilo Slovencev: svetinje preteklosti, das 2004 von Študentska Založba in Ljubljana herausgegeben wurde.
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Wichtige Forschungen über Hexerei auf dem slowenischen Lande wurden 2006 von Mirjam Mencej in dem Buch Coprnice so me nosile: raziskava vaškega þarovništva na podeželju vzhodne Slovenije ob prelomu tisoþletja veröffentlicht.
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Seit 1999 wird die Sammlung Zakladnica slovenskih pripovedi, die eine Reihe von Erzählungen über Zwerge, Wehrwölfe, mythologische Wesen usw. umfasst, von Monika Kropej, Robert Dapit und Zmago Šmitek herausgegeben.
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forscht mündliche Überlieferungen über die mythische Landschaft und die Mythologie des Karstes. Nena Židov7 widmet sich der Erforschung der Volksmedizin, die öfter mit Aberglauben und Magie verbunden ist. Eine Reihe von populärwissenschaftlichen Publikationen, die sich mit Volkserzählungen oder Hexerei befassen oder Bräuche und Sitten aufzeichnen, wurde herausgegeben. Aberglauben ist ein zunehmend aktuelles Thema, das zu einer Menge neuen Forschungen, Publikationen und fachlichen Diskussionen geführt hat. Dabei handelt es sich besonders um das Sammeln von Erzählungen, das Untersuchen der mythologischen Überlieferung und die Erforschung des immateriellen Kulturerbes, während nur wenige Forscher auch materielle Elemente des Aberglaubens und Volksglaubens sammeln. Mit dem Sammeln von Gegenständen auf dem Gebiet des beweglichen sakralen Kulturerbes beschäftigt sich das Museum des Christentums in Slowenien. Auf dem Gebiet des beweglichen Kulturerbes des Aberglaubens dagegen gibt es Leerstellen, da es schon fast ein halbes Jahrhundert nicht speziell erforscht wurde und Gegenstände nur vereinzelt und unsystematisch gesammelt wurden. Diese Gegenstände kamen dann in Staats-, Regional-, Provinz- oder Ortsmuseen aufgrund ihrer primären Funktion, die in der Regel nicht abergläubisch war. Die Geschichte der Aberglauben-Sammlung im Slowenischen Ethnographischen Museum geht zurück bis ins Jahr 1963, als die erste Ausstellung über Aberglauben im Slowenischen Ethnographischen Museum stattfand. Damals wurde eine Sammlung zusammengestellt, die bis heute in fast ungeändertem Umfang erhalten ist. Das Material, einschließlich Fotografien, Gegenständen und Feldnotizen, ist von außerordentlicher Bedeutung für die Erforschung des Aberglaubens zu jener Zeit. Die Sammlung umfasst ganz Slowenien (Fotografien, Archivdokumente, Bücher). Die Feldnotizen und ein großer Teil der Fotografien entstanden auf Pohorje (Bachern), einem Gebirgszug in Nordostslowenien. Die Gegenstände stammen meistens aus Zentralslowenien, Štajerska (Untersteiermark, Nordostslowenien) und Bela
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Ein wichtiger Beitrag von Katja Hrobat zur Mythologie ist ihre Dissertation Ustno izroþilo o krajini Krasa v mitološkem in arheološkem kontekstu aus dem Jahr 2009.
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Nena Židov hat 2000 in der Fachzeitschrift Etnolog einen wichtigen Beitrag zur Volksmedizin und alternativen Medizin veröffentlicht: Ali so metode alternativne medicine v Sloveniji res nekaj povsem novega?
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Krajina (Weißkrain, Südostslowenien). Zeitlich reicht die Sammlung von Fotografien und Gegenständen in die Mitte des 20. Jahrhunderts, während das Archivmaterial auch Belege aus dem 19. Jahrhundert umfasst. Das gut dokumentierte Material und der Zustand der Sammlung haben mich dazu angeregt, mich mit der Erforschung des Aberglaubens aus Sicht der Ethnologie und Museologie zu befassen. Die erste Aufgabe, die ich mir stellte, war, das umfangreiche Material, das wir im Slowenischen Ethnographischen Museum bewahren, zu überprüfen und zu analysieren. Danach wurde mit dem systematischen Sammeln von Gegenständen des Aberglaubens und Volksglaubens angefangen und mit der Erweiterung der bestehenden Sammlung. Für jeden Gegenstand, der Teil der Museumssammlung werden soll, wird die soziale, übernatürliche, magische oder abergläubische Seite seiner Geschichte aufgezeichnet. Die Terminologie und Systematik der Museumsstücke verlangen von uns, dass jeder Gegenstand in eine der bestehenden Klassifizierungen eingeordnet wird. Das Slowenische Ethnographische Museum hat zehn verschiedene Abteilungen, die eine Vielzahl von Gegenständen bewahren, die außer ihrer ursprünglichen Funktion auch eine Aberglauben-Funktion innehaben. Nena Židov macht darauf aufmerksam, dass vieles von dem, »was die Ethnologie als Teil der Volksmedizin entdeckt und aufgezeichnet hat, häufig mit Aberglauben und Magie verbunden ist«8. Die heutige Aberglauben-Sammlung, die zur Abteilung für Geisteskultur gehört, ist nach der Anzahl der Gegenstände eher klein, aber wenn wir der oben erwähnten Tatsache Rechnung tragen, dass sich im Museum eine Menge Gegenstände befinden, die neben ihrer eigentlichen Funktion für ihre Besitzer auch übernatürliche Kräfte besaßen, so dürfen wir daraus schließen, dass der Bestand an abergläubischen Gegenständen weit umfangreicher ist.
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Nena Židov: Ali so metode alternativne medicine v Sloveniji res nekaj povsem novega? In: Etnolog 10 (2010) 61, S. 139-159, hier S. 139f.
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Abbildung 1: Wiege mit Pentagramm, 1890
Foto: Dokumentation des SEM.
Aberglaube hilft den Menschen, Dinge und Ereignisse zu erklären, die sie nicht verstehen. Viele glauben, dass ihnen ein bestimmter Gegenstand Glück bringen wird oder ihnen Unglück bringt. Es handelt sich um die Kraft des Gegenstands, die Gemeinschaften, Gruppen und Individuen als Teil ihres Kulturerbes sehen. Die immaterielle Bedeutung ist Teil des Materiellen und von höchster Bedeutung für die Einordnung des Gegenstands in den richtigen Kontext, der für die Interpretation unentbehrlich ist. Dabei müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf den Ursprung des Gegenstands und alle mit ihm verbundenen Informationen lenken. Bei der Beschäftigung mit dem Aberglauben darf man nicht jene Gegenstände vergessen, die außer ihrer ursprünglichen Funktion innerhalb der Bräuche und Sitten im Lebens- und Jahreskreis oder bei der Arbeit auch eine abergläubische Funktion haben (Palmsonntag-Sträuße zum Schutz vor Naturkatastrophen, Faschingsmasken, Inneneinrichtungen mit gezeichneten Symbolen, Volksarzneimittel, Werkzeuge der Landwirtschaft und Viehzucht usw.). Als Beispiel möchte ich die Palmsonntag-Sträuße näher erläutern: Die Gläubigen tragen am Palmsonntag ihre aus verschiedenen Zweigen gebundenen Sträuße in die Kirche zur Segnung. Nach der Messe stecken sie die gesegneten Sträuße oder einzelne Zweige hinter das Kruzifix, zwischen die Dachbalken, in die Felder oder an eine Wand in einem Nebengebäude; sie
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tun das mit der Absicht, die Bewohner und ihr Eigentum vor Brand, Blitz, Gewittersturm und anderen Naturkräften, die ihnen Schaden zufügen könnten, zu schützen. Abbildung 2: Am Palmsonntag werden Bündel in die Felder gesteckt, Veržej, 1959
Foto: Marija Jagodic, Dokumentation des SEM.
Gorazd Makaroviþ nennt dies Volksreligiosität, da es sich um fromme Vorstellungen und eine Kultpraxis handelt, die von der theologischen Doktrin und der kirchlichen Liturgie abweichen. Es sind laienhafte Veranstaltungen nichtkodifizierter Rituale, die mit der kirchlichen Lehre übereinstimmen können oder aber eigene Interpretation darstellen.9 Dabei sind sich die Gläubigen meistens nicht bewusst, dass sie mit diesen Bräuchen, die die Kirche nicht genehmigt hat, eigentlich gegen die Lehre der Kirche verstoßen. Sie leben im festen Glauben, dass sie die kirchlichen Vorschriften besonders intensiv beachten und sie in ihr Alltagsleben aufnehmen. Des Öfteren
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Baš (Hg.), Slovenski etnološki leksikon, S. 290.
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werden abergläubische Sprüche mit Zufügung heiliger Namen verstärkt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Wünsche erfüllt werden.10 Weil die Menschen Erfolg, Glück, Liebe, Gesundheit und anderes wünschen, glauben sie an verschiedene Hilfsmittel. Der Glaube an magische Kräfte oder die Quellen dieser Kräfte sind unter anderem:11 • • • • • • • •
Menschen (Zaubersprüche, Taten oder Handlungen), Pflanzen (Volksmedizin: z.B. Knoblauch, Erbsen, Heilpflanzen), Tiere (z.B. das Schild einer Schildkröte, Honigwaben, Käfer), Gegenstände für den Alltags- und Festtagsgebrauch (z.B. Sichel, Topf), Gegenstände, die speziell für den Gebrauch beim Aberglauben angefertigt werden (z.B. Spielkarten), übernatürliche Wesen (z.B. Hexen, der Teufel), natürliche Quellen (z.B. Minerale, Steine, Räume, Wasser, Sterne), Kunststoffe (z.B. Spielzeug, Schmuck).
D IE ABERGLAUBEN -S AMMLUNG DES S LOWENISCHEN E THNOGRAPHISCHEN M USEUMS Die Wurzeln des Slowenischen Ethnographischen Museums reichen in das Jahr 1821 zurück, als das Krainer Landesmuseum gegründet wurde. Damals wurde die ethnologische Thematik in ein Unterkapitel der Geschichte eingeordnet, das die Erforschung und Sammlung von Volksgeschichten, -märchen, -liedern und Beschreibungen von Bräuchen umfasste, die in Krain, zum Beispiel bei der Hochzeit, üblich waren. Mehr als 100 Jahre später, im Jahre 1923, wurde das Ethnographische Museum in Ljubljana gegründet. Stanko Vurnik12 beschäftigte sich bei der Museumsarbeit besonders mit den folgenden Themen: die Entwicklungsgeschichte der slowenischen Volksbaukunst und Volkskunst, wobei er den Volksaberglauben getrennt behan-
10 Hiller, Sve o praznoverju, S. 224. 11 Teilweise nach: Janez Bogataj/Vito Hazler/Zvezda Delak Koželj u.a.: Nesnovna kulturna dedišþina. Ljubljana 2005, S. 29. 12 Stanko Vurnik war Doktor der Kunstgeschichte und wurde ein Jahr nach der Gründung des Museums zum leitenden fachlichen und wissenschaftlichen Mitarbeiter ernannt.
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delte.13 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Forschungsarbeit von den sogenannten Orel Feldforschungsgruppen aufgenommen, die thematisch14 und örtlich verschiedenes Material sammelten. Die Gruppen wurden unter der Leitung von Dr. Boris Orel15, dem damaligen Direktor des SEM, organisiert. Vor Ort sammelten sie systematisch einen Monat lang Material. Die Aufzeichnung der Daten folgte teilweise Fragebögen, die für jedes Thema getrennt vorbereitet waren.16 Aberglaube gehörte zu den Aufzeichnungen der Geisteskultur, der Volksmedizin und des Volksglaubens. Die Erste Forschungsgruppe17 von 1948 fotografierte zum Beispiel eine Frau, die eine gesegnete Haselrute in den Händen hält und zu deren Füßen ein Topf mit Glut steht. (Die Haselrute wird in den Topf mit der Glut gesteckt und dann mit einem Blech bedeckt, um ihn vor Regen zu schützen. Alles zusammen unter die Traufe gestellt soll dadurch das Haus vor Gewittersturm geschützt sein.) Auch alle späteren18 Forschungsgruppen trafen immer wieder auf Zeugnisse des Aberglaubens, wie verschiedene Symbole auf Nebengebäuden oder Einrichtungsgegenständen, bei Trachten, Bräuchen und Sitten.
13 Bojana Rogelj Škafar: Slovenski etnografski muzej: sprehod skozi þas in le delno skozi prostor. Ljubljana 1993, S. 5-8. 14 Sie sammelten und dokumentierten Elemente nach der damaligen Einteilung in materielle, soziale und geistliche Kultur. 15 Boris Orel war von 1945 bis 1962 Direktor des Ethnographischen Museums. Auch nach seinem Tod wurde die geplante Arbeit fortgesetzt. 16 Barbara Sosiþ: Gradivo o ljudski medicini v zapisih terenskih ekip Slovenskega etnografskega muzeja. In: Etnolog 10 (2000) 61, S. 213-254, hier S. 213f. 17 Die erste Feldforschungsgruppe war in den Orten Šentjurij, Škocjan und Turjak in Dolenjska (Unterkrain, Südostslowenien) tätig. 18 Die letzte Forschungsgruppe hatte Nummer 33 und beendete ihre Arbeit 1984.
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Abbildung 3: Micka Škulj hält eine gesegnete Haselrute in den Händen und bei ihren Füßen steht ein Topf mit Glut gegen den Gewittersturm, Št. Jurij – Škocjan – Turjak, 1948
Foto: Milko Matiþetov, Dokumentation des SEM.
Die Quellen, Gegenstände und Aussagen über Aberglauben in Slowenien, die im SEM aufbewahrt werden, stammen aus der bäuerlichen Bevölkerung und dokumentieren, wie diese zu den übernatürlichen Kräften von Dingen, Wörtern und Handlungen Zuflucht nahm. Der Bauernstand wurde damals als eine Konstante gesehen, ohne einer sozialen Differenzierung Rechnung zu tragen. Vilko Novak hingegen kritisierte schon 1956, dass für die damalige Ethnografie der Bauer der einzige Träger der Volkskultur und der einzige Gegenstand der ethnografischen Forschung sei, und weist darauf hin, dass sich der Forschungsbereich auf alle Gesellschaftsschichten und -gruppen19 erweitern müsse.20 Vier Jahre später fragte sich Slavko Kremenšek,
19 Vilko Novak bezog sich in seinem Artikel besonders auf Städte, Siedlungen, Fischer, Jäger, Köhler, Handwerker usw.
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wann sich die Ethnologen mit den Problemen der Arbeiterkultur, der Volkskultur der Städte und der Industrieansiedlungen befassen würden.21 In einem Beitrag von 1967 erörtert Angelos Baš den Gegenstand der Ethnologie, die sich noch immer weitgehend nur mit bestimmten Gruppen von Menschen befasste. Doch die Lebensweise ist für ihn das Verhältnis aller Gesellschaftsschichten, aus denen ein Volk besteht.22 Erst am Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verlagerte sich das Schwergewicht der Erforschung der Lebensweise allmählich auf alle Gesellschaftsschichten. Wie man den schriftlichen Quellen entnehmen kann, wurde in Museumskreisen der Bereich des Aberglaubens, besonders der Sitten und Bräuche, schon seit zwei Jahrhunderten studiert. Die erste Ausstellung über Aberglauben wurde im Slowenischen Ethnographischen Museum23 im Jahre 1963 veranstaltet und trug den Titel Aberglaube in Slowenien: von der jüngeren Steinzeit bis zu den Amuletten des 20. Jahrhunderts. Ein gleichnamiger Katalog begleitete die Ausstellung, in dessen Einleitung der damalige Direktor des Museums, Boris Kuhar,24 schrieb, dass Kultur, Fortschritt und Wissenschaft mit Aberglauben nicht vereinbar seien. Er betonte, dass Menschen, die sonst kultiviert und gebildet sind (oder sich zumindest dafür halten), mit einer Fülle von kleinen, »modernen« Formen des Aberglaubens belastet seien und vergäßen, dass sie damit nicht weniger zurückgeblieben seien als jener Bauer25 vom Pohorje, der einen Gewittersturm
20 Vilko Novak: O bistvu etnografije in njeni metodi. In: Slovenski etnograf 9 (1956), S. 7-16, hier S. 10f. 21 Slavko Kremenšek: Nekaj pripomb. In: Glasnik Slovenskega etnološkega društva 3 (1960-1961) 2, S. 7f. 22 Angelos Baš: O predmetu etnologije. Teze za diskusijo. In: ýasopis za zgodovino in narodopisje 4 (1968), S. 273-277, hier S. 274. 23 Das Slowenische Ethnographische Museum befand sich damals in der Prešerenstraße 20 in Ljubljana. 24 Boris Kuhar war von 1962 bis 1987 Direktor des SEM. 25 Damals wurde der älteste ethnografische Film über Aberglaube, den wir im SEM haben, gedreht: Der letzte Zauberer auf Pohorje, 1963, recherchiert und gefilmt von Dr. Boris Kuhar, Produzent Slovenski etnografski muzej. 16 mm Film, schwarz-weiß, stumm, 0,75 Minuten.
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noch immer mit Feuer zu vertreiben versucht.26 Kuratorin der Ausstellung, die von 7. Dezember 1963 bis 15. Oktober 1964 stattfand, war Pavla Štrukelj. Ihre Absicht war, »einen bis heute wenig erforschten Bereich der Ethnologie – Volksglaube und Aberglaube – aufleben zu lassen«27. Der erste Teil der Ausstellung, der vorgeschichtliche Kulte zeigte, wurde von der Archäologin Vida Stare gestaltet. Es folgten Zaubersprüche, Kolomonov žegen (Koloman-Segen) und Duhovna bramba (Geistlicher Segen), Wahrsagerei, Arzneien aus den ersten Apotheken in Slowenien und Bücher über Volksheilkunde, Hexereiverfahren, Hexen im Volksglauben, Aberglaube in der Volksmedizin, rituelle Kuchen und Lebkuchen, Faschingsmasken, Votivgaben und abergläubische Objekte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Abbildung 4: Die erste Ausstellung über Aberglauben wurde 1963 im Slowenischen Ethnographischen Museum veranstaltet
Foto: Sreþo Kolar, Dokumentation des SEM.
26 Pavla Štrukelj/Vida Stare: Vraževerje na Slovenskem: od mlajše kamene dobe do amuletov 20. stoletja. Ljubljana 1963-1964, S. 4f. 27 Ebd., S. 3.
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Die meisten Gegenstände aus der Aberglauben-Sammlung des Slowenischen Ethnographischen Museums sind heute auf Schloss Bogenšperk28 ausgestellt. Dieser Bestand wurde teilweise nach dem Konzept der Ausstellung von Pavla Štrukelj aus dem Jahre 1963 eingerichtet. Die Ausstellung auf Schloss Bogenšperk wurde von der Kustodin Tanja Tomažiþ umgesetzt und am 8. Februar 1985 eröffnet. Sie erstreckt sich über zwei Räume im ersten Stock des Schlosses. Das Konzept der Ausstellung ist also fast 50 Jahre alt, aber dank einzelner Modernisierungen für die Besucher noch immer aktuell und interessant. Dennoch ist die Ausstellung weit entfernt von den heutigen Museumsstandards und sollte kritisch beurteilt und dringend überarbeitet werden. Die öffentliche Einrichtung Bogenšperk29 beabsichtigt jedoch, die Ausstellung bis zur vollständigen und programmatischen Renovierung des Schlosses sowie der Errichtung eines Valvasor-Zentrums auf dem Schloss30 beizubehalten. Johann Weichard Valvasor war Polyhistor und hat mit seinem Buch aus dem Jahre 1689 Die Ehre des Hertzogthums Crain, das er auf Schloss Bogenšperk schrieb, eine ausgiebige Quelle zum Studium des Aberglaubens hinterlassen. Unter den zahlreichen Auflistungen und Beschreibungen widmete er sich auch der Volksmedizin, den Heilpraktiken der Bauern in Gorenjska, Erzählungen über den Teufel und Hexen, Pflanzen und anderen Hilfsmitteln, um die Aufmerksamkeit und Liebe einer angebeteten Person anzuziehen. Die Aberglauben-Sammlung wurde 1963 mit dem systematischen Sammeln von Gegenständen für die Ausstellung begonnen. Die Objekte wurden im SEM in die Sammlung aufgrund ihrer Hauptfunktion im Aberglauben eingeordnet. Hauptsächlich handelt es sich um Gegenstände, die zum Hei-
28 Schloss Bogenšperk befindet sich in der Gemeinde Šmartno pri Litiji (Zentralslowenien). 29 Schloss Bogenšperk wird von der Öffentlichen Einrichtung Bogenšperk verwaltet. 30 2010 wurde ein Konzeptentwurf für die vollständige inhaltliche und programmatische Renovierung des Schlosses und die Errichtung eines Valvasor-Zentrums ausgearbeitet. Bei diesem Projekt arbeiten drei Nationalmuseen mit der Öffentlichen Einrichtung Bogenšperk zusammen: das Technische Museum Sloweniens, das Nationalmuseum und das Slowenische Ethnographische Museum sowie der Ethnologe Dr. Janez Bogataj. Der berühmte Polyhistor Johann Weichard Valvasor verbrachte 20 Jahre (1672-1692) seines Lebens auf Schloss Bogenšperk und schrieb hier das Buch Die Ehre des Hertzogthums Crain.
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len von Krankheiten, zum Schutz vor bösen Kräften, zur Zukunfts- und Schicksalsvorhersage angefertigt wurden. 1963 wurde von der Forschungsgruppe in Vitanje31 folgendes aufgezeichnet, fotografiert und aufgenommen: Wirtschaft, Volksbaukunde und Inneneinrichtung, Trachten, Nahrung, Verkehr sowie auch Aberglaube – als einzige Kategorie, die von dieser Gruppe getrennt aufgezeichnet und nicht in die Kanongebiete der Geisteskultur, Bräuche, Sitten und Volksmedizin eingeordnet wurde. Die Feldaufzeichnungen über Aberglauben wurden von Pavla Štrukelj verfasst. Inhaltlich beziehen sich die Aufzeichnungen auf übernatürliche Wesen (Hexen, škopnΩk – der Teufel usw.) sowie den Schutz vor Verzauberung, das Heilen von Tieren und Menschen (Bandwürmer »rasieren«, wie man Wacholderöl macht, die Übertragung von Krankheiten auf Bäume und Pflanzen usw.). Beschrieben sind Rituale, damit Kühe mehr Milch geben, Glücksbringer (der Strick eines Erhängten, das Handtuch, mit dem eine Leiche abgetrocknet wurde usw.) und Heilpflanzen. Weiter wurde notiert, wie man sich vor Hagel schützen kann (Feuer machen, Glocke läuten, eine umgedrehte Egge), aber auch, wie man Hagel macht, Wahrsagerei und wie Nachbarn einander Schaden zufügen können. Besonders interessant ist die Überlieferung, wie ein Mädchen das Herz ihres Angebeteten erobern kann (mit Brateiern, die es in einer Pfanne über ihren Rücken gleiten lässt und die dann vom Geliebten gegessen werden; oder das Mädchen wischt heimlich ihre Brüste mit einem Taschentuch ab und mit demselben Tuch später dem Jungen über die Stirn usw.). Erwähnt werden auch Bücher, mit den sich Menschen zum gewünschten Glück verhelfen oder Unglück abwenden können (Der Koloman-Segen, Traumbücher oder die Prophezeiungen von Sybilla Weiß). Im Laufe der Tätigkeiten der 20. Forschungsgruppe drehte Boris Kuhar in Spodnji Doliþ bei Vitanje den Film Der letzte Zauberer auf Pohorje, in dem Zauberer Karl Denovnik versucht, schönes Wetter herbeizuzaubern. In dieser Rekonstruktion, bei der er auf Wunsch der Forscher das Ritual vorführt, macht er Feuer in einem Topf und verjagt das Gewitter mit dem Rauch. 15 Jahre später drehte Kuhar in der Nähe von Žalec einen Film mit dem Titel Der Wünschelrutengänger von Gotovlje, in dem er das Suchen nach einer Wasserquelle mit einer Wünschelrute zeigt.
31 Die 20. Forschungsgruppe war vom 1. bis zum 14. Juli 1963 in Vitanje tätig. Vitanje befindet sich in Štajerska (Untersteiermark, Nordostslowenien).
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Abbildung 5: Der Zauberer Karl Denovnik versucht schönes Wetter herbeizuzaubern; er macht Feuer in einem Topf und verjagt das Gewitter mit dem Rauch, Pohorje, 1963
Foto: Boris Kuhar, Dokumentation des SEM.
Für die bestehende Aberglauben-Sammlung ist das Material, das während der Feldforschung auf Pohorje zusammengetragen wurde, von außerordentlicher Bedeutung: Erzählungen wurden aufgezeichnet, Fotodokumente erstellt, der älteste ethnografische Film über Aberglauben, den wir im SEM aufbewahren, wurde gedreht und zahlreiche Gegenstände wurden gesammelt. Dank der guten Dokumentation wurde immaterielles Kulturerbe bewahrt, das im gegebenen Fall von wesentlich höherer Bedeutung ist als die materiellen Museumsstücke. Nach der Zahl der Gegenstände ist die Aberglauben-Sammlung eher klein. Die Funktion der Gegenstände ist meistens das Heilen von Krankheiten (Schlangenlöwe, Knoblauchkette, Rasiermesser, Brettchen, Kerze), einen Bann brechen (Honigwabe), Schutz vor Drudenfuß (Stein), Zukunftsvorhersage (Wahrsagekarten, Bleigüsse), Amulette für Fahrer (Plüschtiere wie Steinbock, Katze oder Hund, Fuchsschwanz, Eselsschwanz usw.), Schutz vor den bösen Kräften (Tuchkreuz oder der Strick eines Erhängten). Die meisten Gegenstände wurden zwischen 1963 und 1965 erworben. Einige Gegenstände befinden sich in der Dauerausstellung des SEM »Zwischen Natur und Kultur«. Fotografien und Informationen über die Gegenstände sind in der Web-
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galerie der Website des Museums (http://www.etno-muzej.si) zugänglich, sowie auf der Website Europeana (http://www.europeana.eu/portal/). Abbildung 6: Ein Stein mit unregelmäßiger Form und natürlichem Loch wird im Schweinestall aufgehängt, um die Schweine vor Alpträumen zu beschützen
Foto: Marko Habiþ, Sammlungen des SEM.
Das Slowenische Ethnographische Museum hat auch ein reiches Museumsarchiv, das wichtige Bücher, Urkunden, Abbildungen, Bilder und Handschriften enthält. Für den Bereich des Aberglaubens gibt es besonders Zaubersprüche, Prophezeiungen, Haussegen, Anweisungen zum Heilen, Tobias-Segen sowie Beschreibungen von Sitten und Bräuchen des Lebenskreises (Geburt, Namenstag, Geburtstag, Taufe, Einberufung zur Armee, Hochzeit, Tod). Aufgrund seines Inhalts und ästhetischen Werts ragt ein Buch besonders heraus: Antikrist, eine Handschrift aus dem 19. Jahrhundert, die mit verschiedenen Abbildungen und Aufschriften Katastrophen vorhersagt. Gorazd Makaroviþ meint, dass es anhand dieser Katastrophen möglich war, das Kommen des Antichristen und das Ende der Welt zu prophezeien.32 Zum Museumsarchiv gehören auch zwei kleine Bücher: Kolomonov žegen (Koloman-Segen), veröffentlicht 1920 in Ljubljana, in dem einleitend geschrieben steht: »toje ta pravi inv tazieli Colemone-Shegen« (»dies ist
32 Gorazd Makaroviþ: Slovenci in þas: odnos do þasa kot okvir in sestavina vsakdanjega življenja. Ljubljana 1995, S. 265.
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der wahre und ganze Koloman-Segen«). Auf der ersten Seite des Buches steht, dass es 1321 auf Latein geschrieben wurde, später folgte eine deutsche Übersetzung und 1920 die slowenische Ausgabe. Weiter gibt es zwei Exemplare des Buches Duhouna branua (Geistlicher Segen), das 1740 in Köln gedruckt sein sollte. Es enthält Formeln und Zaubersprüche zum Schutz der Seele und Gebete, mit denen sich die Menschen vor äußeren Gefahren schützen können. Abbildung 7: Antikrist, eine Handschrift aus dem 19. Jh.
Abbildung 8: Der Koloman-Segen, 1920
Dokumentation des SEM.
Dokumentation des SEM.
D AS S AMMELN DES BEWEGLICHEN K ULTURERBES DES ABERGLAUBENS Gegenstände des Aberglaubens zu erwerben ist besonders schwierig, da die Menschen sie in der Regel noch immer gebrauchen. Ich glaube, dass für das Erwerben solcher Gegenstände die Situation noch die gleiche ist wie vor einem halben Jahrhundert, als die Ausstellung vorbereitet wurde. Nach den Einträgen in die Inventarbücher wurde damals die Hälfte der Gegenstände gekauft, das heißt, dass sie neu waren oder speziell für die Ausstellung an-
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gefertigt wurden. Das heißt aber auch, dass diese Gegenstände keine abergläubische Praxis hinter sich haben und nur zur Illustration dienten. Des Öfteren war der Aberglaube auch mit natürlichen Materialien, Pflanzen und Tieren verbunden. Zum Beispiel: Wenn ein Ochse die Klauenseuche hatte, trieb man ihn auf die Weide und schnitt an der Stelle, wo er stand, das Gras rund um die Klaue ab. Daraufhin wurde der Ochse davongetrieben und das abgeschnittene Gras in den Zaun gesteckt. Und der Ochse wurde wieder gesund.33 Die Frage ist, was man in diesem Fall bewahren soll und wie? Den Ochsen bestimmt nicht, das Gras auch nicht (es würde anderswo ja seine Funktion verlieren), und den Zaun auch nicht. Wir können viele abergläubische Praktiken nur dokumentieren (Fotografie, Audio- oder Video-Aufzeichnung, Beobachtungsprotokoll), um sie als immaterielles Kulturgut zu belegen. Bei der Aufbewahrung von natürlichen Materialien tierischer oder pflanzlicher Herkunft ist die Lebensdauer dieser Gegenstände trotz Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen fraglich. Wie kann man eine Kette aus 13 Knoblauchzehen bewahren, die Kinder um ihren Hals und zum Rücken gedreht trugen, damit Bandwürmer vertrieben würden? Trotz der idealen Aufbewahrungsbedingungen in den Lagerräumen des Museums ist die Lebensdauer dieser Kette befristet. Leider gibt es viele solcher Gegenstände, da die Menschen heute wie früher mit natürlichen »Hilfsmitteln« versuchen, Glück heranzuziehen oder Unglück zu vertreiben. Moderne Formen des Aberglaubens haben Wurzeln in der Vergangenheit, aber die Menschen haben sie den zeitgenössischen Bedürfnissen und ihren Lebensumständen angepasst. Wahrscheinlich gibt es immer mehr Aberglauben, da er dank der neuen Technologien und Kommunikationsmöglichkeiten immer zugänglicher wird. Früher wurden Kettenbriefe für Glück und Reichtum mit der Post versandt, heute »fliegen« sie in der Form von PowerPoint-Präsentationen von der einen E-Mail-Adresse zur anderen. Kettenbriefe zu verschicken ist heute ganz einfach: Man braucht nur etwa drei Befehle, um den Brief an eine bestimmte Zahl von Personen zu senden. Früher brauchte man viel mehr Mühe und Zeit (Kopien herstellen, die Briefe in die Umschläge stecken, Adressen schreiben), aber auch Geld (Papier, Umschläge, Briefmarken). Aberglaube in digitaler Form stellt ein Museum vor neue und unabsehbare Herausforderungen in der Art des Sammelns, der Doku-
33 Das Heilen eines Ochsen ist zusammengefasst nach den Feldnotizen von Pavla Štrukelj aus Vitanje aus 1963 (Feld 20, Heft 4).
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mentation und Aufbewahrung. Im angeführten Fall gibt es keinen Gegenstand, den man in den Lagerräumen des Museums aufbewahren könnte. Natürlich ist dies nur ein Segment des Aberglaubens, das sich immer mehr verbreitet und das wir nicht übersehen dürfen. Das Sammeln solcher Formen von Aberglauben ist bestimmt leichter und zugänglicher, aber auch unpersönlicher. Außer virtuellem Aberglauben begegnen wir täglich einer Menge immaterieller Formen unbestätigten Wissens, wie zum Beispiel bei alternativen Heilungsmethoden, Energiepunkten und Energieräumen. Schon aus der Vergangenheit können wir schließen, dass die Verbindungen mit übernatürlichen Kräften und das Ausführen von Handlungen und Ritualen (Hexensprüche, Heilungen, Bannsprüche, Zaubersprüche usw.) den Menschen von außerordentlicher Bedeutung waren. In modernen Fassungen gilt das auch für die Gegenwart. Unsere Aufgabe ist es daher, diese zeitgenössischen Formen zu erfassen, zu dokumentieren und ihre Umwandlungen zu verfolgen. Wie schon oben erwähnt, ist das Sammeln von abergläubischen Gegenständen, besonders aus dem persönlichen Umfeld, eine schwierige Aufgabe, da die Menschen diese Gegenstände brauchen und gebrauchen. Darüber hinaus ist der Aberglaube ein außerordentlich breites Gebiet, das man unmöglich begrenzen oder genau definieren kann, weil es immer neue Formen gibt und so eine besondere Herausforderung für das Museumswesen darstellt. Die immaterielle Kultur des Aberglaubens, verbunden mit einem Raum, einer Zeit, einer Gruppe, einer Gesellschaft oder mit Individuen, ist von außerordentlicher Bedeutung. Das Aufzeichnen und Dokumentieren dieses Erbes wird unser Wissen über den Stand und die Formen des Aberglaubens in Slowenien bereichern und uns wahrscheinlich zeigen, warum und wie Menschen zu übernatürlichen Kräften Zuflucht nehmen. Das Sammeln von Gegenständen als kulturelle Zeugnisse bleibt jedoch die Hauptaufgabe der Kustodinnen und Kustoden.
L ITERATUR Angelos Baš (Hg.): Slovenski etnološki leksikon. Ljubljana 2004. Angelos Baš: O predmetu etnologije. Teze za diskusijo. In: ýasopis za zgodovino in narodopisje 4 (1968), S. 273-277. Janez Bogataj/Vito Hazler/Zvezda Delak Koželj u.a.: Nesnovna kulturna dedišþina. Ljubljana 2005.
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Roberto Dapit/Monika Kropej: Zlatorogovi ýudežni vrtovi: Slovenske pripovedi o zmajih, belih gamsih, zlatih pticah in drugih bajnih živalih. Radovljica 2004. Enciklopedija Slovenije, Bd. 6. Ljubljana 1992. Helmut Hiller: Sve o praznovjerju. Zagreb 1989. Katja Hrobat: Šembilja na rimskih cestah. O mitološkem prežitku in arheološkem indikatorju na Krasu in v Brkinih. In: Annales 15 (2005) 2, S. 263-274. Slavko Kremenšek: Nekaj pripomb. In: Glasnik Slovenskega etnološkega društva 3 (1960-1961) 2, S. 7-8. Monika Kropej: Slovenian Charms between South Slavic and Central European tradition. In: Charms, Charmers and Charming. Basingstoke/New York 2009, S. 145-162. Niko Kuret: Prazniþno leto Slovencev: starosvetne šege in navade od pomladi do zime. Ljubljana 1989. Gorazd Makaroviþ: Slovenci in þas: odnos do þasa kot okvir in sestavina vsakdanjega življenja. Ljubljana 1995. Mirjam Mencej: Coprnice so me nosile: raziskava vaškega þarovništva v vzhodni Sloveniji na prelomu tisoþletja. Ljubljana 2006. Vilko Novak: O bistvu etnografije in njeni metodi. In: Slovenski etnograf 9 (1956), S. 7-16. Bojana Rogelj Škafar: Slovenski etnografski muzej: sprehod skozi þas in le delno skozi prostor. Ljubljana 1993. Marijan Smolik: Ljudske oblike vernosti pri Slovencih. In: Traditiones 19 (1990), S. 125-132. Barbara Sosiþ: Gradivo o ljudski medicini v zapisih terenskih ekip Slovenskega etnografskega muzeja. In: Etnolog 10 (2000) 61, S. 213-254. Zmago Šmitek: Mitološko izroþilo Slovencev. Ljubljana 2004. Pavla Štrukelj/Vida Stare: Vraževerje na Slovenskem: od mlajše kamene dobe do amuletov 20. stoletja. Ljubljana 1963-1964. Terenski zapisi Pavle Štrukelj: Vraževerje, kuhanje ogljaoglarstvo, Vitanje, 1963. Slovenski etnografski muzej, teren 20, zvezek 4. Janez Vajkard Valvasor: Slava vojvodine Kranjske, Bd. 1. Ljubljana 2009. Janez Vajkard Valvasor: Slava vojvodine Kranjske, Bd. 2. Ljubljana 2010. Nena Židov (Hg.): Med naravo in kulturo: vodnik po stalni razstavi Slovenskega etnografskega muzeja. Ljubljana 2008. Nena Židov: Ali so metode alternativne medicine v Sloveniji res nekaj povsem novega? In: Etnolog 10 (2010) 61, S. 139-159.
Glaube und Aberglaube Bilder einer Ausstellung P ETER K ELLER
E NTSTEHUNG
DER
AUSSTELLUNG
Ende 2007 übernahm das Dommuseum zu Salzburg eine Sammlung von Rosenkränzen, Medaillen, Amuletten und Andachtsbildchen aus dem Besitz der Edith-Haberland-Wagner-Stiftung als Leihgabe.1 Die Sammlung umfasst insgesamt etwa 2500 Objekte, darunter über 600 Rosenkränze, ein halbes Dutzend Fraisenketten, etwa 800 Medaillen, Anhänger und Kreuze, 180 Amulette verschiedenster Form, 650 Bildchen sowie eine Hausapotheke mit 250 weiteren solchen Objekten. Die Mehrzahl der Stücke stammt aus dem 17.-19. Jahrhundert und aus dem österreichischsüddeutsch-schweizerischen Raum. Einzelne Stücke sind älter oder aus anderen Ländern wie Italien und Spanien. Die Votive sind überwiegend moderne Abformungen historischer Stücke für den Kunstmarkt.
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Das Dommuseum gibt die Sammlung Anfang 2013 an die Edith-HaberlandWagner-Stiftung zurück. Das Museum hat die Sammlung immer als Dauerleihgabe betrachtet, sie demgemäß geordnet, untersucht, veröffentlicht und auch im Wert gesteigert. Die Stiftung hatte, sagt sie, nie eine Dauerleihgabe im Sinn, sondern sieht die Sammlung als Teil des Stiftungsvermögens, das in München zu halten sei.
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Die Sammlung war nur teilweise erfasst und geordnet. Sie wurde im Museum nummeriert, inventarisiert, fotografiert, geordnet und in neue sichere, handliche und kostengünstige Behälter gegeben. Von Beginn an stand fest, die Sammlung in Katalogen und Ausstellungen bekannt zu machen. Der großen Menge und der kurzen Zeit wegen wurde der Bestand jedoch geteilt. Die Rosenkränze und Gebetsketten waren Gegenstand einer ersten Ausstellung und eines Katalogs im Jahr 2008. Die Amulette, Medaillen und Andachtsbildchen wurden in einer zweiten Ausstellung und einem Katalog 2010 behandelt. Die Rosenkranzausstellung fand vom 9. Mai bis zum 26. Oktober 2008 statt. Der Katalog hat 344 Seiten und etwa 750 Abbildungen.
D ER K ATALOG Der Katalog der Medaillen, Amulette und Andachtsbildchen hat 448 Seiten und etwa 2500 Abbildungen. Abbildung 1: Katalog Amulette, Medaillen und Andachtsbildchen, 2010
Foto: Josef Kral, Dommuseum zu Salzburg; Grafik: Eric Pratter.
GLAUBE UND A BERGLAUBE
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Der Aufsatzteil beginnt mit einem einleitenden Text über »Frömmigkeit oder Aberglaube« von Ulrike Kammerhofer-Aggermann, die das Thema aus volkskundlicher Sicht behandelt. Leider fehlt das Gegenstück, ein Beitrag aus theologischer Sicht; der Autor sagte kurz vor der Drucklegung ab. Das längere Geleitwort des Erzbischofs schließt die Lücke zum Teil. Die folgenden Aufsätze widmen sich einzelnen Objektgattungen: Kreuzen, Medaillen, Hausapotheken, Zauberbüchern und Bauopfern. Vollständigkeit war hier nicht möglich; Breverl, Reisesegen und Segenszettel zum Beispiel werden gar nicht, der Benediktuspfennig nur in einem längeren Katalogartikel behandelt. Der Bestand an Grafik ist überhaupt zu disparat, um ihn für einen Überblick aufzuarbeiten; die Bildchen wurden, scheint es, nicht systematisch gesammelt. Um die Umstände der Verwendung von Amuletten zumindest anzudeuten, bietet eine Untersuchung über die Pest in Hallein 1634-1635 schließlich einen Einblick in Verbreitung und Bekämpfung einer Seuche im Land Salzburg im 17. Jahrhundert.2 Der Katalogteil gibt alle Medaillen, Anhänger, Kreuze, Amulette, Bildchen sowie die Hausapotheke wieder. Unter den Medaillen wurden zusätzlich die Stücke, die an den Rosenkränzen hängen, erfasst. Bearbeiter waren Heidi Pinezits, Reinhard Gratz und Josef Kral seitens des Museums sowie Christoph Mayrhofer für die Medaillen; erste Notizen kamen von Johannes Neuhardt. Das Ziel der Bearbeitung war eine vollständige Veröffentlichung des umfangreichen Bestands mit Fotos, Material, Maßen, Datierung, Lokalisierung, Zuschreibung, Beschreibung und Literaturhinweisen. Denn erstens sahen wir darin die Gegenleistung des Museums für die Leihgabe, zweitens schien uns ein aktuelles Handbuch zu fehlen. Das reiche Material der Samm-
2
Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010. Darin: Ulrike Kammerhofer-Aggermann: Eine gleichsam himmlische Medizin. Objekte vertrauensvoller Frömmigkeit oder unchristlicher Aberglaube?, S. 9-28; Ludwig Mödl: Das Kreuz als Amulett. Theologische und volkskundliche Aspekte eines Phänomens der religiösen Sachfrömmigkeit, S. 29-33; Elfriede Grabner: Die kleine »Hausapotheke«. Himmlische und irdische »Arzneimittel« zur Heilung irdischer Leiden, S. 44-47; Christoph Mayrhofer: Religiöse Medaillen in Glaube und Aberglaube, S. 34-43; Josef Kral: Magische Bücher, S. 57-61; Wilfried Schaber: Bauopfer, S. 62-65; Leopold Öhler: Die Pest in Hallein 1634-1635, S. 48-56; Peter Keller: Erklärung des Benediktuspfennigs 1664, S. 107-108, Kat.Nr. 5.68.
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lung der Edith-Haberland-Wagner-Stiftung sollte für die Forschung und für die Sammler erschlossen werden.3 Der Katalogteil ist nach Gattungen gegliedert: Medaillen & Anhänger/ Amulette/Hausapotheke/Grafik/Sonstiges. Die Medaillen (1178 Katalognummern) und die Grafik (650 Nummern) sind ikonografisch geordnet, beginnend mit Christus, Maria und den Heiligen. Vorbild für die Ordnung war das Lexikon für christliche Ikonografie: Christus Leben Christi Geburt und Anbetung … Gnadenbilder Augsburg …
Die Wallfahrtsbilder sind alphabetisch nach Orten vorgestellt. Die Amulette (177 Nummern) wurden wieder nach Typen unterteilt: Pestsegen/Reisesegen/Wehenamulette/usw. Die Hausapotheke (254 Nummern) wurde als Konglomerat belassen. Das Schränkchen ist zwar wohl kaum älter als 200 Jahre und manche Objekte wurden sicher erst im 20. Jahrhundert hinein gegeben. Doch schien es uns in diesem Fall wichtiger, das Ensemble zu dokumentieren.
3
Vgl. Leopold Schmidt: Sammlung religiöse Volkskunst mit der alten Klosterapotheke im ehemaligen Wiener Ursulinenkloster (= Veröffentlichungen des österreichischen Museums für Volkskunde 12). Wien 1967; Klaus Beitl: Volksglaube. Zeugnisse religiöser Volkskunst. Salzburg/Wien 1978, München 1981; Nina Gockerell: Bilder und Zeichen der Frömmigkeit. Sammlung Rudolf Kriss. Eine Veröffentlichung aus Anlaß der Einrichtung der Sammlung Rudolf Kriss im Herzogschloß Straubing als Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums. München 1995; Hedi Heres: Zuflucht zum Glauben – Flucht in den Aberglauben (= Kulturgeschichte des Dachauer Landes, Bd. 8). Dachau 1997; Nina Gockerell: Glaube und Bild. Sammlung Rudolf Kriss (= Kultur im Landkreis Passau 15). Passau 2009.
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Abbildung 2: Christus- und Marienmedaillen, Schmuckseite des Katalogs, Bild der Projektion
Foto: Josef Kral, Dommuseum zu Salzburg.
K ONZEPT
DER
AUSSTELLUNG
Die Ausstellung der Medaillen, Amulette und Andachtsbildchen fand vom 21. Mai bis zum 26. Oktober 2010 statt. Das Ziel war eine Vorstellung des Bestands und zugleich eine Einordnung in historische Zusammenhänge. Das Konzept hatte vier Voraussetzungen: 1. Menge der Objekte Die fast 2000, teilweise sehr kleinen Objekte lassen sich nicht einzeln ausstellen und beschriften und auch nicht betrachten. Wenn ein Besucher jedes Objekt bloß eine halbe Minute ansähe, wäre er 17 Stunden in der Ausstellung. Herausragende Stücke sollten daher in Auswahl mit Beschriftung gezeigt werden, die Masse der Objekte aber geballt, ohne Beschriftung. 2. Schwerpunkte und Lücken Der Bestand umfasst vor allem Medaillen und Anhänger sowie Grafik. Es fehlen Wettersegen, Votive, Votivbilder sowie generell Malerei und Skulptur.
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3. Kirchliches Museum Das Dommuseum ist ein kirchliches Museum, daher sollten die Objekte in einen kirchengeschichtlichen und theologischen Zusammenhang gestellt werden. Als Titel lag »Glaube und Aberglaube« nahe. Auch wenn schon andere Bücher ihn tragen, benennt er griffig die beiden sich durchdringenden Sphären, denen die Objekte zuzuordnen sind.4 4. Kurator Der Kurator der Ausstellung und Autor dieses Beitrags hat keine ethnologische, sondern eine kunsthistorische und museologische Ausbildung. Zwei jüngere Ausstellungen dienten als Vergleich, das Tiroler Volkskunstmuseum und die Sammlung Rudolf Kriss in Kloster Asbach. Das Tiroler Volkskunstmuseum wurde im Mai 2009 wieder eröffnet. Die neue Dauerausstellung wurde von der Schweizer Agentur Steiner Sarnen konzipiert.5 Von den vier Abteilungen des Museums sind in unserem Zusammenhang zwei von Interesse, weil sie vergleichbare Objekte enthalten und sie in einen inhaltlichen Zusammenhang stellen. Die eine, »Das Pralle Jahr«, ist im ehemaligen Kreuzgang untergebracht und als Rundgang durch das Jahr angelegt, mit allen jahreszeitlichen Arbeiten und Festen. Die andere, »Das prekäre Leben«, geht von der fiktiven Biografie einer Magd aus und ordnet das Material den Lebensphasen zu, quasi von der Wiege bis zur Bahre. Für beide Ansätze wäre der Bestand der Edith-Haberland-WagnerStiftung jedoch zu lückenhaft, es fehlen Textilien, Möbel usw.
4
Josefine Nast: Glaube und Aberglaube im europäischen Raum. Wien 1978; Alfred Läpple (Hg.): Glaube und Aberglaube. München 1983; Peter Dinzelbacher (Hg.): Glaube und Aberglaube. Aspekte der Volksfrömmigkeit im Hohen und Späten Mittelalter (Wissenschaftliche Studientagung, Weingarten [Oberschwaben], 27.-30. März 1985). Paderborn/Wien 1990; Hartmut Zinser: Glaube und Aberglaube in der Medizin (= Berliner Medizinethische Schriften 43). Dortmund 2001 u.a.m.
5
Online: http://www.tiroler-landesmuseum.at/html.php/de/volkskunstmuseum; http:// www.steinersarnen.ch.
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Abbildung 3: Raum der Ausstellung Das Prekäre Leben im Tiroler Volkskunstmuseum
Foto: Watzek, Tiroler Volkskunstmuseum.
Die Sammlung Kriss des Bayerischen Nationalmuseums war von 1995 bis 2005 in Schloss Straubing ausgestellt. Seit 2009 ist sie in Kloster Asbach untergebracht.6 Die Ausstellungsgestaltung wurde aus Straubing übernommen, ist also schon 15 Jahre alt. Sie gliedert nach Funktion und Ikonografie: Andacht/Schutz- und Segensmittel/Christus/Heilige usw. Eine solche Gliederung schien mir eher einem Katalog angemessen als einer Ausstellung. Die Einordnung der Objekte in einen Kontext – die »Resozialisierung« der Museumsobjekte – fehlte mir.
6
Gockerell, Bilder und Zeichen; dies., Glaube und Bild; dies.: In die Jahre gekommen – Vom konstruktiven Umgang mit dem Erbe. Die Volkskundeabteilung des Bayerischen Nationalmuseums. Gedanken zu einer Neukonzeption im 21. Jahrhundert. In: Monika Kania-Schütz (Hg.): In die Jahre gekommen? Chancen und Potenziale kulturhistorischer Museen (Tagung, Freilichtmuseum Glentleiten, 28.-30. Mai 2008). Münster u.a. 2009, S. 113-121; mein Dank geht an den Kulturreferenten des Landkreises Passau, Dr. Wilfried Hartleb, der mir das Museum in der Winterpause 2009/2010 geöffnet hat.
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Den angestrebten interdisziplinären Ansatz verfolgt vor allem Christoph Kürzeder in seinem Buch über die sogenannten heiligen Dinge. Es beschäftigt sich unter kulturanthropologischem, theologischem und ethnologischem Blickwinkel mit der religiösen Kleinkunst, mit der liturgischen Handlung der »Segnung« und dem Begriff der »Sakramentalie«.7 Denn die Sakramentalien – der Begriff stammt erst aus dem 19. Jahrhundert – haben in diesem Zusammenhang eine Schlüsselstellung. Sie sind zwar geweiht und dadurch kirchlich anerkannt. Sie ahmen »in gewisser Weise« die Sakramente nach (CIC 1917, can. 1144) und erfüllen das »Verlangen nach ›heiliger Materie‹, nach materieller Absicherung religiöser Grundbedürfnisse« (Meßner). Aber anders als die Sakramente sind sie nicht von Christus eingesetzt und spenden keine Gnade, sondern fördern die »zeitliche und leibliche Wohlfahrt« (Braun).8 Die kirchliche Sichtweise schließt allerdings ein magisches Verständnis des Betrachters nicht aus, sodass sich die »heiligen Dinge« auch rezeptionsästhetisch deuten lassen.
G ESTALTUNG
DER
AUSSTELLUNG
Das Dommuseum verfügt über drei aufeinander folgende Ausstellungsräume von je ca. 100 m2. Die Ausstellung sollte daher den Bestand in drei Gruppen gliedern. Chronologisch sollte sie den Bogen vom Hochbarock bis zur Aufklärung spannen, mit Blick auf Salzburg also von der Zeit des Erzbischofs Max Gandolf von Kuenburg (1668-1687) bis zu Hieronymus Colloredo (1772-1803/1812). Die drei Räume erhielten die Überschriften: »Krankheiten und Katastrophen«, »Heil und Heilung« sowie »Heil und Segen«. Jeder Raum enthielt einen Teil des Bestands, zusätzliche Objekte, die den Bestand in einen inhalt-
7
Christoph Kürzeder: Als die Dinge heilig waren. Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Regensburg 2005.
8
Joseph Braun: Sakramente und Sakramentalien. Eine Einführung in das römische Rituale. Regensburg 1922, S. 13-14; Max Hofer. In: Johannes Amrein u.a.: Sakramente und Sakramentalien. Fragen u. Antworten. Freiburg i. Ue. 1973, S. 48ff.; Dorothea Greiner: Segen und segnen. Eine systematisch-theologische Grundlegung. Stuttgart 1998, S. 120-125; Reinhard Meßner: Sakramentalien. In: Theologische Realenzyklopädie 1998, Bd. 29, S. 648-663.
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lichen Kontext stellten, sowie die Reproduktion eines historischen Buchs zum Blättern (»Hands-on«). Einführungstexte erläuterten die Überschrift und den Kontext. 1. Krankheiten und Katastrophen Der erste Raum zeigte die Zusammenhänge, in denen man Amulette und geweihte Dinge einsetzt, die Unsicherheit der Lebensverhältnisse, die Mittel der Für- und Vorsorge sowie des Schutzes. Aus der Sammlung waren Amulette und Segenszettel zu sehen, als zusätzliche Objekte unter anderem Pestordnungen Max Gandolfs, ein Bauopfer, Votivbilder, eine Wiege und Grabkreuze. Abbildung 4: Blick in den Raum Krankheiten und Katastrophen
Foto: Josef Kral, Dommuseum zu Salzburg.
Als Hands-on war ein handschriftliches Zauberbuch reproduziert (Original auf Abb. 5).9
9
Peter Keller. In: Glaube und Aberglaube 2010, S. 68-81, Kat.Nr. 5.1.-5.25.; Josef Kral: Sammelband mit Segen und Gebeten, ebd., S. 432, Kat.Nr. 10.16.
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Abbildung 5: Zauber- und Segensbüchlein, Schmuckseite des Katalogs, Bild der Projektion
Foto: Josef Kral, Dommuseum zu Salzburg.
2. Heil und Heilung Der zweite Raum war der Alters- und Krankenversorgung des 17.-18. Jahrhunderts gewidmet sowie den Themen Fürbitte und Wallfahrt. Hier waren die Medaillen, die Wallfahrtsbildchen sowie die Hausapotheke ausgestellt, dazu unter anderem ein Gemälde »Christus als Apotheker«, Kopien von Gnadenbildern und Stempel zur Prägung von Wallfahrtsmedaillen. Die Hands-onReproduktion war ein Mirakelbuch von Maria Plain bei Salzburg.10
10 Peter Keller. In: Glaube und Aberglaube 2010, S. 82-92, Kat.Nr. 5.26.-5.48., bes. S. 88, Nr. 5.39; Virgilius Faber: Gecrönter Marianischer Granat-Apfel/Das ist: Auserlesene Gnaden-Geschichten/Der presthafften Welt von Maria-Trost auf dem Plain nechst Saltzburg mitgetheilet. Salzburg: Johann Baptist Mayr 1697.
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Abbildung 6: J. F. Pereth, Fürbitte der hll. Maria und Barbara für Insassen des Johannesspitals, um 1695, Salzburg, Johannesspitalkirche
Foto: Josef Kral, Dommuseum zu Salzburg.
3. Heil und Segen Im dritten Raum bildeten Sakramente und Sakramentalien den Kontext. Die Sammlung vertraten noch einmal Medaillen und Wallfahrtsbildchen. Erläuternd kamen unter anderem eine Monstranz, ein kleines Weihwasserbecken und ein Agnus Dei hinzu. Ein Salzburger Rituale stand für die offiziellen kirchlichen Benediktionen, ein Segensbuch von 1728 für die bis zur Aufklärung geduldeten, zahlenmäßig und inhaltlich weit darüber hinausgehenden Weihe- und Bannformeln. Colloredos Hirtenbriefe drehen sich mehr um liturgische und seelsorgerische Fragen und gehen nicht in Einzelheiten,
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deshalb lag zum Blättern eine andere aufklärerische Schrift gegen den Aberglauben auf.11 Die herausragenden Einzelstücke lagen in Vollglasvitrinen, die Masse hing in Plexiglaswänden, in denen sie gut sichtbar, aber ohne Beschriftung von allen Seiten betrachtet werden konnten. Die Buchreproduktionen lagen auf hohen Lesepulten. Eine Projektion zeigte zudem die schönsten Stücke in Vergrößerung (Abb. 2, 5). Nachträglich wurden, auf Wunsch von Besuchern, zwei Saaltexte mit Erklärungen einzelner Objektgattungen eingefügt. Erläutert wurden Fraisbrief und -kette, Neidfeige, Drudenmesser, Pestsegen, Wettersegen, Benediktuskreuz und -pfennig, Caravacakreuz, Scheyerer Kreuz, Ulrichskreuz und Breverl. Die Typologie, die ich hatte vermeiden wollen, kam durch die Hintertür also doch wieder in die Ausstellung. Die Ausstellung hatte in fünfeinhalb Monaten 21.615 Besucher. Vom 23. November 2010 bis zum 20. Februar 2011 war sie außerdem in verkleinerter Form im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum in München zu sehen. Über 500 Kataloge wurden verkauft, auch nach der Ausstellung und außerhalb Österreichs. Bisher erschienen zwei Rezensionen des Katalogs, die vor allem auf den Aufsatz über Bauopfer eingehen.12
11 Peter Keller. In: Glaube und Aberglaube 2010, S. 93-113, Kat.Nr. 5.49.-5.75., bes. S. 93-96, Kat.Nr. 5.49.-5.50., S. 109-110, Kat.Nr. 5.69.-5.70.: Rituale Salisburgense Ad usum Romanum accomodatum […]. Salzburg 1686; Gelasius di Cilia: Locupletissimus Thesaurus continens Varias & selectissimas Benedictiones, Conjurationes, Exorcismos, Absolutiones, Ritus, Administrationem Sacramentorum, aliorumque Munerum Pastoralium, ad utilitatem Christi fidelium, & commodiorum usum Parochorum, omniumque Sacerdotum […]. Augsburg 3
1728; Sr. Hochfürstl. Gnaden […] Hieronymus Joseph Erzbischofs und des H.
R. Reichs Fürsten zu Salzburg […]: Hirtenbrief auf die am 1ten Herbstm. dieses 1782ten Jahrs […]. Salzburg 1782; Ferdinand Sterzinger: Bemühung den Aberglaube zu stürzen. München 1785. 12 Roland Halbritter. In: Der Schlern 85 (2011), S. 76-79; Wolfgang Brückner. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2011), S. 258-261.
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L ITERATUR Klaus Beitl: Volksglaube. Zeugnisse religiöser Volkskunst. Salzburg/Wien 1978, München 1981. Joseph Braun: Sakramente und Sakramentalien. Eine Einführung in das römische Rituale. Regensburg 1922. Wolfgang Brückner. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2011), S. 258-261. Peter Dinzelbacher (Hg.): Glaube und Aberglaube. Aspekte der Volksfrömmigkeit im Hohen und Späten Mittelalter (Wissenschaftliche Studientagung, Weingarten [Oberschwaben], 27.-30. März 1985). Paderborn/Wien 1990. Nina Gockerell: Bilder und Zeichen der Frömmigkeit. Sammlung Rudolf Kriss. Eine Veröffentlichung aus Anlaß der Einrichtung der Sammlung Rudolf Kriss im Herzogschloß Straubing als Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums. München 1995. Nina Gockerell: Glaube und Bild. Sammlung Rudolf Kriss (= Kultur im Landkreis Passau 15). Passau 2009. Nina Gockerell: In die Jahre gekommen – Vom konstruktiven Umgang mit dem Erbe. Die Volkskundeabteilung des Bayerischen Nationalmuseums. Gedanken zu einer Neukonzeption im 21. Jahrhundert. In: Monika KaniaSchütz (Hg.): In die Jahre gekommen? Chancen und Potenziale kulturhistorischer Museen (Tagung, Freilichtmuseum Glentleiten, 28.-30. Mai 2008). Münster u.a. 2009, S. 113-121. Elfriede Grabner: Die kleine »Hausapotheke«. Himmlische und irdische »Arzneimittel« zur Heilung irdischer Leiden. In: Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 44-47. Dorothea Greiner: Segen und segnen. Eine systematisch-theologische Grundlegung. Stuttgart 1998. Roland Halbritter. In: Der Schlern 85 (2011), S. 76-79. Hedi Heres: Zuflucht zum Glauben – Flucht in den Aberglauben (= Kulturgeschichte des Dachauer Landes, Bd. 8). Dachau 1997. Max Hofer. In: Johannes Amrein u.a.: Sakramente und Sakramentalien. Fragen u. Antworten. Freiburg i. Ue. 1973. Ulrike Kammerhofer-Aggermann: Eine gleichsam himmlische Medizin. Objekte vertrauensvoller Frömmigkeit oder unchristlicher Aberglaube? In:
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Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 9-28. Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010. Peter Keller: Erklärung des Benediktuspfennigs 1664. In: ders. (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 107-108. Josef Kral: Magische Bücher. In: Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 57-61. Christoph Kürzeder: Als die Dinge heilig waren. Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Regensburg 2005. Alfred Läpple (Hg.): Glaube und Aberglaube. München 1983. Christoph Mayrhofer: Religiöse Medaillen in Glaube und Aberglaube. In: Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 34-43. Reinhard Meßner: Sakramentalien. In: Theologische Realenzyklopädie 1998, Bd. 29, S. 548-663. Ludwig Mödl: Das Kreuz als Amulett. Theologische und volkskundliche Aspekte eines Phänomens der religiösen Sachfrömmigkeit. In: Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 29-33. Josefine Nast: Glaube und Aberglaube im europäischen Raum. Wien 1978. Leopold Öhler: Die Pest in Hallein 1634-1635. In: Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 48-56. Wilfried Schaber: Bauopfer. In: Peter Keller (Hg.): Glaube und Aberglaube. Amulette, Medaillen & Andachtsbildchen. Salzburg 2010, S. 62-65. Leopold Schmidt: Sammlung religiöse Volkskunst mit der alten Klosterapotheke im ehemaligen Wiener Ursulinenkloster (= Veröffentlichungen des österreichischen Museums für Volkskunde 12). Wien 1967. http://www.steinersarnen.ch. http://www.tiroler-landesmuseum.at/html.php/de/volkskunstmuseum. Hartmut Zinser: Glaube und Aberglaube in der Medizin (= Berliner Medizinethische Schriften 43). Dortmund 2001.
Musealisierte Sorgen Ein Werkbericht K ARL C. B ERGER
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Nach 16 Monaten des Umbaus wurde das Tiroler Volkskunstmuseum am 18. Mai 2009 – fast auf den Tag genau 80 Jahre, nachdem die Sammlung im ehemaligen Franziskanerkloster in der Innsbrucker Universitätsstraße erstmals präsentiert wurde – wieder für das Publikum eröffnet. Die baulichen Maßnahmen sollten eine großzügigere Gestaltung des Eingangsbereichs, eine klarere Strukturierung der Ausstellungsteile sowie eine engere Verbindung zwischen Museum und der unmittelbar daneben gelegenen Hofkirche bringen. Das wissenschaftliche Grundkonzept wurde von Herlinde Menardi und Karl C. Berger und unter wegweisender und nachhaltiger Mitarbeit von Martin Scharfe entwickelt. Letzterer formulierte unter anderen die Grundthesen zu den Ausstellungsbereichen. Für die Gestaltung und Inszenierung der Neuaufstellung konnte die Firma Steiner Sarnen Schweiz gewonnen werden. Ausstellungsthema, ausgewählte Objekte sowie Präsentation sollten sich gegenseitig befruchten. Solchermaßen sollte der Museumsbesuch eindrucksreich, nachhaltig und erfahrungsbereichernd werden. Die Festlegung auf die einzelnen Ausstellungsteile geschah insbesondere, aber nicht nur im Hinblick auf die Stärken der vorhandenen Sammlung von etwa 35.000 inventarisierten Objekten. Etwa 3000 m² Ausstellungsfläche standen zur Verfügung. Das Grundkonzept sah sieben Themenschwerpunkte vor. Die eingebauten Stuben im 1. und 2. Obergeschoss
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von der Gotik bis zum Rokoko blieben äußerlich unverändert – wenngleich auch hier neue Akzente betont wurden. Als weitere Themenbereiche wurden definiert: • • • • •
»Das Pralle Jahr« »Das Prekäre Leben« »Erb-gut« (eine Studiensammlung zu den Themenbereichen Hausindustrie, Handwerk, Hochzeitsgut und Erben) »Schein und Sein« (Tracht) »Miniaturen des Evangeliums« (Krippen)
In diese Kontexte eingebettet sind zahlreiche Objekte, die selbstredend einst nach vollkommen anderen Kriterien gesammelt wurden. Im Gegensatz zu einigen anderen volkskundlichen Museen zeichnet sich das Werden des Tiroler Volkskunstmuseums durch eine Entwicklungsgeschichte aus, die keineswegs linear verlief. Dieser Werdegang erklärt auch die Schwerpunkte der Sammlung, ihr Potenzial sowie ihre Problematik. Vor allem jene Objekte, die heute mit Magie oder Aberglauben umschrieben werden, kamen mit einiger Verspätung zur Grundsammlung dazu und spielten in der Erstaufstellung nur eine marginale Rolle. In der gegenwärtigen Aufstellung wird ihnen im »Prekären Leben«, wo die Religiosität des Menschen unter den Aspekten Schutz, Sorge und Ängstlichkeit angeschienen wird, dagegen ein größerer Platz eingeräumt. Das »Prekäre Leben« im 2. Obergeschoss ist wesentliches Filetstück des Museums. Im folgenden Beitrag soll versucht werden, einige Kontexte darzulegen. Es geht um die Ideen, aus denen das »Prekäre Leben« geboren wurde. Doch nicht nur die aktuelle Schau, auch der historische Kontext der Objekte im Museum soll erklärt werden. Gerade Letzteres ist Schlüssel für ein Verständnis, weshalb es manche Relikte in die Sammlung des Tiroler Volkskunstmuseums geschafft haben und weshalb manches nicht gesammelt wurde oder nicht gesammelt werden konnte.
N EUES ALTES Das Werden hin zum Tiroler Volkskunstmuseum fußt in seiner Frühzeit auf der Stimmungslage des langsam zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts. Der Dunst, der aus einer kulturpessimistischen und oft antisozialistischen Sicht-
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weise auf Industrialisierung und Mechanisierung genährt wurde, führte 1880 in Innsbruck zur Gründung des »Tiroler Gewerbevereins«. Die 32 hauptsächlich liberal gesinnten Gewerbetreibenden wollten zur »Hebung und Förderung des Gewerbewesens in Tirol« beitragen. Dazu sollte auch ein permanentes »Ausstellungslokal« geschaffen sowie Ausstellungen »gewerblicher und kunstgewerblicher Erzeugnisse« organisiert werden.1 Das 40-jährige Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Josef nahm der Verein acht Jahre später zum Anlass, ein Gewerbemuseum zur »Vorführung mustergültiger gewerblicher Erzeugnisse kirchlicher und profaner Richtung aus alter und neuer Zeit« errichten zu wollen.2 Die Umsetzung dieses Vorhabens aber stockte – auch, weil konservative Abgeordnete im Tiroler Landtag skeptisch auf die Machenschaften des liberalen Vereins blickten. Als die Sammlung 1903 in den Besitz der Innsbrucker Handelskammer überging und das zukünftige Aufstellungsprojekt in »Museum für Volkskunst und Gewerbe« umbenannt wurde, wurden vermehrt Objekte aus dem Hausgewerbe und der Hausindustrie, des »alttirolischen Kunstgewerbes« sowie bäuerliche Geräte – allerdings nur, sofern sie reich verziert waren – angekauft. Der Kunsthistoriker Karl von Radinger (1869-1921), der mit der Betreuung der bisher zusammengetragenen Objekte und der Erweiterung der Sammlung beauftragt wurde, plädierte für ein darüber hinausgehendes Sammlungs- und Ausstellungsprogramm. Nach seinen Plänen sollte ein Museum für tirolische Volkskunde geschaffen werden, welches neben Aspekten der historischen Wohn- und Baukultur oder Trachten auch ein »Bauernkirchl« sowie einen »Saal der Sittengeschichte« mit »Dokumente[n] des Aberglaubens« berücksichtigen sollte. Obwohl sein Ansinnen ungehört blieb, kamen durch ihn auch Objekte in den Bestand, die der »Volksreligion« zugerechnet wurden, wie Votiv- oder Hinterglasbilder, einzelne Amulette oder andere Schutzmittel. Der Erwerb war dabei unsystematisch, zumeist spielte der Zufall eine Rolle oder die Objekte kamen im Konvolut mit anderen in die Sammlung. Als 1910 in einer Innsbrucker Fabrikhalle eine Depotaufstellung eingerichtet wurde, war es ausgewählten Besuchern erstmals möglich, die zusammengetragenen Altertümer zu bestaunen. Die Objekte wurden thema-
1
Vgl. Wolfgang Meixner: Zur Entstehung des »Tiroler Volkskunstmuseums« in Innsbruck. Innsbruck 1989, S. 58-59 (unveröffentlichte Diplomarbeit).
2
Mitteilungen des Tiroler Gewerbevereins, 7. Jg., Nr. 1/2, 1890, S. 9.
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tisch sortiert, äußerst platzsparend und doch unter ästhetischen Gesichtspunkten präsentiert. Einige dieser Objekte lassen sich heute im Prallen Jahr finden, so etwa ein mit 1700 datiertes Votivbild mit der Darstellung des hl. Sebastian.3 Trotz eines auf die Volkskunde gerichteten Blicks, waren damals Qualität und Alter der Stücke offenbar noch immer zentral. Abbildung 1: Depotaufstellung religiöser Objekte (u.a. Votivbilder zum hl. Sebastian) aus der Sammlung des Museums für Volkskunst und Gewerbe, 1910
Foto: TVKM.
Noch fast 20 Jahre sollte es dauern, bis eine endgültige Lösung für die Sammlung gefunden wurde. Sie wurde zwar allseits gelobt, doch im Grunde wusste keiner so recht, was mit ihr geschehen sollte. Schließlich überließ die Handelskammer die Sammlung dem Land Tirol – doch musste der einst ungeliebten musealen Gabe erst ein lukrativer Grundbesitz, die sogenannten Löwenhausgründe, als Mitgift beigesteuert werden, um das Wohlwollen der Politik zu erhalten. Im Übergabevertrag wurde vereinbart, dass ein »der Öffentlichkeit zugängliches Museum«4 errichtet werden müsse. Josef Ring-
3
TVKM, Inv. Nr. 11939.
4
Übergabevertrag vom 30.06.1926, Archiv TVKM, Zl. 650/27.
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ler und Vinzenz Oberhammer, beides Kunsthistoriker, wurden mit der Einrichtung des Museums im dafür großzügig umgebauten Theresianum neben der Innsbrucker Hofkirche beauftragt. Beide legten großen Wert auf die ästhetische Wirkung der Gegenstände, wie dies in kunsthistorischen Präsentationen üblich war. Am 15. Mai 1929 wurde das »Tiroler Volkskunstmuseum«, wie es nunmehr hieß, eröffnet. Es sollte, so die Eigenwerbung, das »Größte Heimatmuseum der deutschen Alpenländer« und »Ein herrliches Denkmal deutscher Bauernkultur aus Nord- und Südtirol« sein. Im Hinblick auf das gewerbliche Werden orientierten sich viele Räume an der Materialität der Objekte: So richteten Ringler und Oberhammer beispielsweise einen Eisen- oder einen Kupfersaal ein. Doch die Besucher konnten neben einer Trachtenschau auch einen großen und einen kleinen »Volkskundesaal« bewundern. Im Bereich »Volkskunde« integriert waren auch einige Votivbilder, darunter jenes des hl. Sebastian. Die erste Aufstellung des Museums berücksichtigte zwar einige Anregungen Radingers, doch wurden die Objekte nicht als Ergebnis eines historischen Prozesses gezeigt, wie dieser es vorgeschlagen hatte. Das Gezeigte war im Wesentlichen eine Präsentation zahlreicher unter ästhetischen Kriterien ausgewählter Objekte der »Volkskunst«, des »Kunsthandwerks« sowie der »Hochkunst«. Diese Bandbreite machte große Parallelitäten zum Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum deutlich. Bereits ein Jahr nach der Eröffnung kam es deshalb zu einem umfangreichen Objekttausch. Im Gegenzug für die Überlassung von gotischen und barocken Plastiken, Skulpturen und Bildern wurden kunstgewerbliche und zünftische Objekte, vor allem aber fast die gesamte volkskundliche Sammlung des Ferdinandeum, in den Bestand des Volkskunstmuseums integriert – darunter zahlreiche den Stichworten Magie und Aberglaube zuzurechnende Kleinobjekte: ein Malachitanhänger, einige Wehenfläschchen und Wehenkreuze, Heilige Längen, ein Model für Fatschenkinder aus Wachs, Krisamdosen, Fraisenhauben und -ketten, zahlreiche Breveln, ein Zahnamulett (»Zahnlutscher«) sowie verschiedene Amulettanhänger, wie Marderpenis oder ein in Silber gefasstes Fossil eines Haifischzahns, Reiseklappaltäre, Walpurgisöl, Caravaka- und Ulrichskreuze, zahlreiche Rosenkränze mit unterschiedlichsten Medaillen und Anhängern sowie je zwei Antoniusglöckchen und Sebastianipfeile. Außerdem Salzkirchen und Weihwasserbehälter, ein Betrachtungssärglein, verschiedenste Votivgaben aus Eisen oder Wachs und zahlreiche andere Objekte. Einige dieser Objekte hatte das Ferdinandeum im späten 19. Jahrhundert gesammelt, die meisten stammten allerdings aus
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der ehemaligen Sammlung Ludwig von Wiesers (1808-1888). Dieser hatte neben zahlreichen Kunstwerken auch unzählige kleine »Altertümer« aus dem historischen Tirol angehäuft und sie durch sein Legat dem Landesmuseum überantwortet. So vielschichtig diese Objekte auch waren, von den wenigsten wurde die eigentliche Provenienz oder der Verwendungsort bekannt. Lediglich über zwei dieser Objekte – sie stammen aus dem Legat Wieser – lässt sich weniges über die Zeit, bevor sie gesammelt wurden, sagen. Ironischerweise wurden ausgerechnet sie nicht in Tirol erzeugt: Auf den beiden 1712 bzw. 1713 bezeichneten Fraisenschlüsseln ist die Abkürzung P.A.Z.R. zu entziffern, welches auf Placidus Abt zu Rein (bei Graz) hinweist. Der Objekttausch brachte dem Volkskunstmuseum eine stärkere Hinwendung zu Themenbereichen des volkskundlichen Kanons. Magie und Aberglaube wurden im Museum aber nach wie vor nur am Rande erwähnt. Als zwischen 1938 und 1945 die ehemalige Sekretärin und dem Nationalsozialismus verschriebene Gertrud Pesendorfer die Leitung des Museums übernahm, verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Deutsche Trachtenforschung und -entwicklung. »Das Haus«, so sollte der in dieser Zeit abgesetzte Josef Ringler später süffisant erklären, »glich mehr oder weniger einer Zentrale der Reichsfrauenschaft«.5 Religiöses wurde in der Schausammlung weitestgehend reduziert, schließlich wurden das Museum und größere Sammlungsbestände evakuiert. Nach der Wiedereröffnung 1948 sollte das Museum als »Schatzkammer des Tiroler Volkes« zu einem Ort Tiroler Identität – beiderseits der Grenze – werden, um dadurch den »Verwirrungen der jüngsten Vergangenheit« entgegenzuwirken.6 Die Objekte, die wenige Jahre zuvor noch als Zeugen Deutscher Kultur vermittelt wurden, änderten sich freilich nicht, ebenso wenig das Grundkonzept. Lediglich die »Volksreligion« konnte nun wieder stärker betont werden: Pesendorfer hatte beispielsweise angeordnet, den Krippensaal aufzulassen, um Schulungsräume für die NS-Frauenschaft zu schaffen. Nun konnte hier wieder das Weihnachtsgeschehen gezeigt werden. 1953, mit der Übernahme der Leitung durch den Historiker Franz Colleselli (1922-1979), kamen neue Ideen in das Tiroler Volkskunstmuseum: Traditionell volkskundlichen Themenbereichen wurde mehr Platz eingeräumt, die vorher nur teilweise inventarisierte Sammlung
5
Bericht über die Geschäftsjahre 1946-1947 (= 10. Jahresbericht), verfasst von Josef Ringler, S. 2, Archiv TVKM.
6
Vgl. Bote für Tirol, Nr. 38 vom 24.09.1948, S. 6.
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wurde weitestgehend erfasst, zeitgemäße Depots geschaffen. Schließlich ging Colleselli auch daran, das Museum neu aufzustellen. Durch seine Präsentation löste sich das Volkskunstmuseum endgültig von der ursprüngliche Idee des Gewerbemuseums. Nachdem der Sammlungsbestand aber vornehmlich aus schönen, reich verzierten und außergewöhnlichen Objekten bestand, blieben die Ästhetik oder das Repräsentative vorherrschend, Alltagsgegenstände waren in der Minderheit. Das Museum sollte die »Beziehung der Volkskunst zum Leben und Wirken vor allem der bäuerlichen Menschen in Tirol aufzeigen«7. Colleselli thematisierte unter dem Leitwort »Lebenssituationen« unter anderem auch Aspekte der Volksfrömmigkeit. Zahlreiche der von ihm ausgesuchten Objekte sind auch heute im Ausstellungsteil »Prekäres Leben« zu sehen, wie beispielsweise das Votivbild zum hl. Sebastian. Das Aufstellungskonzept Collesellis versuchte Zusammenhänge und Kontexte aufzuzeigen: Kästen mit religiösen Motiven wurden beispielsweise in den Bereich Volksfrömmigkeit integriert, Möbelstücke zu den aus der gleichen geografischen Region herrührenden Trachten gestellt. Zunftschränke sah man schließlich im Handwerkssaal. Colleselli verdichtete die Sammlung in den im Museum vertretenen volkskundlichen Kanonfeldern. Zu den zahlreich erworbenen Objekten zur Frömmigkeit und Religiosität gehörte auch ein um 1800 entstandenes Bild der Maria Gravida, wohl nach der Madonna von Bogenberg gemalt.8 Der Bestand von Breverln, Skapulieren, Rosenkränzen, Weihwasserbehältern und Votivbildern wurde ergänzt. Objekte, die Colleselli dem »Aberglauben« zurechnete, waren jedoch kaum unter den Neuerwerbungen. Ähnliches gilt in diesem Bereich für die Ära von Hans Gschnitzer, der nach dem Tod Collesellis 1980 die Leitung des Museums übernahm. Die Aufstellung Collesellis blieb – von kleineren Umbauten und Adaptierungen abgesehen – bis zum Jahre 2007 bestehen. Die einzelnen Themenkomplexe waren durch ein starkes Ineinanderfließen gekennzeichnet. Verbunden mit der räumlichen Weitläufigkeit und der katastrophalen Depotsituation führte dies allerdings dazu, dass Besucher die einzelnen Ausstellungsteile nur schwer voneinander trennen konnten. Quasi im ganzen Museum waren Truhen und Kästen mitunter dicht aneinandergereiht. So modern diese Aufstellung zur Mitte des 20. Jahrhunderts war, so hoffnungslos veraltet war sie über 50 Jahre später.
7
Jahresbericht 1966, verfasst von Franz Colleselli, Archiv TVKM.
8
TVKM, Inv. Nr. 20440.
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Abbildung 2: Volksfrömmigkeit im Tiroler Volkskunstmuseum, bis 2007
Foto: TVKM.
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ALLES NEU !
Die bauliche Umgestaltung des Tiroler Volkskunstmuseums sollte sowohl der in den Hintergrund geratenen historischen Architektur des Gebäudes, eines ehemaligen Franziskanerklosters, als auch den gegenwärtigen Ansprüchen eines Museums gerecht werden. Während sich der Rundgang über den Kreuzgang im ersten Obergeschoss als ideal für das Zyklische des »Prallen Jahres« erwies, sollte der L-förmige Gang (Süd- und Osttrakt), direkt darüber im 2. Obergeschoss gelegen, dem »Prekären Leben« gewidmet sein. In der Aufstellung von 1929 waren in diesem Bereich Zillertaler Möbel des 17. und 18. Jahrhunderts zu sehen. Seit Colleselli wurden hier die Trachten präsentiert. Obwohl einiges aus den Depots geholt werden musste, integrierte »Das Prekäre Leben« viele jener Objekte, die bereits Colleselli für seine »Lebenssituationen« (welche er ebenfalls im 2. Stock zeigte) ausgewählt hatte. Keineswegs aber sollte es sich bei der Schau lediglich um ein modernes, pfiffiges Arrangement überholter Wissenschaftskonzepte handeln. Der Name des Museums, der unverändert bleiben sollte, forderte eine Auseinandersetzung mit dem diffusen Begriff »Volkskunst«. Bereits in den 1960er Jahren hatte Leopold Schmidt auf die Unklarheit des Begriffs hingewiesen. Seiner Meinung nach war Volkskunst »so gut
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wie zur Gänze als ›angewandte Kunst‹ aufzufassen« und »mit ihren Stoffen eng verbunden«.9 Schmidts Überlegungen erweiterten den »alten« Volkskunstbegriff. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch pragmatisch als umfassende, kunstfertige Ausdrucksform der Volkskultur verstanden, setzte sich der Begriff bald auf das bildnerische Schaffen anonym bleibender Protagonisten fest. Schmidt betonte dagegen funktionelle Zusammenhänge und legte damit die Basis, um »Volkskunst« als Ausdruck von Wertevorstellungen zu verstehen. Dadurch wurden die Beziehung des Menschen zu seinen Dingen und der Sitz der Dinge im Leben in den Vordergrund gestellt. Die äußere Ästhetik ist dementsprechend relativiert worden. Die einst unterstellte Anonymität weicht dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft sowie dem Spannungsfeld zwischen herrschender Kultur und kulturellem Widerstand. Prozesse des Wandels, des Kulturkontakts und Kulturkonflikts, der tradierten Ordnungen oder des symbolischen Nutzens sind Eckpunkte dieses Verständnisses von Volkskunst. So verstanden, ist der Begriff »Volkskunst« zwar historisch bedingt, jedoch keineswegs eine reine historische, rückwärtsorientierte Kategorie. Da das Leben durch Erfahrungen vergangener Zeiten geprägt ist, die sich der Mensch zunutze macht,10 bleibt Vergangenes in der Kultur längerfristig präsent.11 In einem solchen Spannungsfeld zwischen Dauer und Veränderung gelegen, zeugt »Volkskunst« – als materielle Manifestation des kollektiven Gedächtnisses – von den mannigfaltigen Bedeutungen und vom Nachleben histologischer Kultur in der Gegenwart. In einem Museum, welches »Volkskunst« im Namen trägt, müssen deshalb an die alten Objekte Fragen gerichtet werden, welche die »Fremdheit der Welt von gestern«12 als historische Bedingtheit (auch) für die Gegenwart erklären.
9
Leopold Schmidt: Volkskunst in Österreich. Wien 1966, S. 15.
10 Vgl. Martin Scharfe: Der Blick vom Berg. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98 (2002), S. 41-77, hier S. 41. 11 Helge Gerndt: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen, Berlin 2002, S. 51. 12 Wolfgang Brückner: Volkskunst. Ästhetische Anschauungen oder Thesen zu einem Wahrnehmungsproblem. In: Franz Grieshofer/Margot Schindler (Hg.): Netzwerk Volkskunde. Ideen und Wege. Festgabe für Klaus Beitl zum siebzigsten Geburtstag. Wien 1999, S. 191, S. 306, hier S. 306.
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In der konkreten Umsetzung bedeutete dies beispielsweise bei der Präsentation der Trachten, dass die Überhöhung und Idealisierung historischer und historisch anmutender Kleidung als ein bis in die Gegenwart reichendes Phänomen gezeigt wurde. Gefragt wurde also nach heutigen Bedeutungsinhalten der Tracht, weshalb diese Bedeutungen in sie hineingelegt wurden, und welche Gründe dazu geführt hatten. Letztendlich ging es auch um Fragen der Emotionalität, indem beispielsweise die Verbindung zwischen Tracht und Heimatgefühl thematisiert wurde. Stimmungen, Emotionen und Gefühle sind nicht ausschließlich eine individuelle Befindlichkeit. Vielmehr sind sie mit dem jeweils spezifischen zeitlichen und soziokulturellen Kontext verankert. Als (scheinbar) immaterieller Teil der Kultur wissenschaftlich nur schwer fassbar, bleiben sie oftmals unberücksichtigt – und manifestieren sich doch in unterschiedlichster Weise. Nicht zuletzt deshalb sind sie für Museen, die naturgemäß das Materielle des Kulturellen Erbes sammeln und vermitteln, außerordentlich wichtig. »Das Prekäre Leben« rückt das Sorgenvolle, Angsterfüllte, Schutzsuchende, Belastende oder Beklemmende, das in Objekte hineingelegt wurde, in den Mittelpunkt. Das Dasein der Menschen der Vormoderne war durchwachsen von Gefahren, die beispielsweise bei Unglück, Unheil und Unfall, Krankheit oder der Angst vor einem jähen Tod offenkundig wurden. Um nicht an dieser ständigen Bedrohung zugrunde zu gehen, wappnete man sich durch intensives Gebet, Segen, Beschwörungen sowie den Einsatz krafthaltiger Dinge. Die materiellen Relikte dieser Angst- und Schutzkultur transportieren heute wohl nur mehr eine graue Ahnung jener Ängste und Sorgen, denen sie einst entgegentreten sollten und denen sie ihre eigentliche Entstehung verdanken. Solche Heil-Mittel stellten häufig das Flehen um Seelenheil dem irdischen Dasein voran – wie auch der Blick der Lebenden wesentlich auf das Jenseits mit dem Fegefeuer, der Auferstehung des Fleisches und dem Weltgericht am Jüngsten Tag gerichtet war. Diese religiös-magische Gebundenheit stellt mit ihrer Jenseitsorientierung einen möglichen Unterschied zwischen den kraftspendenden Dingen der Vormoderne und jenen der Gegenwart dar. Die alte Zeit kannte kein Heil außerhalb der Religion, auch keine Unterscheidung in Glaube und Aberglaube. Das Prekäre im Leben der Vormoderne begann lange vor der Geburt und war mit dem irdischen Tod längst nicht zu Ende: das ungeborene Kind, die Geburt und die Zeit vor der Taufe sowie das Fegfeuer, die Auferstehung des Flei-
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sches oder das Weltgericht am Jüngsten Tag gehören unabdingbar dazu.13 Als überaus gefahrvoll galten die Übergänge. Rituale vermochten diese Prekarität zu kanalisieren. Dinglich sind diese »rites de passage« etwa durch ihre Rauchutensilien greifbar. Für die Umsetzung dieser Ausgangsthesen standen etwa 300 m² zur Verfügung. Der L-förmige Gang wurde durch Einbauten in kleinere Räume gegliedert. Jedem Raum wurde eine Lebenssituation gewidmet. Größere Objekte wurden als Schlüsselobjekte definiert und in den einzelnen Abschnitten zentral platziert. Die Schwangerschaft bzw. der Wunsch, schwanger zu werden, stehen am Beginn des »Prekären Lebens«. Das Bild der Maria Gravida ist das erste Objekt der Ausstellung. Die Wallfahrt zur Muttergottes als wichtiger Zufluchtsort sorgenvoller Eltern leitet zu verschiedenen Schutzmitteln, wie Malachitanhängern, einem Adler- oder Klapperstein gegen Geburtsnöte, einem Breverl oder einem Andachtsbildchen mit Darstellung der Maria Verkündigung. Ihnen zur Seite gestellt sind Dankesgaben, wie Votivkröten und Stachelkugelvotive. Diese Ambivalenz zwischen dem flehenden Bitten, der sorgenreichen Schutzsuche sowie dem bekümmernden Behüten einerseits und dem zuversichtlichen Dank nach erfolgter Hilfeleistung andererseits, zieht sich in weiterer Folge als gegenseitige Bedingtheit durch die beiden Wandseiten der Ausstellung. Nachdem die Besucher einen schmalen Übergang durchschritten haben, wird ihnen die Geburt, die Zeit vor der Taufe bzw. die einstige Wichtigkeit der Taufe nahegebracht. In der Mitte steht eine Wiege aus dem Vinschgau des frühen 19. Jahrhunderts. An ihrer Außenseite sind die Monogramme Mariens und Jesu in schönen Lettern eingeschnitzt. An der Innenseite aber ist, ungleich flüchtiger, der Drudenfuß eingeritzt. Die Symbole sollten das Kind, das einst hier lag, vor dem Bösen behüten. Sie zeugen gleichzeitig vom Ineinanderfließen und der Beharrlichkeit magisch-religiöser Glaubensvorstellungen. Direkt hinter der Wiege erkennt man ein aufgebahrtes Kind, wodurch nicht nur auf die früher beträchtliche Kindersterblichkeit, sondern vor allem auf die einstige Bedeutung der Taufe hingewiesen wird. Eine Wandseite verschreibt sich dem Schutz und der Hinwendung zur göttlichen Macht: In mehreren Vitrinen sind Taufkleider und -kerzen, Breverln, der Zahnlutscher, je zwei Fraisenhauben und Frai-
13 Vgl. Raumbuch Neuinszenierung, Thesen von Martin Scharfe zum Prallen Jahr, S. 81, Archiv TVKM.
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senketten sowie die beiden vorhin erwähnten Fraisenschlüssel zu sehen. Die der Schutzseite gegenüberliegende Wand ist mit dicht gehängten Votivbildern ausstaffiert. Es sind Votivbilder, auf denen Wickelkinder zu sehen sind – einige davon mit einem kleinen Kreuz über der Stirn. Es ist ein Hinweis, dass die Kinder verstarben. Die Eltern aber hatten aus Dank, dass dies erst nach der Taufe geschah, die Tafel malen lassen. Abbildung 3: Das Pralle Jahr: Geburt, Taufe, Jugend
Foto: TVKM.
Zwei Durchgänge führen in den nächsten Raum, der dem Lebensabschnitt bis zum Erwachsenenalter gewidmet ist. Auch hier widmet sich eine Wandseite dem Schutz- und Hilfebedürfnis, während die gegenüberliegende den Dank nach erfolgter Hilfeleistung anspricht. Kinder als kleine Erwachsene, die früh in den Arbeitsprozess eingebunden wurden, oder sich entwickelnde Liebschaften sind Thema dieses Raums. Verschiedene Liebesgaben leiten zum dritten Raum weiter, der auf den ersten Blick der Heirat gewidmet ist. Tatsächlich steht ein Brautpaar in der Mitte des Raumes. Doch weist das üppig ausgestattete Brautgut, das einst beim sogenannten Kasten- oder Truheführen unter den Argusaugen der Öffentlichkeit zum Haus des Bräutigams geführt wurde, darauf hin, dass eine Hochzeit immer auch eine wirtschaftliche Dimension hatte. Schließlich war auch die Anforderung der sogenannten Heiratskonsenspolitik restriktiv: Je nach regional vorherrschender Erbsitte war, wie in den Realteilungsgebieten des Tiroler Oberlandes, des Außerferns oder des Vinschgaus, eine Heirat die geforderte Norm, während es in den
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Gebieten des Anerbenrechtes nur dem Hoferben erlaubt war, vor den Traualtar zu treten. In den Vitrinen hinter dem Brautpaar und dem Brautzug sind religiös-magische Schutz- und Hilfsmittel präsentiert, die vermehrt im Erwachsenenalter verwendet wurden: Verschiedenste Klosterarbeiten mit Berührungsreliquien, Rosenkränze mit verschiedensten Anhängern und Amuletten, Skapuliere, kleine Andachtsbildchen, ein Sebastianipfeil, Antoniusglöckchen, ein Marderpenis oder Diebsnägel führen zu Salzkirchen, einem Weihwasserbehälter und Darstellungen der populärsten Gnadenbilder Tirols. Die gegenüberliegende Votivtafelwand ist in diesem Bereich am dichtesten gehängt. Es sind Bilder, die Krankheiten, Unglücksfälle, aber auch die Sorge um das Vieh zum Inhalt haben. Mittendrin das Votivbild mit dem hl. Sebastian. Abbildung 4: Das Pralle Jahr: Hochzeit/Erwachsenenalter: Wand mit Votivtafeln (u.a. Votivbild zum hl. Sebastian)
Foto: TVKM.
Kurz vor dem letzten Durchgang werden die Besucher durch verschiedene Vanitas-Darstellungen mit der Memento Mori konfrontiert. Schließlich wird die Schwelle zum Tod museal überschritten. Eine Plastik des Erzengels Michael mit der Seelenwaage leitet zu Erinnerungs- und Mahnbildern sowie – als scheinbares Ende – zu einem Letztgerichtbild.
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Abbildung 5: Das Pralle Jahr: Im Tod/Jenseits
Foto: TVKM.
Gehen die Besucher aber weiter, öffnet ein Bewegungsmelder einen Zugang zum Lettner der Hofkirche. Dieser zweite räumliche Zugang ist gleichzeitig ein zweiter thematischer, der die Jenseitsorientierung des Denkmals kaiserlicher Macht anspricht. Lässt man den Prunk der Kirche schließlich hinter sich und schreitet die Stufen ins Museum zurück, mahnt »Der Vogel Selbsterkenntnis« mit dem kantischen Postulat: »Mensch erkenne sich selbst!« Dieses Bild ist das letzte Objekt des »Prekären Lebens«.
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»Das Prekäre Leben« versucht durch die ausgestellten Objekte Sorgen, Ängste, Hoffnungen und Wünsche der Menschen zu projizieren – ein Vorhaben, welches durch die Ausstellungsgestaltung unterstützt werden sollte. Während für »Das Pralle Jahr« Objekte ausgewählt wurden, die bereits vor ihrer musealen Verwendung größtenteils in öffentlichen Räumen zu sehen waren, sind jene des »Prekären Lebens« durch eine gewisse Intimität und einen individuellen Nutzen gekennzeichnet. Die Wandgestaltung nahm diese Idee auf, indem in grau-blauen Farbfacetten verschiedene Handschriften eingesetzt wurden. Die Vorlagen der ausgewählten Autografen unterscheiden sich von Raum zu Raum: Im Bereich »Geburt und Taufe« diente ein Tauf-
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buch als Vorlage, den Hochzeitszug begleiten Auszüge aus einem Traubuch, während einige Seiten aus einem Sterbebuch den Bereich Tod zieren. Diese Vorlagen wurden grafisch verändert: Die in verschiedenen Grautönen gehaltenen Schriften sind ineinander verschachtelt, weshalb sie der Besucher wohl nur unbewusst wahrnimmt. Nichtsdestoweniger wurde jeweils eine ausgewählte Seite der Vorlage vergrößert appliziert. Diese hebt sich leicht von dem Hintergrund ab und bietet eine zusätzliche Informationsebene: Die ausgewählte Seite des Taufbuchs listet beispielsweise eine Reihe von nach der Taufe verstorbenen Kindern auf. Außerdem finden sich einige Namen, bei denen kein Vater angeführt wurde. Je nach geltender Erbsitte konnten ledige Kinder in Teilen Tirols als große Schande gelten, während sie in andern Teilen den ehelich geborenen Kindern fast gleichgestellt waren. In roten Buchstaben applizierte Raumzitate fokussieren das Prekäre der einzelnen Lebensabschnitte. In unmittelbarer Nähe zur Wiege und zum aufgebahrten Kind ist beispielsweise ein Gebetsausschnitt zu lesen, nach dem die »Wöchnerin« genesen und das Kind »zur Heiligen Taufe gelangen möge«. Nicht das Überleben des Kindes war vorrangig, sondern die Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche. Schließlich dient die akustische Zugabe eines kaum verständlichen Gebetsgemurmels dazu, die einzelnen Übergänge anzuzeigen. Abbildung 6: Das Pralle Jahr: Geburt mit »Schutzseite«
Foto: TVKM.
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Obwohl freilich nicht alle Besucher diese Zusatzinformationen, die in der gestalterischen Umsetzung mitschwingen, bewusst wahrnehmen oder auf sie aufmerksam werden, ist ihre Wirkung beobachtbar. Vieles geschieht offenbar auf einer unbewussten Ebene. Wie wichtig das Zusammenspiel zwischen Objekt und Ausstellungsgestaltung im Hinblick auf die museale Präsentation von Emotionen ist, zeigte sich auch bei der ersten Ausstellung des »neuen« Tiroler Volkskunstmuseums im Jahre 2010. Die beiden insgesamt etwa 200 m² großen Sonderausstellungsräume im 2. Obergeschoss des Museums wollten am »Prekären Leben« anknüpfen. Mit einer Präsentation zum Phänomen »Schmerz« sollten ausgewählte Elemente einer positiv und ästhetisch besetzten Kultur aus der Perspektive des Leidvollen und Quälerischen betrachtet werden. Der Schmerz – dem Prekären des Lebens in vielerlei Hinsicht verwandt – stört das Schöne, die Freude, das Glück und ist solchermaßen ein Symptom für eine Krisensituation. Das Museum als ein Ort materieller Erinnerung ist so mit einem Phänomen konfrontiert worden, welches zwar zumeist beiseitegestellt wird, das aber seinerseits mit dem Erinnern eng verbunden ist: Was weh tut, bleibt im Gedächtnis. Das Erinnern ist jedoch bekanntlich ein Prozess, der individuell abläuft, stets aber mit kollektiven Deutungs- und Verarbeitungsmustern verbunden ist. Tatsächlich eignete sich das Thema »Schmerz« besonders gut, um die Ambivalenz zwischen Schönheit und Beklemmung zu thematisieren. Der Bozner Architekt Benno Simma schlug einen dunklen Gang vor, dessen gezackte Wände das Schmerzvolle visualisieren sollten. Wenngleich die bedrohlich wirkenden Spitzen nur aus Schaumstoff bestanden, war die Wirkung tiefgehend und für viele Besucher beklemmend – insbesondere dort, wo seelische Qualen angesprochen wurden. Ein Teil der Ausstellung war der Linderung durch medizinische Mittel und religiös-magisches Wissen gewidmet. Schröpfköpfe, Flieten und Blutschüsseln führten zu Amuletten und verschiedensten Schutz- und Schmerzmitteln. Ein Lorettoschälchen, ein Giftbecher, Antoniusglöckchen, ein Caravakakreuz, eine Johannesschüssel standen in der Nähe zu einer Plastik des hl. Veit, einer Darstellung der 14 Nothelfer, aber auch einer homöopathischen Apotheke, einem »Arzneybüchl« oder einem Fläschchen Walpurgisöl. Auch viele dieser Objekte wurden bereits in der Frühzeit des Museums gesammelt, sodass über ihren individuellen Kontext so gut wie nichts bekannt ist. Das Wissen um ihre Funktion und Bedeutung fußt auf wissenschaftli-
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cher Literatur, etwa den nach wie vor lesenswerten Ausführungen von Marie Andree-Eysn.14 Nicht wenige dieser Objekte aber sind erst im 19. Jahrhundert entstanden, jedoch bereits kurze Zeit später gesammelt und dadurch musealisiert worden. Oder anders formuliert: Den größten Teil ihres Daseins haben sie mittlerweile als museales Anschauungsobjekt verbracht und sind, wie am Beispiel des Tiroler Volkskunstmuseums skizzenhaft gezeigt, für die Vermittlung verschiedenster Themen herangezogen worden. Doch noch immer hängen sie ihrer »Urfunktion« nach. Abbildung 7: Au! Schmerz, Ausstellung im Tiroler Volkskunstmuseum 2010
Foto: TVKM.
»Das Prekäre Leben« bietet den Besuchern eine Sichtweise auf die Vormoderne an. Ihr Gegenüber findet es im Tiroler Volkskunstmuseum im zyklischen »Prallen Jahr«, durch welches die religiös begründete Gliederung des Kirchenjahres in der Vormoderne als eine wichtige Grundlage für die Ord-
14 Marie Andree-Eysn: Volkskundliches aus dem bayrisch-österreichischen Alpengebiet. Braunschweig 1910.
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nung des Lebens als eine Verkehrung ins Festliche und Lustvolle15 präsentiert wird. Ebenso wie die scheinbar überholten Setzungen Jahreslauf und Lebenslauf im Tiroler Volkskunstmuseum neu gestaltet wurden, wurden auch die religiös-magischen Objekte durch ihren Ausstellungskontext neu gestaltet: Gerade weil sie nicht frei von ihren einstigen Bedeutungs- und Funktionsbezügen präsentiert werden, sind sie zu materiellen Mittlern der kulturellen Gefühlswelt geworden.
L ITERATUR Marie Andree-Eysn: Volkskundliches aus dem bayrisch-österreichischen Alpengebiet. Braunschweig 1910. Bericht über die Geschäftsjahre 1946-1947 (= 10. Jahresbericht), verfasst von Josef Ringler, Archiv TVKM. Bote für Tirol, Amt der Tiroler Landesregierung (Hg.), Nr. 38 vom 24.09.1948. Wolfgang Brückner: Volkskunst. Ästhetische Anschauungen oder Thesen zu einem Wahrnehmungsproblem. In: Franz Grieshofer/Margot Schindler (Hg.): Netzwerk Volkskunde. Ideen und Wege. Festgabe für Klaus Beitl zum siebzigsten Geburtstag. Wien 1999, S. 191, S. 306. Helge Gerndt: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen. Berlin 2002. Jahresbericht 1966, verfasst von Franz Colleselli, Archiv TVKM. Wolfgang Meixner: Zur Entstehung des »Tiroler Volkskunstmuseums« in Innsbruck. Innsbruck 1989 (unveröffentlichte Diplomarbeit). Mitteilungen des Tiroler Gewerbevereins, 7. Jg., Nr. 1/2, 1890, S. 9. Raumbuch Neuinszenierung, Thesen von Martin Scharfe zum Prallen Jahr, Archiv TVKM. Martin Scharfe: Der Blick vom Berg. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98 (2002), S. 41-77. Leopold Schmidt: Volkskunst in Österreich. Wien 1966. TVKM, Inv. Nr. 11939. Übergabevertrag vom 30.06.1926, Archiv TVKM, Zl. 650/27.
15 Vgl. Raumbuch Neuinszenierung, Thesen von Martin Scharfe zum Prallen Jahr, S. 51, Archiv TVKM.
Ein Forschungsexempel
P. Romuald Pramberger Mönch und Original B ENEDIKT P LANK OSB
Die auf P. Romuald Pramberger zurückgehende volkskundliche Sammlung des Stiftes St. Lambrecht enthält in ihrem Fundus eine beachtliche Anzahl von Objekten mit Bezug auf Volksglaube und »Aberglaube«. Ihre Inventarisierung nach heutigen wissenschaftlichen Standards war auch Teil des Projektes »Superstition – Dingwelten des Irrationalen«. Es soll nun in Kürze dieser St. Lambrechter Benediktiner vorgestellt werden.1 Pramberger stammte aus dem niederösterreichischen Pöchlarn. Er wurde am 12. April 1877 als Sohn des Kaufmannes Gottfried Pramberger geboren und auf den Namen Julius getauft. Seine Mutter Maria Pramberger, geborene Geyrhofer, war von Gottfried Pramberger nach kurzer Witwerschaft 1876 geehelicht worden. Gottfried Pramberger verstarb bereits 1883 67-jährig, was für den jungen Julius, seinen Halbbruder und deren Mutter eine Zeit der wirtschaftlichen Probleme einleitete. Dennoch wurde der Wunsch
1
Die Darstellung von P. Romualds Biografie folgt Helga Drusowitsch: Romuald Pramberger. Leben und Wirken. Geisteswissenschaftliche Dissertation, Graz 1978. Kurzfassungen von Leben und einzelnen Aspekten des Wirkens von P. Romuald Pramberger bieten: Günther Jontes: P. Romuald Pramberger (1877-1967) und (2000/2001), S. 511-520, hier besonders S. 511-514; Bernhard Schweighofer: Romuald Prambergers »Volkskunde«. Das ungewöhnliche Werk eines ungewöhnlichen Mannes. Eine kulturhistorische Betrachtung für das Referat Volkskunde am Landesmuseum Joanneum. Graz 1999.
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von Julius Pramberger, zu studieren, durch den Besuch des Gymnasiums der Melker Benediktiner Wirklichkeit. 1899 schloss er die Gymnasialzeit mit der Matura ab. Abbildung 1: P. Romuald Pramberger als Auxiliar in Weißkirchen
Foto: Volkskundemuseum St. Lambrecht.
Mit 1. September 1899 begann er in Melk das Noviziat und erhielt den Ordensnamen Richard. Nach Beendigung des einjährigen Noviziates wurde er zum Studium ins Jesuitenkolleg nach Innsbruck geschickt. Am 5. Februar 1902 suchte Pramberger um Entlassung aus Melk an, die gewährt wurde. Darauf klapperte er einige Klöster ab, ging schließlich ins Linzer Priesterseminar und hernach wurde er im September 1902 in St. Paul aufgenommen und erhielt dort den Ordensnamen Romuald. St. Paul erfüllte ihm auch den großen Wunsch, in Rom zu studieren. Aber bereits nach dem ersten Studienjahr gab es auch in St. Paul, wie an den vorangegangenen Orten, Zerwürfnisse, sodass er sich zum Übertritt nach St. Lambrecht entschloss, wo er am 19. Oktober 1903 ankam. Nach einem Studienaufenthalt in Salzburg wurde er in St. Lambrecht zur feierlichen Profess zugelassen, die er am 12. Juli 1904 ablegte.
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Am 14. Juli 1904 wurde er zum Priester geweiht und feierte am 26. Juli 1904 seine Primiz. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass dieses klösterliche Curriculum durchaus geeignet ist, Erstaunen auszulösen, zumal diese Jahre von sehr widersprüchlichen Positionen zum klösterlichen und geistlichen Leben, die er auch in seinen Notizen und Erinnerungen dokumentiert, gekennzeichnet sind, genauso von Eifersüchteleien und Zerwürfnissen mit Kollegen sowie von einer großen Empfindlichkeit und Bereitschaft, sich ausgeschlossen und verfolgt zu fühlen. In der Literatur wird der Wunsch von Mutter2 und Großmutter3 als Begründung für seine Entscheidung zur geistlichen Laufbahn angegeben; sie hätte ihn dazu gedrängt. Es soll hier aber nicht verhehlt werden, dass sein Charakter und die Wesenszüge seiner zwiespältigen Persönlichkeit, die ihm diese »Scherereien« bereiteten, wohl auch als Ehemann und Familienvater beträchtliche Probleme bereitet hätten. Auf alle Fälle blieb die obersteirische Benediktinerabtei – im Vergleich zu Melk eher ein »Bauernstift« – seine klösterliche Heimat oder besser gesagt der Ort, der ihm als »Stiftsherrn« Möglichkeiten bot, seinen vielfältigen Interessen und Neigungen nachzugehen. Wie in seinen früheren Stationen blieben natürlich auch in St. Lambrecht Reibereien und Konflikte nicht aus. Sein Naturell ließ ihn nach und nach zum mehr oder weniger respektierten Außenseiter werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele seiner Tätigkeiten – gepaart mit einem Hang zu Selbstüberschätzung – dazu dienten, eine doch tief sitzende Verunsicherung zu übertönen. Diese Verunsicherung hatte zum einen innere Wurzeln in seiner Unklarheit über seinen geistlichen Weg, sowie auch ihre Ursachen in seinem Äußeren, wie etwa einem respektablen Kropf. Der ihm innewohnende Freiheitsdrang
2
So etwa: Jontes, P. Romuald Pramberger, S. 511f.
3
Helga Drusowitsch hingegen zitiert aus Prambergers Erinnerungen, Bd. II: »Eine Reise zu Prambergers Verwandten nach Wang, wohin ihn ab Wieselburg das ›Zeiselwagel‹ brachte oder später der Postwagen, auf dem noch der Postfahrer in sein Posthorn stieß, setzte den ersten ernsten Akzent im Leben des jungen Gymnasiasten. Pramberger fühlte, daß die Großmutter ihn ablehnte. Erst Prambergers Bitte und Frage: ›Großmutter, seid mir gut! … Was habt Ihr denn gegen mich? …‹ brach den Bann. Sie sah ihn lange an, reicht ihm die furchige Hand und fragte: ›Julius, willst du ein Geistlicher werden?‹ Als Pramberger versetzte: ›Ja, das will ich‹, legte die Greisin ihre Hand auf Prambergers Haupt und weinte: ›Gott sei Lob und Dank!‹.« Drusowitsch, Romuald Pramberger, S. 22.
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und sein Unwillen, sich Reglements unterzuordnen, standen im Gegensatz zu den in diesen Zeiten ohnehin recht liberalen Auffassungen vom Ordensleben in den österreichischen Stiften. Es war vermutlich die Persönlichkeit des damaligen Abtes Severin Kalcher (1902-1922), die es schaffte, diesen schwierigen Mitbruder in der Gemeinschaft zu halten. Ein Blick auf das breite Spektrum und die enorme Fülle der Aktivitäten von P. Romuald Pramberger erfüllt mit Respekt. Neben seinem Fleiß und der schier unfassbaren »Schreibwut« war die Art und Weise seines Einsatzes eine der Voraussetzungen für dieses beeindruckende Opus. Bedingt durch seine unausgeglichene Art wurde er von seinen Oberen nie als langjähriger etablierter Pfarrer in einer der inkorporierten Pfarren des Stiftes eingesetzt. Neben zeitweiser Unterrichtstätigkeit am Sängerknabenkonvikt wurde er meistens für kürzere oder längere Aushilfen an vielen Stifts- und Weltpriesterpfarren verwendet. Hier ergab sich für gewöhnlich der Sachverhalt, dass er bei den Kerngruppen der Pfarren aneckte, bei etwas abständigeren Pfarrkindern aber durchaus Anklang fand, was ihm sehr zur Genugtuung diente. Auf alle Fälle aber boten ihm diese Aushilfen, die manchmal bis zu einem Jahr und darüber dauerten, viel Gelegenheit und ein weites Feld für seine volkskundlichen Studien und seine Sammeltätigkeit. Man hat den Eindruck, dass P. Romuald Pramberger immer mehr den Kontakt mit den einfachen Leuten und ihren Lebenswelten als eine Art Lebenselixier für sich entdeckte, das ein Heilmittel für seine innere Zerrissenheit und Unausgeglichenheit war. Er hatte offene Augen und Ohren für die Alltagskultur der ländlichen Bevölkerung seiner Wirkungsstätten. Zwei »opera magna« verdanken wir ihm in dieser Hinsicht: Zuerst sei genannt die Volkskunde des oberen Mur- und Metnitztales, Mittel- und Oststeiermark, Oberösterreich, Salzburg; geschrieben 1911-1927 mit Ergänzungen 1948. Diese 45 Folianten befinden sich in der volkskundlichen Abteilung des Universalmuseums Joanneum.
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Abbildung 2: Der »Graffelpater« beim Sammeln
Foto: Volkskundemuseum St. Lambrecht.
Das zweite Werk ist seine volkskundliche Sammlung, die sich nach wechselvollem Schicksal nach wie vor im Benediktinerstift St. Lambrecht befindet. Ergänzend zu diesen schriftlichen bzw. musealen Monumenten sind noch eine Fülle weiterer Aufzeichnungen und Darstellungen zu erwähnen. Beginnen möchte ich mit den Haus- und Familiengeschichten von St. Blasen, Karchau, St. Lambrecht Markt und Landgemeinde, die in den Jahren 1933 und 1934 entstanden sind und in den Gemeindearchiven von St. Lambrecht und St. Blasen aufbewahrt werden. Urkunden, grundherrschaftliche Akten und die Matriken sind die Grundlage dieser Haus- und Hofgeschichten der gesamten Pfarre St. Lambrecht, welche zudem eine Bestandaufnahme durch Skizzen, Bilder und Fotos für die einzelnen Anwesen bieten und so einen Bestand dokumentieren, der inzwischen schon zahlreichen Veränderungen unterworfen wurde. Neben diesen handschriftlichen Werken gibt es aus der Feder von P. Romuald Pramberger eine Fülle von Aufsätzen, Artikeln und Beiträgen unterschiedlichsten Umfangs und unterschiedlichster Gewichtung in Zeitschriften, Zeitungen und Kalendern. Zusammen mit Vortragsmanuskripten
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sind sie Ausdruck seiner volksbildnerischen Attitüde.4 Dazu kommt sein Engagement für Volks- und Brauchtumsfeste, das sicher auch in diese Richtung ging. Ich zitiere dazu Hanns Koren in seinen Momentaufnahmen zu Romuald Pramberger: »Einmal holte ich in den späten zwanziger Jahren […] Romuald Pramberger nach Köflach, um uns zu helfen, ein richtiges, wie ich damals meinte, echtes altsteirisches Erntefest mit Schimmelreiter und Hofrechtaufmachen, Festzug und Tanzboden vorzubereiten. Er galt als Experte und hatte sich schon in anderen Orten in diesen Dingen bewährt. Hier staunten wir, wie der St. Lambrechter Pater, der statt der Soutane einen schlichten Steireranzug trug, die Volkstänze beherrschte und sie den jungen Leuten beibrachte.«5
Eine Art »Prototyp« für das von Koren erwähnte Expertentum Prambergers war das im September 1921 in St. Lambrecht veranstaltete »St. Lambrechter Volksfest«. Anlass war die Feier der »400jährigen Zugehörigkeit von St. Lambrecht zur Steiermark«. Wir wissen heute zwar, das die »Grenzurkunde« von 1521 keinerlei staatsrechtliche Relevanz hatte, der Erfolg dieser Veranstaltung legt aber die Vermutung nahe, dass sie in der damaligen Zeit die Rolle unserer heutigen »Events« eingenommen hat. Von der Intention her ging es P. Romuald und seinen Mitstreitern bei diesen Volksfesten nicht um bloße Traditionspflege, er wollte auch für sinnvolle Freizeitbeschäftigung und Engagement der Jugend in diesen Nachkriegsjahren sorgen und der Bevölkerung Stolz und Selbstvertrauen für die eigne Lebenswelt geben. Mit seiner volkskundlichen Sammlung, seinem Heimat- und Bauernmuseum, wollte Pramberger diesen Stolz und das Selbstvertrauen in die eigene Kultur des ländlichen Raumes gewiss fördern. 1921, im Jahr des Volksfestes, erschien in Graz im Eigenverlag der Benediktinerabtei St. Lambrecht
4
Werkverzeichnis von P. Romuald Pramberger. In: Drusowitsch, Romuald Pramberger, S. 571-583; Johannes Schlacher: P. Romuald Pramberger. In: Bibliographie der deutschsprachigen Benediktiner 1880-1980, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Ergänzungsband 29-1. St. Ottilien 1985, S. 236-240.
5
Hanns Koren: Romuald Pramberger. In: Momentaufnahmen. Menschen, die mir begegneten. Graz/Wien/Köln 1975, S. 131.
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unter dem Titel Das Volkskundemuseum in St. Lambrecht eine kleine 16 Seiten umfassende Schrift aus der Feder P. Romuald Prambergers. In der Einleitung dieses Führers durch sein Heimatmuseum bietet P. Romuald einen kurzen Bericht über die Entstehung seiner volkskundlichen Sammlung. In einem persönlichen Rückblick bezeichnet er einen Besuch beim Seitenbauer und Mini am Bach am 24. Oktober 1911 als seinen »ersten volkskundlich-wissenschaftlichen Ausgang« und »Geburtstag« seiner Volkskunde und lässt uns auch wissen, dass er um die Jahreswende 1911/1912 für ihn fremde und interessante Gegenstände zu sammeln begann: »Erst am 20. Februar 1912 entstand der feste Entschluss in mir, ein Museum der Volkskunde, und zwar ein Lehrmuseum, nicht bloß ein Schaumuseum zu gründen. Anlass dazu war ein alter, zerbrochener Stuhl, den ich auf meinem Rodelschlitten heimführte. Man interpellierte mich, was ich mit den alten Hefen und Pfannen und dem alten Gerümpel anfangen wolle, und der dadurch herausgeforderte Widerspruchsgeist kombinierte schneller als ruhige Überlegung das Endurteil: ›Ein Museum will ich gründen.‹ Wohl schüttelte man den Kopf und zweifelte an der Richtigkeit in meinem oberen Stockwerk, aber man ließ mich schalten, und, ohne dass ich’s merkte, hielt mein Abt Severin Kalcher seine schützende Hand über mein Unternehmen.«6
Als weiterer Förderer seiner volkskundlichen Ambitionen ist Viktor von Geramb zu nennen. Ein nicht gebrauchter Raum im Stiftsgebäude wurde zur ersten Heimstätte der volkskundlichen Sammlung Prambergers, deren Aufstellung noch 1913 abgeschlossen wurde. Die rastlose Sammlungstätigkeit bedingte bald, dass dieser erste Museumsraum zu klein wurde. Mit dem »Jägerhaus«, einem Nebengebäude im Stiftsareal, wurde P. Romuald Pramberger nun »Herr« über einen eigenen »Museumsbau«, von dem die ersten drei verfügbaren Räume alsbald nach seinen Vorstellungen gestaltet und eingerichtet wurden. Die Übersiedlung des Museums begann im Sommer 1919 und wurde im Mai 1920 abgeschlossen. Beim Betreten des Hauses bot sich dem Besucher in einem kleineren Raum das Gewerbemuseum dar; links davon befand sich als Hauptraum das Bauernmuseum, zur Rechten ging es in die als Rauchstube gestaltete »Bauernstube«. Die beiden übrigen Räume des Hauses sollten später ebenfalls in das Museum einbezogen werden: gedacht war an eine Kachelstube mit bemalten Möbeln und ein Kabi-
6
P. Romuald Pramberger: Das Volkskundemuseum in St. Lambrecht. Graz 1921, S. 4.
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nett. Aus dieser geplanten Erweiterung wurde aber nichts. Es sollte überhaupt viel schlimmer kommen. Nach der nationalsozialistischen Beschlagnahme des Stiftes St. Lambrecht wollten die neuen Machthaber das Jägerhaus wieder für Wohnzwecke verwenden, und die Sammlungen von P. Romuald wurden, soweit man sie des Interesses wert fand, im Prälatensaal und im Steinernen Saal deponiert. Nach dem Krieg erfolgte durch Leopold Kretzenbacher eine erste Sichtung der Sammlung in den ihr heute noch dienenden Räumen. Eine Neuaufstellung wurde Ende der 1950er Jahre durch Dr. Elfriede Grabner mit Hilfe von Studenten durchgeführt. Nach der Landesausstellung »Gotik in der Steiermark« wurde diese Aufstellung in zwei Sammlungsräumen und einem Teil ihres Vorraumes mit den Schwerpunkten religiöse Volkskunde und heimatliches Kunsthandwerk und Gewerbe erneuert. 2003 wurde aus Anlass eines »St. Lambrechter Prambergerjahres« eine weitere Neugestaltung unter dem Stichwort »Graffelpater« – mit diesem Spitznamen war Pramberger von der Bevölkerung aufgrund seiner Sammeltätigkeit bedacht worden – durchgeführt. Anders als in der Vorkriegsaufstellung ist allerdings ein Großteil der Sammlung in Depotverwahrung. Abbildung 3: Der »Graffelpater« beim Sammeln
Foto: Volkskundemuseum St. Lambrecht.
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Ergänzt werden soll der Blick auf das Lebenswerk Prambergers mit dem Hinweis auf sein schriftstellerisches Schaffen, welches schon vor seiner Lambrechter Zeit für seine Interessen kennzeichnend war. So war er in der Melker Zeit als Nachhilfelehrer zum Mentor des jungen Albert Kiehtreiber geworden, der als Albert Paris Gütersloh in die österreichische Literaturgeschichte einging.7 Pramberger versuchte sich selber als Lyriker, als Verfasser von historischen Romanen und von Dramen. Einige seiner Werke, wie Der Pfleger auf Stein, Die Lambertuszelle, Die Kreuzfahrer, Abt Hartmann, sowie die Marienmine, welche alle in mehr oder weniger freier Weise die Klostergeschichte zum Thema hatten, wurden unter dem Pseudonym Walter von Elfenau veröffentlicht. Eine große Anzahl von Romanen, Epen und Erzählungen sowie Dramen verschiedenster Ausrichtung befinden sich in seinem Nachlass als Manuskripte und Typoskripte im Stift St. Lambrecht; weiterhin mehrere Bände mit lyrischen Gedichten und Balladen. Die Fabulierfreude Prambergers wurde ergänzt und bereichert durch seine anscheinend sehr ausgeprägte Fähigkeit, sein »Ohr am Mund des Volkes zu haben«. Unermüdlich zeichnete er eine Fülle von Sagen, Märchen, Geschichten, »Mythen«, Schnurren, Sprüchen und »Sagern« des Volkes auf, dokumentierte die Biografie seiner interessantesten Gewährsleute und erforschte ihre Quellen.8 Als einer von Prambergers »Bestsellern« erschien 1935 in Seckau das Werk Märchen aus der Steiermark, welches 1946 eine zweite Auflage erlebte und in weiterer Folge als Reprint herausgegeben wurde.9 Dieses Büchlein enthält als Variante des Rumpelstilzchens aus dem Gebiet Grebenzen das Hahnengiggerl. Ebenfalls in Seckau wurden 1937 die Burgsagen aus Steiermark verlegt. Eine Besonderheit im literarischen Wirken von P. Romuald Pramberger stellt seine umfangreiche und penibel geführte Autodokumentation dar. 73 Bände und Ordner, von ihm »Mikrokosmos« benannt, bieten ab 1895 bis kurz vor seinem Tod tagebuchartig mit unzähligen Korrespondenzbeilagen und Ähnlichem eine große Informationsflut, in welcher man schier zu ertrinken droht. Zwischen 1948 und 1966 entstand dazu ein 18-bändiges Typoskript, Erinnerungen.
7
Irmgard Hutter: Gütersloh. Die ersten zwanzig Jahre (1899-1918). In: A. P. Gü-
8
Jontes, P. Romuald Pramberger, S. 514-519.
9
Schlacher, P. Romuald Pramberger, S. 238, Nr. 81.
tersloh zum 100. Geburtstag. Wien 1987, S. 40-45.
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Mit der Schilderung von P. Romuald Prambergers Schaffen wurde der biografische Faden verlassen; er soll nun wiederum aufgenommen werden. Nachdem vom Abt nicht Pramberger, sondern P. Othmar Wonisch zum Archivstudium ans Institut für Österreichische Geschichtsforschung gesandt wurde, brachten die Jahre 1908/1909 für P. Romuald das Abgleiten in eine schwere Krise. Von seinem damaligen Wirkungsort Aflenz kam er ins Sanatorium Schweitzerhof in Graz-Wetzelsdorf und anschließend zur Erholung in die Pflegeanstalt der Barmherzigen Brüder nach Kainbach. Zurückgekehrt nach St. Lambrecht, war es offensichtlich die oben geschilderte Entdeckung des Reizes der volkskundlichen Studien- und Sammlungstätigkeit, die ihm neuen Auftrieb gaben und in den Jahren bis zum Beginn der NS-Zeit einen Großteil des bereits geschilderten Opus ermöglichten. Um die Wende zu den 1930er Jahren geriet das Stift St. Lambrecht in eine schwere ökonomische Krise, die nur durch einen Ausgleich und große Opfer an Grund und Boden und den Verlust von Kunstwerken in den Griff bekommen werden konnte. Die in dieser Zeit durch apostolische Visitatoren in den österreichischen Benediktinerstiften inaugurierte Reform nach dem Vorbild der Ideale des Beuroner Mönchtums, der sich auch der aufgrund der wirtschaftlichen Misere in St. Lambrecht eingesetzte apostolische Administrator – Abt Hermann Peichl vom Schottenstift – verpflichtet fühlte, war dem Wesen P. Romualds natürlich gänzlich entgegengesetzt. Zu Beginn der NS-Zeit wirkte P. Romuald in St. Marein im Mürztal, einer inkorporierten Pfarre des Stiftes. St. Lambrecht wurde nach schikanösen Hausdurchsuchungen als erstes österreichisches Stift bereits im Mai 1938 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, zugunsten des Gaues Steiermark enteignet und kommissarischer SS-Verwaltung unterstellt.10 Aufgrund dieser Ereignisse bewarb sich Pramberger um einen Posten als Kuratbenefiziat im Mayer-Melnhof’schen Schloss Pfannberg bei Fronleiten. Obwohl es von verschiedenen Seiten an ihn herangetragen wurde, war er nicht bereit, Ordensstand und priesterlichen Dienst aufzugeben, er bemühte sich allerdings um ein Exklaustrationsindult. Schon 1937 hatte Dr. Stanek als Assistent Viktor Gerambs mit der Aufnahme von Märchen und Sagen, die Pramberger gesammelt hatte, für das
10 P. Stefan Jagoschütz: Das Benediktinerstift St. Lambrecht im Nationalsozialismus 1938-1945. Theologische Diplomarbeit, Salzburg 1990.
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von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ins Leben gerufene »Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung« begonnen. Für den durch die Ereignisse von 1938 verunsicherten Pramberger war die Mitarbeit bei diesem Projekt, welches dem »Ahnenerbe« integriert wurde, eine wünschenswerte materielle Hilfe.11 Ab Mitte 1943 wechselte er als freier Mitarbeiter ins Schloss Anif bei Salzburg; ein Ortswechsel, der ihm die Mitarbeit bei diesem Projekt erleichterte. Von 1947 bis 1956 war er schließlich Missar bei der Familie Auersberg in Schloss Weitwörth in Nußdorf bei Haunsberg. Eine Rückkehr in das nach der nationalsozialistischen Ära im Jahr 1946 wiedererstandene St. Lambrecht war für Pramberger keine Option und er behielt den Status der Exklaustration bei. Seine nicht einfache materielle Situation verbesserte sich durch eine 1950 gewährte Ehrenrente des Landes Steiermark in »Würdigung der für die steirische Volkskunde geleistete[n] Lebensarbeit« und gegen Überlassung seiner handschriftlichen 45 Folianten der »Volkskunde«.12 Neben Viktor von Geramb war es vor allem ein Verdienst von Hanns Koren, dass es zu dieser für Pramberger positiven Lösung gekommen war. 1956 übersiedelte P. Romuald Pramberger mit seiner langjährigen Wirtschafterin und Nichte Elisabeth Woisetschläger nach Mautern in Steiermark, wo sie bei der Familie der Schwester Woistschlägers, Maria Stanzinger, eine Wohnung beziehen konnten. Schon in den Jahren zuvor hatten sich die Kontakte zur Steiermark verdichtet. Die Gemeinden St. Blasen und St. Lambrecht ernannten P. Romuald Pramberger 1952 bzw. 1954 in Würdigung seiner Erarbeitung der Hausund Hofgeschichte der Gemeinden zu ihrem Ehrenbürger. In St. Blasen – wo er beim Moar zu Lessiach, dem Heimathof von Abt Severin Kalcher, Quartier bezog – zelebrierte er schließlich 1954 mit großer Festlichkeit sein Goldenes Priesterjubiläum. Das Diamantene feierte er unter Teilnahme des neuen St. Lambrechter Oberen Abtkoadjutor Maximilian Aichern in Mautern. Hoch betagt verstarb P. Romuald Pramberger am 7. April 1967 in Mauterndorf und wurde am 11. April, einen Tag vor seinem 90. Geburtstag, im Konventfriedhof von St. Lambrecht beerdigt, womit sich der Lebenskreis dieses St. Lambrechter Mönchs und Original schloss.
11 Drusowitsch, Romuald Pramberger, S. 435-481; Jontes, P. Romuald Pramberger, S. 512 und S. 517. 12 Schreiben bei: Drusowitsch, Romuald Pramberger, S. 509a.
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L ITERATUR Helga Drusowitsch: Romuald Pramberger. Leben und Wirken. Geisteswissenschaftliche Dissertation, Graz 1978. Irmgard Hutter: Gütersloh. Die ersten zwanzig Jahre (1899-1918). In: A. P. Gütersloh zum 100. Geburtstag. Wien 1987, S. 40-45. P. Stefan Jagoschütz: Das Benediktinerstift St. Lambrecht im Nationalsozialismus 1938-1945. Theologische Diplomarbeit, Salzburg 1990. Günther Jontes: P. Romuald Pramberger (1877-1967) und die Volkserzählung. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 91/92 (2000/2001), S. 511-520. Hanns Koren: Romuald Pramberger. In: Momentaufnahmen. Menschen, die mir begegneten. Graz/Wien/Köln 1975, S. 126-133. Romuald Pramberger: Das Volkskundemuseum in St. Lambrecht. Graz 1921. Johannes Schlacher: P. Romuald Pramberger. In: Bibliographie der deutschsprachigen Benediktiner 1880-1980, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Ergänzungsband 29-1. St. Ottilien 1985, S. 236-240. Bernhard Schweighofer: Romuald Prambergers »Volkskunde«. Das ungewöhnliche Werk eines ungewöhnlichen Mannes. Eine kulturhistorische Betrachtung für das Referat Volkskunde am Landesmuseum Joanneum. Graz 1999; auch in: Berichte des Museumsvereines Judenburg 34 (2001), S. 3-11.
»Ich selbst habe mit Vorteil zwei Sympathiemittel angewendet…« Romuald Pramberger und seine gesammelten »Superstitiosa« M ICHAEL J. G REGER
Im Jahre 1903 führten seine verschlungenen biografischen Wege Pater Romuald Pramberger ins Benediktinerstift St. Lambrecht im oberen Murtal (siehe den Artikel von Benedikt Plank in diesem Buch). Recht bald begann Pramberger, angestoßen von P. Otto Hagenhofer1 und beeinflusst von Bekanntschaften in der Gegend, wie dem Hammerschmied Johann Brunner,2 das nähere Stiftsumfeld, den Markt und die Stiftspfarren zu durchwandern. Hie und da dokumentierte Pramberger, der auch bildnerisch talentiert war, zeichnend und schreibend und fotografierte auch. Obwohl Pramberger seinen »wissenschaftlichen Werdegang« offiziell mit der Forschungswanderung zu zwei Bauerngehöften am 24. Oktober 1911 beginnen lässt,3 benennt er in seiner Volkskunde bereits ab 1905 »Orte, wo ich forschte«.4
1
Vgl. Romuald Pramberger: Das Volkskundemuseum in St. Lambrecht. Graz 1921, S. 3.
2
Vgl. Romuald Pramberger: Volkskunde [45 handschriftliche Folianten], Bd. 1:
3
Vgl. Pramberger, Volkskundemuseum, S. 4.
4
Vgl. Pramberger, Volkskunde, S. 565: So 1907 z.B. »Straßburg, Gurk, Friesach«
Einführung, S. 217.
im Kärntischen und »Dürnstein« in der Steiermark. Am Silvestertag 1910 besichtigte Pramberger sein erstes Rauchstubenhaus.
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Vorerst beschränkte sich Pramberger auf das Zeichnen von Hausrat und Geräten, bis er, abermals angeregt durch Johann Brunner,5 begann, diese Dinge zu sammeln und ins Stift zu verbringen. Fachliche Beratung empfing der Autodidakt6 Pramberger ab dem 6. Januar 1913 zum Beispiel vom Begründer des Volkskundemuseums am Steiermärkischen Landesmuseum (heute: Universalmuseum) Joanneum in Graz, Viktor (damals: von) Geramb.7 Die rasch wachsende Sammlung von Dingen aller Größe und Art, auch allen Erhaltungszustandes – Pramberger sammelte getreu dem Grundsatz, »[…] es sei nichts zu gering fürs Museum, wenn es zur Charakterisierung des Volkes beiträgt […]«8, – wurde zuerst in einem größeren Stiftsraum untergebracht.9 Weiters legte Pramberger eine »wirtschafts«- oder »handelskulturkundliche« Sammlung (Verschlussmarken, Plakate, Etiketten, Notgeld usw.) an, die er auch über die Jahre des Ersten Weltkrieges beständig ausbaute und für die er von seinen Freunden in Bayern, darunter auch Rudolf Kriß, immer wieder wertvolle Zusendungen erhielt. Diese Sammlung wurde nach der Zwangsverwaltung des Stiftes durch die Nationalsozialisten »in alle Winde zerstreut«10, teilweise möglicherweise auch erst in den letzten Kriegsjahren vernichtet.
5 6
Vgl. Pramberger, Volkskundemuseum, S. 4. Pramberger hörte zwar einige Semester Medizin (auf diese Grundausbildung berief er sich auch als Assistent des Neumarkter Arztes während des Ersten Weltkrieges, als der er nach eigenen Angaben u.a. 276 Zähne reißt – vgl. Helga Drusowitsch: Romuald Pramberger. Leben und Wirken, 2 Bde. Phil. Diss., Graz 1978, hier Bd. I, S. 160 – und inskribierte im Herbst 1918 in Graz an der Universität, wobei er mit Viktor (von) Geramb sogar schon ein Dissertationsthema bespricht (vgl. Drusowitsch, Pramberger, hier Bd. I, S. 193). Es kommt allerdings zu keinem Studienabschluss.
7
Vgl. Pramberger: Volkskundemuseum, S. 4; vgl. zur Gerambތschen Gründung in Graz und dessen Vorgeschichte z.B. Bernhard Schweighofer: »Heimatschutz« und »Volksbildung«. Zur Geschichte des »Steirischen Volkskundemuseums« von 1911-1949. Geisteswissenschaftliche Diplomarbeit, Graz 2000; Michael J. Greger/ Johann Verhovsek: Viktor Geramb. 1884-1958. Leben und Werk. Wien 2007.
8
Pramberger, Volkskundemuseum, S. 4.
9
Vgl. ebd.
10 Drusowitsch, Pramberger, Bd. II, S. 443. Mit dem Ausdruck »in alle Winde zerstreut« widerspricht sich die Biografin Prambergers oder Pramberger in seinen
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Einen ersten Einschnitt in Prambergers gerade erwachtes Sammelstreben brachte schon der Erste Weltkrieg mit sich.11 Ab dem Sommer 1919 siedelte die Sammlung dann ins sogenannte Jägerhaus, ein Nebengebäude des Stiftes. Einen ersten gedruckten Führer durch sein »Volkskundemuseum« publizierte Pramberger 1921.12 Für seine umfangreichen Schriften und Dokumentationen, die sich heute zum Teil im Archiv des Volkskundemuseums am Universalmuseum Joanneum in Graz befinden,13 hatte Pramberger ab 1935 eine Art Ausstellungsraum im Stiftsareal außerhalb der Klausur.14
D ER S AMMLUNGSBESTAND UND DIE I NVENTARE – V ERSUCH EINER R EKONSTRUKTION Aufgrund des enormen Fleißes und Engagements Prambergers wuchs die Sammlung gut. Pramberger sammelte nicht nur bäuerlichen Hausrat, sondern auch Druckgrafik aller Größen und Arten, Bücher sowie Broschüren und Flugblätter. Zusätzlich hielt Pramberger bei allen möglichen Gelegenheiten und auch im Radio Vorträge (1933 bereits den 514.15) und versuchte, Erkenntnisse aus seiner Sammlungstätigkeit zu vermitteln, die ein begeistertes
»Erinnerungen« gewissermaßen selbst, da Drusowitsch auf S. 527 schreibt –, und dazu auch den Zeitzeugen Viktor Theiß zitiert – dass sich 1942 und auch 1943 die handelskulturgeschichtliche Sammlung noch »an dem von ihnen angegebenen Ort« (Brief Viktor Theiß an Romuald Pramberger vom 4. Juli 1953) bzw. später im Prälatensaal des Stiftes befunden hatte. 11 »Die jeweils erworbenen Sachgüter, die nun schon auf versperrten Dachböden gelagert wurden und nicht mehr für bloße Dankesworte zu erstehen waren, ließ er mit Fuhrwerken nach St. Lambrecht bringen. Auf diesen Wanderungen schien Pramberger glücklich.« Drusowitsch, Pramberger, Bd. I, S. 207. 12 Vgl. Pramberger, Volkskundemuseum, S. 5. 13 Romuald Pramberger verwendete die 45 Folianten seiner »Volkskunde« als »Gegengabe« für eine »Ehrenrente« des Landes Steiermark, die er ab 1. Januar 1950 bis zu seinem Tod bezog. Pramberger kehrte auch nach 1945 nicht mehr auf Dauer in seine Klostergemeinschaft zurück. Vgl. Drusowitsch, Pramberger, Bd. II, S. 507-512, besonders S. 509a. 14 Vgl. ebd., S. 419. 15 Ebd., S. 404.
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Publikum fanden. Einen massiven Einbruch erlitt Prambergers Sammeleifer, bezogen auf die Objektebene, durch mehrere Geschehnisse: •
•
Prambergers innerliche Entfremdung vom Stiftsleben, die sich in örtlicher Distanz und im Bemühen ausdrückte, nach dem 12. März 1938 nicht mehr ins Stift zurückkehren zu müssen. Seit dieser Zeit lebte Pramberger praktisch exklaustriert.16 Die Zwangsenteignung des Stiftes durch die Nationalsozialisten. St. Lambrecht war das erste österreichische Stift, das enteignet und unter kommissarische Verwaltung gestellt wurde. Im Zuge der Plünderungen nach dem 12. März 1938 wurde das Volkskundemuseum und auch Prambergers Schriftenzimmer mehrmals in Mitleidenschaft gezogen.17 Was dabei bzw. über die Kriegsjahre und die Umlagerung der Sammlung in den Prälatensaal des Stiftes verloren ging, entwendet oder zerstört wurde, lässt sich heute nicht mehr genau sagen.
Im Laufe der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sammlung mehrmals neu aufgestellt, aber nie komplett inventarisiert.18 Auf ein umfangreiches Inventar verzichtete schon Romuald Pramberger, der im ersten Band seiner Volkskunde allerdings mehrere Kurzinventare verfasste. Jenes zum Volkskundemuseum begann er am 1. Oktober 1917. Dieses Inventar endet mit Nachträgen bei der Nummer 3065.19 Pramberger gruppiert die Dinge nicht nach einer Materialsystematik, sondern nach dem Aufstellungsort im Stiftsmuseum. Ab 1922 begann Pramberger mit weiteren Inventarsystemen, wobei diese teils beschädigt, teils von ihm selbst wieder aufgegeben wurden.20 Die gesammelte Grafik inventarisierte Pramberger in seiner Volkskunde (Bd. I) nach einer laufenden Nummer und einer Signatur, die sich auf den jeweiligen Graphik-Folio-Band bezog, in den Pramberger die Graphik ur-
16 Vgl. dazu den Text von Benedikt Plank in diesem Band und ebd., S. 460a-c. 17 Da Pramberger damals als Aushilfe in St. Marein im Mürztal tätig war, konnte er seine Sammlungen nicht bewachen. 18 Siehe dazu den Aufsatz von Benedikt Plank in diesem Band. 19 Pramberger, Volkskunde, Bd. I, S. 449 bzw. S. 494. 20 Pramberger, Volkskunde, Bd. I, »Über spätere Kataloge des Museums« [o. S., zw. S. 563 und S. 565 im Foliant eingebunden].
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sprünglich eingeordnet hatte, zum Beispiel »G I 1« für »Großfolioband I, Nr. 1«.21 Diese Signaturen befinden sich heute noch, mit Bleistift geschrieben, auf den Rückseiten vieler Grafiken. Die Einordnung in diese Bände ist allerdings heute aufgelöst. Abbildung 1: Der Beginn der langen Reihe von 45 Folianten der Volkskunde Romuald Prambergers im Archiv des Volkskundemuseums am Universalmuseum Joanneum in Graz – ca. 22.500 handschriftliche Seiten
Foto: Michael J. Greger.
Addiert man die alten Inventarnummern des »Volkskundemuseums« (bei Pramberger »Bauernmuseum«), des »Archivs des Volkskundemuseums« (77 Bücher und Buchfragmente) und des Graphikbestandes (mit Nachträgen 2326 Nummern), so kommt man auf über 5460 Nummern, die bis Mitte März 1938 in der Sammlung vorhanden waren. Was davon ist nun superstitiös?
21 Vgl. ebd., S. 503-553.
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Abbildung 2: Initiale mit eigenhändiger Miniatur (Zauberer und Teufel) im Band Volksglaube der Volkskunde Romuald Prambergers
Foto: Michael J. Greger.
E XKURS : R OMUALD P RAMBERGER UND DER »ABERGLAUBE « In die Einleitung einer ersten Fassung seines Volksglaubens aus 1918 (Bd. II der Volkskunde) schreibt Romuald Pramberger gleich zu Beginn die bedeutungsvollen Sätze: »Aberglauben und Glauben! Wer kann zwischen ihnen eine scharfe Grenze ziehen? Nicht einmal der theologisch=juridisch gebildete Spezialist.«22 Pramberger meint, auch mit einem Verweis auf Albert Hellwigs Buch Verbrechen und Aberglaube, dass man zu einer absoluten Abgrenzung auch auf theologischem Weg nicht gelangen kann, und wörtlich: »Deshalb habe ich mit dem Worte ›Aberglaube‹ als eine Kategorie=Benennung gebrochen und habe für alles, was nicht unbedingt als kirchlich approbierte Andacht
22 Pramberger, Volkskunde, Bd. II: Teil »Volksglaube«, S. 3.
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gesehen werden kann, ja und sogar für mancherlei (z.B. Benediktuspfennig), was kirchlich approbiert, doch der Glaube an deren Kraft größer ist als die Kirche beabsichtigt hat, den Namen ›Volksglaube‹ geprägt.«23
Pramberger äußert sich in seinen Erinnerungen im Rahmen eines Vortragsbesuches in München und eines Besuches bei Rudolf Kriß in Berchtesgaden in einem Gespräch mit einem Mediziner, der bei Kriß Objekte für die Hygieneausstellung in Leipzig suchte, zum Aberglauben wie folgt: »Dann nahm ich überhaupt gegen das dumme Wort Aberglaube Stellung. Denn man wisse nicht, wo der Glaube aufhöre und der Aberglaube beginne; so sei die alte Dreikönigswasserweiheformel weit abergläubischer als die Sieben-Schloss-Gebete, und dennoch werden diese verdammt, jene gebilligt.«24
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DER
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Natürlich sind nicht die Dinge »an sich« superstitiös (abergläubisch), sondern der Umgang mit ihnen durch den Menschen. Grundsätzlich könnte superstitiöser Dinggebrauch, bezogen auf individuelle Praktiken, auf viele Objekte zutreffen. Im Hintergrund der Inventarisation dieser Sammlungsobjekte im Benediktinerstift St. Lambrecht standen folgende Überlegungen: •
Die Durchsicht und Inventarisation samt Fotodokumentation des superstitiösen Bestandes der Sammlung Pramberger in Bezug auf eine geplante Ausstellung und die Speicherung der Ergebnisse in einem zeitgemäßen Datenbanksystem, in unserem Fall das von Joanneum Research in Graz entwickelte System IMDASpro.
23 Ebd. Hier überschätzt Pramberger etwas seinen fachlichen »Impact«. Der Begriff »Volksglaube« wurde zwar von ihm verwendet, aber nicht von ihm geprägt. Im aktuellen Internet-Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/Volks glaube [Abruf 11.05.2012] wird übrigens unter dem Begriff »Volksglauben« auf das Synonym »Aberglaube« verwiesen. 24 Drusowitsch, Pramberger, Bd. II, S. 371, die hier aus Prambergers »Erinnerungen« zitiert.
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•
Die virtuelle »Zusammenführung« der Dingebene von Stift St. Lambrecht mit Prambergers dazugehörigen Aufzeichnungen in seinen Volkskunde-Bänden in Graz.
Da nicht sämtliche in der Sammlung vorhandenen Objekte inventarisiert werden konnten, musste eine pragmatisch-selektive Annäherung erfolgen. Dies geschah einerseits über die verschiedenen Inventare Prambergers (siehe oben). In denen hatte Pramberger – entgegen seinem eigenen definitorischen Verzicht auf den Begriff »Aberglauben« – bereits zum Beispiel nach »Aberglauben und Volksglauben«25 gruppiert. Auch seine Museumsaufstellung im gedruckten Museumsführer zeigt ja eine Systematik. Etliche dieser Dinge wollte ich versuchen »wiederzufinden«. Bei solchen Annäherungen besteht natürlich die Gefahr, dass tradierte, möglicherweise überholte, Zuschreibungstraditionen perpetuiert werden und manches vielleicht auch übersehen wird.26 Andererseits geschah auch eine Annäherung über das Depot, in dem zwar keine lückenlose Systematik herrscht, aber die Sammlungsobjekte zumindest grob-systematisch aufgestellt sind. So konnte man auch hier das interessierende Gegenstandskonvolut grob einkreisen. Am Ende wurden 454 Inventarnummern vergeben. Vor allem bei mineralischen und pflanzlichen Objekten konnte ich auf kollegiale Hilfe durch Expertinnen und Experten des Universalmuseums zurückgreifen, die prompt und mit allen technischen Hilfsmitteln versuchten, die »Rätsel zu lösen«. Die Gegenstände sind von sehr unterschiedlicher Komplexität, vom Mineral bis zum vielteiligen Amulett. Im Folgenden möchte ich einen kurzen Blick über einige spannende Objekte bieten.
25 So z.B. im Grafik-Inventar, siehe Pramberger, Volkskunde, Bd. I, S. 508-510. 26 Dieser Frage der Perpetuierung möglicherweise überholter Zuschreibungen durch die Museen in der alltäglichen Arbeit wurde auch in der Diskussion anlässlich des Symposiums in Graz vom 16. bis zum 19. November 2011 in Graz durch Martin Scharfe und Helmut Groschwitz besonderes Augenmerk gewidmet.
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E IN Ü BERBLICK Objekt Nr. 181/1-12 stellt einen Teil des Nachlasses der Abbeterin Katharina Tri(e)gler (1833-1896) dar. Pramberger konnte die »Abbeter Kathl«, wie sie in St. Lambrecht genannt wurde, nicht mehr persönlich kennen lernen, aber er erfuhr von jener Familie, bei der die Tagelöhnerin des Stiftsrentmeisters in ihren letzten Lebensjahren in einem düsteren Stübchen wohnte, etliches von ihren Abbetpraktiken. Von jener Familie bekam Pramberger auch einige Dinge aus dem Nachlass von Tri(e)gler.27 Sehr wahrscheinlich hat Pramberger zur gesamtheitlichen Darstellung und auch aus Gründen der Verlustvorbeugung die teilweise kleinen Mineralien selbst in Zündholzschachteln des frühen 20. Jahrhunderts geordnet und diese wiederum in ein grob gezimmertes Holzkistchen samt Glasdeckel (gesichert mit Reibern) verpackt. In dem Kistchen konnte ich nun folgende Objekte28 auffinden und zum Teil bestimmen: Neben zwei Stämmchen Weidenkätzchen, einem metallenen Schröpftiegel und dem Rest eines Skapuliers fand sich ein zugefeilter und geglätteter »Klapperstein« – eine Toneisenstein-Konkretion, die beim Schütteln klappert und als Amulett für Schwangere bzw. als Prophylaxe für eine leichte Geburt verwendet wurde.29 Weiters konnte ein Calcit, von Pramberger fälschlich als »Chalcedon« bezeichnet, zwei Stück Arsensulfid oder »Rotglas«, drei Stück Auripigment30, ein Dolomit, ein Gemenge aus Gips (Hauptbestandteil), Calcit, Dolomit, Quarz und Chlorit,31 drei Stück Kolofonium, ein Silex (Opal-CT, Quarzvarietät Chalcedon) sowie ein Papier-
27 Darunter laut Prambergers Volkskunde das Tri(e)glersche Medizinbuch am 13. Juli 1912, das wir im Archiv leider derzeit nicht auffinden konnten. Vgl. Pramberger, Volkskunde, Bd. XVIII: Und bist du krank (Volksmedizin I), S. 75. 28 Die Mineralien und Harze konnte ich nur mit Hilfe von Bernd Moser, HansPeter Bojar und Barbara Leikauf von der Abteilung Mineralogie des Universalmuseums Joanneum über mikroskopische Untersuchungen und Röntgen-Diffraktrometrie bestimmen. 29 Vgl. z.B. Marie Andree-Eysn: Volkskundliches aus dem bayrisch-österreichischen Alpengebiet. Braunschweig 1910, S. 140. 30 Mit geringen Anteilen von Realgar. 31 Dieses Gemenge könnte auch künstlich hergestellt sein. Um dieses gründlich zu analysieren, müsste man die Gesteinsprobe aber durchschneiden, was aus museologischen Gründen unterlassen wurde.
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päckchen mit dunklen Bröcklein eines weiteren Harzes bestimmt werden. Beim Originalinventar dieser Objekte ließ Pramberger zwei Nummern frei, offenbar konnte er zur damaligen Zeit die Minerale nicht näher bestimmen. Der von ihm notierte Alaun konnte wiederum nicht aufgefunden werden. Abbildung 3: Der Schaukasten Prambergers für den Nachlass der Katharina Triegler, St. Lambrechter Abbeterin (1833-1896)
Foto: Michael J. Greger.
Obwohl Pramberger einiges über Tri(e)glers Praxen, zum Beispiel des Abbetens mit Uringefäßen oder des »Umreißens« mit Hilfe eines Luchszahnes, aufzeichnet,32 notiert er in seiner Volkskunde nicht, wozu Tri(e)gler die verschiedenen Minerale und Harze benötigt und wie sie jene verwendet hat. Bei den getrockneten Pflanzen sticht ein großer Bestand an Allermannsharnisch (Allium victorialis) hervor, jene Pflanze, deren geschälte Sprossachsenoberfläche wie ein Kettenhemd aussieht bzw. die ob der vielen Zwiebelhäute auch »Neunhemderwurz« genannt wurde. Man hat Allermannsharnisch, der Bergleute als Amulett begleitete, aber auch von Reisenden (macht
32 Vgl. Pramberger, Volkskunde, Bd. XVIII: Und bist du krank (Volks-Medizin I), S. 91f.
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»hieb- und stichfest«) oder in Tierställen benutzt wurde, auch Kindern unter das Kopfkissen gelegt oder um den Hals gehängt.33 Interessant ist auch das nun fast 100 Jahre alte Stämmchen eines Gamander-Ehrenpreises (Veronica chamaedrys), des sogenannten Nebenaus, der, ob seines charakteristischen Blütensitzes (nie an der Spitze der Pflanze, sondern an Seitentrieben) die Signatur trug, Blitzschläge »nebenaus«, also daneben, vorbeigehen zu lassen. Dazu mussten, so Pramberger in seiner Volkskunde, drei Kreuze mit frischen Nebenaus-Stämmchen auf den Tisch gelegt werden, und diese wurden dann mit einem Milchstötzel abgedeckt.34 Weitere Vorgangsweisen wären die Verbrennung im Herd, die Verbrennung im Wetterfeuer oder das Aufstecken beim Stallfenster.35 Unter den bekannten, klassischen Grimoiren, den Zauberbüchern36, ist das Romanusbüchlein (Inv.-Nr. 120, 386, 409, 448) öfter vertreten, darunter ein Exemplar aus (wohl fingiert) »Brabant«, zwei ähnlichen Typs ohne Provenienz und sehr gebraucht sowie ein hart gebundenes, »Glatz 1788, gedruckt bei Franz Pompejus […]«. Mit dem letzten ist der bei Adolf Spamer genannte früheste datierte Druck des Romanusbüchleins, dessen Namens-
33 Vgl. z.B. Adolf Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Dritte Bearbeitung durch Elard Hugo Meyer. Berlin 1900, S. 101; vgl. Heinrich Marzell: Allermannsharnisch. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hans Bächtold-Stäubli unter besonderer Mitwirkung von Eduard HoffmannKrayer. Berlin 1927ff., Bd. 1: Aal-Butzemann, Sp. 264-267. 34 Ein Milchstötzel ist ein flaches Holzbundgefäß, z.B. zum Abrahmen der Milch – vgl. Vom Leben auf der Alm [Ausstellungskatalog]. 2. Aufl. (= Kleine Schriften des Landschaftsmuseums Schloß Trautenfels am Steiermärkischen Landesmuseum Joanneum 12). Trautenfels 1988, S. 50. Diese Vorgangsweise konnte Pramberger bei Philipp W. in Schwarzenbach (Gemeinde St. Lambrecht) dokumentieren. Vgl. Pramberger, Volkskunde, Bd. XVIII: Und bist du krank (VolksMedizin I), S. 255. 35 Ebd. 36 Das Romanusbüchlein kann, nach Bachter und Peuckert, auch bei der sogenannten magischen Hausväterliteratur eingereiht werden. Vgl. dazu Stephan Bachter: Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung magischen »Wissens« seit dem 18. Jahrhundert. Geisteswissenschaftliche Diss., Universität Hamburg 2005, S. 36, der hier Will-Erich Peuckert: Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert. Berlin 1967, zitiert.
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herkunft unklar ist, vertreten.37 Diesen Typ bezeichnet Spamer als besonders in Österreich weit verbreitet. Es nennt ihn auch der Ennstaler Laienforscher Karl Reiterer38. Die beiden Exemplare ohne Provenienz ähneln sehr dem bei Spamer abgebildeten Exemplar aus dem Grazer Volkskundemuseum.39 Das 6. und 7. Buch Mosis (Inv.-Nr. 2) ist in der sehr verbreiteten Fassung, verlegt von J. Scheible in Stuttgart 1851, vertreten,40 ebenso Albertus Magnus bewährte und approbierte sympathetische und natürliche Egyptische Geheimnisse für Mensch und Vieh, und zwar die »Zwanzigste vermehrte und verbesserte Auflage« mit dem (wohl auch fingierten) Verlagsort »Toledo« (Inv.-Nr. 447). Interessant ist auch ein handgeschriebenes Schatzsucher- und Rezeptbüchlein (Inv.-Nr. 1) aus Triebendorf (Bezirk Murau), so der handschriftliche Vermerk auf dem Deckblatt des Büchleins, das ursprünglich als »Steuerbüchel« fungierte. Die Steuereintragungen auf dem Deckblatt innen stammen aus 1821 und 1822, woraus sich eine ungefähre zeitliche Einordnung ergibt. Auf den 29 in Kurrentschrift beschriebenen Seiten sind eine längere Wegbeschreibung zu einer Schatzhöhle, der »Freimanngruben«, und die Beschwörung des Schatzhüters, eines »Freimannes Karolus«, zu finden. Dabei spielen auch magische Versatzstücke wie ein Totenkopf und ein beinerner Ring eine Rolle. Weiters sind mehrere, mit lokalen Flurnamen bezeichnete Schatzgruben und -orte genannt. Schließlich ist »Ein andächtiges Gebeth zu
37 Vgl. Adolf Spamer: Romanusbüchlein. Historisch-philologischer Kommentar. Bearbeitet aus seinem Nachlaß von Johanna Nickel. Berlin 1958. 38 Karl Reiterer: Ennstalerisch. Volkstümliches aus der nordwestlichen Steiermark. Graz 1913. Reiterer (1860-1934) war Volksschullehrer und sammelte an seinen Dienstorten Donnersbachwald und Weißenbach bei Liezen, später auch in der Südweststeiermark, immaterielles Kulturerbe, das er in Broschüren publizierte. 39 Spamer, Romanusbüchlein, S. 30f. und Tafel V. 40 Vgl. Bachter, Anleitung, S. 8 und S. 112f., wo Bachter drei Typen dieses 6. und 7. Buches Mosis unterscheidet, die bisher in der Forschung nicht beachtet wurden. Der erste Typ teilt Textformen biblischer, meist mit Moses in Zusammenhang gebrachter Wunder ein, der zweite Typ beinhaltet Beschwörungsformeln höllischer Geister während der dritte Typ sympathiemedizinische Rezepte und »Elemente einer popularisierten magia naturalis« enthält. Das erwähnte Exemplar möchte ich dem zweiten Typ zuschreiben.
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den heiligen Christofum ein gewisses Geld zu erlangen«41 samt »Beschwörung« und »Abdankung« im Büchlein sowie am Ende mehrere Rezepte, »Für die Lungen«, zur »Herzstärkung«, »[e]ine gute Flax-Salbe zu machen« und »[f]ür den Krebs«. Die bekannten Broschüren wie »Die sieben Schloßgebether« (Inv.-Nr. 376) oder die »Sieben heiligen Himmelsriegel« (Inv.Nr. 375) findet man ebenso in der Sammlung Pramberger. Aber genauso auch einen handgeschriebenen Diebssegen (z.B. Inv.-Nr. 143) auf einem mehrfach gefalteten Doppelblatt. An Münzen und Medaillen sind ein »Muttergottes-Zwanziger« (15Kreuzer-Münze, Inv.-Nr. 30), der »Geldhüter beim Viehhandel«, 42 zu erwähnen sowie ein »Judas-Schekel«43 (Inv.-Nr. 34). Diverse Amulett-Anhänger wie das »Wolfgangi-Hackel« (Inv.-Nr. 33),44 die »Nepomukszunge« (Inv.-Nr. 29) oder auch die »Freikugel«45 im ledernen Umhängebeutelchen (Inv.-Nr. 49/1-2) sollten die jeweiligen Trägerinnen oder Träger (auch Wilderer) vor Schaden, Verleumdung oder Verletzungen bewahren. Als Talisman und Potenzmittel fungierte das »Maderboanl«, der Penisknorpel eines Marders oder Iltisses (Inv.-Nr. 256).46
41 Vgl. Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. 2., durchges. und erw. Aufl. Stuttgart 2009, S. 96, oder Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993, S. 297. 42 Pramberger, Volkskunde, Bd. II: Volksglaube, S. 276, inklusive Zeichnung. 43 Zum sogenannten Görlitzer Schekel, einer erdichteten Währung, vgl. Hartmann, Kunstlexikon. Online: http://www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_3612.html [Abruf 13.02.2012]. 44 Vgl. Pramberger, Volkskunde, Bd. II: Volksglaube, S. 8; weiters zum Erwerb dieses Stückes Drusowitsch, Pramberger, Bd. I, S. 215f.; vgl. Eva Kreissl/Roswitha Orac-Stipperger/Jutta Trafoier: heilsam. Volksmedizin zwischen Erfahrung und Glauben. Katalog zur Sonderausstellung von 1. Mai bis 29. Oktober 2006 im Volkskundemuseum am Landesmuseum Joanneum in Graz. Graz 2006, S. 28. 45 Vgl. Pramberger, Volkskunde, Bd. 2: Volksglaube, S. 277; Pramberger, Volkskundemuseum, S. 12. 46 Vgl. Andree-Eysn, Volkskundliches, S. 142; vgl. Alfred Webinger: Marder. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter besonderer Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Bd. 5: KnoblauchMatthias. Berlin/Leipzig 1932-1933, Sp. 1633f., hier Sp. 1633.
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Interessant auch die verschiedenen Typen47 von »Räucher«- oder »Rauchstangen«, gerne als »Mariazellerrauch« zusammengefasst und deshalb bedeutsam, da sie heute nicht mehr erzeugt werden. Pramberger differenzierte aber »Rauch gegen Harnwind« (Inv.-Nr. 73/1-6), »Wetterrauch« (Inv.-Nr. 63/1-4) oder »Fraisrauch« (Inv.-Nr. 174/1-7). 1921 war im Museum auch noch »Afelrauch«48, so Prambergers Inventar. Zur näheren Bestimmung der Inhaltsstoffe könnte ein Angebots-Katalog des »Krauthändlers« Franz Rürsch aus Mariazell, wahrscheinlich von 1804,49 dienen, den Pramberger ebenso in sein Museum (Inv.-Nr. 422/1-2) aufgenommen hat. So befanden sich in den »Rauch Kerzen« vor über 200 Jahren (wobei Rürsch hier nach dem Einsatzfeld nicht differenziert) zumindest »Weyrauch Oliban(um) el(ectum)«, ausgewählter Weihrauch, »Agtstein Succin(um) citr(icum)«, wahrscheinlich Bernstein, »Waldrauch Oliban(um) syl(vestre)«, weißes Harz, sowie »Meer Hirssaamen Sem(en) Milii Sol(i)«, Meerhirse, Steinsame, Lithospermum officinale L.50 Zur Herstellung schreibt Rürsch: »Einige Blumen, und ver-
47 Oberflächlich unterscheiden sich die Räucherstangen hauptsächlich durch den unterschiedlichen Dekor, einmal Blütenblätter (einfarbig z.B. gelb oder rosa) dicht an dicht, oder weniger Blütenblätter sowie »Steinsame« (Lithospermum officinale), der bei Hitze platzt und kleine Explosionen hören lässt. Vgl. Kreissl/ Orac-Stipperger/Trafoier, heilsam, S. 51; vgl. Pramberger, Volkskunde, Bd. II: Volksglaube, S. 66. 48 »Afelrauch« bzw. eine »Afelkerze« besteht, so Theodor Unger/Ferdinand Khull: Steirischer Wortschatz als Ergänzung zu Schmellers Bayerischem Wörterbuch. Graz 1903, S. 13, »aus Weyrauch [möglicherweise Olibanum electum – M.J.G.], Achstein [wahrscheinlich Bernstein], Myrrhen, Gaffer [Kampfer, Camphora], Saffran [wenn der teure, dann Stigmata Croci von Crocus sativus L.], Mastix [Mastixgummi, zumeist von Pistacia Lentiscus L.], Assant [Stinkasant, »Teufelsdreck«, der gehärtete Milchsaft der Wurzeln von Ferula foetida Reg. u.a.], Hirschhorn, Angelica [Angelica Archangelica L., die Engelwurzel], Bibenel [Pimpinellenwurzel, Radix pimpinellae von Pimpinella major L.], Wachs u. s. w«. Für die Bestimmung – es handelt sich klarerweise um heute übliche Annäherungen – danke ich Mag. pharm. Dr. phil. Bernd E. Mader, Graz. 49 Darauf lässt das kaiserliche Wappen Kaiser Franz II. schließen, leider ist die Jahreszahl durch Abriss des Etiketts beschädigt und schwer lesbar. 50 Für die Bestimmung danke ich Mag. pharm. Dr. phil. Bernd E. Mader, Graz.
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schiedene wohlriechende Kräuter mit Fichtenböch warmer zu einer Massa gemacht.«51 Komplizierter gestaltet sich das Verstehen von sogenannten »AmulettAgglomerationen«, wie zum Beispiel einem Jute-Säckchen mit verschiedenen Bestandteilen (Inv.-Nr. 224/1-9), die in einen Druck »Der Kampf mit dem Drachen« eingeschlagen sind: eine braune Haarlocke, kunstvoll mit dünnem Faden zu einer Acht gebunden, diverse Pflanzenstängel- und –blütenteile, ein Stücklein helles Wachs, ein Bruchstück einer roten, gemodelten Wachshand (?), eine 1-Kreuzer-Münze (Wien 1860)52 mit einem exzentrischen Loch (zum Umhängen?) und ein unregelmäßig abgerissener Papierstreifen. Leider konnte ich bisher zu diesem Objekt bei Pramberger nichts Erklärendes finden. Wie aber ist Pramberger selbst mit all diesen Mitteln und diesem Gedankenumfeld umgegangen? Hat er auch zu Mitteln der sympathetischen Heilkunde gegriffen? Im Band 18 seiner Volkskunde berichtet Pramberger über die erfolgreiche Anwendung zweier Sympathiemittel: »Ich selbst habe mit Vorteil zwei Sympathiemittel angewendet, eines bei einem Zahnweh, wo kein Mittel sonst half; ich habe in der Nacht einfach das nächste Sympathiemittel, das ich in meinen Notizen fand angewendet, ein Zündholz gespitzt und im Zahnfleisch herumgebohrt, hernach aber gieng ich hinab in die Quadratur und das Hölzchen in einem Lindenbaum53 verbeult; wie ich wieder das Zimmer betrat, war der Zahnschmerz gewichen und seitdem tut mir der (bis jetzt ganz niedergefaulte) Zahn nicht mehr weh. Im Gesprächston brachte ich dieses Sympathiemittel beim K.54 in Weißkirchen vor. F. nun hat (wie T. mir schrieb) dieses Mittel angewendet und hat auch Erfolg gehabt. Gegen Rheumatismus habe ich eine Roßkastanie in den Sack gesteckt und es hat dies Mittel mir und auch anderen geholfen. Man hat darüber gespottet und gelacht, und im Notfalle doch angewendet. Weit entfernt an
51 Siehe Benediktinerstift St. Lambrecht, Sammlung Pramberger, Inv.-Nr. 422/2. 52 Für die Bestimmung danke ich Priv.-Doz. Mag. Dr. Ursula Schachinger, Numismatische Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Büro Graz. 53 Die sogenannte Quadratur ist der große Kreuzgang des Benediktinerstiftes St. Lambrecht. Den erwähnten Lindenbaum zunächst einer Severin-Statue zeigen Archivfotos, er wurde mittlerweile umgeschnitten. 54 Namen von M. J. Greger anonymisiert.
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Dämonisches zu glauben, bringe ich das Dichterwort in Erinnerung: ›Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich der gewöhnliche Mensch nichts träumen läßt.‹«55
Abbildung 4: Die Amulett-Agglomeration, Benediktinerstift St. Lambrecht, Sammlung Pramberger, Inv.-Nr. 224/1-9
Foto: Michael J. Greger.
Viele weitere Objekte musste ich hier aussparen, sie zeugen heute noch von der Sammelleidenschaft und dem – auch autoethnografischen – Dokumentationsbedürfnis eines skurrilen Mönches, fleißigen Sammlers und leidenschaftlichen Autors.
55 Pramberger, Volkskunde, Bd. XVIII: Und bist du krank (Volks-Medizin I), S. 5f.
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L ITERATUR Marie Andree-Eysn: Volkskundliches aus dem bayrisch-österreichischen Alpengebiet. Braunschweig 1910. Stephan Bachter: Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung magischen »Wissens« seit dem 18. Jahrhundert. Geisteswissenschaftliche Dissertation, Universität Hamburg 2005. Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993. Helga Drusowitsch: Romuald Pramberger. Leben und Wirken. 2 Bde. Phil. Diss., Graz 1978. Michael J. Greger/Johann Verhovsek: Viktor Geramb (1884-1958). Leben und Werk. Wien 2007. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns BächtoldStäubli unter besonderer Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer: Berlin/Leipzig 1927-1942, darin: Heinrich Marzell: Allermannsharnisch, Bd. 1 1927: Aal-Butzemann, Sp. 264-267. Alfred Webinger: Marder, Bd. 5 1932-1933: Knoblauch-Matthias, Sp. 1632-1634. Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. 2., durchges. und erw. Aufl. Stuttgart 2009. Eva Kreissl/Roswitha Orac-Stipperger/Jutta Trafoier: heilsam. Volksmedizin zwischen Erfahrung und Glauben. Katalog zur Sonderausstellung von 1. Mai bis 29. Oktober 2006 im Volkskundemuseum am Landesmuseum Joanneum in Graz. Graz 2006. Vom Leben auf der Alm [Ausstellungskatalog]. 2. Aufl. (= Kleine Schriften des Landschaftsmuseums Schloß Trautenfels am Steiermärkischen Landesmuseum Joanneum 12). Trautenfels 1988. Will-Erich Peuckert: Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert. Berlin 1967, zit.n. Bachter 2005. Romuald Pramberger: Das Volkskundemuseum in St. Lambrecht. Graz 1921. Karl Reiterer: Ennstalerisch. Volkstümliches aus der nordwestlichen Steiermark. Graz 1913. Bernhard Schweighofer: »Heimatschutz« und »Volksbildung«. Zur Geschichte des »Steirischen Volkskundemuseums« von 1911-1949. Geisteswissenschaftliche Diplomarbeit, Graz 2000. Adolf Spamer: Romanusbüchlein. Historisch-philologischer Kommentar. Bearbeitet aus seinem Nachlaß von Johanna Nickel. Berlin 1958.
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Theodor Unger/Ferdinand Khull: Steirischer Wortschatz als Ergänzung zu Schmellers Bayerischem Wörterbuch. Graz 1903. Adolf Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Dritte Bearbeitung durch Elard Hugo Meyer. Berlin 1900. Quellen Romuald Pramberger: Volkskunde [45 handschriftliche Folianten]. Bd. I: Einführung, Bd. II: Volksglaube, Bd. XVIII: Und bist du krank (VolksMedizin I). Archiv des Volkskundemuseums am Universalmuseum Joanneum. A-8010 Graz, Paulustorgasse 11-13a.
Gewiss – ungewiss Überlegungen zum Begriff »Aberglaube« G ABRIELE P ONISCH »It’s not what it is, it’s what you think it is.« ANDY WARHOL
S UPERSTITIO
ALS
»T ARNBEGRIFF«?
Nicht immer sind die Tücken von Fragestellungen und Begriffen am Beginn einer Arbeit absehbar und bewusst. »Superstition – Dingwelten des Irrationalen«, unter diesem Titel wurde das zweijährige Forschungsprojekt beim Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung eingereicht. Ausgehend von der Bearbeitung der schriftlichen Archivalien und der historischen Objekte im Museum, die der Kategorie »Aberglaube« zugeordnet sind, sollte auch gegenwärtiger »Aberglaube« Thema der Forschung sein, vor allem im Hinblick auf die verwendeten Dinge. Spätestens bei der Frage, was denn nun rezenten Erscheinungsformen des »Aberglaubens« zuzuordnen sei, erwies sich der Begriff als höchst problematisch, weil weder die Oppositionen zu Religion und Wissenschaft noch die Weltdeutungsmonopole in der Form Bestand haben wie zu Zeiten, als man mit diesem Begriff sehr viele Vorstellungen und Praktiken aus den herrschenden und legitimierten Wissens- und Glaubensinstitutionen ausgrenzen konnte. Eine Umbenennung des Projektes im Nachhinein war nicht möglich. Das Unbehagen an den Begriffen »Aberglaube« und »irrational« war
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ein ständiger Begleiter. Die Zuflucht zur lateinischen Variante »Superstitio«, von Martin Scharfe in seinem Beitrag als »Tarnbegriff« entlarvt, half und hilft auch nicht wirklich. Denn der Begriff »Aberglaube« – stets eine Bewertung, die auch durch Anführungszeichen nicht zu neutralisieren ist – existiert ebenso nach wie vor wie auch eine Vielzahl von Objekten, die dieser Kategorie im Museum zugeordnet ist. Wir können den Begriff daher auch nicht einfach ausklammern, sondern müssen uns mit ihm und den vorhandenen Definitionsversuchen beschäftigen. Ob und wie er zukünftig verwendet wird, ist eine andere Frage. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, schlicht von »anderem Wissen« zu sprechen. Als brauchbar erweist er sich allenfalls im alltäglichen Sprachgebrauch im Sinne des »kleinen Aberglaubens« und als Kategorie, die historische Oppositionen, Machtansprüche und Bewertungen abbildet. Der Begriff taugt also eher dazu, indirekt die Standorte und Perspektiven der Betrachter zu erhellen, als dazu, damit Objekte und Praktiken, die einer anderen Weltsicht und Logik entspringen, zu erfassen. Im Unterschied zu anderen Kategorien in der Ausstellungspraxis wie etwa Fahrzeuge oder Möbel bleibt »Aberglaube« stets eine Zuschreibung von außen. Ein Kasten ist auch für die Benutzer und Benutzerinnen ein Möbelstück. Eine Fraisenkette ist für die Menschen, die sie benutzen, nie ein Objekt des Aberglaubens. Wie fragwürdig die Kategorie »Aberglaube« in kulturwissenschaftlichem Kontext tatsächlich geworden ist, zeigt sich, wenn man die Vielzahl jener Wissens- und Glaubenssysteme und die damit verbundenen Praktiken, die außerhalb der etablierten Institutionen des Wissens und der Religion heute auf großes Interesse stoßen, mit diesem Begriff zusammenfassen wollte. Es erscheint mir überdies sehr bedenklich, ein dermaßen heterogenes Feld überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner zwingen zu wollen. In Anlehnung an Pierre Bourdieu geht es mir darum, eine grundsätzliche Differenz zwischen wissenschaftlich-rationaler und alltäglicher Erkenntnis- und Handlungspraxis wahrzunehmen und vor allem, sie auch anzuerkennen. Diese Differenz wird nicht selten übersehen. Bourdieu kritisiert zu Recht, dass »ein unter sozial und erkenntnismäßig privilegierten Bedingungen der Handlungsentlastetheit gewonnenes intellektuelles Wissen unvermittelt auf den Alltag übertragen und als praxisverbindliche Wahrheit bzw. als Maßstab deklariert wird. Es wird
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ein Intellektualismus gepflegt, der dazu neigt, wissenschaftliches Wissen als Richtmaß überzubewerten«1.
Mit Bourdieus Theorie der Praxis formuliert: Das, was für die Praxis wahr und richtig ist, braucht es in der Theorie und deren Kriterien entsprechend keineswegs zu sein – und umgekehrt. Man könnte also fragen, ob es aus Sicht der Handelnden nicht vielleicht sogar sinnvoller ist, etwa ein Unheil abwehrendes Ritual zu vollziehen, weil keine anderen Handlungsoptionen verfügbar sind, als gar nichts zu machen, nur weil Vertreter der Kirche oder Experten und Expertinnen der Wissenschaft erklären, dass das aus ihrer Sicht falsch und Unfug sei – das bezieht sich jetzt sowohl auf historische als auch auf rezente Praktiken. Das große Interesse an »anderem Wissen« ist unübersehbar. Dies ausschließlich als »Regression« in vormoderne Bezüge zu deuten, hieße, diese Entwicklung gründlich misszuverstehen. An dieser Stelle möchte ich eindrücklich dafür plädieren, sich auch als Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerin ein bisschen mutiger auf Ungewissheiten einzulassen und sie als solche vor allem auch auszuhalten. Manchmal habe ich den Eindruck, dass zu schnell »verstanden« wird. Ein Fragezeichen am Ende eines Gedankens führt möglicherweise weiter als ein allzu früh gesetzter Punkt. Die Auseinandersetzung mit »Grenzbereichen«, das Überklettern der gewohnten Umzäunungen, erlaubt ja einen Blick in beide Richtungen, also auch in die Richtung, aus der man gekommen ist. Das heißt, man kann durch die neu gewonnene Perspektive über das eigene Fach und dessen Begrenzungen mindestens genauso viel lernen, wie über das neue Forschungsfeld, das man betritt. Martin Scharfe hat in seinem Vortrag angemerkt, dass Angehörige einer Glaubensgemeinschaft anderen gern den Vorwurf der Irrationalität machen. Ich möchte das ergänzen: Auch Vertreter und Vertreterinnen der Vernunft, der Rationalität, also Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, machen den anderen den Vorwurf der Irrationalität und übersehen dabei gern, wie irrational unsere Bezüge zur Wissenschaft mittlerweile geworden sind und – dies vor allem – was für ein reduzierter und karger Vernunftbegriff vielerorts Oberhand gewonnen hat. Hans-Georg Soeffner schreibt diesbezüglich:
1
Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1987, S. 55.
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»Der im 18. Jahrhundert erträumte siegreiche Feldzug der Vernunft hat auch die ›kollektive Mentalität‹ in den westlichen Industrienationen nicht entscheidend verändern können: Der endgültige ›Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ (Kant) kam nicht voran. Stattdessen hat sich die instrumentalisierte und mechanisierte Vernunft gemeinsam mit ihrem Geschöpf, dem technischen Fortschritt, abgespalten von der ideellen und praktischen Vernunft des Humanen. Die sich manchmal selbst unheimlich werdenden, in der Regel aber immer noch gläubigen Sachwalter einer richtungslos fortschreitenden technologischen Entwicklung bewegen sich, das ist paradox genug, wie Zauberlehrlinge in ihrer entzauberten Welt: Sie fungieren als technisches Bedienungspersonal, dessen Arbeitgeber weder ein Unternehmer noch eine Behörde oder Firma, sondern ein aus sich selbst getriebener, undurchschaubarer technischer Logos zu sein scheint.«2
Unsere gegenwärtige Kultur zeichnet sich eher durch einen Glauben an Wissenschaft aus als durch ein Verstehen von Wissenschaft. Und obwohl die Basis der Wissenschaft eine andere als die der Religion ist, wirkt sie auf dieselbe Weise, nämlich über den Glauben. Die Bedeutung des Faktors Wissen hat sich gegenwärtig enorm gewandelt. Noch in industriegesellschaftlichen Zeiten hatte Wissen innerhalb des Lebenszyklus eine vergleichsweise lange Gültigkeit. Es gab kodifizierte Lehrinhalte, standardisierte Zukunftsentwürfe, prognostizierbare Gesellschaftsverläufe, berechenbare Biografien und relativ homogene Anwendungsbereiche des Wissens. »Die orientierungspraktische Bedeutsamkeit des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschrittes nimmt mit der zunehmenden Lebensweltferne dieses Fortschrittes ab. Je tiefer die Wissenschaften in die Dimension des sehr Grossen, des sehr Kleinen und des sehr Komplizierten eindringen, umso weniger tangieren sie unsere Primärerfahrungen.«3
2
Hans Georg Soeffner: Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ord-
3
Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung. In: Hans-Martin Gutmann/
nungskonstruktionen. Weilerswist 2000, S. 375. Cathrin Gutwald (Hg.): Religiöse Wellness. Seelenheil heute. München 2005, S. 59-80, hier S. 63.
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Je stärker der Anteil medial erworbenen Wissens zunimmt und den Anteil des in konkreter eigener oder gemeinschaftlicher Erfahrung erworbenen Wissens überlagert, umso weniger erhält dieses eine persönliche Dimension. Allgemein haben sich die Lebensverhältnisse dermaßen pluralisiert, dass von schematischen Biografieverläufen kaum mehr die Rede sein kann. Immer weniger Wirklichkeit wird als selbstverständlich erlebt. Wissen enttäuscht – die »Entzauberung der Welt« hält nicht das Versprechen, mit dem sie angetreten ist. »Krisensituationen im Zentrum eines Systems provozieren gewissermaßen das Relevantwerden der Peripherien, der Grenzen, die auf Bereiche jenseits verweisen, die das Überschreiten der Grenzen als Weg in ein neues Heil erscheinen lassen«4, formuliert Ina-Maria Greverus. An den Bruchstellen der Routinen, der Reflexion und Hinterfragung der Normalerwartungen bieten religiöse Semantiken Interpretationen an – meistens von der Art, dass hinter der immanenten Welterfahrung eine transzendente Sinngebung ermöglicht wird. Matthias Sellmann meint, dass in der Wissensgesellschaft deshalb der beschriebene Boom an religiös inszenierter Öffentlichkeit festzustellen ist, weil sich durch wissensbasierte Prozesse die Felder subjektiver Kontingenzerfahrung dermaßen stark erweitert haben. Der Prozess des Wissens zeichnet sich gerade durch das Steigern von Optionen, durch das Intensivieren von Wahlmöglichkeiten aus. Darin liegen einerseits das befreiende Potenzial von Wissen und Bildung und andererseits aber auch eine deutliche Steigerung von Kontingenz. Kein Nullsummenspiel also zwischen Wissen und Glauben, sondern beide Pole stehen zueinander in abhängiger Beziehung: »Inmitten einer bis zur Sinnlosigkeit aufgeklärten Welt verspricht das Kultische zugleich Ordnung und Faszination.«5
4
Ina-Maria Greverus: Neues Zeitalter oder verkehrte Welt. Anthropologie als Kritik. Darmstadt 1990, S. 180.
5
Norbert Bolz: Kultmarketing – von der Erlebnis- zur Sinngesellschaft. In: Wolfgang Isenberg/Matthias Sellmann (Hg.): Konsum als Religion? Über die Wiederverzauberung der Welt. Mönchengladbach 2000, S. 95-98, hier S. 95.
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Z UR HISTORISCHEN D IMENSION DER B EGRIFFE »ABERGLAUBE «, »S UPERSTITIO « Im Begriff »Superstition« sind Absicht auf Wirkung, Irrationalität des Handelns und Regelung durch allein vom Herkommen legitimierte Sätze verbunden. Dennoch sind ihre Ziele prinzipiell die gleichen wie die der Religion, Wissenschaft und Technik, nämlich Kenntnisse zu erlangen, etwas bewirken oder etwas verhindern zu wollen. Diesen inhaltlichen Zielen entsprechend unterscheidet Dieter Harmening6 folgende Bereiche der Superstition: Observation, Divination und Magie/Zauberei. Sobald etwas geschieht oder erscheint, das etwas anderes vorbedeutet, ist ein Vorzeichen gegeben, in dem sich etwas Zukünftiges ankündigt. Wenn man weiß, welche Zeichen das sind und wie sie zu deuten sind, kann man sich vor Ereignissen schützen oder einen günstigen Umstand für sich nützen. Das Niesen eines Menschen oder Tieres, der Schrei eines Vogels, ein Traumbild, eine Begegnung mit bestimmten Menschen, eine gerade oder ungerade Anzahl von Dingen, all dem kann eine Bedeutung zugeschrieben werden. Diese Zeichen kommen ungerufen und fallen auf. Dies ist gemeint mit Observation. Es kündigt sich etwas Zukünftiges deutlich und sichtbar in einem Vorzeichen an, das Aufmerksamkeit erregt. Jedoch gibt es auch eine feinere Variante der Vorzeichen, die ein geübtes Auge erfordert. Zeichen sind mitunter verborgen und müssen entdeckt werden. Solche feinen Beobachtungen verlangen ein besonderes Wissen und spezielle Kunstfertigkeit, hier geht es also um Divination. Der Wunsch, Zukünftiges zu erfahren, enthält zugleich den Wunsch, es je nachdem zu verhindern, zu verändern oder zu befördern. Daraus entsteht die zauberische Praxis. Sie umfasst alle Formen überlieferungsgebundenen, instrumentellen und ritualisierten Handelns der Schadensabwehr, Unheilsvermeidung und Wunschverwirklichung. Zur Observation gehören alle Formen der Beachtung vorbedeutender Zeichen und (un)günstiger Zeiten: der Angangsglaube (z.B. Katze von links), Vogelschau, Tierweissagung, der Traum, das Orakel. Im Hinblick auf die ominöse Bedeutung der Zeit gehört hierher die Auslegung bestimmter meteo-
6
Dieter Harmening: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens. Würzburg 1991 (= Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 10), S. 131f.
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rologischer Verhältnisse an bestimmten Tagen des Jahres (Donnerprognostik, Wetterprophetie), Wochentagsastrologie (Welcher Tag ist günstig oder ungünstig für bestimmte Vorhaben?), Tage- und Stundenwahl. Zur Divination werden alle Formen der superstitiösen Zukunftsforschung gezählt, denen es nicht nur um die Beachtung (un)glücksverheißender Zeichen geht, sondern die hinsichtlich zukünftiger Ereignisse genaue Auskünfte versprechen: Volksastrologie und Wochenhoroskop, Chiromantie (Handlesekunst), Nekromantie (Totenbeschwörung), Pyromantie (Wahrsagung aus Zeichen im Feuer), Hydromantie (Zukunftsdeutung aus Zeichen im Wasser), Aeromantie (Wahrsagen mit Hilfe von Lufterscheinungen), Geomantie (Wahrsagen aus Erscheinungen der Erde). Die superstitiöse Praktik meint alle Handlungen des Zaubers und Amulettwesens: Zauberspruch, Beschwörung, Zaubertrank, Wetterzauber, Regenzauber, Liebeszauber, Todeszauber, Amulette und Talismane. Aber-Glaube, im etymologischen Sinn Gegen-Glaube, wurde und wird wie erwähnt stets aus einer Oppositionsstellung zu herrschenden Lehrmeinungen bestimmt. Aberglaube weicht also »fremd« oder »falsch« von deren Dogmen ab, wird daher je nach religiösem oder aufgeklärtem Standort als Amoralität, Teufelsbund, Scharlatanerie, Antiquiertheit oder schlicht Dummheit abqualifiziert und von Machtpositionen her bekämpft bzw. ignoriert. Als im 18. Jahrhundert die Aufklärung den Kampf gegen den Aberglauben vom Felde der Religionskritik auf das der Vernunftkritik verlagerte, wurde der Aberglaube nicht mehr primär als religiöses, sondern vielmehr als vernünftiges Manko gewertet. Aberglaube ließ sich mit der Idee einer fortschreitenden Emanzipation der Vernunft in der Geschichte fassen und galt als »verjährtes Vorurtheil«, »alte Barbarei« und »Finsterniß des Mittelalters«. Darin blieb die Säkularisierung des Aberglaubens aber auch beim Schema der geschichtlichen Besserung aus dem Reich des Bösen und des Aberglaubens in ein zukünftiges Reich des Heiles, ehemals der Religion, nun der Vernunft.7 In den Schriften der Frühaufklärung stand Aberglaube also in Opposition zu Vernunft und zu Erfahrung. Als eindrucksvolles und charakteristisches Beispiel ist hier Die gestriegelte Rockenphilosophie. Oder Aufrichtige Untersuchung derer Von vielen superklugen Weibern hochgehaltenen Aberglauben, Allen denen nützlich zu lesen/die entweder schon ehemals
7
Vgl. ebd., S. 116.
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von ein- und andern Aberglauben betrogen worden sind, oder noch betrogen werden können; An das Licht gestellt von dem, der einem jedweden die Wahrheit Ins Gesicht Saget8 zu nennen, die damals weit verbreitet war. Immer wieder heißt es darin: »Es lehret aber die tägliche Erfahrung«, gefolgt von einer Aufzählung, wie unsinnig und jeder Erfahrung widersprechend die verschiedenen Praktiken sind. Die Genauigkeit und lustvolle Ausführlichkeit dieser Aufzählungen und Beschreibungen trug paradoxerweise nicht unwesentlich zu einer Verbreitung derartigen Wissens bei, teilweise auch, weil die Ironie der Beschreibungen von der Leserschaft nicht notwendigerweise als solche erkannt wurde. Der Maßstab der Erfahrung wurde hier mit frischem Stolz auf die Unfehlbarkeit des Verstandes angelegt, doch tauchte kaum je der Gedanke auf, dass auch der Aberglaube sich keineswegs allein auf geheime Traditionen, sondern ebenso auf ihre Bewährung in der Erfahrung beruft.9 Verbunden mit dem Aberglaubensbegriff und der Kritik ist auch eine charakteristische Vorstellung von »Alter«. Dieses »Alte« war nicht nur historisch gemeint, sondern galt zugleich als Manko an Rationalität. Dessen Mängel, von christlicher Erbsündentheologie an den Fall des »alten« Menschen aus dem Paradies gekoppelt und als »antiquum delictum« menschheitsgeschichtlich und persönlich zuordenbar gemacht, erfuhren im Begriff des »Überholten« von der Aufklärung ihre Säkularisierung. Daran konnte die evolutionistische Vorstellung der kulturgeschichtlichen Relikthaftigkeit von Aberglauben im Sinne einer zu überwindenden »prälogischen« Entwicklungsstufe anknüpfen. Neben den geschichtstheoretischen Entwürfen über das »Alter« und die Irrationalität der Superstition existieren jedoch auch davon abweichende Ideen in der Bevölkerung: Was von den Theoretikern als »sine ratione et arte«, von keinen Regeln der Logik geleitet, praktiziert erscheint, wird nicht als unlogisch, sondern als heterologisch, nur nach anderen Regeln verknüpft, empfunden (Sympathetik z.B.). Was von den Theoretikern als überholter Rest der Geschichte gedeutet wird, erscheint in der lebensweltlichen Praxis als durch Alter legitimiertes Erfahrungswis-
8
Johann Georg Schmidt: Die gestriegelte Rocken-Philosophie. Chemnitz 1718.
9
Vgl. Hermann Bausinger: Aufklärung und Aberglaube (1961). In: Dietz-Rüdiger
Nachdruck Weinheim/Deerfield Beach/Florida 1987. Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 269-290, hier S. 272f.
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sen.10 So beschreibt beispielsweise Hans Biedermann die Magie als »Umsetzung eines auf Entsprechungen und Sympathien gegründeten Weltbildes in die Praxis«11. Für Wolfgang Brückner ist Magie »der Inbegriff menschlicher Handlungen, die auf gleichnishafte Weise ein gewünschtes Ziel zu erreichen suchen; dann die dahinter stehende magische Denkform; im besonderen Sinne ein rationalisiertes und konventionalisiertes System von zwingenden Handlungen, bei denen naturwissenschaftlich nicht faßbare, aber von den Handelnden angenommene ›übernatürliche‹ Kräfte beansprucht werden«12.
Im Hinblick auf magische Akte formuliert Stanley J. Tambiah folgendes: »Magische Akte, die sich gewöhnlich aus verbalen Äußerungen und dem Manipulieren […] von Gegenständen zusammensetzen, sind ›performative Akte‹, durch die aufgrund einer Analogie eine Eigenschaft auf einen Empfänger – sei das ein Gegenstand oder eine Person – kategorisch übertragen wird. Magische Akte sind rituelle Akte, und rituelle Akte wiederum sind performative Akte, deren positive und schöpferische Bedeutung nicht verstanden werden kann und deren Gültigkeit falsch beurteilt wird, wenn sie der Methode der Verifikation, die der wissenschaftlichen Tätigkeit zugehört, unterworfen werden.«13
Historische Superstitionsforschung kann eine Vielzahl von abergläubischen Fakten als Fragmente hochkultureller Weltanschauungs- und Wissenschaftssysteme ausweisen, als Fragmente von spätantik-neuplatonischer Kosmologie, theologischer Dämonologie, jüdischer Kabbala, magiologischer, astrologischer, alchemistischer, naturphilosophischer Spekulation oder moderner Naturwissenschaften.
10 Vgl. Harmening, Zauberei im Abendland, S. 130f. 11 Hans Biedermann: Handlexikon der magischen Künste von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert. München/Zürich 1976, S. 202. 12 Wolfgang Brückner: Magie. In: Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 11. Wiesbaden 1970, S. 786-788, hier S. 786. 13 Stanley. J. Tambiah: Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt. In: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.): Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens. Frankfurt a.M. 1978, S. 259-296, hier S. 259.
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Doch wie Harmening14 betont, ist das bloße Glaubens- oder Wissensfragment allein noch kein »abergläubisches« Faktum. Zur Superstition gerät es erst durch eine spezifische Form der Rezeption, in der das rezipierte Fragment im Sinne dieses sympathetischen Welthabens verändert wird. Superstition erschien ja nie nur als historischer Rest von etwas, sondern stets zugleich von einer spezifischen Geistigkeit her strukturiert. Auch wo die evolutionistische Kulturgeschichtsschreibung Superstition an das entwicklungsgeschichtlich »alte« Stadium eines vermuteten prälogischen Denkens anknüpfen wollte, blieb jene Geistigkeit historisch oder individualgeschichtlich beschreibbar. »Die moderne Ethnologie schließlich eröffnete erst die angemessene Möglichkeit, Superstition nicht als Ausdruck einer, evolutionistisch betrachtet, geistigen Kümmerstufe, sondern als habituelle Geistigkeit zu begreifen, als nur andere Weise, nicht als unterentwickelte Stufe des Logischen.«15
Denn auch in der Superstition werden die Erscheinungen im Bewusstsein mit Notwendigkeit verknüpft. Auch die Verknüpfung nach dem Schema von Gold und Gelbsucht, Rot und Feuer, Springen und Wachsen, Fließen und Vergehen, von »Hunger und Nahrung, Mann und Weib, Mutter und Kind, Licht und Schatten, Nacht und Nachttier, Vogel und Nest«16 ist eine Synthesis a priori der Erscheinungen, nur eben nicht in einem kantischen Sinne. Etwas, das seinem materiellen Gehalt nach von »oben« gesehen richtig als hochschichtliches Fragment erkannt werden kann, hat von einem anderen Standpunkt betrachtet einen neuen Zusammenhang erfahren: Es wird nicht im Sinne eines logischen Ursachenbegriffs eines dem anderen verknüpft, sondern nach Kriterien des Ähnlichen und Sympathetischen verbunden. Es bewirkt nicht mehr etwas aus Gründen, sondern als etwas, in dem ein ähnlich Anderes zeichenhaft zugegen ist, als Zeichen. »Denn das, was hochkulturell innerhalb eines systematischen Zusammenhangs stand und von dort her Stellenwert, individuelle Gestalt und Sinn besaß, wird im Prozeß
14 Vgl. Harmening, Zauberei im Abendland, S. 138. 15 Ebd., S. 138. 16 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. 2. neu bearbeitete Aufl. Frankfurt a.M./Bonn 1964, S. 234.
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der superstitiösen Rezeption in charakteristischer Weise auf ein Zeichenhaftes hin reduziert, abstrahiert. Das von zauberischer Praktik vereinnahmte mythische und mythologisch gefasste Götterbild wird in der Rezeption auf die abstrakte Signatur einer Amuletteinritzung reduziert, das Zauberlied (›incantatio‹) auf den ›Singsang‹ des Zauberers, das zauberische Wort auf das ›murmur magicum‹.«17
Harmening nennt als Beispiel dieses Prozesses der abstrahierenden Rezeption die Genese von Zauberformeln. Aus der religiösen, theologisch begründeten Konsekrationsformel »hoc est corpus meum« wird das »Hokuspokus« des Zauberers, indem die Laute des vermutlich nicht verstandenen lateinischen Satzes nach Regeln der sprachlichen Bequemlichkeit umgeformt werden. Zahlreiche ähnliche Wortbildungen in Zaubersprüchen belegen diese Vorgangsweise. »Das Sprechen ahmt sich selbst nach, wird zum Zeichen des Sprechens. Damit kann es alles umgreifen, was Sprechen bezeichnen kann, ist omnipotent, ist Zauberwort geworden.«18 Befand sich das Rezipierte vorher in Kosmologie, Theologie oder Naturwissenschaft in einem systematischen Wirkungszusammenhang, so bedeutet es nun etwas aufgrund seiner in der superstitiösen Rezeption entfalteten Zeichenhaftigkeit. Es hat jene Ebene der Verknüpfung der Erscheinungen im Bewusstsein erreicht, auf der jedes zugleich ein anderes enthält. Es ist jene Ebene, auf der sich Symbolisierungsprozesse abspielen. Nur dass im Unterschied etwa zu Saussures Zeichenmodell, in dem im Zeichen Signifikant und Signifikat unlösbar miteinander verbunden sind, es aber als Bezeichnendes auf ein Bezeichnetes nur verweist, im sympathetischen Weltbezug ein Zeichen oder Symbol »nicht ein anderes sich vorstellt, sondern mit Notwendigkeit zugleich setzt. Die sympathetische Welt wird so als symbolische Welt verständlich, in der die Dinge, indem sie sich gegenseitig bedeuten, sich gegenseitig bedingen.«19 Das heißt zwischen den Begriffen und dem, was sie bezeichneten, existiere eine reale, nicht nur eine konventionelle Beziehung. Der Signifikant repräsentiere nicht allein die »qualitas« des Signifikats, sondern auch dessen Essenz oder Substanz. Mit dieser Vorstellung kann Wortmagie funktionieren. Statt mit Hilfe einer bestimmten An-
17 Harmening, Zauberei im Abendland, S. 139. 18 Ebd. 19 Ebd.
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zahl planetarischer Objekte, wird es nun möglich, allein durch die genaue Kenntnis der alten, realen Namen größere Wirkmächtigkeit zu erlangen. Dieser Prozess der Entstehung superstitiöser Formen und Fakten kann nicht nur wahlweise und je nach Standort als Prozess verstümmelnder Fragmentisierung der historischen Gestalt oder als Prozess der Umformung betrachtet werden. Als Prozess ist er beides, Analyse und Synthese. Was auf den ersten Blick nur materiell als Verstümmeltes und Entleertes an der Superstition erscheint, gewinnt als Rezipiertes eine neue, gültige Form, ist daher auch Ausdruck eines eigenen Teilhabens an Welt geworden.20 Lutz Röhrich21 weist darauf hin, dass sich die Frage nach dem Wesen des »Aberglaubens« nicht allein von den überlieferten Formen her beantworten lässt, sondern eine Analyse der entsprechenden heutigen Erscheinungen und ihrer Bedingungen erfordert. Auffallend dabei ist, dass sich heute viele abergläubische Vorstellungen im Bereich der Technik finden lassen. Aberglaube ist also nicht an bestimmte Objekte gebunden, sondern an bestimmte Überzeugungen und Grundhaltungen. Daher gestaltete es sich auch einigermaßen schwierig, Kategorien für Objekte zu entwickeln, die die gegenwärtige und zukünftige Sammeltätigkeit des Museums strukturieren können. Wichtig in diesem Zusammenhang sind grundsätzlich Symbolisierungsprozesse. Durch Symbolisierung kann jedes Objekt »abergläubisch« aufgeladen werden, unabhängig von seiner primären Funktion und von seiner Beschaffenheit. Entscheidend ist, welche Verbindung mit welcher Person oder mit welcher transzendenten Gestalt es symbolisiert. (Sehr häufig finden sich hier z.B. Schmuckstücke oder kleine Stofftiere von nahestehenden Menschen, die man immer mit sich führen oder am Körper tragen kann und durch die man sich beschützt fühlt bzw. durch die eine Verbindung mit jemandem oder etwas gewährleistet wird.22) Einen interessanten Beitrag in der Begriffsdiskussion liefert der Hamburger Kulturwissenschaftler Stephan Bachter. Er gelangt im Resümee seiner Analyse der Zauberbücher zur Ansicht, dass ehemals elitäre magische Wissenssysteme und Axiome nicht zuletzt durch das beliebte Medium der
20 Ebd. 21 Lutz Röhrich: Formen und Erscheinungsweisen des Aberglaubens in der Gegenwart (1977). In: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 133-168, hier S. 139. 22 Siehe dazu den Beitrag von Eva Kreissl in diesem Band.
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Zauberbücher weite Verbreitung fanden, jedoch in popularisierter, fragmentierter und trivialisierter Weise, insofern lässt sich von Zauberbüchern als »Anleitung zum Aberglauben« sprechen. In den bereits erwähnten paradoxen Auswirkungen der Aberglaubenskritik der Aufklärer zeigt sich, dass die »Geschichte der Zauberbücher eine Geschichte fortschreitender Popularisierung von einstmals streng gehüteten und nur Eliten zugänglichen Wissensbeständen ist. Die Trivialisierung dieses Wissens schließlich wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Alltagsnutzung von Zauberbüchern richtet.«23
Kommt es, wie es mit der Magie der Gelehrten in den Zauberbüchern geschehen ist, zur Fragmentierung, Trivialisierung und Popularisierung von Wissenssystemen, dann ist Bachters Ansicht nach der Schritt zum Aberglauben vollzogen. Seinem Verständnis von Aberglauben liegt also weder eine Gegenüberstellung des wahren und des falschen Glaubens zugrunde noch braucht sie einen spezifischen Sachhorizont. Dieser sehr offene Definitionsansatz lässt die Schlussfolgerung zu, dass grundsätzlich jedes Wissenssystem, sei es Religion, Naturwissenschaft, Philosophie oder Magie, zum Aberglauben werden kann, sobald es fragmentiert, popularisiert und trivialisiert wird.24 Derartige Prozesse können wir gegenwärtig beispielsweise in der populären und oftmals trivialisierten und fragmentierten Aneignung des Wissens aus Bereichen der Quantenphysik, fernöstlicher Weisheitslehren, der Medizin, der unterschiedlichen schamanischen Traditionen oder des Engelglaubens beobachten. Der Unterschied ist eher ein quantitativer denn ein qualitativer, denn niemals zuvor in der Geschichte waren durch die Möglichkeiten der neuen Medien derart globale und viele Wissensbestände für so viele Menschen verfügbar und auch in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen miteinander kombinierbar wie heute. Auch hier ist der Versuch einer Abgrenzung abergläubischen Dinggebrauchs allein über den Sachhorizont aussichtslos, sondern von Belang sind eher die Überzeugungen und Grundhaltungen, die an die Objekte geknüpft werden.
23 Stephan Bachter: Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung magischen »Wissens« seit dem 18. Jahrhundert. Hamburg 2005, Univ. Diss. an der geisteswiss. Fakultät, S. 206. 24 Vgl. ebd.
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KONKRETE ARBEIT IM P ROJEKT MIT HISTORISCHEN Q UELLEN Konkret ging es in unserem Projekt nun darum, anhand der vorhandenen Objekte und der archivalischen Quellen zu schauen, ob eine Verbindung zwischen den Dingen und den beschriebenen Praktiken zu finden sei. Es ging also auch um die von Martin Scharfe formulierte Frage, wie und ob man einem Ding seine superstitiöse Dimension ansehen kann oder nicht. Und es ging darum, verstehen zu versuchen, für welche Art der Weltsicht die Dinge und Handlungen Ausdruck sein können. Methodisch war uns Hubert Knoblauchs Arbeit über »Qualitative Religionsforschung«25 ein sehr wichtiger Begleiter. Knoblauchs Empfehlung, als Forschende eine Position des »methodologischen Agnostizismus«26 einzunehmen, erwies sich als hilfreich und wichtig. Kurz gefasst geht es dabei darum, dass wir von der Existenz von Glaubensvorstellungen ausgehen können, ohne die Wirklichkeit dessen, was geglaubt wird, bewerten oder anerkennen zu müssen oder zu sollen. Es geht also nicht darum, zu entscheiden, was richtig und falsch, klug oder dumm sei, sondern wir müssen die transzendenten Wahrheitsansprüche der Aussagen unserer Untersuchungssubjekte einklammern. Die praktische Arbeit bestand in der Aufnahme der Objekte und der archivalischen Quellen und in der Verknüpfung der Dokumente. Es handelt sich um das sogenannte Ferk-Archiv, die Schriften Romuald Prambergers, seine Sammlung von Objekten aus dem Stift St. Lambrecht und um Dokumente aus dem Kriminalmuseum der Universität Graz. Romuald Pramberger sind eigene Beiträge gewidmet, ebenso den Quellen des Kriminalmuseums, daher an dieser Stelle nur ein paar Worte zu Franz Xaver Ferk.
F RANZ X AVER F ERK Franz Xaver Ferk wurde 1844 in Kranach (in der Nähe von Gamlitz in der Steiermark) geboren, studierte von 1865-1869 an der Philosophischen Fa-
25 Hubert Knoblauch: Qualitative Religionsforschung. Paderborn 2003. 26 Ebd., S. 41.
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kultät in Graz, war als Aspirant am Münz- und Antikenkabinett des Joanneum tätig und unterrichtete Geografie und Geschichte in Fürstenfeld, Judenburg, Pettau und Graz. Er unternahm ab den 1860er Jahren archäologische Ausgrabungen und gründete 1878 das als Volksbildungsstätte gedachte Ortsmuseum in Gamlitz, in dem es neben einer Volksbücherei und einer landwirtschaftlichen Abteilung auch eine naturkundliche, geschichtliche und volkstümliche Sammlung gab. Er starb 1925 im 80. Lebensjahr in Graz. Teile seines Nachlasses sind im Volkskundemuseum und im Steiermärkischen Landesarchiv aufbewahrt. Zu Franz Ferks Sammel- und Forschungsfeldern gehörten die Archäologie und Bereiche der Volkskunde. Der im Museum untergebrachte Teil seines Nachlasses27 besteht aus 36 Schachteln, deren Inhalt teilweise in Mappen einsortiert ist und teilweise lose in den Schachteln liegt. Es handelt sich um persönliche Aufzeichnungen, Notizen, Skizzen und gesammelte Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte, Kalenderblätter, Illustrationen, Druckfahnen und Manuskripte, die 1926 an Viktor von Geramb übergeben wurden. Vier dieser Schachteln sind explizit den Themen Volksglauben und/oder Aberglauben zugeordnet. Diese auf losen, zum Teil winzigen Zettelchen vorliegenden Texte haben wir transkribiert bzw. die längeren Zeitungsausschnitte eingescannt. Dabei entstanden 90 digitalisierte Textbilddateien und ein Transkriptionsdokument im Umfang von 172 Seiten. Ich möchte abschließend eines der Objekte aus dem Museum vorstellen, mit dem sich das vorhin beschriebene Zeichenverständnis veranschaulichen lässt und zu dem wir Aufzeichnungen über die Handhabung im FerkArchiv haben. Es handelt sich um ein Druden- oder Neunmondmesser.
27 Dieser Nachlass wird zurzeit von Karin Estl im Rahmen ihrer Dissertation digital erfasst und bearbeitet.
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Abbildung 1: Druden- oder Neunmondmesser; Klinge aus Stahl, Griff mit seitlicher Hornverschalung und Stahlbeschlag, verziert mit eingerieften Blattwerkverzierungen; Gravur auf einer Klingenseite: 9 Trudenkreuze und 9 Halbmonde, Jahreszahl 1809 und eine Blumenranke, Gravur auf der anderen Seite: »Anthoni Bachmair« sowie eine Gämse und ein auf sie schießender Jäger in einer Blattranke; das Objekt kam 1920 in die Sammlung, es stammt von Georg Kern vlg. Masner aus Donnersbach (Seitental des Steir. Ennstales) und wurde um 1 Krone erworben; das Messer ist inkl. Griff 30 cm lang
Foto: Michael J. Greger.
Diesbezügliche Textbeispiele aus dem Ferk-Archiv: St. Georgen a.d. Stiefing […] 1874: »Man schreibt ihnen folgende Zauberkraft zu: Mit dem Drudenmesser kann man bannen (feststellen) und lösen und eines jeden böswillig geschehenen Angriffs oder Schadens sich erwehren. Wird einem etwas angethan oder gestohlen, so kann man den Thäter mit diesem Messer an Ort und Stelle bannen, daß er sich nicht zu rühren vermag, und zwar dadurch, daß man dasselbe in die Speiche eines Wagenrades stoßt, von welcher man aber gewiß wissen muß, daß sie von allen Speichen entweder zuerst oder zuletzt in die Radkurve eingebohrt und eingefügt worden ist. Zur Zeit der Not genügt es, einen Stich in die Wand oder selbst in die Luft zu führen; der Stich trifft und verwundet denjenigen, dem er gilt und vermeint ist. Dieser steht wie eingewurzelt da, bis der Bannende selbst kommt, ihn abstraft oder nicht straft, und mit dem nämlichen Messer lösen muß, sonst geht es für ihn gefehlt aus; sonst aber kann er mit ihm nach Belieben schalten. Ebenso kann er, wenn ihm selber von Anderen der Bann oder was immer für Zauberei angetan wurde, sich selbst und andere daraus durch einen Hieb mit dem Drudenmesser befreien, wie auch jeden Angriff auf Leib und Leben abwehren.
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Das Drudenmesser ersticht auch den Drud und bannt die Habergeiß. Das Drudenmesser bannt, löst und wehrt alles ab.« »›Die Drudenmesser sind die besten Stechmesser; mit dei kann man jede Sau abstechen, daß sie geschwind muaß fall’n. Es gibt Leute, die einem die Schweine verhexen, daß sie beim Schlachten nicht hinwerden, ja daß sie, mag man noch so oft stechen, nach dem Stiche noch aufstehen und davonlaufen. Sticht man aber mit’n Drudenmesser auf’n Rüssel, so gilt’s dem und der Stich trifft den, der sie verhext; und a die Sau fallt g’schwind.‹ So erzählt wörtlich Johann Maurer.«
Darüber hinaus gibt es zahlreiche Texte zur Gestalt der »Trud« und Beschreibungen, wie sie abzuwehren sei: Abbildung 2: Groß Florian über die Trud, 1937
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Groß Florian, […] 1937: »Von der Drud. Meine Mutter hat gesagt, daß sie Drudenfüße gemacht haben. Ich habe auch schon ein Gespenst gesehen. Meine Tante hat gesagt, daß sie eine Drud angehen hat wollen. Da hat sie die Drud ordentlich gesehen. Da ist sie gelaufen.«
Graz, o.J.: »Die Trud. Wenn man auf dem Rücken schläft, so kommt um Mitternacht ein weibliches Wesen mit einem Geräusch, welches den Lauten tschap, tschap sehr ähnlich ist, und kommt zu den Füßen, springt einem auf die Brust, und drückt und martert einen so lange, bis man fast ohnmächtig liegen bleibt; und darauf entfernt sich die Trud. Hat man aber so viel Geistesgegenwart, um die Füße noch rechtzeitig, bevor sich die Trud auf die Brust setzt, übereinander zu schlagen, so hat das böse Wesen keine Macht und entfernt sich mit eben dem obigen Geräusch. Es kommen auch Fälle vor, daß die Trud auch dann kommt, wenn der Mensch wachend im Bette auf dem Rücken liegt.« »Die Leute thun sich auf ihrem Betten vorne Trudenfüße aufzeichnen, dann, sagen sie, kommt die Trud nicht und erdrückt einen nicht.« »Den Trudenfuß machen sie so:
Wenn der Trudenfuß nicht in einem Strich gezogen ist, so kommt die Trud erdrückt denjenigen.«
Mürzzuschlag […] 1904: »Um Schutz gegen die Trud zu haben, macht man das sogenannte Trudenkreuz: oder Es muß in einem Zug geschrieben oder gezeichnet werden und zwar mit Kreide. Es wird gewöhnlich am Fußende des Bettes gezeichnet.«
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Schließlich gerät auch Mephisto in Verlegenheit angesichts eines Drudenfußes: Goethe, Faust I, Vers 1393 Mephisto ist dabei, Faust zu verführen und möchte sich nun verabschieden. MEPHISTOPHELES: Gesteh ich’s nur! Daß ich hinausspaziere, Verbietet mir ein kleines Hindernis, Der Drudenfuß auf Eurer Schwelle – FAUST: Das Pentagramma macht dir Pein? Ei, sage mir, du Sohn der Hölle, Wenn das dich bannt, wie kamst du denn herein? Wie ward ein solcher Geist betrogen? MEPHISTOPHELES: Beschaut es recht! Es ist nicht gut gezogen: Der eine Winkel, der nach außen zu, Ist, wie du siehst, ein wenig offen. FAUST: Das hat der Zufall gut getroffen! Und mein Gefangener wärst denn du? Das ist von ungefähr gelungen! MEPHISTOPHELES: Der Pudel merkte nichts, als er hereingesprungen, Die Sache sieht jetzt anders aus: Der Teufel kann nicht aus dem Haus. FAUST: Doch warum gehst du nicht durchs Fenster? MEPHISTOPHELES: s ތist ein Gesetz der Teufel und Gespenster: Wo sie hereingeschlüpft, da müssen sie hinaus. Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte. Die beiden verhandeln noch eine zeitlang, die Geister lullen Faust in den Schlaf. MEPHISTOPHELES: […] Doch dieser Schwelle Zauber zu zerspalten, Bedarf ich eines Rattenzahns. Nicht lange brauch ich zu beschwören, Schon raschelt eine hier und wird sogleich mich hören. Der Herr der Ratten und der Mäuse, Der Fliegen, Frösche, Läuse, Befiehlt dir, dich hervorzuwagen Und diese Schwelle zu benagen,
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So wie er sie mit Öl betupft – Da kommst du schon hervorgehupft! Nur frisch ans Werk! Die Spitze, die mich bannte, Sie sitzt ganz vorne an der Kante. Noch einen Biß, so ist’s geschehen.Nun Fauste, träume fort, bis wir uns wiedersehn.
L ITERATUR Stephan Bachter: Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung magischen »Wissens« seit dem 18. Jahrhundert, Univ. Diss. an der geisteswiss. Fakultät. Hamburg 2005. Hermann Bausinger: Aufklärung und Aberglaube. In: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 269-290. Hans Biedermann: Handlexikon der magischen Künste von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert. München/Zürich 1976. Norbert Bolz: Kultmarketing – von der Erlebnis- zur Sinngesellschaft. In: Wolfgang Isenberg/Matthias Sellmann (Hg.): Konsum als Religion? Über die Wiederverzauberung der Welt. Mönchengladbach 2000, S. 95-98. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1987. Wolfgang Brückner: Magie. In: Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 11. Wiesbaden 1970, S. 786-788. Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. 2. neu bearbeitete Aufl. Frankfurt a.M./Bonn 1964. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart 1971. Ina-Maria Greverus: Neues Zeitalter oder verkehrte Welt. Anthropologie als Kritik. Darmstadt 1990. Hans-Martin Gutmann/Cathrin Gutwald (Hg.): Religiöse Wellness. Seelenheil heute. München 2005. Dieter Harmening: Zauberei im Abendland. Vom Anteil der Gelehrten am Wahn der Leute. Skizzen zur Geschichte des Aberglaubens (= Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 10). Würzburg 1991.
GEWISS – UNGEWISS
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Dieter Harmening: Superstition – »Aberglaube« (1987). In: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 368-404. Wolfgang Isenberg/Matthias Sellmann (Hg.): Konsum als Religion? Über die Wiederverzauberung der Welt. Mönchengladbach 2000. Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.): Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens. Frankfurt a.M. 1978. Hubert Knoblauch: Qualitative Religionsforschung. Paderborn 2003. Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung. In: Hans-Martin Gutmann/ Cathrin Gutwald (Hg.): Religiöse Wellness. Seelenheil heute. München 2005, S. 59-80. Dietz Rüdiger Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992. Lutz Röhrich: Formen und Erscheinungsweisen des Aberglaubens in der Gegenwart (1977). In: Dietz-Rüdiger Moser (Hg.): Glaube im Abseits. Beiträge zur Erforschung des Aberglaubens. Darmstadt 1992, S. 133-168. Hans-Georg Soeffner: Gesellschaft ohne Baldachin: Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist 2000. Johann Georg Schmidt: Die gestriegelte Rocken-Philosophie. Chemnitz 1718. Nachdruck Weinheim/Deerfield Beach/Florida 1987. Stanley. J. Tambiah: Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt. In: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.): Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens. Frankfurt a.M. 1978, S. 259-296.
Aberwissen und Popularmagie in der Gegenwart E VA K REISSL
Der Aberglaube teilt sich mit jenen, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist, im Wesentlichen zwei Schnittfelder: mit den Religionen und mit den Wissenschaften, allen voran der Medizin. Die eine weltanschauliche Domäne bestimmt, was anerkannt und statthaft ist zu glauben, die andere, was sinnvoll ist zu wissen, um vernünftig zu handeln. Damit definieren sie auch, was nicht anerkannt wird, also Unsinn – Aberglaube – ist, changierend zwischen harmloser Spinnerei, fahrlässiger Ignoranz gegenüber offensichtlich Erwiesenem und dem gefährlichen Spiel mit den Feuern sinisterer Mächte. Es ist anzunehmen, dass sich die Berufenen der verschiedenen Seiten auch in 100 Jahren noch darüber streiten werden, was nun recht- und was abergläubisch ist. Schließlich ist es dabei noch kaum um das gegangen, wozu Diskussionen eigentlich da sind: um eine Annäherung an das Verständnis für das Handeln des Anderen, das Verstehen seiner Motive und die gegenseitige Reflexivität. Vielmehr werden und wurden in dieser Konfrontation, die von der Bekämpfung bis zum lächerlich Machen viele Spielarten der Abwertung kennt, auf der einen Seite Machtdomänen manifestiert und (auch ökonomisch einträgliche) Claims abgesteckt sowie auf der anderen Seite Überlegenheitsszenarien des Eigentlichen und empirische (wenn schon sonst nicht nachvollziehbare) Erfolge der physischen und seelischen Heilung oder Beeinflussung des Schicksals demonstriert. Und man wird auch noch in Jahrzehnten um die Grenzziehung zwischen dem von einer Mehrheit oder zumindest einer einflussreichen gesellschaftlichen Gruppe
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vertretenen Glaubens- und Wissensanspruch und jenem Weltverstehen ringen, das grundsätzlich anders funktioniert und so auch zu anderen Methoden und Ritualen gelangt. Auf den Fortbestand dieses Konflikts können wir wohl bauen. Was so viele Jahrhunderte lang gut funktioniert hat, wird auch noch eine Weile andauern. Schließlich rosten große Feindschaften so wenig wie alte Lieben. Eine endgültige Klärung letzter Fragen wird es nicht geben – das wäre auch fatal. Denn Auseinandersetzung führt zu gedanklichem Fortschritt und nicht die Festschreibung. Und wie immer die verschiedensten Vorstellungen vom Transzendenten und dem sinnlich nicht fassbaren Wirken der Natur aussehen mögen – ihre Funktion erfüllen sie erst einmal (und wohl vor allem) für das Diesseits und das Sichtbare. Auch die Grenzen zwischen anerkannt und oppositionell werden sich wahrscheinlich verschieben wie die Elemente eines Kaleidoskops, das man in Bewegung hält, doch aufheben werden sie sich nicht lassen. So gelassen sich diese Diskurse prognostizieren lassen, so wenig hilfreich sind sie, wenn es um ihre dingliche Dokumentation geht. Und die geschieht in den Museen. Das Grazer Volkskundemuseum widmet sich in einem seiner Sammlungsschwerpunkte, »Ritual und Glaube«, auch dem abergläubischen Dinggebrauch in diesen weiten Grenzgebieten zwischen Anerkanntem und (dennoch) Praktiziertem. Das Forschungsprojekt »Superstition – Dingwelten des Irrationalen«1 sollte die historische Verwendung der vorhandenen Bestände rekonstruieren und rekontextualisieren, um die Vorstellungswelten früherer Generationen zu verstehen und den von ihnen hinterlassenen Gegenständen den Nimbus der Kuriosität zu nehmen. Daran anschließend sollte ein Kriterienkatalog erstellt werden, nach dem die Sammlung superstitiös besetzter Objekte sinnvoll erweitert und bis in die Gegenwart fortgesetzt werden konnte. Denn es ist die Pflicht eines Museums, das sich seit seiner Gründung dem historisch gewachsenen Themenkomplex rund um Glauben und Ritual verpflichtet sieht, heute zu sammeln, was zukünftigen Generationen wichtige Hinweise wird liefern können, wie es die Protagonisten die-
1
Das Projekt wurde vom Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung im Rahmen des Schwerpunktes »forMuse – Forschung an Museen« in den Jahren 2009 bis 2011 gefördert und von Gabriele Ponisch, Michael J. Greger, Roswitha Orac-Stipperger und der Autorin bearbeitet.
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ses Volkskundemuseums, nämlich die Bewohner der Steiermark, zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Aberglauben gehalten haben. Im Forschungsantrag haben wir angegeben, dass das Museum rund 1000 Objekte superstitiösen Gehaltes verwahrt. Das war kühn – aber verzeihlich, schließlich standen wir am Beginn, deren Hintergründe, Verweise und weltanschaulichen Bezüge zu rekonstruieren. Doch auch nach Beendigung dieses Projekts wissen wir immer noch nicht, wie hoch die Anzahl dieser Objekte ist. Denn das hieße, diese Grenze zu ziehen – und damit dem hegemonialen Anspruch auf anzuerkennendes Wissen und rechtem Glauben stattzugeben. Hätten wir es uns einfach machen wollen, hätten wir uns an alte Regeln halten können. Denn nach dem Negativ-Kanon, der seit der Zeit der Aufklärung vernünftiges menschliches Handeln von unvernünftigem scheidet, da es von deren Prinzipien des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung abweicht, hätten beispielsweise Tausende Exemplare aus unserer Andachtsbildsammlung, Wallfahrtsandenken wie Loreto-Mäntelchen oder Gichtbeten-Rosenkränze, Votive und Segenszettel oder aus der volksmedizinischen Sammlung alle möglichen Schmuckstücke aus Mineralien, denen Schutz oder Heilung zugesprochen werden kann, Schröpfköpfe, die Räucherapotheke mit Fluss-Rauch, Wind-Rauch, Zwang-Rauch und ähnlichen Ingredienzien, Dachsfett, Wunderbalsam, Schneckenschmalz und vieles mehr dazu gerechnet werden müssen. So sehr Museen naturgemäß an die Materialisierung von Vorstellungswelten gebunden sind, so achtsam müssen sie jedoch mit dem Sinngehalt der Dinge umgehen, ihn nachzuvollziehen versuchen, sie in ihrem Kontext lesen und dabei nicht zu überfrachten mit einer kollektiven Deutung, die die Dinge vielleicht nur bei Interpreten der mythologisch ausgerichteten Volkskunde hatten. Letztendlich aber mussten wir uns dazu durchringen, der Magie der großen Zahl nicht zu erliegen. Denn die hätte uns – bei all den anzunehmenden Möglichkeiten für einen individuellen superstitiösen Gebrauch – sicher in einen fünfstelligen Bereich des Objektbestands gebracht. Ein stures Klammern an einer individuell oder offiziell dokumentierten superstitiösen Zuständigkeit einzelner Objekte wäre jedoch im Dreistelligen verblieben. Kurzum: Nach Beendigung des Forschungsprojekts können wir nur sagen, dass das Volkskundemuseum circa 500 bis 10.000 Objekte mit superstitiösem Hintergrund aufbewahrt. Daraus ist nicht nur die Unsinnigkeit abzulesen, Museen an Quantitäten zu messen, sondern auch die Folgerung, neben der dinglichen Dokumenta-
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tion von breiten gesellschaftlichen Vorstellungen und Strömungen besonderen Wert auf die Erhebung ihrer Gebrauchszusammenhänge zu legen. Leider hatten es unsere Vorgänger am Museum in ihrer Unrast, Vergehendes zu retten, unterlassen, der individuellen Verwendung und subjektiven Deutung der geborgenen Gegenstände auf den Grund zu gehen. Dieses Versäumnis wollten wir in diesem Forschungsprojekt auf der einen Seite ausgleichen, indem wir in einer Nachinventarisierung zumindest den belegt üblichen, wenn schon nicht den authentischen Gebrauch der vorhandenen Museumsobjekte sowie dessen Dokumentation in der umfangreichen Literatur zum Thema mit den spärlichen Angaben im Inventar verknüpften.2 Eine unschätzbare Quelle war zusätzlich die handschriftliche Volkskunde Romuald Prambergers, der auf seinen ethnografischen Wanderungen vergleichbare Stücke noch in Verwendung gesehen hat oder sich von ihren Besitzern deren Gebrauch erklären ließ. Dabei hatte er selbst für das Stift St. Lambrecht eine volkskundliche Sammlung angelegt. Aus dieser wurden die sicher im superstitiösen Kontext verwendeten Stücke inventarisiert und als externe Belege in die Datenbank des Grazer Volkskundemuseums eingespeist, damit erschlossen und für weitere wissenschaftliche Bearbeitungen verfügbar gemacht.3 So konnten beide Bestände miteinander in Beziehung gesetzt werden und anhand weiterer Quellen die Reichweite abergläubischer Denk- und Handlungsoptionen im europäischen Raum ausgelotet werden. Die Sammlungsobjekte des Museums, die einem dezidiert superstitiösen Umfeld entstammen, belegen bis auf wenige jüngere Exemplare den Zeitraum zwischen der Mitte des 18. bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Um diese bis in die Gegenwart fortzuführen, muss also eine Lücke im Sachbestand von mehr als 80 politisch und weltanschaulich aufwühlenden Jahren geschlossen werden. Dazu aber musste zunächst rückwirkend erhoben werden, wie sich abergläubisches Denken und das entsprechende dinglich verwobene Handeln in dieser Zeitspanne darstellte, um dann zu fragen: Wie äußert sich Aberglaube heute und in welchen Gegenständen manifestiert er sich?
2
Vgl. den Beitrag von Gabriele Ponisch in diesem Band.
3
Vgl. den Beitrag von Michael J. Greger in diesem Band.
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T RADIERUNGSLINIEN Ein Befund aus dem Museumsalltag stimmt nachdenklich. Mehr als 50 Objekte aus dem Bereich des Aberglaubens sind dort in der Dauerausstellung zu sehen. Blitzstein und Bezoar, Alraune und Fraisenkette, Zweifelknopf und Tschatschkette oder das Neunmondmesser gehören zu den spektakulären Exponaten, da sie einen völlig fremden Umgang mit Natur, Kosmos und Mitmenschen repräsentieren, der dem heutigen Publikum als höchst merkwürdig erscheint. Die mumifizierte Katze, einst ein Bauopfer, gehört zu den Highlights und löst mit ihrer erbarmungswürdig verrenkten Stellung besonders bei jungen Besucherinnen und Besuchern einen gruseligen Schauer aus. Doch selbst das betagtere Publikum erkennt ohne die Erklärungen des Begleittextes oder des Führungspersonals nur wenige Stücke wieder und weiß, wozu sie gedient haben mögen. Bestenfalls werden sie in kommerzieller oder brauchtümlicher Reliktform oder als Gegenstände der familiären Memorialkultur und lediglich als Hüllen ihrer früheren Bedeutung erinnert. Manche kennen vielleicht die Rose von Jericho (Anastatica hierochuntica), doch nur aus dem Blumenladen, wo damit eine völlig andere Pflanze bezeichnet wird, die jedoch auch als vertrockneter Strunk zu grünen beginnt, sobald sie in Wasser gelegt wird. Von ihrer innerfamiliären Weitergabe als ein durch seine Analogiewirkung geburtsförderndes Mittel wissen nur die wenigsten. Auch schwarze Wetterkerzen sind bekannt, da sie noch immer in den Buden der Wallfahrtsorte und in Devotionalienhandlungen erhältlich sind. Und ein Antlassei, das am Gründonnerstag oder Karfreitag gelegt zum Schutz eines Hauses und seiner Bewohner aufbewahrt wurde, ist in vielen Gegenden als Osterbrauch bekannt. Auch ein Breverl mag wiedererkannt werden, da es im Familiensammelsurium als Erinnerung an den Großvater aufbewahrt wird, den es durch die Schützengräben des Ersten Weltkriegs begleitet und angeblich geschützt hatte. Doch die meisten Objekte erscheinen auch älteren Besucherinnen und Besuchern als Zeugnisse einer fremden Kultur. Während andere Sektionen der Dauerausstellung eher durch Wiedererkennen, das Erspüren kultureller Wurzeln oder aufgrund der ästhetischen Reize der Objekte Aufmerksamkeit erhalten, beruht die Beliebtheit dieser Ausstellungsabteilung auf Ihrem binnenexotischen Kuriositätswert. In Interviews mit älteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die im Zuge des Forschungsprojekts in ländlichen Regionen durchgeführt wurden, konnten sich viele noch an popularmagische Praktiken aus der Zeit ihrer Jugend vor
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dem Zweiten Weltkrieg oder aus damaligen Erzählungen der älteren Generationen erinnern, wie sie auch in der Volkskunde Prambergers beschrieben sind oder sich in den Objekten im Museum manifestieren. Schon damals war diese Kultur jedoch bereits stark in Auflösung begriffen und es hing von der individuellen Einstellung und der Erziehung ab, ob im eigenen Alltag Amulette, spezielle Heilverfahren oder Rituale angewandt wurden, die ein zu erwartendes Ereignis beeinflussen oder abwenden sollten. Dabei ließen sich drei Verlaufsvarianten in der Tradierung superstitiösen Handelns ausmachen: In manchen Familien war es Brauch, gewisse rituelle Vorschriften zu beherzigen und unabhängig vom Wissen um ihren ursprünglich superstitiösen Gehalt werden sie bis heute zu bestimmten Anlässen praktiziert. So ist etwa noch geläufig, dass in der Christnacht, oft auch zu Silvester oder in der Nacht vor Dreikönig keine Wäsche auf der Leine hängen darf. Auf vielen Höfen wird bis heute zu eben diesen magischen Zeitpunkten dem Vieh eine spezielle Maulgabe zum Fressen gegeben, über Nacht eine Schüssel mit Perchtenmilch aufgestellt – zuweilen wird sogar in spielerisch-unverbindlicher Weise noch ein Orakel für das kommende Jahr daraus abgelesen – oder Sonnwendbüschl werden nach wie vor als Wetterschutz an die Fensterkreuze gehängt. All dies geschieht in einer Mischung aus brauchmäßigem Wunsch für das allgemeine Wohlergehen und einer Ahnung von der religiös-magischen Schutzwirkung dieser Rituale. Einen anderen Verlauf nahmen Handlungen im Bereich der superstitiös besetzten Bräuche, wenn sie öffentlich ausgeübt wurden. Im Zuge der Wiederentdeckung oder Neuinterpretation alter Bräuche seit Mitte der 1990er Jahre, die mit den einsetzenden regionalen Identitätskonzepten in Tourismus und bäuerlicher Vermarktung Hand in Hand gingen, erfreuen sich auch ursprünglich apotropäische Handlungen wieder zunehmender Beliebtheit, und es werden wieder Osterratschen zur angeblichen Vertreibung von Dämonen gebaut, der Viehschmuck bei den touristisch attraktiven Almabtrieben wird üppig mit Spiegeln zur Abwehr des Bösen Blicks verziert und Brautpaare müssen wieder allerhand Regeln befolgen, um ihr zukünftiges Glück nicht zu gefährden. Eine Reihe weiterer wieder intensivierter Bräuche werden mit abergläubischer Motivik unterlegt. Vor allem erstrahlen die Winter- und Faschingsbräuche in neuem apotropäischem Glanz, und ihnen wird die Kraft unterstellt, Winterdämonen zu vertreiben oder Fruchtbarkeit zu bringen – auch von Menschen, die in ihrem Alltag selten an Dämonen denken oder Fruchtbarkeit gerne medikamentös verhindern.
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Eine dritte Verlaufsform tut sich im Bereich der Heilmethoden auf und dies aus recht prosaischen Gründen. Im Jahre 1889 wurde in Österreich die gesetzliche Krankenversicherung für alle Arbeiter und Angestellten eingeführt, die ab 1928 auch für Landarbeiter galt. Für Bauern gibt es erst seit 1965 eine verpflichtende Krankenversicherung. Ein Arztbesuch war vor der Einführung des Versicherungswesens ein kostspieliges Unterfangen, das man sich dreimal überlegte. Vorher wurde lieber einer der Bauerndoktoren, Wender oder eine Kräuterfrau aufgesucht, die ihre Dienste nicht nur kostenlos anboten – eine Bezahlung wäre als Frevel erschienen, der die Wirkung der Behandlung zunichtemachen konnte –, sondern denen oft auch mehr zugetraut wurde als den studierten Doktoren. Oder man behalf sich mit Hausmitteln. Manche von ihnen beruhen auf einem mittlerweile pharmazeutisch überprüften Wirkmechanismus. Kohlwickel, Holundersirup, Zwiebelauflagen oder die segensreiche Wirkung des Johanniskrauts werden heute, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, von Schulmedizinern kaum noch in den Bereich des Aberglaubens verwiesen, obwohl sie ihren Ursprung in der sympathetischen Lehre haben. Therapien wie Einreibungen mit Fuchsoder Hasenfett, das Umgürten oder das Bestreichen einer Wunde mit Knochen, der große Bereich der Spruchheilungen oder die Beachtung von Regeln, wie dass bestimmte Heilmethoden nur an Freitagen, am besten am Karfreitag oder in Korrespondenz zum Ab- oder Zunehmen des Mondes, zu erfolgen haben, gelten hingegen unter zugelassenen Ärzten meist als Hokuspokus, oder sie sehen deren Wirksamkeit als Placeboeffekt an. An solche Heilmethoden erinnern sich die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nur aus Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern. In den 1960er und 1970er Jahren, also der Zeit, in der die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihre Kinder großzogen, verwendeten sie bestenfalls die mittlerweile approbierten Hausmittel und wandten sich im Normalfall an einen Arzt, wenn sie oder eines der Kinder krank wurden. Doch seit den späten 1980er und 1990er Jahren wächst wieder der Zuspruch zu nichtstofflichen historischen Methoden der Heilung parallel zur Akzeptanz alternativer Therapien aus der TCM oder anderen asiatischen Lehren, die oft gleichzeitig und ohne Rekurs auf deren weltanschauliche Wurzeln angewendet werden. Die in jungen Jahren mit Hausmitteln oder nichtstofflichen Heilmethoden – durch Berichte oder persönlich angewandte Praktiken – konfrontierten Menschen legen auch im Alter eine hohe Akzeptanz gegenüber alternativmedizinischen Therapien an den Tag.
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E XPERTEN Ohne romantisierenden und von fremden Lebensvollzügen faszinierten Blick auf die Vergangenheit lässt sich zwischen dem Alltagswissen von der Beeinflussbarkeit natürlicher Prozesse und dem Expertenwissen einzelner unterscheiden. Was oft als »Wissen unserer Vorfahren« bezeichnet und als allen Menschen verfügbares und angewandtes Umgangswissen dargestellt wird, war zu großen Teilen Expertenwissen. Wenn das Repertoire des eigenen begrenzten Umgangswissens erschöpft war, bat man um die Hilfe von Experten, die mehr wussten und konnten als man selbst. Man wendete sich an Knochenheiler (steirisch: Boahoaler), wenn die Gliedmaßen verletzt waren oder schmerzten, ließ sich von der Abbeterin Warzen entfernen, konsultierte Wender und Heiler, um körperliche oder seelische Zustände abzuwenden oder suchte Urinschauer auf, um unerklärliche Leiden diagnostizieren und heilen zu lassen. Diese mischten Tinkturen, strichen mit Knochen oder Steinen über Wunden, murmelten Segensformeln oder Fluchsprüche, umgürteten, bannten, maßen, streiften mit ihren Händen ein Übel ab oder wandten eines der unzähligen anderen Heilverfahren an, die wir heute als die magische Variante der sogenannten Volksmedizin kennen. Das war so selbstverständlich wie wir uns heute Apparaturen anvertrauen, die uns Bilder unseres Skeletts oder unserer ungeborenen Kinder liefern. Der Gefahr der Mystifizierung des historischen Alltagslebens erlagen nicht nur die frühen Volkskundler, sondern auch viele heute lebende Menschen wenden sich von den Versprechen der modernen Medizin enttäuscht historischen Lehren und Praktiken wie der Humoralpathologie, Spagyrik oder dem Magnetismus zu, die zwar in fragmentarischen Restformen in das historische kollektive Alltagsbewusstsein vorgedrungen waren, jedoch als Lehren ähnlich spezialisiert waren wie heute die Quantenphysik. Im Forschungsprojekt fragten wir also in einem nächsten Schritt nach der Tradierung solchen Expertenwissens und suchten Menschen auf, die bekannt dafür sind, dass sie anderen bei körperlichen Leiden und seelischen Nöten auf eine andere Weise helfen als dies die Schulmedizin empfiehlt. Darunter waren auch ein junger Mann, der in einer Art Trance Kontakt mit Engeln aufnimmt und um deren Rat bittet, eine Frau, die durch Auflegen ihrer Hände heilt, ein Pater, der nicht nur mit der Wünschelrute Wasseradern aufspürt, sondern deren Verlauf durch »Verklopfen« ändert. Ein anderer Mann hatte bereits spektakuläre Erfolge im Aufspüren vermisster Ge-
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genstände, Tiere und Menschen mit Hilfe seines Pendels zu verzeichnen, eine Hebamme, die noch bis in die 1990er Jahre Segenszettel unter das Kissen der Gebärenden legte, aber auch Krankheiten durch das Bestreichen mit Knochen heilte, die von einem Tier stammen mussten, das eines natürlichen Todes gestorben war. Diese gab ihr Wissen wiederum an den Sohn einer befreundeten anderen Hebamme weiter, den sie für geeigneter hielt als ihre eigenen Kinder, und der die Methode der Älteren zwar etwas modifizierte, aber ebenfalls der Bevölkerung erfolgreich mit seinen Kenntnissen zur Seite stand. In einem Fall konnten wir die Weitergabe von Wissen und Methoden über vier Generationen verfolgen: Die bereits verstorbene Urgroßmutter war Warzenabbeterin gewesen, die Großmutter eruierte Krankheitsursachen mit dem Pendel und heilte, indem sie mit ausgewählten Steinen über schmerzende oder verletzte Körperstellen strich und die Steine anschließend rücklings hinter sich warf. Sie brachte diese Methode der Tochter bei, die jedoch bemerkte, dass sie auf die Steine verzichten konnte und ihren Einfluss auf energetische Übertragung zurückführt. Heute arbeitet sie meist mit dem Pendel und betreibt eine Praxis, in der sie auch Bioresonanztherapien, Reiki und weitere Heilverfahren anwendet, die sie sich in einschlägigen Seminaren angeeignet hat. Die Tochter hat mittlerweile auch eine Naturheilpraxis, in der sie Patienten mit Schwingungen und Energiearbeit, aber auch mit selbst produzierten »Erkenntnis-Essenzen« heilt. Bei aller Unterschiedlichkeit der Anschauungen, Einflüsse und Methoden der interviewten Experten lassen sich jedoch auch Gemeinsamkeiten feststellen. Alle der Befragten bezeichnen sich als spirituelle Menschen und strahlen das auch aus, unabhängig davon, ob diese Grundhaltung von einem bodenständigen, kleinbürgerlichen, intellektuellen oder exotisch beeinflussten Lebensstil unterlegt ist. Manche erleben ihre Spiritualität in Einklang mit der Amtskirche, andere halten sich mal mehr, mal weniger von ihr entfernt. Und keine dieser Personen sieht etwas Übernatürliches oder Magisches in ihrem Handeln, sondern sie verwenden Begriffe wie Energie oder natürliche Kräfte zur Erklärung der Wirkweise ihrer Methoden. Manche reihten ihr Tun in einen positiv besetzten Kontext von Esoterik, andere – wie etwa eine in der Großstadt lebende Heilerin und Homöopathin oder auch die bodenständig verankerte Hebamme auf dem Land – wollen ihr Tun nicht als Esoterik angesehen wissen. Darin ist jedoch vielmehr eine Hilflosigkeit der sprachlichen Bezeichnung zu sehen, die Historizität und Kon-
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textgebundenheit mancher Begriffe nicht zu transportieren in der Lage ist. Die Beschränktheit der Sprache legt nahe, nicht nur heute, sondern auch in historischen Formen als deviant angesehener Haltungen und Handlungen eher ein »Aberwissen« zu sehen und den präjudizierenden Begriff »Aberglauben« nur zu verwenden, um einem Laienpublikum die Verbindung zum Themenkomplex zu vermitteln. Auffallend war, dass bis auf den geomantisch arbeitenden Ordensbruder und den mit Pendeln erfolgreichen Auffinder von Dingen und Menschen alle einmal selbst von sehr schweren Krankheiten betroffen waren, sei es bei sich selbst oder bei Mitgliedern ihrer Familie. Manche werden immer noch ständig von Krankheitssymptomen begleitet, die sie zwar zu lindern wissen, deren Ursache sie jedoch nicht beseitigen können. Die Heiler und Heilerinnen sehen sich in einer Wechselbeziehung zum schulmedizinischen System in einem Spektrum aus völliger Ablehnung, Ergänzung oder konstruktiver Zusammenarbeit. Einigen ihrer Klienten wurden sie auch von zugelassenen Ärzten empfohlen. Betrachtet man gleichzeitig, wie viele Mittel derzeit in den Apotheken angeboten und empfohlen werden, die nicht nach pharmazeutisch überprüfbaren Kriterien ihre Wirkung entfalten, sondern auf Erfahrungen aus verschiedenen medizinischen Kulturen (Ayurveda, Aura-Soma, TCM, Schüßler Salze etc.) beruhen, so wird die Brüchigkeit der einst so vehement verteidigten Front zwischen anerkannten und nicht anerkannten Praktikern deutlich, und es scheint, sie wird heute am eindeutigsten von den Pflichtkrankenkassen verteidigt. Mit der Gewährung oder Verweigerung einer Kostenübernahme entscheiden sie über die aktuelle Gültigkeit heilender Mittel und Methoden oder über sinnvolle Präventionsmaßnahmen. Die Entwicklungen der Befragten zum/zur Heiler-/in oder zum/zur Energetiker-/in nahm keine generalisierbaren Verläufe. Die traditionelle Weitergabe von Wissen, verbalen und stofflich basierten Methoden an einen für empfänglich erachteten Menschen innerhalb oder auch außerhalb der eigenen Familie gab es ebenso wie die Initialzündung durch eine eigene Krankheit oder über die intensive Beschäftigung mit einem Problem, das sich auf herkömmliche Weise nicht lösen ließ. Alle Befragten aber kümmerten sich nach der Entdeckung ihrer Fähigkeiten, anderen helfen zu können, um ihre persönliche Weiterbildung auf diesem Gebiet und tauchten in die esoterische Literatur ein, besuchten einschlägige Kongresse oder nahmen an Kursen angesehener in- und ausländischer Heiler teil. Alle teilen ihr Wissen gerne und suchen den Kontakt zu Gleichgesinnten. Aus dem überreichen An-
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gebot an nicht stofflichen Verfahren, aber auch an medizinischen Hilfsmitteln und Zubereitungen setzen sie ihre individuellen Therapieformen zusammen und mischen dabei durchaus auch tradierte Elemente der sogenannten europäischen Volksmedizin mit solchen aus anderen Kulturen. Die Regeln sind offen und neben der Adaptierbarkeit ins eigene Weltbild entscheidet allein der empirische Erfolg über die Aufnahme einer dieser Bausteine ins eigene System. Bereits die traditionellen Heiler ergänzten ihr Wissen durch Elemente der persönlichen Erfahrung oder die Lektüre von heilwissenschaftlichen Werken und passten sie individuell in das System der magia naturalis ein. Heute ist der Baukasten um viele Wissenssysteme bereichert worden. Doch früher wie heute stellt die Wahrnehmung und Anwendung eines die hegemonialen Wissensbestände konkurrierenden Systems eine symptomatische Reaktion auf deren Machteinfluss dar. Sie waren und sind in ihrer Kritik gegenüber den herrschenden Lehr- und auch Glaubensmeinungen ein Akt der Selbstermächtigung und führ(t)en zu einem selbstbewussteren Umgang mit der Welt – der immer auch die Gefahr in sich birgt, sich einem alternativen, aber nicht minder dogmatischen und einengenden System auszuliefern.
ABWEHR
DURCH EMOTIONALE
R EPRÄSENTATION
Der dritte Teil der Feldforschung des Projekts befasste sich mit der aktuellen Anwendung von Amuletten und Talismanen. Nachdem Zeitzeugen-/innen und Experten-/innen im zufälligen Verfahren und nur mit Rücksicht auf die geografisch breite Verteilung ihrer Wohnorte und Wirkungsbereiche innerhalb der Steiermark ausgewählt wurden, suchten wir in diesem Fall nach sozial jeweils möglichst homogenen Gruppen und fanden diese in Klassen der Grazer Volks- und Mittelschulen sowie der Gymnasien. In den Projekteinheiten wurden die Klassen besucht und die Schüler-/innen zuvor gebeten, zu diesen Besuchen ihre eigenen Glücksbringer und Amulette mitzubringen. Aus dem Museum wiederum brachten wir einige robustere Objekte aus dem Umkreis des Aberglaubens mit, die mit Handschuhen von den Kindern und Jugendlichen in die Hand genommen und begutachtet werden konnten. In der Einführung wurde in das historische superstitiöse Feld eingeführt, auf den Unterschied zwischen Talismanen und Amuletten hingewiesen und
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die Funktion von Johannishand, Neumondmesser, Blitzkugel, der Wurzel eines Allermannsharnisch und ähnlichen Gegenständen erklärt. Im Folgenden erläuterten die Schüler-/innen Herkunft, Funktion und Bedeutung der von ihnen verwendeten Gegenstände. Der überwiegende Teil der Dinge war als Geschenk von nahen Verwandten oder Freunden in ihren Besitz gelangt. Doch sie verbinden mehr als eine persönliche Erinnerung an diese Stücke und knüpfen an sie eine materielle Repräsentation der Schenkenden und schrieben den Objekten einen Einfluss auf ihr allgemeines Wohlergehen oder spezielle Ereignisse zu. Manche der Teilnehmer-/innen mögen das Haus nicht ohne diesen Gegenstand verlassen, der ihnen als Schutz im Alltag erscheint. Einige kehren sogar um, wenn sie rechtzeitig bemerken, ihn vergessen zu haben, um ihn doch noch einzustecken. Andere Gegenstände werden nur zu besonderen Gelegenheiten wie Schularbeiten, Sportwettkämpfen, Schultheateraufführungen oder auch zu einem ersten Rendezvous bewusst mit sich getragen. Der Gebrauch von Amuletten und Talismanen gehört zu den selbstverständlichen Alltagserfahrungen der meisten jungen Menschen. Ob dies nun eine Münze, ein Schmuckanhänger, eine kleine (meist wenig wertvolle) Figur, die abgelaufene Monatskarte der Großmutter mit deren Foto oder ein Bild der kleinen Schwester ist, die Glück und Verantwortlichkeit in das Leben des großen Bruders gebracht hatte, immer ist die Erinnerung und die emotionale Bindung an einen nahestehenden, oft bereits auch verstorbenen Menschen oder die Erinnerung an ein positives emotionales Erlebnis Anlass für die Schutzwirkung des Gegenstandes. Daneben tragen die Kinder und Jugendlichen auch Gegenstände ausschließlich aus Gründen der privaten Memorialkultur mit sich oder geben ihnen zu Hause einen besonderen Platz und verleihen ihnen keinen superstitiösen Status. Der Umgang mit Dingen als Medium zur Beeinflussung des persönlichen Lebens hingegen funktioniert aufgrund seines Repräsentationscharakters, anders als die historischen Museumsobjekte, die gebunden waren an die Regeln der magia naturalis oder der religiösen Popularmagie. Die hinter dem superstitiösen Tun liegende Welterklärung ist zu einer seelischen, über Emotionen hergestellten Verankerung in der Welt geworden, die das Schnittfeld zur Religion bereits verlassen hat. Aus der reinen Memorialkultur kann jedes beliebige Objekt superstitiös überhöht werden. Dies geschieht entweder, weil die oder der Schenkende bereits bei der Übergabe die Schutzfunktion verbal mitliefert. Der Gegenstand kann je-
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doch auch erst mit deren oder dessen Tod eine neue superstitiöse Funktion von seinem Besitzer zugewiesen bekommen. Oder es wird eine zufallsbedingte Verbindung zwischen dem Gegenstand und seiner Wirkung für das eigene Wohlergehen geknüpft: Weil der Gegenstand bei einem bestimmten Ereignis zugegen war, wird ihm eine Wirkkraft zugesprochen und für zukünftige Ereignisse generalisiert. Das aber entspricht einer der seit Jahrhunderten bekannten Regeln des Aberglaubens: Wie einmal, so immer. Die superstitiöse Dingkarriere soll im Folgenden an drei Beispielen näher dargestellt werden und beleuchten, wie unspektakulär und selbstverständlich superstitiöses Denken den modernen Alltag begleitet: Das Heiligenarmband. Einige der als Amulette verwendeten Schmuckstücke sind die derzeit sehr beliebten Armbänder aus Geschäften mit günstiger Importware, vor allem aus Asien oder Mexiko, und zeugen von der religiösen Kultur der Herkunftsländer, die zunächst in spielerischer Attitude übernommen wird. Besonders beliebt sind Armbänder mit emaillierten Marien-, Christus- oder Heiligendarstellungen. In gleicher Machart wird auch Schmuck mit hinduistischen Gottheiten angeboten. Manche Jugendlichen differenzierten dabei je nach Machart zwischen »echt« magischen Armbändern und »nachgemachten«. An das Tragen dieser Armbänder knüpfen die Schülerinnen superstitiöse Umgangsweisen, deren Regeln sehr variieren können, jedoch den abergläubischen Praktiken entsprechen, wie sie bereits im 17. Jahrhundert unterschieden wurden: Sobald sich eines der Heiligenportraits löst und verloren geht, ist daran ein Omen geknüpft. Das kann ein gutes oder auch schlechtes sein. Besondere Bedeutung gewinnt dann das letzte verbliebene Bild. In diesem Stadium ist die superstitiöse Kraft besonders groß, denn das Verlieren des letzten Bildes bedeutet entweder besonderes Pech oder auch besonderes Glück, da damit die Bestimmung des Bandes erfüllt ist. Diese Handlungsweise wird nicht von den Verkäufern der Armbänder vermittelt, sondern unter den Kindern und Jugendlichen kolportiert. Sie gehört zum allgemeinen, individuell geprägten Umgangswissen der Jugendlichen, und es ist anzunehmen, dass diese Regeln aus Erinnerungen an das magische Deutungsrepertoire von Erzählungen und Märchen in die persönliche Kultur importiert werden. Das Festivalband. Die bunten Stoffarmbänder dienen während eines Musikfestivals als Zahlungsbeleg und ermöglichen eine mehrmalige Rückkehr in den Konzertbereich. Nach dem Festival tragen viele Jugendliche sie weiter als Zeichen der Erinnerung an dieses Ereignis, das meist nicht nur in
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musikalischer Hinsicht aus ihrem Alltag herausragt. Gleichzeitig wird es zunehmend zum Zeichen der kulturellen Verortung und Ausweis der Peergroup-Angehörigkeit. Ähnlich den geschenkten Glücksbringern können die Festivalbänder durch die Gewohnheit des Tragens mit der Zeit zu einer superstitiösen Überhöhung ihrer Bedeutung gelangen: Sie dürfen nicht verloren gehen, weil dies persönliches Unglück nach sich zöge. Es ist in aller Regel nicht die empirische Überprüfung, die einen Gegenstand seine superstitiöse Bedeutung verlieren lässt, wenn beispielsweise eine Prüfung trotz Glücksbringer nicht bestanden wurde. Vielmehr führt das Verblassen einer einst in emotional außergewöhnlicher Stimmung zugeordneten Bedeutung zu einem immer weniger ernsthaften Umgang mit dem Gegenstand. Auch eine Veränderung der kulturellen Ausrichtung der Peergroup oder das Ausscheiden aus ihr lässt den Gegenstand wieder in das Stadium einer bloßen Erinnerung sinken oder er verliert gänzlich an subjektiver Bedeutung. Die Fan-Trophäe. Ein verwandtes Objekt stellt ein beschrifteter Stein dar. Ein Mädchen von 14 Jahren hatte ihn vor einem für sie aus dem Alltag herausragenden Konzert der Metal-Band »Bring Me the Horizon« gefunden und aufgrund seiner eigenartig langgestreckten Form eingesteckt. Am Ende des Konzertes gelang es ihr, vom Frontman der Gruppe ein Autogramm auf diesem Stein zu ergattern. Diesen Stein trägt sie nun in einer kleinen Schachtel immer bei sich, glaubt, dass seine Anwesenheit sie vor Unglück – oder zumindest einer verpatzten Prüfung – schützen könne, und andere, zumindest Unbefugte, dürfen ihn nicht berühren. In unreflektierter Weise hat die Besitzerin den Stein mit einem Tabu belegt, einem der wesentlichen Kennzeichen des Heiligen. Es ist anzunehmen, dass auch die Kraft, die sie diesem Stein zuschreibt, abnehmen wird, wenn die Verehrung dieser Band und die Erinnerung an die Ereignisse jenes Abends nachlassen. Dann wird er wahrscheinlich wieder in den Status eines Memorialobjekts fallen und vielleicht irgendwann auch wieder vergessen werden. Neben der Dingkarriere, die dieser Stein ebenso wie manche Festivalund Heiligenarmbänder durchlaufen, ist der Anlass für die Aufmerksamkeit von Bedeutung, die aus einem Stein, einem Stück Band oder einem billigen Kettchen etwas Besonderes machen kann, dem Einfluss auf das eigene Leben eingeräumt wird. Die Übergangszeit der Pubertät, zumal verstärkt durch das Erlebnis, einer adorierten Person leibhaftig gegenüberzustehen, schärfen die Empfänglichkeit und die Neigung, die Welt in Zeichen zu le-
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sen. Auch älteren Menschen widerfährt diese Sicht auf die Welt, wenn ihnen etwa ein Unfall widerfahren ist oder in Zeiten hoher emotionaler Intensität, wie im Stadium großer Verliebtheit oder im Wissen, dass sich das eigene Leben bald seinem Ende zuneigt. Selbst sehr rationale Menschen öffnen sich in solchen Phasen einer Wahrnehmung der Zeichenhaftigkeit von Ereignissen und Dingen. Welches System bei der Dechiffrierung der Zeichen verwendet wird und wie hoch auch die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz und Zuwendung zu Observation und Divination sind, variiert historisch. Doch die grundlegende Matrix dieser Form der Weltdeutung gehört, wie Dieter Harmening schreibt, zu den Universalien der Menschheit.4 Abschließend soll hier eine weitere Beobachtung wiedergegeben werden, die allerdings noch näher überprüft werden müsste. Eine wesentliche Komponente des historischen Aberglaubens besteht aus Fragmenten hochkultureller Weltanschauungs- und Wissenssysteme, »die von niederen Sozialschichten […] aufgenommen wurden«5. Erst die Aufklärung (die ebenfalls nicht in den ländlichen [unter-]bäuerlichen Schichten entstanden ist) bezeichnete sie als Zeichen der Dummheit und Unbildung der Bauern und alten Frauen. Die Gespräche mit den Schüler-/innen in den Schulprojekten deuten hingegen auf eine gegenläufige Tendenz. In einem konfessionellen Privatgymnasium und den Schulklassen, deren Kinder mehrheitlich dem mittelständischen (Bildungs-)Bürgertum angehören, verwenden auffallend häufig Kinder und Jugendliche Amulette und Talismane, und sie scheinen für sie eine verbindlichere Bedeutung zu haben. Ihre superstitiösen Rückversicherungen an die Möglichkeiten einer zeichenhaften Weltdeutung sind eingebettet in ein spirituelles Umfeld mit religiösem oder allgemein bildungsnahem Ursprung. In einer Welt, so scheint es, in der Spiritualität ein Luxus ist, stellen Zugänge zu einer alternativen Sicht auf sie ein wertvolles Gut gegen die Funktionalisierbarkeit des Individuums dar.
4
Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart 2005, S. 16.
5
Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie. Zürich 1993, S. 221.
Autorinnen und Autoren
Christian Bachhiesl, Priv.-Doz. MMag. DDr., Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte, Alten Geschichte und Altertumskunde. Seit 1997 Mitarbeiter an verschiedenen Instituten der Karl-Franzens-Universität Graz. Kustos und Kurator des Hans Gross Kriminalmuseums, Stellvertretender Leiter der Universitätsmuseen der Universität Graz. Mitglied im Editorial Board der Fachzeitschrift »Archiv für Kriminologie«. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Epistemologie, Kriminologiegeschichte, Geschichte des Reisens. Sonja Maria Bachhiesl, MMag. Dr., Studium der Rechtswissenschaften und der Philosophie. Langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zivilrecht und am Hans Gross Kriminalmuseum der Karl-FranzensUniversität Graz, derzeit Kinderbetreuung und freiberufliche Forschungstätigkeit. Publikationen zu folgenden Forschungsschwerpunkten: Existenzphilosophie, Karl Jaspers, ethische und epistemologische Implikationen des Strafrechts und der Kriminologie, Determinismus-Indeterminismus-Debatte. Karl C. Berger, Mag., geboren 1976 in Lienz, aufgewachsen in Matrei/Osttirol; verheiratet, Vater von drei Kindern; lebt in Flirsch/Arlberg; 1994-2001 Studium der Volkskunde und Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck, Mag. phil. 2001, derzeit: Dissertationsvorhaben; 2001-2008 Vertragsassistent am Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Universität Innsbruck; seit 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Tiroler Volkskunstmuseum; Vorstandsmitglied des Österreichischen Fachverbands für Volkskunde.
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Christoph Daxelmüller (*1948 Bamberg), Dr. phil., Professor für Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Universität Würzburg. Studium der Keilschriftforschung, Islamwissenschaft, Semitistik, Kunstgeschichte, Vorderasiatischen Archäologie und Vor- und Frühgeschichte an den Universitäten Würzburg, Rom und München (M.A.) und der Volkskunde an der Universität Würzburg (Dr. phil.). Professuren für Volkskunde an den Universitäten Freiburg i.Br., Regensburg und Würzburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte der jüdischen Volkskunde, jüdische Volkskultur, Antisemitismus und Kultur in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Frömmigkeits-, Glaubens- und Magieforschung. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a.: Jüdische Kultur in Franken (1988); Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie (1993); Herausgeber u,a, von: Magie des Wissens. Athanasius Kircher 1602-1680. Universalgelehrter, Sammler, Visionär (2002). Zahlreiche Studien zur Erzähl- und Exemplumforschung sowie zur jüdischen Popularliteratur, u.a. in der Enzyklopädie des Märchens. Toni Distelberger schloss sein Studium der Ur- und Frühgeschichte, Geschichte und Volkskunde an der Universität Wien mit einer Dissertation über frühmittelalterliche Frauengräber ab und arbeitet seitdem als Archäologe und Bibliothekar. Seit einigen Jahren widmet er sich erzählten Lebensgeschichten; eine Beschäftigung, aus der im Jahr 2011 der Band Von der Liebe erzählen – sechs Lebensgeschichten von Frauen hervorging, den er für die Reihe »Damit es nicht verlorengeht…« und im Auftrag der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« an der Universität Wien herausgab. Toni Distelberger nahm von 2005 bis 2007 und 2008 bis 2010 jeweils eine Vaterkarenz in Anspruch und lebt mit seiner Familie in Perchtoldsdorf bei Wien. Karl-Heinz Göttert, Prof. Dr., Jahrgang 1943. Promotion und Habilitation in Köln. Von 1985 bis 2009 Lehre als apl. Professor in Köln. Hauptforschungsgebiete: Kulturwissenschaft, Rhetorik, Literatur des Mittelalters. Zur Magie erschienen die Bücher: Magie, München 2001; Daumendrücken. Der ganz normale Aberglaube im Alltag, Stuttgart 2003. Elfriede Grabner, Dr. phil. habil., ao. Univ.-Prof., Studium der Volkskunde, Kunstgeschichte und Ethnologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Von 1959 bis 1995 im wissenschaftlichen Dienst am Steiermärkischen Lan-
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desmuseum Joanneum. Ab 1973 als Dozentin und ab 1990 als ao. Universitätsprofessorin an der Universität Graz in Lehre und Forschung tätig. Zahlreiche Publikationen zu verschiedenen Bereichen einer kulturhistorisch ausgerichteten Volkskunde. Forschungsschwerpunkte: Volkskundliche Ikonografie, Frömmigkeitsforschung, Kulturgeschichte, Volksmedizin. Michael J. Greger, Mag. Dr. phil., Studium der Volkskunde (Ethnologia Europaea) und einer freien Fächerkombination an der Karl-Franzens-Universität Graz. Berufliche Tätigkeiten für verschiedene Kulturorganisationen, Lektor am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie, zuletzt Mitarbeiter im Projekt »Superstition – Dingwelten des Irrationalen« des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung am Universalmuseum Joanneum (Leitung: Dr. Eva Kreissl). Zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Center for Inter-American Studies« der Karl-Franzens-Universität Graz (Direktorin: Prof. Dr. Roberta Maierhofer). Elke Hammer-Luza, Studium der Geschichte, Deutschen Philologie und Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität Graz, Promotion 1996. 1993 bis 1997 Assistentin am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte, Abteilung für Geschichte des Wirtschafts- und Sozialrechts Österreichs, seit 1997 Archivarin am Steiermärkischen Landesarchiv. 2001 Staatsprüfung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung mit dem Titel eines »Master of Advanced Studies« (Geschichtsforschung und Archivwissenschaft). Mitglied der Historischen Landeskommission, Lehrbeauftragte an der Universität Wien im Bereich Archivwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Kriminalitätsgeschichte, Frauengeschichte. Andreas Hartmann, Professor für Volkskunde an der Universität Münster, geboren 1952 in Freiburg, dort Studium der Biologie, Mathematik, Musikwissenschaft, Ethnologie und Volkskunde, 1984 Promotion in letztgenanntem Fach mit der Dissertation über Freiburg 1900. Zum städtischen Selbstbewusstsein der Jahrhundertwende. Seither disziplinärer und interdisziplinärer Nomade mit Wegstationen in Göttingen (Hochschulassistent), Hamburg (Vertretungsprofessur), Bamberg (kreative Auszeit – u.a. leidenschaftlich kochen) und Münster (Professur). Habilitation in Marburg über Gedächtnisdiskurse im Kontext der Genese des Fachs Volkskunde. Historisch,
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empirisch und kulturvergleichend arbeitend und publizierend. Unter anderem Feldforschung an der deutsch-deutschen Grenze und in Thailand. An kulinarischen Themen und Themen der Liebe sowie der indigenen Kosmologien und Wissensordnungen interessiert, Sympathisant des Strukturalismus, biologischen Erklärungen des menschlichen Verhaltens nicht prinzipiell abgeneigt. Erklärter Kulturologe. Peter Keller, Studium der Kunstgeschichte in Wien und Bonn sowie Museumskunde in Paris. Anschließend Tätigkeit in den Staatlichen Museen zu Berlin. Seit 2002 Leitung des Dommuseums zu Salzburg. Seine Ausstellungen, Veröffentlichungen und Tagungen beschäftigen sich mit Kunst-, Kultur- und Kirchengeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Ein weiterer Schwerpunkt ist Museumskunde. In der Dissertation ging es um Die Wiege des Christuskindes. Ein Haushaltsgerät in Kunst und Kult. Die Ausstellungen in Salzburg behandelten unter anderem »Glaube und Aberglaube«, den Maler Johann Michael Rottmayr, aber auch den Wiederaufbau des Doms nach dem Krieg. Zu den Themen der Tagungen gehörten »Jugend im Museum« sowie der Architekt Johann Bernhard Fischer von Erlach. Vorstandsmitglied von ICOM Österreich, Vorsitzender des internationalen ICOMKomitees Historic House Museums und Mitglied der Jury des österreichischen Musemsgütesiegels. Hubert Knoblauch studierte in Konstanz und Brighton Soziologie, Philosophie und Geschichte; 2000 bis 2002 Professor für Religionssoziologie an der Universität Zürich; seit 2002 Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin. Schwerpunkte: Wissen, Kommunikation, Religion, Thanatologie. Ausgewählte Buchpublikationen: Powerpoint, Communication and the Knowledge Society, Cambridge 2012; Populäre Religion, Frankfurt/New York 2009; Wissenssoziologie, Konstanz 2005; Qualitative Religionsforschung, Paderborn 2003; Religionssoziologie, Berlin/New York 1999; Berichte aus dem Jenseits, Freiburg 1999; Die Welt der Wünschelrutengänger und Pendler, Frankfurt a.M./New York 1991. Eva Kreissl wurde 1958 im Rheinland geboren, Studium der Volkskunde und Kunstgeschichte in Freiburg im Breisgau und Wien. Seit ihrer Promotion 1985 bis 2005 als Lehrbeauftragte am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, freiberufliche Kuratorin und Kulturwissen-
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schaftlerin tätig. Sie konzipierte u.a. das Karl-Heinrich-Waggerl-Haus in Wagrain, das industriegeschichtliche Museumsdorf Trattenbach in Oberösterreich, die OÖ Landesausstellung Feste feiern, die Naturausstellungen Verborgene Wasser im Nationalpark Kalkalpen und NaturgeschichtenThayaTales im Nationalpark Thayatal, Die Macht der Maske in Schloss Trautenfels und zahlreiche weitere Ausstellungen. Seit 2005 Ausstellungskuratorin am Universalmuseum Joanneum in Graz. Eva Labouvie ist seit 2002 Professorin für Geschichte der Neuzeit (16. bis 19. Jahrhundert) mit Schwerpunkt Geschlechterforschung am Institut für Geschichte der Universität Magdeburg. Ihre Forschungsschwerpunkte bilden die Kultur- und Sozialgeschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts, die interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, Religions-, Kriminalitäts-, Wahrnehmungs-, Beziehungs- und Körpergeschichte, Umweltgeschichte, Stadt- und Adelsgeschichte. Buchpublikationen zum Thema: Zauberei und Hexenwerk. Hexenglaube in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 21993; Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube, St. Ingbert 1992; Beistand in Kindsnöten. Hebammen und weibliche Kultur auf dem Land 1550-1910, Frankfurt a.M./New York 1999; Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln 22000. Andreas J. Obrecht studierte Sozial- und Kulturanthropologie und Soziologie an der Universität Wien. 1997 Habilitation aus Soziologie. Von 1998 bis 2009 leitete er das »Interdisziplinäre Forschungsinstitut für Entwicklungszusammenarbeit« (IEZ) der Johannes Kepler Universität Linz. Forschungsschwerpunkt: sozio-kulturelle Transformation insbesondere in Ländern des subsaharischen Afrika, Südostasiens und des Südpazifiks. Seit 2009 Leiter der »Commission for Development Research« (KEF, www.kefonline.at) und des »Austrian Partnership Programs in Higher Education and Research for Development« (APPEAR, www.appear.at). Neben zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen erschienen auch Essays, Romane und ORF-Dokumentationen. Seit 2004 wissenschafts- und kulturpublizistischer Moderator für ORF Ö1. Zuletzt erschien: Wissen und Entwicklung – Ein Reader zu Wissensproduktion und Entwicklungsforschung, Innsbruck 2012.
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Benedikt Plank OSB, geboren am 9. Juli 1949 in Mariahof. Eintritt ins Benediktinerstift St. Lambrecht im Jahre 1967. Studium der Theologie in Salzburg und Rom-S. Anselmo; Priesterweihe 1973. Studium der Historischen Hilfswissenschaften am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Seelsorger in inkorporierten Pfarren des Stiftes und im Dekanat Murau. Prior, Archivar, Bibliothekar und Kustos im Stift St. Lambrecht. Arbeiten zur Hausgeschichte der Benediktinerabtei St. Lambrecht. Gabriele Ponisch, geboren 1960 in Graz, studierte Germanistik und Volkskunde und schrieb ihre Dissertation zum Thema ›…daß wenigstens dies keine Welt von Kalten ist.‹ Wallfahrtsboom und das neue Interesse an Spiritualität und Religiosität. Sie arbeitet als Lektorin am Grazer Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschungsprojekten über Biografien politischer Gefangener im kommunistischen Albanien, über Wallfahrt in der Gegenwart, im Projekt »Superstition – Dingwelten des Irrationalen« und »Pilgrimage Europe SIAT«. Übersetzerin und Keramikerin, seit 2011 weiterer Arbeits- und Interessensschwerpunkt japanische Sprache und Kultur. Adela Pukl, M.A., ist Kuratorin am Slowenischen Ethnografischen Museum, wo sie für die Sammlung der Abteilung für Spirituelle Kultur verantwortlich ist. Weitere Forschungsinteressen: Karnevalistische Masken und Feste, Musikinstrumente, Aberglaube, der Umgang mit dem slowenischen Schlosserbe, Markenzeichen und immaterielles kulturelles Erbe. Ausstellungen: Anew the vines have fruited…: on the wine culture of Slovenia (2008), Cockta (2010) and The Carnival Heritage of Slovenia (2012). Von 2007 bis 2011 war sie Herausgeberin der Reihe Glasnik Slovenskega etnološkega društva. Bernd Rieken, Univ.-Prof. Dr. Dr., geboren 1955 in Ostfriesland, Studium der Deutschen Philologie, Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie, Psychologie (Lehramt) und Volkskunde an den Universitäten Mannheim und Wien. Professor für Psychotherapiewissenschaft und Leiter des Doktoratsstudiums sowie des Fachspezifikums Individualpsychologie an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Privatdozent für Europäische Ethnologie an der Universität Wien, freiberuflicher Psychotherapeut und Lehranalytiker in Baden bei Wien. Publikationen zur Individualpsychologie, Psy-
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choanalyse, Psychotherapiewissenschaft, Erzählforschung, Katastrophenforschung und zum Volksglauben. Martin Scharfe, Dr. phil. habil., Volkskundler, Universitäts-Professor für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft. Geboren 1936 in Waiblingen (Württemberg). Zunächst Volksschullehrer. Dann Studium der Volkskunde, Kunstgeschichte, Soziologie etc. in Tübingen. Promotion 1968, Habilitation 1981. Hochschultätigkeiten in Tübingen (1968 bis 1985) und Marburg (1985 bis 2001). Gastprofessuren in Stockholm, Graz und Innsbruck. Lebt und arbeitet in Marburg an der Lahn. Jüngste umfangreichere Veröffentlichungen: Wegzeiger. Zur Kulturgeschichte des Verirrens und Wegfindens (1998); Menschenwerk. Erkundungen über Kultur (2002); Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur (2004); Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750-1850 (2007); Signaturen der Kultur. Studien zum Alltag und zu seiner Erforschung (2011); Bilder aus den Alpen. Eine andere Geschichte des Bergsteigens (2013). Harald Stadler, Univ.-Prof. Dr., geboren 1959 in Lienz, Studium der Urund Frühgeschichte, Klassischen Archäologie und Geschichte des Mittelalters an der Universität Innsbruck; 1985 Promotion; bis 1991 freier Mitarbeiter des Bundesdenkmalamtes Wien, der Stadtarchäologie Wien sowie des Universitätsinstitutes für Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte in Innsbruck; Ernennung zum ao. Professor mit der Venia für Urund Frühgeschichte sowie Mittelalter- und Neuzeitarchäologie im Jahr 2000, zum Professor 2010. Veröffentlichung von vier Monografien und über 120 Aufsätzen zu archäologischen Themen von der Mittleren Steinzeit bis in die Neuzeit; Forschungsschwerpunkte: Ur- und Frühgeschichte des inneralpinen Raumes, Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, Weltkriegsarchäologie. Johann Tomaschek, geboren 1949 in Zwettl, Studium der Philosophie, Theologie und Geschichte in Salzburg, Innsbruck und Wien; seit 1981 Archivar und Bibliothekar des Benediktinerstiftes Admont; Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und Korrespondent der Historischen Landeskommission für Steiermark; zahlreiche Publikationen zu kirchen-, landes- und kulturhistorischen Themen mit Schwerpunkt auf benedik-
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tinische Ordensgeschichte und Geschichte des Stiftes Admont; verheiratet, Vater von vier Töchtern. Angela Treiber, Univ.-Prof. Dr. M.A., Studium der Volkskunde, Geschichte, Kunstgeschichte an der Universität Würzburg, Promotion 1995, Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Assistentin am Lehrstuhl Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Bamberg 1994 bis 2001: Habilitation 2002. Seit 2004 Professorin für Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Publikationen im Bereich historischer und empirischer Religionsforschung, Theorie- und Wissenschaftsgeschichte, Geschichte von Wissensmilieus, Alltags- und Sozialgeschichte regionaler Kulturen. Nicole Waibel studierte von 1994 bis 2000 an der Universität Augsburg Volkskunde, Kunstgeschichte und Kirchengeschichte. Sie war von 2002 bis 2004 Stipendiatin des Augsburger Graduiertenkollegs »Wissensfelder der Neuzeit – Entstehung und Aufbau der europäischen Informationskultur«. 2006 erfolgte die Promotion über Nationale und patriotische Ideen in der Augsburger Presse im Zeitalter der Aufklärung (1750-1770), die 2008 veröffentlicht wurde. Zurzeit arbeitet sie an einem von der DFG geförderten Projekt zur Volksaufklärung und ihrem Aberglaubensdiskurs zwischen 1750 und 1830. Annette Weber, Studium der Kunstgeschichte, Archäologie, Alte Geschichte/ Judaistik in Freiburg, München, Paris. Promotion 1984; 1986-2004 Kustodin am Jüdischen Museum Frankfurt a.M.; Mitarbeit an zahlreichen Ausstellungen. Seit 2004 Lehrstuhl für jüdische Kunst der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Kunst des mittelalterlichen Judentums, christlichjüdischer Kulturtransfer, jüdische Künstler der Moderne, Sammler und Galeristen. Dazu zahlreiche Aufsätze (vgl. RAMBI/ The Index of Articles on Jewish Studies. The Jewish National and University Library). Letzte Buchpublikation: Gem. mit Jihan RadjaiOrdoubadi (Hg.) Jüdische Sammler und ihr Beitrag zur Kultur der Moderne, Heidelberg 2011.
Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen September 2013, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung (2., unveränderte Auflage 2013) 2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.) Kultur der Ökonomie Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2460-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Oktober 2013, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne Lang, Marcel Siepmann, Johanna Hoppen (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften 2012, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Stephan Moebius (Hg.) Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung 2012, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2194-5
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